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German Pages 349 Year 2009
Die Lesbarkeit der Romantik
Die Lesbarkeit der Romantik Material, Medium, Diskurs
Herausgegeben von
Erich Kleinschmidt
De Gruyter
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-021782-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
” Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen
Inhalt Einleitung: Projizierte Romantik ........................................................................ 1
Romantische Kulturlektüren ERICH KLEINSCHMIDT Diskurswandel im Material. Romantische Kulturhermeneutik.................... 13 RUDOLF DRUX Texturen der romantischen Ironie. Oder von der Geburt ‚der modernen Poesie‘ aus der Lektüre des metapoetischen Diskurses............. 37 WOLFRAM NITSCH Rechner und Seher. Balzacs Spieler im Horizont der Romantik................. 55 RÜDIGER GÖRNER „[…] das letzte grosse Ereigniss im Schicksal unserer Cultur“. Oder: Nietzsche ‚liest‘ die Romantik. .............................................................. 83
Wissenspoetiken LAURIE RUTH JOHNSON Die Lesbarkeit des romantischen Körpers. Über Psychosomatik und Text in Fallstudien von Karl Philipp Moritz und Friedrich Schlegel..................................................105 CHRISTIAN SINN Liebe. Anmerkungen zur Wissenschaftstheorie Friedrich Schlegels ........137 MICHAEL EGGERS Von Pflanzen und Engeln. Friedrich Schlegels Sprachdenken im Kontext der frühen Biologie......................................................................159
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Inhalt
FRIEDRICH WELTZIEN Elektrisches Menetekel. Ritters Abbreviaturen einer allgemeinen Schrift..................................................................................185
Mediale Konfigurationen TORSTEN HAHN Die Diabolik der Medien als Intriganz von Schreibern und Sekretären. Die ‚romantische‘ Beobachtung der Kommunikation bei Schiller und Novalis.............................................213 ETHEL MATALA DE MAZZA/JOSEPH VOGL Poesie und Niedertracht. Über Brentanos Restaurationsgeschichte ...................................................................................235 JÖRN STEIGERWALD Verräumlichte Augen-Blicke: Narrative Visualisierungsstrategien in Mme de Staëls ‚Corinne‘ und Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘..........251
Kunstdiskurse CHRISTIAN SCHOLL Anschauung oder Lektüre? Philipp Otto Runges Kommentar-Projekt zu den ‚Zeiten‘ und die Schwierigkeiten der Kunstgeschichte mit der Kunst der Romantik......................................275 SUSANNE WITTEKIND Natur, Volk und Geschichte. Die künstlerische Konstruktion Norwegens in der Landschaftsmalerei Johan Christian Claussen Dahls (1788-1857) ...............................................309
Abbildungsverzeichnis .....................................................................................337 Beiträgerinnen und Beiträger...........................................................................339
Einleitung Projizierte Romantik In Ludwig Tiecks romantischer Schlüsselerzählung ‚Der getreue Eckart und der Tannenhäuser‘ (1799) spielt eine zentrale Rolle das Motiv des Wiedererkennens, über das symbolisch auch die Lesbarkeit der Welt thematisiert wird. Wenn der Erzähler eines Abends den Ritter Friedrich von Wolfsburg „unter dem Tor seiner Burg“ stehen und „aus der Ferne einen Pilgrim daher kommen“ sehen lässt, „der sich seinem Schloss näherte“, so schließt dies die Wahrnehmung ein, dass „der fremde Mann [...] in seltsame Tracht gekleidet“ ist „und sein Gang wie seine Gebärden [...] dem Ritter wunderlich“ erscheinen. Dieser hier narrativ inszenierten ‚bestimmten Unbestimmtheit‘ der Wunderlichkeit huldigt der romantische Diskurs insgesamt und verschränkt dabei wie in Tiecks Erzählung die Perspektiven von Irritation und Identifikation. „Der Fremde“ erweist sich als „ehemaliger Freund, der Tannenhäuser“, und Tieck verweist so darauf, dass in sozialen wie in gegenständlichen Wahrnehmungsakten das zunächst Unvertraute oft ins schon Bekannte umschlägt, begleitet vom latenten Erschrecken. In der begrüßenden Umarmung überwältigt dies die „beiden Freunde“, denn „sie erschraken dann einer vor dem andern“ und „sie staunten sich an wie fremde Wesen.“ Fremdheit provoziert „Fragen“ und „der verworrenen Antworten gab es viele.“1 Hier wie im ganzen konstruierten Lebenslabyrinth Tannenhäusers verhandelt der Romantiker Tieck immer auch jenen hermeneutischen Diskurs über das Andere und Fremde als das noch Unbestimmte, von dem die Epoche einerseits fasziniert war, wie sie andererseits auch an ihm litt, denn seinem kaskadierenden Auflösungspotential steht dessen Unbeherrschbarkeit als Verunsicherung und Gefahr gegenüber. Aber es sind jene offenen Signaturen des Suchens und Findens, denen sich die Denkbewegungen und Formulierungsweisen der Romantik mit Vorliebe zu-
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Vgl. Tieck, Ludwig, „Der getreue Eckart und der Tannenhäuser in zwei Abschnitten“ (1799). In: Schriften in zwölf Bänden, hg. v. Manfred Frank/Paul Gerhard Klussmann/Ernst Ribbat/Uwe Schweikert/Wulf Segebrecht, Bd. 6: Phantasus, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1985, S. 172. Der Titel des Erstdrucks lautet: „Der Getreue Eckart und der Tannenhäuser. In zwei Abschnitten“. In: Romantische Dichtungen von Ludwig Tieck, Erster Theil, Jena 1799, S. 423-492.
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Einleitung
wandten, um so das genuin Eigene zu konturieren, einer intensitätsmodellierten „Oszillation“ verpflichtet, diesem „Wechsel entgegengesetzter Bewegungen“.2 Die ‚Romantische Schule‘, wie sie 1835 der ihr gerade entwachsende Heinrich Heine mit zwischen Anerkennung gegenüber der „literarischen Bewegung“3 und dem kritischen Vorbehalt einer „literarischen Abrechnung“ schwankenden Begrifflichkeit4 benannte,5 zielt mit ihrem Modell einer umfassenden ‚Romantisierung‘‘ immer auch auf eine projektive ‚Lektüre‘ kultureller Überlieferung. Der Grundimpuls der Romantiker im Umgang mit Materialität, Medialität und Diskursivität zielt auf hermeneutische Dispositionen, für die es immer schon um die Frage privilegierter Lesbarkeit geht. Wenn Heine dem etwas unwilligen Verleger seines Romantikbuches den Vorwurf macht, er sei „ein Pharisäer geworden, der in den Büchern nur den Buchstaben sieht, nicht den Geist“6, so klingt in diesem profanierten biblischen Intertext7 nicht zufällig genau das an, was die von ihm thematisierte ‚Romantische Schule‘ zur intensiven Pathosformel ihrer Poetologie erklärt hatte. Sie umschreibt die Spannung der Lesbarkeit zwischen basalem Entzifferungsangebot der sprachlichen Zeichen und deren Bedeutungserschließung als komplexem intellektuellem Akt. Als ein auf Goethe, Kleist, Hölderlin fokussiertes Konzept „Geist und Buchstabe der Dichtung“ konnte sie durch Max Kommerell sogar zu einem für die Germanistik als Disziplin wichtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationsparadigma aufsteigen,8 dessen programmatische Invention im Jahr
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Vgl. Novalis, „Die Christenheit oder Europa“. In: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs in vier Bänden und einem Begleitband, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 3: Das philosophische Werk II, hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz, Darmstadt 1968, S. 510. Vgl. Heine, Heinrich: „Die romantische Schule, Vorrede“. In: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse, hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Bd. 8: Über Deutschland, bearb. v. Renate Francke, Berlin 1972, S. 7. Zum Begriff der Schule als ‚Anhängerschaft einer bestimmten künstlerischen Richtung‘ vgl. Grimm, Dt. WB, Bd. 9, Leipzig 1899, Sp. 1935, Nr. 3. Vgl. den Brief Heines an Heinrich Laube in Leipzig, Paris den 8. April 1833. In: Heine, Heinrich, Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse, hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Bd. 21: Briefe 1831-1842, bearb. v. Fritz H. Eisner, Berlin 1970, S. 52. Vgl. Heines Brief an Julius Campe in Hamburg vom 26.7.1835. In: Heine, Heinrich, Säkularausgabe, Bd. 21, S. 119. Vgl. „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2. Kor. 3,6). Vgl. Kommerell, Max, Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, Frankfurt/M. 1940 (1991, 6. Auflage).
Einleitung
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1940 allerdings weniger einen intellektuellen Widerstand als ein esoterisches Fluchtmoment auswiese. Dass die Lesbarkeit der Zeichen immer auch mit Lektüren der über sie diskursiv thematisch gewordenen Materialkomplexe zu tun hat, ist in seiner Verdichtung zu einer universalen Hermeneutik von Welt und Text das wesentliche Erbe der um 1800 sich umgestaltenden Wissens- und Textformationen. Die konventionelle Beziehung zwischen Signifikanten und Signifikaten erscheint weitgehend dynamisiert und so statischen Festschreibungen entzogen. Sie öffnet sich im Hinblick auf die Praxis der Figuralisierung ebenso wie im diffusen Tausch der Position von Bezeichnendem und Bezeichnetem. Solcher mobilen Lesbarkeit entsprechen die romantischen Umschreibungen von Kultur und Tradition, die ihrerseits dazu herausfordern, selbst wiederum Gegenstand hermeneutischer Anstrengungen zu werden. Im Problem der Lesbarkeit der Romantik steckt deshalb sowohl der Aspekt ihrer eigenen originären Lektüren der Anverwandlung, auf die sich vielfältige Forschungsinteressen beziehen können, als auch eine Lektüre zweiter Ordnung, die das damit kommunikativ gegebene kulturelle Angebot mustert und funktional aufschließt. In der sich überschichtenden Staffelung von synchronen und diachronen, systematischen und historischen Lesbarkeiten erst wird es möglich, einer Epochenkultur ‚Romantik‘ ihre genuine und konkrete Hermeneutik zu geben, die sie als Wissen entfaltet und dafür die Parameter der Mimesis, d. h. der „Darstellbarkeit“9 modelliert. Dem Dargestellten dabei jene Potenzierung durch Reflexion zukommen zu lassen, die Friedrich Schlegel der romantischen Poesie im 116. Athenäumsfragment als Aufgabe und Leistung zuordnet, lässt sich für diese wie für jede aktuelle Auslegung des Materials als leitendes Postulat zwar akzeptieren, doch erweist sich die konkrete Einlösung zumeist als widerständig. Die produktive Wahrnehmung dieser Widerständigkeit und ihre Umsetzung in Lesbarkeit steht zur Debatte. Es geht darum, „Kunst“ in einem umfassenden Sinn „auf bestimmte Weise existieren“ lassen zu können.10 Was im rekonstruktiven Rückblick zur methodischen Herausforderung wird, beschäftigt die diskursbegründenden Romantiker auf einer kulturkritischen Ebene anwachsender Lektüren, denn wo viel geschrieben wird, da wird auch viel gelesen. Damit schwindet aber der Vorrang auktorialer Kompetenz im Hinblick auf die gestaltete Lesbarkeit der Texte. Wenn im Modus einer antizipierten „Revoluzion“ einträte, dass „alle Leser zu Schreibern konstituierten“, so folgte daraus für August Wilhelm
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Vgl. zu dieser Übersetzung des aristotelischen Begriffs Nägele, Rainer, Darstellbarkeit. Das Erscheinen des Verschwindens, Basel/Weil am Rhein 2008, S. 35. Vgl. Schlegel, August Wilhelm, „Kants Kritik der ästhetischen Sinne der Urteilskraft“. In: Ders., Kritische Schriften und Briefe, Bd. 2, hg. v. Edgar Lohner, Frankfurt/M. 1963, S. 67.
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Einleitung
Schlegel, dass ein „jeder nur noch von sich selbst gelesen“ würde und damit „in seiner eigenen Person Schriftsteller, Beurtheiler und Publikum, die ganze litterarische Welt im Kleinen, vorstellen“ müsste.11 Das hermeneutische Ideal einer intentionalen Kongruenz von Schreiben und Lesen wäre damit zwar erreicht, aber für die allgemeine Lesbarkeit nichts gewonnen. Sie bliebe individueller Aneignungsakt im Modus ihrer autokomplementären Verschriftlichung, deren Medium, die Schrift, sich im Sinne August Wilhelm Schlegels eine sie umschwebende „Dämmerung von Ewigkeit“ transzendierte.12 Weil die „stillen Züge“ der Schrift erst den Autor erzeugen im Gegensatz zur flüchtigen Mündlichkeit von Gespräch und Vorlesen, sind nur diese für die „tiefsten unmittelbarsten Äußerungen des Geistes“13 geeignet. Ihre Dekodierung im Horizont eines breiten materiellen Verständnisses von ‚Schrift‘ nicht nur als Text, sondern auch als Natur, Bild, Musik erfordert einen doppelten Lesedurchgang, der die Möglichkeiten synchroner Wahrnehmung mit einer historischen Relektüre vernetzt. In beiden Horizonten zielt die Lektüre stets auf Begriffe, über die der Unbestimmtheit Lesbarkeit übergeordnet wird. Zum einen stehen der Lektüre jene Denkfiguren zur Debatte, die eine romantische Diskursivität selbst einführt und funktionalisiert, zum anderen sind Beschreibungsfelder zu definieren, in denen Romantik sich zwar phänomenologisch konturiert, ohne dass diese aber schon unbedingt zeitgenössisch explizit benannt werden konnten. Die universalpoetische Selbstdeutung des (früh)romantischen Dichtungsbegriffs fächert diese Doppelläufigkeit schon exemplarisch auf. Sie formuliert einen begrifflichen Horizont gattungsquerender Schreibweisen, der Spielräume öffnet, ohne diese systematisch auszufüllen. Das universalpoetische Theorem ist aber nicht in der Lage, seinen erweiterten Konzeptanspruch begrifflich still zu stellen. Dies scheinbare Unvermögen begründet in der Sicht der Romantiker jenen intellektuellen Mehrwert, der sich auf die Diversität von wissenschaftlich-philosophischem Schreiben und „jenen Gegenstände(n)“ gründete, „die erst in der Seele des Betrachtenden durch ein wunderbares Spiel der innern Kräfte ihre Bestimmung erreichen.“14 Der analytische Diskurs mit seiner sprach- und damit an Metaphorik gebundenen Erschließungskraft gerät deshalb in Opposition zu einer medialen Wahrnehmungsfähigkeit unmittelbarer Impression und einer sich daran knüpfenden Einbildungskraft. Diese immediate Art von
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Vgl. Schlegel, August Wilhelm, „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur“. In: Athenaeum 1,1/1798, S. 141 (ND Stuttgart 1960). Vgl. Schlegel, August Wilhelm, „Über die Philosophie“. In: Athenaeum 2,1/1799, S. 3 (ND Stuttgart 1960). Vgl. ebd. S. 3. Vgl. ebd. S. 147.
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Lesbarkeit entzieht sich weitgehend einer begrifflichen Rekonstruktion. Folgt man aber der These Hans Blumenbergs, dass es „zugunsten des Begriffs [...] immer auch ein Vorfeld der Unbegreiflichkeit“15 geben muss, so trifft diese Formulierung auch für eine Lesbarkeit zu, die erst im Durchgang durch das zunächst Sinnabgeschattete, Nichtlesbare zur Darstellung gelangt. Die derzeitige Romantikforschung jenseits der etablierten Überblicke16 verteilt ihr Lektüre-Interesse zwischen werkbiographischen Zugängen und spezifisch interessanten Werkkomplexen auf der einen Seite und übergreifenden Anschnitten kulturtheoretischer oder kulturwissenschaftlicher Ausrichtung auf der anderen Seite. Vernetzungen beider Tendenzen bleiben eher die Ausnahme, als dass sie die Regel wären. Die synchronen Zugriffe in eher vager konkretisierten Rahmungen bei deutlicher Konzentration auf nur wenige prototypische Autorschaften überwiegen. Die breite und triviale Wirkungsgeschichte der Romantik ist bis auf ausnahmeträchtige Autoren wie Walter Benjamin immer noch kaum auf eine akzeptable oder gar überzeugende Weise vermessen. Die Versuche querender Lektüren romantischer Diskursivität stehen deshalb immer unter der Vorgabe, selbst stimmige Rahmungen dort erst finden zu müssen, wo angesichts der „schöpferischen Willkür, der Grenzenlosigkeit, der unendlichen Mannigfaltigkeit“17 romantischer Befindlichkeit diese sich oft nur schwer ergeben. Auch die Beiträge dieses Bandes entkommen über ihre Material- und Diskurszugriffe nicht der unscharf mobilisierenden Intellektualität der Romantiker, für die alles mit allem zusammenhängt. Ihrem zugleich positivistischen Universalismus mögen zwar unterschiedliche Denkfiguren zwischen naivem Analogismus und komplexen Theoremen philosophischpsychologischer Provenienz zugrunde liegen, aber vom nur schwer abweisbaren Effekt einer durch die Romantiker initiierten, ‚gleitend‘ vernetzenden Hermeneutik her bleibt sich das gleich. Carl Gustav Carus führt dies an der Schnittstelle von romantischer Anthropologie und einer Psychologie des Unbewussten in der Begriffswelt der Epoche für die „Wirklichkeit“ eng: „Alles hat nur ein Dasein, indem es zugleich in untrennbarer Vereinigung Idee und Substanz ist.“18 Die dadurch möglichen, auf Öffnungen gerichteten Formierungskräfte der Sinngebung sind jedoch nur
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Vgl. Blumenberg, Hans, Theorie der Unbegrifflichkeit, aus dem Nachlaß hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/M. 2007, S. 51. Vgl. etwa Schanze, Helmut (Hg.), Romantik-Handbuch, Stuttgart 1994; Behler, Ernst/Hörisch, Jochen (Hgg.): Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn/München/Wien/Zürich 1987 und Behler, Ernst, Frühromantik, Berlin/New York 1992. Vgl. Novalis, „Die Christenheit oder Europa“. In: Schriften, Bd. 3, S. 519. Vgl. Carus, Carl Gustav, Psyche, Pforzheim 1860, 2. Aufl., S. 45 (ND Darmstadt 1964).
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Einleitung
paradigmatisch einzuholen, weil die Gestalt gebenden Poetologien des Wissens und die sie leitenden wie initiierten Denkfiguren über spezifische Anschnitte nicht umfassend und bündig aufzuschließen sind. Die Frage nach der „Einheit der Romantik“ ist zwar immer wieder stellbar,19 aber sie bleibt mehr in der Sphäre des Postulats, als dass sich diese wirklich einlösen ließe. Der Zugang zur Romantik ist deshalb wesentlich von jenen diffundierenden Befindlichkeiten geprägt, zu deren intellektueller Akzeptanz die Bewegung selbst historisch entscheidend beigetragen hat. Deshalb charakterisiert mehr das Unbestimmte als das Bestimmte in Materialität wie Diskursivität das Feld romantischer Selbstdarstellung und auch deren analytische Einholung entgeht dieser Situation nicht. Obwohl die Romantik einer ‚intensiven‘ Denkweise und Werkidee verpflichtet ist, führt dies nicht zu konzentrierten Profilen. Vielmehr werden Formulierung und Rezeption im Modus ihrer Intensivierung eher unscharf, weil ihre stetige Signifizierbarkeit nicht gelingt. Es gilt dennoch, über Rahmenbedingungen und Parameter nachzudenken, nach und in denen die Romantiker sich ‚lesen‘. Hinzu tritt dann die Frage, welches Angebot zu dieser ihrer Lesbarkeit besteht, so dass eine urteilende Wahrnehmung des Untersuchungsbereichs auf theoretischer Augenhöhe mit dem thematisierten Gegenstandsbereich möglich ist. Wenn den formulierten Befunden dann auch nur der „Wert von Denkbruchstücken“20 zukommt, so ist doch in ihrer Versammlung eine innere Aufteilung dessen möglich, was eine romantische Diskursivität ganzheitlich konturiert. Der hier vorgelegte Band verdankt seine Entstehung einer vom 3. - 5. März 2008 veranstalteten Arbeitstagung an der Universität zu Köln, die das „Zentrum für Moderneforschung“ der Philosophischen Fakultät mit finanzieller Unterstützung des Rektorats aus Vorlaufmitteln des damals noch in der Antragstellung befindlichen Exzellenzclusters ‚Media: Material Conditions and Cultural Practice‘ als initiatives Projekt konzipiert und ausgerichtet hat. Die Frage nach der ‚Lesbarkeit der Romantik‘ ist dabei durchaus noch in der Tradition eines epochenspezifischen Leitdiskurses gestellt, was Romantik/romantisch sei. Es ging indes dabei nicht mehr nur um Gewinn und Reflexion merkmalsorientierter Klassifikationen, sondern um den Einstieg in eine Diskussion über Formierungsprozesse einer ‚romantischen‘ Wissenskultur und ihrer Matrix. Sie in Anschnitten thematisch als
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Vgl. die aktuelle Dokumentation einer vom 4. bis 6. Oktober 2007 in Saarbrücken veranstalteten Tagung: Auerochs, Bernd/von Petersdorff, Dirk (Hgg.), Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, Paderborn 2009. Vgl. zum Begriff Benjamin, Walter, „Ursprung des deutschen Trauerspiels“. In: Ders., Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann/Herman Schweppenhäuser, Bd. I.1, Frankfurt/M. 1974, S. 208.
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auch methodisch ‚lesbar‘ zu machen, war die Intention des Treffens, bei dem sich eine Kölner Romantikforschung mit den Kompetenzen eingeladener Kolleginnen und Kollegen interdisziplinär austauschte. Es ergab sich ein intensiver und fruchtbarer Lernprozess auf beiden Seiten, der sich nicht auf das Treffen selbst beschränkte, sondern das in den Publikationsgang hineinreichte. Zwischen dem Verzicht auf eine Veröffentlichung über erweiterte und modifizierte Umarbeitung bis hin zu neu eintretender Beiträgerschaft als Ersatz für Ausfälle entwickelte sich das thematische Spektrum der hier vorgelegten Ausarbeitungen, die einen Diskussionsstand dokumentieren. Dieser fügt sich einerseits in Forschungsvorgaben fortschreitend ein, andererseits setzt er aber auch selbst neue Akzente. Für diese ertragreiche und belebende Erfahrung im Umgang mit sich inhaltlich und methodisch öffnenden romantischen Konstellationen ist den daran Beteiligten zu danken. Das Konzept eines zeitlich und personell begrenzten Arbeitsgesprächs beschränkt den Wunsch nach umfassender Vielfalt und ausgebauter Interdisziplinarität. Im romantischen Gegenstandskontext trifft dies auch ihre plurale Medialität insofern, als diese in ihrer vollen Breite weder systematisch noch über die Ausrichtung der Vorträge abgedeckt werden konnte. Zum einen entscheiden Referentinnen und Referenten letztlich doch, worüber sie konkret sprechen wollen. Inwieweit dabei interdisziplinäres Erkenntnis- und Darstellungswissen realisiert wird, bleibt den Vortragenden vorbehalten. Hinzu kommt andererseits, dass sich auch durchaus angestrebte fachliche Partnerschaften zwischen den Kölnern und den auswärtigen Beiträgerinnen und Beiträgern aus unterschiedlichen Gründen zum angesetzten Tagungstermin nicht realisieren ließen. Musikwissenschaft und Philosophie sind deshalb nicht vertreten. Diese Leerstellen sinnvoll im Nachhinein ohne einen realen Diskussionsraum vor Ort aufzufüllen, erschien nicht vertretbar, da disziplinäre Querungen einer im Gegenstandsbereich interaktiv verantwortlichen Autorschaft bedürfen. Die den Tagungsgruppen gliedernd zugeordneten Begriffsfelder sind schlicht als intentionale Markierungen und Überbrückungen zu verstehen, deren jeweilige Auffüllungen durch die darunter rubrizierten Beiträge konzeptionell immer nur bedingte Einlösungen sind. Diese Spannung spiegelt die gerade auch in der aktuellen Romantikforschung charakteristisch unterschiedlichen Fähigkeiten, Interessen und Bereitschaften, sich auf Zugriffsparameter zu einigen. Das Verständnis der begrifflichen Wissensordnung romantischer Denk- und Formulierungsrahmen und die darauf aufbauende oder reagierende Forschung sind nach wie vor ausgesprochen divergent, wenn nicht sogar widersprüchlich. Indes macht diese Pluralität gerade ihren Reiz aus und bildet eine Herausforderung für Nachfrage und Austausch. In diesem Sinne sind die vom Tagungspro-
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gramm her eingeführten bzw. beibehaltenen Leitbegriffe dieses Bandes als verhandelbare Horizonte zu verstehen, an deren Einholung weiter zu arbeiten war und ist. Dieser Vorgabe sich bereitwillig ausgesetzt und für die konzeptionelle Ausgestaltung innovative Vorschläge gemacht zu haben, kennzeichnet die produktive und kollegiale Atmosphäre des Symposions, um dessen Dokumentation in ansprechender Buchform sich der Verlag verdient gemacht hat. Für alle Teilnehmenden stand jene prozessuale Performanz des Denkens im Vordergrund, die als Poiësis allem Dichterischen schon begrifflich eingeschrieben ist. In der Beschäftigung mit Material, Medium und Diskurs erschlossen sich so die Facetten und Aporien der romantischen Lesbarkeiten Für ihr unermüdliches Engagement und die intensive und unverzichtbare Unterstützung bei Vorbereitung und Durchführung der Tagung sowie vor allem bei der Drucklegung dieses Bandes danke ich meinen Mitarbeitern Jan Broch, Jörn Buchner, Metin Genç und Ben Zimmermann. Köln im Juli 2009
Erich Kleinschmidt
Bibliografie Auerochs, Bernd/von Petersdorff, Dirk (Hgg.): Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, Paderborn 2009. Behler, Ernst: Frühromantik. Berlin/New York 1992. –/Hörisch, Jochen: Die Aktualität der Frühromantik. Paderborn/München/Wien/ Zürich 1987. Benjamin, Walter: „Ursprung des deutschen Trauerspiels.“ In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Herman Schweppenhäuser, Bd. I.1, Frankfurt/M. 1974, S. 203-430. Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit, aus dem Nachlaß hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/M. 2007. Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim 1860, 2. Aufl. (ND Darmstadt 1964). Heine, Heinrich: „Die romantische Schule.“ In: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse, hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Bd. 8: Über Deutschland 1833-1836. Kunst und Philosophie, bearb. v. Renate Francke unter Mitarbeit von Heide Hollmer, Berlin 1972, S. 7-123.
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–: „Briefe 1831-1841.“ In: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse, hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Bd. 21: Briefe 1831-1841, bearb. v. Fritz H. Eisner, Berlin 1970. Kommerell, Max: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, Frankfurt/M. 1940, 6. Aufl. 1991. Nägele, Rainer: Darstellbarkeit. Das Erscheinen des Verschwindens, Basel/Weil am Rhein 2008. Novalis: „Die Christenheit oder Europa.“ In: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs in vier Bänden und einem Begleitband, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel. Bd. 3: Das philosophische Werk II, hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz, Darmstadt 1968, S. 507-524. Schanze, Helmut (Hg.): Romantik-Handbuch, Stuttgart 1994. Schlegel, August Wilhelm: „Kants Kritik der ästhetischen Sinne der Urteilskraft.“ In: Ders.: Kritische Schriften und Briefe. Bd. 2, hg. v. Edgar Lohner, Frankfurt/M. 1963, S. 60-99. –: „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur“. In: Athenaeum 1,1/1798, S. 141-177 (ND Stuttgart 1960). –: „Über die Philosophie“. In: Athenaeum 2,1/1799, S. 1-38 (ND Stuttgart 1960). Tieck, Ludwig: Der getreue Eckart und der Tannenhäuser in zwei Abschnitten. In: Ders.: Schriften in zwölf Bänden, hg. v. Manfred Frank/Paul Gerhard Klussmann/ Ernst Ribbat/Uwe Schweikert/Wulf Segebrecht, Bd. 6: Phantasus, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1985, S. 149-183.
Romantische Kulturlektüren
Diskurswandel im Material Romantische Kulturhermeneutik ERICH KLEINSCHMIDT Je mehr sich unsere Sinne verfeinern, desto fähiger werden sie zur Unterscheidung der Individuen. Der höchste Sinn wäre die höchste Empfänglichkeit für eigenthümliche Natur.1
Für den Gewinn epochal charakteristischer Kennzeichen innerhalb eines literarischen Evolutionsmodells spielen traditionell die Einführung und Formierung neuer Diskursfelder eine Rolle. Eine romantische Epochendifferenz lässt sich methodisch deshalb durchaus sinnvoll auf einer merkmalsorientierten Beobachtung von materiellen und strukturellen Innovationen gründen, die zum einen neue Denk- und Darstellungsweisen initiieren, zum anderen aber auch erst deren ausdifferenziertes Ergebnis sind. Das thematische und darstellerische Material konturiert im Modus seiner Entfaltung und Akzeptanz einen literaturgesellschaftlich relevanten Wandel, der sich als Teilprozess einer allgemeinen Evolution des „vergesellschafteten Wissens“2 verstehen und bestimmen lässt. In einer veränderten Lektüre, die einem kulturhermeneutischen Anliegen und Anspruch entspringt, vollzieht sich über den Ausdrucksgewinn „charakteristische[r] Zeichen, Figuren, Beziehungen, Strukturen“3 die methodische Möglichkeit einer Abgrenzung. Dass sie mit einem einzigen „organische[n], individuelle[n]) Wort – oder eine[r] genetische[n] Definition“ gelänge, wie dies Novalis in seinen Überschriften zu den Fragmenten
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Vgl. Novalis, „Blütenstaub“, Nr. 72. In: Ders., Werke, Tagebücher und Briefe, hg. v. HansJoachim Mähl/Richard Samuel, München/Wien 1978-1987 [im Folgenden Sigle Werke], Bd. 2, S. 256. Vgl. dazu Busse, Dietrich, „Architekturen des Wissens. Zum Verhältnis von Semantik und Epistemologie“. In: Begriffsgeschichte im Umbruch?, hg. v. Ernst Müller, Hamburg 2004, S. 43-57, hier S. 56. Vgl. Foucault, Michel, „Was ist ein Autor?“. In: Ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1988, S. 7-31, hier S. 25.
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Erich Kleinschmidt
konzeptionell eingelöst sehen wollte4, entspricht romantisch-programmatischer Radikalisierung, ist innerhalb einer analytischen Darstellung jedoch nicht zu realisieren. Novalis’ Anspruch markiert indes die für ihn selbst wie für jeden Unterscheidungsakt grundsätzliche Bedeutung von begrifflich verdichtenden Intensivierungen. Über sie und das dahinter stehende Denken, das mit Schwellenwerten arbeitet, lässt sich eine hermeneutisch relevante Erfassungs- und Beschreibungs-Signifikanz erst herstellen. Dem Akt der intensiven Unterscheidung, über den sich Identität und Verschiedenheit erst definieren und in dem mit Hegel sich jedes als „des Anderen sein Anderes“5 wiederfindet, fällt so die akzentuierende Aufgabe zu, das jeweils „wesentlich Unterschiedene“ (ebd.) zu markieren. Dieses kann dann zum einen als das Ergebnis perspektivisch neuer Umschreibungen innerhalb eines prinzipiell durchlaufenden und kulturgesellschaftlich allgemein vertrauten Funktionsmodells der Urteilsbildung mobilisiert werden. Das „wesentlich Unterschiedene“ kann in seiner qualitativen Differenzialität aber auch darauf gegründet sein, dass es selbst die Koordinaten des Schreib- und Lektüresystems verändert. An die Stelle geläufiger Denk- und Formulierungsmodelle des Abgleichs treten dann ganz neue Strukturierungsmuster verstehender ‚Kulturationsakte‘. An der Auslotung beider Differenzialität generierenden Dispositive und ihrer validen Ertragsmöglichkeiten arbeiten sich die romantische Bewegung und ihre Leitdenker wesentlich ab und initiieren dabei einen produktiven, wenn auch zunächst noch diffusen Diskussionshorizont. Sie entwickeln zum einen das Modell einer vergleichend arbeitenden Kulturhermeneutik, die ihre beschreibenden und verstehenden ‚Lektüren‘ an historisch einholbaren Darstellungs- und Rezeptionspraxen orientiert, und kontrastieren hierzu aus dem Gefühl ungenügender Substanzherrschaft das begrifflich noch nicht so benennbare, aber in der Sache angedachte Konzept einer die Spielräume der Darstellbarkeit6 verändernden ‚Kulturpoetik‘. Dieser fallen Anspruch und Qualität zu, kulturelle ‚Lektüren‘ nicht mehr nur nach traditionellen Verstehensregeln und rückblickend zu betreiben, sondern ihnen eigene Definitionsorte mit offensivem Gestaltungsanspruch gegenüber dem besprochenen Materialbereich zuzuordnen. Ihre radikalste Verlängerung wäre Friedrich Schlegels Diktum zur Mitteil-
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Vgl. Novalis, „Teplitzer Fragmente (1799/1800)“. In: Werke, Bd. 2, S. 386, Nr. 328. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, „Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“, § 119. In: Ders., Werke, hg. v. Karl Markus Michel/Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 1979 (= Theorie-Werkausgabe), Bd. 8, S. 243. Vgl. zu ihrer Problematik um 1800 jetzt Nägele, Rainer, Darstellbarkeit. Das Erscheinen des Verschwindens, Basel/Weil am Rhein 2008.
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barkeit: „Darstellen will und soll d[er] Mensch gerade das[,] was er nicht vorstellen kann […].“7 Der Funktionsraum dieser beiden methodisch eingesetzten Begriffe wäre dann entsprechend zu bestimmen. Kulturhermeneutik analysiert existente Diskursformationen über Sachverhalte, materielle Überlieferungen und Texte mit dem Ziel ihrer deskriptiven Stillstellung und historischen Einholung als kultursemiotische Befunde. Kulturpoetik,8 die ihrerseits von einer die Erkenntnis formierenden „Poetologie des Wissens“9 beeinflusst und gesteuert wird, bemächtigt sich dagegen dynamisch und offen der Formationen von Wissens- und Kulturpraxis und zielt auf eine eigene kultursemiotische Praxis. Dieser Spannung zwischen kulturhermeneutischen Lektüren des leitenden Diskursmaterials und seinen kulturpoetischen Umschreibungen setzt sich die romantische Bewegung in programmatischer Weise aus. Die semiotische Kovarianz von Umschreibung und Umschreibung charakterisiert in ihrer Begriffsscherung jene um 1800 attraktiven und relevanten Formierungsprozesse, die aus kulturhermeneutischen Lektüren und kulturpoetischen Entwürfen resultieren. Die Umschreibung verweist als eine indirekte und zugleich komplexere sprachliche Mitteilung über ein nur diffus bewusstes, aber nicht klar benennbares Sujet darauf hin, dass im sprachlich nur scheinbar stillgestellten Ausdruck der Texte evokative Po-
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Vgl. Schlegel, Friedrich, „[V] Philosophische Fragmente. Zweyte Epoche. II.“ In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. E. Behler, 2. Abtlg., Bd. 18, Paderborn/München/ Wien 1963, S. 373. Der hier verwendete Begriff der ‚Kulturpoetik‘ schließt sich mit Stephen Greenblatts „poetics of culture“ nur insofern kurz, als auch für ihn eine energetische Komponente („social energies“) inhärent angenommen wird (vgl. dazu ders., Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkely/Los Angeles 1988, S. 5-7), ohne methodisch auf Greenblatts universalisiertes Kodierungsverhältnis von Literatur und Wissen zu reflektieren. Vgl. dazu New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, hg. v. Baßler, Moritz, Frankfurt/M. 1995. – ‚Kulturpoetik‘ geht auch nicht konform mit den retrograden Annahmen einer „Poetik des Wissens“, wie sie Jacques Rancière, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt/M. 1994, hier S. 17 strukturiert, wo er für die Poetik des Wissens deren Interesse „für die Regeln, nach denen ein Wissen geschrieben und gelesen wird“ herausstellt. Rancière will keine „Normen“ durch eine Poetik des Wissens gesetzt sehen, sondern sie „versucht den Wahrheitsmodus zu definieren, dem sie sich verschreibt.“ Vgl. dazu Vogl, Joseph, „Einleitung“. In: Ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 9-15, hier S. 13 zur Definition einer Poetologie des Wissens, „die das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich als Form ihrer Inszenierung begreift.“ Zum Problem einer „Wissenspoetik“ vgl. grundlegend Pethes, Nicolas, „Poetik/Wissen. Konzeptionen eines romantischen Transfers“. In: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hg. v. Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann, Würzburg 2004, S. 341-372.
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tenziale stecken. In einer „poetisierten Rhetorik“10, wie sie Novalis vertritt, setzen die metaphorischen Aussageformen für einen materiellen Verständniskern stets Impulse erweiterter Verständnis- und Denkhorizonte frei. Es findet, über die rhetorische Systemkonstellation einer grundständigen translatio hinaus, prinzipiell jener grundständige Vorgang statt, den Viktor Šklovskij als Verfremdung für das literarische Kunstwerk und seine bildhafte Sprache klassisch beschrieben hat.11 Die Umschreibung hingegen berührt im Akt einer substantiellen sprachlichen Umarbeitung den thematischen Sinnkern von Texten. Es geht bei ihr darum, für diese funktionale Veränderungen zu initiieren, ihre semiotischen Wahrnehmungsschwellen mit der Folge freigesetzter Latenzen zu verschieben und somit insgesamt das Erweitern, Abdrängen oder gar Ersetzen der ursprünglichen Referenzräume zu betreiben. Die in der fragilen Medialität der Texte enthaltenen Kommunikationsangebote selbst werden so inhaltlich moderiert. Es geht nicht mehr nur um die sprachlich variabel lösbaren Modalitäten ihrer Vermittlung. Die romantischen Diskursformen bewegen sich auf beiden Feldern der genannten ‚Schreibung(en)‘, denn sie entwickeln zum einen bei den literarisch topologisierten Themen ein hohes Maß an sprachlich innovativem Ausdruck. Sie erarbeiten sich zum andern eine bewusst dynamisierte Darstellungsweise („Gestion“)12, bei der die geläufigen Sprachbahnungen und ihre Markierungen ausgesetzt und gezielt umstrukturiert werden. Novalis notiert sich für eine solche substrukturelle Konzeptionalität dann beispielsweise im thematischen Kontext einer „Gesch[ichts]Lehre“ das Modell einer (für ihn charakteristischen) materiellen Rhetorik des Tauschs: „Verwand[lung] des Jungen in das Alte – und des Veränderlichen in das Bleibende, – des Flüssigen in das Starre. Die Vorzeit nimmt zu – die Zukunft ab (Nicht auch zugl[eich] umgekehrt]?)“13 Dieses Notat von Novalis belegt in eigenartiger Weise ein für die Frühromantik typisches Denken in kehrenden, sich aufhebenden Gegenbewegungen, das in der kultursemiotischen Bestimmung wesentlich einen transitorischen Prozess wahrnimmt und weniger eine Festschreibung. Hegel bearbeitet in seiner Phänomenologie des Geistes 1807 diese Konstellation (bezogen auf die Form/Inhalt-Perspektive bei der Bestimmung des „Allgemeinen“, das in „ungetrennter Einheit“ mit gleichzeitiger „Vielheit“ zu denken sei, weil die verhandelten Materien sich gegenseitig durchdrin-
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Vgl. zum Begriff Schierbaum, Martin, Friedrich von Hardenbergs poetisierte Rhetorik. Politische Ästhetik der Frühromantik, Paderborn/München 2002. Vgl. Šklovskij, Viktor, Theorie der Prosa, hg. v. Gisela Drohla, Frankfurt/M. 1966. Vgl. Novalis, „Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen“. In: Werke, Bd. 2, S. 341, Nr. 120. Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 503, Nr. 160.
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gen, – ohne aber sich zu berühren.“14 Das bedeutet, dass „ihre reine Porosität oder ihr Aufgehobensein gesetzt“ sei. Diese integrative Durchlässigkeit setzt einen doppelten Bewegungsprozess in Gang, dem ein Moment der materiellen „Entfaltung“ und ein gegenläufiges materieller „Reduktion“ zugleich anhaftet. Hegel versucht, in dieser „Bewegung“ dasjenige zu bestimmen, „was Kraft genannt wird.“ Sie spaltet sich für ihn auf in einen präsenten Modus der „Äußerung“ und einen des latenten des „Verschwundensein(s)“, was er dann als „die eigentliche Kraft“ bezeichnet.15 Als ein Textmodell der Gegenbewegung gelesen, ließe sich in dieser Kraft die des verstehenden und gestaltenden Bewusstseins sehen, das sich in einem Zeichenstrom disseminativ zugleich auflädt und verausgabt, auftaucht und verschwindet. Aus der daraus resultierenden Kovarianz von gleitender und thetischer Semiotisierung kennzeichnet ein wesentlich von der Frühromantik praktiziertes Verfahren, dessen Sinn darin besteht, Aussagepotentiale des diskursiven Materials zu optionalisieren. Dem Sprachkonventionalismus und seinen eingeschliffenen Wahrnehmungsschwellen der Lesbarkeit werden damit zusätzliche Aufmerksamkeitsschwellen hinzugefügt. Im Formulierungs- wie im Verstehensakt geht es dementsprechend darum, die Grenzen zwischen latenten und expliziten Vorstellungen zu verhandeln. Die derart aufgerufene und zugleich als mobil diskutierte „Schwelle des Bewußtseins“,16 wie sie auch zeitgenössisch in der Psychologie Johann Friedrich Herbarts (1776-1841) als theoretisch neue Vorstellung eingeführt wird, holt dann auch begriffssystematisch allgemein ein, was zuvor schon in den für eine Kulturpoetik konstitutiven sprachlichen Verschiebungs- und Öffnungsszenarien der Romantiker angedacht ist. Stringenten Strategien von Textangebot und Textverständnis treten so Vorstellungen integrativ hinzu, in denen es um gleitende Grade der diskursiven Wahrnehmbarkeit und Verstehbarkeit, d. h. um Schwellenphänomene des Bewusstseins gegenüber dem verhandelten Material geht.
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Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, „Phänomenologie des Geistes“. In: Ders., Werke, hg. v. Michel/Moldenhauer, Bd. 3, S. 109 f. Vgl. ebd., Bd. 3, S. 110 (alle Belege). Vgl. Herbart, Johann Friedrich, „Lehrbuch zur Psychologie“ [1816 bzw. 1834]. In: Ders., Sämtliche Werke, hg. v. Otto Flügel/Karl Kehrbach, Bd. 4, Langensalza 1891, S. 295-436, hier S. 372 (ND Aalen 1989, 2. Aufl.): „eine Vorstellung ist im Bewußtseyn, in wiefern sie nicht gehemmt, sondern ein wirkliches Vorstellen ist. Sie tritt ins Bewußtseyn [...].“ Zum dankenswerten Verweis auf Herbart vgl. Anhalt, Elmar, „Über die Schwelle. Zum Problem, Übergänge zu denken“. In: Schrift-Zeiten. Poetologische Konstellationen von der Frühen Neuzeit bis zur Postmoderne, hg. v. Jan Broch/Markus Rassiller, Köln 2006, S. 289-315, hier S. 300.
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Begriffe, Formulierungen und Sätze werden deshalb in den frühromantischen Texten, um ihr Mitteilungspotential „mit allen ihren Schattirungen [sic!] oder Graden der Stärke“17 (gemäß einem Darstellungsanspruch des Deutschen als Literatursprache um 1800) zu erweitern, wenn nicht auszuschöpfen, zwischen semiotischem Kalkül und semantischer Kontingenz bewusst durchgespielt. Die Überzeugung, dass eine vernetzte Mannigfaltigkeit von Gegenstandsmaterialität, sie erfassender Formenvarianz und prozessualer Denkweisen „ins Unendliche“ gehende Querungen („Bewegungen“) ermöglicht,18 schafft den entscheidenden Freiraum für neue ‚Lektüren‘. Dann kann man, „wenn es eine Philosophie des Lebens gibt,“ mit Novalis – einer zeitgenössischen Wissenschaftssystematik folgend – „auch nach einer Philologie, Mathematik – Poëtik, und Historie des Lebens fragen.“19 Die scheinbar nur assoziativ eine Begriffsreihe einführende Überlegung entsteht indes aus einem konsequent mobilisierenden Denkansatz. Novalis konstruiert im aufgerufenen Beispiel seine gegenständliche Ordnung aus einer szientistisch unterlegten Terminologie, deren kombinatorischer Aufruf noch nicht existente Wissenschaftsfelder entbindet. Deren Latenz in zumindest sprachliche Denkbarkeit (als Vorstufe einer möglichen Diskursiverung) zu überführen, bedeutet zunächst, eine kulturbeschreibende Hermeneutik zu praktizieren. Da diese aber auf Analogien setzt und über diese wissenserweiternde Denkmodalität qualitativ ein kulturtheoretisches Definitions- und Leistungsprofil entwickelt, übernimmt sie die Funktion einer gestaltenden Kulturpoetik. Dieser Übertritt ist wesentlich durch die sprachlichen Möglichkeiten der Existentialaussage gekennzeichnet. Ihre Struktur erlaubt es, auch Sachverhalte zu formulieren, die eine Überschreitung der Wirklichkeit darstellen. Rein formal betrachtet, unterscheiden sich solche projizierten Äußerungen nicht von ‚wahren‘ Sätzen, deren Gewinnung allerdings voraussetzt, sie identitätslogisch ableiten zu können. Für irreale, konstruierte Sätze gilt dieses logische Netzwerk nicht mehr, so dass sie entweder diskursiv unzulässig sind oder aber gerade deswegen attraktiv werden. In diesem Kontext fordert Novalis darum auch, den „Satz des Widerspruchs
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Das Zitat ist entnommen aus: Anleitung zu den gemeinnützigsten Kenntnissen und Wissenschaften, welche auch solchen Personen, die nicht von Profession Gelehrte sind, nützlich und angenehm seyn können. Nach der Enzyklopädie des Herrn Prof. Klügel mit Zusätzen und Abänderungen herausgegeben, Erster Theil, Wien 1795, auf Kosten des Verfassers, S. 8 (innerhalb einer „deutschen Sprachlehre“). Der Mathematiker und Physiker Georg Simon Klügel (1739-1812), seit 1778 Prof. in Halle veröffentlichte seine (dann noch mehrfach aufgelegte) Encyklopädie in 3 Bänden zuerst 1782-1784 bei Friedrich Nicolai in Berlin. Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 588, Nr. 503. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 492, Nr. 104. Vgl. ebd. in den Teplitzer Fragmenten Bd. 2, S. 388, Nr. 343 ebenfalls zur „Philosophie des Lebens“.
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zu vernichten.“20 Die freie Entbindung ‚neuer‘ Bestimmungssätze jenseits der Restriktionen einer aristotelischen Diskurslogik und damit auch auf einer hermeneutisch veränderten Referenzbasis der Lesbarkeit ist für den ‚Kulturpoetiker‘ Novalis der erstrebte, souveräne Höchstgrad von Autorschaft in allen Formen der Textarbeit. Noch unterhalb solcher komplexeren theoretischen Weiterungen lässt sich um 1800 eine auktoriale Praxis kognitiven Fortschritts feststellen und analytisch voraussetzen, die ihre wissensformierenden Impulse aus einer wesentlich sprachinduzierten Episteme ableitet. Angeregt von jeweils als basal angesehenen Lektüren wird ein Gewinn von Erkenntnis dadurch erreicht, dass ihnen attraktive Begriffe und Aussagen entnommen werden und als Ausgangstopik für darauf aufbauende Parallelisierungen oder Analogien dienen. Die derart erschlossenen Gegenständlichkeiten sind zwar nur virtuell, aber es wird auf diese Weise etwas Neues für den intellektuellen Vorstellungsraum der Epoche gewonnen. Die zeitgenössische Formel von einer (empfindsam inspirierten) „Philosophie des Lebens“ (etwa bei Karl Philipp Moritz)21 erlaubt es Novalis dann, im Modus eines epistemologischen Parallelismus noch andere ‚Lebenswissenschaften‘ zu entwerfen. Deren konkrete Möglichkeit und potentielle Relevanz stehen dabei zunächst nicht im Vordergrund der Debatte. Den Romantikern war es primär nur wichtig, sich über die Neuprägungen von einer etablierten Wissensordnung zu distanzieren und auf diese Weise die konventionalisierten Ableitungsschlüsse im status syllogismi zu sprengen. Novalis bewegt sich als Diskurserfinder um 1800 sprachlich und gedanklich offensiv in einer Ausdruckszone der ‚Störung‘, der „materiellen Diskontinuität“.22 Ihr produktiver Effekt funktioniert allerdings erst durch den Bezug auf ein kohärentes Artikulationssystem. Wenn der Autor dieses partiell durchbricht, gewinnt er Deutungsmacht darüber und entfaltet jene semiotisch überschießende Dynamik, die Novalis als romantische „Combinations und Variationsfertigkeit“23 identifiziert und den „Gesetzen der Association“24 unterstellt. Die romantische „Sinnconstruction des Worts“25 unterwirft damit den Prozess der Sinngebung den sich öffnenden Sprach-
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Vgl. Novalis, „Fragmente und Studien 1799/1800“. In: Werke, Bd. 2, S. 767, Nr. 101. Vgl. das erste, anonym erschienene Buch von Karl Philipp Moritz Beiträge zur Philosophie des Lebens aus dem Tagebuch eines Freimäurers, Berlin 1780. Laut Vorrede (S. 4) sind es sogar „Beiträge zu einer Geschichte des menschlichen Herzens und zu einer Philosophie des Lebens.“ Zur „materiellen Diskontinuität“ im Sprachhandeln vgl. Kristeva, Julia, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/M. 1978, S. 102. Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 510, Nr. 213. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 540, Nr. 362. Vgl. ebd.
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strukturen. Wenn Novalis für die Signifikantenkonstitution einerseits auf „natürliche, mimische, bildliche“ Sprache, andererseits auf „künstliche, zufällige, willkührliche Sprache“26 reflektiert, wird auch der Spielraum möglicher Lektüren deutlich. Eine Entzifferungsarbeit müsste entscheiden können, auf welcher Ebene und in welcher Zeichenordnung zu lesen sei. Die hermeneutische Konstellation ermöglichte dann aber nicht mehr nur den Nachvollzug des Signifikanten, den Abgleich mit vorgängigem Textwissen, sie schlüge um in einen Zugang, der den Nachvollzug der Textgenese im Modus einer „Combinations und Variationsfertigkeit“ erfordert. Diese konstituiert sich aber als ein ungestillter Sinngebungsprozess.27 Hier ist der Ort, wo einholende Kulturhermeneutik in entbindende Kulturpoetik umschlägt, wo die Diskursbeherrschung in Diskursherrschaft übergeht. Für Novalis besteht diese in der Zielvorstellung einer „schöne(n) Composition“28, deren scheinbar ‚harmonische‘ Begrifflichkeit nicht über die Radikalität und das Irritationspotenzial dieser Autor und Leser integrierenden romantischen Konfiguration hinwegtäuschen sollte. Novalis selbst sieht seine eigenen Lektüren als „[m]annigfaltig combinirte Autorbewegungen [...] – Lesen – Beobachten“ an, die produktiv zusammenschießen in „Beziehung auf Selbstdenken – und Schreiben.“29 So sind die „Schriftsteller [...] zugleich ihre Leser – indem sie schreiben.“30 Eine letztlich hieraus erwachsende Konzeption ist dann seine enzyklopädische Idee von einem als „Bibel“-Projekt codierten ‚Universalbuch‘, das „unendlich bunt“31 thematisch wie gestalterisch, historisch wie antizipatorisch alle Lektüren und alles Schreiben engführt: „Mein Buch soll eine scientifische Bibel werden – ein reales und ideales Muster – und Keim aller Bücher.“32 Dessen kulturpoetische Autorschaft, die auf „Methode“,
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Vgl. ebd. Diese Modalität entspricht dem universalpoetischen Programm Friedrich Schegels von der „romantische[n] Dichtart“, deren „eigentliches Wesen“ es sei, „daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ (vgl. Ders., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, I. Abtlg., Bd. 2, S. 183, Nr. 116). Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 510, Nr. 210 (Eintrag „Zukünftige Liter[atur]“) Vgl. ebd., Bd. 2, S. 603, Nr. 575. Vgl. Novalis, „Teplitzer Fragmente“. In: Werke, Bd. 2., S. 398, Nr. 398. Vgl. Novalis, „Fragmente und Studien (1799/1800)“. In: Werke, Bd. 2, S. 766, Nr. 97. Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 599, Nr. 557. Vgl. zum Bibel-Buch-Projekt auch ebd., Bd. 2, S. 602, Nr. 571 sowie Novalis „Randbemerkungen zu Friedrich Schlegels ‚Ideen‘“ (1799). In: Werke, Bd. 2, S. 726, Nr. 95 (mit Schlegels Vorlagetext, der die „Idee vom unendlichen Buch“ formuliert).
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„Gang“, „Process“ als „das Interessante und Angenehme“33 setzt, hat aber wie alle Auktorialität für Novalis „einen fremden Zweck“34, eine intellektuelle Distanzbildung.35 Darin steckt weniger der ‚moderne‘ Gedanke an einen gesellschaftlichen Entfremdungsprozess, wie man zunächst vermuten könnte. Es geht vielmehr innerhalb der Engführung von Schreiben und Lesen um die Markierung des Eintritts genieästhetisch autonomer Autorschaft in eine davon abgespaltene, aber zugleich komplementäre Funktion von sich produktiv öffnenden Lektüren. Schreiben und Lesen beanspruchen jeweils für sich wie dann auch in ihrem Verhältnis zueinander eine absolute „Freiheit“36, die den „fremden Zweck“ als Fluchtlinie ihrer gedanklichen Pragmatisierung zuordnete. Die „idealistisch(en)“ „Operationen“ bestehen dann darin, entweder das eigene Denken zu veräußerlichen, es „fremd“ zu machen, oder „die äußern Dinge“ zu verinnerlichen, sie „in Gedanken“ zu verwandeln.37 Hegel wird diesen Verfremdungsprozess in der Encyclopädie (1817) später als eine dem kulturellen Sein innewohnende „Negativität“ bestimmen, „insofern sie sich zur höchsten Intensität in sich vertieft und selbst, und zwar absolute, Affirmation ist.“38 In der frühromantischen pragmatischen Version reduziert Novalis diesen Überbau-Anspruch noch auf eine funktionierende „Sprachlehre“ als mobilisierendes und zugleich faszinierendes Medium für die „Dynamik des Geisterreichs“.39 Dem entschiedenen und kraftvollen signifikanten Ausdruck kommt somit entscheidende Bedeutung zu. In der Verfügung über die sprachliche Formierung als eines strukturierten Ganzen, die auch eine suggestiv wirksame „Melodie des Styls“40 einschließt, bildet sich zum einen das auktoriale Subjekt selbst, zum andern entscheidet es über die für es relevanten kultursemiotischen Schwellen der Wahrnehmung in einem dynamischen Darstellungsprozess. Novalis operiert zwar noch nicht mit
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Vgl. Novalis, „Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen“. In: Werke, Bd. 2, S. 327, Nr. 64. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 602, Nr. 571. Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 535, Nr. 338. Vgl. Novalis, „Teplitzer Fragmente“. In: Werke, Bd. 2, S. 399, Nr. 398: „Lesen ist eine freye Operation.“ Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 535, Nr. 338. Vgl. Hegel, Encyclopädie, § 87, Bd. 8, S. 187. Vgl. Novalis, „Blüthenstaub“. In: Werke, Bd. 2, S. 227, Nr. 2: „Die Bezeichnung durch Töne und Striche ist eine bewundernswürdige Abstrakzion. Vier Buchstaben bezeichnen mir Gott; einige Striche eine Million Dinge. Wie leicht wird hier die Handhabung des Universums, wie anschaulich die Konzentrizität der Geisterwelt! Die Sprachlehre ist die Dynamik des Geisterreichs. Ein Kommandowort bewegt Armeen; das Wort Freyheit Nazionen.“ Vgl. Novalis, „Fragmente und Studien 1799/1800“. In: Werke, Bd. 2, S. 765, Nr. 93 (bezogen auf „Wilhelm Meisters Lehrjahre“).
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einem derart theoretisierten Schwellenbegriff, wie ihn im Zusammenhang des Grenzdiskurses für ein „ins Bewußtsein-Treten einer Empfindung“ oder eines Eindrucks Herbart metaphorisch eingeführt hat,41 aber er inszeniert poetisch das Schwellenmotiv als Initiationserlebnis. Als Heinrich von Ofterdingen aus Eisenach früh bei Sonnenaufgang aufbricht, sieht er sich an der zuvor schon imaginierten „Schwelle der Ferne, in die er oft vergebens von den nahen Bergen geschaut, und die er sich mit sonderbaren Farben ausgemahlt hatte.“42 Diese Topologie konkretisiert, was einer kultursemiotischen Projektion entspricht. Sie definiert im Modus von Aufmerksamkeit43 und Wahrnehmung eine ‚Schwelle der Lesbarkeit‘, die immer auch „Grenzzone der Sprache“ im Sinne Blumenbergs ist.44 Beispielhaft illustriert dies der ebenso emphatische wie programmatische Essay Die Christenheit oder Europa, den Novalis im Herbst 1799 als „Bruchstück“ seines „Enczyclopädistik“-Projekts45 skizzierte, um die „schöne(n) glänzende(n) Zeiten“ aufzurufen, „wo Europa ein christliches Land war“ (II, 732).46 Er entwirft einen künstlichen, den Epochenbegriff des ‚Mittelalters‘ meidenden47 Gesellschaftsraum vorkopernikanischer Stillstellung48 als die „eigentliche vaterländische Welt“ (II, 732). Ihn unterzieht er einer intensiven kulturhermeneutischen Lektüre, die im Verlauf der darstellerischen Entfaltung in eine kulturpoetische Projektion umformiert wird. Novalis ‚liest‘ dabei ein mythisiertes Mittelalter aus der Sicht eines von der ‚Moderne‘ zu verantwortenden Kulturbruchs, dessen Impuls dahin geht, das „Andenken“ (II, 734) an ältere Lebens- und Vorstellungs-
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Vgl. Anm. 16 und Eisler, Rudolf, Handwörterbuch der Philosophie, Berlin 1913, S. 582. Vgl. Novalis, „Heinrich von Ofterdingen“. In: Werke, Bd. 1, S. 250. Vgl. zum Komplex Aufmerksamkeit zuletzt Thumbs, Barbara, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche, München 2008 (mit der älteren Lit.). Rezeptionsästhetisch in der Kunstwahrnehmung vgl. Zschocke, Nina, Der irritierte Blick. Kunstrezeption und Aufmerksamkeit, Paderborn/München 2006. Vgl. Blumenberg, Hans, „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“. In: Theorie der Metapher, hg. v. Anselm Haverkamp, Darmstadt 1983 (= Wege der Forschung Bd. 389), S. 438-454, hier S. 445. Vgl. dazu den Eintrag im „Allgemeinen Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 511, Nr. 218, der auch die gattungstheoretische Offenheit von Novalis illustriert: „Meine Hauptbeschäftigungen sollen jetzt 1. Die Encyclopädistik. 2. ein Roman. 3. der Brief an Schlegel seyn. Im leztern werde ich ein Bruchstück aus 1. so romantisch, als möglich, vortragen. Soll es eine Recherche (oder Essai), eine Sammlung Fragmente, ein Lichtenbergischer Commentar, ein Bericht, ein Gutachten, eine Geschichte, eine Abhandlung, eine Recension, eine Rede, ein Monolog oder Bruchstück eines Dialogs etc. werden?“ Vgl. Novalis, „Die Christenheit oder Europa“. In: Werke, Bd. 2, S. 732-750; im Folgenden sind die Zitate daraus im Fließtext mit Bandangabe und Seitenzahl. Zum Mittelalter als Epochenbegriff vgl. bei Novalis „Blüthenstaub“-Fragment Nr. 67. In: Werke, Bd. 2, S. 252: „Der edle Kaufmannsgeist [...] hat nur im Mittelalter [...] geblüht.“ Vgl. Werke, Bd. 2, S. 733 f.: Das „weise Oberhaupt der Kirche“ wehrte „den kühnen Denkern öffentlich zu behaupten, daß die Erde ein unbedeutender Wandelstern sey [...].“
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welten zu verdrängen. Dieser Akt der Tilgung von Gedächtnis verdeutlicht für ihn die „Schädlichkeit der Kultur“ überhaupt, insofern sie den „Sinn für das Unsichtbare“ zerstört (II, 734). Mit diesem Verweis bewegt sich Novalis’ Kulturkritik im Ordnungsraum eines Schwellendenkens. Eine von ihm unterstellte „temporelle“ (II, 734) Ausgrenzung und Abwehr einer älteren Epoche als der des Beobachters verschieben die Wahrnehmung dessen, was als kulturell sichtbar noch durchdringt. Die derart an eine Schwelle gebundene Kultursemiotik begreift Novalis demnach als eine dynamische und deshalb rückwirkend verhandelbare. Epochale Geschichtsprojektionen erscheinen dann nicht nur im Horizont ihrer jeweiligen Zeitgenossenschaft charakteristischen Wahrnehmungsschwellen unterworfen, sondern Epochalität ist immer auch selbst ein optional festgelegtes Ergebnis liminaler Apperzeption. Novalis versucht diesem kultursemiotisch wirksamen Schwelleneffekt im weiteren Verlauf seiner Ausführungen die begriffliche Vorstellung einer geschichtliche „Zeiten und Perioden“ bestimmenden „Oszillation“ zu unterlegen, diesem „Wechsel entgegengesetzter Bewegungen“ (II, 735). Der physikalische Fachbegriff der Schwingung, den Novalis hier kulturhermeneutisch aufgreift,49 reflektiert einen zwischen Maxima und Minima verlaufenden energetischen Prozess, der sich dem Intensitätsdiskurs um 180050 verdankt und diesen mittelbar einführt. Diese avancierte kultursemiotische Funktionalisierung bleibt einschließlich ihrer intellektuellen Erweiterungsmöglichkeiten im Essay letztlich unausgeführt. Gleich parallel dazu taucht nämlich im Text die Idee der „fortschreitenden, immer mehr sich vergrößernden Evolutionen“ (II, 735) als Denkfigur von Geschichte auf.51 Die Gemeinsamkeit der beiden generischen ‚Lesarten‘ liegt im offenen Bewegungs- und Verwandlungsmoment, das der historischen Materialität auferlegt wird. Der von Novalis kultursemiotisch eingesetzte Schwellen- und Intensitätsdiskurs spielt im weiteren Kontext dann nochmals implizit eine Rolle. Novalis erläutert kritisch die Wahl einer aufklärerischen Lichtmetaphorik. Er begründet die Attraktivität des Lichts für die Anschauung mit dessen
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Zur Annahme eines „oszillatorischen Lebensprozess(es)” vgl. (im Kontext der romantischen Naturphilosophie um und nach 1800) von Kieser, Dietrich Georg, System des Tellurismus oder tierischen Magnetismus [1826], hier zitiert nach: Romantische Naturphilosophie, hg. v. Christoph Bernoulli/Hans Kern, Jena 1926, S. 101. Vgl. Kleinschmidt, Erich, Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004. Die Forschungslage zum älteren (kulturellen) Evolutionsbegriff des 18. Jhs. ist immer noch unbefriedigend. Vgl. Eisler, Rudolf, Handwörterbuch der Philosophie, Berlin 1913, S. 176-182, s. „Entwicklung“, hier bes. S. 178 zu Leibniz; Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 835 f.; Überblick bei Stripf, Rainer, Evolution – Geschichte einer Idee: von der Antike bis Haeckel, Köln 2007, 2. Aufl.
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„mathematischen Gehorsam“, das „sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte.“ (II, 741) Hinter dem Verweis auf die prismatische Spektralstreuung des Lichts steht aber das Konzept gradualisierter Intensitätsphänomene und damit verbundener Energieschwellen. Sie kann geradezu als das naturwissenschaftliche Initiationsmodell für die begriffliche Ausbildung von Intensität als einer kultursemiotischen Denkfigur gelten, der sich Novalis voll zuwandte, mit „Gradbewegung“ dafür sogar eine deutsche Begrifflichkeit einführte und sie überdies als Metapher bestimmte, die im „strengern Sinne Leben“ heiße.52 Die epochenspezifisch programmatisch artikulierte „Verbesserung des Menschengeschlechts“ kodiert er entsprechend in eine „Graderhöhung der Menschheit“ um.53 Angesichts dieser großen Offenheit von Novalis gegenüber einem verallgemeinerten Intensitätsdiskurs darf es nicht verwundern, dass er bei allem Vorbehalt, die Aufklärung lichtmetaphorisch zu umschreiben, selbst die Metapher problemlos in anderen Kontexten nutzt und der eigenen „Idee [...] einen Lichtstrahl der höchsten Intensität“54 funktional zuordnet. Wesentliches zu einer ‚intensiv‘ und damit graduell konzipierten Geschichtssicht trägt im Essay von Novalis über ein univokes Christentum europäischer Ganzheit die romantisch radikalisierte Denkformel vom „Zauberstab der Analogie“ (II, 743) bei. Sie ist mehr als nur ein methodisch „mächtiges Hilfsmittel“ für den Historiker, wie es etwa Schiller formuliert,55 denn Novalis zielt nicht auf einen funktionalen Abgleich geschichtlicher Situationen. Ihm geht es darum, über vollkommen neue Denkbewegungen Analogien zu finden und deren Potenzial freizusetzen. Die von ihm angedachten prozessualen Beschreibungsmodelle dienen dazu, für eine als „nicht eigenmächtig, so gut wie unendlich liebenswerth und weissagend“ (II, 744) stilisierte Historie, eine zugleich komplexe wie faszinierende ‚Lesbarkeit‘ zu gewinnen. Novalis demonstriert das am Sujet der „Staatsumwälzungen“, deren Undurchschaubarkeit er zu durchbrechen versucht. Lesbarkeit wird über eine semantische Engführung von „Umwälzungen“ hergestellt. Den staatsgesellschaftlichen Veränderungen werden die ‚Umwälzungen‘ analogisiert, die völlig anders gepolt im Sisyphus-Mythos realisiert sind. Von dieser philologisch prekär hergestellten
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Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 591, Nr. 514: „Es ist eine Gradbewegung, und diese h[eißt] im strengern Sinn Leben.“ Die Notiz steht im Kontext einer „Erregungstheorie“ der „Reitzung“, die „sich unendlich analysiren und synthesiren“ lässt. Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 553, Nr. 409. Vgl. Novalis brieflich an Friedrich Schlegel 11. 5. 1798. In: Friedrich Schlegel und Novalis, Biographie einer Romantikerfreundschaft in ihren Briefen, hg. v. Max Preitz, Darmstadt 1957, S. 112, Nr. 44. Vgl. Schiller, Friedrich, „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ In: Ders., Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, München 1962, 3. Aufl., Bd. 4, S. 764.
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Basis aus führt Novalis die assoziative Vernetzung fort. Im mythischen Narrativ von Sisyphos, der seine Steine vergeblich den Berg hinaufwälzt, entdeckt er das darin eingeschlossene Schwerkrafttheorem. Es ermöglicht über das mechanistisch gleichgeschaltete ‚Fallen‘ von Staaten und Steinen, eine Lösung für den derart stürzend codierten Staat dann darin zu sehen, dass dieser einer „Beziehung auf das Weltall“ bedürfe, da so „eine nie ermüdende Feder“ als kompensatorische Gegenkraft verfügbar sei (II, 742). Dieser kulturhermeneutisch eigenwilligen Lesart neuzeitlicher Staatengeschichte kommt die Qualität einer kulturpoetischen Umgestaltung zu. Wesentliches Indiz dafür ist die sprachliche Suche nach Referenzen und Formen kultureller Lesbarkeit um den Preis, aber auch der Möglichkeit einer „Diskontinuität der Mitteilung“56 im Sinne Roland Barthes’. Wenn Novalis im Zuordnungsfeld von historischen Ereignisabläufen einen ‚sprechenden‘ Mythos mit einer physikalischen Gesetzlichkeit verknüpft, dann scheint dies gewagt. Diese aussagelogische Querung mit ihrer letztlich „unsinnlichen Ähnlichkeit“57 wird aber durch das „mimetische Vermögen“58 der Sprache als Medium formulierbar und damit auch indirekt lesbar gemacht. Eine derart ‚offen‘ zuordnende Lesbarkeit der Natur im wissenschaftlichen Diskurswissen der Zeit ist für den Kraft/Bewegungsbereich allerdings nicht nur romantischer Assoziation verdankt. Georg Simon Klügel (als eine von Novalis immer wieder rezipierte Gelehrtenautorität) notiert z. B. im zweiten Teil seiner Encyklopädie 1782 unter „Kraft“: Sie sei das, „was Bewegung hervorbringt, ändert oder hemmt“ und fügt hinzu: „Geistige Prinzipien sind durch ihre Verbindung mit einem organisirten Körper häufiger als mechanische Kräfte wirksam.“59 Von solch einem ‚begeisteten‘ Wissensbegriff körperinduzierter Kraftkreisläufe her legitimiert sich schließlich auch der Querbezug auf ein historisches Ordnungsmodell von Staat, das seinerseits auf einen Bewegungs- und Kraftkomplex rekurriert. Die zentrale antike Leitmetaphorik vom Staat als Körper steht zudem auch noch im Hintergrund. Die kultursemiotischen Überschichtungen erscheinen so in materiell latenten Diskursnetzen eingesponnen.
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Vgl. zum Begriff (im Kontext von Lesbarkeit) Barthes, Roland, S/Z, Frankfurt/M. 1976, S. 181. Vgl. Benjamin, Walter, „Über das mimetische Vermögen“. In: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Hermann Schweppenhäuser/Rolf Tiedemann, Bd. II.1, Frankfurt/M. 1977, S. 210-213, hier S. 211. Vgl. ebd., Bd. II.1, S. 209. Vgl. Klügel, Georg Simon, Encyklopädie, oder zusammenhängender Vortrag der gemeinnützigsten Kenntnisse, Zweyter Theil [...], Berlin/Stettin 1782, S. 70, § 26.
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Dass Novalis sein Geschichts- und Religionsbild und damit den Gewinn einer Lesbarkeit der europäischen Kultur an sprachlich mobile, wenn nicht diffuse Leitbegriffe in der subtilen Koordination einer „Equationslehre – und DistinktionsLehre“60 knüpft, belegt der Christenheit oder Europa-Essay immer wieder. Wenn Novalis erklärt: „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion“, weil „aus der Vernichtung alles Positiven“ sie „ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor“ heben könne (II, 743), so ist der (erst im 18. Jh. als Fremdwort ins Deutsche eingeführte)61 Anarchiebegriff bei Novalis nicht politisch eingesetzt. Novalis kennt zwar die zeitgenössische Argumentation, dass aus der Anarchie die Revolutionen erwüchsen, die eine Gesellschaft regenerierten.62 Kulturhermeneutisch gesehen, steht aber bei ihm eher die Idee eines voraussetzungslosen Neubeginns zur Debatte. Erst aus der vollständigen Verwerfung aller vorgängigen Religionskultur entsteht über eine „Logik der Phantasie“ (Vico)63 die Idee einer gesellschaftsleitenden christlichen Universalreligion, mit der dann auch ein zugehöriges kulturelles Profil verbunden ist. Novalis nutzt den Anarchie-Begriff in einem von ihm assoziativ begriffenen Modus einer „Sinnconstruction des Worts“64 nur als eine radikale, chaotische Anfänge signalisierende Metapher, wie sie zeitgleich auch Friedrich Schlegel (in seiner Abhandlung Über das Studium der griechischen Poesie von 1797) etwa in der Formulierung einer „ästhetische(n) Anarchie unsres Zeitalters“65 gebrauchte. Novalis’ kulturhermeneutische Lesart der
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Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 599, Nr. 555 über „Grade und Arten etc. der Gleichheit“. Schulz, Hans, Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 1, Straßburg 1913, S. 33 nennt in der Bedeutung ‚Herrscherlosigkeit‘ als Erstbelege Wächtler, Johann Christian, Commodes Manual oder Hand-Buch, Leipzig 1709 und Basedow, Johann Bernhard, Praktische Philosophie für alle Stände, Kopenhagen/Leipzig 1758; ein politischer Begriffsgebrauch dann häufiger in der 2. Hälfte des 18. Jhs. gemäß der engl. und frz. Debatten (vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Ritter, Bd. 1, Sp. 271-274 die Belege). Vgl. so [Chaussard, Pierre Jean Baptiste], L’Esprit de Mirabeau, Paris 1797, Bd. 1, S. 127. Ebenso bei Schlegel, Friedrich, „Über das Studium der griechischen Poesie“. In: Ders., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 1. Abtlg., Bd. 1. Studien des klassischen Altertums, S. 224: „Schon oft erzeugte ein dringendes Bedürfnis seinen Gegenstand; aus der Verzweiflung ging eine neue Ruhe hervor, und die Anarchie ward die Mutter einer wohltätigen Revolution.“ Vgl. hierzu Blumenberg, Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M. 1998, S. 8. Vgl. zur Formulierung Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 540, Nr. 362: „Jedes Wort sollte [...] mimisches Zeichen einer höhern Aussprache – Sinnconstruction des Worts. All dies hängt an den Gesetzen der Association.“ Vgl. Schlegel, Friedrich, Die Griechen und Römer. Historische und kritische Versuche über das Klassische Alterthum, Neustrelitz 1797; danach: Ders., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 1. Abtlg., Bd. 1, S. 219 und S. 224; vgl. auch ebd., S. 225 („jene durchgängige Anarchie in der Masse der modernen Poesie“); S. 264 („das System der ästhetischen Anarchie“); S. 270 („chaotische Anarchie der Masse der modernen Poesie“).
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Religionsgeschichte wandelt sich dabei wieder in den Begründungsversuch einer aktiven kulturpoetischen Eigenart um. Der Anarchie-Begriff dient ihm im Verschaltungshorizont einer „Cultur des Gedankensinns, durch Lesen, Hören, denken, schreiben“66 dazu, einen unbestimmten Sachverhalt, der (noch) nicht durch einen stimmigen Erscheinungskontext abgesichert ist, namhaft zu machen. Die auratischen Metaphorisierungen, die den Essay in diesem Zusammenhang bestimmen und spezifisch modellieren, überspielen den eigentlich gegebenen Mangel an „vollständigem Ausdruck“. Die Textsituation lässt bei Novalis vieles, wenn nicht alles letztlich etwas offen und endet (wenn man Merleau-Ponty folgte) notwendig im „Schweigen“,67 d. h. in einer auffüllbaren Unbestimmtheit der Vergegenständlichung. Der ganze Essay Christenheit oder Europa verfehlt die genaue Gegenwärtigkeit dessen, was er kulturell einliest, aber auch, was er selbst zur Lektüre anbietet. Seine sprachliche Form erweist sich als eine, die nicht in eine konkrete Signifikanz und Logizität bündig zurückgeholt werden kann. Insofern entsteht auch in der Spannung von Form und Stoff, diesem von Friedrich Schlegel eingeführten Modus einer „Experimentalphysik des Geistes“68, ein ‚absoluter‘ Text. In der philosophischen Terminologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts wäre er als ein symbolischer und damit (mit Novalis) der „Selbstthätigkeit“69 zuzuordnen. „Die Realität unserer Begriffe darzutun werden immer Anschauungen erfordert“, notiert Kant in der Kritik der Urteilskraft von 1790/93.70 Den „Vernunftbegriffen, d. i. de(n) Ideen“ hingegen könne „keine Anschauung angemessen gegeben werden.“ Deshalb ergibt sich daraus für die Darstellung („Hypotypose“)71, wenn eine direkte Versinnlichung nicht möglich ist, nur eine symbolische Präsentation, die im Modus der Analogie Anschauung erschließt. Sie
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Vgl. Novalis, „Fragmente und Studien 1799/1800“. In: Werke, S. 768, Nr. 105 (hier Teilzitat). Vgl. Merleau-Ponty, Maurice, „Das mittelbare Sprechen und die Stimmen des Schweigens“. In: Ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 69-114, hier S. 73. Vgl. Schlegel, Friedrich, „Athenäumsfragmente“. In: Ders., Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, 1. Abtlg., Bd. 2, S. 176, Nr. 75. Vgl. Novalis, „Fragmente und Studien“. In: Werke, Bd. 2, S. 848, Nr. 468. Vgl. Kant, Immanuel, „Kritik der Urteilskraft“. In: Ders., Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968 (= Theorie-Werkausgabe), Bd. 10, S. 458, § 59. Die Hypotypose, gr. υποτυπώσις/hypotypósis bezeichnet außer der rhetorischen Figur (etwas wie vor Augen gemalt) zunächst einen Bildentwurf, dann eine gedrängte Darstellung. Vgl. Passow, Franz, Handwörterbuch der griech. Sprache, Leipzig 1837, 5. Aufl. Bd. 2.2, S. 2167; Frisch, Johann Leonhard, Nouveau Dictionnaire des Passagers [...] Neues Frantzösisch-Teutsches [...] Wörter-Buch [...], Leipzig 1755, Sp. 1132 verzeichnet für das Lemma hypotypose als Übersetzung: „eine rednerische Vorstellung einer Sache“.
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übernimmt im Hinblick auf Anschaulichkeit nur die „Form der Reflexion“, ohne über eine reale Inhaltlichkeit zur verfügen.72 Die „Kristallisationen des historischen Stoffs“ (II, 746), die Novalis für sein imaginäres christliches Alteuropa projiziert, illustrieren ein solches Übertragungsmodell der Reflexion, für das Kant als Epochenreferenz dient. Novalis entwickelt durchaus eigenständig eine strukturelle Beziehung zwischen ‚Symbol‘ und ‚Darstellung‘ im Horizont einer letztlich paradoxen Semiologie. Denn die sprachliche Bedeutung des symbolischen Textes bleibt uneinholbar (Paradox der Referenz), die Zeichen-‚Körper‘ bleiben untilgbar (Paradox der Materialität) und der Bedeutungsakt entzieht sich seiner Darstellbarkeit (Paradox der Performanz).73 Kulturpoetologisch inszeniert Novalis diese Konstellation, der sich ja auch eine „symbolisch zu behandeln[de]“ Physik74 vorstellen konnte, wenn er etwa – eingesprengt in seine eigenwillige Sicht auf die „vorhergegangenen Zeiten“ – die überlegene Position der Dichtung gegenüber der (Aufklärungs-) Philosophie darstellt: „Reizender und farbiger steht die Poesie, wie ein geschmücktes Indien dem kalten, todten Spitzbergen jenes Stubenverstandes gegenüber. Damit Indien in der Mitte des Erdballs so warm und herrlich sey, muß ein kaltes starres Meer, todte Klippen, Nebel statt des gestirnvollen Himmels und eine lange Nacht, die beiden Enden unwirthbar machen.“ (II, 746) Metaphorische Landmarken und ihre durch Klimazonen bestimmte Umwelt werden als signifikantes Material dafür genutzt, den Ort der Poesie aus einer Denkfigur der Polarisierung zu projizieren. Dabei sind Kernreferenzen erkennbar, doch erschöpft der Text sich nicht in ihnen. Die Engführung von Poesie mit einem exotistischen Mythem,75 das seinerseits wieder über ein Kontrastmoment geradezu ‚kartographisch‘ moduliert wird, bildet ein semiotisches Geflecht, das weder seiner Genese noch seiner Formierung nach voll ausgedeutet werden kann. In der Diktion Benjamins ließe sich von Novalis’ Sprachkonzept sagen, es diene hier subtil als „ein Medium, in das ohne Rest die frühern Merkfähigkeiten für das Ähnliche so eingegangen“ sind, „daß nun sie [sc. die Sprache] das Medium darstellt, in dem sich die Dinge nicht mehr direkt wie früher in dem Geist des Sehers oder Priesters sondern in ihren
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Vgl. alle Zitate Kant: „Kritik der Urteilskraft“. In: Ders., Werke, Bd. 10, S. 459, § 59. Vgl. grundsätzlich dazu Mersch, Dieter, „‚Paradoxien der Verkörperung‘. Zu einer negativen Semiotik des Symbolischen“. In: Aktualität des Symbols, hg. v. Frauke Berndt/ Christoph Brecht, Freiburg/Br. 2005, S. 33-52, hier S. 37 ff. Vgl. Novalis’ Brief an Friedrich Schlegel vom 20. 7. 1798. In: Friedrich Schlegel und Novalis, hg. v. Preitz, S. 120, Nr. 47. Vgl. zu Indien als romantischer Chiffre des Poetischen bzw. der Poesie den Kommentar von Hans Jürgen Balmes zu: Novalis, Werke, Bd. 3, S. 601 (mit weiteren Verweisstellen).
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Essenzen, flüchtigsten und feinsten Substanzen, ja Aromen begegnen und zueinander in Beziehung treten.“76 In der materiellen Referenz ist Novalis zwar weit von der ästhetizistischen Ziselierung und Flüchtigkeit Benjaminscher Bestimmungen entfernt, keineswegs aber im metaphorischen Evokationspotenzial seiner Darstellung. Wenn er „die tiefe Bedeutung der Mechanik“ auf den alten „Gelehrten und Philosophen“ lasten lässt, die als „Anachoreten in den Wüsten des Verstandes“ wieder „die Heiligkeit der Natur, die Unendlichkeit der Kunst, die Nothwendigkeit des Wissens, die Achtung des Weltlichen, und die Allgegenwart des Geschichtlichen durch die That anerkannten, und verkündigten“ (II, 746), so ist neben der thematisierten Reihe hochkomplex aufgeladener romantischer Leitbegrifflichkeiten vor allem die Eingangswendung von der „tiefen Bedeutung der Mechanik“ formal wie funktional ein kryptischer Ausdruck. Seine inhaltlichen Referenzen sind dunkel. Die Mechanik als die Leitdisziplin der Physik im 18. Jahrhundert erscheint begrifflich hier in einem kultursemiotischen Latenzraum, als figura cryptica.77 Der noch keineswegs verfestigte Wortgebrauch von „Mechanik“ bewegt sich (neben den Fachbezeichnungen als Wissenschaft und technische Konstruktion) kultursemiotisch zwischen einem eher unreflektierten Handlungsmoment („Kunstgriff“)78 – mit öfter leicht negativer Wertung – und einer positiveren Verwendung als relevantes Programmkalkül. Novalis orientiert sich an der elaborierten Version. Das erklärt indes noch nicht die „tiefe Bedeutung“, deren ungeklärter Bezug wie ihre signifikante Performanz einer „Sprachform des Ausweichens“79 folgen. Darin liegt nun jedoch gerade der Effekt des semantisch selbstreflexiven Ausdrucks. Die „tiefe Bedeutung“, von der Novalis spricht, bleibt als „univoke Information“ kommunizierender Sprachsubjekte, als „Phänotext“, verborgen in der Prozessualität eines „Genotextes“ der flüchtigen Bahnungen und Markierungen.80 Die auktoriale Bedeutungssetzung hebt sich im Akt ihrer Realisierung auf, so dass der Text nicht nur an dieser Stelle seine „Indiffe-
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Vgl. Benjamin, Walter, „Lehre vom Ähnlichen“. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 204-210, hier S. 209. Vgl. Haverkamp, Anselm, Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt/M. 2002. Latenz: 40 Annäherungen an einen Begriff, hg. v. Stefanie Dieckmann, Berlin 2007. Vgl. Herder, Johann Gottfried, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“. In: Ders., Werke, hg. v. Martin Bollacher u. a., Bd. 4, Frankfurt/M. 1994, S. 57: „nichts als simple Mechanik, neuer Kunstgriff, Handwerk, das die Welt änderte.“ Vgl. auch ebd. S. 63: „leichtere Mechanik! Räsonnement“. Vgl. Blumenberg, „Ausblick“. In: Theorie der Metapher, hg. v. Haverkamp, S. 447. Vgl. zur Terminologie und Zitat Kristeva, Revolution, S. 94-96.
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renz gegen die Anwesenheit“ dessen, was er vorzustellen unternimmt,81 vorführt. Die solcherart ‚absolut‘ formulierten Begriffe, Sätze und Abschnitte verschleiern, wovon sie sprechen, gerade im Modus ihrer Beredsamkeit. Die Emphatik einer religiösen Diskurssprache, in der Novalis seinen Essay verfasste, begünstigt dieses Spiel mit der Medialität der Darstellung bis in kryptogrammatische Lesarten hinein. Als ein Beispiel vermittelt diese beredte Verrätselung die zunächst hermetische Referenz auf einen von Novalis eingeführten „Bruder“, der als der „Herzschlag der neuen Zeit“ (II, 747) proklamiert. wird. Dass damit Friedrich Schleiermacher gemeint ist, dessen philosophiegeschichtlich epochemachenden fünf Reden Über die Religion „an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ gerade (1799) anonym erschienen waren und Novalis intertextuell stark beeinflussten, wird im Essay subtil erinnert.82 Das den Namen bildende Sprachmaterial von Schleiermacher generiert einen kontextuell zunächst isoliert wirkenden Aussagesatz: „Er [sc. der Bruder] hat einen neuen Schleier für die Heilige“ – gemeint ist Maria – „gemacht, der ihren himmlischen Gliederbau anschmiegend verräth, und doch sie züchtiger als ein Andrer verhüllt.“ (II, 747) Dem Namen Schleiermacher fehlt an sich wie jedem Eigennamen eine begriffsintensionale Bedeutung, er „besagt“ nichts.83 Novalis liest ihn nun jedoch ganz im Sinne des zeitgenössischen Lexikographen Joachim Heinrich Campe wörtlich als einen, „der Schleier macht“.84 Er verbalisiert die Appellative der Nominalkomposition und schafft sich damit die Möglichkeit einer metaphorischen Konstruktion. Über das grammatische Subjekt des ‚Schleiermachers‘ verweist Novalis dann nicht nur auf die Verborgenheit Marias, sondern zugleich auch auf den wesentlich gemeinten Text des Philosophen, der als ‚Schleier‘ umschrieben und signiert erscheint und um dessen Repräsentation es geht. Erst von hier aus klärt sich die Funktion des Satzes. Zu dieser verschlüsselten Darstellung auf sprachmaterieller Ebene tritt jedoch noch ein weiteres Diskursmoment hinzu. Die Schleiermetapher85 erinnert an eine lange philosophische und poetologische Tradition, über
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Vgl. Blumenberg, „Ausblick“. In: Theorie der Metapher, hg. v. Haverkamp, S. 450 (auf Begriff und Symbol bezogen). Vgl. dazu (mit anderer Perspektive) Hörisch, Jochen, Die Wut des Verstehens, Frankfurt/M. 1988, S. 55 f. Vgl. Kamlah, Wilhelm und Lorenzen, Paul, Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens, Mannheim 1967, S. 32. Vgl. den Eintrag bei Grimm, Jakob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 9, Leipzig 1899, Sp. 584: „handwerker, der schleier macht“ (nach Campe). Vgl. Konersmann, Ralf, Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. 331-340 (mit der Sekundärliteratur S. 340).
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die das Problem der Anschauung und der Wahrnehmung von Wirklichkeit diskutiert wurde. Die Funktionsgeschichte des Motivs ist divergent. Zum einen referiert die Debatte auf den Verhüllungsaspekt des Schleiers, der primär etwas verbirgt, aber zugleich das Verborgene auch erahnen lässt. Zum andern steht der Schleier dafür, dass durch ihn etwas Geheimes (Kunst, Gottheit, Wahrheit, Wirklichkeit) diaphan verschattet bleibt. Dieser Diskurstradition wendet sich Novalis zu und parallelisiert den Schleier „für die Jungfrau“ mit dem „Geist für den Leib“ (II, 747) auf der Ebene einer „unentbehrlichen“ produktiven „Organ“-Funktion. Die „Falten“ des Schleiers sind dann wie „Buchstaben“, das „unendliche Faltenspiel ist eine Chiffern-Musik“ (ebd.). Der Schleier und seine „sichtbare Musik“86 wird so zum Mythem einer umfassenden, aber auch ‚anderen‘ Lesbarkeit gemacht, die zur Schnittstelle einer angeeigneten wie auch der eigener Autorschaft hinführt. Es ist bei Novalis eine Autorschaft, die schwierig zu erfassen ist, weil sie, wie Kant (auf Herder und seinen bildhaften und metaphorischen Stil gemünzt) kritisch anmerkt, den „Körper der Gedanken wie unter einer Vertugade“87, einem Reifrock88, zu verstecken geneigt, ja angetreten ist. Herder wie Novalis nutzen, wenn auch jeder für sich in charakteristischer Intentionalität und Formierung, Sprache als darstellerischen ‚Wortschleier‘ ihrer Materiallektüren „der äußern und innern Welt“ (II, 747). Novalis differenziert dabei zwischen einer kulturhermeneutischen Perspektive („Kenntniß“) über die ‚äußere‘ Welt und einer kulturpoetischen Initiation der ‚inneren‘ Welt („Erregung und Cultur“) (II, 748). In seinem Essay Die Christenheit oder Europa inszeniert der Autor ein komplexes Wissens- und Gesellschaftskonstrukt, das sich der Idee eines imaginären Christentums verschreibt, aber im Kern eine sprachgenerierte Heterotopie, einen (‚Wort‘-)Ort außerhalb aller Lokalisierung entwirft und dieses „Idol ungeborner Welten“89 als einen ‚Spiegel‘ darstellt und nutzt. Novalis nennt ihn zum einen „Europa“ als „ein Staat der Staaten, eine politische Wissenschaftslehre“, die aber zugleich die „intellektuale Anschauung des politischen Ichs seyn“ (II, 748) könnte. Zum anderen sei es
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Vgl. Novalis, „Fragmente und Studien 1799/1800“. In: Ders., Werke, Bd. 2, S. 756, Nr. 28. Vgl. Kant, Immanuel: „Recensionen von J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“. In: Ders., Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung, Bd. 8, Berlin/ Leipzig 1923, S. 43-66, hier S. 60. ‚Reifrock‘ ist eine schon vornehmere Bedeutungsvariante von vertugade, das im 18. Jh. sehr viel handfester lexikalisiert wird: „ein ausgestopfter Wulst oder ein Küssen, so die Weiber unter ihren Röcken trugen, damit sie etwas vom Leib abstünden.“ Vgl. Frisch, Nouveau Dictionnaire, Sp. 2005. Vgl. Novalis, „Randbemerkungen zu Friedrich Schlegels ‚Ideen‘“. In: Werke, Bd. 2, S. 722, Nr. 10 (im Ursprungstext heißt es pluralisch „Idole“ [auf „Ideen“ bezogen]).
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die „Christenheit“ als „eine sichtbare Kirche“, deren Wesen „ächte Freiheit seyn“ (II, 750) werde. Beide Begriffe sind bei Novalis, der sie im Titel seines Essays zwischen Disjunktion und Konjunktion in einer schwebenden Lektürezuordnung, im deleuzianischen Modus eines „ZwischenAusdrucks“ („pli selon pli“)90 korrespondieren lässt, einerseits integral, andererseits scheinen „Europa“ wie „Christenheit“ auch als changierende Heterotopien untereinander zu funktionieren. Aus der lebensformenden Schreibbewegung des Autors heraus kanalisieren sie so ein Begehren nach einer Andersheit, die zugleich Einbezogenheit wünscht. Novalis artikuliert es in einer Darstellungsform, die sich weder thematisch noch sprachlich einordnet, sondern die nach Gabriel de Tarde als „Gegen-Nachahmung“ (contre-imitation)91 auffassbar und damit zugleich auch anthropologisch verankerbar wäre. Novalis folgt in seiner essayistisch assoziativen Darstellung einem fragilen Sinnsetzungsmodus letztlicher Unauflöslichkeit. Daraus entstehen dann aber Impuls und Anspruch, aus dieser aporetischen Situation gerade den Anspruch der Darstellbarkeit abzuleiten: „Wenn der Caracter des gegebenen Problems Unauflöslichkeit ist, so lösen wir dasselbe, wenn wir seine Unauflöslichkeit darstellen.“92 Es ist jene thematische Grenze der Sprache, die zwischen dem Ausdrücklichen und Nichtausdrücklichen verläuft und von der die Lesbarkeit seiner Texte entscheidend mitbestimmt wird, an der sich Novalis intensiv abarbeitet, um (mit den Worten der Hegelschen Ästhetik) „aus der Poesie der Vorstellung in die Prosa des Denkens“ hinüberzutreten.93 Der romantische Schwellendiskurs zwischen Poesie und Prosa, Kunst und Welt nährt sich aus einer von Novalis als „Stubenverstand“94 benannten szientistischen Diskurskritik, die unter der „indefinissabel(n)“95 Signatur des Poetischen auf Durchbrechung verfestigter Denkstrukturen setzt. Eine distanzschaffende „Heterogenëisirung“96 stellt sich dabei durch die kulturhermeneutisch wie kulturpoetisch indu-
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Deleuze, Gilles, Le pli. Leibniz et le baroque, Paris 1988, S. 44, („entr’expression“) bzw. dt. Ders., Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M. 1995, S. 56. Vgl. de Tarde, Gabriel, Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt/M. 2003, S. 13. Der Text de Tardes erschien erstmals 1890. Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 613, Nr. 612. Ähnlich die Notiz ebd. S. 564, Nr. 446: „Die Theilung der Schwierigkeiten ist eine Conzentration der Kraft.“ Vgl. Hegel, „Vorlesungen über die Ästhetik“. In: Ders., Werke, hg. v. Michel/Moldenhauer, Bd. 13, S. 122. Vgl. Novalis, „Christenheit“. In: Werke, Bd. 2, S. 746. Vgl. Novalis, „Fragmente und Studien 1799/1800“. In: Werke, Bd. 2, S. 839, Nr. 431: „Die Poësie ist durchaus personell und darum unbeschreiblich und indefinissabel.“ Vgl. zum Begriff im Kontext einer „philosophischen Physik“ Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 509, Nr. 201.
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zierte Spannung zwischen Wahrnehmung und Darstellung ein, aus der „verschiedene Grade des eindringlichen Sprechens und Schreibens“97 resultieren. Novalis’ Christenheit oder Europa-Essay folgt in seiner Gestalt jener generischen Konzeption, die der Autor selbst einmal als Formierungprozess „jedes rohen Systems“ charakterisiert hat. Dessen gegebene „Unvollkommenheit“ muss vital ausgeglichen werden, um „eine neue, aus unendlichen Unähnlichkeiten entstehende, all[gemeine] ähnliche Grundgestalt und Bew[egung]“ hervorzubringen, „die gleichsam die Synthesis der ursprünglichen einfachen Grundgestalt und Bewegung – und ihrer möglichen, zahllosen Alterationen oder Variationen enthält.“98 Dieses diskursive Modell der darstellerischen Gegenläufigkeit(en), das kulturhermeneutische mit kulturpoetischen Aktionsperspektiven zu integrieren erlaubt, nutzt der Autor Novalis produktiv sowohl in seinen eigenen Notaten als auch in den poetischen wie essayistischen Texten. Es steht für einen Denkstil und verweist dadurch auch auf komplexe kognitive Rahmenbedingungen einer romantischen Lesbarkeit. Dass in Novalis’ Fall deren Theoretisierung schon in der zeitgenössischen Rezeption den Eindruck einer „unerklärbaren Erklärung“99 machte, reflektierte der Autor durchaus selbst und liefert dafür im Lehrgespräch der Dialogen das diskursive, seine Lektüre zugleich ermöglichende wie verschattende Materialbeispiel. Im literaturtheoretischen Programm, das er hier skizziert, verspiegelt er inhärente Wissenspotentiale und entfaltet sie im Status ihrer Latenzen. Die scheinbare ‚Unverständlichkeit‘ ergibt sich dabei aus einem kalkulierten Umgang mit Konfigurationen des Unbestimmten. Novalis artikuliert ein Modell, das bekanntes Wissen dynamisch umschreibt im Sprachmodus ‚tätiger‘ Formierung, in dem sich die ενέργεια/ enérgeia Wilhelm von Humboldts konkretisiert fände. Bey einem Wesen, wie eine Litteratur findet der Fall statt, daß die Kraft, die ihm den Stoß gab, die erregende Kraft, in dem Verhältniß wächst, als seine Geschwindigkeit zunimmt, und daß sich also seine Capacitaet eben so vermehrt. Du siehst, daß es hier auf eine Unendlichkeit abgesehn ist. Es sind 2 Veränderliche Factoren die im wachsenden Wechselverhältniß stehn und deren Produkt hyperbolisch fortschreitet. Um aber das Bild deutlicher zu machen, müßten wir uns errinnern, daß wir nicht mit einer Größen Bewegung und Ausdehnung, sondern mit einer veredelnden Variation (Verschiedenung) von Beschaffenheiten, deren Inbegriff wir Natur nennen, zu thun haben. Den Einen jener veränderlichen Factoren wollen wir die Sinnfähigkeit – Organibilitaet – Belebungsfähigkeit nennen – worinn denn zugleich die Variabilitaet mitbegriffen ist. Der Andere sey uns die
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Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 582, Nr. 484. Vgl. Novalis, „Das allgemeine Brouillon“. In: Werke, Bd. 2, S. 564, Nr. 446 in der Rubrik Physiologie. Vgl. Novalis, „Dialogen“. In: Werke, Bd. 2, S. 431.
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Energie Ordnung und Mannichfaltigkeit der erregenden Potenzen. Denke dir beyde in Wechselzunahme durchaus und schließe dann auf die Produktenreihe. Mit der Einfachheit wächst der Reichthum – mit der Harmonie die Volltönigkeit – die Selbst und Vollständigkeit des Gliedes mit der des Ganzen – Innre Vereinigung mit äußerer Verschiedenheit.100
Die begriffsprojektive Denkfiguration, die hier über eine Engführung von Kraft und Literatur als zweier energetischer Prozesse entwickelt wird, entfaltet und illustriert eine komplexe Lesbarkeit. Zum einen ist die Begrifflichkeit einer primär physikalischen und mathematisierten Wissensordnung entnommen und verpflichtet, zum andern werden die Begriffsfelder ins Poetologische übertragen und geöffnet. Novalis schafft damit neue „Möglichkeitsbedingungen“ (Foucault) für Wissenselemente und Wissensstrukturen. Der epistemische Akt schafft dabei zwar das Problem, dass sich die (Zu-) Ordnung der Bedeutungsfelder verwischt. Das ist für die Ausbildung der „Architekturen des Wissens“101 im 18. Jahrhundert ein charakteristischer Prozess und die dabei auftretenden Unschärfen sind weniger ein Mangel als das Mittel, neu zu denken und zu formulieren. Sie wirken fruchtbar, weil so für ihre eigenen wie die auf sie bezogenen kulturellen Hermeneutiken begriffliche Spielräume für das „vergesellschaftete Wissen“102 gewonnen werden. Novalis bewegt sich gegenüber diesen Konstellationen seiner Epoche in gewisser Weise konform, aber er radikalisiert die sprachlichen Denkfiguren des thematischen Materials unter dem Anspruch einer „Selbstdurchdringung des Geistes“103 derart, dass sie zu einer neuen Qualität der Episteme führen. Der Dichter weiß, dass eine „unerschöpfliche Menge von Materialien zu neuen individuellen Combinationen“ umherliegen104, deren Diskursivität in der dynamischen Gegenwärtigkeit des Textvollzugs zu bestimmen und wieder zu finden ist: „Man muß es so verstehen und man muß es anders verstehen.“105
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Vgl. Novalis, „Dialogen“. In: Werke, Bd. 2, S. 430 f. Vgl. dazu Busse, Architekturen, S. 43-57. Vgl. ebd., S. 56. Vgl. Novalis, „Logologische Fragmente“ (1798). In: Werke, Bd. 2, S. 316, Nr. 13. Vgl. Novalis, „Poesie“. In: Werke, Bd. 2, S. 323, Nr. 36. Vgl. Derrida, Jacques, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/M. 2003, S. 138.
Diskurswandel im Material
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Texturen der romantischen Ironie Oder von der Geburt ‚der modernen Poesie‘ aus der Lektüre des metapoetischen Diskurses RUDOLF DRUX 1. Zu Friedrich Schlegels Gedanken über eine „transcendentale Poesie“ (π2) Friedrich Schlegels Methode, komplexe theoretische Zusammenhänge in locker verknüpften Bruchstücken zu komprimieren und aphoristisch zu überspitzen, womit er seiner Forderung nach der Vereinigung von Kritik und Poesie in seinen Fragmenten nachzukommen sucht, erleichtert es zwar nicht gerade, seinen Ausführungen bündige Definitionen zu entnehmen; dennoch lässt sich über seine Verwendung des Attributs ,modern‘1 zweierlei sagen: Es hebt, unabhängig vom jeweiligen historischen Kontext, zum einen auf „das totale Übergewicht des Charakteristischen, Individuellen und Interessanten“ ab,2 während die Alten dem Ausdruck der Schönheit, der die Harmonie des Universums in formvollendeter Ganzheitlichkeit widerspiegele, alle anderen Intentionen des Dichters untergeordnet hätten,3 und zeigt zum andern die ins Unendliche fortzutreibende Möglich-
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Den Gegensatz zwischen dem Modernen und Alten in Bezug auf die poetische Erfahrung betont deutlich das Lyceums-Fragment 84: „Aus dem, was die Modernen wollen, muß man lernen, was die Poesie werden soll: aus dem was die Alten tun, was sie sein muß“, Schlegel, Friedrich, „Lyceums-Fragmente“. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jaques Anstett/Hans Eichner, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), München/Paderborn/Wien 1967, S. 157. Schlegel, Friedrich, „Über das Studium der griechischen Poesie“ [1795]. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 1, S. 228. Vgl. Eichner, Hans, „Einleitung“. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, S. XLVI-LI. Vgl. hierzu auch Belgardt, Raimund, „‚Romantische Poesie‘ in Friedrich Schlegels Aufsatz über das Studium der griechischen Poesie“. In: German Quarterly 40/1967, S. 165-197.
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keit zur Verbindung von Dichtung und Dialektik und zur Mischung von Gattungen, Stilen und Tendenzen auf.4 Damit aber sind wesentliche Kriterien genannt, die Schlegels Konzept einer progressiven (d.h. stets im Werden begriffenen und nie vollendeten) Universalpoesie kennzeichnen. Wie er im 116. Athenäums-Fragment erklärt, hat sie die Absicht, „alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen“.5 Darüber hinaus soll sie „auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen“. Hingegen verfolgt die mit der Universalpoesie oft (nicht zuletzt von Schlegel selbst) gleichgesetzte, an die kritische Philosophie Kants terminologisch angelehnte und ebenfalls ausdrücklich als „modern“ deklarierte6 „Transzendentalpoesie“ trotz einer gemeinsamen semantischen Schnittmenge eine anders gelagerte Absicht, nämlich die Bedingungen, unter denen Dichtung möglich ist, zum Gegenstand eines poetischen Werks zu machen. Schlegels Forderung, „das Produzierende mit dem Produkt“ darzustellen, erfüllt sich in einer Poesie, die im poetischen Vollzug ihre poetologischen Grundlagen offenbart, – oder um eine weitere pointierte Wendung aus dem 238. Athenäums-Fragment zu zitieren: Sie solle „in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein“.7 Die Gesetzmäßigkeit dieses Postulats unterstreicht Schlegel, wenn er in seinen Literarische[n] Notizen
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Ebd., S. 161 (L 115): „Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie. Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein“. Vgl. zu Schlegels universalpoetischer Programmatik im literaturtheoretischen Kontext Behler, Ernst, „Friedrich Schlegels Theorie der Universalpoesie“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 1/1957, S. 211-252; Jauss, Hans Robert, „Schlegels und Schillers Replik auf die ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘“. In: Ders. (Hg.), Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970, S. 67-106, und Grimm, Sieglinde, „Von der sentimentalischen Dichtung zur ‚Universalpoesie‘“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 43/1999, S. 159-187. Ebd., S. 182 (A 116): „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie“ – mit dieser Aussage beginnt das viel zitierte Fragment, das sogleich auf die Synonymie der Epitheta ‚romantisch‘ und ‚modern‘ hinweist. Ihre Bedeutungsgleichheit bestätigt Bruder August Wilhelm noch 1808, wenn er rückblickend erläutert, dass man „für den eigentümlichen Geist der modernen Kunst, im Gegensatz mit der antiken oder klassischen den Namen romantisch erfunden“ habe. Siehe Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, hg. v. Giovanni Vittorio Amoretti, Bd. 1, Bonn/Leipzig 1923, S. 8. Vgl. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, S. 206 (A 247). Ebd., S. 204 (A 238). Vgl. dazu Huge, Eberhard, Poesie und Reflexion in der Ästhetik des frühen Friedrich Schlegel, Stuttgart 1971. Vgl. Schlegel, Friedrich, Literarische[n] Notizen 1797-180, hg. u. eingel. v. Hans Eichner, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1980 (u.a. Nr. 518, 579, 622).
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1797-1801 die „Poesie der Poesie“ wiederholt mit der mathematischen Zahl π2 versieht;8 so wird diese in den Merkpunkten für das ‚Studium Shakespeares‘ z.B. den hierbei zu beachtenden Phänomenen: „Ironie – Streben nach Einheit – romantischer Geist – Absichtlichkeit, Kunst, Vollendung – Universalität im Romantischen aller Arten desselben – π(2 [...] – seine Kunstlehre [...]“, hinzugefügt.9 Das wirkungsvollste Mittel, das transzendentalpoetische Programm zu realisieren, besitzt der Dichter in der romantischen Ironie. Diese Begriffskomposition wird von Schlegel selbst zwar nicht verwendet, er spricht vielmehr von der „Sokratische[n] Ironie“10 – wenn er diese aber als „die freieste aller Lizenzen“ bezeichnet („denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg“), ihren Ursprung „aus der Vereinigung von Lebenskunstsinn und wissenschaftlichem Geist“ herleitet und ihr die Erregung eines „Gefühl[s] von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten“ zuschreibt, dann paraphrasiert er distinktive Merkmale der (erst später so genannten) romantischen Ironie, durch die der Dichter das poetische Gebilde immer wieder zu durchbrechen und dessen poetische Bedingtheit aufzuzeigen vermag. Sie erfasse ein Kunstwerk in seiner Ganzheit: Im Innern, die Stimmung, welches alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend oder Genialität: im Äußern, in der Ausführung die mimische Manier eines gewöhnlichen guten italiänischen Buffo.11
Am Stil der burlesken Figur des komischen Theaters in Italien lässt sich in der Tat das poetologische Prinzip, Elemente des Kunstwerks künstlerisch aufzuheben und die Darstellung als Darstellung, als bedingte auszuweisen (um durch ihre Potenzierung in permanenter Reflexion letztlich zum Unbedingten als dem Wesen schöpferischer Freiheit zu gelangen), gut erkennen:12 Der in der Stegreifkomödie und im Puppenspiel beheimatete Buffo
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Ebd., S. 69 (Nr. 518). So im 108. der Kritischen Fragmente (Krit. F.-Sch.-Ausg., Bd. 2, S. 160). Vgl. Behler, Ernst, „Ironie“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, unter Mitwirkung von zahlreichen Fachgelehrten, hg. v. Gert Ueding, Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 599-624, hier Sp. 613. Behler expliziert das Verständnis von romantischer Ironie im Kontrast zur Ironie als Tropus der Rhetorik und zu anderen Ironie-Formen in der Geschichte der Literatur und Ästhetik (Stillehre); sein Kapitel über F. Schlegels Ironie-Konzept (V) endet mit der Feststellung, „dass die Bezeichnung ‚poetische Reflexion‘ für Schlegel gleichbedeutend mit der I[ronie] ist, der damit ein ungemein weites Feld der Mitteilung im Bereich der Poesie wie der Philosophie zugesprochen war“ (Sp. 612). Vgl. auch Bubner, Rüdiger, „Zur dialektischen Betrachtung romantischer Ironie“. In: Ernst Behler/Jochen Hörisch (Hgg.): Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn u.a. 1987, S. 85-95. Ebd., S. 152 (L 42). Für die Auseinandersetzung mit Schlegels Konzeption einer „transcendentalen Poesie“ und der romantischen Ironie sind nach wie vor grundlegend die Studien von Szondi, Peter,
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ist als Type charakterlich festgelegt; ob er nun als schlagfertiger oder schlagkräftiger Schalk, als täppisch-lüsterner Alter oder als selbstgefällig angeberischer Schwätzer auftritt, er hat immer die Möglichkeit, aus seiner Rolle im jeweiligen Stück (etwa der eines Dieners) in den allseits bekannten Charakter seiner Maske (als Schalk, Tölpel oder Schwätzer) zurückzufallen und durch sie hindurch die Handlung zu kommentieren.13 Für diese „Manier“ gelten den Romantikern die Märchenstücke des Carlo Gozzi als vorbildlich,14 lässt der Venezianer doch bei seiner Reaktivierung der Stegreifkomödie die Maskendarsteller aus der im Stück wahrgenommenen Rolle heraustreten und illusionszerstörend über dieses räsonieren, was ja mit der Konzeption des modernen Theaters als einer „Art der romantischen Poesie“ nach Schlegel übereinstimmt.
2. Texturen der romantischen Ironie Allerdings hat sich die romantische Ironie als poetisches Verfahren von der begrifflich an Kant, in der Sache eher an Fichte orientierten transzendentalen Fundierung Schlegels15 weitgehend gelöst; dadurch aber, d.h. dank ihrer Applikation an die Empirie des künstlerischen Mediums, wurde sie als textgenerierendes Verfahren in der literarischen Praxis ungeheuer
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„Friedrich Schlegel und die romantische Ironie. Mit einer Beilage über Tiecks Komödien“. In: Ders., Schriften II, Frankfurt/M. 1978, S. 11-31; Strohschneider-Kohrs, Ingrid, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen 1960; Mennemeier, Franz Norbert, „Fragment und Ironie beim jungen Friedrich Schlegel. Versuch der Konstruktion einer nicht geschriebenen Theorie“. In: Poetica 2/1968, S. 348-370; des Weiteren Brummack, Jürgen, Satirische Dichtung. Studien zu Friedrich Schlegel, Tieck, Jean Paul und Heine, München 1979, S. 9-45, und Schnell, Ralf, Die verkehrte Welt. Literarische Ironie im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1989. Vgl. außerdem Behler, Ernst, Ironie und literarische Moderne, Paderborn u.a. 1997. Vgl. Hinck, Walter, Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie, Commedia dell’ arte und Théâtre italien, Stuttgart 1965, S. 197-202. Zur Rolle Gozzis vgl. Feldmann, Helmut, Die Fiabe Carlo Gozzis. Die Entstehung einer Gattung und ihre Transposition in das System der deutschen Romantik, Köln/Wien 1971, und Auerochs, Bernd, „Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater“. In: Ders. (Hg.), Dramen des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1997, S. 15-38, hier S. 15-18. Während Friedrich Schiller – Kants Kritik der Urteilskraft weitgehend folgend – die „ästhetische Idee“ und die Produktion des Kunstschönen im zweckfreien Schöpfungsakt der Ausbildung des sittlichen Vermögens unterstellt, orientiert sich Schlegel mehr an Fichtes Philosophie: Insbesondere das erkenntnistheoretische ‚Axiom‘ aus der Wissenschaftslehre, „daß alle Realität [...] bloß durch die Einbildungskraft hervorgebracht werde“, kommt dem künstlerischen Genie entgegen, dessen Phantasie dadurch subjektiv entgrenzt zu sein scheint. Damit würde dieser Satz aber empirisch verstanden, und das schließt Fichte schon dadurch aus, dass er ihn „in einem System der Transcendental-Philosophie“ verankert sieht (Fichte, Johann Gottlieb, „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer“. In: Werke, hg. v. Hans Jacob/Reinhard Lauth, Bd. 2, Stuttgart/Bad Canstatt 1965, S. 368).
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wirksam16 – was ich an drei Textbeispielen, die den drei Grundgattungen angehören, also seine gattungsübergreifende Bedeutsamkeit erhellen, im Folgenden kurz erläutern möchte. 2.1. Die Bedingungen für die Aufführung eines Theaterstücks als dessen Gegenstand: Ludwig Tiecks Der gestiefelte Kater Wer sich auf die Suche nach der bühnenpraktischen Umsetzung der Schlegel’schen Programmatik begibt, wird zuerst dem jungen Ludwig Tieck begegnen: „Daß die Bühne mit sich selber Scherz treiben kann, hatte ich schon früh von [Ludvig] Holberg, dessen Melampe und Ulysseus [von Ithacia, 1725] mir immer sehr lieb waren, gelernt“,17 schreibt dieser 1828 in Erinnerung an die Entstehung seines 1797 erschienenen ‚Kindermärchens in drei Aufzügen‘ Der Gestiefelte Kater. Für dessen Fabel griff er auf Charles Perraults bekanntes Märchen Le chat é botté (1697) zurück: Ein Vater hinterlässt seinem jüngsten Sohn Gottlieb als Erbschaft nur einen Kater namens Hinze, der sich aber als echter Glücksfall für seinen neuen Herrn erweist. Er erbittet sich ein Paar Stiefel, deren Anfertigung Gottlieb sein bescheidenes Vermögen kostet, dafür aber verschafft ihm sein Kater in Stiefeln (sie gäben ihm, meint Hinze, „eine gewisse Männlichkeit, die
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Das erläutert in seinem weit verbreiteten und hoch gehandelten Buch über die deutsche Romantik und ihre Wirkung Safranski, Rüdiger, Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007, zuerst an Ludwig Tieck, der „sich auf fast jedes Literaturgenre [versteht]“ (S. 90) und dessen „große ironische Kunst“ (S. 95) Schlegels universalpoetisches Konzept „ins Werk“ setzt. Fernerhin nennt er Joseph von Eichendorff, der „auf gut romantische Art über den Sinn der Poesie“ reflektiert und diese, da ihm das Selbstbewusstsein der Frühromantiker fehlt, die „mit Hilfe des poetischen Geistes das ganze Leben umgestalten wollten“ (S. 215), „in eine fromme Ironie hüllt“ (S. 219), auf der Dignität eines an der Natur ausgerichteten ‚poetischen Lebens‘ gottesfürchtig beharrend. Schließlich führt er E.T.A. Hoffmann an, „der dem romantischen Ideal des Spielers, im Leben und Werk, wirklich nahe kam“ (S. 221). Zuvor hatte Safranski die wichtige Rolle der romantischen Ironie dargelegt (S. 58-69), deren „eigentlicher Erfinder“ Friedrich Schlegel sei. Dieser habe „an der bisher bekannten Grundfigur der Ironie an[geknüpft], dass nämlich eine bestimmte Aussage in eine andere, eine umfassendere Perspektive gerückt und dadurch relativiert oder gar dementiert wird“ (S. 62). So lasse sich einerseits das Endliche auf das Unendliche beziehen, andrerseits könnten jederzeit „verständliche Sätze [...] ins Unverständliche hinüberspielen“ (S. 63). Auf diesen dynamischen Ironie-Begriff kann Safranski unschwer (wenn auch bisweilen allzu angestrengt um Pointen bemüht) sowohl das Konzept einer progressiven Universalpoesie als auch den Entwurf einer transcendentalen Buffonerie aufsatteln. Immerhin vergisst er dabei nicht zu erwähnen, dass mitunter das „in der Erfahrung vorausgesetzte Ich, das transzendentale Ich, verwechselt wird mit dem psychologischen und umgangssprachlich verstandenen, empirischen Ich“ (S. 79), was ein unversiegbarer Quell des Spottes sei und, wie hinzuzufügen wäre, der Satire von Bonaventura-Klingemann bis H. Heine. Dichter über ihre Dichtungen, Ludwig Tieck I, hg. v. Uwe Schweikert, München 1971, Bd. 9, S. 138.
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man in Schuhen zeitlebens nicht hat“)18 Wohlstand, Anerkennung und die Hand der schöngeistigen Tochter des Königs. Tiecks Komödie erschöpft sich aber keineswegs in einer dramatischen Fassung dieses Plots, vielmehr hat sie die Theateraufführung eines Stücks nach Perraults Märchen zum Gegenstand. Demzufolge treten neben den Figuren des Märchenstücks, die sich (wenn erforderlich) in die sie darstellenden Schauspieler verwandeln können, Theaterpersonal wie der Maschinist oder der Souffleur auf, aber auch der Dichter selbst und nicht zuletzt die Zuschauer, allesamt erfahrene, mit den Bühnenwerken der Zeit vertraute Theatergänger, die „ein rührendes Familiengemälde“ (GK 11), wie die ‚soap operas‘ von damals, z.B. August Wilhelm Ifflands Verbrecher aus Ehrsucht (1784) und Die Hagestolze (1791) oder August von Kotzebues Menschenhaß und Reue (1789) und Die edle Lüge (1792), genannt wurden, oder „ein Revolutionsstück“ erwarten; jedenfalls pochen sie auf den „guten Geschmack“, denn „die Aufklärung hat ihre gehörigen Früchte getragen“ (GK 5). Der (fiktive) Dichter als Bühnenperson, der diese Wünsche nicht zu erfüllen vermag, begibt sich im Prolog vor den Vorhang und ersucht das „verehrungswürdige Publikum“ um wohlwollende Aufnahme seines Stücks, das er „so erleuchteten Richtern vorzuführen“ wage (GK 8). Seine Absicht, „durch Heiterkeit, durch wirkliche Possen zu belustigen, da uns unsere neuesten Stücke so selten zum Lachen Gelegenheit geben“ (GK 9), insbesondere seine devote Haltung stimm die selbst ernannten Kunstrichter um (die gespielte Bescheidenheit im ‚genus submissum‘ , im niederen Stil der Ergebenheit, hat die Rhetorik seit jeher dem Redner empfohlen zum Zwecke, das Wohlwollen des Richters zu erringen)19 und mit einem Bravo-Tutti des applaudierenden Bühnen-Publikums hebt sich der Vorhang zum ersten Akt des „Kindermärchens“. Diesen Gattungsbegriff erläutert der Dichter im Epilog, wenn er, dem empfindsamen Kindheitsideal wie viele seiner romantischen Kollegen anhängend,20 zur angemessenen Rezeption seines Stücks nachdrücklich empfiehlt, dass die Zuschauer „wieder zu Kindern werden müssen“, was diese aber, Gott dankend, dass sie „es nicht mehr sind“, glattweg ablehnen; statt dessen bestehen sie auf ihrem Wissen, dem harten Ergebnis einer „Ausbildung“, die ihnen „Mühe und Angstschweiß genug gekostet“ habe (GK 62).
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Tieck, Ludwig, Der gestiefelte Kater. Kindermärchen in drei Akten, hg. v. Helmut Kreuzer, Stuttgart 1964, S. 14 (Das Schauspiel wird im Darstellungstext unter dem Kürzel ‚GK‘ und der Seitenzahl dieser Ausgabe zitiert). Vgl. Quintilian, Institutio orotoria 4, 1, 60 und 12, 10, 59, ed. by H. E. Butler, 4 Bde., London 1958. Vgl. Ewers, Hans-Heino, Kindheit als poetische Daseinsform. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck, München 1989.
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Das Märchenstück selbst bietet der Literatursatire ebenso Raum wie Prolog, Epilog und Zwischenakte, die sich auf seine Aufführung beziehen. Insgesamt werden die Diskussion um den guten Geschmack in der Aufklärung, der detailversessene Weimarer Kritiker Karl August Böttiger und seine heiße Verehrung der Schauspielkunst Ifflands, die Vorliebe für rührselige Familiengeschichten, der Hang zu melancholisch-empfindsamen Nachtgedanken (im Stile Edward Youngs), die idyllische Landlebendichtung à la Johann Heinrich Voß u.a. aufs Korn genommen.21 Nicht zuletzt werden Auswüchse des zeitgenössischen Theaterbetriebs attackiert, die der seriösen Wiedergabe dramatischer Werke entgegenwirken, z.B. ausufernde Balletteinlagen, virtuose Solonummern, eine überbordende Bühnenmechanik oder üppige Kulissen. Auch einige politische Spitzen bringt Tieck an, die aber eher harmlos geraten, einfach weil sie nach 1795 nicht mehr recht stechen wollen - wie die gegen den absolutistischen Tyrannen (der nicht nur ‚legibus absolutus‘ , sondern selbst „das Gesetz“ ist), gegen die Kleinstaaterei in deutschen Territorien oder einen ihrer ebenso dümmlichen wie launischen Landesherrn, dessen staatstragendes Wohlempfinden von der Kunst des Kochs abhängt. Das alles aber ist für Ludwig Tieck eher nebensächlich, wie er den Philosophen Karl Wilhelm Ferdinand Solger in seinem programmatischen Brief vom 6. Januar 1815 wissen lässt. Indem er seine eigenen satirischen Ausfälle als arglos und geradezu albern bewertet, wendet er sich vehement gegen die moralisierenden Satiriker, die in der Tradition der Aufklärung „Torheiten und Laster durch Lachen und Schelten bessern wollen“. Ihm hingegen habe, teilt er dem Freund mit, „schon sehr früh“ etwas anderes vorgeschwebt, nämlich „daß es Lust, Scherz, Witz geben müsse, die nur um sich selbst [!] da seien“.22 Ein Experiment darauf ist das Märchenspiel im Spiel seiner Aufführung, das das Geschehen auf der Bühne als Inszenierung und das Theater als Institution der Illusionen ins Bewusstsein rückt: So fragt Gottlieb, als ihn der Kater anredet, erstaunt: „Wie Kater, Du sprichst?“ (GK 11), und die fiktiven „Kunstrichter (im Parterre)“ echoen, gleichfalls die Märchenfiktion sprechender Tiere ignorierend, nicht minder verwundert: „Der Kater spricht? – Was ist denn das?“, worauf einer der Bühnenzuschauer, der Rührstückliebhaber Fischer, mokant bemerkt: „Unmöglich kann ich da in eine vernünftige Illusion hineinkommen“. Und als das ihm versprochene Glück auf sich warten lässt, fordert Gottlieb: „Bald, sehr bald muß es kommen, sonst ist es zu spät, es ist schon halb acht und um acht ist die Komödie aus“ (GK 45). Auf seinen Fall aus der Rolle hin, den er mit der undeutlichen Aussprache des
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Vgl. Kreuzer, Helmut, „Nachwort“. In: GK, S. 73-75. Zitiert nach ebd., S. 75.
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„verdammten Souffleurs“ entschuldigt, ermahnt ihn sein Kollege, der subtile Darsteller des Katers Hinze: „Nehmen Sie sich doch zusammen, das ganze Stück bricht sonst in tausend Stücke“. Mit dieser Warnung aber trifft er recht genau die Absicht des (nichtfiktiven) echten Autors. Sie konzentriert sich auf die dramatische Gestaltung eines Ironie-Begriffs, „der zugleich mit wahrer Heiterkeit verbunden ist“, wie Tieck selbst erklärt.23 Sie müsse die Tiefenschicht eines Lustspiels bilden, sei doch die Ironie „die Kraft, die dem Dichter die Herrschaft über den Stoff erhält; er soll sich nicht an diesen verlieren, sondern über ihm stehen“. Diese spielerische Distanzierung von seinem poetischen Gegenstand durch die Reflexion der ihn begründenden Mittel, eben das ist der Neuansatz,24 den Tiecks Literaturkomödien unternehmen25 – und der F. Schlegel zu folgendem Kompliment veranlasst haben dürfte:26 Wenn ich meine Antipathie gegen das Katzengeschlecht erkläre, so nehme ich Peter Leberechts gestiefelten Kater aus.27 Krallen hat er, und wer davon geritzt worden ist, schreit, wie billig, über ihn; andre aber kann es belustigen, wie er gleichsam auf dem Dach der dramatischen Kunst herumspaziert.
Das Katzenvieh, das das Gebäude der dramatischen Dichtung ‚über-steigt‘ (und somit „über ihm stehen“ kann bzw. auf ihrem „Dach [...] herumspaziert“28), erscheint in Schlegels Lesart als Allegorie des transzendentalen Aspekts.
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Köpke, Rudolf, Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mittheilungen, II, Leipzig 1855, S. 238 f. Vgl. Schulz, Gerhard, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. 1789-1830. Teil I, München 1983, S. 530-537, sowie Auerochs, Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater, S. 28-38, der die Kontroverse in der Forschung um den „Begriff ‚romantische Ironie‘ in bezug auf Tiecks Drama“ (S. 28), etwa zwischen Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 296-319, und Brummack, Satirische Dichtung, S. 46-69, aufgreift. Zu ihnen gehören fernerhin das ebenfalls 1797 geschriebene Lustspiel Die verkehrte Welt, das das Spiel mit dem Theater noch extensiver betreibt und Schauspieler, Rollen und Zuschauer munter durcheinander wirbelt, sowie das 1798 fertiggestellte und 1799 gedruckte Stück Prinz Zerbino. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, S. 217 (A 307). Unter dem Namen ‚Peter Leb(e)recht‘ nach dem Titelhelden seiner autobiographisch gefärbten Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten (1795) hat Tieck 1797 die drei Bände seiner Volksmärchen veröffentlicht, in deren zweitem die Literaturkomödie Der gestiefelte Kater abgedruckt ist. Zum „Spazierengehen“ (lat. ambulare), ‚Lustwandeln‘ oder ‚Promenieren‘ als ‚Denkbewegung‘, zu seiner poetischen Struktur und philosophischen Dimension vgl. die verschiedenen Beiträge in: Gellhaus, Axel (Hg.), Kopflandschaften – Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs, Köln u.a. 2007, besonders: Moser, Christian/Schneider, Helmut J., „Einleitung. Zur Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs“, S. 7-28.
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2.2. Vom Nachsinnen des fiktiven Erzählers über einen adäquaten Erzählanfang in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann Reflektiert Ludwig Tieck im Vollzug seines Stücks über dessen grundlegende Bedingungen, um die Illusion zu durchbrechen und sie als Produkt künstlerischer Arbeit vorzuführen, so stellt E.T.A. Hoffmann, wenn er den fiktiven Erzähler seines Nachtstücks Der Sandmann (1816) über mögliche Erzählanfänge räsonieren lässt,29 die Frage nach der Möglichkeit einer authentischen Wiedergabe der Wirklichkeit im Medium der Literatur überhaupt in Frage. Mit drei Briefen wird der Erzähltext auf eine für ein novellistisches Werk sicher ungewöhnliche Weise eröffnet. Im ersten vergegenwärtigt sich der unglückliche Protagonist der traurigen Geschichte, der krankhaft narzisstische Student Nathanael, die ihn prägenden Kindheitserlebnisse, die im zweiten Brief seine Braut Clara hellsichtig, wie es ihrem Namen entspricht, zu erklären sucht, bevor der dritte Brief, wiederum von Nathanael geschrieben und diesmal nicht irrtümlich wie der erste an Clara, sondern an den richtigen Adressaten, ihren Bruder Lothar, gesendet, Claras „fatalen verständigen“ Deutungsversuch zurück- und mit der Erwähnung von Olimpia, der merkwürdig starren Tochter des Physikprofessors Spalanzani, auf die Katastrophe vorausweist. Erst nach diesen drei Briefen meldet sich der fiktive Erzähler zu Wort und tut dem „geneigten Leser“ seine Schwierigkeit kund, „von Nathanaels verhängnisvollem Leben“ so zu sprechen, dass seine dadurch ausgelösten Empfindungen nachzuvollziehen sind. Exemplarisch erörtert er seine Unfähigkeit zu einer der Intensität seiner Gefühle angemessenen Mitteilung an den Mustern (topoi), die die Poetik (Rhetorik) zur Einleitung (exordium) von narrativen Texten zur Verfügung stellt: Weder den traditionellen Märchenanfang („Es war einmal“) noch die genaue Ortsangabe („In der kleinen Provinz-Stadt S. lebte [...]“) als sachlichen Beginn eines sich allmählich zuspitzenden Geschehens noch die In-medias-res-Technik, die sogleich zum Wesentlichen vordringt, kann er für seine Darstellungsabsicht gebrauchen. Und da ihm „keine Rede in den Sinn [kam], die nur im mindestens etwas von dem Farbenglanz des inneren Bildes abzuspiegeln schien [...], beschloss [er] gar nicht anzufangen“30 – vom realen Text hat der wirkliche Leser da bereits ein Drittel bewältigt. Indem der Erzähler aber über bekannte Exordialtopoi reflektiert, die in der Erzählliteratur überliefert oder von der Poetik vorgeschrieben sind und übrigens von Hoffmann selbst in seinen zuvor veröffentlichen (und wesentlich erfolg-
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Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus, Der Sandmann, hg. v. Rudolf Drux, 2., ergänzte Ausg. Stuttgart 2003, S. 17 f. Ebd., S. 19. Vgl. auch Drux, Erläuterungen und Dokumente. E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, Stuttgart 2., ergänzte Ausg. 2003, S. 23-26 und S. 56 f.
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reicheren) Fantasiestücken verwendet wurden, – indem der Erzähler also Einleitungsformeln als Bedingungen für einen gelungenen narrativen Einstieg zu Beginn der Geschichte, die er sich zu erzählen vorgenommen hat, vorführt und für seine Zwecke verwirft (im Sinne der romantischen Ironie: annihiliert), kann er – und über ihn sein realer Autor Hoffmann – im Nachhinein rechtfertigen, warum er seinen Bericht von Nathanaels grausamem Schicksal mit dem Abdruck der drei Briefe, die ihm Freund Lothar überlassen habe, beginnt. Er weist sich nämlich dadurch nicht nur als guter Freund der Familie aus (dem intime Zeugnisse überantwortet werden) und dem Erzählpersonal zu; er unterstreicht darüber hinaus mit der Echtheit der von ihm (angeblich) veröffentlichten Briefe die Authentizität des Erzählten, die in sprachlich-ästhetischer Vermittlung (d.h. „wie in eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein“)31 nie zu erreichen wäre. Im Bewusstsein, „dass nichts wunderlicher und toller sei, als das wirkliche Leben“, können die Briefe als dessen schriftliche Zeugnisse durch kein literarisches Erzeugnis übertroffen werden. 2.3. Über die Ironisierung der romantischen Ironie bei Heinrich Heine Offensichtlich dient Hoffmann das Verfahren der romantischen Ironie nicht mehr zur Durchbrechung der narrativ entwickelten Illusion, sondern zur Bestätigung der Wirklichkeit der erzählten Welt – und der intendierte Leser gibt sich gerne „geneigt“, insofern er auf jede Distanznahme verzichtet und die Briefdokumente, die natürlich fingiert sind, in ihrer Faktizität schlicht akzeptiert. Dieser Funktionswechsel der metapoetischen Reflexion, die nun dafür sorgt, dass die Darstellung der poetischen Bedingungen bruchlos in die literarische Darstellung integriert wird, lässt sich nur noch durch die Ironisierung der romantischen Ironie steigern, was mein drittes Beispiel zeigen soll, das ich der langen Geschichte der Liebeslyrik entlehne; auf eine ihrer Etappen bezieht sich Heinrich Heine in Nr. XIV seines Gedichtzyklus Lyrisches Intermezzo (1821/22):32
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Ebd.; vgl. zu Hoffmanns immanenten poetologischen Reflexionen u.a. Preisendanz, Wolfgang, „‚Eines matt geschliffnen Spiegels dunkler Widerschein‘. E.T.A. Hoffmanns Erzählkunst“. In: Helmut Prang (Hg.), E.T.A. Hoffmann, Darmstadt 1976 (= Wege der Forschung 486), S. 270–291; Kremer, Detlef, „‚Ein tausendjähriger Argus‘. E.T.A. Hoffmanns Sandmann und die Selbstreflexion des bedeutsamen Textes“. In: Mitteilungen der E.T.A. HoffmannGesellschaft 33/1987, S. 66-90, sowie Schroeder, Irene, „Das innere Bild und seine Gestaltung. Die Erzählung ‚Der Sandmann‘ als Theorie und Praxis des Erzählens“. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 9/2001, S. 22-33. Heine, Heinrich, Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 1, München/Wien 1976, S. 80.
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Auf meiner Herzliebsten Äugelein Mach ich die schönsten Kanzonen. Auf meiner Herzliebsten Mündchen klein Mach ich die besten Terzinen. Auf meiner Herzliebsten Wängelein Mach ich die herrlichsten Stanzen. Und wenn meine Liebste ein Herzchen hätt, Ich machte darauf ein hübsches Sonett.
Das lyrische Ich besingt seine „Herzliebste“ auf petrarkistische Weise, indem er ihre Schönheit, genauer: die ihres Gesichtes, in einer Aufzählung einzelner Teile, die hier nicht (wie üblicherweise im Barock) mit preziösen Metaphern gepriesen werden: also etwa Haare aus Gold, Augen wie Achat, Korallenlippen, Perlenzähne etc.,33 sondern nur als Diminutive erscheinen, die gemeinhin Zärtlichkeit und Zuneigung vermitteln. Dieser Schlichtheit, die sich auch in der dreifachen Anapher „Auf meiner Herzliebsten...“, dem Parallelismus der ersten sechs Verse und einer Wendung wie „Mündchen klein“, die durch die Postposition des Adjektivattributes archaisch wirkt, sowie der fehlenden Inversion des Prädikats in der Apodosis des Konditionalgefüges (V. 8) ausdrückt, widersprechen die lyrischen Gattungen, in denen das jeweilige Objekt des Begehrens geschildert wird. Sie sind der romanischen, insonderheit der italienischen Dichtung entnommen (namentlich begründet und gebraucht von Boccaccio, Dante, Tasso und Petrarca) und verlangen eine bewusste metrische und reimtechnische Gestaltung der Sprache, in der der thematisierte Gegenstand wiedergegeben wird – kein Wunder, dass das ‚machen‘ (gr. ‚poiein‘) die einzige Tätigkeit ist, die sich das lyrische Ich zuschreibt. Mit einer Kanzone hat Heinrich Heine sein Lyrisches Intermezzo eingeleitet,34 sie aber bereits parodiert, und für die Jungen Leiden, seiner frühsten lyrischen Veröffentlichung (ab 1815), erprobte er die Sonettform.35 Das kleine Gedicht selbst besteht aus einer Stanzenstrophe (ital. ‚Ottaverime‘); allerdings sind nur die ungeraden Verse gereimt, die Verse 2, 4 und 6 bieten statt der Reimwörter die besagten Gattungsbegriffe auf, deren sprachkünstlerische Konkretionen der begeisterte Poet mit ästhetischen Superlativen (die schönsten, besten, herrlichsten) hyperbolisch schmückt; dennoch referieren sie vornehmlich abstrakte lyrische Strukturen, wodurch der selbstreflexive Ton nicht zu überhören ist. Wie in fast allen Gedichten des Zyklus bringt dann der Schluss, der stanzengerecht als Paarreim gestaltet ist, eine Pointe,
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Vgl. Hoffmeister, Gerhart, Petrarkistische Lyrik, Stuttgart 1973, und zu Heines petrarkistischen Anklängen Windfuhr, Manfred, „Heine und der Petrarkismus“. In: Helmut Koopmann (Hg.), Heinrich Heine, Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung 289), S. 207-231. Heine: Schriften, Bd. 1, S. 74 f. (Prolog). Vgl. ebd., S. 65-71.
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die sich nicht nur auf das Thema, die schöne, aber hartherzige Geliebte, bezieht, sondern eben auch auf das metapoetische Verfahren selbst. Das letzte Verspaar exponiert nämlich, abweichend von der parallelistischen Reihe indikativischer Ich-Aussagen über die poetischen ‚Mach‘Werke, die dem lieblichen Gesicht der Liebsten gewidmet sind, ein irrationales Konditionalgefüge. D.h., was „ein hübsches Sonett“ zu produzieren voraussetzt, ist realiter nicht gegeben, die „Liebste“ hat nun einmal kein „Herzchen“, weshalb ihr auch kein Sonett darüber zugeeignet werden kann. Die romantische Ironie deckt im Vollzug des Textes die Bedingungen für seine Möglichkeit auf; wenn diese fehlen, wird jener unmöglich – wie das Liebesgedicht wegen der Herzlosigkeit der Geliebten. Dass sich aber nur, wenn die „Liebste ein Herzchen hätt“, ein Gedicht „darauf“ schreiben ließe, das ist ein schwerer Irrtum, der mit der Gattungsbezeichnung des letzten akzentstarken Wortes reklamiert wird: Das „Sonett“, als Medium der Liebeslyrik vornehmlich von Petrarca entwickelt, wird ja gerade durch die Herzenskälte der Geliebten angeregt, lässt sich doch der Canzoniere variationsreich darüber aus, dass in Lauras schönem Körper eine grausame Seele wohnt, die ihn leiden lässt. Die Selbstreflexion in Heines kleiner Stanze, die die Unmöglichkeit einer lyrischen Produktion auf eine (für sie notwendige) fehlende Bedingung zurückführt, wird damit im konkreten poetischen Akt unterlaufen: Es ist gerade das fehlende Herz der Geliebten, ihre Herzlosigkeit, die den sie Liebenden leiden lässt, was letztlich den ganzen Liederzyklus hervorbringt:36„Aus meinen großen Schmerzen / Mach ich die kleinen Lieder [...]“.37
3. Nachspiel auf dem Theater: Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena als „romantische Literaturkomödie“ Wie Tiecks Kater-Komödie zeichnet das Spiel mit den Elementen dramatischer Kunst auch Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena aus, weshalb es verschiedentlich als ,romantische Literaturkomödie’ (ab)qualifiziert
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Deshalb können die Gedichte auch titellos aufeinander folgen, umspielen sie doch mit unterschiedlichen Akzentuierungen alle dasselbe Thema, nämlich das Verhältnis von Liebe und Leid – und die Möglichkeiten seiner sprachlichen Erfassung. Zum Aspekt der ihnen inhärenten Selbstreflexion vgl. auch Kortländer, Bernd, „Poesie und Lüge. Zur Liebeslyrik des ‚Buchs der Lieder‘“. In: Gerhard Höhn (Hg.), Heinrich Heine. Ästhetisch-politische Profile, Frankfurt/M. 1991, S. 195-213. Mit Heines ironischer „Aneignung von Formtraditionen“ und den sich ihm damit „eröffnenden Möglichkeiten produktiver Erneuerung des Genres“ der Romanze und Ballade im Romanzero befasst sich Schnell, Die verkehrte Welt, S. 77-100, hier S. 88. Heine, Schriften, Bd. 1, S. 89 (XXXVI).
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wurde:38 Eher harmlos-verspielt nehme es sich im Vergleich zu Büchners anderen Werken aus.39 In der Tat resultiert die Komik des Stücks, dessen Handlung ebenfalls von ergreifender Schlichtheit ist: Zwei Königskinder fliehen vor ihrer der Staatsräson geschuldeten Verehelichung jeweils nach Italien und lernen sich unterwegs kennen und lieben und werden schließlich, ohne um ihre hocharistokratische Herkunft zu wissen, miteinander verheiratet – die Komik ergibt sich im Wesentlichen aus Sprachspielen und Wortwitzen. Daneben ist jedoch noch eine dramenspezifische Variante der romantischen Ironie bemerkenswert, und zwar die Selbstreflexion der Inszenierung, d.h. eines Vorgangs, durch den ein Gegenstand oder ein Thema in Szene gesetzt wird. Sie zielt allerdings nicht mehr auf die Durchbrechung der Illusion nach Tieck’schem Muster und schon gar nicht in Schlegels Intention ab, vielmehr deckt sie die Bedingtheit des modernen Theaters als eines genuinen Bestandteils der „modernen“ Gesellschaft auf – ‚modern‘ insofern, als die restaurierten Fürstengeschlechter mit den bürgerlichen Vertretern der Exekutive und den (seit 1830 die Parlamente dominierenden) „Liberalen“ bei der Ausübung ihrer immer noch monarchischen Macht im längst überholten („abgelebten“) Absolutismus zusammenwirken,40 wie es Büchners folgender Feststellung über die ihn mit Wut erfüllenden „politischen Verhältnisse“ im Brief an seinen Freund August Stöber zu entnehmen ist: „Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen“.41 Eben diese oft zitierte „abgelebte moderne Gesellschaft“,42 für
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Ihre Figuren, Motive und Formelemente hat Friedrich Gundolf 1929 als „aufgeputzte Literaturschablonen“ abgetan; zitiert nach Büchner, Georg, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, hg. v. Henri Poschmann, Bd. I, Frankfurt/M. 1992, S. 611. (Auf die Seiten dieser Ausgabe von Leonce und Lena (LuL) beziehen sich die Zahlen im Darstellungstext). 39 So zeigt sich noch Mayer, Hans, Georg Büchner und seine Zeit (1947), Frankfurt/M. 1972, S. 311, ernsthaft enttäuscht von Büchners Lustspiel, das „weitgehend durch ästhetische Brechung, Erinnerung an Bildungseindrücke und Arbeit des Kunstverstandes“ entstanden sei und mit „der Gesamtanlage seines Werkes“ nicht übereinstimme. 40 Genauer über die hier nur angedeuteten Entwicklungen informieren u.a. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800-1866: Bürgerwelt und starker Staat München 1998, S. 366-402; Hardtwig, Wolfgang, Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 1985, S. 125-138, sowie unter besonderer Berücksichtigung von Büchners Leben und Werk Poschmann, Henri, Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung, Berlin/ Weimar 1985, 2. Aufl., S. 80-90. 41. Büchner, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 377 (Brief an August Stöber aus Darmstadt nach Oberbronn, 9. Dezember 1833). Im 19. Jahrhundert wird der Theaterdiskurs zur Beschreibung gesellschaftlicher Zustände gerne herangezogen, wobei die Komödie als dramatische Gattung der komischen Literatur auf Situationen verweist, die nicht mehr ernst zu nehmen sind. Karl Marx hat sich dieser Metapher verschiedentlich bedient, etwa wenn er 1843 von der „Komödie des Despotismus, die mit uns aufgeführt wird“, spricht (zitiert nach Poschmann, Georg Büchner, S. 207).
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die kennzeichnend sei, dass sich ihr Daseinszweck in Bemühungen erschöpfe, „sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben“, bringt Büchner, indem er ihre charakteristischen Erscheinungs- und theatralischen Repräsentationsformen reflektiert, auf die Bühne. Diese gleicht „einem engen Spiegelzimmer“. Das bietet mit der Gefahr, „überall anzustoßen“ (LuL 111), vielfältige Möglichkeiten zur Selbstbespiegelung, die aber nicht mehr Ausdruck (selbst)kritisch potenzierter Reflexion, sondern Sinnbild des kollektiven Narzissmus einer Kaste ist, die sich in endlosen Zeremonien ergeht und sich in ständigen Selbstinszenierungen ihrer selbst vergewissern muss, was die sie benennenden Begriffe des Theaterwesens aus- und eindrücklich belegen: Die virtuose Selbstdarstellung des Prinzen, der sich einen Monolog hält und seiner brillanten Solonummer applaudiert (I,3), seine Regieanweisungen für seine sadistische Begegnung mit Rosetta, für die er am hellichten Tage Kerzenlicht und „Nacht, tiefe ambrosische Nacht“ verlangt (LuL 100), die Einstudierung des Bauernchores, der dem fürstlichen Hochzeitspaar mit einem begeisterten „Vivat!“ den Wunsch nach Leben darbringen muss (III, 2), dessen Auftritt in der Automatenrolle, in die sogar der Spielleiter Valerio coram publico schlüpft, und die permanente Ästhetisierung des „Staatsapparates“ im fortwährenden Lust-Spiel (Leonce: „morgen fangen wir in aller Ruhe und Gemütlichkeit den Spaß noch einmal von vorne an“ [LuL 128]) - in diesen Aktionen, in denen sich das Prinzip der Selbstinszenierung manifestiert, ist die hermetisch-künstliche Welt der Adelsgesellschaft im Kunstraum des restaurationszeitlichen Theaters präsent, und deren Kritik erfasst zugleich dessen Elemente als Konstituenten einer Kultur, in deren schönem Schein sich mögliche Irritationen über soziale Missstände beruhigen lassen und dessen schillerndes Ambiente die politischen Erstarrungen und Verkrustungen übertüncht. So mündet schließlich die Selbstreflexion des Theaters auf der Bühne ein in die Demonstration seiner politischen Funktionalität. Und während sich im Sinne Friedrich Schlegels das ironische Spiel, das die „moderne Poesie“ konstituiere, über die dargestellte Wirklichkeit und die Bedingungen ihrer Darstellung erhebt, hebt Georg Büchner auf die real existierende „moderne Gesellschaft“ ab.43 Indem er sie
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Büchner, Werke, Bd. 2, S. 440 (Brief an Karl Gutzkow, Anfang Juni 1836). Zur Semantik dieser Wendung und ihrer verkürzten Exegese in der älteren Büchner-Forschung, in der je nach Interessenlage das eine oder das andere Attribut betont bzw. unterschlagen wurde, vgl. Drux, Rudolf, „‚Aussterben‘ als Innovation. ‚Die abgelebte moderne Gesellschaft‘ in den Dramen Georg Büchners“. In: Monatshefte 93, 3/2001, S. 300-317. Diese Moderne erklärten immerhin Vormärz-Autoren wie Heinrich Laube oder Theodor Mundt zum Maßstab für ihre „Schreibart“, erfasse sie doch die aktuellen Bewegungen und zur Gestaltung drängenden Ideen; bei Büchner ist sie unüberlesbar negativ konnotiert. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet er sich also von den Jungdeutschen, deren Vorstellung, „die Gesellschaft mittelst der Idee, [kursiv!] von der gebildeten Klasse aus reformieren“
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prägende kulturelle und soziale Konstellationen aufzeigt, leistet die romantische Ironie, mit der Hoffmann die Authentizität des Erzählten unterstrich und Heine die Inkompatibilität von Wirklichkeit und Poesie exponierte, bei ihm die vom dramatischen Dichter geforderte Annäherung an die „Geschichte, wie sie sich wirklich begeben“.44 Anders gesagt: Der metapoetische Diskurs, in dem sich die romantische Ironie formiert, wird im Vollzug ihrer Texturen in ein Verfahren zur Lesbarkeit von Wirklichkeit umgeformt.
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zu können (Sämtl. Werke, Bd. 2, S. 440), er entschieden verwirft. „Unmöglich“ sei sie in einer Zeit, die „rein materiell“ ist, erfolgreich umzusetzen. Ebd., S. 410 (Brief an die Familie, 28. Juli 1835). Die Reflexion der sozialen Konstituenten als medialer Repräsentationsmuster ist ein (ästhetisch hochmoderner und wahrscheinlich einzig) gangbarer Weg, der historischen Wirklichkeit auf dem Theater „so nahe als möglich zu kommen“.
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Rechner und Seher Balzacs Spieler im Horizont der Romantik WOLFRAM NITSCH Es gibt zwei Arten von Spiel, die eine ist gentlemanlike, die andere plebejisch, gewinnsüchtig, das Spiel für allerlei Gesindel. Hier wird das streng unterschieden – und wie gemein ist im Grunde genommen diese Unterscheidung!1
Zu den bis heute nachwirkenden Erfindungen der europäischen Romantik gehört die Spielergeschichte. Der Glücksspieler tritt zwar schon in der Literatur der Frühen Neuzeit in Szene, erscheint dort jedoch vorwiegend in nicht-narrativen Gattungen als prominente Figur. Seine Leidenschaft wird vor allem auf dem Theater verhandelt, zunächst allein in der Komödie, im achtzehnten Jahrhundert dann auch im empfindsamen Drama; daneben steht sie im Visier moralischer Traktate, die mit warnenden Exempeln die Gefahren des Hasardspiels ausmalen. 2 Zu einer Hauptfigur erzählender Fiktion avanciert der Spieler erst in der Romantik, wo seine vordem entweder verlachte oder verteufelte Passion nach Jurij Lotman zum „Zentrum einer eigenständigen Mythosbildung“ wird. 3 Als Gründungsurkunde solcher Mythosbildung, die besonders in der russischen und französischen Literatur hervortritt, kann Hoffmanns Erzählung Spielerglück gelten. Ausgehend von diesem lange vernachlässigten Text will ich _____________ 1 2
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Dostojewskij, Fjodor M., Der Spieler. Aus den Aufzeichnungen eines jungen Mannes (1866), übers. v. Arthur Luther, München 1981. Zum Spielerdrama siehe, am Beispiel von Regnards Komödie Le joueur (1698) und Diderots gleich betiteltem drame bourgeois (1760), Dunkley, John, Gambling. A social and moral problem in France, 1685-1792, Oxford 1985 (Studies on Voltaire and the eighteenth century 235), S. 155-187; zum Glücksspieltraktat vgl. die klassische Studie von Mauzi, Robert, „Écrivains et moralistes du XVIIIe siècle devant les jeux de hasard“. In: Revue des sciences humaines 90/1958, S. 219-256. Dagegen taucht das Glücksspiel im vorromantischen Roman eher episodisch auf; vgl. aber Kavanagh, Thomas M., Enlightenment and the shadows of chance. The novel and the culture of gambling in eighteenth-century France, Baltimore/London 1993. Vgl. Lotman, Jurij M., „Kartenspiel“. In: Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I., Köln 1997, S. 144-174.
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am Beispiel zweier Romane Balzacs die Anfänge der oft beschworenen, doch bisher noch kaum erforschten Tradition der Spielergeschichte beleuchten. Dabei werde ich zu zeigen versuchen, wie die bei Hoffmann im Kontext romantischer Poetik gegen ältere Diskurse über das Spiel formulierte, aber zugleich relativierte Unterscheidung zwischen ‚echtem‘ und berechnendem Spieler bei Balzac aufgegriffen und im Zeichen moderner Kontingenzerfahrung sowohl typologisch ausgebaut als auch narrativ untergraben wird — in Le père Goriot durch die ästhetische Nobilitierung kaltblütiger Falschspieler, in La peau de chagrin umgekehrt dadurch, dass das hohe Spiel eines Hasardeurs und Visionärs hervorgeht aus gierigem Kalkül.
Hoffmanns Spieler: zwischen Geldgier und Spielsinn E. T. A. Hoffmanns Erzählung Spielerglück, 1820 im dritten Band der Serapions-Brüder erschienen, ist erst in letzter Zeit ins Blickfeld der Forschung geraten. 4 Dabei hat sie für die Spielergeschichte des 19. Jahrhunderts in doppelter Hinsicht traditionsbildend gewirkt. Denn sie stellt nicht nur Spielerfiguren ins Zentrum der erzählten Handlung, sie bringt auch einen neuartigen und wegweisenden Gegensatz zwischen zwei Spielertypen zur Sprache. In ihrem Verlauf trifft einer der Protagonisten, der erfahrene Glücksspieler Chevalier Menars, folgende kategorische Unterscheidung: Es gibt zweierlei Arten von Spieler[n]. Manchen gewährt, ohne Rücksicht auf Gewinn, das Spiel selbst als Spiel eine unbeschreibliche geheimnisvolle Lust. Die sonderbaren Verkettungen des Zufalls wechseln in dem seltsamsten Spiel, das Regiment der höhern Macht tritt klarer hervor, und eben dieses ist es, was unsern Geist anregt, die Fittiche zu rühren und zu versuchen, ob er sich nicht hineinschwingen kann in das dunkle Reich, in die verhängnisvolle Werkstatt jener Macht, um ihre Arbeiten zu belauschen. — Ich habe einen Mann gekannt, der tage-, nächtelang einsam in seinem Zimmer Bank machte und gegen sich selbst pontierte, der war meines Bedünkens ein echter Spieler. — Andere haben nur den Gewinst vor Augen und betrachten das Spiel als ein Mittel, sich schnell zu bereichern. Zu dieser Klasse schlug sich der Chevalier und bewährte dadurch den
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Vgl. Schnyder, Peter, „‚Va banque!‘ Das Spiel der Moderne bei E. T. A. Hoffmann“. In: Caroline Torra-Mattenklott (Hg.), Spiele/Games, Köln/Weimar/Wien 2004 (Figurationen 5.1), S. 67-82; Stadler, Ulrich, „Über Sonderlinge, Spieler und Dichter. Zum Verhältnis von Poesie und Wissenschaft in E. T. A. Hoffmanns ‚Serapions-Brüdern‘“. In: Gerhard Neumann (Hg.), „Hoffmanneske Geschichte“. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Würzburg 2005 (Stiftung für Romantikforschung 32), S. 277-292, hier: S. 287 f.
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Satz, daß der eigentliche tiefere Spielsinn in der individuellen Natur liegen, angeboren sein muß . 5
Im Hinblick auf das Karten-Hasardspiel Pharao (oder Faro), bei dem sich ein Pointeur (oder Ponteur) und ein Bankhalter gegenübersitzen, wird hier unterschieden zwischen dem leidenschaftlichen und dem gewinnorientierten Spieler. 6 Der Spieler aus Lust, ausgestattet mit einem „tieferen Spielsinn“, betrachtet das Spiel selbst als Zweck seines Handelns. Ihm geht es um den Genuss des Unberechenbaren im Spielverlauf sowie darum, dass er an den „seltsamen“ Verkettungen und Wendungen des Zufalls womöglich verborgene Zusammenhänge durchschauen, das Wirken einer „höhern Macht“ ablesen kann. Daher kann er statt im Kasino ebenso gut in seinem Zimmer, statt gegen andere ebenso gut alleine gegen sich selber spielen. Der Spieler aus Gier hingegen sieht im Spiel ein Mittel schneller Bereicherung, zielt ausschließlich auf den materiellen Gewinn. Daher benötigt er stets Mitspieler, gegen die er als Pointeur oder Bankhalter antreten kann. Für ihn sinkt das Spiel im Grunde herab zur gewerblichen Arbeit, während es dem „echten“ Spieler die höhere Sphäre poetischer Arbeit erschließt. Gleicht jener einem Seher, der hineinblickt in die „Werkstatt“ einer geheimnisvollen Macht, so ähnelt er seinerseits vielmehr den zu Beginn der Erzählung erwähnten „Spekulanten“ und Croupiers, die an fremder Spielleidenschaft verdienen, ohne sie selbst zu teilen. Menars’ Unterscheidung gewinnt historisches Profil, wenn man sie auf verschiedene zeitgenössische und historische Diskurse über das Spiel bezieht. Die Verbindung von Spiel und poetischer Vision beim ersten Typus erinnert zunächst an die viel zitierten Spielkonzepte frühromantischer Poetik. In Auseinandersetzung mit der philosophischen Ästhetik um 1800 avanciert das Spiel insbesondere bei Novalis und Friedrich Schlegel zu einem Leitbegriff der Literaturtheorie. 7 Auf der einen Seite wird die Tätigkeit des Dichters eng an das schon von Kant und Schiller gewürdigte Spiel der Einbildungskraft gekoppelt. Der poetisch veranlagte Protagonist von Schlegels Lucinde etwa überlässt sich bewusst dem verführerischen „Gaukelspiel“ seiner Phantasie, ohne es als „unedel zu kritisieren“. 8 Andererseits wird auch das vom Dichter geschaffene Werk als großes zei_____________ 5
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Hoffmann, E. T. A., „Spielerglück“. In: Die Serapions-Brüder (1819-1821), hg. v. Gerhard Neumann, München 1995, S. 712-737, hier: S. 720. Zu einer entsprechenden Unterscheidung zwischen zwei konträren Spieltypen in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, dem leidenschaftlichen Hasardspiel und dem nüchternen „Kommerzspiel“, vgl. Lotman, „Kartenspiel“, S. 145 f. Vgl. hierzu Matuschek, Stefan, Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel, Heidelberg 1998 (Jenaer germanistische Forschungen NF 2), S. 215-250. Schlegel, Friedrich, „Lucinde“ (1799). In: Dichtungen, Kritische Ausgabe I, Bd. 5, unter Mitwirkung von Hans Eichner u.a., Paderborn/Zürich 1962, S. 26.
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chenhaftes Spiel begriffen. Für Novalis verweist das poetische Spiel der Worte auf das „Verhältnisspiel der Dinge“, und für Schlegel gilt: „Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt“. 9 Solche geheimnisvollen Analogien beschwört auch Menars, wenn er in einem wechselhaften Spielgeschehen das Wirken einer höheren Macht erkennt. Allerdings bezieht er sich dabei anders als die Wortführer der Jenaer Romantik auf ein durchaus profanes Spiel. Der Held und zeitweilige Erzähler der Lucinde kommt in seinen Reflexionen über Literatur und Kunst nicht auf das Pharaospiel zurück, dem er am Anfang seiner Lehrjahre vorübergehend verfällt. 10 Hoffmanns Glücksspieler hingegen hebt hervor, dass die Imagination des echten Spielers gerade am Kartentisch in Schwung gerät. Was in den frühromantischen Spielkonzepten noch seltsam abstrakt bleibt, erscheint hier auf eine konkrete Spielsituation bezogen. Menars’ Beschreibung des leidenschaftlichen Spielers weist zweitens zurück auf die alte, schon von den Kirchenvätern begründete Tradition moralischer Glücksspielkritik. 11 In deren Visier steht seit jeher die potentielle Unbeherrschbarkeit des Spiels, also die Gefahr, dass der Spieler die Kontrolle über sein Handeln verliert und gewissermaßen selbst zum Gespielten wird. Nach Buytendijk, einem weithin vergessenen Pionier der Spielanthropologie, bildet der echte Hasardspieler nur den instruktiven Extremfall dieser beim Spielen grundsätzlich wirksamen dezentrierenden Dynamik, die sein weitaus berühmterer Zeitgenosse Huizinga in seiner Darstellung des homo ludens nicht zur Kenntnis nimmt. 12 Daher gilt der passionierte Würfler oder Kartenspieler seit alters her als abschreckendes Beispiel für den drohenden Selbstverlust im maßlosen Spiel. Sogar bei Schiller scheint diese Tradition noch gegenwärtig, wie später getilgte Anmerkung zu seiner Würdigung des menschlichen „Spieltriebes“ zeigt: „Es gibt ein Kartenspiel und ein Trauerspiel, aber offenbar ist das Kartenspiel _____________ 9
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Zitiert nach Matuschek, Literarische Spieltheorie, S. 217 u. 233, der an Hand dieser und anderer Formeln den bei aller ironischen Skepsis doch deutlich erkennbaren Substantialismus frühromantischer Spielmodelle herausarbeitet. Schlegel, „Lucinde“, S. 35 u. 41. Zur weitgehenden Ausblendung konkreter Spielreferenzen in ästhetischen Spielkonzepten um 1800 vgl. Campe, Rüdiger, „Schau und Spiel. Einige Voraussetzungen des ästhetischen Spiels um 1800“. In: Torra-Mattenklott (Hg.), Spiele/Games, S. 47-63. Vgl. hierzu Nitsch, Wolfram, Barocktheater als Spielraum. Studien zu Lope de Vega und Tirso de Molina, Tübingen 2000 (Romanica Monacensia 57), S. 52-63. Siehe Buytendijk, Frederik J. J., Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen des Menschen und der Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe, Berlin 1933, S. 114-146; „Der Spieler“. In: Das Menschliche. Wege zu seinem Verständnis, Stuttgart 1958, S. 208-229. Zur Ausklammerung des „uns spielenden Spiels“ in Johan Huizingas klassischer Abhandlung Homo ludens (1938) vgl. Eco, Umberto, „Huizinga e il gioco“. In: Sugli specchi e altri saggi, Milano 1985, S. 283-300, bes. S. 290 f.
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viel zu ernsthaft für diesen Namen“. 13 Bei Hoffmann dagegen kommt der exzessive Spieler unter anderen Vorzeichen zur Sprache. Denn seine räumlich wie zeitlich grenzenlose Leidenschaft sticht positiv ab vom Kalkül des Gelegenheitsspielers; er sucht das Abenteuer jenseits der bürgerlichen Alltagswelt, während jener deren Normen verpflichtet bleibt. 14 Gleichzeitig kontrastiert sein „tieferer Spielsinn“ aber auch mit dem Esprit höfischer Spielvergnügen, wie ein einschlägiges Streitgespräch zwischen dem Helden der Elixiere des Teufels und einem vom Pharao begeisterten Fürsten erweist. Während der Fürst im Namen gepflegter Zerstreuung für eine „Einschränkung“ der Einsätze plädiert und über „Regeln“ zur Bändigung des Zufalls sinniert, verteidigt Medardus die Freiheit des echten Spielers, seiner Leidenschaft bedingungslos zu folgen und dadurch mit einer „geheimen Macht“ in Verbindung zu treten. 15 Der ästhetischen Aufwertung der nach platonisch-patristischer Lehre verfemten Spiellust entspricht die Weigerung, das Glücksspiel nach gut aristotelischem Brauch durch Regelungen und Restriktionen in einen harmlosen Zeitvertreib zu verwandeln. Die von Menars mit einem Satz abgehandelte Einstellung des zweiten Typus, das Spiel als ein gewinnbringendes „Mittel“ zu betrachten, verweist schließlich drittens auf die ökonomischen und politischen Spielmodelle der Frühen Neuzeit. Dort erscheint gerade das Glücksspiel, das mehr als andere Spielformen im Zeichen der Unberechenbarkeit steht, als Schule strategischen Kalküls in einer immer mehr vom Zufall beherrschten Welt. 16 Im ökonomischen Diskurs dient es seit den Anfängen der Marktwirtschaft als Modell für die Kalkulation materieller Gewinnchancen und liefert damit die Grundlage für die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die nach und nach alle Wissensfelder der Neuzeit durchdringt — von der experimentellen Naturwissenschaft bis hin zur Staats- und Verwaltungslehre, die um 1800 ins Zeitalter der Statistik eintritt. 17 In der politischen Klugheitslehre der Frühen Neuzeit erscheint das Hasardspiel wiederum als ideales _____________ 13
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Schiller, Friedrich, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), hg. v. Wolfgang Düsing, München/Wien 1981 (Literatur-Kommentare 17), S. 119. Zur Affinität zwischen Spieler und Abenteurer, die viele Texte der Romantik betonen, vgl. Simmel, Georg, „Das Abenteuer“ (1919). In: Hauptprobleme der Philosophie/Philosophische Kultur, Gesamtausgabe, Bd. 14, hg. v. Otthein Randstedt, Frankfurt/M. 1996, S. 168-185. Vgl. Hoffmann, E. T. A., Die Elixiere des Teufels/Lebens-Ansichten des Katers Murr, hg. v. Hartmut Steinecke, München 1997, S. 129-131. Zum Modellcharakter von Spiel vgl. allgemein Lotman, Jurij M., Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 95-103. Vgl. hierzu Schäffner, Wolfgang, „Nicht-Wissen um 1800. Buchführung und Statistik“. In: Joseph Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 123-144, hier: S. 131 f.; Campe, Rüdiger, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002.
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Terrain für die Einübung von Macht- und Distinktionstechniken in einer immer weniger klar stratifizierten Gesellschaft. Es bietet Gelegenheit zur großzügigen Verschwendung und damit zur Ostentation aristokratischer Werte, aber auch zur klugen Dissimulation der eigenen Affekte und Projekte. 18 Als beste Schule der Dissimulation gilt dabei das Kartenspiel, da es aleatorische und agonale Momente miteinander verbindet, zufällige Nachteile oder Umschwünge durch taktische Manöver wie Pokerface oder Bluff zu kontern erlaubt. Noch Goethe würdigt das Hombre-Spiel wegen der dort geforderten „Fähigkeit des Spielers“; durch die Möglichkeit des Bietens öffne es dem „Wollen und Wagen gar viele Türen“, den in anderen Spielen schrankenlos regierenden Zufall zu beherrschen. 19 Anders als im ökonomischen sind daher im politischen Spieldiskurs Glücks- und Rollenspiel stets eng verklammert; der Hasardeur wird zum ‚Schicksalsspieler‘, in dem er das unberechenbare Geschehen durch Verstellung manipuliert. 20 Auch von solchen weitreichenden Versuchen, den Zufall durch mathematisches Kalkül oder durch theatralische Simulation in Schach zu halten, setzt sich der leidenschaftliche Spieler entschieden ab. Sein sozusagen entsichertes Spiel ignoriert demonstrativ alle nützlichen Formeln und Praktiken, die man an Glücksspielmodellen erarbeitet hat. Die aus verschiedenen Spieldiskursen gespeiste Unterscheidung erfolgt im Rahmen dreier Spielergeschichten, die Hoffmanns Erzählung ineinander verschachtelt. Zwei davon kommen in der schon von manchen Spieltraktaten gewählten Form der Konfession zur Sprache, in der ein reumütiger Spieler Rechenschaft ablegt über sein zu Ende gehendes Leben. 21 Den geographischen Fluchtpunkt markiert jeweils Paris, seit der Demokratisierung und Kommerzialisierung des Hasardspiels im Zuge der Französischen Revolution das Zentrum der europäischen Spielerszene. 22 Von dorther kommt der Chevalier Menars, der eigentliche Protagonist der Erzählung, der sein eigenes Leben unter falschem Namen in der dritten _____________ 18
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Vgl. Walker, Jonathan, „Gambling and Venetian noblemen 1500-1700“. In: Past and present 162/1999, S. 28-69; außerdem Nitsch, Wolfram, Barocktheater als Spielraum, S. 74-79. Goethe, Johann Wolfgang, „Shakespeare und kein Ende“ (1815). In: Sämtliche Werke, unveränderter Nachdruck der Bände 1-17 der Artemis-Gedenkausgabe zu Goethes 200. Geburtstag am 28. August 1949, Bd. 14, hg. v. Ernst Beutler, Zürich/München 1977, S. 755-769, hier: S. 761. Vgl. Neumann, Gerhard, „Statement zum Thema ‚Hasardeur‘, ‚Schicksalsspieler‘“. In: Gerhart v. Graevenitz/Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik XVII), S. 373-382. Zur Herkunft der Spielergeschichte aus der Konfessionsliteratur vgl. Nitsch, Wolfram, Barocktheater als Spielraum, S. 48 f., 54 f. Auf eigene Spielerfahrung beruft sich in moralischdidaktischer Absicht etwa Dusaulx, Jean-Joseph, De la passion du jeu, Bd. 1, Paris 1779, S. 118-123. Vgl. Barnhart, Russell T., „Gambling in revolutionary Paris. The Palais Royal, 1789-1838“. In: Journal of gambling studies, 1992, S. 151-166.
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Person rekapituliert. Als verarmter Adliger wurde er wider Willen zum Pharaospieler, zunächst nur, mit sprichwörtlichem Anfängerglück, als Stellvertreter eines altgedienten Pointeurs, sodann aus akuter Geldnot auf eigene Rechnung, stieg aber dank einer anhaltenden Glückssträhne bald zum Bankhalter auf. Auf dem Gipfel des Erfolgs unterbrach er das „wilde wüste Leben des Spielers“ (S. 721), um mit Angela Vertua, der Tochter eines von ihm enteigneten Pointeurs, ein stilles Eheleben zu führen. Doch bald schon verfiel er wieder dem Pharao und und spielte es dreimal buchstäblich zum Tode: erst noch als Bankhalter in Paris, wo er einen ruinierten Spieler in den Selbstmord trieb; später als Pointeur in Genua, wo er die im gleichen Moment aus Gram verstorbene Angela an den Obristen Duvernet, ihren seinerseits zum Bankhalter gewordenen Ex-Liebhaber verspielte; schließlich als Besucher der Spielbank von Pyrmont, wo er einem jungen Baron namens Siegfried sein ganzes Spielerleben erzählt, um es tags darauf auszuhauchen. In Menars’ Bekenntnis eingelagert erscheint die Lebensbeichte seines Schwiegervaters Francesco Vertua, eines nicht minder notorischen Hasardeurs. Auch dieser hatte sich durch „hohes Spiel“ (S. 725) geschwind bereichert und nach beinahe tödlicher Verwundung durch einen ruinierten Gegner zeitweilig dem Pharao entsagt, um im Familienkreis als normaler Bankier sein Geld zu verdienen; doch angesichts von Menars’ Erfolg war er gleichfalls an den Spieltisch zurückgekehrt und von jenem in wenigen Nächten um seinen gesamten Besitz gebracht worden. Vernommen wird die doppelte Konfession wiederum von einem Spieler, eben jenem Siegfried, dem Menars beim Pharao in Pyrmont begegnet. Er beginnt zu pointieren, um den Vorwurf der Knickerei zu entkräften, überschreitet aber bald die Grenze vom demonstrativ großzügigen zum „übermütigen Spiel“ (S. 715); erst in Kenntnis der beiden Bekenntnisse verlässt er die Spielbank und zieht sich wieder in die Natur oder auf sein Zimmer zurück, wo er sich dem „Spiel seiner Fantasie“ (S. 712) überlässt — oder gar dem des Schriftstellens und Dichtens. Im Zuge aller drei Geschichten gerät die strenge Unterscheidung zwischen echtem und berechnendem Spieler spürbar ins Wanken. Auch wenn sie in Spielerglück noch nicht ausdrücklich als fragwürdige oder „gemeine“ bezeichnet wird wie ein halbes Jahrhundert später in Dostojewskijs Spieler, wird ihr durch die erzählten Wendungen und Verwicklungen doch hintergründig der Boden entzogen. 23 Dies gilt zum einen im Hinblick auf ihre ökonomische Dimension. Wie die Spielerleben in ihrem narrativen Zusammenhang zeigen, lässt sich Menars’ kategorische Unterscheidung zwi_____________ 23
Vgl. Dostojewskij, Fjodor M., Der Spieler. Aus den Aufzeichnungen eines jungen Mannes (1866), übers. v. Arthur Luther, München 1981, S. 16, sowie das Motto dieser Arbeit; zur Infragestellung der gängigen Spielertypologie in diesem wohl bekanntesten Spielerroman siehe Butor, Michel, „Le joueur“ (1958). In: Essais sur les modernes, Paris 1992 (Tel), S. 17-33.
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schen Spielsinn und Geldgier nur als graduelle Abstufung halten. Schon der Chevalier selbst, der sich ganz dem zweiten Typ zuschlägt und als Motiv nicht „Spielsucht“, sondern „Geldgeiz“ zuschreibt (S. 721), verfällt spätestens in Genua einer ruinösen Spielleidenschaft; als er sich zum Vabanque-Spiel um seine Frau hinreißen lässt, läuft er in die Falle des Obristen, der sich klug verstellt und erst zuletzt als sein Rivale enttarnt. Aus dem eiskalten Bankhalter und Spekulanten, dem „abgehärtetsten Spieler“ (S. 733) unter seinesgleichen, ist ein blindes Opfer des Hasardspiels geworden, „immerfort hinstarrend auf den Spieltisch und nicht bemerkend, dass die Spieler immer mehr Vorteil ersiegten über den Bankier“ (S. 735). Auch sein Vorgänger Vertua durchläuft eine ähnliche Entwicklung. Obwohl er sich beim Pharao zunächst nur bereichert und nach seiner spielbedingten Verwundung ganz zum Kreditgeber für maßlose Prasser, also zum Profiteur fremder Spielleidenschaft wandelt, befällt ihn schließlich ein „seltsamer Wahnsinn“ (S. 726), der ihm sein Haus zu verspielen gebietet. Nur bis zur Begegnung mit Menars verweist sein Name auf den machiavellistischen Begriff der virtù, der klugen Beherrschung des Zufalls; danach verfolgt er ohnmächtig und verstört den unberechenbaren Verlauf des Spiels. Unter umgekehrten Vorzeichen handelt schließlich Siegfried seiner Behauptung zuwider, „daß ihm der eigentliche Spielsinn ganz abgehe“; nach Menars’ Ansicht ist er „im Begriff, ein leidenschaftlicher Spieler zu werden“, da er am Spieltisch schon nach kurzer Zeit aufhört, sich aus adligem Ostentationsbedürfnis einen bedeutenden Verlust herbeizusehnen statt eines kapitalen Gewinns (S. 717). Gleichviel, ob sie sich anfangs um jeden Preis zu bereichern oder diesen Anschein um jeden Preis zu vermeiden suchen, bei allen drei Figuren geht nüchterne Berechnung in leidenschaftliche Verausgabung über. Zum anderen zwingt der wechselhafte Gang der Erzählung dazu, die poetologische Seite von Menars’ Unterscheidung zu überdenken. Denn er zeigt, dass ein poetisch produktiver „Spielsinn“ auch aus ganz prosaischen Motiven entstehen kann. Sowohl Vertua als auch Menars, beide des Geldes wegen zum Glücksspiel gekommen, gleichen in viel stärkerem Maße romantischen Künstlerfiguren als Siegfried, der sich dem „Spiel seiner Fantasie“ und seinen literarischen Neigungen ohne nennenswerte Ergebnisse hingibt. 24 Zwar bezahlen sie für ihr wirres Spielerleben damit, dass ihnen am Ende die Sprache versagt: Vertua vermag im Todeskampf nur noch die monotonen Worte des Bankhalters, gagne und perd, zu äußern, und Menars bleibt nach einem Gehirnschlag gar „sprachlos bis zu seinem Tode“ (S. 737), so dass seine Hauptbeschäftigung zuletzt seinem Namen entsprechend zu einer unpro_____________ 24
Vgl. hierzu die prägnante Lektüre von Schnyder, „‚Va banque!‘“. In: Torra-Mattenklott (Hg.), Spiele/Games, S. 73-75, der allerdings die dabei aufgerufenen Spielkonzepte frühromantischer Poetik kaum berücksichtigt.
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duktiven ars minor herabgewürdigt erscheint. Doch gelingt es beiden, die für den „echten“ Spieler charakteristische Einsicht in die „unsichtbare Hand der höhern Macht“ (S. 720) zu gewinnen. Dies zeigt sich daran, dass sie im jeweils letzten Kartenspiel ihres Lebens ausgerechnet die bedeutungsschwangere Dame ziehen: Vertua, als er Angelas Erbe verspielt, und Menars, als er Angela selbst an den Obristen verliert. Der darin zutage tretende „tiefere Spielsinn“ befähigt sie im Gegensatz zu Siegfried auch dazu, selbst von ihrer Leidenschaft zu erzählen. Damit aber gleichen sie dem Rahmenerzähler von Spielerglück, dem Serapions-Bruder Theodor, der seinerseits einmal bei einem „bedeutende[n] Spiel“ (S. 739) pointierte und dabei den Sinnestaumel der Spiellust erfuhr. Theodor hat dem Pharao zwar seitdem abgeschworen, den Spielgewinn nicht wieder eingesetzt, sondern in eine Bildungsreise gesteckt, wirkt jedoch auf einen seiner Zuhörer immer noch wie ein „tüchtiger Spieler“ (S. 737), der er gemäß dem Leitsatz der Serapions-Brüder im Grunde auch sein muss, um von den Abgründen der Spielleidenschaft erzählen zu können. So wird die ars minor zweier gieriger Hasardeure in letzter Instanz zu einer imaginativen ars maior geadelt. Im Zuge seines ‚Textspiels‘ zerspielt der Rahmenerzähler die romantische Unterscheidung zwischen zwei Spielertypen, welche die Vorzeichen älterer Spieldiskurse programmatisch verkehrt. 25 Ähnlich einem Bankhalter, der bei der so genannten Taille eine Karte nach der anderen aufdeckt, offenbart er nach und nach latente Affinitäten zwischen Rechnern und Sehern.
Rastignac: Spiel und Spekulation Balzacs Comédie humaine weist kaum weniger auf Hoffmanns Spielerfiguren als auf seine berühmteren Künstlerfiguren zurück. 26 Allerdings überarbeitet er die romantische Spielertypologie im Rahmen der realistischen Programmatik, die er im Avant-propos zu seinem Romanzyklus umreißt und derzufolge er den Romancier sowohl als Zeithistoriker wie auch als Sozio-
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Zum ‚Textspiel‘ im Sinne einer fiktionalen Entregelung und Entdifferenzierung von kulturell ausdifferenzierten Spielformen siehe Iser, Wolfgang, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M. 1991, S. 426-480; vgl. auch Frey, Hans-Jost, „Über das Spiel“. In: Der unendliche Text, Frankfurt/M. 1990, S. 263-294. Zu deren Bedeutung für Balzac vgl. Kesting, Marianne, „Das imaginierte Kunstwerk. E. T. A. Hoffmann und Balzacs Chef-d’œuvre inconnu“. In: Romanische Forschungen 102/1990, S. 163-185.
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logen begreift. 27 In der Rolle des gegenwartsbezogenen „historien des mœurs“ situiert er seine Spieler deutlicher als Hoffmann im nachrevolutionären Paris, das bei ihm als Ort extrem gesteigerter Kontingenz erscheint. 28 In seiner Erzählung Z. Marcas variiert er Burkes konservatives Diktum, die Revolution habe Frankreich in einen großen Spieltisch verwandelt: „Paris est une immense roulette, et tous les jeunes gens croient y trouver une victorieuse martingale“. 29 Im Lichte dieser Metapher erscheint das auf eine gewinnbringende Kombination gerichtete Glücksspiel in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts als Folge einer historischen Katastrophe, die vor allem Ehrgeiz und Geldgier, aber auch die Spielleidenschaft restlos entfesselt hat. 30 In der Rolle des Experten für „espèces sociales“ verfeinert er andererseits die in Spielerglück aufscheinende typologische Unterscheidung zu einer ganzen Skala unterschiedlicher Spielerfiguren, so wie er gleichzeitig sorgsam zwischen verschiedenen Spielformen differenziert. 31 Daraus ergibt sich seine Tendenz, Spielergeschichten in Serie zu erzählen und dabei divergente Karrieren gegeneinander zu setzen. 32 Sie tritt etwa im ersten Teil seines wenig beachteten Romans La rabouilleuse hervor, wo sich die Schicksale einer geduldig abwartenden Lotterieteilnehmerin und eines haltlosen Kartenfanatikers kreuzen. Besonders aber zeigt sie sich in zwei frühen, gleichermaßen berühmten und gewissermaßen komplementären Teilstücken des Zyklus, in Le père Goriot und in La peau de chagrin. _____________ 27
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Vgl. Balzac, Honoré de, „Avant-propos“ (1842). In: La comédie humaine, Bd. 1, hg. v. PierreGeorges Castex, Paris 1976-1981 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 1-20; alle weiteren BalzacZitate folgen der Band- und Seitenzählung dieser Ausgabe. Vgl. die wegweisende Studie von Bell, David F., „Balzac’s gamblers“. In: Circumstances. Chance in the literary text, Lincoln/London 1993, S. 155-193. VIII, 840; vgl. Burke, Edmund, Reflections on the Revolution in France (1790), Harmondsworth 1986, S. 310: „The great object […] is to metamorphose France, from a great kingdom into one great play-table; to turn its inhabitants into a nation of gamesters“. Zur Karriere dieses Wortes in der deutschen Romantik siehe Schnyder, Peter, „Kontingenzpolitik. Das Glücksspiel als interdiskursives Element in der politischen Romantik“. In: Uwe Hebekus u. a. (Hg.), Das Politische. Figurenlehre des sozialen Körpers nach der Romantik, München 2003, S. 133-154. Eine entsprechend ausgerichtete Kritik der Pariser Spieler- und Maklerszene um 1830 äußert Balzacs Zeitgenosse Allonville, Armand d‘, „Les maisons de jeu“. In: Paris ou le livre des cent-et-un, Bd. 5, Paris 1832. Zu Balzacs Typologie der Spiele vgl. anhand der Kartenspiele Mouche und Whist Laisney, Vincent, „Béatrix ou le jeu de la mouche et du hasard“. In: L’année balzacienne, 2003, S. 285-305; „Modeste Mignon ou ‚le whist des prétendus‘“. In: L’année balzacienne, 2005, S. 347-360. Zu dieser Tendenz vgl. allgemein die luziden Notizen des Philosophen Alain, „Avec Balzac“ (1937). In: Balzac, Robert Bourgne (Hg.), Paris 1999 (Tel), S. 13-118, bes. S. 24 f., 58 f.
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Im erstgenannten Roman aus dem Jahre 1834, der als repräsentativ für Balzacs Großstadterzählungen gilt, dominieren die berechnenden Spieler. 33 An einen leidenschaftlichen Spieler erinnert allein der Titelheld Goriot, ein ehemals reicher Nudelfabrikant, hinter dessen rasch fortschreitender Verarmung seine Zimmernachbarn in der schäbigen Pension Vauquer zunächst einen ruinösen Hang zum Hasardspiel vermuten: Tantôt […] le père Goriot était un homme qui allait à la Bourse et qui, suivant une expression assez énergique de la langue financière, carottait sur les rentes après s’y être ruiné. Tantôt c’était un de ces petits joueurs qui vont hasarder et gagner tous les soirs dix francs au jeu. […] Le père Goriot était encore un avare qui prêtait à la petite semaine, un homme qui nourrissait des numéros à la loterie (III, 69 f.).
Abgesehen von der Annahme, er vergebe kurzfristige Kredite, schreibt man dem rätselhaften Alten ein ökonomisch eher unvernünftiges Verhalten zu. Es heißt, er spekuliere auf Tageskursschwankungen an der Börse, obwohl er dort sein Vermögen verloren habe; er riskiere jeden Abend eine kleine, aber konstante Summe im Kasino; ja, er setze einen immer höheren Einsatz auf bestimmte Lottozahlen, doch offensichtlich ohne Erfolg. Vor allem nach Einschätzung seines Tischgenossen Vautrin gehört er zu jenen „hommes à passions“, die für eine einzige Leidenschaft alles geben, sei es das Sammeln, die Börse oder das Spiel (III, 87). Doch so sehr diese Vermutung generell zutrifft, so wenig trifft sie Goriots spezielle Monomanie. Denn wie schon der Romantitel andeutet, ruiniert er sich aus fanatischer Liebe zu seinen zwei Töchtern, die in bessere Kreise eingeheiratet haben. Dennoch vergleicht er sich selbst mit einem fanatischen Spieler, als er kurz vor seinem Tod seine zerstörerische Leidenschaft rekapituliert: „je les aimais tant que j’y suis retourné comme un joueur au jeu“ (III, 275). Auch dort, wo sie als Erklärung längst ausgedient hat, bleibt die Spiellust somit noch als griffige Metapher präsent. Auf diesem Hintergrund gewinnt umso klarer der zweite Protagonist Kontur, der junge Landadlige Eugène de Rastignac, dem parallel zu Goriots sozialem Absturz ein steiler Aufstieg von der obskuren Pension im Quartier Latin in die glanzvolle Gesellschaft am rechten Ufer der Seine gelingt. 34 Dabei erweist er sich als ein zunehmend berechnender Spieler. Nachdem er begriffen hat, dass er für den Eintritt in die Welt der rive droite neben seinem Adelstitel auch Geld benötigt, setzt er zunächst alles auf die Karte eines Bittbriefes an seine Mutter, den er siegessicher in den Brief_____________ 33
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Vgl. Frappier-Mazur, Lucienne, „Les métaphores de jeu dans ‚La comédie humaine‘“. In: L’année balzacienne, 1969, S. 31-45, die diesen Typus allerdings unangemessen verabsolutiert. Zur komplementären Sujetfügung des Romans siehe Warning, Rainer, „Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der ‚Comédie humaine‘“ (1980). In: Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 35-76, hier: S. 41-48.
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kasten wirft: „Je réussirai!“ (III, 122). Dieses typische „mot du joueur“ kennzeichnet ihn noch als waghalsigen Hasardeur, hat es dem Erzähler zufolge doch mehr Menschen zugrunde gerichtet als gerettet. Auch als er nach Anweisung der erbetenen Summe Einlass in die besseren Kreise findet und auf diesem Wege ganz buchstäblich zum Glücksspiel kommt, agiert er ähnlich verwegen weiter. Bei seinem ersten Besuch im Palais Royal, der Pariser Spielhölle schlechthin, setzt er am Roulettetisch ahnungslos — „sans rien savoir du jeu“ (III, 171) – alles auf eine Zahl und gewinnt. Dabei spielt er nur stellvertretend für seine Geliebte Delphine de Nucingen, eine der Töchter Goriots, die mit seinem Anfängerglück ihr knappes Taschengeld aufbessern will. Doch ganz wie Hoffmanns Menars zelebriert er das hohe Spiel oder „gros jeu“ auch bald auf eigene Rechnung, setzt exorbitante Beträge aus erfindungsreich aufgetriebenen Mitteln, führt eine ganz von raschen Glückswechseln bestimmte „vie de hasard“ (III, 179 f.). Auch wenn er dadurch ostentativ seine Zugehörigkeit zur Welt der Salons markiert, riskiert er gleichwohl beständig, in die Welt der Pension zurückzufallen. Nur einem günstigen Zufall verdankt er es letztlich, dass er in einer Whist-Partie mit dem haltlosen Dandy Maxime de Trailles eine hohe Spielschuld zurückgewinnt und nicht wie jener unweigerlich dem Ruin entgegentreibt. Dabei hat Rastignac frühzeitig erahnt, dass es die Drehungen des Glücksrades nicht tatenlos abzuwarten, sondern vielmehr entschlossen zu manipulieren gilt: „dans le jeu compliqué des intérêts de ce monde, il devait s’accrocher à un rouage pour se trouver en haut de la machine, et il se sentait la force d’en enrayer la roue“ (III, 158). Noch während er sich die geplante Karriere beim Roulette oder Whist zu erspielen sucht, fasst er bereits ins Auge, in die Bühnenmaschinerie der menschlichen Komödie selbst einzugreifen. Diese Einsicht verdankt er seinem älteren Zimmernachbarn Vautrin, der das alte Emblem vom Rad der Fortuna einmal zitiert und später kombiniert mit dem neueren Bild des sozialen Glockenspiels, des „carillon de l’ordre social“. 35 Mit dem Anspruch, das „jeu de la machine“ in dessen Räderwerk zu durchschauen, präsentiert er sich von Anfang an als kaltblütig kalkulierender Spieler. Dies geht insbesondere aus der langen Ansprache hervor, mit der er den jungen Helden für einen kriminellen Plan zu gewinnen trachtet. Er sieht vor, den Bruder der Pensionärin Victorine Taillefer zu töten, damit diese das Erbe ihres reichen Vaters antreten und es ihrem heimlichen Schwarm Rastignac übertragen kann. Allerdings denkt Vautrin gar nicht daran, das dafür erforderliche inszenierte Duell _____________ 35
III, 87 u. 186. Zu Balzacs Maschinenmetaphorik vgl. Nitsch, Wolfram, „Balzac und die Medien. Technik in der Metaphorik der ‚Comédie humaine‘“. In: Wolfram Nitsch/Bernhard Teuber (Hgg.), Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive, Tübingen 2002, S. 251-262.
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selbst auszutragen. Obwohl er sich für zielsicher genug hält, um ein PikAs aus fünfunddreißig Schritten Entfernung fünfmal hintereinander zu treffen, schätzt er einen Zweikampf auf Pistolen als ebenso unberechenbar wie einen Münzwurf ein: „Le duel? croix ou pile! voilà“ (III, 136). Daher scheint es ihm klüger, die Ausforderung des störenden Haupterben einem befreundeten Offizier zu überlassen. Erst dadurch verwandelt sich die allzu gewagte in eine todsichere Intrige, in eine Partie mit sämtlichen Trümpfen und ohne jeden Rest an Unwägbarkeit: „c’est quinte et quatorze en mains, c’est connaître les numéros à la loterie, et c’est jouer sur les rentes en sachant les nouvelles“ (III, 142). Damit ist Vautrins Einstellung zum Spiel prägnant umrissen. Reine Glücksspiele vom Typus Münzwurf gilt es in buchstäblicher Form grundsätzlich zu meiden und im uneigentlichen Sinne nur dann zu spielen, wenn sich das Risiko durch kluges Verhalten begrenzen oder gar ausschalten lässt. Dies kann zum einen durch Dissimulation geschehen, wie sie Kartenspiele mit gleichermaßen strategischen wie aleatorischen Zügen lehren. Wer beim Piquet-Spiel Vierzehn und Fünfzehn, also fünf gleichfarbige Karten sowie einen Vierling in der Hand hält, muss dies zwecks Gewinnsteigerung per Pokerface verbergen und darf sich auch nicht ins Blatt schauen lassen, wie dies Vautrins Gegenspieler zunächst vergeblich versuchen: „Quoique depuis un an nous l’ayons entouré d’espions, nous n’avons pas encore pu voir dans son jeu“, stellt der Polizeichef beeindruckt fest. 36 Solches Bluffen lässt sich zum anderen durch Falschspielen ergänzen, wie der Hinweis auf die vorab bekannten Lottozahlen verrät oder wie es Rastignac mit seinem Mitleid heischenden Bittbrief bereits vorgemacht hat: „tous les frères flouent plus ou moins leurs sœurs“. 37 Vautrin selbst beherrscht beides in hohem Maße, wie sich im weiteren Fortgang der Handlung erweist. Nicht nur führt er die Mordintrige zu Ende, ohne dass seine Mitwirkung ruchbar wird – auch wenn Rastignac in letzter Minute die Hand und die Mitgift der neuen Erbin ausschlägt. Zudem täuscht er sämtliche Pensionäre mit einer falschen Identität, bis ihn eine Polizeispionin als den entflohenen Sträfling Jacques Collin alias „Trompe-la-Mort“ enttarnt; und er macht diesem Beinamen auch weiter Ehre, da seine Festnahme seinen später erzählten Aufstieg zum geistlichen Würdenträger und zum Pariser Polizeichef nicht aufhalten kann. Wenn er in seiner Rede gleichwohl empfiehlt, mit hohem Einsatz zu _____________ 36
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III, 191. In Illusions perdues kommt Vautrin gegenüber seinem folgsameren Schützling Lucien de Rubempré am Modellfall des Bouillotte-Spiels ausdrücklich auf die Bedeutung von Pokerface und Bluff im „jeu de l’ambition“ zurück: „Non seulement vous cachez votre jeu, mais encore vous tâchez de faire croire, quand vous êtes sûr de triompher, que vous allez tout perdre“ (V, 702). III, 139. „Le nom de floueur appartient à tous les fripons qui font métier de tromper au jeu“, heißt es in einem Unterwelt-Handbuch von Vautrins historischem Vorbild Vidocq; vgl. den Kommentar in Le père Goriot, hg. v. Pierre-Georges Castex, Paris 1981, S. 123.
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spielen („jouer des grand coups“), dann ist damit also nur ein scheinbar gewagtes Spiel gemeint, eine Partie um alles oder nichts mit vorsorglich gezinkten Karten. 38 Dennoch gewinnt sogar ein scharfer Beobachter wie der Arzt Bianchon am Ende den Eindruck, der Tod des Bruders zur rechten Zeit habe sich ebenso zufällig ergeben wie eine Wendung beim „trente-et-quarante“ (III, 215), einem dem Pharao verwandten Hasardkartenspiel. Dies aber liegt daran, dass der Schein hohen Spiels als schöner Schein eine unwiderstehliche Wirkung entfaltet. Nicht ohne Grund vergleicht sich Vautrin mit einem „grand poète“, der mit Handlungen statt mit Worten Kunstwerke schafft (III, 141). Mit seiner ingeniösen Intrige schwingt er sich auf zum Antipoden nicht nur der Staatsgewalt, sondern auch des auktorialen Erzählers. 39 Was im Grunde nur auf gemeine Bereicherung zielt, erringt als suggestive Poesie der Aktion die höheren Weihen der Kunst. Rastignac macht sich die Lektion von „Trompe-la-Mort“ zu Eigen, obwohl er sich dem kriminellen Pakt schließlich verweigert. Auch deshalb kann er, anders als Lucien de Rubempré, bei seinem sozialen Aufstieg auf die Protektion des Großverbrechers verzichten. Bis zum Ende der Restaurationszeit perfektioniert er die machtbewusste Verbindung von Glücksspiel und Falschspiel, die ihn nach ganz oben befördert, ohne seinem ausgezeichneten Ruf zu schaden. Davon berichtet, gleichsam in zeitraffender Retrospektive, die 1838 erschienene Erzählung La Maison Nucingen. Dort wird er gleich einleitend vorgestellt als diskreter Schicksalsspieler, der trotz unlauterer Machenschaften ungeteilte Hochachtung genießt: „un gentleman qui sait le jeu, qui connaît les cartes et que la galerie respecte“ (VI, 334). Wie im Weiteren rekapituliert wird, hat er durch ein fragwürdiges Bündnis mit dem Bankier Nucingen, dem Ehemann seiner Geliebten Delphine, schnell Fortune gemacht. Nach Einsicht in dessen strategisches Genie half er ihm bei der Vortäuschung eines Konkurses, indem er den Gläubigern gegenüber die Rolle des Rechtschaffenen und Gefälligen spielte; dabei schreckte er nicht einmal davor zurück, seinen Freund Beaudenord zu einer ruinösen Transaktion zu verleiten. Diese skrupellose Intrige wird wiederum als wohl kalkulierter Kunstgriff in einem großen Glücksspiel bezeichnet. Wo Lotterien und Spielbanken verboten werden, so der Erzähler mit Blick auf aktuelle Dekrete, dort treten eben weit weniger _____________ 38
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III, 140. „Nous jouons le tout sur le tout; mais heureusement les cartes sont biseautées“, resümiert Vautrin auf dem Zenit seiner Karriere in Splendeurs et misères des courtisanes (VI, 562). Vgl. Neefs, Jacques, „‚Illusions perdues‘: représentations de l’acte romanesque“. In: Roland Le Huenen/Paul Perron (Hgg.), Le roman de Balzac. Recherches critiques, méthodes, lectures, Montréal, Didier 1980, S. 119-130; Prendergast, Christopher, The order of mimesis. Balzac, Stendhal, Nerval, Flaubert, Cambridge 1986 (Cambridge Studies in French), S. 83-101.
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streng regulierte Finanzplätze an ihre Stelle: „les actions industrielles, les commandites, deviennent la Loterie, le Jeu sans tapis, mais avec un râteau invisible et un refait calculé“. 40 Und dort kann der bis hin zum Betrug berechnende Spieler mit geradezu industrieller Effizienz Gewinne erzielen, wie die ebenfalls wiederkehrende Metapher der großen sozialen Maschinerie, nunmehr im Sinne einer dampfgetriebenen Spekulationsmaschine, betont. 41 Als gut geölter „Kolben“ in dieser Maschine jenseits der Fabriken, als geschmeidiger Teilnehmer am Spiel jenseits der Kasinos kommt Rastignac schließlich zu jenem Reichtum, der ihm an den Kartenund Roulettetischen seiner Jugend noch versagt geblieben war. Damit aber tritt er in entschiedenen Gegensatz zu jenen „echten“ Spielern, von denen die zur Entstehungszeit der Comédie humaine noch andauernde französische Romantik erzählt. Denn ihnen untersagt es ein strenger Ehrenkodex grundsätzlich, dem in der Regel widrigen Glück durch Manipulationen oder Kombinationen entgegenzuwirken. Der Held von Mérimées Novelle La partie de trictrac, der vorübergehend dem Spiel verfällt, sühnt nach langem Grübeln zuletzt durch Selbstmord, dass er eine lukrative TricktrackPartie durch einen unbemerkten Trick zu seinen Gunsten gewendet hat; der leidenschaftliche Hasardspieler Trenmor in George Sands Roman Lélia agiert lange Jahre als „joueur en grand, intrépide, mais scrupuleux à sa manière“, verachtet jegliches „jeu d’adresse ou de combinaison“ und landet sofort im Zuchthaus, als er sich eines Tages aus Not doch zu einem Betrug hinreißen lässt. 42 Unter solchen Gewissensbissen hat Rastignac höchstens am Anfang seiner Laufbahn zeitweilig zu leiden. Als Parvenu erinnert er vielmehr an die zynischen Falschspieler des Ancien Régime, vor denen der junge Balzac seine Altersgenossen noch ausdrücklich warnt. 43 Da er noch besser als sein Lehrmeister Vautrin auf seine Chance zu warten, sie rücksichtslos zu nutzen und dabei doch allen zu gefallen _____________ 40
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VI, 378. Die staatliche Lotterie wurde 1836 abgeschafft, den öffentlichen Spielhäusern 1837 die Lizenz entzogen. Der refait, eine bestimmte Kartenkonstellation beim Trente-etQuarante, kommt in erster Linie dem Bankhalter zugute. Vgl. VI, 333 („la vie à haute pression […] des grands financiers“), 317 („la mise en scène d’une machine si vaste“), 380 („un homme qui pût lui servir de piston pour agir sur le créancier“). Mérimée, Prosper, „La partie de trictrac“ (1830). In: Jean Mallion/Pierre Salomon (Hgg.), Théâtre de Clara Gazul/Romans et nouvelles, Paris 1978 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 535-550; Sand, George, Lélia (1833), hg. v. Pierre Reboul, Paris 1960, S. 32. Vgl. Balzac, Honoré de, „Code des gens honnêtes“ (1825). In: Œuvres diverses, Bd. 2, hg. v. Pierre-Georges Castex, Paris 1996 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 147-272, hier: S. 206. Literarischen Einblick in das Falschspiel alter Schule bietet am Beispiel des Pharao im berüchtigten Hôtel de Transylvanie der Abbé Prévost, Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut (1731), hg. v. Frédéric Deloffre/Raymond Picard, Paris 1965, S. 63 f.
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weiß, kann er sein Karriere-Spiel ungestraft weiter betreiben. 44 Dessen moralische Brisanz wird verdeckt durch eine ästhetische Brillanz, die in kaum geringerem Maße als die „Galerie“ der fiktiven Spielbeobachter auch den Leser der Rastignac-Romane verführt. 45
Valentin: Spiel und Divination Aus ganz anderem Holz als Rastignac ist Raphaël de Valentin geschnitzt, der gleichfalls aus verarmtem Landadel stammende Held des 1831 erschienenen Romans La peau de chagrin, der dem nur wenig älteren, doch längst arrivierten Freund am Ende der Restaurationsepoche mehrfach begegnet. Gleich auf den ersten Seiten tritt er als „echter“ Spieler romantischer Prägung in Szene. Voller Ungeduld betritt er schon vormittags, als sich die Pforten gerade erst öffnen, eines der Kasinos im Palais Royal, der Hochburg der Pariser Glücksspielkultur. Dass er damit eintaucht in eine dem Alltag enthobene Welt, wird bereits an den Zahlen deutlich, die hier geradezu systematisch an die Stelle von Namen treten. Das Spielhaus trägt die Nummer 36; der Besucher erhält einen numerierten Garderobenschein für seinen mit Namenszug versehenen Hut; und im Spielsaal sind außer den Anweisungen der Croupiers zunächst nur die beim Trente-et-Quarante oder beim Roulette erspielten Zahlen zu vernehmen. 46 Allerdings besuchen diesen Palast der Zahlen zwei ganz unterschiedliche Typen von Spielern, wie der Erzähler in einem langen Exkurs alsbald erläutert: Le soir, les maisons de jeu n’ont qu’une poésie vulgaire, mais dont l’effet est assuré comme celui d’un drame sanguinolent. Les salles sont garnies de spectateurs et de joueurs, de vieillards indigents qui s’y traînent pour s’y rechauffer, de faces agitées, d’orgies commencées dans le vin et près de finir dans la Seine. Si la passion y abonde, le trop grand nombre d’acteurs vous empêche de contempler face à face le démon du jeu. La soirée est un véritable morceau d’ensemble où la troupe entière crie, où chaque instrument de l’orchestre module sa phrase. Vous verriez là beaucoup de gens honorables qui viennent y chercher des distractions
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Insofern wäre die These von Bell („Balzac’s gamblers“, Anm. 27) zu relativieren, Balzacs „Systemspieler“ würden beim Versuch der Zufallsbewältigung scheitern. Zur narrativen Unterwanderung poetischer Gerechtigkeit bei Balzac vgl. Warning, „Chaos und Kosmos“, S. 48-56. Dies belegt etwa die dezidierte Rastignac-Apologie bei Alain, „À travers Balzac“ (1950). In: Balzac, S. 189-215, hier: S. 198-203. Zu den Spielhausnummern im Palais Royal vgl. Barnhart, „Gambling in revolutionary Paris“. In: Journal of gambling studies, S. 158 f.; zur zunehmenden Abstraktion des Glücksspiels im 19. Jahrhundert durch seine Reduktion auf Zahlenwerte siehe Reith, Gerda, The age of chance. Gambling in Western culture, London/New York 1999 (Routledge studies in social and political thought 22), S. 58-87.
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et les payent comme ils payeraient le plaisir du spectacle, de la gourmandise, ou comme ils iraient dans une mansarde acheter à bas prix de cuisants regrets pour trois mois. Mais comprenez-vous tout ce que doit avoir de délire et de vigueur dans l’âme un homme qui attend avec impatience l’ouverture d’un tripot? Entre le joueur du matin et le joueur du soir, il existe la différence qui distingue le mari nonchalant de l’amant pâmé sous les fenêtres de sa belle. Le matin seulement, arrivent la passion palpitante et le besoin dans sa franche horreur. En ce moment, vous pourrez admirer un véritable joueur qui n’a pas mangé, dormi, vécu, pensé, tant il était rudement flagellé par le fouet de sa martingale, tant il souffrait par le prurit d’un coup de trente et quarante. À cette heure maudite, vours rencontrerez des yeux dont le calme effraye, des visages qui vous fascinent, des regards qui soulèvent les cartes et les dévorent. Aussi les maisons de jeu ne sont-elles sublimes qu’à l’ouverture de leurs séances (X, 59).
Ausgehend von den Eintrittszeiten der Spieler wird die typologische Unterscheidung aus Hoffmanns Spielerglück hier zugleich aufgerufen und verlagert. Abends kommen vornehmlich Gelegenheitsspieler, die im Kasino Zerstreuung suchen und dafür bezahlen wie in einem Theater, einem Restaurant oder einem Bordell. Zwar blitzt auch unter ihnen hie und da ruinöse Leidenschaft auf, doch verschwindet sie in der Masse respektabler Bürger, die sich mit einigen Partien oder auch nur mit der Betrachtung anderer Spieler begnügen. Daher verströmt der „joueur du soir“ bloß eine vulgäre Poesie und verrät noch nichts über die abgründige Dämonie des Spiels. Dagegen verkörpert der „joueur du matin“ die Spiellust ohne Reserve. Denn morgens betritt das Kasino nur, wer von seiner Passion nicht lassen kann, ihr Schlaf und Mahlzeiten opfert wie ein sterblich Verliebter. Erst dann bietet das Palais Royal ein wahrhaft erhabenes Schauspiel, von dem nach weiteren Vergleichen des Erzählers eine nicht geringere Wirkung ausgeht als von einem römischen Gladiatorenspiel, von einem spanischen Stierkampf oder von einer Enthauptung auf dem Richtplatz am Ufer der Seine. Ein solches Spiel zum Tode ist auch zu sehen, als Valentin den noch fast leeren Spielsaal betreten hat. Darauf deutet bereits ein bei seinem Eintritt zitierter oder vielmehr frei erfundener Satz aus Rousseaus Émile, der die dort vorgebrachte Verurteilung des Glücksspiels unter der Hand in eine fast schon nietzscheanische Rechtfertigung verwandelt: „Oui, je conçois qu’un homme aille au jeu, mais c’est lorsque, entre lui et la mort, il ne voit plus que son dernier écu“. 47 Und tatsächlich setzt der Protagonist entschlossen seinen letzten Napoléon oder Louisdor aufs Spiel. Als das _____________ 47
X, 59; vgl. Rousseau, Jean-Jacques, Œuvres complètes, Bd. 4, hg. v. Bernard Gagnebin/Marcel Raymond, Paris 1959-1969 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 682. Zu Nietzsches Spieltheorie, nach deren aphoristischem Konzentrat in der Vorrede zu Also sprach Zarathustra der echte Spieler „zugrunde gehn“ will, siehe immer noch Deleuze, Gilles, Nietzsche et la philosophie, Paris 1962, S. 29 f., 41 f.
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Rouletterad die andere Farbe anzeigt und seinen sofortigen Ruin besiegelt, verlässt er wortlos das Spielhaus und begibt sich mit Selbstmordabsichten zum Pont Royal. Damit entspricht er zweifellos dem vorher gezeichneten Bild des „véritable joueur“. Der für seine Verhältnisse exorbitante Einsatz unterscheidet ihn nicht nur von den nonchalanten Gelegenheitsspielern, sondern auch von den Stammgästen des Kasinos, vor deren Augen er sein Vermögen verspielt. Denn diese „fins spéculateurs“ (X, 61), ausgewiesene Experten für Chancenberechnung, pflegen ihren Einsatz zu dritteln, um nicht mit einem Schlag ihr ganzes Kapital zu riskieren. Dass Valentin sein Goldstück sofort und „sans calcul“ (X, 62) auf den Roulettetisch wirft, kann ihnen demgemäß nur als waghalsiger Coup erscheinen: „Ce n’est pas un joueur“, bemerkt der Bankhalter, einer der ihren (X, 64). Die Irritation der berechnenden durch den verwegenen Spieler verweist freilich zugleich auf eine narrative Komplikation der auktorialen Spielertypologie. Denn so sehr sich der ungeduldige Besucher wie ein „joueur du matin“ verhält, so wenig scheint er sich in Spielbanken auszukennen: Bei seiner Ankunft versäumt er den Hut in der Garderobe abzugeben, wo er ihn bei seinem Abgang beinahe vergisst. Die scheinbar ironische Frage des Erzählers zu Beginn des Romans, ob die Kasinoverwaltung zu statistischen Zwecken aus der Kopfbedeckung auf Vorgänge im Kopf des Spielers schließe, verrät mithin einen gewissen Ernst. Wie ist ein junger Mann ganz ohne Spielhauserfahrung zu einem leidenschaftlichen Spieler geworden? Die Antwort gibt mit großer Verzögerung der zweite Teil des Romans. Dort erzählt Valentin selbst die lange Vorgeschichte der Spielhausszene, die ihn beinahe in den zuletzt doch noch aufgeschobenen Freitod getrieben hätte. Mit den zerknirschten Bekenntnissen eines Vertua oder Menars hat die Konfession des leidenschaftlichen Spielers freilich wenig gemein; denn sie findet — ähnlich wie die Erzählung von Rastignacs Falschspiel in La Maison Nucingen — im Kontext eines Gelages statt und lässt keine Spur von Reue erkennen. 48 Das Spielerleben des Protagonisten scheint also noch nicht beendet, als er dessen wechselhaften Verlauf im Rausch rekapituliert. Es begann auf einem Ball, wo sich der der damals Zwanzigjährige erstmals der unmenschlich strengen Zucht seines Vaters entwand. Wie ein sich aus dem Netz schlängelnder Aal schlich er mit dessen Börse an den Spieltisch und gewann über einen Mittelsmann das Vierfache seines Einsatzes zurück. Dabei erfuhr er zugleich eine eigentümliche Steigerung seiner Sinneswahrnehmung und seiner Einbildungskraft: par un privilège accordé aux passions qui leur donne le pouvoir d’anéantir l’espace et le temps, j’entendais distinctement les paroles des deux joueurs, je
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Vgl. Amossy, Ruth, „La ‚confession‘ de Raphaël: Contradictions et interférences“. In: Claude Duchet (Hg.), Balzac et ‚La peau de chagrin‘, Paris 1979, S. 43-59.
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connaissais leur points, je savais celui des deux qui retournait le roi comme si j’eusse vu les cartes; enfin, à dix pas du jeu, je pâlissais de ses caprices (X, 124).
Gleich bei seinem begeisterten Eintritt ins Spiel erlangte er demnach eine Sehergabe, die sich bei Balzac häufig mit der Spiellust verbindet. Zum einen übersprang er mit einem Satz räumliche wie zeitliche Distanzen, nahm im Zeichen äußerster Verdichtung und Beschleunigung viele Eindrücke auf einmal wahr. 49 Dadurch aber war er zum anderen in der Lage, trotz größerer Entfernung vom Spieltisch und trotz störender Geräuschkulisse den Spielstand zu erraten, ja sogar den weiteren Spielverlauf vorauszusehen. Nicht nüchterne Spekulation auf Grund genauer Berechnung der Chancen, sondern vielmehr die rauschhafte Divination verborgener Zusammenhänge brachte ihm Glück. 50 Dennoch entsagte Valentin vorerst seiner Spielleidenschaft und verfolgte seine Karriere mit anderen Mitteln, die er rückblickend aber ebenfalls mit Spielmetaphern beschreibt. Zunächst verzichtete er auf jegliches Spiel zugunsten disziplinierter literarischer Arbeit, schrieb gleichzeitig an einer Komödie und an einer Theorie des Willens, setzte also ganz auf sich selbst statt auf Karten und Zahlen: „Ce fut comme un pari fait avec moi-même, et où j`étais le joueur et l’enjeu“ (X, 133). Auf Anraten Rastignacs begann er sodann ein strategisches Spiel auf dem literarischen Markt, um schneller den ersehnten Erfolg zu erzielen. Nach dem bewährten System des Freundes schlug er sich auf die Seite der Spekulanten, der „audacieux spéculateurs qui vivent sur des capitaux imaginaires“ (X, 165). Das hieß in seinem Falle, dass er sich statt um gute Werke um gute Presse bemühte, und zwar mit Hilfe der Gräfin Fœdora, einer Schlüsselfigur der Literatenszene, deren Gunst ihm als großes Los erschien: „un dernier billet de loterie chargé de ma fortune“ (X, 152). Doch gelang es ihm nicht, ihr kaltes Herz zu erobern, da sich die von Rastignac empfohlene Taktik der Dissimulation für ihn als wirkungsloses Mittel erwies. Daher kehrte er, abermals auf Vorschlag des Parvenus, zum Glücksspiel in adligen Salons zurück, das er allerdings nicht wie jener als gewinnbringendes „système dissipationnel“ (X, 192), sondern ganz im romantischen Sinne betrieb. In seinem „Spielerzimmer“ lag ein zerfledderter Byron als Kaminanzünder bereit (X, 194), und bei seinen gewagten Partien erlebte er rauschhafte Bilderfluchten oder „fantasmagories“ (X, _____________ 49
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Zu der schon am Romaneingang aufgerufenen Überwältigung des Spielers dadurch, wie viele Ereignisse sich in einem Würfelwurf drängen – „combien d’événements se pressent dans l’espace d’une seconde, et que de choses dans un coup de dés!“ (X, 63) – vgl. auch Sand, Lélia, S. 24: „Dans quelques heures, sans quitter la place où son démon l’enchaîne, il parcourt toutes les vicissitudes de la vie“. Entsprechend verlässt Balzacs Spieler in der Regel ihr Glück, sobald sie nicht mehr auf ihre innere Stimme hören: so Lucien de Rubempré in Illusions perdues (V, 511), Philippe Bridau in La rabouilleuse (IV, 320) oder Oscar Husson in Un début dans la vie (I, 867).
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197), ohne einen dauerhaften Gewinn zu erspielen. Was den gewandten Schicksalsspieler Rastignac nach oben brachte, ließ den maßlosen Hasardeur Valentin schließlich im Nichts versinken — bis hin zum ruinösen Spiel um seinen letzten Napoléon, bei dem er aus Verzweiflung erstmals ein Spielhaus betritt. Sein dortiger Auftritt als „echter“ Spieler geht also nicht einfach auf einen angeborenen Spielsinn zurück. Er ergibt sich vielmehr auch daraus, dass sich weder asketische Produktion noch gierige Spekulation als geeignete Wege aus der Misere erwiesen. Dennoch bildet der vermeintliche Endpunkt nur einen Wendepunkt in der Geschichte des Protagonisten. Dem Spiel im Kasino folgt ein langes Nachspiel, dem der Roman seinen Titel wie seinen Nachruhm verdankt. Nachdem er seinen Selbstmord auf den Abend verschoben hat, findet Valentin beim Besuch eines Antiquitätengeschäfts ein neues Spielzeug („jouet nouveau“) in Gestalt des berühmten Chagrin-Leders, das ihm jeden Wunsch erfüllt, dabei jedoch auch immer kleiner wird und im gleichen Zug sein Leben verkürzt. 51 Wie sehr dieser Talisman dem Spieler entgegenkommt, zeigt sich darin, dass er ihn unbenutzt aus der Hand eines Sammlers erhält. Der Sammler nämlich lässt sich in mancher Hinsicht als Antipode des Spielers begreifen. Ihm geht es um die ästhetische Rettung von Gegenständen vor ihrem praktischen Verbrauch, um ihre anschauliche Differenzierung gegen ihre Reduktion auf einen abstrakten Zahlenwert, während jener umgekehrt jedes Ding als potentiellen Einsatz betrachtet, gegen die darin eingelagerte Erfahrung und für das Erlebnis rauschhafter Verschwendung optiert. 52 Entsprechend konträr verhalten sich der alte und der neue Besitzer zu dem magischen Leder. Der Ladeninhaber, ein greiser Experte für Kuriositäten, hat von seiner Zauberkraft niemals Gebrauch gemacht, weil er es im Sinne der von Balzac vertretenen Energetik als anschauliches Maß für ein begrenztes Quantum an Lebenskraft deutet und diese nicht durch Wollen vergeuden, sondern durch
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X, 82. Zu den orientalischen Konnotationen des seinen Benutzer erbarmungslos regierenden Leders vgl. Meier, Franziska, „Orient in Paris. Zu Balzacs Roman La peau de chagrin von 1830“. In: Michael Bernsen/Martin Neumann (Hgg.), Die französische Literatur des 19. Jahrhunderts und der Orientialismus, Tübingen 2006, S. 81-92, bes. S. 89. Für eine entsprechende Unterscheidung zwischen Sammler und Spieler, die er so jedoch selbst nicht ausdrücklich trifft, vgl. Benjamin, Walter, „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“ (1931). In: Medienästhetische Schriften, hg. v. Detlev Schöttker, Frankfurt/M. 2002, S. 175-182; „Über einige Motive bei Baudelaire“ (1939), ebd., S. 32-63, hier: S. 45-49. Zu Balzacs Sammlerfiguren und ihrem historischen Kontext siehe Nitsch, Wolfram, „Marginale Lager. Zur Geschichte des Sammelns im französischen Roman“. In: Barbara Marx/Karl-Siegbert Rehberg (Hgg.), Sammeln als Institution. Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates, München/Berlin 2006, S. 247-260, bes. S. 253-255.
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Wissen bewahren will. 53 Valentin hingegen schert sich wenig um die Lektion des Antiquars und zögert nicht, die im Leder materialisierte Energie aufs Spiel zu setzen. Dies zeigt sich schon an dem umgehend bestellten Gelage, auf dem er seine Geschichte erzählt, aber auch noch einige Monate später, als er zur Schonung seiner inzwischen sichtlich erschöpften Kraftreserven wieder ein diszipliniertes, zurückgezogenes Leben führt. Denn die Ironie der Geschichte will es, dass er ausgerechnet in den von ihm bereisten Kurorten der von Paris ausgehenden modernen Glücksspielkultur wieder begegnet. So trifft er in Aix-en-Provence, einem Gegenstück zu Hoffmanns Pyrmont, abermals auf passionierte Spieler, die ihn zu einem Duell auf Pistolen verleiten, also zu der von Vautrin wohlweislich gemiedenen Extremform aleatorischen Spiels. Da hilft es ihm wenig, dass er den Tod des Gegners herbeiwünschen, den Ausgang in einer „sinistre fantasmagorie de vérité“ (X, 265) voraussehen kann; die Lebensgefahr lässt sich nur bannen auf Kosten der verbleibenden Lebenszeit. Noch schwerer wiegt sein letzter Rückfall ins Spielerleben bei seiner Rückkehr nach Paris. Dort erwarten ihn Briefe seiner Jugendliebe Pauline, der er einst Fœdora als das scheinbar große Los vorgezogen hatte. Vorsorglich wirft er sie ins Feuer, entfesselt aber gerade dadurch das Spiel der Flammen („les jeux de la flamme“) und erinnert wider Willen seine alte Leidenschaft an Hand der zufällig verschonten Fragmente (X, 287). Auch weil ihn dieses Konzentrat zärtlicher Rede überwältigt, erliegt er am Ende seinem Verlangen, als Pauline ihn höchstpersönlich besucht. In einer letzten Ausschweifung, bei der ihm wie Hoffmanns Spielern die Sprache versagt, verschleudert er seine letzten Reserven. Damit aber stellt er sich endgültig in Gegensatz zu Rastignac, dem gewiss klügeren, doch für ihn nicht maßgeblichen Gefährten. Während jener die amouröse Passion ganz der Spekulation unterordnet, fällt Valentin spielend in seine große Liebe zurück — so wie Vertua und Menars im entscheidenden Moment die Dame ziehen. Und während jener durch Falschspiel die Lektion von „Trompe-laMort“ beherzigt, überantwortet er sich selbst im Spiel an den Tod. Auch in dieser Hinsicht steigert er den romantischen Leidenschaftskult zu einem vitalistischen Sinnenrausch ohne Grenzen. 54 Über dieses exzessive Spielerleben fällt der Erzähler des Romans kein eindeutiges Urteil. Darin gleicht er Balzac selbst, der im Vorwort zur Erstausgabe sowohl Distanz als auch Affinität zu seinem Helden signalisiert. _____________ 53
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Vgl. Weinrich, Harald, Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens, München 2004, S. 59-62; zu Balzacs Energetik siehe Nykrog, Per, La pensée de Balzac dans la „Comédie humaine“. Esquisse de quelques concepts-clé, Kopenhagen 1965, S. 107-121. Vgl. hierzu, mit Blick auf Valentins Liebesleidenschaft, Matzat, Wolfgang, Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac, Tübingen 1990 (Romanica Monacensia 35), S. 189-201.
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Auf der einen Seite verwahrt er sich entschieden dagegen, selbst für einen „joueur“ gehalten zu werden; denn hätten andere Autoren wie gerade etwa Hoffmann ihren Geschöpfen durchaus nahe gestanden, so sei für ihn der Hang zum Spiel grundsätzlich unvereinbar mit der Arbeit am Werk (X, 50). Ähnlich legt auch der Erzähler Wert darauf, seinen kritischen Abstand zum erzählten Hasardspiel klar zu markieren. So stilisiert er gleich einleitend Valentins Eintritt ins Spielhaus zu einem Abstieg in die Hölle, zu einem „contrat infernal“ (X, 56), der später mit anderen legendären Teufelspakten verglichen wird (X, 197). Mit solchen Metaphern erneuert er, wahrscheinlich auf den Spuren des wortgewaltigen Klassikers La Bruyère, die alte, auch in Spielerglück gegenwärtige Tradition moralischer Spielkritik. 55 Andererseits vergleichen Autor wie Erzähler ihr eigenes schöpferisches Vermögen mehr oder weniger ausdrücklich mit der besonderen Sehergabe des Spielers, die für sie nicht mehr das alte Stigma des Abergläubischen trägt. 56 So heißt es im Vorwort: Les hommes ont-ils le pouvoir de faire venir l’univers dans leur cerveau, ou leur cerveau est-il un talisman avec lequel ils abolissent les lois du temps et de l’espace?… La science hésitera longtemps à choisir entre ces deux mystères également inexplicables. Toujours est-il constant que l’inspiration déroule au poète des transfigurations sans nombre et semblables aux magiques fantasmagories de nos rêves. Un rêve est peut-être le jeu naturel de cette singulière puissance, quand elle reste inoccupée!… (X, 53).
Nach Balzacs Vermutung, deren wissenschaftliche Bestätigung er keineswegs ausschließt, gleicht das menschliche Gehirn einem Talisman, da es die Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten gestattet; wer wie der Dichter ausgiebig davon Gebrauch macht, überlässt sich ganz dem Spiel der darin gleichsam magisch wirkenden Einbildungskraft. Die Metaphern des Talismans und des Spiels jedoch verweisen unverkennbar auf den Helden von La peau de chagrin, der ja tatsächlich seit seiner ersten Begegnung mit dem Hasardspiel über die Fähigkeit zur Wahrnehmung entlegener oder verborgener Phänomene verfügt. Bei dieser Fähigkeit sind zwei poetologisch relevante Aspekte auseinander zu halten. Zum einen impliziert sie ein zweites Gesicht („seconde vue“), die Gabe zur divinatorischen Schau in die räumliche oder zeitliche Tiefe der Dinge. 57 Darin ähnelt sie _____________ 55
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Zur Glücksspielkritik bei La Bruyère, den Balzac häufig, etwa auch in Le père Goriot (III, 180) zitiert, vgl. Thirouin, Laurent, „La dénonciation du jeu dans les Caractères de La Bruyère“. In: Papers on French seventeenth-century literature 25/1998, S. 89-106. So wie etwa noch für Dusaulx, der die „imaginations brûlantes & déréglées“ der Spieler in der Tradition älterer Traktate ganz der „superstition“ zuschreibt; vgl. Dusaulx, De la passion du jeu, S. 208. X, 52. Zu Balzacs ‚Tiefenmetaphysik‘ siehe im Anschluss an Foucault Warning, „Chaos und Kosmos“, S. 56-69, und Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaft, S. 185-189; zu ihren
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einer dichterischen Vision romantischer Prägung, wie sie auch zwei Leitbildern von Balzacs Erzähler zugrunde liegt: der Physiognomik, der medizinischen Lehre vom Einblick in das Innere des Menschen an Hand seines Körpers, und dem Panorama, das ein optisches Modell für den Blick in die Abgründe der Geschichte bietet — hier etwa in der Beschreibung des Antiquitätenladens, der dem kundigen Betrachter ein „panorama du passé“ vor Augen stellt. 58 Zum anderen aber verleiht Balzac der poetischen Inspiration durch den Vergleich mit einer „Phantasmagorie“ schon durchaus moderne Züge. Denn das gleichnamige optische Medium, das mittels einer beweglichen Projektionsanlage gespenstisch immaterielle Bilder in schneller Folge erzeugt, dient spätestens seit Baudelaire als Modell für eine nachromantische Imagination im Zeichen von Artifizialität und Flüchtigkeit. 59 Eine derartige Imagination kennzeichnet Valentin, wenn er beim Glücksspiel phantasmagorische Bilderfluchten gewärtigt oder das historische Panorama des Antiquars als Folge von „fantasmagories“ erlebt (X, 76). Doch auch der Erzähler setzt einen solchen Reigen von Erscheinungen in Gang, als er im Epilog des Romans den Leser dazu auffordert, genau wie Valentin bei seiner Rückkehr nach Paris das Spiel der Flammen in einem Kamin zu betrachten und dabei auf die flüchtig aufscheinende Gestalt Paulines zu achten: „phénomène fugitif que le hasard ne recommencera jamais“ (X, 293). Avanciert der Protagonist in den Momenten divinatorischer Vision wie Vautrin zu einem Stellvertreter des allwissenden Erzählers, so repräsentiert er in den Momenten phantasmagorischer Imagination den Leser, den das hohe Erzähltempo des Romans, seine in der Einleitung zur Erstausgabe so genannte „course vagabonde“ (X, 1189), in ähnlicher Weise überwältigt wie den Spieler die Beschleunigungserfahrung des Spiels. In jedem Fall aber macht Balzac das exzessive Hasardspiel als einen Entstehungsherd poetisch produktiver Vermögen kenntlich. Daher _____________ 58
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mediologischen Implikationen vgl. Nitsch, Wolfram, „Balzac und die Medien“. In: Nitsch/Teuber (Hgg.), Vom Flugblatt zum Feuilleton, S. 254 f. X, 76. Zu Balzacs Physiognomik siehe Warning, Rainer, „Physiognomik und Serialität. Beschreibungsverfahren bei Balzac und bei Robbe-Grillet“ (1987). In: Die Phantasie der Realisten, S. 77-88; zu seiner Orientierung am Panorama vgl. Ortel, Philippe, „‚La comédie humaine‘, œuvre panoramique“. In: La littérature à l’ère de la photographie. Enquête sur une révolution invisible, Nîmes 2002 (Rayon photo), S. 198-205. Siehe hierzu Castle, Terry, „Phantasmagoria: Spectral technology and the metaphorics of modern reverie“. In: Critical inquiry 15/1988, S. 26-61. Obwohl Baudelaire die Phantasmagorie in erster Linie als Modell einer Imagination unter Drogeneinfluss zitiert, betont er doch auch den Zusammenhang zwischen einer Beschleunigung der Wahrnehmung und dem Spiel mit optischen Geräten wie dem Phenakistikop – zu denen man im weiteren Sinne auch das Rouletterad rechnen könnte; vgl. Baudelaire, Charles, „Morale du joujou“ (1853). In: Curiosités esthétiques/L’art romantique, hg. v. Henri Lemaitre, Paris 1986, 2. Aufl., S. 201-207, hier: S. 205 f.
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überrascht es kaum, dass er in einem Brief aus der Entstehungszeit seiner frühen Romane seine grenzenlose Arbeitswut mit den Worten Goriots und mit Blick auf Valentin ausgerechnet an der Spielsucht bemisst: „Je vais, je vais au travail comme le joueur au jeu“. 60
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„[…] das letzte grosse Ereigniss im Schicksal unserer Cultur“ Oder: Nietzsche ‚liest‘ die Romantik RÜDIGER GÖRNER 1. „Was ist Romantik?“ Das Erbe einer Frage Epochale Dimensionen gewinnt eine Kunstrichtung, wenn aus ihren Zeichen gemeinsame Nenner werden und ihre Symbole über ihre zeitbedingte Entstehung und Wertigkeit hinaus kommunizierbar bleiben. Das kann zu genrespezifischen Bezeichnungen führen (zum Beispiel das Generalbasszeitalter oder – seit Marcel Duchamp – das Ready made in der bildenden Kunst) oder zu Überlegungen, eine bestimmte ästhetische Ausdrucksform als Signum einer Epoche hervorzuheben. So wäre das ‚Zeitalter des Fragments‘ ein probater Ersatzbegriff für weite Teile der Romantik. Andere Beispiele sind ‚Neue Sachlichkeit‘ oder Dokumentarismus für die Kunstwelt zwischen den sechziger und achtziger Jahren. In der Chiffre, der Zeichenhaftigkeit der Natur, Sprache und Kunstmittel sah Novalis wie vor ihm kaum jemand die Notwendigkeit permanenter Reflexion begründet. In seinem Falle bedeutete dies aber auch den Auftrag (an sich selbst und andere), Chiffren poetisch zu bilden. Ihre ‚Lesbarkeit‘ war auf Vielfalt, das meint vielfältige Deutungsmöglichkeiten angelegt. Eineindeutigkeit im mathematischen Sinne lag ihm, dem mathematisch zureichend Gebildeten, zunehmend fern, was bedeutet: je mehr er sein Denken von der Philosophie Fichtes emanzipierte und entfernte. Das Reden in Chiffren, Novalis war dies so vertraut wie später Nietzsche, ist mit dem „Reden in Zungen“ verwandt, jenem pfingstlichen Phänomen eines ekstatischen Sprechens in Sprachen, die man zuvor nicht kannte. Im Evangelium nach Markus findet sich der Satz: „Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben, sind diese: In meinem Namen werden sie böse Geister austreiben, in neuen Zungen reden [...]“ (16,17). Gerade die Dichtungen, aber auch zahlreiche Notate des Novalis lassen sich
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als Versuch lesen, schreibend ‚Neuland‘ zu betreten, eine neue Sprache zu sprechen, das Unerhörte zu sagen. Nietzsche steigerte diesen frühromantischen Anspruch noch, indem er eine neue prophetische Sprache wagte, wobei er bis zuletzt fragte, ob man ihn auch wirklich verstehe. Sprachlich in neues, bislang ‚verbotenes‘ Territorium sich vorzuwagen ist eine Künstler- und Denkerlust, die schon Ovid auf die Formel „nitimur in vetitum semper cupimusque negata“ (Amores 3,4, 17) gebracht hat. 1 Dieses Wagnis hatte Nietzsche bereits in seiner unveröffentlichten Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn zu seinem Programm erklärt, indem er moralisch-hermeneutische Kategorien chiffrierte, um dadurch ihre Relativität kenntlich zu machen. Als Nietzsche in seiner letzten Fassung der um ein ‚Fünftes Buch‘ erweiterten Fröhlichen Wissenschaft (1887) im Aphorismus 370 die Frage „Was ist Romantik?“ stellte, legte Anton Bruckner die erste Fassung seiner cmoll Symphonie (No 8), eine Apotheose seines spätromantischen Schaffens, vor. Johannes Brahms hatte seine Cello-Sonaten op. 99 sowie die Violin-Sonaten op. 100 vollendet und auch mit diesen Kompositionen die symphonische Romantik gleichsam auf den Kammerton reduziert. Man kann Vergleiche dieser Art als sinnlos oder erhellend ansehen. Sie verweisen zumindest auf eine Notwendigkeit, nämlich jene, Kontexte mitzulesen oder mitzuhören, wenn es um die Lektüre von epochenspezifischen, genauer: Epochen thematisierenden Texten geht. Nietzsche unternahm wiederholt Anläufe, diese sein Schaffen negativ wie positiv konditionierende Epoche, der er entstammte, zu definieren. Diese Versuche sind unlösbar mit dem Problembereich ‚Richard Wagner‘ verbunden, weil sich für Nietzsche mehr und mehr die Schlüsselfrage aufdrängte, in welchem Verhältnis dieser Komponist und vor allem dessen Werk zum Romantischen stand. Die Beantwortung dieser Frage bedingte wiederum Nietzsches Selbsteinschätzung seines eigenen Verhältnisses zur Romantik. Nietzsches Denken entwickelte sich maßgeblich in jener Epochenphase, die man ‚Spätromantik‘ nennt. 2 Um seine Lesart des Romantischen erfassen zu können, bedarf es zunächst einer Klärung dieser spätromanti-
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Vgl. dazu den Eintrag in Herders Conversations-Lexikon. Bd. IV. Freiburg/Br. 1856, S. 349. Dazu auch meinen Aufsatz „Nitimur in vetitum oder: Hat man mich verstanden?“ Zu einer Argumentationsfigur in Nietzsches Ecce homo. (i. Vorb. zum Druck). Es fällt auf, dass auch in der jüngsten – sofern auch nur noch annähernd überschaubaren – Forschungsliteratur zur Romantik die Spätromantik, obzwar für die vergleichende Literaturwissenschaft ein Projektbereich von ungewöhnlicher Ergiebigkeit, kaum eigenständige Berücksichtigung findet. Der Verfasser arbeitet gegenwärtig an der Einrichtung eines europäischen Sonderforschungsbereichs zur Spätromantik. Dieser Aufsatz wie auch sein Buch „Pluralektik der Romantik. Studien zu einer epochalen Denk- und Darstellungsform“ gelten der Vorbereitung dieses Projekts.
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schen ‚Befindlichkeit‘. So viel ließe sich einleitend sagen: Die Spätromantik verweigerte sich Programmen, brachte es nicht mehr zu einem eigenständigen ästhetischen, quasi-ideologischen Manifest, etwa nach dem Muster des „ältesten Systemprogramms des Idealismus“. (Im Widerspiel zu dieser Programmabstinenz entstand freilich mitten in der Spätromantik in Gestalt des Kommunistischen Manifests eine programmatische Schrift von unvergleichlicher Wirkungsbreite und -intensität.) Überdies verfügte die Spätromantik über kein Periodikum, wie dieses die Frühromantik in Friedrich Schlegels Äthenäum zur Verfügung hatte. Ihre Ränder bleiben in allen Kunstformen unscharf. Setzt sie in der Literatur um 1822 ein, dem Todesjahr E.T.A. Hoffmanns? Dauert sie nach 1853, dem Todesjahr Ludwig Tiecks, noch an? Ist die Rekatholisierung des Glaubens schlechthin das Indiz spätromantischen Bewusstseins – trotz des Protestanten und prototypischen Spätromantikers Eduard Mörike? Und in der Musik – verstehen wir das ganze Schaffen Robert Schumanns als spätromantisch? Weiter gefragt, und zwar nach den Verwandlungen innerhalb der Romantik: Was blieb von der Frühromantik in der Spätromantik? Wie viel Schubert und Schumann ist noch in Bruckner, bevor diese symphonische Kohärenz in Mahler aufbricht? Wie ‚romantisch‘ ist der Realismus Storms, Raabes und Fontanes? Wie jener Kellers, Stifters und Meyers? Lässt sich noch Runge und Nazarenertum in Feuerbach erkennen? Wo und wie berühren Spätromantik und Biedermeier einander? Die Spätromantik war auf Motive wie immer währender Abend und dauernd schimmerndes Mondlicht eingestimmt, ob in poetischer Bildlichkeit im Werk Eichendorffs oder im mythologisierenden Denken Schellings. Das Interesse am Mythologischen, welches das „älteste Systemprogramm“ bekundet hatte, schrieb sich bis in die Spätromantik fort, namentlich im Werk Georg Friedrich Creuzers, dessen mythologische Forschungen maßgeblich von Karoline von Günderrode angeregt worden waren. Gerade auch in der Wahrnehmung dieses mythologischen Dichtens und Denkens im nicht-deutschsprachigen Bereich mutierte dieser Ansatz ins Gespenstische. Als Katalysator wirkte in diesem Prozess vor allem in Frankreich Gérard de Nervals Übersetzung von Goethes Faust (1828) sowie Charles Nodiers Übersetzungen von E.T.A. Hoffmann (in den 1820igern) nebst seinen eigenen, Hoffmann nachempfundenen Gespenstergeschichten wie Smarra, ou les démons de la nuit (1821) und Histoire du Roi de Bohème et ses sept châteaux (1830); Gleiches gilt für Théophile Gautier und seine Contes fantastiques. 3 In dieser Literatur verwirklichte sich das Wort des Novalis aus „Die Christenheit oder Europa“, das sich in jenen
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Vgl. dazu: Holmes, Richard, „The Fantoms of Théophile Gautier“. In: The New York Review v. 14. August 2008, S. 60-63.
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auszugsweise veröffentlichten Teilen dieser Schrift fand, die auch Nietzsche durch die dritte Auflage der von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck besorgten Ausgabe der Werke des Novalis von 1815 kannte: „Wo keine Götter sind, walten Gespenster.“ 4 Die Spannungsfelder, in denen sich die späte Romantik befand, wurden von Extremen bedingt. Zu ihnen gehörten die Opposition von anhaltend intensiver Gefühlskultur im Zeitalter wachsender Industrialisierung, die Psychologisierung des Empfindens und die Erkundung des Unbewussten (etwa bei Gotthilf Heinrich Schubert, Justinus Kerner und Carl Gustav Carus 5 ), die zunehmende Ökonomisierung des Denkens und Handelns, wie überhaupt das Handeln als Imperativ im Gegensatz zur metaphysischen Spekulation sich durchzusetzen schien. Hinzu traten die Historisierung des Sakralen (von David Friedrich Strauß bis Ernest Renan wurde Christus als historische Persönlichkeit zu erfassen versucht); die Willensphilosophie wurde zum Thema, ob bei Schopenhauer (und Richard Wagner) als Verneinung des Willens oder bei Nietzsche als „Wille zur Macht“. Zwischen 1830 und 1848 hatte es den Anschein, als könne das revolutionäre Moment das ‚Spätromantische‘ ähnlich beflügeln wie die Nachwirkung der Französischen Revolution die Frühromantik. Es erwies sich jedoch, dass dieses Moment – etwa im Schaffen Heinrich Heines und Ludwig Börnes – zur Kritik am romantischen Bewusstsein instrumentalisiert wurde. In wenigen Spätromantikern wurde dieses ‚Bewusstsein‘ aus sich heraus ‚revolutionär‘ oder zumindest liberal-demokratisch wie bei Ludwig Uhland oder – bedingter – bei Gustav Schwab. In Uhland verband sich landständisches Bewusstsein, wie er es noch im so genannten württembergischen „Rumpfparlament“ bis zu seiner gewaltsamen Auflösung im Juni 1848 vertrat, mit dem poetischen Glauben an die Sinnbildhaftigkeit des Mythos, wie er sie selbst in seiner Bearbeitung des Nibelungenliedes – wenn auch vergeblich – umzusetzen hoffte. Nichts einfacher als ‚das Spätromantische‘, etwa in Gestalt der so genannten schwäbischen Dichterschule zu karikieren – etwa nach dem Muster von Heines Romantischer Schule, ihr spießbürgerlich-biedermeierhafte Attitüde vorzuwerfen und Nähe zum Kitsch. Erheblich schwieriger ist eine kritische Würdigung, ein Erfassen dessen, was sich im spätromantischen Empfinden artikulierte und welche spezifischen Formen diese Aus-
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Novalis, „Die Christenheit oder Europa“. In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, Bd. 3., Darmstadt 1999, S. 588. Vgl. v. Verf. „The Hidden Agent of the Self. Towards an Aesthetic Theory of the NonConscious in German Romanticism”. In: Martin Liebscher/Angus Nicholls (Hgg.), The History of the Unconscious, Cambridge University Press (i. Vorb. z. Druck).
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drucksversuche annahmen. Der Balladenton gehört dazu – von den Dichtungen Droste-Hülshoffs und Coleridges bis zu jenen Robert und Elizabeth Brownings, Alfred Lord Tennysons und Henry W. Longfellows. Auch Nietzsche nahm diesen Balladenton in seinen lyrischen Texten parodistisch auf, bezeichnenderweise auch gerade im Anschluss an das Fünfte Buch der Fröhlichen Wissenschaft, in dem er die Romantik-Gewissenfrage gestellt hatte. Denn der Abschnitt „Was ist Romantik?“ beinhaltet auch die Frage, wie es der Leser selbst mit der Romantik und dem Romantischen halte. Ob man in Nietzsche einen ersten Modernisten oder einen das Erbe der Romantik plündernden Nachlassverwalter sieht, ist eine potentiell ebenso fruchtlose wie ergiebige Frage, die ihre Entsprechung in jenen Diskussionen über die Romantik hat, die in ihr eine Resteverwertung der Aufklärung sieht oder eine Artikulation und Aufarbeitung von bis dahin nicht eingestandenen Sehnsüchten. Man kann Novalis und dem frühen Friedrich Schlegel durchaus spekulative Modernität zuschreiben und ihnen gleichzeitig regressive Tendenzen bescheinigen, die sich im Akt der Konversion zum Katholizismus symbolisierten. 6 Diese Sichtweisen hatte die Romantik jedoch auch immer ironisch zu brechen verstanden. (Fragmentarische) Reflexionen konnten gerade in der Frühromantik durchaus auch Humoresken sein, ein Phänomen, das Nietzsches Denkansatz nach 1876 gleichfalls prägen sollte. „Melancholie und Lachen reagieren auf dieselbe Erfahrung der Nicht-Korrespondenz und der Disproportion (zwischen Ich und Welt, Selbstbewusstsein und Bewusstsein, Sein und Sinn). Sie ist die romantische Grunderfahrung schlechthin“, befindet Jochen Hörisch in seinen Überlegungen zur „Dialektik der Romantik.“ 7 Es war auch aus diesem Grund nur folgerichtig, dass Nietzsche seinem wohl ausgereiftesten Werk einen Friedrich Schlegel entlehnten Begriff als Titel gab, die „fröhliche Wissenschaft“ eben. Auch deswegen machte es für ihn Sinn, das abschließende Fünfte Buch dieser Schrift um die Problematik des Romantischen kreisen zu lassen, zu dem er Reflexionen über die „homi-
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Man kann hierin einen spezifisch österreichischen Einfluss auf die Romantik sehen. Vgl. dazu: Sauer, Edith, „Romantische KonvertitInnen. Religion und Identität in der Wiener Romantik“. In: Christian Aspalter/Wolfgang Müller-Funk/Edith Saurer/Wendelin Schmidt-Dengler/Anton Tantner (Hgg.), Paradoxien der Romantik. Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert, Wien 2006, S. 229-255. Hörisch, Jochen, „Dialektik der Romantik“. In: Aspalter/Müller-Funk/Saurer/SchmidtDengler/Tantner (Hgg.), Paradoxien der Romantik, S. 25-46, hier: S. 33. Was Hörisch in diesen Überlegungen mitteilt, resultierte jedoch in der Romantik keineswegs in einer „Dialektik“, sondern in einem unaufgelösten Neben- und Miteinander von ‚Befindlichkeiten‘.
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nes religiosi“ und den „Ursprung der Religionen“ ebenso zählte wie den Bereich „Europa“. 8
2. Vom Umgang mit romantischen Restbeständen Als romantisches Projekt verstanden erhielt die ‚europäische Idee‘ mit Novalis‘ Schrift Die Christenheit oder Europa eine im Sinne Friedrich Schlegels retrospektiv-prophetische Dimensionierung. Ihr geschichtstheologischer Charakter prägt ein Programm, das sich als Beitrag zur poetisch aufgefassten Politik lesen lässt. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die wohl auf den Berliner Verleger Georg Andreas Reimer zurück gehende Entscheidung, diesen erstmals in der vierten Auflage der von Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel herausgegebenen Schriften des Novalis (1824) vollständig veröffentlichten Aufsatz unmittelbar im Anschluss an den ersten Teil des Romans Heinrich von Ofterdingen einzurücken. 9 Dadurch wuchs dem Aufsatz die Funktion zu, die im Ofterdingen erweckte „Erwartung“ einzulösen, und zwar durch die poetisch-kritische Reflexion von (religions-)geschichtlichen Tragweiten, aus denen sich das ‚Projekt Europa‘ ergibt. Novalis hofft darauf, dass die Nationen von „heiliger Musik“ getroffen werden, um auf diese Weise zur sinnlichen Besinnung zu kommen und dem „fürchterlichen Wahnsinn“, den kriegerischen Antagonismen also, zu entsagen. Es soll hier jedoch nicht um eine Interpretation von Novalis Rede oder Fragment gehen 10 , sondern um die Frage, wie noch in Nietzsches Romantik-Aphorismus in Die Fröhliche Wissenschaft einzelne Ansätze des
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Nietzsche, Friedrich, „Fröhliche Wissenschaft“. In: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, München 1988, S. 586 u. 595. Im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert mit der Sigle KSA. Vgl. den Kommentar in: Novalis, Werke, III, S. 591. Zur Rezeption der „Christenheit“ vgl. bes. Malsch, Wilfried, ‚Europa‘. Poetische Rede des Novalis. Deutung und Reflexion auf die Poesie in der Geschichte, Stuttgart 1965 sowie Uerlings, Herbert, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung, Stuttgart 1991, S. 569-578. Vgl. auch den wichtigen Aufsatz von Maatsch, Jonas, „‚…wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält.‘ Novalis’ Europa-Text und die Kraft der Poesie“. In: Hellmuth Th. Seemann (Hg.), Europa in Weimar. Visionen eines Kontinents (Klassik Stiftung Weimar Jahrbuch 2008), Göttingen 2008, S. 239-255. Maatsch verweist eindringlich auf die in Novalis’ Text vorgenommene Parallelisierung der Opposita „Glauben und Poesie“ sowie „Wissen und Verstand“, die durch die sinnliche Qualität der Religionsausübung im katholischen Ritus ihre Gestalt gewinne. Vgl. den Beitrag von Erich Kleinschmidt zu diesem Band sowie das Kapitel „Politisches Bilden in der frühen Romantik oder: Auf dem Wege zu einer pluralektischen Kulturpoetik“. In: Rüdiger Görner (Hg.), Pluralektik der Romantik. Studien zu einer epochalen Denk- und Darstellungsform. Köln/Weimar/Wien 2009 (im Druck).
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Novalis erkennbar werden, dessen Europa-Text er, wie erwähnt, in der ihm bekannten Ausgabe (3. Auflage 1815) nur in wenigen Auszügen als „Fragmente vermischten Inhalts“ kennen lernen konnte. Schon in Menschliches, Allzumenschliches (I) hatte sich Nietzsche auf Novalis nicht ganz ohne Ironie als „eine der Autoritäten in Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct“ bezogen. 11 Die Frage nach dem, was das „Heilige, Asketische, Wollüstige“ sei, was der „religiöse Sinn“ darstelle, das Verhältnis von „religiösem Wahnsinn“ und dem „WahrSinn“ in allem, Entsprechungen zum Apollinischen und Dionysischen, wenn man so will, beschäftigte Nietzsche in jener Zeit (um 1878) nachdrücklich. 12 Als Motiv bleibt in seinen Äußerungen freilich die Paarung ‚Narr und Heilger‘ bis zuletzt erkennbar. Das folgende Fragment jedoch, das Nietzsche in der Novalis-Ausgabe von 1815 vorfinden konnte, scheint am unmittelbarsten in ihm nachgewirkt und die hier in Rede stehenden Teile des Fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft mit geprägt zu haben: Nur die Religion kann Europa wieder auferwecken, und die Völker versöhnen, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedensstiftendes Amt installiren. Haben die Nationen alles vom Menschen, nur nicht sein Herz, sein heiliges Organ? --- 13
In Novalis sah Nietzsche eine „naive Freude“ in dessen Äußerungen walten 14 , die er gewissermaßen ernüchterte. Doch fällt auf, dass diese Stichworte des Novalis bei Nietzsche im Zusammenhang seiner Europa- und Romantik-Reflexionen wiederkehren, wenngleich meist in Verkehrung ihrer ursprünglichen Bedeutung. Zahlreiche Aphorismen des Fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft lassen jedoch vermuten, dass er Novalis’ ganzen Europa-Text gekannt haben könnte. Das gilt insbesondere für die Kritik an Luther und dem Protestantismus, die sich bei Novalis und Nietzsche mit derselben Begründung findet. Warf Novalis dem lutherischen Protestantismus vor, das „religiöse, cosmopolitische Interesse“ untergraben und glaubenswidrig nationalisiert und verstaatlicht zu haben 15 , so wiederholt Nietzsche diesen Vorwurf wörtlich im Aphorismus 358 der Fröhlichen Wissenschaft unter dem Stichwort „Der Bauernaufstand des Geistes“. Luther, so Nietzsche, habe den Glauben den Philologen ausgeliefert und ihn damit „vernichtet“. Nietzsche weiter: „Thatsächlich stiess er, der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines religiosi von
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KSA, 2, S. 138. KSA, 14, S. 134. Zitiert nach Novalis, Werke, III, S. 590. KSA, 2, S. 138. Novalis, Werke, II, S. 737.
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sich“, indem er den zölibatären Priester „abgeschafft“ habe. 16 „Er machte also gerade Das [sic!] selber innerhalb der kirchlichen GesellschaftsOrdnung, was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte, – einen ‚Bauernaufstand‘.“ 17 Wie Novalis vor ihm begreift Nietzsche die Reformation als eine Säkularisierung des Katholizismus. Was er aber den Romantikern nicht zuzugestehen bereit ist, ist dass sie eine Re-Sakralisierung über die Kunst versuchten. Denn gerade in der Fröhlichen Wissenschaft betreibt Nietzsche unter anderem eine radikale Kunstkritik und verwirft die Hoffnung darauf, durch künstlerisches Schaffen das Heilige wiederzugewinnen. „Wir Künstler! Wir Verhehler der Natürlichkeit!“ ruft er aus 18 , womit er signalisiert, dass seine Art der Kunstkritik die Selbstkritik mit einschließt; sieht er sich doch selbst immer auch als Musiker und als ein Künstler, der mit dem Material ‚Gedanken‘ arbeitet. Bei aller Kunstkritik schließt das Zweite Buch der Fröhlichen Wissenschaft mit einem Aphorismus unter der Überschrift „Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst“, der die ganze Paradoxie des Problemfeldes Kunst und Kritik auf den Begriff bringt: Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. 19
Abschnitte wie dieser veranschaulichen die Widersprüchlichkeit in Nietzsches Verhältnis zur Kunst. Einerseits regieren in ihr die „Schauspieler“ (allen voran der Typus ‚Wagner‘), was er nicht müde wird heftigst zu kritisieren; andererseits kann er nicht umhin, die Kunst dazu einzusetzen, „uns selbst“ zu einem „ästhetischen Phänomen“ zu machen, wie er in dem gleichen Aphorismus sagt. Dabei modifizierte er seine bekannte These aus der Geburt der Tragödie, nach der das Dasein nur ästhetisch „gerechtfertigt“ sei dahingehend, dass das Dasein als „ästhetisches Phänomen [...] immer noch erträglich“ sei. 20 Für den Wissenschaftler heiße das: „[...] wir müssen den Helden und ebenso den Narren entdecken, der in unserer Leidenschaft der Erkenntniss steckt, wir müssen unserer Thorheit ab und zu froh werden, um unserer Weisheit froh bleiben zu können!“. 21 Doch eben
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KSA, 3, S. 604. Ebd. Ebd., S. 423. Ebd., S. 464. Ebd. Ebd., S. 464 f.
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dieser „Narr“ in uns, der so gerne die „Schelmenkappe“ aufsetzt, kann nicht anders, als ein Schauspieler zu sein. „Objektivität“ dem Erkenntnisgegenstand gegenüber zu gewinnen verlange, so Nietzsche, sie durch eine „übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst“ zu erlangen. 22 Spielerisch ‚objektiv‘ werden, das galt ihm als Essenz einer „fröhlichen Wissenschaft“. 23 Man kann darin aber auch Nietzsches Versuch sehen, jenen zutiefst ironischen Aspekt des romantischen Erbes im Zeitalter des wachsenden Positivismus erneut zur Wirkung zu verhelfen. Die Fröhliche Wissenschaft kreist unaufhörlich um die Bestimmung dessen, was der ‚Gelehrte‘, der ‚Gläubige‘, der ‚Schauspieler‘, was ‚Erkenntnis‘, was ‚Intuition‘ sei. Und gerade von diesen Definitionsversuchen her (oder soll man nicht eher sagen: definitorischen Improvisationen, Übungen in intellektueller Leichtigkeit) bewegt sich Nietzsche auf das Ermitteln von Restbeständen des Romantischen zu. Dabei stößt er auf ein Phänomen, das sich ihm als Gegenstand der Kulturkritik aufdrängt; er nennt es den „Athener-Glauben“, den „Amerikaner-Glauben“, den sich inzwischen die modernen Europäer zueigen gemacht hätten, nämlich jenen Glauben, ungefähr Alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein.“ 24 Das bedeutet, die Selbstausbildung zum Schauspieler wurde zwangsläufig zum Signum der Moderne, das man irrtümlich für ein Zeichen des Fortschritts gehalten habe. Dieser kulturkritische Ansatz hatte jedoch auch eine verdeckte selbstkritische Note. Denn es war auch ein Hauptzug von Nietzsches eigenem Schaffen, buchstäblich „über Alles“ zu schreiben, „Alles“ zu reflektieren. In seiner Aphoristik setzte sich die Ambition der Frühromantiker fort, namentlich jene des Novalis und Friedrich Schlegels, in ‚allgemeinen Brouillons‘, Fragmenten und Studien quasi enzyklopädisch, wenngleich entschieden unsystematischer als Diderot und d’Alembert dies vorgegeben hatten, Welt zu erfassen und punktuell zu reflektieren. Nietzsche verfuhr ganz ähnlich, wobei er das Polemische der Erkenntnis gleichordnete. Im (früh-)romantischen Selbstverständnis kam die Absicht hinzu, durch diese Art des Reflektierens – mit Schlegels Wort – universalpoetisches Denken und Schreiben zu verwirklichen. Dieses Universalpoetische wirkte auch in Nietzsche nach, wobei das „Universale“ sich zunehmend auf scheinbar allgemein gültige „Gesetze“ reduzierte (der „Wille zur Macht“ als Extrembeispiel hierfür), und das Poetische zur rhetorischen
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Ebd., S. 465. Diesen Aspekt nimmt auch Aphorismus 327 im Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft auf (Ebd., S. 555). Ebd., S. 596.
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Aphoristik wurde, beziehungsweise zu parodistischer Lyrik oder zu einer rhapsodisch-szenischen Reflexionsdichtung, die sich als Prophetie ausgab (Also sprach Zarathustra). Selbst Ludwig Wittgenstein sollte noch behaupten: „Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten.“ 25 Nietzsche hätte das kaum anders formuliert, wobei er sich bei allen Allheitsphantasien jedoch auch der Brüche bewusst blieb, die jedes philosophierende Dichten oder dichtende Philosophieren bedingten. Das Anti-Systematische wurde zu seinem Programm, und sein Schreiben in Aphorismen bejahte – in der spätromantischen Phase der europäischen Kultur eher selten – das Bruchstückhafte. Für den philosophischen Schriftsteller Friedrich Nietzsche schloss der „Wille zur Macht“ die Gewalt über alle verfügbaren Stilmittel ein. Nietzsche wollte Herr seiner Sprache sein, so sehr er auch der Sprache, den Worten Eigendynamik konzidierte, eine Ambition, die (Früh-) Romantikern bei aller staunenswerten Sprachartistik, derer sie sich fähig zeigten, in diesem Ausmaß fremd war. So gesehen, adaptierte Nietzsche eher Humboldts Verständnis der Sprache als einer enérgeia, einer dynamischen, sich selbst weiter entwickelnden Kraft, und zwar in dem Sinne, dass er sich diese Kraft zueigen machte und sich augenscheinlich einer Art kalkuliertem Ausdrucksrausch hingab. Seinem Schreiben eignete eine besondere dionysisch-sokratische Note; und so oft man versucht, dieses Schreiben zu charakterisieren 26 , man gewinnt ihm stets eine weitere Nuance ab. ‚Romantisch‘ an diesem Schreibverfahren Nietzsches war nicht zuletzt der Umstand, dass er sich denkend dem Denkverfahren und schreibend des Materials ‚Sprache‘ bewusst blieb. Auch das erinnert vor allem an Novalis. Wenn sich nun Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft verstärkt dem Romantischen als Phänomen und Problem zuwandte, dann geschah dies unter einem spezifischen Blickwinkel, nämlich dem der „Dekadenz“, und zwar als décadence verstanden, als Nihilismus, Pessimismus und das vom Dionysischen Überwölbte oder Durchdrungene. Nietzsche fragt nach der Genese dieser Dekadenz und entwirft eine Genealogie des Nihilismus, dem er selbst zwiespältig gegenüber steht wie auch der ‚décadence‘ und dem ‚Pessimismus‘. Dahinter verbirgt sich das Problem der Willensverneinung als Weg zum Glückhaften und befreiten Leben, wo das ‚Lachen‘ und der ‚Narr‘ regieren, und seinem wachsenden Interesse am ‚Willen zur Macht‘ im Sinne einer Selbstermächtigung des Menschen. Vor diesem Hintergrund nun lässt sich Aphorismus 370 der Fröhlichen Wissen-
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Wittgenstein, Ludwig, „Vermischte Bemerkungen“. In: Ludwig Wittgenstein. Werkausgabe, hg. v. G. E. M. Anscombe/G. H. von Wright, Bd. 8, Frankfurt/M. 1984, S. 483. Vgl. das Kapitel „Die Grammatik des Denkens. Nietzsche über Sprache”. In: Rüdiger Görner, Wenn Götzen dämmern. Formen ästhetischen Denkens bei Nietzsche, Göttingen 2008, S. 28-40. Siehe auch dort weiter führende Forschungsliteratur.
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schaft zur Frage „Was ist Romantik?“ als Nietzsches ‚Lektüre‘ des Romantischen neu lesen.
3. Im Dickicht der Spätformen In Nietzsches Bestimmungsversuch dessen, was das Romantische sei, spielt die Kritik am Zeitgeist eine Hauptrolle, aber auch an seiner anfänglichen Einschätzung der Kultur des 19. Jahrhunderts, namentlich der deutschen, die er seit der Geburt der Tragödie primär durch Schopenhauer und Wagner verkörpert gesehen hatte. Noch in der Fröhlichen Wissenschaft nannte er sie „jene berühmtesten und ausdrücklichsten Romantiker“. 27 Der Kern von Nietzsches Definitionsbemühung findet sich in den folgenden Sätzen: Was ist Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hülfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehn werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es giebt zweierlei Leidende, einmal die an der Ueberfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, - und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen, oder aber den rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. Dem Doppel-Bedürfnisse der Letzteren entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen [...]. 28
Auch hier ‚definiert‘ Nietzsche auf eine umschreibende, die Ist-Frage nicht mit einer Ist-Antwort klärende Weise. Die Definitionsabsicht wird einmal mehr eher zum Vorwand einer ausgreifenden, freilich entschieden analytisch gemeinten Reflexion. Romantische Kunst, so legt Nietzsche hier nahe, setzt auf die Kompensation der „Verarmung des Lebens“, in dem sie sowohl „Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich“ zu gewähren versucht als auch „Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn“. Dieses Romantische entspricht nach Nietzsches Lesart nicht genuiner (dionysischer) Lebensfülle; vielmehr übt es sich im scheinhaften Beseitigen einer Mangelerfahrung. Worin nun sah Nietzsche sein ursprüngliches „Missverständnis“ der Romantik? Er habe die (deutsche) Musik (insbesondere jene Wagners) zunächst für einen Ausdruck „dionysischer Mächtigkeit“ gehalten, für ein „Erdbeben, mit dem eine von Alters her aufgestaute Urkraft sich endlich
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Luft“ gemachte habe. 29 In „Wahrheit“ aber verhalte es sich anders mit dieser und der romantischen Musik überhaupt. Doch was meint ‚anders‘? Hierzu findet sich ein ‚Vor-Wort‘ im Aphorismus 171 von Menschliches, Allzumenschliches (II) und ein ‚Nach-Wort‘ im Achten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse, die beide um das Phänomen und Problem ‚romantische Musik‘ kreisen, wie Nietzsche ohnehin die Erkenntnis des Wesens der Musik und des Erkennens durch Musik mit philosophischer Erkenntnis weitgehend gleichsetzte, sah er doch nicht nur die Tragödie, sondern auch die Einsicht in die Natur des Tragischen und des Leidens „aus dem Geist der Musik“ hervorgehen. In Menschliches, Allzumenschliches hatte er die Musik als „Spätling jeder Cultur“ und als „Schwanengesang“ auf ihre jeweilige Epoche bezeichnet. 30 Aber gerade dieses „Späte“ schien Grund für Irritationen zu sein. Einerseits polemisierte er mehr und mehr gegen die „Zukunftsmusik“ Wagnerschen Modells; andererseits war ihm das „Späte“ der musikalischen Romantik zu wenig im 17. und 18. Jahrhundert verankert, namentlich in der italienischen Barockmusik oder im Mozartischen, das er in der Musik seines Freundes, Heinrich Köselitz, neu erklingen zu hören glaubte. Zu Ende gedacht hätte jene Bemerkung aus Menschliches, Allzumenschliches zur Folge gehabt, dass er das Neue der Moderne zunächst außerhalb der Musik hätte begründet sehen müssen. Die Musik in der Moderne wäre nach diesem ‚Modell‘ erst als ihr Endstadium wirkungsvoll gewesen. Teil dieser Reflexion ist Nietzsches Forderung, die Zeitgebundenheit der Musik zu erkennen: „Die Musik ist eben nicht eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt [...].“ 31 Demnach bildete der Geist einer Zeit die ihm gemäße Musik oder: die Geburt der Musik aus dem Geist der Zeit, was eine subtile Verschiebung in der Gewichtung des Musikalischen und Kulturstiftenden im Vergleich zur Tragödienschrift darstellt, die bekanntermaßen „aus dem Geist der Musik“ bestimmte Kulturformen wie die Tragödie hervorgehen sah. Es fällt auf, dass der Aphorismus „Was ist Romantik?“ zwar vom musikalischen Eindruck ausgeht, sich davon aber in der Folge entfernt. Vielmehr geht es Nietzsche – durchaus nach der Vorlage von Menschliches, Allzumenschliches – um den zeittypischen Charakter dessen, was als „deutsche Musik“ galt, nämlich „ihre Romantik“. Bereits in seinem ersten oben
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zitierten Definitionsversuch spart er weitere explizite Bezüge auf die Musik aus. Vielmehr konzentriert er sich auf eine Art typologischer Ontologie des Romantischen, eine Wesensbestimmung, die mehr und mehr auf den Pessimismus rekurriert. Nietzsche ‚liest‘ in diesem Aphorismus die Romantik als eine Einladung, Umwege zu gehen. Er täuscht nur vor, dass es ihm wirklich um eine Definition des Romantischen zu tun sei. Die Antwort, die er auf seine eigene Frage nach dem Charakter der Romantik gibt, ist eine große Arabeske, die vorführt, dass solche Definitionsversuche letztlich verfehlt sein müssen. Wie so oft in seinem aphoristischen Philosophieren gerät ihm auch in diesem Abschnitt das Beantworten von Grund- oder Leitfragen zum Anlass für eine scheinbar freie Improvisation. Im Zusammenhang mit der Frage, was die Romantik wesentlich sei, wirkt freilich dieses Improvisieren, also die Form dieses Denkansatzes, wie die eigentliche Antwort: Romantik ist Gedankenexperiment, „glattes Meer“ und Wahn, „Ruhe“ und „Rausch“, „Stille“, verursacht durch „Betäubung“. Was Nietzsche „Doppel-Bedürfnisse“ nennt läuft auf binäre Bestimmungsversuche hinaus, die im Falle des Lesens der Romantik besonders probat erscheinen. Dieses binäre Denken führte Thomas Mann auf den problematischen Höhepunkt der Betrachtungen eines Unpolitischen; noch im Zauberberg kehrt dieser Ansatz wieder, wobei in diesem Roman, der den zum Gegensatzpaar erklärten Konflikt zwischen Aufklärung und Romantik umkreist, eine neue Zielvorgabe eingeführt wird, nämlich „Herr der Gegensätze“ zu werden. 32 Nietzsches binäre Definitionsverfahren, die er offenkundig als zwangsläufige Ableitungen aus der Romantik verstand, implizierten, dass er selbst schon eine solche Position eines Herrn über die von ihm benannten Gegensätze eingenommen habe. Nietzsche ging es dabei nicht um das Feiern von „Gleichsetzungsorgien“ 33 , sondern um Differenzierungen, wobei er jedoch zu kuriosen Ergebnissen kommt; so nennt er Epikur einen Romantiker und hebt damit jenes Gesetz auf, das er in Menschliches, Allzumenschliches, wie gesehen, für die Musik etabliert hatte, nämlich die Zeitbedingtheit von Ausdrucksformen und ihrer epochalen Wirkung. Epikur, ein Romantiker – das bedeutet vor allem die Entzeitlichung der Romantik als Epoche. Nietzsche unterstreicht dies durch die These, dass nicht nur die Epikureer, sondern auch die Christen wesentlich Romantiker (gewesen) seien und sein werden. 34 Darauf folgt die ihm wichtige „Unterscheidung“ im Hinblick auf die „aes-
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Vgl. dazu neuerdings Gut, Philipp, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, Frankfurt/M. 2008, S. 82 u. S. 171-199. So nennt Gut zu Recht Thomas Manns Verfahren in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“, ebd., S. 82. KSA. 3, S. 621.
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thetischen [und produktionsästhetischen, R.G.] Werthe“, die damit verbunden sind: Ist das „Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein die Ursache des Schaffens“ oder „aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach Werden.“ Das differenzierende Verfahren treibt Nietzsche weiter, indem er konstatiert: Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort ‚dionysisch‘), aber es kann auch der Hass des Missrathenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt [...] 35
Auf die im Werden angelegte Ambiguität, das Werden zum Zerstören und das aus dem Zerstören entstehende Werden hat Nietzsche hier sein Augenmerk besonders gerichtet. Man muss sich immer wieder neu in Erinnerung rufen, dass diese Ausführungen unter dem Stichwort ‚Romantik‘ entstanden; und daraus lässt sich zumindest schließen, dass Nietzsche unter dem Mantel der romantischen Idylle eben diese antagonistischen Kräfte, dieses zweideutige „Verlangen“ am Werke gesehen hatte. Zu einer Zeit, als die Romantik längst nicht mehr in aller Munde war, rief Nietzsche sie mit solchen extremen Deutungsversuchen wieder in Erinnerung; denn damit versicherte er sich seiner eigenen Ursprünge vor allem im Bereich der Musik neu. (In seinen eigenen Kompositionen etwa ist weitaus mehr uneingestandener Schumann als sich Spuren von „Zukunftsmusik“ darin fänden!) Doch auch damit begnügte sich Nietzsche nicht. Er gibt der „Beantwortung“ seiner Frage nach der Natur der Romantik noch eine weitere Drehung. In den „Entbehrenden“ bilde sich ein Willen zum Zerstören, wie die Anarchisten bewiesen, so Nietzsche weiter. Aber es gebe auch den „Willen zum Verewigen“ als einen ästhetischen Impuls. Aus ihm gehe „Apotheosenkunst“ hervor, ob „dithyrambisch“ bei Rubens, „seligspöttisch“ bei Hafis oder wie bei Goethe „hell und gütig“. „Apotheosenkunst“ ist laut Nietzsche eine Spätform. Ihre romantische Variante erklärt er wie folgt: sie verdanke sich dem Willen eines „Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten“, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. 36
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Dieses und die vorigen Zitate ebd. (Hervorh. i. Orig.). Ebd., S. 622.
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So unwissenschaftlich das Wort auch sein mag, es hat etwas Unheimliches, hier eine Erfahrung intellektuell vorgeprägt zu sehen, die nach Nietzsche zum Signum eines von der Tortur beherrschten Zeitalters werden sollte. „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.“ 37 Dieser Satz Jean Amérys bezeichnet die schmerzlichste Einsicht in die Folgen überstandener Tortur im Zeichen des Terrors. So grundverschieden die Voraussetzungen dieser Einsichten Nietzsches und Amérys auch waren, ihr gemeinsamer Nenner ist die Einsicht, dass der Schmerz letzte Steigerung der Erfahrung von Körperlichkeit sei. Bei Améry hat das Europäische in dieser Leidenserfahrung einen konkreten Namen, das Fort Breendonk unweit von Brüssel, inzwischen ein Museum des Leidens „unter dem ewig regengrauen Himmel Flanderns, mit seinen grasüberwachsenen Kuppen und schwarzgrauen Mauern“; es gleicht einer „melancholischen Gravüre“. 38 Bei Nietzsche ergibt sich aus dem „Bild“ der Tortur, das sich nach dem Willen des „Torturierten“ auf alles übertrage, ja „einbrennt“, der „romantische Pessimismus“. Bei Nietzsche ist demnach der Wille desjenigen, welcher der Tortur ausgesetzt gewesen ist, nicht gebrochen; er äußert sich als Kulturform, sei es in der Gedankenwelt Schopenhauers oder in der Musik Wagners. In Amérys Text bleibt das ‚Romantische‘ auf den „ewig regengrauen Himmel Flanderns“ reduziert; den Rest kennzeichnet die völlige Abwesenheit jeglicher romantischer Spur. Er beschreibt die Annihilierung des Menschlichen und die Unmöglichkeit, nach der Tortur in eine Welt zu blicken, „in der das Prinzip Hoffnung“ herrscht. 39 Bei Nietzsche dagegen verbindet sich die Erkenntnis, dass der „romantische Pessimismus das letzte grosse Ereigniss im Schicksal unserer Cultur“ sei mit der Hoffnung auf einen „Pessimismus der Zukunft“, den er „dionysisch“ nennt. 40 Nur unter dem Vorzeichen dieses „dionysischen Pessimismus“, in dem sich das Vorantike, Unverbildete mit subtilkritischer Einsicht und Sinnzweifel verbindet, konnte für Nietzsche das Europäische als Kulturphänomen neu lesbar werden. In Jenseits von Gut und Böse hatte Nietzsche im „Achten Hauptstück“ angedeutet, was „gutes Europäerthum“ bedeute, nämlich in der Musik „die Stimme für die Seele Europa’s“ nicht zu verlieren. 41 Denn er hörte die Gefahr in der romantischen Kunstform schlechthin, der Musik, ins Nati-
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Améry, Jean, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1997, 3. Aufl., S. 73. Ebd., S. 46. Ebd., S. 73. KSA, 3, S. 622. KSA, 5, S. 188.
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onale, „nur noch Deutsche“, zu „blosser Vaterländerei“ eben, „herabzusinken“. Nietzsche schließt seinen Aphorismus zur Frage nach dem Wesen der Romantik mit einer prophetischen Geste, die an Novalis Europa-Fragment erinnert, so grundverschieden auch der Inhalt der Prophezeiungen ist. Nietzsche sieht den „Pessimismus der Zukunft“ kommen, Novalis eine „Religionserweckung“ und mit ihr das unter christlichen Vorzeichen „erwachende Europa“. Als unwahrscheinlichste Ersatzreligion bietet Nietzsche das an, was er in der Fröhlichen Wissenschaft für die Essenz des Romantischen hält, den Pessimismus; er ist gleichsam das Novalissche erneuerte Christentum nach dem Tod Gottes. Bekanntlich behandelte und gebrauchte Nietzsche bestimmte Begriffe wie Pluralitäten; inhaltlich waren sie für ihn vielwertig, was ihm ihre – oft spielerisch betriebene – „Umwertung“ erleichterte, und zwar lange bevor die „Umwerthung aller Werthe“ zum entscheidenden Projekt wurde. Das gilt für die ‚Tortur‘ ebenso wie für ‚Pessimismus‘. So konnte er sich in der Genealogie der Moral ein lachendes Loskommen von der Tortur ebenso vorstellen wie er den ‚Pessimismus‘ als Krankheit bezeichnet. 42 In der Genealogie erklärt er auch genauer, weshalb Schopenhauer für die ‚Lektüre‘ der Romantik so entscheidend ist, habe er doch in seiner Willens(verneinungs-)Philosophie die Musik zum eigentlichen Souverän erklärt. 43 Für im eigentlichen Sinne ‚romantisch‘ hielt er Schopenhauers These, die Musik rede die Sprache des Willens, „unmittelbar aus dem ‚Abgrunde‘ heraus, als dessen eigenste, ursprünglichste, unabgeleitetste Offenbarung.“ Dadurch habe sich auch der Musiker ermächtigt gefühlt, in erster Linie der Schopenhauer-‚Schüler‘ Wagner: „[...] er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des ‚An-sich‘ der Dinge, ein Telephon des Jenseits, – er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, – er redete Metaphysik [...].“ 44 Damit ergibt sich ein Grund für Nietzsches kritische Lesart des Romantischen: Gerade weil die Romantik die Musik so privilegiert habe, konnte sie zur Ersatzreligion avancieren, zur Scheinmetaphysik werden, womit sie genau das unterminierte, was Novalis angestrebt hatte: eine fundierte ReSakralisierung der Gesellschaft und des europäischen Gemeinwesens. Wie erwähnt hatte auch Novalis auf die „heilige Musik“ in diesem Prozess gehofft und darauf, dass sie wie ein Blitz ‚einschlage‘ und den Streit zwischen den Völkern in (Selbst-)Besinnung umwandeln könne. Nach der Entfernung von Wagner war Nietzsche um eine solche Hoffnung ärmer,
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Vgl. KSA, 5, S. 349. Ebd., S. 346. Ebd.
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weil er beklagte, dass fortan die Erinnerung an das Romantische allenfalls noch mit dem, was er hassliebend, heimlich jedoch weiter bewundernd, zu verachten gelernt hatte, nämlich mit dem „Wagnerischen“, gleichgesetzt werden würde. Eher sporadisch und selten eingestanden bediente sich Nietzsche romantischer Vorgaben, beispielsweise in seinem „Lob der Sinnlichkeit“ in der Genealogie, das im Grunde einem Ansatz folgt, wie er ihn aus Friedrich Schlegels Lucinde hätte kennen können. Es ist viel Frühromantik in Nietzsches später Abrechnung mit dem Romantischen, manches an – wenngleich ironisch gebrochener – frühromantischer Aufbruchsstimmung in Nietzsches Rede vom romantischen Pessimismus. Auch im Falle des Bestimmungsversuchs zum Thema Romantik besteht Nietzsches diskursives Verfahren darin, sich durch Umschreibungen dem Gegenstand (vermeintlich) zu nähern. Doch dieses Umschreiben wahrt das viel bemühte „Pathos der Distanz“, welches das „Neunte Hauptstück“ von Jenseits von Gut und Böse thematisiert. 45 Was Nietzsche in diesem Aphorismus über die Romantik vorführt, ist nicht nur eine bestimmte Lesart des Romantischen, sondern das Einlesen von ihm wichtigen Denkansätzen, insbesondere jenen des positiv konnotierten Pessimismus in den ‚Text‘ der Romantik. Das wiederum bedeutet, dass sich auch in diesem Aphorismus Nietzsches zunehmendes Unbehagen am (hermeneutischen) Interpretieren äußert. Er geht eben nicht von einem romantischen Gedicht aus, nicht von einer Textstelle; vielmehr schafft er selbst textuelle Verhältnisse an deren Statt. Dahinter verbirgt sich das bislang nur unzulänglich in der NietzscheForschung bedachte Problem von Nietzsches Missverhältnis zur Hermeneutik, das sich zuweilen in paradoxen Thesen zum Verstehensproblem artikulierte, etwa in Jenseits von Gut und Böse mit Blick auf die Französische Revolution. Sie galt ihm als „überflüssige Posse“; aber nicht das ist für unsere Überlegungen entscheidend, sondern Nietzsches folgende Behauptung: „[...] schwärmerische Zuschauer von ganz Europa“ hätten unaufhörlich und leidenschaftlich „ihre eignen Empörungen und Begeisterungen“ in die Französische Revolution „hinein interpretirt, bis der Text unter der Interpretation verschwand.“ 46 Dann die paradoxe Volte: „ [...] so könnte eine edle Nachwelt noch einmal die ganze Vergangenheit missverstehen und dadurch vielleicht erst ihren Anblick erträglich machen.“ 47 In diesem missverstehenden Erträglich-Machen kann ein ästhetisches Element enthalten sein oder nicht: Maßgeblich ist für Nietzsche der Textcharakter
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KSA, 5, S. 205. Ebd., S. 56. Ebd.
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eines historischen Ereignisses und eines kulturgeschichtlichen Phänomens (wie der Romantik). Weil die Interpretation nun den Text überlagern, verstellen und entstellen kann, bevorzugt Nietzsche „deutend“ den Subtext oder Prätext oder überhaupt einen eigenständigen Nebentext, den er als gleichrangig dem eigentlich zu erörternden Phänomen an die Seite stellt, wohl wissend, dass gerade dieser Nebentext seinerseits Deutung herausfordert. In der These, dass der „romantische Pessimismus das letzte grosse Ereigniss im Schicksal unserer Cultur“ sei, spricht sich eine eschatologischfinalistische Sicht der Kulturentwicklung aus, sofern das Adjektiv ‚letzte‘ nicht im Sinne von ‚jüngste‘ zu verstehen ist. Dann kämen nach ihm noch weitere. Aber die Formel des „dionysischen Pessimismus“ als einer Art gesteigertem Parallelbegriff zum „romantischen Pessimismus“ eignet etwas unüberhörbar Teleologisches. Archaisch-Griechisches, unverstellt Mythologisches vereinte sich demnach mit dem Urgewaltigen, Ungeschlachten, dem Dionysischen, mit dem verfeinert MusikalischReflektierten, Willensverneinenden, dem Pessimismus. Dieses sich im Aphorismus 370 der Fröhlichen Wissenschaft exemplarisch zeigende diskursive Verfahren Nietzsches löst damit auf seine Weise ein, was bei Novalis als Chiffrenproduktion in Erscheinung trat, als ein Verschlüsseln und Dekodieren von Sachverhalten in einem. Nicht zu vergessen ist, dass jenes Fünfte Buch, in dem sich besagter Aphorismus findet, die Überschrift „Wir Furchtlosen“ trägt. Sie deutet auch auf den scheinbar unbekümmerten Umgang mit den in Rede stehenden Themen oder Begriffen hin. Um abschließend noch einmal auf den Beginn dieses Aphorismus zurück zu kommen: Er beginnt mit einer autobiografischen Bemerkung, einer Redefigur, die Nietzsche sich in der Folgezeit immer mehr zueigen machen sollte, bis sie dann in Ecce homo die ihm letzt mögliche Steigerung erfuhr. Mit „dicken Irrthümern und Ueberschätzungen und jedenfalls als Hoffender“ sei er am Anfang „auf diese moderne Welt losgegangen“. 48 Als Hoffender habe er jedoch die pessimistische Substanz der romantisch vorgeprägten Moderne zu erkennen gelernt, als er – so impliziert der Text – auf das Doppelphänomen Wagner und Schopenhauer gestoßen (worden) sei. Indirekt räumt Nietzsche mithin ein, dass beide den „Text“ der Romantik überlagerten, so wie die Romantik laut Schlegel zunächst von der Französischen Revolution, Goethes Wilhelm Meister und Fichtes Wissenschaftslehre überlagert wurde. Konnte die Romantik das Universalpoetische (und mit ihm die Poetisierung des Wissens und der Wissenschaft) diesen Einflüssen abringen, beziehungsweise es ihnen gegenüber stellen,
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Ebd., S. 619.
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so bietet Nietzsche das ganze mythologische Zeichenarsenal des Dionysischen auf, um es als ein Gegengewicht zu Wagner und Schopenhauer zu erproben. So gesehen geriet Nietzsches ‚Lektüre‘ des Romantischen zur Reflexion seiner intellektuellen Erbanlagen und als Anleitung zur eigenen Produktion, deren enzyklopädisch-kritisches Interesse – als Entsprechung zum ästhetischen (Selbst-) Darstellungsvermögen – er mit der Frühromantik teilte. Es scheint, als habe Nietzsche seine von spätromantischen Restsubstanzen durchwirkte Zeit gerade an dieses Interesse und diese Lesart der Romantik erinnern wollen.
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Wissenspoetiken
Die Lesbarkeit des romantischen Körpers Über Psychosomatik und Text in Fallstudien von Karl Philipp Moritz und Friedrich Schlegel LAURIE RUTH JOHNSON In den postum veröffentlichten Geistlichen Liedern stellt Novalis die kranke, weltentrückte Seele einer karitativen protestantischen Gemeinschaft entgegen und versucht den ‚Wahnsinn‘ des sich selbst verzehrenden Individuums mit der anscheinend schlichten und tröstlichen Praxis des Liedersingens innerhalb einer vertrauten Glaubensgemeinde zu lindern. Dabei gilt es nicht so sehr, die ‚Wirbel der Gedanken‘ des Kranken beiseite zu schaffen, als sich gegen die Verführung der seelischen Krankheit zu wehren: „Der Wahnsinn naht und locket/ Unwiderstehlich hin“.1 In den Fragmenten und Studien von 1797-1798 allerdings bindet Novalis die unwiderstehliche ‚Disharmonie‘ des Wahnsinns und das unbehagliche Verhältnis zwischen Körper und Seele in ein intern kohärentes und progressives Modell ein, das sowohl der zeitgenössischen Reizbarkeitstypologie als auch der frühromantischen Geschichtsphilosophie entspricht: Wir haben zwei Systeme von Sinnen, die so verschieden sie auch erscheinen, doch auf das innigste miteinander verwebt sind. Ein System heißt der Körper, eins, die Seele […] und man bemerkt bald, daß beide Systeme eigentlich in einem vollkommnen Wechselverhältnisse stehn sollten, in welches jedes von seiner Welt affiziert, einen Einklang, keinen Einton bildeten. Kurz beide Welten, so wie beide Systeme sollen eine freie Harmonie, keine Disharmonie oder Monotonie bilden. Der Übergang von Monotonie zur Harmonie wird freilich durch Disharmonie gehn – und nur am Ende wird eine Harmonie entstehn. In der Periode der Magie dient der Körper der Seele, oder der Geisterwelt. /Wahnsinn – Schwärmerei./ Gemeinschaftlicher Wahnsinn hört auf Wahnsinn zu sein und wird Magie. Wahnsinn nach Regeln und mit vollem Bewußtsein.2
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Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1, hg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart 1977, S. 171. Fragment Nr. 40, hier in: Novalis, Werke, hg. v. Gerhard Schulz, München 1969, S. 385-386. Novalis’ progressives Verständnis von Wahnsinn und seine Konstatierung einer Beziehung zwischem dem Wahnsinn und der „Schwärmerei“ erinnert in diesem Kontext an Ludwig Tiecks Interesse für das Potential von biologischen und mentalistischen
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Ohne Wahnsinn gibt es keine endgültige Harmonie, so dass in dem gemeinschaftlichen geregelten Ritual die individuelle Krankheit sinnvoll wird. Körper und Seele, Gemeinschaft und Individuum, Krankheit und Gesundheit besitzen derart in den vertrauten frühromantischen Wechselbeziehungen einen bewussten und grundsätzlich lesbaren Sinn. In dem ‚lockenden Wahnsinn‘, in extrem erregten seelischen Zuständen finden sowohl Novalis als auch Friedrich Schlegel den Schlüssel zu einem höheren, besseren Menschenverständnis. Vor allem in der Gemeinschaft zwischen Beobachter und Beobachteten durfte sich die Magie eines schwärmerischen, enthusiastischen Wissens entfalten. Schlegel trug diese Idee in einem anderen Sinne fort, da er von ihrem Potential fasziniert war. Im Jahr 1818 erklärt er in knappen Worten die vielfältigen Möglichkeiten, die in der Wiederbelebung der psychiatrischen Praxis des ‚animalischen‘ Magnetismus liegen. In einer Sammlung von Fragmenten, die nie, wie geplant, zu einer systematischen Studie des Magnetismus umgearbeitet wurden, schrieb Schlegel: Der sogenannte animalische Magnetismus […] kündigt sich vollkommen an, wie eine Epoche machende Begebenheit der innern esoterischen Weltgeschichte. Wir hatten bis jetzt nur ein materielles Wissen (physisch-mathematisches oder philologisch-historisches) und ein dialektisches oder ideelles. Hier tritt nun ein neues magnetisches und magisches Wissen auf, ein Geisterwissen; aber kein ideell erdachtes, sondern ein ganz factisches. Noch ist es in Hinsicht seines Charakters der Aechtheit oder Falschheit von ganz unentschiedner, oder vielmehr zwiefacher und doppelter Natur; kann dämonisch mißbraucht werden und göttlich der Religion dienen. Als beginnendes Geisterwort aber ist es die erste Regung der neuen Zeit, und der eigentliche Wendepunkt der gegenwärtige Entwicklung.3
Schlegels Faszination vom Magnetismus hing eng zusammen mit seinen Hoffnungen auf eine politisch zentrale Position der wieder erstarkten katholischen Kirche. Sein Interesse an magnetischen Behandlungen von psychosomatisch kranken Frauen entstammte nicht dem Wunsch, diese Kranken zu heilen, vielmehr ist sie auf seine schon in den frühromanti_____________
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Krankheitstheorien und einer eher philosophisch orientierten Psychologie, um das Dichten zu verbessern bzw. schöner und wirksamer machen zu können. Im Jahr 1790 versuchte Tieck die emotionalen Zustände zu identifizieren, die für den Dichter am nützlichsten sind; sie sind alle progressiver Natur. Das Wohlwollen entwickelt sich zum Beispiel zur Zärtlichkeit, die sich danach in Liebe verwandelt; die Melancholie verstärkt sich zu Verrücktheit und steigert sich letztendlich zu Wahnsinn. Aus Feigheit wird Angst, und erst danach Ängstlichkeit. Die letzte Stufe aller Gemütszustände nennt Tieck „erhaben“; hier wird eine prekäre Balance zwischen philosophischen und psychologischen Elementen erreicht. Nach der letzten Stufe wird die Emotion allerdings „für den Dichter [ganz] unbrauchbar, weil es ganz körperl[ich] ist und hier gar keine Illusion“. Eine Versklavung durch den Körper erlaubt es dem Dichter nicht, die Einbildungskraft vollkommen zu entfalten. Siehe Ludwig Tieck, Schriften 1789-1793, hg. v. Achim Hölter, Frankfurt/M., 1991, S. 651. Schlegel, Friedrich, Kritische Ausgabe (im Folgenden KA), Bd. 35, hg. v. Ernst Behler, München 1958, S. xxxvii.
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schen Jahren erklärte Idee zurückzuführen, dass die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Kunst, zwischen empirischer Beobachtung und Ästhetik durchlässig sei bzw. sein sollte. Das gleichbleibende Interesse der Romantiker an unterschiedlichen Psychopathologien, aber auch an esoterischen Praktiken wie dem Magnetismus, entstammte zum Teil der empirischen Fakultätenpsychologie des 18. Jahrhunderts, einem Feld, in dem Beobachtungspraktiken und die Aussagekraft bzw. Natur des Beweismaterials neu durchdacht wurden. Die sogenannte ‚romantische Medizin‘ des 19. Jahrhunderts war vor allem ein Erbe der ‚dynamisch-vitalischen‘ Schule der aufklärerischen Medizin.4 Die romantische Medizin brachte die Vernunft und die Esoterik indes durchaus in einen dialogischen Zusammenhang, vor allem auf dem Gebiet der jungen Psychiatrie. Psychologen der Spätaufklärung nahmen das Bestehen einer organischen und selbstregulierenden Psyche (die wiederum schon in der Antike zum Physikalismus gehörte) schon zur Kenntnis, und damit auch die Vorstellung, dass der Geist körperlich existiert.5 Gefühle wurden zunehmend als natürlich und als Zustände des ganzen Körpers gesehen.6 An der Nahtstelle von Aufklärung und Romantik sahen die Magnetiseure, dass die Probleme ihrer Patientinnen sowohl natürlich und organisch feststellbar waren, als auch einen Weg zu visionären Fähigkeiten boten. Solche Probleme waren in ihren Augen der Beweis dafür, dass etwas jenseits von Materie und rationaler Empirie bestand. Die Frage nach der Ursache von psychosomatischen Störungen – ob sie zum Beispiel erblich, ansteckend oder beides waren – beschäftigte sowohl empirische Psychologen als auch spekulative Philosophen. Karl Philipp Moritz, der die erste Zeitschrift für empirische Psychologie in Deutschland herausgab und damit ein Vorbild für spätere Beobachtungspraktiken lieferte, stattete die Psychosomatik mit den Begriffen und Beispielen aus, auf die spätere Autoren zurückgreifen konnten. Die Psychosomatik (die zum ersten Mal 1818 als Feld für sich genannt wurde, aber schon vorher im Kontext der Psychophysik und der dynamischvitalistischen Schule bekannt war7) bietet folglich ein gutes Modell der _____________ 4 5 6 7
Lesky, Erna, The Vienna Medical School of the Nineteenth Century, Baltimore/London 1976, S. 31. Siehe u.a. Yolton, John W., Thinking Matter: Materialism in Eighteenth-Century Britain, Oxford 1984. Bell, Matthew, The German Tradition of Psychology in Literature and Thought, 1700-1840, Cambridge 2005, S. 59. Der Begriff Psychosomatik wurde von Johann Christian August Heinroth erwähnt, im Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens, Bd. 2, S. 43. Eine umfangreiche Studie von Tobias Leibold liefert u.a. eine schöne Zusammenfassung und Begriffsgeschichte der Psychosomatik und ihrer Vorgänger, und beschreibt die Psychosomatik am Anfang des 19. Jahrhunderts „als Ensemble von evolvierenden Wissenssystemen […] im Prozess ihrer
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Vermittlung zwischen den Wissenschaftstendenzen von 1780 und 1830 im Allgemeinen sowie für die folgende Argumentation im Speziellen zwischen Moritz and Schlegel, die beide seelisch-körperliche Erkrankungen in ihren Fallbeschreibungen äußerst detailliert protokollierten, auch wenn zwischen diesen Protokollen und den damit einhergehenden Modellierungen vierzig Jahre liegen. Diese Fallbeispiele spannen somit einen Bogen von den 1780er zu den 1820er Jahren, indem sie eine Ebene der Romantik lesbar machen, die bereits vor ihrer epochalen Grenze im Zeitalter der Spätaufklärung beginnt und sich lange über sie hinaus fortsetzt. Störungen, die der Körper ausdrückt, die aber keinen deutlich organischen Ursprung haben, verweisen auf ein wohlbekanntes Dilemma der Romantik: Ihre Suche nach dem Ursprung, der zugleich eine Vision für die Zukunft bieten sollte. Moritz und Schlegel suchen psychosomatisch erkrankte Körper und beobachten sie, wohl wissend, dass eine somatische Erklärung für die Symptome nicht zu finden ist. Dabei ist allgemein festzuhalten, dass sich sowohl das diskursive Feld der ‚Erfahrungsseelenkunde‘ (empirische Psychologie) als auch das der ‚Experimentalseelenlehre‘ (Experimentalpsychologie) durch die Beobachtung seelisch-körperlicher Krankheiten auszeichnet. Zur Entstehungszeit dieser Disziplinen war es den Praktikern schon klar, dass die Betrachtung den Gegenstand ebenso gut beinflussen kann wie der Gegenstand den Beobachter. Wenn man etwas beobachtet, setzt man das Objekt schon in einen anderen, neuen Zustand, in dem es ansonsten nicht wäre.8 Während aber empirische Psychologen die Beobachtung zugleich fortführen und als Verfahren studieren wollten, wollten Romantiker wie Schlegel und Novalis die Wechselbeziehung zwischen Beobachter und Beobachteten, zwischen Subjekt und Objekt und letztendlich auch die Wechselbeziehung zwischen Körper und Geist innerhalb des beobachteten Gegenstandes gebrauchen, um eine Vision sowohl der politischen als auch der privaten Zukunft zu gestalten. Novalis beschrieb diese ermächtigend-optimistische Zukunft folgendermaßen: _____________
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Abgrenzung von Psychophysik und traditioneller Psychologie.“ Siehe Leibold, Tobias, Enzyklopädische Anthropologien. Formierungen des Wissens vom Menschen im frühen 19. Jahrhundert bei G.H. Schubert, H. Steffens und G.E. Schulze, Würzburg 2009, hier S. 285. Vgl. hierzu auch Erna Fiorentinis alternativen interpretatorischen Ansatz des eher unzulänglichen Konzepts einer ‚mechanischen Romantik‘, die die Einstellungen am Anfang des 19. Jahrhunderts zu der Beobachtung und zur Studie der Natur zu erfassen versucht; Fiorentini beschreibt differenzierter aber auch breiter „a crucial simultaneity and an intertwining of aesthetic and physical space in processes of observation and representation in this time [… processes that] display in fact a dynamic, osmotic character, in which various positions on reality and experience and on the significance of inner and outer world were continuously exchanged, reverberating within the practices of observation and representation (or vice versa)“, Observing Nature – Representing Experience: The Osmotic Dynamics of Romanticism 1800-1850, Berlin 2007, S. 15.
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Dann wird jeder sein eigener Arzt seyn – und sich ein vollstaendiges, sicheres und genaues Gefuehl seines Koerpers erwerben koennen – dann wird der Mensch erst wahrhaft unabhaengig von der Natur, vielleicht imstande sogar seyn verlorene Glieder zu restauriren, sich blos durch seinen Willen zu toedten, und dadurch erst wahre Aufschluesse ueber Koerper – Seele – Welt, Leben – Tod und Geisterwelt zu erlangen.9
Wie Novalis war Schlegel von der Möglichkeit fasziniert, dass sowohl die neuere als auch die deutlich ältere und esoterische Psychologie die Zukunft als eine Vision präsentieren könne. Dies stellt einen markanten Unterschied zur späteren Tiefenpsychologie und der Psychoanalyse dar, d. h. zu Modellen, die ihre Kraft aus der intensiven Auseinandersetzung mit der erinnerten, erlebten (im Gegensatz zu einer imaginierten, bewußt fiktiven) Vergangenheit schöpfen. Aber die neurotischen Traumata, die Freud fasziniert hatten, die ebenfalls körperliche Beschwerden ohne auffindbare organische Ursache bezeichnen, waren sowohl für die Romantiker als auch ihre Vorgänger in der Psychologie des 18. Jahrhunderts schon eine reiche Quelle für das Nachdenken über Subjektivität, über Individualität und über Kollektive. Während Freud aber (wenigstens in den frühen Jahren seiner Karriere) meint, einen spezifischen letzten Grund der wiederholt beobachteten und besprochenen Symptome seiner Patientinnen zu finden, operieren sowohl Moritz als auch die Romantiker mit der Annahme, dass diese ultimative Entdeckung nicht möglich ist. Gegen Ende der historischen Aufklärung, und d. h. fast vierzig Jahre vor Schlegels intensiver Beschäftigung mit dem Magnetismus begründete Moritz das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793). In den zehn Bänden überwiegen die manchmal kursorischen, manchmal detaillierten Fallstudien von seelisch-körperlichen Störungen, sei es aus Augenzeugenberichten oder aus zweiter Hand.10 Die verhältnismäßig wenigen und knappen Kommentare oder Analysen auf Seiten der Herausgeber erhöhen den Eindruck von Objektivität und rücken das Magazin weit weg von Schlegels esoterischer Philosophie und ästhetisch durchdrungener Vorstellung von quasi-magischen Behandlungen, die einer nebulösen Zone zwischen beobachtbaren Phänomenen und der Ideenwelt angehören. Die Fälle aber, die für das Magazin ausgesucht wurden, weisen mit den Symptomen der leidenden Frauen, die Schlegel interessieren (der prominentes_____________ 9 10
Fragment Nr. 59, hier in: Novalis, Werke, S. 398. Die Aktualität, Inhalt und Biegsamkeit des Konzepts Fallstudie wird u. a. besprochen in „Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung in Recht, Medizin und Literatur“. In: Gereon Blaseio/Hedwig Pompe/Jens Ruchatz (Hgg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 63-92. Andreas Gailus liefert auch einen Beitrag zur Geschichte der case study die sich spezifisch mit Moritz befasst in: „A Case of Individuality: Karl Philipp Moritz and the Magazine for Empirical Psychology“. In: New German Critique 79/2000, S. 67-105.
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te Fall wird im Folgenden genauer untersucht), auffällige Ähnlichkeiten auf. Die Präsentation der „Geständnisse über das Vermögen künftige Dinge vorherzusehn, von Madam***“11 im vierten Band antizipiert sowohl die hellseherischen Visionen von magnetisch behandelten Patientinnen als auch die von zahllosen ‚Hysterikern‘ des späteren 19. Jahrhunderts. Wenn Moritz Fallgeschichten in sein Magazin integriert, die die Parallele zwischen den Schwerpunkten der empirischen Psychologie, der Transzendentalphilosophie und der ästhetischen Theorie aufzeigen, nimmt er ohne viel eigenständigen Kommentar eine gewisse Ästhetisierung der Krankheit vor – ein Vorgehen, das schon weit vor der Spätaufklärung bzw. Romantik bekannt war. Die Verknüpfung von Begriffen aus den Gebieten der Ästhetik und Psychologie geht spätestens auf die Mitte des 18. Jahrhunderts bzw. genauer: auf Baumgartens Texte zur Grundlegung der Ästhetik (1742) zurück.12 Elf Jahre vor der Publikation des ersten Bandes von Moritz’ Magazin konstatierte Ernst Platner, Psychologie und Ästhetik seien (wie auch die Logik und „ein großer Theil der Moralphilosophie“, und im Gegensatz zur Anatomie und Physiologie) „einerley“.13 Die Fallstudien von Moritz und Schlegel weisen aber weitere signifikante Ähnlichkeiten auf. Beide finden sich fest verankert in der philosophischen Tradition, die den Geist folgendermaßen vorstellt: „as a great mirror, containing various representations – some accurate, some not“.14 Was die zwei Autoren zum Zwecke dieser Argumentation zusammenbringt ist die gemeinsame Begeisterung für gestörte, entstellte Spiegelun_____________ 11
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Moritz, Karl Philipp, Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte (im Folgenden ES), Bd. 4, hg. v. Petra Nettelbeck/Uwe Nettelbeck, Nördlingen 1986, S. 83 ff. Carsten Zelle arbeitet manche dieser Verknüpfungen in Bezug auf Moritz und seine Zeitgenossen heraus; siehe „Experiment, Experience and Observation in Eighteenth-Century Anthropology and Psychology – The Examples of Krüger’s Experimentalseelenlehre and Moritz’ Erfahrungsseelenkunde“. In: Orbis Litterarum 56/2001, Nr. 2, S. 94. Platner, Ernst, Anthropologie für Ärzte und Weltweise, Leipzig 1772, S. IV. Hier in: Kosenina, Alexander, „ ‚Es leihe […] Trost der männertollen Dirne‘. Beiträge über Nymphomanie aus dem Umkreis von Ernst Anton Nicolai“. In: Carsten Zelle (Hg.), Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001, S. 122, Anm. 6. Siehe auch Bezold, Raimund, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz, Würzburg 1984, S. 122. Platner unterscheidet zwischen den „drey Wissenschaften“, die sich mit der „Erkenntnis des Menschen“ befassen: Anatomie/Physiologie, Psychologie und Anthropologie. In der Letzten „kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten“ (Kosenina, Es leihe [...], S. 122, Anm. 6). Die Anthropologie konzipierte aber Moritz auch als einen Bereich, zu dem seine Psychologie beitragen sollte. Für Moritz vereinigt die Psychologie die von Platner betonten ästhetischen Interessen mit der Anerkennung des im Körper verorteten Geistes. Rorty, Richard, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1980, S. 12.
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gen und Figuren – Entstellungen, die vielleicht, so ahnen beide Männer, etwas eigentlich ganz Klares über das Geistesleben und seine Gestalt und Lesbarkeit im und durch den Körper verraten. Beide richten den Blick auf Fallstudien, in denen der Geist sich vom Körper dissoziiert und eine qualvolle Disharmonie entsteht. Genau in diesen lesbaren Symptomen solcher psychosomatischen ‚Fehler‘ stellt sich jedoch etwas heraus, das sich von der modernen (post-aufgeklärten) Alltagserfahrung unterscheidet, das aber auch keineswegs als Ausdruck der Sehnsucht nach einer einfachen Rückkehr in eine frühere, offenkundig magische Vergangenheit gelesen werden kann. Die Vorgehensweise und auch der Stil der Protokolle von Moritz and Schlegel werden durch schier überwältigende Wiederholung gekennzeichnet: Die zehn Bände des Magazins enthalten eine Liste nach der anderen, die alle die sich wiederholenden Symptome selbst in der Darstellung wiederholen. Schlegels Tagebücher zum Magnetismus weisen ebenso die oft ermüdenden, sich wiederholenden Beschreibungen der sechs Jahre währenden fast täglichen Behandlungen auf. Das mag auch an manche Fallstudien von Freud erinnern, beerbte die Psychoanalyse doch sowohl die Aufklärung als auch die Romantik. Während aber die psychoanalytische Psychotherapie versuchte, Symptome im Kontext der Interaktion zwischen Therapeut und Patient(in), Beobachter und Beobachteten, zu lesen, um die Heilung zu fördern15 – ein Prozess, der als Abschied von der Vergangenheit durch eine klare und begrenzte Trauerphase gekennzeichnet ist – bleiben Moritz und Schlegel bei den wiederholten Beschreibungen von sich wiederholenden Symptomen in einer (trotz aller Zukunftsorientierung) fundamental melancholischen Haltung. Schlegel und Moritz stehen in einer fortwährenden Geschichte der ‚dunklen‘ Seite der Medizin während der Aufklärung und danach als beispielhafte Vertreter, auf unterschiedliche, aber auch ähnliche Weise. Auf sie wie die Psychologie um 1800 trifft das zu, was Michel Foucault der aufkommenden Psychoanalyse bescheinigt: neither physiology nor therapeutics can become those absolute viewpoints from which the psychology of mental illness can be resolved or eliminated. […] And although the success of psychoanalytic intervention is one with the discovery of
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Leibold zeigt auf, wie die frühe Psychosomatik Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland dem Impuls von Novalis folgte und Heilung als explizites Ziel hatte (im Gegensatz zu der empirischen Psychologie des 18. Jahrhunderts, die sich wie bei Moritz auf die Beschreibung von unterschiedlichen Störungen konzentrierte); siehe Leibold, Enzyklopädische Anthropologie, S. 276-285 u.a. In dieser Hinsicht weisen die Protokolle des späten Schlegel in eine andere aber zugleich parallele Richtung: Er will den Magnetismus einsetzen, um die psychosomatisch kranke Patientin im anderen Sinne zu ‚heilen‘ – nämlich ihre Symptome derart zu intensivieren, damit sie die Vervollkomnung ihrer Bestimmung als Prophetin der kommenden ästhetisch-politisch ‚heilen‘ Zeit erreichen kann.
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the ‚truth‘ of the neurosis, it uncovers it only within the new psychological drama in which it is caught up.16
Vor dem skizzierten Hintergrund wird im Folgenden untersucht, inwieweit das „psychologische Drama“ der Beobachtung und der Behandlung selbst eine Ästhetisierung von Krankheit bedeutet, eine Ästhetisierung, die wiederum von der Erfahrung der Wiederholung abhängig ist.
Karl Philipp Moritz, Erfahrungsseelenkunde (1783-1793) Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, das Moritz zusammen mit C. F. Pockels und Salomon Maimon herausgab, enthält sowohl Berichte von Augenzeugen bzw. aus zweiter Hand als auch Selbsterzählungen von psychosomatischen Störungen. Die Berichte werden nur mit kurzen Kommentaren eingeführt. Im Allgemeinen soll der Eindruck der Objektivität des jeweiligen Erzählers entstehen, der von der Beobachtung von Phänomenen berichtet, von körperlichen Symptomen, die sich zwar in der materiellen Wirklichkeit äußern, sich aber mit materialistischen Ansätzen nicht vollständig erklären lassen. Im Magazin wie auch in den ästhetischen und literarischen Schriften übernimmt Moritz eine „Kunst der Beobachtung“ (art of observation), die zugleich die Beobachtung als eine Form von Kunst ist.17 Der Beobachter richtet seinen Blick auf den Ort der Dissoziierung zwischen Körper und Geist, da genau durch diese Dissoziierung resp. Disharmonie eine neue ästhetische Harmonie entstehen kann. Moritz’ Vorhaben im Magazin verweist auf Ähnlichkeiten mit Kants Beschreibungen in den Träumen eines Geistersehers (1766), wenn er religiöse Offenbarungen und Angstattacken in einer begrifflichen Kategorie, die der „Seelenkrankheiten“, vereinigt. Mo_____________ 16
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Foucault, Michel, Mental Illness and Psychology, übersetzt von Alan Sheridan, Berkeley 1987, S. 86-87. Die Geschichte des ‚Psychodramas‘ als Behandlungsmethode für psychiatrisch kranke Patienten wird von Daniela Watzke besprochen in „Hirnanatomische Grundlagen der Reizleitung und die ‚bewusstlose Sensibilität‘ im Werk des Hallenser Klinikers Johann Christian Reil“. In: Jörn Steigerwald/Daniela Watzke (Hgg.), Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830), Würzburg 2003, auf S. 262-265. In Reils Praxis dient das Psychodrama „dazu, dem Patienten seine eigene Identität zu zeigen und sein Selbst wie in einem Spiegel zu präsentieren. Durch die Verkörperung der Halluzinationen verlieren diese die Macht über den Patienten und der Betroffene ist in der Lage, Realität und Fiktion zu unterscheiden“, S. 264. Zelle zeigt die Nähe zwischen Schlüsselbegriffen der ästhetischen Theorie und der frühen Psychologie auf und zitiert dabei Baumgartens Texte zur Grundlegung der Ästhetik (1742). In diesem Kontext schreibt Zelle: „one of the maxims of the Enlightenment can be regarded as being the transformation of the ‚spirit of observation‘ into the ‚art of observation‘, i.e., the strengthening of the capacity to take exact notice of the differences in what is perceived”, siehe Zelle, Experiment, Experience, and Observation, S. 94.
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ritz’ Gebrauch von gängigen medizinischen Konzepten, um eine grössere Gruppe von psycho-seelischen Symptomen zu beschreiben, impliziert zusammen mit Kant, dass solche Symptome der sozialen Ordnung der Aufklärung zuwider laufen.18 Die Sammlung von Fallstudien im Magazin ist aber andererseits so groß und unterschiedlich, dass solche Kategorien unvermeidlich unpräzise sind. Dadurch gerät jedoch genau die Objektivität und Präzision, wonach das Magazin strebt, häufig zu einer impressionistischen und sogar sensationslüsternen Erzählung von Geschichten. Das Magazin kann demgemäß als eine Form der ästhetischen Re-Präsentation des geschilderten Falles in seiner literarisch-anthropologischen Darstellung gefasst werden. Die darin beinhalteten Fälle betonen zusätzlich eine Beziehung zwischen Geist und Körper bzw. zwischen Krankheit und Symptom, die analog ist zu der Beziehung, die Moritz in seiner ästhetischen Theorie etabliert zwischen dem Bezeichneten und dem Zeichen. Die Mischung aus Materialismus und moralischer Philosophie, die das Magazin charakterisiert, wird aus unterschiedlichen Quellen abgeleitet: sowohl von der englischen bzw. französischen Sinnespsychologie und von der relativ neuen Anthropologie (und dem dazu gehörenden Konzept der „physiologischen Psychologie“) als auch von Rousseau, Moses Mendelssohn und nicht zuletzt Moritz’ eigenem pietistischen Hintergrund.19 Jeder Band wird in Sektionen geteilt, die einen Fokus auf materielle Mechanismen und die Verhältnisse zwischen Sinneswahrnehmungen und Symptomen legen, statt auf eine genaue Analyse des Grundes, warum Geist und Körper sich in diesem Fall so verhalten. Diese Sektionen heißen dementsprechend „Seelennaturkunde“, „Seelenkrankheitskunde“, „Seelenzeichenkunde“, „Seelendiätetik“ oder „Seelenheilkunde“, folgen also Begriffsgruppen, die ähnlichen Kategorien entsprechen, die Marcus Herz seinem 1782 veröffentlichten Grundriß aller medizinischen Wissenschaften zugrunde legt.20 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des ersten Bandes des Magazins wurden diese Schlüsselbegriffe der Fakultätspsychologie in den deutschsprachigen Ländern ungefähr gleich gebraucht.21 Wie Herz verortet Mo_____________ 18 19 20 21
Siehe auch die Analyse von Martin L. Davies in: Identity or History? Marcus Herz and the End of the Enlightenment, Detroit 1995, S. 20-21. Schrimpf, Hans Joachim, Karl Philipp Moritz, Stuttgart 1980, S. 36. Herz, Marcus, Grundriß aller medizinischen Wissenschaften, Berlin 1782. Bell bemerkt, dass Johann Heinrich Zedlers ‚Großes Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden‘, 1732-1754 schon beweist: „Germany’s systematisation of psychology [by the mid-eighteenth century] was ahead of France’s and England’s.“ Siehe Bell, Matthew, The German Tradition of Psychology in Literature and Thought, 1700-1840, Cambridge 2005, S. 13. Zedlers Lexikon enthält detaillierte Erklärungen solcher Begriffe wie Seelen-Lehre, psychologia und Psychologie, und schafft damit eine Quelle für Herz’ Handbuch. Siehe
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ritz das Verständnis der zeitgenössischen psychologischen und medizinischen Terminologien wenigstens implizit in einer konzeptuellen Landschaft, die auch fundamentale Konzepte der entstehenden kritischen Philosophie miteinschließt.22 Er verstand ‚Seele‘ und ‚Geist‘ als fast synonyme Begriffe, die beide ein noch nicht präzise formuliertes, gleichwohl kausales Verhältnis zum Körper hatten. Der Körper macht die Bewegungen des Geistes buchstäblich lesbar, d. h. der Körper zeichnet und ist selbst Zeichen, und sein Zeichnen kann folglich dekodiert bzw. entschlüsselt werden. Der Prozess des Protokollierens und der Veröffentlichung von Fallstudien ist folgendermaßen Teil des Dekodierens, Teil der „Seelenzeichenkunde“. Moritz’ empirische Psychologie beerbte aber nicht nur die zeitgenössische deutsche psychologische Tendenz, mentale Phänomene in körperlichen Prozessen zu verorten, sondern rezipierte sicher auch Spinozas Theorem, dass der Körper die Basis oder Grund für die Tätigkeit des Geistes ist. Moritz zufolge kann der echte „Wahnwitz“ (oder „Wahnsinn“) nicht der Schwerpunkt seiner Psychologie sein. Die Erfahrungsseelenkunde muss sich auf die psychosomatischen Krankheiten richten, die von Störungen in der Einbildungskraft verursacht werden, d. h. also von Störungen ohne evidenten organischen Grund. Der Wahnwitz ist doch immer größtentheils mit in dem Körper gegründet, und wird oft durch Mittel geheilet, die vorzüglich auf den Körper wirken. – Er kann also nicht der Hauptgegenstand der Erfahrungsseelenkunde seyn, sondern es kömmt vorzüglich auf die Natur unsrer vorstellenden Kraft, auf die Abweichungen und die gehörige Art des Einlenkens derselben an, wenn dieß Studium so nützlich seyn soll, als es doch wirklich seyn kann.23
Geistes- und Gemütskrankheiten, die von der Einbildungskraft verursacht werden, sind aber keinesfalls von dem Körper zu trennen. Moritz behaup_____________
22
23
hierzu auch Davies, Identity or History?, vor allem S. 89 ff. George Sebastian Rousseau dagegen weist auf die Schwierigkeiten, trotz aller klassifikatorischen Versuche, klare disziplinischen Unterscheidungen im 18. Jahrhundert aufzustellen: „I do not believe we know enough as yet about the history of medicine to differentiate meaningfully between psychology and psychiatry in the eighteenth century…(they) overlap again and again, sometimes in unpredictable ways […] rendering it almost impossible to chart three distinct areas: psychiatry, psychology, philosophy“. In: „Psychology“. In: George Rousseau/Roy Porter (Eds.), The Ferment of Knowledge: Studies in the Historiography of Eighteenth-Century Science, Cambridge 2008, S. 144. Davies weist darauf hin, dass Herz sich hier in Gesellschaft mit anderen Medizinern seiner Zeit befand, wie zum Beispiel Haller, Zimmermann, Weikard und Platner, die sich insgesamt als ‚philosophische Ärzte‘ stilisierten. Siehe Davies, Identity or History?, S. 89. Siehe auch John H. Zammitos Beschreibung dieses medizinischen Umfeldes in: Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, Chicago 2002, S. 244 et al. Moritz, ES, Bd. 4, S. 12.
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tet, dass Psychosomata sogar ansteckend sein können, und vielleicht auch erblich sind.24 Die Krankheiten der Seele können vielleicht, eben so wie die körperlichen, von den Eltern auf die Kinder fortgepflanzt, oder in ganzen Familien erblich seyn. Wie dieses einige von den vorhergehenden Faktis zu beweisen scheinen. Sie können bei einem Volke oder in einem Lande vorzüglich herrschen. Sie können ansteckend seyn. Sie können heilbar oder unheilbar seyn.25
Ansteckende und vererbte Krankheiten wurden im späten 18. Jahrhundert deutlich von einander abgegrenzt. So waren ansteckende Krankheiten zum Beispiel im Unterschied zu vererbten durch Fieber gekennzeichnet.26 Hier verknüpft Moritz aber beide und erreicht eine Kombination, die wahrscheinlich nicht einem unvollständigen Verständnis der zeitgenössischen Medizin zuzurechnen ist. Eher entspricht sie seinen ästhetischen Überzeugungen wie auch der Natur der psychischen Krankheit, die in Wirklichkeit und in der Darstellung in medizinischen, philosophischen und ästhetischen Texten als liminal gesehen wurde. Die Fixierung auf das Bizarre oder sogar Unverständliche bei Moritz entstammte zum Teil der Überzeugung unter empirischen Psychologen, dass man bei der Beobachtung der drastischsten psychologischen Störungen in qualitativer sowie in quantitativer Hinsicht am meisten über die Psyche erfährt. Zudem wird im Magazin implizit darauf hingewiesen, dass solche Störungen auch in ansonsten vollkommen normalen Individuen auftreten. In den knappen Analysen oder ‚Ratschlägen‘, die den Fallstudien manchmal folgen, wird darüber hinaus ein Interesse für Ästhetik und für die befremdende Anziehungskraft des Beängstigenden deutlich. Ein solches Interesse wird besonders in den von Moritz verfassten Einführungen in die unterschiedlichen Bände evident. Am Anfang des vierten Bandes schreibt er zum Beispiel: Es scheinet, als ob die Krankheiten der Seele schon an und für sich selbst, so wie alles Fürchterliche und Grauenvolle, am meisten die Aufmerksamkeit erregen, und sogar bei dem Schauder, den sie oft erwecken, ein gewisses geheimes Vergnügen mit einfließen lassen, das in dem Wunsche, heftig erschüttert zu werden, seinen Grund hat.27
Moritz’ psychologische Beobachtungen referieren hier deutlich auf die eigene ästhetische Theorie. In den Fragmenten aus dem Tagebuche eines Geister_____________ 24 25 26
27
Moritz, ES, Bd. 4, S. 31. Moritz, ES, Bd. 4, S. 31. Vgl. hierzu den Eintrag zu „Fevers“ von Leonard G. Wilson. In: Roy Porter/W. F. Bynum (Eds.), Companion Encyclopedia of the History of Medicine, Bd. 1, London und New York 1997, S. 382-411. Moritz, ES, Bd. 4, S. 7.
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sehers bemerkt er beispielsweise, dass die Beobachtung (aus sicherer Entfernung, wie bei Kant) schmerzlicher oder beängstigender Erfahrungen anderer den Beobachter „erschüttert und erhebt“.28 Solch schauderhafter Genuß darf passiv vorkommen, setzt aber eigentlich voraus, dass der Beobachter durch seine Einbildungskraft merkbar teilnimmt und damit auch eine Art Manipulation auf das beobachtete Objekt ausübt. Die Einbildungskraft versteht Moritz als hauptsächlich unbewusste geistige Tätigkeit. So redet er von der „Essenz“ und der „Gewohnheit“ der Seele und der menschlichen Natur, doch darf diese Tätigkeit auch durch das Erlangen von Einsicht gesteuert werden. Die Einbildungskraft der Seele ist sowohl für Kunstschöpfungen als auch für Geisteskrankheiten verantwortlich. An einer anderen Stelle in der oben zitierten Einführung zum vierten Band des Magazins heißt es: Da nun das Wesen der Seele vorzüglich in ihrer vorstellenden Kraft besteht, so muß auch der Ursprung der Seelenkrankheiten, in irgend einer zur Gewohnheit gewordenen unzweckmäßigen Äußerung dieser Kraft zu suchen seyn. Denn wenn ich hier z. B. von der Trägheit rede, so rede ich nicht von ihr, in so fern sie im Körper, sondern in so fern sie in der vorstellenden Kraft der Seele gegründet ist, und also auch durch eine beßre Lenkung derselben ihr wieder abgeholfen werden kann.29
Die Beschreibung der hinter den Geisteskrankheiten stehenden Einbildungskraft als „unzweckmäßig“ findet einen Nachhall in Moritz’ Argument für die Autonomie des Kunstwerks in Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788). Hier findet er den Sinn in der Erscheinung und die Tiefe in der Oberfläche: in der gegenwärtigen Kunst ist die „Erscheinung […] mit der Wirklichkeit […] eins geworden“.30 Für Moritz ermöglicht erst die Oberfläche den Zugang zur Substanz, da in dem Kunstwerk, dessen Zeichen „nur auf sich selber zeigen“, das Sein sogar zum Schein geworden ist und umgekehrt.31 Moritz’ Theorie der ästhetischen Autonomie (bzw. der Zeichen, die ausserhalb des Kunstwerks zwecklos sind und nichts bezeichnen können) und von ‚erscheinendem Sinn‘ (bzw. Bedeutung in der Erscheinung), die in den gleichen Jahren wie seine empirische _____________ 28 29 30 31
Moritz, Karl Philipp, Werke, Bd. 3, hg. v. Horst Günther, Frankfurt/M. 1981, S. 302. Moritz, ES, Bd. 4, S. 12. Moritz, Karl Philipp, „Über die bildende Nachahmung des Schönen.“ In: Beiträge zur Ästhetik, hg. v. Hans Joachim Schrimpf/Hans Adler, Mainz 1989, S. 78. Georg Braungart zeigt auf, wie für Moritz die Betrachtung der ‚Oberfläche‘ eines Kunstwerks den direkten und unmittelbaren Zugang zur ganzheitlichen Erfahrung des Schönen ermöglicht. Diese Beziehung zwischen Oberfläche und Tiefe wird in der Beziehung zwischen Seele und Körper widergespiegelt: „Die Oberfläche des Kunstwerks, die Oberfläche des menschlichen Körpers – sie ermöglichen die unmittelbare Erfahrung des Schönen“. Siehe ders., „,Intransitive Zeichen‘: ‚Die Signatur des Schönen‘ im menschlichen Körper bei Karl Philipp Moritz“. In: Rhetorik 13/1994, S. 3.
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Psychologie entstand, stellt eine Beziehung zwischen Dargestelltem und Darstellung, Bedeutung und Erscheinung, zwischen Bezeichnetem und Zeichen dar, die dem Verhältnis zwischen Krankheit und Symptom, Körper und Geist im Magazin ähnlich ist. Die Tatsache, dass vor allem in „Seelenkrankheiten“ das Symptom alles ist, wozu wir Zugang haben, und dass die Ursachen dieser Symptome unmöglich auffindbar sind, erklärt das Symptom zum echten Ort der Bedeutung, genauso wie die Oberfläche des schönen Kunstwerks uns den einzig möglichen Zugang zu der Essenz des Schönen erlaubt. Letztendlich ist es die tätige Einbildungskraft, die, ob im Kontext der Krankheit oder der ästhetischen Erschaffung, uns von der Vergangenheit und von uns selbst befreien kann, und zwar dadurch, dass sie das ‚Vorbild‘ der Vergangenheit gleichzeitig wiederholend nachahmt und vergessen macht: Ich ahme meinem Vorbild nach; ich strebe ihm nach […]. Durch mein Vorbild ist mir bloß das Ziel höher, als von mir selbst, hinaufgesteckt. Nach diesem Ziele muß ich nun, nach meinen Kräften, auf meine Weise, streben; zuletzt mein Vorbild selbst vergessen, und suchen, wenn es möglich wäre, das Ziel noch weiter hinaus zu stecken.32
Mehrere Subjekte in den Fallstudien des Magazins vollbringen solche nachahmende, letztendlich aber vergessen machende Taten der Einbildungskraft, um mit ihren und durch ihre psychosomatischen Traumata leben zu können. Im ersten Band befindet sich ein Fall mit dem Titel Stärke des Selbstbewußtseyns.33 Dieser Bericht eines Herrn Fischer, der sich als „Lehrer am grauen Kloster in Berlin“ beschreibt, ist eine direkte Verteidigung von Einsicht und Willenskraft, die zu einer „besseren Lenkung“ der Einbildungskraft führen können. Fischer erzählt von sich allnächtlich wiederholenden Panikanfällen, die er seit dem siebzehnten Lebensjahr erlebte. Im Laufe der Zeit habe er, Fischer, Einsicht in die Natur dieser Attacken erlangt. Langsam erkannte er, dass er wegen der Anfälle nicht sterben würde, sondern dass seine Gefühle nur Simulierungen wirklicher Probleme seien: „Die Kehle ist wie zugedrückt. Der ganze Körper ist wie gefesselt, oder eingekerkert“.34 Fischer kann in der Tat die Dauer der Anfälle durch seinen Willen steuern, indem er ein Glied bewegt – meistens seine rechte Hand: „dann verschwand das ganze Hirngespinst ziemlich bald“.35 Er wiederholte dieses Vorgehen bei den Anfällen, die schließlich seltener auftraten. _____________ 32 33 34 35
Moritz, Beiträge zur Ästhetik, S. 29. Moritz, ES, Bd. 1, S. 38-42. Moritz, ES, Bd. 1, S. 38. Moritz, ES, Bd. 1, S. 40.
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Fischer schließt daraus, dass es neben zweifellos mechanischen und körperlich greifbaren Ursachen, die hinter den Anfällen wie auch hinter der Besserung stehen, zugleich „etwas höheres in der Seele“ geben müsse, das den materiell verursachten augenblicklichen Schmerz transzendiert. [E]ben dieselben Erfahrungen, beweisen eben so unleugbar, daß noch etwas höheres in der Seele ist, welches bei allen Verwirrungen und Unordnungen des Gehirns doch immer dasselbe bleibt, und dessen Thätigkeit zwar durch widernatürliche aus Unordnungen im Gehirn entspringende Empfindungen gehindert, und gleichsam betäubt, aber wohl nicht vernichtet werden kann.36
Fischer kann den Zyklus einer Attacke durchbrechen, nur aber nur in einer wiederholenden Weise, indem er jedes Mal das gleiche ‚Heilmittel‘ gebraucht: Es ist fast immer die rechte Hand, die er erheben kann. Fischer ‚heilt‘ sich selbst dank der Einsicht, dass sein Körper und Geist genauso wie bei Novalis „zwei Systeme von Sinnen“ sind, die „doch auf das innigste miteinander verwebt sind“; beide müssen zur Zusammenarbeit gezwungen werden, um die Anfälle zu beenden. Hierzu bemerkt Moritz, dass gerade eine solche gewalttätige Anwendung von Einsicht für die Heilung notwendig ist. Die ‚bessere Lenkung‘ der vorstellenden Kraft, die die Krankheit besiegt, kann nicht allein mit Ermahnungen zur Besserung erreicht werden. „Seelenkrankheiten“ (die Probleme wie Eifersucht, Eitelkeit, einen Mangel an ‚Menschenverstande‘, Melancholie und Trägheit mit einschließt) werden in dieser Hinsicht mit der organischen Krankheit gleichgesetzt: Eben so wenig aber, wie es dem Lahmen etwas helfen würde, wenn ich ihm sagen wollte, bewege dich – eben so wenig würd’ ich dadurch auf den Trägen wirken, wenn ich ihm sagte: sei nicht träge, oder wenn ich ihm auch zu beweisen suchte, daß es unrecht sey, träge zu seyn. Ich muß vielmehr der Ursach seiner Trägheit in irgend einer verwöhnten Richtung seiner vorstellenden Kraft nachspähen, und der vorzüglich entgegen zu arbeiten suchen. Nun finde ich aber, daß dasjenige, was mich in Thätigkeit erhält, immer das Zusammendenken von Ursach und Wirkung ist, indem ich mir die letztere nur möglich denke, wenn die erstere vorhergegangen ist. Ich schließe also, daß der Unthätige, der Träge seinen Geist verwöhnt hat, Wirkung und Ursach gehörig zusammenzudenken. Er denkt sich angenehme Wirkungen, ohne auf die Ursach oder die thätige Kraft Rücksicht zu nehmen, wodurch sie allein möglich gemacht werden können.37
Um genesen zu können, müssen wir das wieder zusammendenken, was sich trennte, d. h. Vergangenheit und Gegenwart müssen in eine Kohä_____________ 36 37
Moritz, ES, Bd. 1, S. 41. Moritz, ES, Bd. 4, S. 8-9. Diese Bemerkungen befinden sich in einem Teil, der von Moritz nach der Zusammenstellung der ersten drei Bände des Magazins zugesetzt wurde: die „Revision der drei ersten Bände dieses Magazins“.
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renz gebracht werden. Jedoch entspringt aus eben dieser Entkoppelung von Sinneswahrnehmung und Affekt, von Bezeichnetem und Zeichen auch bzw. gerade die Kunst. Wie bei Novalis ist diese ‚Disharmonie‘ für Moritz für die Entstehung von Kunst erforderlich und damit implizit auch, um zu Einsicht und Heilung zu gelangen. Wer ‚Erfahrungsseelenkunde‘ (empirische Psychologie) praktisch anwendet, der gebraucht auch Techniken der ‚Experimentalseelenlehre‘ (Experimentalpsychologie), in denen der Psychologe den Gegenstand nicht nur betrachtet, sondern auch wahrhafte Gewalt auf die Umwelt ausübt, um diese Umwelt zu verändern und um an der wahrnehmenden Erfahrung teilzunehmen bzw. genauer: um mit dem betrachteten, studierten Gegenüber in Austausch zu treten. Johann Georg Sulzer vereinigt die beiden Techniken, als er im Jahr 1759 behauptet, dass psychologische Gegebenheiten genauso wie körperliche „durch Erfahrung und Experiment“ und durch „Beobachtung“ erforscht werden können.38 Dadurch, dass sie das betrachtete Objekt durchaus ändern kann, stellt die Praxis der Beobachtung eine Art „Gewalt“ dar.39 Johann Gottlob Krüger, der zusammen mit Sulzer Moritz’ Gedanken zur Psychologie signifikant beeinflusst hat,40 behauptet sogar, dass der Prozess des reinen Betrachtens, des nur deskriptiven Verfahrens, die Macht habe, „in die Natur einzudringen und sie dazu zu zwingen, uns das zu zeigen, was sie von unseren Augen verbergen wollte“.41 1746 hat Krüger das Aggressionspotential der Seelenkunde sowie ihrer Beobachtungsverfahren sogar mit einer Vergewaltigung verglichen.42 Moritz zielt mit dieser „Gewalt“ auch auf sich selbst und behauptet, alle Beobachtungen anderer müssten unseren Selbstbeobachtungen gleichen, sie gewissermaßen wiederholen, da Selbstbewusstsein immer eine Objektivierung und eine Projektion mit einbezieht.43 Leider, meinte Moritz, bleibt solche Selbstdistanz immer nur partiell: _____________ 38
39 40 41
42 43
Sulzer, Johann Georg, Kurzer Begriff aller Wißenschaften, Leipzig 1759. Zu Sulzer siehe auch Riedel, Wolfgang, „Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer“. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994, S. 410-439. Zelle, Experiment, Experience, and Observation, S. 95. Vor allem vermutlich Krügers Versuch einer Experimental-Seelenlehre (1756); siehe hierzu Zelle, Experiment, Experience, and Observation, S. 99. So die Vorrede von Johann Gottlob Krüger in: Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen / mit einer Vorrede vom Gelde; begleitet von Herrn Johann Gottlob Krügern, Der Weitweisheit und Arzneygelährtheit Doctorn und Professorn auf der Königl. Preuszl. Friedrichs Universität, Halle, 1746, S. 15. Hier in: Zelle, Experiment, Experience, and Observation, S. 99. Zelle, Experiment, Experience, and Observation, S. 100. Zelle, Experiment, Experience, and Observation, S. 103; siehe auch: Moritz, „Beiträge zur Philosophie des Lebens“. In: Ders.: Werke, Bd. 3, hg. v. Horst Günther, Frankfurt/M. 1981, S. 92 f.
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Wo ist aber mein Vorsatz geblieben, Beobachter des Menschen, Beobachter meiner selbst zu sein? Wer gibt mir Kälte und Heiterkeit der Seele dazu, alles was geschieht, so wie ein Schauspiel zu betrachten, und die Personen, die mich kränken, wie Schauspieler? Ja wenn man nur nicht selber mit im Spiele begriffen wäre […]44
Das Magazin ist ein Text, der eben genau diese „Gewalt“ ausübt, die die ‚einfache‘ Beobachtung in eine Art Kunst verwandelt. Die bizarren Geschichten der Dissoziierung zwischen Körper und Geist, zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten, und zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten rufen eine ‚Idee der Körperlichkeit‘ hervor, eine Körperlichkeit, die sich von den alltäglichen körperlichen Empfindungen gänzlich unterscheidet. Der Fall mit dem Titel ‚Ein physiologisch-psychologisches Problem’ wurde von einem Staatsrat in Minden namens Herrn Tiemann berichtet. Hierin kommt die Dissoziierung zwischen Körper und Seele auf unterschiedlichen Ebenen vor, und zeichnet sich durch eine seltsame Wiederholung aus. Tiemann erzählt die Geschichte einer Frau, die während jeder ihrer sieben Schwangerschaften (alle Kinder kamen gesund zur Welt) einen Finger verloren hatte. Mit jeder Schwangerschaft sind die Glieder in folgender Ordnung abgefallen. Bei der ersten Schwangerschaft fiel an der linken Hand das erste Glied des Mittelfingers – bei der zweiten das erste Glied am Zeigefinger – bei der dritten das am kleinen oder Ohrfinger – bei der vierten am Daumen – bei der fünften an der rechten Hand das erste Glied des Zeigefingers – bei der sechsten am kleinen oder Ohrfinger – bei der siebenten am Daumen. Die Frau hatte zwar die herausgefallenen Knochen aufbewahrt, und versprach mir schon voriges Jahr diesselbe zu geben; allein nach allem möglichen Durchsuchen konnte sie keinen finden, welches ich (Tiemann) sehr bedauerte.45
Die Kinder sind äußerliche und abgetrennte, extern gewordene Teile des Mutterkörpers, die zugleich weg und nicht wirklich weg sind. Die verlorenen Finger oder eher der Mangel an Fingern – deren Verlust erinnert ständig an den Selbstverlust, an die Teile des Selbst, die sich jetzt in der Welt jetzt bewegen. Moritz bekundet hier sein spezifisches Interesse am Verhältnis von Einbildungskraft bzw. Fantasie und Tod bzw. Verlust. In einer kurzen Bemerkung zu diesem Fall spekuliert er über die unheimliche Kraft der Psyche und konstatiert, dass ein „physiologischer Grund […] doch hier wohl schwerlich aufzufinden seyn [möchte]“.46 Die Frau trifft eine Art unbewußte Wahl: Sie wählt eine zwanghaft und sich gewaltsam _____________ 44
45 46
Moritz, „Beiträge zur Philosophie des Lebens“. In: Ders., Werke, Bd. 3, S. 16. Hierzu auch Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – Am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987. Moritz, ES, Bd. 4, S. 224. Moritz, ES, Bd. 4, S. 226.
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wiederholende Form der Rebellion gegen die eigene Existenz und die eigene Lebensform und drückt damit eine nicht-normative und extrem nostalgische Form der Sehnsucht aus. Moritz interessiert sich durchgehend für die ästhetische Anziehungskraft solcher „erschütternden und erhebenden“ Erfahrungen. Sein psychologischer Roman Anton Reiser, der ursprünglich als eine Fiktionalisierung einer Fallstudie aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde konzipiert wurde,47 führt einen Protagonisten vor, der unter anderem an ‚Lebensüberdruß‘, oder ‚Melancholie‘, leidet, ein Gemütszustand der wiederum Antons ‚eitlem‘ bzw. extrem ichbezogenem, Charakter entstammt. Entsetzt sieht Anton Reiser ein, dass er sich selbst nie entkommen kann, dass er die ganze Welt ist, das einzige Ich und alle anderen Ichs zugleich. Dieser Exzess an Subjektivität ist gleichzeitig leer: Anton hat „von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz“ und „im Grunde immer ein doppeltes, ganz voneinander verschiedenes inneres und äußeres Leben“.48 Ähnlich erging es Moritz selbst, als er sich zum Beispiel gefangen sah in einem Zustand, den der frühe Friedrich Schlegel als „eine endlose Reihe von Spiegelbildern“ beschrieben hat: Wo der Gedanke des Ichs nicht eins ist mit dem Begriffe der Welt, kann man sagen, daß dies reine Denken des Gedankens des Ichs nur zu einem ewigen Sichselbstabspiegeln, zu einer unendlichen Reihe von Spiegelbildern führt, die immer nur dasselbe und nichts Neues enthalten. 49
Eben diese Auffassung bildete den Ausgangspunkt für sein sechs Jahre währendes eigenes ‚Beobachtungsexperiment‘.
Friedrich Schlegel, Tagebuch [über die magnetische Behandlung der Gräfin Lesniowska] (1820-1826) Der späte Schlegel verwandelte sein etwas abstraktes Interesse am Magnetismus in ein sehr konkretes, körperbezogenes Erkenntnisinteresse. Er begleitete die Behandlungen seiner Freundin, der Gräfin Franziska Lesniowska in Wien, sechs Jahre lang (1820-1826) fast täglich, indem er jede Behandlung beobachtete und protokollierte. Lesniowska wiederum setzte ihre Erinnerungen an eine traumatische Vergangenheit und ihre Erfahrung einer melancholischen Gegenwart in körperliche Symptome um. _____________ 47 48 49
Oder „Seelennaturkunde“; siehe hierzu: Schrimpf, Karl Philipp Moritz, S. 35. Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, Stuttgart 1990, S. 413-414. KA, Bd. 12, S. 351. Schlegel unterscheidet zwischen dem produktiven, progressiven Pendeln zwischen Selbst- und Weltbegriffen und dem rein tautologischen „Sichselbstabspiegeln“.
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Diese Umsetzung war eine Form der Selbstdarstellung, die auch die Männer um sie herum gewissermaßen ‚produktiv‘ wendeten (ihren Behandlungen wohnten sowohl Schlegel als auch der Magnetiseur Dr. Franz Röhrig und der Maler Ludwig Schnorr bei50). Die Behandlungen wiederum transformierten eine wirkliche Frau in eine Art Metapher für den Weg, den die ‚gegenwärtige Entwicklung‘ einschlagen sollte: Die neurotischen Anfälle der Gräfin nahmen im Laufe der Behandlungen zu, sie ging schließlich ins Kloster und entsprach damit Schlegels Traum vom „neuen Zeitalter“ der Kirche auf Erden. Durch die Deutung von Lesniowskas Träumen als hellseherische Visionen und die Interpretation ihrer psychosomatischen Symptome als mystische Schlüssel zur „inneren esoterischen Weltgeschichte [… zu] der neuen Zeit“51 produziert Schlegel ein Geschichtsverständnis, das sich auch in seiner Schrift Zur Geschichte und Politik (1820-1828) spiegelt, die in den gleichen Jahren wie die Protokolle der magnetischen Behandlung der Gräfin Lesniowska entsteht. Vor diesem Hintergrund erscheinen Schlegels spätere Schriften deutlich interessanter und vor allem bedeutsamer, als gemeinhin von der Forschung angenommen wird.52 In den Jahrzehnten vor seinem Tod im Jahr 1829 verleiht Schlegel seiner Subjekt- und Geschichtsphilosophie eine neue Objektivität, einen „wahren Realismus“, in dem das Verhältnis des Individuums zu Gott eine Alternative zur Enge der Empirie und schließlich auch zu den unbefriedigenden Konstruktionen des Idealismus darstellt.53 _____________ 50
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Schlegels Protokolle wurden erst 1967 im Nachlass Ludwig Schnorrs gefunden. Im Laufe der Behandlungen wurde Lesniowska von den drei Männern über ihre Gefühle und Empfindungen fortwährend befragt; sowohl die Erscheinung jedes Symptomes als auch Einzelheiten wie z. B. die Temperaturen der Milchbäder wurden aufgezeichnet. Dr. Röhrig schloss sich der ‚Strasbourger Schule‘ des Mesmerismus an, derzufolge der Arzt und zwei Beobachter an der Übersendung ihrer gesunden, ‚universellen‘ tierischen Flüssigkeit an die Patientin teilnahmen (durch die Handauflegung). Die Patientin musste auch einem reglementierten Plan folgen, der Ruhe, Milchbäder und Kamillentee miteinbezog. Eine detaillierte und ausführlichere Untersuchung des Mesmerismus und dessen unterschiedlichen Ausführungen zu Mesmers Zeiten, die deren Verwandtschaft mit den zeitgenössischen Anthropologiedebatten verdeutlicht, bietet die Studie von Jörn Steigerwald, „Die Normalisierung des Menschen: Eine anthropologiegeschichtliche Problemskizze am Beispiel des Mesmerismusdiskussion des Jahres 1784“. In: Steigerwald/Watzke (Hg.), Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit, S. 13-40. Schlegel, KA, Bd. 35, S. xxxvii. Ich biete eine ausführlichere Analyse von Schlegels späterer Produktion im Hinblick auf seine früheren Werke an in „The Romantic and Modern Practice of Animal Magnetism: Friedrich Schlegel’s Protocols of the Magnetic Treatment of Countess Lesniowska“. In: Women in German Yearbook 23/2007, S. 10-33. Miller, Norbert, „Sehnsucht nach dem Unendlichen. Vor 150 Jahren starb Friedrich Schlegel“, Süddeutsche Zeitung 10, 13.-14. Januar 1979, S. 138. Und Ernst Behler beschreibt folgendermaßen Schlegels Taktik, Gott als Abkehr vom Idealismus einzusetzen: „In scharfem Abrücken von dem idealistischen ‚Abgrund des Absoluten‘ erarbeitet Schlegel eine
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Die historische Franziska Lesniowska litt unter einer enormen Anzahl von psychosomatischen Symptomen, von denen manche wohl mit vergangenen Traumata verbunden waren. Ihr Mann beging 1810 Selbstmord, d. h. ungefähr zehn Jahre vor dem Ausbruch ihrer Krankheit, zu einem Zeitpunkt als ihre Kinder noch sehr klein waren. Ihre Schwester tötete sich 1817 ebenfalls. Bereits im Jahre 1820 hatte die schon etwas kränkliche Lesniowska ihre erste hellseherische Vision. Später im gleichen Jahr erkrankte sie schwer an einer vom Arzt beschriebenen „Geschwächtheit und Heftigkeit ihrer Nerven“.54 Die Symptome umfassten überwältigende Schläfrigkeit, Knochenschmerzen, Angst, Magen-Darm-Beschwerden, Alpträume und Visionen, die oft mit übergrossen männlichen Figuren zu tun hatten. Die Gräfin litt an diesen Symptomen, abgesehen von Perioden der gelegentlichen Remission, bis zu ihrem Tod. Schlegel lernte die Gräfin 1818 durch familiäre Beziehungen kennen und spürte sofort eine starke Anziehungskraft. An Dorothea VeitSchlegel, für die er seine Theorie der Liebe entwickelt hatte und mit der er die Bekehrung zum Katholizismus vollzog, aber zu dieser Zeit nicht mehr zusammenlebte, schrieb er: Die Gräfin hat mir sehr gefallen, und ich denke sie viel zu sehen in Wien. […] Sie scheint sich sehr für ihre Kinder aufzuopfern, außerdem aber ihre Seele ganz von der Religion gefüllt zu haben und in dieser zu leben. Du kannst leicht denken, daß ich sie schon nach meiner Art unter die Meinigen zähle: wir wurden sehr schnell bekannt. […] sie sucht und bedarf Männer von Geist […].55
Neben der Gräfin Lesniowska hat Schlegel während seiner Wiener Jahre wenigstens drei weitere Frauen studiert, die hellseherische Fähigkeiten mit nervösen Symptomen aufwiesen und die alle mit längeren magnetischen Kuren behandelt waren.56 Für ihn waren diese Frauen moderne Verkörperungen von mittelalterlichen Mystikerinnen; neben der wiederbelebten Praktik des Magnetismus stellten sie das dar, was Schlegel in den Fragmenten zum Magnetismus die „erste Regung der neuen Zeit“ nannte. Um diese Rolle zu erfüllen brauchten indes alle diese Frauen, mit ihren versagenden aber prophetischen Körpern, „Männer von Geist“. _____________
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Theorie des liebenden Gottes, der sich […] dem sehnenden Ich als das allein befriedigende Objekt zu erkennen gibt und in dem die Einheit, wie auch die Selbständigkeit aller Lebensund Geistesformen allein gesichert ist“. In: „Philosophie in Notizheften. Friedrich Schlegels Lehrjahre – Rechenschaft vor der Nachwelt“. In: Rheinischer Merkur 9/1963, März, Nr. 1, S. 13. Schlegel, KA, Bd. 35, S. xvii. Aus einem Brief an Dorothea vom 28. September 1818, hier in: Schlegel, KA, Bd. 35, S. xvi. Zwei dieser Frauen werden in Schlegels sehr fragmentarischen Notizheften aus dieser Zeit als „Cäcilia P.“ und „Marie A.“ denotiert; siehe hierzu auch die Einführung von Ursula Behler in Schlegel, KA, Bd. 35.
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Die von Schlegel bevorzugte „christliche Magnetotherapie“57 forderte den Gebrauch einer kleinen Holzkiste, die einem Altar glich.58 Magnetische Behandlungen simulierten in mehrerer Hinsicht die christlichen Rituale. Während der Therapie wurde oft die gleiche Sprache und ästhetische Inszenierung von Leid, von Erlösung, von Krankheit und von erotischen Verlangen evoziert, die in der religiösen Praxis der damaligen katholischen Messen häufig vorkamen. Diese Betrachtung der hysterica passio der Kranken als eine Wiederholung der Passio Christi dauerte im 19. Jahrhundert mindestens bis zum Anfang des Symbolismus fort.59 Nach seiner Ankunft in Wien bezog Schlegel ein Zimmer in der gleichen Strasse, in der das Haus der Gräfin lag. Sie half ihm beim Edieren der philosophischen Notizbücher, und schließlich übernahm er die Vormundschaft für ihre zwei Kinder. Als sie 1820 die magnetischen Behandlungen unter der Aufsicht von Dr. Franz Röhrig begann, fühlte sich Schlegel von ihr noch stärker angezogen. Nicht wegen der Möglichkeit, sie zu heilen, sondern wegen der Aussicht, eine spezifisch ästhetisch aufgeladene Erfahrung erleben zu können. Die Tatsache, dass Schlegel den Maler Ludwig Schnorr als den üblichen zweiten Beobachter einlud, bestätigt die Idee, dass Lesniowskas Visionen mit einer künstlerischen Darbietung verwandt waren; ihre Symptome waren da, um erfahren, nicht um geheilt zu werden. Schlegel interessierte gerade die Tatsache, dass die Symptome und letztendlich auch die Gedanken der Gräfin mit dem „Begriffe der Welt“ nicht eins waren. Er fand in diesen Jahren gerade den Zwiespalt zwischen dem Ich und der Welt, der durch psychosomatische Symptome erzeugt und betont wird und zu einem „ewigen Sichselbstabspiegeln“ führt, so anziehend, weil dies durch die Produktion von endlosen Gleichnissen dem „wahren Realismus“ viel näher war als die früheren idealistischen Versuche, das Wesen Gottes durch einen Rückzug aus der Natur und eine Hinwendung zu einer Welt der angeblich unpolitischen Konstruktionen zu erahnen. Die Beobachtung des „magnetischen Schlafes“ der Patientin bot Schlegel folglich die Möglichkeit, eine Parallelwelt zu betreten, in der er das erleben konnte, was Gotthilf Heinrich von Schubert 1818 als „das Eingreifen des künftigen, höheren Daseyns, in das jetzige minder vollkommene“ beschreibt.60 _____________ 57 58 59 60
Schlegel, KA, Bd. 35, S. xxxvii. Scheuerbrandt, Heike, „Die Stimme der Natur. Dietrich Georg Kiesers Auffassung vom tierischen Magnetismus“. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 1999, S. 235. Mazzoni, Cristina, Saint Hysteria: Neurosis, Mysticism, and Gender in European Culture, Ithaca 1996, S. 81. Schubert, Gotthilf Heinrich von, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808, S. 2.
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In dem Tagebuch über Lesniowskas sechsjährige Behandlung verrät Schlegel ein explizites Interesse nur für den Inhalt der gegenwärtigen Visionen der Gräfin. Diese Visionen wurden zum Teil durch die magnetischen Behandlungen, die Schlegel auch „Séancen“ nannte, selbst hervorgebracht. Diese Visionen ereigneten sich jedoch nicht bei jeder Behandlung. Oft fiel Lesniowska in einen Zustand, den ihre Beobachter als „magnetischen Schlaf“ bezeichneten; dies passierte gelegentlich und auch plötzlich zu allen Tageszeiten. Während des Schlafes hatte Lesniowska manchmal Träume, die Schlegel von den hellseherischen Visionen der Behandlungen nicht unterschied. Der Inhalt sowohl der Träume als auch der Visionen war manchmal angenehm, häufiger jedoch beängstigend: Sie erzählte mir einen Traum, [worin] sie ein Paket [bekam], welches ihr auf sehr freundliche {perfide} Art überbracht wurde, als ein Andenken […] Es enthielt ein Säckchen, einen Pinsel, und einen Schwefelfaden; sie sollte das Säckchen nur mit dem Schwefelfaden {anzünden}. Sie that dieß, der Pinsel war mit Pech bestrichen, das Säckchen war voller Pulver. Es geschah ein gewaltiger Knall, als sich dieses entzündete, von dem sie mit Schrecken erwachte.61
Zwei Tage vor diesem Furcht einflößenden Traum einer gewalttätigen Explosion besuchte Lesniowska die Messe. Schlegel berichtet, dass sie dort „[…] jene innerlichen Gebete und Gespräche mit Gott [hatte], wie schon oft, von denen sie nichts wieder erzählen kann“.62 Unaussprechliche Erfahrungen kamen bei magnetisch behandelten Frauen häufig vor, und sie benötigten unweigerlich den Magnetiseur, um ihre „innere Stimme der Natur“ zu artikulieren.63 Schlegel zog anscheinend keine Schlüsse über die Quelle von Lesniowskas Traum oder über den Inhalt ihrer Gespräche mit Gott. Er betrachtete aber beide Ereignisse als Beweis dafür, dass sie über einen Zugang zu einer zugleich reellen und immateriellen Welt „jenseits des Ichs“ verfügte.64 Lesniowskas Träume und Visionen waren zudem für Schlegel moderne Varianten der Hieroglyphen, die ihn seit der Frühromantik faszinierten. In einem Brief an den Bruder August Wilhelm vom 6. Juni 1826 schrieb er: „Ich fühle mich sehr von dieser symbolischen Rätselwelt angezogen, die mit vielen Geheimnissen der Seele und des Geistes in Berührung steht“.65
_____________ 61 62 63 64 65
Schlegel, KA, Bd. 35, S. 101. Schlegel, KA, Bd. 35, S. 101. Scheuerbrandt, Die Stimme der Natur, S. 236. Siehe Behler, Philosophie in Notizheften, S. 13. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, hg. v. Oskar Walzel, Berlin 1890, S. 647.
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In den Behandlungsprotokollen bemühte Schlegel sich gar nicht um die Frage, warum die Gräfin ihre Erinnerungen an Alpträume und Visionen wieder darstellen kann, die Gespräche mit Gott aber nicht. Obwohl Schlegel öfter bemerkt, dass Lesniowska aus der Erinnerung spricht, richten sich seine Beschreibungen oft nur auf die Gegenwart. Die Protokolle verweisen aber schon auf ein allgemeines Verständnis der Psychologen des 19. Jahrhunderts, nämlich dass der Geist die Wahrnehmungen des Körpers lesbar macht. Die Gesundheit oder Krankheit des Körpers wurde von Schlegel und den Strassburger Mesmeristen als zum Teil abhängig von der Fähigkeit des Geistes verstanden, körperliche Wahrnehmungen in kulturell dechiffrierbare Zeichen zu übersetzen. Im Fall der Gräfin stellten die Visionen, die aus dem ‚magnetischen Schlaf‘ entstanden, Erinnerungen von vergangenen Eindrücken in einer zwanghaft wiederholenden Weise dar, die Schlegel als widerwärtig und beängstigend beschreibt.66 Schlegels Tagebuch bietet eine Überfülle von langwierigen Erinnerungen an Lesniowska schlafend, betend, und ihre banalen körperlichen Klagen beschreibend. Alles während sie unter der Beobachtung von drei Männern war, die abwechselnd die Hände auf sie legten und Kirchengeschichte diskutierten. Er schreibt: Von 7-9 schlief sie mehrmale ein […] etwas später trat ein tieferer Schlaf ein […]. als Schn{orr} einen Augenblick ungeduldig und unwillig war, bekam sie einen heftigen Krampf in den Fuß, der jedoch auf mein Gebet sofort aufhörte. […] Sie sagte mir drey bis viermale, daß ich beten sollte […] Sie schlief wieder ein. […] Sie würde in der nächsten Zeit selten schlafen […] Sie schlief Nachmittags über dem Gespräch von dem armenischen Archimandriten und der griechischen Kirche ein.67
Lesniowskas magnetische Behandlungen wurden derart präpariert, einen Trancezustand hervorzubringen, der voherige und oft albtraumartige Visionen oder zusätzliche Wiederholungen der psychosomatischen Symptomen erzeugte. Lesniowskas Visionen und Symptome wurden durchaus als ‚krank‘ betrachtet, doch ist zu bedenken, dass im romantischen Kontext – und nicht nur in Schlegels Spätromantik – sich Krankheit und Gesundheit nicht unbedingt gegenseitig ausschließen. Nach Novalis war die Seele ein „Gift“.68 Eine schöne Seele war eine toxische Seele, und wie in den am Anfang zitierten Fragmenten stellte Novalis Krankheit als notwendige Vorstufe zur Gesundheit bzw. sogar als eine andere Form der Gesundheit, _____________ 66 67 68
Schlegel, KA, Bd. 35, S. 114, u.a. Schlegel, KA, Bd. 35, S. 100-115. Novalis, „Das Allgemeine Brouillon“. In: Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, hg. v. HansJoachim Mähl/Richard Samuel, München 1978, S. 706.
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dar, wodurch die Krankheit zum Heilmittel wurde.69 Für die Romantiker waren „ease and disease […] discomfitingly close; illness is a myopic word for the good health of a spiriting and spirited life.“70 Diese Nähe weist auf das romantische Konzept eines ‚absoluten Geistes‘ hin, der sich in der Natur und in körperlichen Funktionen, ob gesund oder krank, manifestiert.71 Auf diese Weise ähnelt Schlegels späteres Denken seiner Überzeugung der frühromantischen Jahre. Die Frühromantiker fanden die Nähe zwischen Leben und Tod, und zwischen Gesundheit und Krankheit möglicherweise schön und angenehm; und das nicht nur in der Kunst: Novalis liebte die kränkelnde Kindsbraut Sophie „fast mehr ihrer Krankheit wegen“.72 Schlegel besuchte Sophie kurz vor ihrem Tod und fand sie „sehr schön und sehr anziehend“;73 Goethe schaute auch bei ihr zuhause vorbei und beschrieb Sophies intensive Schmerzen als ein Zeichen von „gesundem Fleisch“.74 Ab 1820 brachte Schlegel die frühromantische Philosophie der Nähe zwischen Wohlbefinden und Unwohlsein zu einem logischen Schluss, als er an ‚Kuren‘ mitwirkte, die Patientinnen in einem schlafwandlerischen, halluzinatorischen Nebel erstarren ließen. Es war gerade die Krankheit der Gräfin, die für Schlegel den Weg zur Offenbarung öffnete. Nur von den „innerlichen Gebete[n] und Gespräche[n] mit Gott“, die Lesniowska öfter während der Behandlungen zu tun pflegte (also während des Herauslockens von psychosomatischen Symptomen), konnte sie selbst „nichts wieder erzählen“.75 Das magische Wissen, dass der psychosomatisch kranke Körper unmittelbar speicherte, entzog sich der Vermittlung, der Wiederrepräsentation und blieb „in sich geschlossen“, eine letztendlich hermetisch abgeschlossene Welt. Lesniowska befolgte Schlegels Rat und trat kurz vor ihrem Tod in ein Kloster ein, wo sie sich ganz dem „Seelengeschäft“ (in Schlegels Worten) widmen konnte. Obwohl es verlockend ist, Lesniowska und ihre willige Teilnahme an den jahrelang sich wiederholenden magnetischen Behandlungen als neurotisch zu diagnostizieren, erhellt Schlegels Tagebuch auch die psychoanalytische Literatur zu diesem Thema. 1907 beschreibt Freud besessene Pati_____________ 69
70 71 72 73 74 75
Diese Auffassung wird wiederum durch den schottischen Arzt John Brown und seine absichtsvolle Verwischung der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit hauptsächlich in der Elementa medicinae von 1780 beeinflusst. Krell, David Farrell, Contagion: Sexuality, Disease, and Death in German Idealism and Romanticism, Bloomington 1998, S. 66. Krell, Contagion, S. 67. Novalis, Schriften, Bd. 4, S. 156. Hier in: Preitz, Max, Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft in ihren Briefen, Darmstadt 1957, S. 29. Novalis, Schriften, Bd. 4, S. 159. Schlegel, KA, Bd. 35, S. 101.
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enten, die sich zu der Ausführung von Ritualen gezwungen fühlen, die die Form der „neurotischen Zeremonien“ annehmen und die religiösen Handlungen ähneln in „der Gewissensangst bei der Unterlassung, in der vollen Isolierung von allem anderen Tun […] und in der Gewissenhaftigkeit der Ausführung im kleinen“.76 Im Gegensatz zu religiösen Ritualen finden die neurotischen Zeremonien nur in der Privatsphäre statt und unterscheiden sich von Individuum zu Individuum: „die kleinen Zutaten des religiösen Zeremoniells [sind] sinnvoll und symbolisch gemeint […], während die des neurotischen läppisch und sinnlos erscheinen. Die Zwangsneurose liefert hier ein halb komisches, halb trauriges Zerrbild einer Privatreligion“.77 Lesniowskas Behandlungen, die in ihrem Haus stattfanden, der aber auch drei Männer beiwohnten, und die zugleich esoterisch und symbolisch waren, schweben in einer Grenzzone zwischen religiösem Ritual (Novalis: „gemeinschaftlichem Wahnsinn“) und neurotischer Zeremonie. Lesniowska litt zweifellos an einer Art psychophysischem Elend, das auch mit Hilfe der Psychoanalyse verstanden werden könnte. Und in der Tat war der Magnetismus wissenschaftsgeschichtlich gesehen ein Vorgänger der hypnotischen Praktiken des späteren 19. Jahrhunderts, die die erste Phase von Freuds Karriere stark beinflussten.78 Schlegels Fixierung auf die Zukunft aber, ob bei der Konstruktion einer Vision der Weltgeschichte oder in der Hinwendung zu hellseherischen Frauen, betont einen signifikanten Unterschied zwischen der romantischen Psychologie und der Freudschen Psychoanalyse. Die psychosomatischen Symptome, die Freud wohl als Zeichen einer wiederkehrenden und daher unvollständig verarbeiteten Vergangenheit gedeutet hätte, las Schlegel als Beweise für eine hellsichtige Begabung, als Zeichen einer sich offenbarenden und daher unvollständig (noch-nicht) realisierten Zukunft. Dieselben gestörten mentalen Zustände, die seit Freud als Beleg für die Unfähigkeit, Vergangenes in die gegenwärtige Wirklichkeit zu integrieren, gelesen werden, d. h. als Indiz für melancholische Sehnsucht, wurden von Schlegel als eine außergewöhnliche, aber vollkommen natürliche Macht verstanden, um die Zukunft vorherzusehen. Ob wir die Träume der Gräfin als Aussagen über Vergangenheit oder Zukunft lesen wollen, stets haben wir dabei zu bedenken, dass wir nur Schlegels Bericht von Behandlungen haben, genauer: seine auf spezifische Weise modellierte Darstellung der Fallgeschichte, die einen medizinisch_____________ 76 77 78
Freud, Sigmund, Gesammelte Werke, Bd. 7, hg. v. Anna Freud, Frankfurt/M. 1999, S. 131. Freud, Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 132. Zu dieser Geschichte siehe z. B. Ellenberger, Henri F., The Discovery of the Unconscious: The History and Evolution of Dynamic Psychiatry, New York 1970.
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religiösen Grenz-Fall evident vorstellt, der von wenigstens zwei der Beobachter als ein eigenartig ästhetisch aufgeladener Zustand gedeutet wurde. Schlegels Wiedererzählung der Symptome und der Behandlungen stellen gewissermaßen ein „Krankheitstheater“ dar.79 Seine unablässig wiederholende Re-Präsentation von Lesniowskas Erfahrungen ästhetisieren ihre Krankheit. Obwohl Lesniowska Schlegel zum Teil eine Reflexion der Zukunft ermöglichte, steht sie für ihn realiter im Zentrum einer soliden Poetik der Gegenwärtigkeit. Für Schlegel ermöglichte die Psychosomatik eine Art Unsterblichkeit, d. h. eine Existenz in einer ewigen (oder wenigstens einer sechsjährigen, beinah tagtäglichen) Gegenwart von Visionen und Prophezeiungen. Diese Existenz ist zugleich von einer Dissoziierung zwischen Präsenz und Abwesenheit, Selbstinvolvierung und Selbstdistanz charakterisiert, auch wenn dadurch keine Heilung erfolgt. Psychosomata, oder extrem erregte seelische Zustände, die der Körper ausdrückt, für die es jedoch keine deutliche körperliche Ursache gibt, sind für wenigstens eine Art der ‚romantischen‘ Körper exemplarisch, aber auch für eine Variante der romantischen Lesart dieser Körper. Durch die romantische Psychologie wird die Beobachtung selbst gewissermaßen ‚romantisiert‘. Die ebenso große Faszination im 19. Jahrhundert für deutlich rein physische und ansteckende Krankheiten (vor allem nach den verheerenden Epidemien ab 1830) hat auch die politische und soziale Historiographie stark beeinflusst.80 Schlegels Rezeption der Fakultätspsychologie ersetzt aber nicht nur die Suche nach einer körperlichen Ursache der psychophysischen Symptome (die für Moritz immer noch interessant war) durch die ästhetische Deutung, sie stellt nicht nur die historische Vergangenheit an die Stelle einer vagen Zukunftsvision, sondern ersetzt die ganze seelisch-körperliche Wechselbeziehung – wie auch das eigene frührromantische System von Wechselwirkungen – durch die letztendlich _____________ 79
80
Alan Radley gebraucht den Ausdruck „performance of illness“ in: „The Aesthetics of Illness: Narrative, Horror, and the Sublime“. In: Sociology of Health and Illness 21/1999, Nr. 6, S. 780. Radley behauptet: „we find the aesthetic where we least expect to find it – grounded in matters reported as horrific by the sick and feared by the healthy“; allerdings war der Knotenpunkt von Krankheit und Ästhetik für die Romantiker, wie oben dargelegt, weder unerwartet noch unlogisch. Siehe auch Daniela Watzkes Beschreibung der Praxis und Funktion des Psychodramas in der Geschichte der Psychiatrie: Watzke, „Hirnanatomische Grundlagen“. In: Steigerwald/Watzke (Hg.), Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit, S. 262-265. Allan Conrad Christensen fasst den Einfluss des ‚contagion model‘ für die Historiographie schön zusammen; er beschreibt auch die unter Historikern verbreitete Überzeugung, dass die Unfähigkeit des Wiener Kongresses, politische Stabilität zu sichern, zu diesem Muster stark beigetragen hat. Siehe Nineteenth-Century Narratives of Contagion: „Our feverish contact“, London 2005, vor allem Kapitel 1: „History as Contagion“, S. 1-33.
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statische Figur des Hellsehens, die sowohl die Krankheit als auch die melancholische Einstellung prolongiert. In dieser romantischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, die hier skizziert wurde, gibt es kein Ich und kein Du mehr, sondern nur noch ein Ich, das Du ist. Vor allem die psychosomatisch kranke Patientin fungiert nicht als Andere, sondern als veräußerlichtes Ich und bringt die Zeit zum Stillstand. Obwohl das alles in seiner Extremform zwar nur im Schreiben des späten und esoterischen Friedrich Schlegel zu betrachten ist, sind die Verbindungen zwischen der Fakultätenpsychologie des 18. Jahrhunderts und dem tierischen Magnetismus nicht oberflächlich. Schlegels Faszination vom Magnetismus als Weltmodell und vom Körper der psychosomatisch kranken Patientin als Botschafterin einer neuen schönen Weltordnung hat ihre Wurzel in der allgemeinen Wiederbelebung des Magnetismus in den 1820er Jahren (diesmal aber eher als soziale Mode statt klinischer Praxis) und leitet sich auch wohl von der Thematik mancher Werke der zeitgenössischen Literatur ab. Diese Fixierung kann aber auch als eine überraschend logische Folge der empirischen Psychologie gelesen werden. In der manchmal sogar monströsen Präzision der Beobachtung und durch die Figur der Wiederholung wird jedoch ein Zukunftsdenken produziert, ein Denken, das einen Aspekt der Romantik repräsentiert und das immer noch Spuren hinterlässt. Bevor Schlegel sich mit der Gräfin, dem Maler und dem Magnetiseur traf und die sich wiederholenden psychosomatisch bedingten Fieberträume einer kranken Frau protokollierte, begann eine andere romantische Geschichte, die der Gegenbewegungen gegen die eher statischen und unheimlich sich wiederholenden Formen der späten und bizarrkatholischen Romantik. Diese Geschichte war vollkommen ästhetisch durchdrungen, wurden aber statt in eine unsterbliche Unlesbarkeit in eine sehr lesbare Sterblichkeit hinein geschrieben. Novalis’ Gebrauch von Wechselwirkungen und seine ermächtigende Vision einer idealen, aber nicht nur gesunden, nicht immer schönen Seele-Körper-Beziehung, fügten sich passgenau zu Schlegels eigenen früheren Aussagen über die Liebe, als ein zugleich körperliches und geistliches Phänomen.81 Bis 1820 wurde diese Auffassung durch eine neue Retrogression ersetzt – durch eine Rückkehr, die von dem Denken über die Zukunft abhängig war. _____________ 81
Liliane Weissberg etwa versteht Schlegels Liebesbegriff als Kritik der Idee, dass „die körperliche Liebe einer platonischen, wahren Liebe zur verständnisvollen Freundin widersprach. Sinnlichkeit stand bei Schlegel nicht einer geistigen Liebe gegenüber, sondern bildete eine Einheit mit ihr“. In: Florentin. Roman – Fragmente – Varianten, hg. v. Liliane Weissberg, Frankfurt/M. 1986, S. 229.
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Den psychosomatisch kranken Körpern dieser romantischen Subjekte, mit ihren sich unendlich wiederholenden Symptomen ist nicht nur die ursprünglich romantische Bewegung des ‚Immer Werdens‘ abhanden gekommen, sondern auch das Moment der Antizipation, die Spannung auf eine Zukunft, die nicht vorhergesagt werden kann. Etliche Jahre früher, aber ganz anders, entfaltete Friedrich Schelling seine unvollendete Theorie der Geschichte, die für die spätere Tiefenpsychologie und für die Entwicklung psychoanalytischer Sichtweisen von Bedeutung war. Solches Denken ermöglichte zum Teil Freuds produktive Transformation der zwanghaften Wiederholung der romantischen Psychologie in ein progressives Modell, in dem die Wiederholung die Einsicht liefert.82 Schellings Verständnis des historisch verorteten modernen Subjekts und sein Versuch, das Problem der Freiheit zu lösen, verankern das Subjekt noch fester in der eigenen Geschichtlichkeit. In dem Weltalter wird die Vergangenheit nur durch die „kräftige, durch Scheidung von sich selbst entstandene, Gegenwart […] eigentlich“ und spürbar.83 Schelling schlägt somit einen ganz anderen, aber durchaus romantischen Bogen in der Geschichte der Psychologie. Ein Impuls in dieser Richtung ist in der Erfahrungsseelenkunde von Moritz schon erkennbar, wenn der Beobachtete sich z. B. selbst beobachtet und im Moment der Dissoziierung den Körper durch eine kräftige Anstrengung des Geistes letztendlich an Novalis’ Vision eines „vollständigen, sicheren und genauen Gefühl [des] Körpers“ annähert. Ein derartiges Gefühl, dass „sich blos durch [den] Willen“ ergibt, wie in dem Fall von Herrn Fischer, der erst nach der wiederholten Erfahrungen von Lähmungen lernt, die ungefährliche Natur dieser Attacken zu erkennen und die eigene Angst zu besiegen. Während Moritz aber hinter den Fallstudien des Magazins selbst fast verschwindet, ist Schlegel in seinen Beschreibungen sehr gegenwärtig. Zusammen mit der Gräfin existiert er in einem merkwürdigen Echoraum, _____________ 82
83
Der Unterschied, den ich hier aufzustellen versuche zwischen der reziproken, produktiven und der unproduktiven Wiederholung (die Schlegel selbst in der oben zitierten Stelle als eine „unendliche Reihe von Spiegelbildern“ beschreibt, Schlegel, KA, Bd. 12, S. 351) wird mit Hilfe von Samuel Webers Gedanken zur Funktion der „produktiven“ Wiederholung für die Psychologie näher erklärt. Weber weist darauf hin, dass die Wiederholung zur Grundlage für Freuds Philosophie der „Bindung“ zwischen Selbst und Anderen (die durchaus erotischer Natur ist) gehört: „in order to conceptualize the notion of binding, Freud cannot avoid resorting to that of repetition: as a temporal process, binding is inconceivable except as a form of repetition“, in: The Legend of Freud, Stanford 2000, S. 122-123. Weber zufolge wird Freud durch die Figur der Wiederholung dazu gezwungen, eine Wechselwirkung zwischen Liebe und Verlust und zwischen dem Lustprinzip und dem Todestrieb anzuerkennen. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von, Die Weltalter. Fragmente, hg. v. Manfred Schröter, München 1979, S. 11.
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in dem beide mit sich statt miteinander reden. Bei ihr lag das ganz deutlich an der Krankheit, bei ihm an dem Gefangensein (in den späten Jahren) in einer starren Variante der Metaphysik, die er schwarz-weiss malend von der ‚romantischen‘ Variante der Liebe getrennt hatte. Die asketische aber im Grunde genommen vollkommen sexuell durchdrungene Beziehung zur Gräfin ist ein Beispiel dieser misslungenen Trennung. In Wirklichkeit aber waren diese zwei Visionen der Romantik, die eher Byronisch-romantische (also die empirische Romantik der romantischen Liebe) und die metaphysische, immer fest verflochten. Der frühere Schlegel (z.B. in Lucinde, aber auch in den Fragmenten zur Liebe84) hatte das besser als der Spätere erkannt. Freud respektierte und integrierte sowohl diese unterschiedlichen Elemente der Beziehung zwischen Therapeut und Patientin als auch die unterschiedlichen Geschichten der Romantik, als er den Übergang von der Hypnose zur Psychoanalyse vollzog. Bei der Entwicklung der Praxis des therapeutischen Gesprächs (‚talking cure‘) bewegte sich Freud von der Beobachtung (die in der Medizin des 19. Jahrhunderts allgegenwärtig war und nicht nur in den berühmten Bildern aus Charcots Praxis) zum Zuhören, obwohl beide Praktiken in gewissem Sinn eine Art ‚Lesen‘ implizieren. Freud erkannte, dass die Patientin nicht nur reden, sondern auch gehört werden musste, auch wenn die Gefühle dem Therapeuten gegenüber nicht angenehm waren. Er arbeitete also sowohl mit dem Erbe Schellings wie auch mit der Geschichte der hier skizzierten romantischen Vorgehensweisen und der Psychologie der Aufklärung. Dadurch kam er, bei aller Kritik, einen Schritt weiter, oder auch zurück, zu der Ahnung der zukünftigen Möglichkeit, wenn jeder Einzelne durch Teilnahme an einem symphilosophisch-zuhörenden Kollektiv ‚sein eigener Arzt‘ sein wird.
_____________ 84
Ein dialogfreundlicherer Schlegel schrieb: „Ist alles außer uns kein bloßes Nicht-Ich, sondern ein lebendiges, gegenwirkendes Du, so kann jeder Gegenstand nur die Hülle eines Geistes sein. Jeder muß einen inneren Sinn haben, dieser muß überall wahrgenommen werden, wenn wir den Gegenstand nur recht verstehen. Der Sinn leuchtet unmittelbar ein, das Du spricht in dem Augenblicke, wo das Wesen in seinem Ganzen vom Ich verstanden wird, spricht es an und offenbart ihm das Wesen seines Daseins. […] Und sofern wir dies Wahrnehmen und Ergreifen des Ichs des Gegenstandes, diese Vermählung des wahrnehmenden Ichs und des wahrgenommenen Geistes sehr gut Liebe nennen, können wir den Satz aufstellen, ohne Liebe kein Sinn, der Sinn, das Verstehen beruht auf der Liebe“, in: Schlegel, KA, Bd. 12, S. 350-351.
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Liebe. Anmerkungen zur Wissenschaftstheorie Friedrich Schlegels CHRISTIAN SINN In der Einsicht, daß die Komplikationen der Liebesbeziehung daher rühren, daß es sich das geliebte Wesen unaufhörlich auf die eine oder andere Weise aneignen will, faßt das Subjekt den Entschluß, fortan auf jedes ‚Habenwollen‘ zu verzichten.1
Liebe als wissenschaftstheoretischer Grundbegriff? Liebe ist unverständlich, weiß nicht zu reden, stolpert in Fragmenten daher und wird dennoch gerade hierdurch zur Wissenschaft ihrer selbst: Die Natur zeugt, der Geist macht [...] Die Liebe ist der Endzweck der Weltgeschichte – das Unum des Universums [...] Wir sind selbst ein sichtbar gewordener Keim der Liebe zwischen Natur und Geist oder Kunst. [...] Theorie der Liebe ist die höchste W[issenschaft] - die NaturWissenschaft – oder WissenschaftNatur – Philielogia (oder auch Philologie) [...] Die Encyclopädistik hat viel Verwandtschaft mit der Philologie.2
Führt solche aus stammelnder Liebe entsprungene Philologie bei Ludwig Tieck zur These, der schwäbische Minnesang sei bestimmt durch eine Sehnsucht, die Laute, die in der Sprache einzeln und unverbunden stehn, näher zu bringen, damit sie ihre Verwandtschaft erkennen, und sich gleichsam in Liebe vermählen.3
So verwandelt sich Liebe, die im Augenblick erfahrene, flüchtige, in Friedrich Schlegels an Dorothea Veit gerichteten und im Athenäum veröffentlichten Brief Über die Philosophie von 1799, in die einigermaßen stabilen _____________ 1 2
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Barthes, Roland, Fragmente einer Sprache der Liebe, übersetzt von Hans-Horst Henschen, Frankfurt/M. 1988 [1977], S. 121. Novalis, Das Allgemeine Brouillon. Materialen zur Enzyklopädistik 1798/99, hg. v. HansJoachim Mähl, Hamburg 1993, S. 248, 254, 525 [Nr. 49, 50, 79, 287]. Tieck, Ludwig, Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter, Berlin 1803, S. XIV (ND Hildesheim 1966).
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Formen von Kunst und Wissenschaft. Solche Wissenschaftsliebe,4 durch deren Beschwörung sich, wenn auch nicht alle privaten Schwierigkeiten, so doch die fundamentalen Probleme des Erkennens lösen lassen sollen, scheint bei Schlegel geradezu zum Mantra zu werden. Denn erst einmal vertraut geworden mit der Idee der Liebe als Universalschlüssel der Wissenschaften wird diese zum festen Bestandteil von Schlegels Wissenschaftstheorie. Entscheidend ist jedoch, dass Schlegel das metaphysische Konzept Liebe tatsächlich anzuwenden versucht und darum auch nach 1799 nicht mehr seiner einst erhobenen übertriebenen Forderung nach Popularität huldigt: Die das Athenäum programmatisch beendende Rede über die Unverständlichkeit folgt nicht mehr jenen aus der Aufklärung übernommenen Kriterien der Verständlichkeit und Popularität, mit denen Schlegel zuvor noch eine bessere Darstellung der Philosophie Immanuel Kants forderte, besonders im Periodenbau und in Rücksicht der Episoden und Wiederholungen: so müßten sie so verständlich dadurch werden können, wie etwa Lessings.5
Doch eben weil Schlegel die Liebe als Grund der Transzendentalphilosophie ernst nimmt, stellt sich ihm in seiner Poetologie des Wissens,6 die nach den Verhältnissen zwischen Philosophie und ihren literarischen Darstellungsformen fragt, ein kaum lösbares Problem: Schlegel tritt in einem bewusst unpopulären und unklaren Stil das Erbe Kants an, da Popularität und Klarheit, für die Fichte rühmend angeführt wird,7 inkompatibel mit der Unverständlichkeit der Liebe sind. Dies sollte gängige philosophische Kritik an der Romantik irritieren. Denn hätte Schlegel sein Paradox nicht gewagt, über die Idee der Liebe als Schlüssel zum Universum unverständlich zu reden, obwohl Unverständlichkeit doch desorientiert und mithin Liebe, was sie nun auch sein mag, unerkennbar werden lässt, er wäre zu einem unglaubwürdigen Apostel jener Allgemeinen Methodenlehre geworden, die ich selbst einmal etwas voreilig gegenüber philosophischen Machtsprüchen zu verteidigen versucht habe.8 Der folgende Beitrag unterstreicht zwar nach wie vor die _____________ 4
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Schlegel, Friedrich, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jaques Anstett/Hans Eichner und anderen Fachgelehrten. 35 Bde. Paderborn/München/Wien/Zürich 1958 f. Bd. II, S. 69. - Im Folgenden zitiert als: KFSA (Bd: S.). KFSA (VIII: S. 57). Vogl, Joseph, „Einleitung“. In: Ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7-16, bes. S. 13. KFSA (VIII: S. 57). „,[...] diese Wissenschaft ist noch nicht vorhanden.‘ Der wissenschaftsästhetische Entwurf einer Allgemeinen Methodenlehre an der Wende zum 19. Jahrhundert als Grundlage romantischer Textproduktion.“. In Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 16/2004, S. 27-56.
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Bedeutung der romantischen Wissenschaftstheorie, versucht diese jedoch zu präzisieren und kommt damit selbst ins Stolpern wie die Liebe: Denn wenn Liebe eine wirklich heuristisch fruchtbare Idee im Sinne der alten rhetorischen copia sein sollte, dann impliziert dies von vornherein ihre Unverständlichkeit als Bedingung von Kommunikation. Liebe kann nur dort zu einer sicheren und dauerhaften Leitinstanz unseres Denkens, Fühlens und Glaubens werden, wo sie gerade nicht mehr alles verspricht und auch nicht mehr jener grandiosen wie gefährlichen Rhetorik der Liebe folgt, der viele romantische Texte verpflichtet sind.9 Nun verstehen wir zwar durch die Liebe weder die Relativitätstheorie noch Darwin, sie hilft uns auch nicht, die Erkenntnisse der komplizierten Neurowissenschaften zu verstehen, noch ersetzt uns Liebe die neuesten Therapien, wenn der Krebs die Geliebte tödlich bedroht, und sie erklärt uns erst recht nicht, wie es nun mit den Proteinen des Aidsvirus und seiner Reduplikation beschaffen sein mag. Sie kann uns nicht Alles, vielleicht noch nicht einmal das für die Wissenschaften Wichtige, aber sie kann uns immerhin einiges erklären, z.B. wenn wir Schlegels bewusst esoterisch gehaltener Rede über die Unverständlichkeit ein rationales Fundament unterstellen und ihn nicht wie einige Philosophen generell des Irrationalismus bezichtigen: Liebe ist in diesem Sinne gebraucht schlicht jenes principle of charity, ohne das es auch im Alltag keine Kommunikation gäbe. Solche hermeneutische Benevolenz voraussetzend, vertrete ich im folgenden die These vom Nutzen mehrwertloser Liebe gegenüber der anderen These von der Nützlichkeit rekursiver Verfahren in meiner ersten Lektüre Schlegels. Mit dieser Revision wage ich mich allerdings sehr weit aus dem philosophischen Fenster hinaus, denn Liebe ist kein zwingendes Konzept der Philosophie, denn diese setzt, wo immer möglich, auf den Beweis.
Der rationale Grund von ‚Liebe‘: Die Unmöglichkeit einer Letztbegründung Andererseits aber ist Liebe ganz sicher der begriffliche Kern der Romantik, um den sich auch ihre wissenschaftstheoretischen Anstrengungen
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Vgl. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 85-86, S. 85: „Es genügt, daß ich den Anderen blitzartig als eine Art träges, gleichsam ausgestopftes Objekt wahrnehme, um meine Begierde nach diesem entwerteten Objekt wieder auf meine Begierde selbst zurückzuführen; es ist mein Verlangen, das ich verlange, und das geliebte Wesen ist nicht mehr als ein Helfershelfer.“
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herum anlagern, ein Erwartungsbegriff10 oder auch nur ein Bluff, wie auch immer: Die romantische Wissenschaftstheorie lässt sich nicht, wie ich zunächst meinte, auf die von mir rekonstruieren Techniken und rhetorischen Strategien verkürzen. Diese sind zwar notwendige Bedingungen einer Theorie, die das Wissenschaftssystem ihrer Zeit an seine Umweltbedingungen anzupassen versucht. Liebe aber ist erst die hinreichende Bedingung dieser Theorie und ihr Begriff grenzt nicht nur die romantische Auffassung von Wissenschaft gegenüber anderen Wissenschaftsbegriffen ab, sondern weist auf den eigentümlichen Geltungsanspruch romantischer Wissenschaftstheorie hin: Will man ihn verstehen, so sollte man die Fragmente und Polemiken der Romantiker weniger in theoretischer Perspektive beachten, sondern als soziale Diskurspraxis wahrnehmen, die Missverständnisse medial bewusst inszeniert,11 damit Kommunikation nicht nur in Gang bringt, sondern Kommunikationen kommuniziert. Die hierdurch bedingte spezifische Textualität fordert an Stelle von als real ausgegebenen Begriffen der Philosophie nunmehr Medienkompetenzen ein,12 denn Fragmented texts such as Das Allgemeine Brouillon cannot reach encyclopedic completion, and the Athenäum does not fulfill its partially articulated, half-finished projects – not merely because a "golden age" cannot really happen, but because of the temporal implosion on the textual level that such a satisfaction of the "will to System" would have to entail.13
Diese medientheoretisch wie mediengeschichtlich interessante, weil unwahrscheinliche Praxis,14 die ihrerseits nichts dem Zufall überlassen wollte, und doch den Zufall ins Spiel ihrer literarischen Steuerungsexperimente brachte,15 im Spiel der Liebe mit sich selbst aber Kontingenz als deren _____________ 10
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Vgl. Koselleck, Reinhart, „Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte“. In: Carsten Dutt (Hg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003, S. 3-16, bes. S. 9. Verwirrspiele, die auch über das Medium Körper inszeniert werden, vgl. Blamberger, Günter, „Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der europäischen Moralistik“. In: Kleist-Jahrbuch 1999, S. 27-40. Zu dieser Unterscheidung: Norbert Bolz, „Wirklichkeit ohne Gewähr“. In: Der Spiegel 26/2000, S. 130 f. Johnson, Laurie Ruth, The Art of Recollection in Jena Romanticism. Memory, History, Fiction, and Fragmentation in Texts by Friedrich Schlegel and Novalis, Tübingen 2002, S. 29. Wenn man nämlich Medientechniken mit kultureller Evolution korreliert oder gar gleichsetzt, vgl. Schmidt, Siegfried J., „Modernisierung, Kontingenz Medien: Hybride Beobachtungen“. In: Gianni Vattimo/Wolfgang Welsch (Hgg.), Medien – Welten – Wirklichkeiten, München 1998, S. 179-183. So wird z.B. die philosophische Negation des Zufalls bei Schlegel z.B. in KFSA (I: S. 256) durch seine inszenierte Schreibkontingenz in Lucinde unterlaufen, vgl. Erich Kleinschmidt, Fällige Zufälle. Spiele der (Un)Ordnung in der Literatur um 1800. In: Torsten Hahn/Erich Klein-
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Möglichkeitsbedingung anerkannte,16 steht nun im engsten Kontakt mit der konstruktivistischen Philosophie ihrer Zeit. Schlegel ersetzt deshalb auch nicht schlicht die philosophische Arbeit durch Kommunikationsinszenierungen, vielmehr zeigt er durch solche Inszenierungen, worin die Arbeit des Philosophen besteht: Es kann dieses nemlich so verstanden werden, als hielte ich die Wissenschaftslehre zum Beispiel auch nur für eine Tendenz, für einen vorläufigen Versuch wie Kants Kritik der reinen Vernunft, den ich selbst etwa besser auszuführen und endlich zu beendigen gesonnen sei, oder als wollte ich, um es in der Kunstsprache, welche für diese Vorstellungsart die gewöhnliche und auch die schicklichste ist, zu sagen, mich auf Fichtes Schultern stellen, wie dieser auf Reinholds Schultern, Reinhold auf Kants Schultern, dieser auf Leibnizens Schultern steht, und so ins Unendliche fort bis zur ursprünglichen Schulter. – Ich wußte das recht gut, aber ich dachte, ich wollte es doch einmal versuchen, ob mir wohl jemand einen solchen schlechten Gedanken andichten werde.17
Man muss tatsächlich extrem malevolent sein, um Schlegel zu unterstellen, er habe Fichte überbieten wollen; ganz im Gegenteil richtet er sich ja gegen eine Vorstellung von Philosophie als Progress. Deutlicher als der Philosoph Fichte markiert er jedoch mit der Schultermetaphorik ein Dilemma der Philosophie, in Schwierigkeiten mit Letztbegründungen zu geraten, eben wenn man Philosophie als Progress versteht. Wenn ich nun aber behaupte, dass Schlegel wenigstens in diesem Punkt der Progresskritik recht hat, dann lohnt es sich freilich auch kaum, über seine Auseinandersetzung mit Fichte, ja nur über ihn selbst nachzudenken, da man ja nach seinem eigenen Argument niemals bis zur letzten Schulter, die uns alle trägt, gelangt: Die philosophische Arbeit ist ihrem Wesen nach unvollständig und kann immer nur in der eigenen Gegenwart partial gelingen. Von ihr aus müsste man sich alle Philosophen, wie ,klein‘ oder ‚groß‘ sie sein mögen, nicht vertikal aufeinanderstehend, sondern horizontal auf einer Ebene vorstellen, indem sie versuchten, mit vereinten Schulterkräften langfristig etwas zur Verbesserung in der Erziehung des Menschengeschlechtes beizutragen. Doch auch dieses Bild stimmt nicht, denn es setzt einen sicheren Grund für jene starken Männer voraus, den es schlicht nicht gibt, denn er wandelt sich schneller als die Philosophen, die auf ihm zu stehen meinen.
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schmidt/Nicolas Pethes (Hgg.), Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment (1750-1830), Würzburg 2004, S. 147-166, bes. S. 151-153. Landfester, Ulrike, „Von der Liebe zur Konsenshalluzination. Virtuelle Passionen zwischen Brief und Cybersex“. In: Udo Thiedecke (Hg.), Soziologie des Cyberspace. Medien, Strukturen und Semantiken, Wiesbaden 2004, S. 215-239, bes. S. 230. KFSA (II: S. 366 f.).
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Es gibt zwar Möglichkeiten, dieses Dilemma der Letztbegründung zu vermeiden, indem man etwa Philosophie nicht als Arbeit definiert, sondern in Philosophiegeschichte verwandelt, oder auch nur, indem man mit Philosophemen dekonstruktivistisch spielt. Aber wenn man Schlegel benevolent zu lesen und ernst zu nehmen versucht, dann gibt es diese Auswege nicht. Wenn Schlegel Philosophie zwar nicht als Progress, aber darum eben als Arbeit versteht, dann mag diese Arbeit mit Methodologie wenig zu tun haben, sie hat jedoch methodologisch Konsequenzen, wie ich im folgenden durch Umwege über Indien weiter plausibel zu machen versuche, um dann mit meiner Leserin, hoffentlich etwas klüger geworden, wieder zu jenem Begriff alteuropäischer Liebe zurückzufinden, von dem ich mit Novalis zu Anfang ausgegangen war.
Erstes Folgeproblem: Die romantische Wissenschaftstheorie ist subjektivistisch (Fichte) Unverständlich ist die Rede des Gutdenkenden, der darum unverstanden bleibt: Nicht den Heißen erfreut, sich in kühlender Flut baden, Perlenketten nicht, Schönduftendes Sandelholz auch nicht also, zu erlaben den Körper, Als voll Liebe die Rede des Gutdenkenden Lust innen uns schafft im Geist; Es zieht Freundes Umgebung und weises Gespräch uns an wie mit Zauberkraft.18
In diesem 1807 aus dem Indischen übersetzten Spruch findet sich Schlegels Philosophie selbst in einer ihrer dichtesten Formulierungen. Mit dem indischen Spruch ist zugleich eine inhaltliche Norm gegeben, die textuell häufig in Schlegels Studien zur Theologie und Philosophie auftaucht; so wird in den Philosophischen Lehrjahren Gott als Ozean von Geist und Liebe und unendliche Fülle der Phantasie bestimmt19 und die Fähigkeit des Menschen zur Liebe mit seiner philosophischen Kompetenz gleichgesetzt.20 Diese Norm ist aber auch für den Philologen wichtig, da die Idee der Liebe einerseits unauflöslich mit dem Problem ihrer Darstellung verbunden ist, andererseits aber ist die Hauptursache für das theoretische Durcheinander bei _____________ 18 19 20
(KFSA VIII: S. 437) (KFSA XVIII: S. 317) Die folgenden Ausführungen verdanken sich v.a. folgendem, meine Erkenntnis fördernden Beitrag: Behler, Ernst, „Die Konzeption der Individualität in der Frühromantik“. In: Thomas Sören Hoffmann/Stefan Majetschak (Hgg.), Denken der Individualität. Fs. für Josef Simon zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 1995, S. 122-150.
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Schlegel, dass er die Liebe als jenes Chaos und System21 definiert, das sich, wenn überhaupt, tatsächlich an einer bestimmten kultursemiotischen Form, nämlich der indischen Literatur beobachten lässt. Nicht erst Schlegels Rückblick auf die Sprache und Weisheit der Indier, sondern bereits die Kombination von Essayismus und Enzyklopädistik22 in Novalis’ Das Allgemeine Brouillon von 1798/99 markierte deutlich, dass Liebe nicht nur eine Idee ist, die in den Köpfen und mehr noch in den Herzen von Individuen wie ein Geist oder Gespenst haust, sondern dass umgekehrt erst von der Liebe her gesehen Kants kritische Philosophie ihren produktiven Sinn erhält. Die Methode des Kritizismus nämlich, so Novalis, läßt uns die Natur als ein menschliches Wesen ahnden – Sie zeigt, dass wir alles so verstehen können und sollen wie wir uns selbst und unsere Geliebten, uns und euch verstehn.23
Und aus dieser Auffassung von Liebe folgt die Kritik des Kritizismus noch bei Schlegel: Erkennen und Verstehen heißt dann nämlich nicht mehr ein System von Regeln aufzustellen, das jedem, der Kants und Fichtes Algorithmen folgt, Erkennen und Verstehen ermöglicht. Vielmehr ist das, was im obigen Novaliszitat als extreme Verkürzung Kants auf einen Subjektivismus missverstanden werden könnte, gerade die Kritik an der Kombination eines solchen Subjektivismus mit dem scheinbar objektiven Formalismus der Kategorientafeln Kants oder den deduktiven Verfahren Fichtes, weil Erkennendes und Erkanntes in der Relation der Liebe stehen, oder noch präziser: die Relation von Erkennendem und Erkanntem ist eben die Liebe selbst, die als metaphilosophischer Begriff wiederum nicht ihrerseits auf den Begriff gebracht werden kann.24 Freilich liegt diesem relationalen Denken in der Romantik oft eine nicht immer explizierte Christologie zugrunde: Da, so könnte man etwa Novalis ergänzen, uns Gott erkennt, sein Erkennen aber in Christus nicht nur schöpferisch und erkennend, sondern menschlich geworden ist, sind wir als Erkannte Teil dieser sich auf die ganze weitere Natur fortpflanzen_____________ 21 22 23 24
(KFSA XVIII: S. 134) Müller-Funk, Wolfgang, Erfahrung und Experiment, Studien zur Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin 1995, S. 136-157. Novalis, Brouillon, S. 189 (Nr. 820). Stärker als Kosellecks Verwendung von Erwartungsbegriff soll der Begriff ‚metaphilosophischer Begriffe‘ die analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie provozieren; eingeführt und belegt habe ich diese Begrifflichkeit am Beispiel von Shaftesburys Ethusiasmusbegriff und seiner Rezeption durch Johann Georg Hamann; kurz gesagt verbinden solche Begriffe „die einzelnen Felder des Wissens, indem sie eine strukturelle Analogie zwischen ihnen konstruieren und reflektieren gleichzeitig auf die Voraussetzungen des in den einzelnen Feldern gefaßten speziellen Wissens.“ Siehe: „Schreiben, Reden, Denken. Hamanns transtextuelles Kulturmodell Hamanns im Kontext der Kabbalarezeption des 18. Jahrhunderts“. In: Das 18. Jahrhundert 28/2004, S. 27-45, hier: S. 31.
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den Liebe. So formuliert verschiebt diese Argumentation den romantischen Ansatz, der doch auf den ersten Blick dem Kritizismus zum Verwechseln ähnlich sieht, in die Nähe der christlichen Theologie. Es ist nützlich, gegenüber beiden Positionen, Vernunft und Glaube, das wissenschaftstheoretische Konzept der Liebe in der Romantik deutlicher zu profilieren. Das gilt vor allem gegenüber jenen Positionen christlichen Glaubens, die meinen, Romantik mit Katholizismus gleichsetzen zu können, auch wenn wahrscheinlich die meisten Romantikforscher der Ansicht sein werden, beide Aspekte ließen sich, je älter die Romantik werde, nun einmal nicht trennen. Im Unterschied zu einer Philosophie des Glaubens oder auch der Liebe, wie sie nach Schlegels Meinung z.B. Friedrich Jacobi vertrat, hat die Romantik als erste subjektive Bedingung alles echten Philosophierens [...] Wissenschaftsliebe, uneigennütziges, reines Interesse an Erkenntnis und Wahrheit.25
Der christliche Glaube steht dem nicht entgegen, seine Motivation ist aber eine andere: Er setzt voraus, allerdings v.a. in der protestantischen Auslegung von Galater 2.20, dass wir erst durch die Liebe Gottes gerechtfertigt werden. Solche Rechtfertigung aus Liebe ist aber an einem ganz anderen Aspekt menschlicher Handlungen interessiert als jenes konstruktive Herstellen-Können, das die romantische Wissenschaftstheorie voraussetzt, auch wenn diese in Termini der Liebe sinngemäß formuliert: ‚Ich liebe, also erkenne und produziere ich‘. Natürlich scheint die Wahl des Begriffes ‚Liebe‘ in einem solchen epistemischen Kontext irreführend zu sein, die Romantik markiert hierdurch jedoch die Präsenz eines vorbegrifflichen ‚Gefühls‘,26 das sich nicht, wie andere Gefühle rein emotiv deuten lässt, sondern jenen kognitiven Anspruch reklamiert, der auch der sokratischen Ironie zugrunde liegt.27 Theologisch gesehen ist diese Liebe zwar gott-los im Sinne eines Agnostizismus, epistemologisch gesehen jedoch von höchster Relevanz, weil Liebe Erkennendes und Erkanntes erst als Relation konstituiert und damit theoretisch vorgängig gegenüber beiden Aspekten des Erkennens ist. Der romantische Ansatz unterscheidet sich aber auch von einer rein szientifischen Position. Er setzt Wissenschaft nicht mit jener intersubjektiven Vernunft gleich, die „nur eine und in allen dieselbe ist“, sondern wie „jeder Mensch seine eigne Natur und seine eigne Liebe hat, so _____________ 25 26
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KFSA (II: S. 69). Siehe hierzu die Arbeiten von Manfred Frank, vor allem aber auch seine detaillierten Textanalysen in: Das Problem der ‚Zeit‘ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, München 1972. KFSA (II: S. 368).
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trägt auch jeder seine Poesie in sich“,28 Poesie aber ist jene poiesis, die sich auch in den Wissenschaften dokumentiert. Der kognitivistische Irrtum des Kritizismus meint durch formale Analysen den Entdeckungsprozess, der das wissenschaftliche Unternehmen bestimmt, untersuchen zu können und verfährt eben damit analog zum Dogmatismus des Glaubens, den er zu korrigieren versuchte, indem er ein Sollen, - das Sollen des Untersuchens - vor das Sein, - das Sein im Erkennen -, setzte. Nun droht zwar durch die Berücksichtigung des Faktums, dass jeder „seine eigne Liebe“ hat, die Gefahr einer privaten Wissenschaftstheorie, die allenfalls nur Eingeweihte verstehen. Allein der Hinweis auf die hermetischen Formen des Wissens bei Schlegel und Novalis scheint deshalb zu genügen, um aus diesem naheliegende Einwand gleichsam den allgemeinen Todesstoß gegen die romantische Wissenschaftstheorie zu führen. Dem widerspricht jedoch nicht nur die wesentliche Verknüpfung von Romantik und Moderne. Zentraler ist die Erkenntnis, dass wenn die romantischen Autoren vor allem gegen Fichte argumentieren, Erkennen habe individuelle, d.h. aber auch eben soziale Bedingungen, in deren Kontext erst sich Wissen im Sinne von Orientierungswissen bilde, daraus keineswegs eine private Theorie von Wissenschaft folgt. Vielmehr weist die romantische Wissenschaftstheorie auf die Bedeutung des Vorstellungsvermögens in Entdeckungsprozessen hin. Der mit der Vorstellungskompetenz gegebene Begriff von Individualität kann daher nicht mit jenem von Fichte gleichgesetzt werden, den dieser als Oppositionsbegriff zum Erkenntnisfortschritt der Gattung verwendete: Die Vernunft geht auf das Eine Leben, das als Leben der Gattung erscheint. Wird die Vernunft aus dem menschlichen Leben hinweggenommen, so bleibt lediglich die Individualität und die Liebe zur selben übrig.29
‚Indien‘: Schlegels Antwort auf Fichtes Vorwurf Gegenüber solcher Realität, wie sie die Philosophie fordert, setzt Liebe auf die Fortsetzbarkeit von Kommunikation und damit auf Medienkompetenz selbst.30 Unter diesem Aspekt wird Fichtes bis in die Gegenwart fortwirkende Denunziation, bei der Wissenschaftstheorie Schlegels handele es _____________ 28 29
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KFSA (II: S. 284) Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Erich Fuchs/Hans Gliwitzky/Reinhard Lauth, Abt. I, Bd. 8: Werke 1801-1806, hg. v. Hans Gliwitzky/Reinhard Lauth unter Mitwirkung von Josef Beeler/Erich Fuchs/ Ives Radrizzani/Peter K. Schneider, Stuttgart/Bad Canstatt 1991, S. 219-220. Luhmann, Niklas, „Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium.“ In: Ders., Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982, S. 21-39.
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sich nur um eine private Spielerei, gegenstandslos. Denn Liebe als Wissenschaftstheorem ist eine öffentliche Angelegenheit, ein wesentliches Moment in der kulturellen Evolution der Moderne, mit dem sich die Frage nach der gegenwärtigen Grundlegung einer Entdeckungslogik in den exakten und schönen Wissenschaften zwar nicht mehr beantworten lässt, an dem aber nachträglich ein experimentelles Handeln ablesbar wird, das die aktuellen Experimente exaktester Wissenschaften erst ermöglichte. Auch wenn dies in Kontexten des Konstruktivismus, der Systemtheorie und moderner Medientheorie evident ist, so ist Schlegels Konzept doch nicht selbstverständlich, denkt man zudem an den latenten Spinozismus seines Freundes Schleiermachers, der annnimt, Liebe sei als eigentliche causa sui mit dem in ununterbrochener Tätigkeit begriffenen Universum gleichzusetzen, so dass die Anschauung dieses Universums die "höchste Formel der Religion"31 und eben nicht die Methode der Wissenschaft ergibt. Freilich inszeniert und parodiert Schleiermacher nicht weniger gekonnt als Schlegel Systeme deutungsbedürftiger Zeichen als Fiktionen im Wortsinne, also als Herstellung, nicht etwa falscher Tatsachen oder auch nur von Hypothesen, sondern als Interpretationen des aktiven Universums. Doch dieser Versuch wirft die Frage nach dem Status von Wissenschaft auf, inwiefern sie ein Durchgangsstadium zur religiösen Imagination des Universums ist, für die Spinoza Pate steht, für den das Unendliche sein Anfang und Ende [war], das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demut spiegelte er sich in der ewigen Welt.32
Auch Schlegels Brief über die Philosophie hätte eher ein ‚Brief über die Religion‘ zu heißen, nur ist es hier nicht Liebe zum Universum, sondern die Liebe zu einer Frau, die Schlegel dann den Schlüssel zur Erkenntnis des Universums an die Hand gibt, Je vollständiger man ein [weibliches? Anm. d. Verf.] Individuum lieben oder [!] bilden kann, je mehr Harmonie findet man in der Welt; je mehr man von der Organisation des Universums versteht, je reicher, unendlicher und weltähnlicher wird uns jeder Gegenstand.33
Indes ist der Zweck solcher Liebe nicht nur problematisch, steht solche bildende Liebe doch im Kontext männlich dominanten Herstellens, das durch literarische Kunstfiguren Liebe als Projektion machbar macht,34 _____________ 31
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Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern. In: Schleiermacher, Friedrich, Kritische Gesamtausgabe I/2, Schriften aus der Berliner Zeit. 17961799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin 1984, S. 185-326, hier: S. 213. Schleiermacher, Religion, S. 213. KFSA (VIII: S. 49). Vgl. Rudolf Drux (Hg.), Die lebendige Puppe. Erzählungen aus der Romantik, Frankfurt/M. 1986, bes. S. 247.
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auch sind ihre Bedingungen unklar: Wird die Harmonie in der Welt aufgefunden oder erfunden, richtet sie sich nach dem Modell der Liebe zu einem Individuum und wenn ja, welche Rolle spielt dann die hier stets unterschlagene Medialität der Schrift, die in Lucinde zu ihrem Selbstzweck wird, so dass sich programmatisch verkürzt sagen lässt: Es gibt keine Liebe außerhalb der Schrift? Und noch weiter gefragt: Ist innerhalb solcher Schrift nur aufgrund ihrer Medialität eine Ordnung, Organisation genauso wahr wie jede andere? Nicht zuletzt aber noch einmal zurückgefragt: Warum wird denn die Interpretation ausgerechnet indischer Schriftkultur so wesentlich für die eigene? Schlegel und Schleiermacher unterscheiden nicht immer zwischen einem Universum und dessen Harmonie und Organisation einerseits und andererseits der Schrift, in der solche Ordnung erst erscheint. Sie unterlaufen bewusst die Grenze zwischen Objekt- und Metasprache, zwischen einem Inhalt und seiner Darstellungsweise. Plausibilität erheischt ihre Subversion, weil sie mit einem historischen Vorstellungshöhepunkt innerhalb der Semantik der Liebe koinzidiert: dass Liebe nämlich das Medium (der Schrift) selbst sei. So gesehen aber gehört nun im begrifflichen Durcheinander bei Schlegel doch alles zusammen: Entdeckungsprozesse in den Wissenschaften entziehen sich deduktiven Vorgaben, denen gegenüber sie chaotisch erscheinen wie uns die indische Literatur und Kunst. Das Chaos in der europäischen Heuristik wie in der indischen Kunst als deren Reflexionsmedium ist mit jener als universal aufgefassten Liebe vergleichbar, die sich selbst und alles andere erhellt. Methodologisch gesehen ist eine solche Transgression der Grenze zwischen Untersuchung und Gegenstand der Untersuchung zwar ein schwerer Fehler. Im Falle der Liebe gelten aber andere Spielregeln, denn hier prägt das Schreiben über die Liebe die Liebe, ja wird zur dieser selbst. Liebe ist in der Wissenschaftsperspektive Schlegels deshalb auch kein natürliches Faktum, sondern eine theoretisch notwendige Einheit des Wissens, die, vgl. Lucinde, jedoch nur in Form von Beschreibungen aus der Sicht von Liebenden wiederum vorliegt. In dieser Sicht von Liebe als theoretischem Unum steht auch Schlegels spätere Übersendung von Exemplaren von Über die Sprache und Weisheit der Indier an Schelling und Jacobi. Schlegel argumentiert hier nicht anders als Herder. Es ist daher nützlich, sich Herders Argumentation noch einmal kurz vor Augen zu führen. Schlegel hatte nicht nur Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit bereits 1791 intensiv studiert, und die zyklische Geschichtskonzeption seines frühen Aufsatzes Über das Studium der griechischen Poesie an
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Herder orientiert, dieser prägte auch die romantische Rezeption der indischen Mythologie, die die Neue Mythologie ablösen sollte:35 Wo Sakuntala lebt mit ihrem entschwundenen Knaben, wo Duschmanta sie neu, neu von den Göttern empfängt, Sei mir gegrüßt, o heiliges Land, und du Führer der Töne, Stimme des Herzens, erheb’ oft mich im Aether dahin.36
Dieser Preis Indiens als "heiliges Land" und "Führer der Töne" begründet sich durch die "Stimme des Herzens", nach der nur der Liebende selbst poetisch spricht und wahrhaft dichtet. Der Liebende dichtet nicht im Sinne bloßer Fiktionen, nur er vermag auch seine Imagination als Wirklichkeit nicht nur darzustellen, sondern erst herzustellen. Doch liegt die Wichtigkeit Indiens nicht in dieser Differenz zwischen Dar- und Herstellung, sondern in dem in Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache angegebenen Argument gegen Kant, eine Kritik der Vernunft lasse sich nicht im sprachfreien Raum vollziehen. Diese allgemeine Behauptung über die sprachliche Abhängigkeit des Denkens spezifizierte Herder inhaltlich durch die Vermutung, dass die Sprache vom Orient aus ihre Genese und Ausdifferenzierung genommen habe und weiter werden die allgemeinen Ausdrücke "Orient" und "Asien" dann durch "Indien" konkretisiert, denn nur in diesem Land findet sich jene anthropologische Wende zu Kultur und Humanität, die Herder in seinem eigenen Kulturraum vermisst. So sympathisiert Herder noch als christlicher Konsistorialrat bei all seiner Kritik des indischen Kastensystems und der Witwenverbrennung darum mit dem Hinduismus, da hier im Unterschied zu Europa das Problem der Lehrbarkeit der Tugend praktisch gelöst worden sei.37 Die indische Religion ist ihm toleranter als Islam und Christentum.38 Er verurteilt in einem eigenen Artikel Gespräche über die Bekehrung der Indier durch unsre Europäische Christen von 1802 deshalb auch die kulturelle Invasion der Missionare. Wesentlicher scheint indes für die Romantik Herders epistemische Differenz zwischen ‚indisch‘ und ‚europäisch‘ gleich in zweifacher Hinsicht gewesen zu sein: Einerseits ist die indische Poesie Gegenbeispiel künstlicher Gelehrsamkeit und soziale Praxis, andererseits, und noch wichtiger, fordert sie zu einer kontemplativen Lektüre auf, die Europa verloren gegangen ist; so solle man das indische Epos Sakontala _____________ 35
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Vgl. Kobayashi, Naboyuku, „Die Idee der Neuen Mythologie beim jungen Friedrich Schlegel“. In: Lothar Knatz/Tanehisa Otabe (Hgg.), Ästhetische Subjektivität, Würzburg 2005, S. 167-179. Herder, J. G.: Sämtliche Werke. Hg. v. B. Suphan. Leipzig 1877-1913. Bd. XXIX. S. 665 f. Herder (XIV: S. 28-29). Herder (XIV: S. 29-30).
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nicht Europäisch, d.i. um etwa nur den Ausgang zu wissen, mit flüchtiger Neugierde, sondern Indisch, mit feinaufmerkender Ueberlegung, Ruhe und Sorgfalt [lesen].39
An ‚Indien‘ lässt sich das Problem untersuchen, wie man eine gute Lektüre und Kritik von einer schlechten unterscheiden kann. Die komplexen dichterischen Texte Indiens haben gegenüber der europäischen Philosophie den Vorzug, dass sie nicht teleologisch strukturiert sind, dass also nicht das propositionale Resultat zählt, sondern dass in ihnen ein beständiger Reflexionsprozeß der Selbstvermittlung durch Selbstkritik angestrebt wird.
Ein anderes Folgeproblem: Offenbarung statt Vernunft? (Heine) Indien wird durch Herder, Schlegel und Humboldt nicht etwa als vergangene kulturelle Ordnung historisiert; aus dem Rückblick auf die alte Sprache und Weisheit der Indier wird vielmehr eine Anforderung an die Zukunft gerade auch für die deutsche Literatur als moderne abgeleitet, deren überlieferte ästhetischen Normen, auch die der Romantik, durch die komplexen indischen Rekursionsmodelle abgelöst werden sollen. Und aus dieser extrem subjektivistischen Auffassung der indischen Kultur folgt eine ebenso problematische Auffassung von Offenbarung, die Heine als Geruch des katholischen Hochamtes verspotten konnte, nämlich Schlegels Neigung, die Philosophie der Offenbarung unterordnen zu wollen.40 Heines Kritik ist fair, sie insinuiert nicht ihrerseits, dass Schlegels Rede von der Abhängigkeit des Verstehens von der Liebe durch den bloßen Hinweis auf mögliche katholische Kontexte philosophisch nicht ernst genommen werden müsse. Heine stellt lediglich, zudem mit Blick auf Her_____________ 39 40
Herder (XVI: S. 88). Heine, Heinrich, Werke und Briefe in zehn Bänden, Bd. 5, hg. v. Hans Kaufmann, Berlin/ Weimar 1972, S. 65-66: „In betreff der Schlegelschen Vorlesungen über Literatur läßt sich Ähnliches rügen. Friedrich Schlegel übersieht hier die ganze Literatur von einem hohen Standpunkte aus, aber dieser hohe Standpunkt ist doch immer der Glockenturm einer katholischen Kirche. Und bei allem, was Schlegel sagt, hört man diese Glocken läuten; manchmal hört man sogar die Turmraben krächzen, die ihn umflattern. Mir ist, als dufte der Weihrauch des Hochamts aus diesem Buche und als sähe ich aus den schönsten Stellen desselben lauter tonsurierte Gedanken hervorlauschen. Indessen, trotz dieser Gebrechen, wüßte ich kein besseres Buch dieses Fachs. Nur durch Zusammenstellung der Herderschen Arbeiten solcher Art könnte man sich eine bessere Übersicht der Literatur aller Völker verschaffen. Denn Herder saß nicht wie ein literarischer Großinquisitor zu Gericht über die verschiedenen Nationen und verdammte oder absolvierte sie nach dem Grade ihres Glaubens. Nein, Herder betrachtete die ganze Menschheit als eine große Harfe in der Hand des großen Meisters, jedes Volk dünkte ihm eine besonders gestimmte Saite dieser Riesenharfe, und er begriff die Universalharmonie ihrer verschiedenen Klänge.“
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der, die berechtigte Frage nach der eigentlichen Pragmatik von Schlegels unverständlicher Rede von der Offenbarung. Diese besteht in meinen Augen in der Einübung in eine nichtdiskursive Form asketischer Kontemplation, die in der Tat religiösen Praktiken ähnlich ist. Das Ziel dieser Askese ist aber nicht religiöser, sondern wissenschaftlicher Natur und besteht in der Lösung des Problems der Individualität für das Projekt einer allgemeinen Methodenlehre der Wissenschaften. Offenbarung überführt, kantianisch gesprochen, nicht die Vernunft, sondern den Verstand in die Idee der Unendlichkeit, die selbst eine Vernunftidee ist, - jene mag zwar ebenso unanschaulich wie die Mysterien der christlichen Religion sein, ist doch aber darum noch nicht mit diesen gleichzusetzen. Die philosophische Überführung des Verstandes in die Idee der Unendlichkeit gelingt durch ein Nachahmungsspiel, wie es besonders das katholische Theater in seinen Jesuitendramen perfektioniert hatte: Wenn Schlegel den Ausdruck der Offenbarung verwendet, dann verdient dies Beachtung nicht im Sinne eines sozialen Rituals der (katholischen) Kirche, die das sacrificium intellectus verlangt, sondern meint eine Aufhebung des Spiels im Spiel, in dem alles, – eben auch die Rituale der Kirche! –, im theatralen Raum der Literatur41 simulierbar wurde. ‚Offenbarung‘ ist dann der polemisch gefärbte Ausdruck für jene augenblickshafte Erfahrung simulativ operierender Vernunft, in deren Mimicry es kein Jenseits von Simulation mehr gibt und die Frage nach einer möglichen Referentialität des simulacrums sich nicht mehr stellt.42 Auch hier besteht ein kognitivistischer Irrtum darin, die kulturellen Kontexte von Offenbarung und Religion auf ein mentales, mit Mitteln der Logik zu analysierendes Phänomen zu reduzieren. Demgegenüber wird der Ausdruck ‚Indien‘ für die Romantik dort wesentlich, wo mit ihm die Enttotalisierung von Absolutheitsansprüchen der Endlichkeit angesichts der Vernunftidee des Unendlichen bezeichnet werden kann. Spiel-Texte wie Sakontala sind Beispiele hierfür, wenn sie ein unabschließbares Spiel der Intertextualität mit sich selbst eröffnen. _____________ 41
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Ethel Matala de Mazza/Clemens Pornschlegel (Hgg.), Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte, Freiburg/Br. 2003, bes. S. 14: Theatralität ist „nie ausschliesslich an die Performanz der Schaubühne gebunden, sondern sie ist überall dort wirksam, wo Zeichen in ihrer Abständigkeit von der Wirklichkeit als Zeichen ausgestellt werden und ihr eigenes Zeichen-Sein exponieren [...].“ Theoretisch spannend ist die Kombination von Roger Caillois‘ systematischem Spielbegriff der Mimicry mit historischen Simulationsformen im frühneuzeitlichen Theater bei Nitsch, Wolfram, Barocktheater als Spielraum. Studien zu Lope de Vega und Tirso de Molina, Tübingen 2000.
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Die indische Literatur ist als Mimicry spielerisches Gegenmodell zur systematischen Form des Deutschen Idealismus, sie eröffnet eine andere Art des theoretischen Zugriffs als die bekannte Form der diskursiven, d.h. begrifflich organisierten Analyse, wie sie zu gleicher Zeit Hegel zu ihrem Höhepunkt führte. Schlegels Gegenthese zu Hegel lautet: Philosophische Analyse und Askese, die diskursive und die nicht-diskursive Form des Philosophierens sind nicht nur miteinander verträglich, sondern setzen einander gegenseitig voraus. Die indische Dichtung liefert für Schlegel hierfür den Nachweis, denn in ihr wird zur Idee der Liebe, ganz hegelianisch formulierbar als freie Selbstaufgabe eines Subjektes, das sich durch Spiel von Anschauung und Genuss gelöst hat, exemplarisch hingeführt. Diese Selbstaufgabe operiert aber nicht mit der europäischen, vor allem deutschen Differenz und ihrer Überschreitung vom Begriff zum Bild und von der Vernunft (Verstand) zur Offenbarung, sie versucht auch nicht die Orientierungsverluste im Wechsel von einfacher zu komplexer Gesellschaft zu kompensieren, da allein die Form indischer Literatur die europäische Wahrnehmung und Propositionsfixierung bereits überfordert. ‚Indien‘ wird deshalb auch nicht wie nach der Romantik der europäischen Kultur trotzig-eskapistisch entgegengestellt, vielmehr steht dieser Ausdruck für die Selbstzersetzung einer Einheit in irreduzible Differenzen, die sich mit der Vielfalt komplexer Vorstellungsstrukturen in der beginnenden europäischen Moderne vergleichen lässt, d.h. aber, die längst vergangene Kunst Indiens operiert in romantischer Sicht strukturanalog zu den Ausdifferenzierungsprozessen der eigenen modernen Zukunft. Das Aufspüren der historischen Linien zwischen Asien und Europa, das Anfertigen von Editionen und Übersetzungen aus dem Indischen, die Orientierung des eigenen Schreibens am fremden Vorbild entspringt dem Versuch, die eigene unbekannte Zukunft anhand fremder Vergangenheit zu halluzinieren und die eigene Kultur unlesbar werden zu lassen, hängt Lesbarkeit doch nicht von den Skripturen selbst, sondern von deren Transkriptionen ab.43 Die Transkription nach indischem Vorbild aber ist so paradox und widersprüchlich wie die noch einigermaßen stabilen Schriftformen europäischer Kunst und Wissenschaft, von denen Schlegel in seinem Brief über die Philosophie zu Dorothea sprach, die jedoch weniger das Stammeln vergänglicher Liebe bezeugen als dieses Stammeln selbst zeugen: Was soll Liebe doch wohl lieben, Liebe, Als das schöne arm Vergängliche?
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Bohnenkamp, Björn/Spangenberg, Peter Michael, „Mediengeschichten“. In: Claudia Liebrand/Irmela Schneider/Björn Bohnenkamp/Laura Frahm (Hgg.), Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Berlin/Hamburg/Münster 2005, S. 135.
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Pflegen muss sie zart die kränkliche Freude und sich daran üben, Denn sie bliebe Nicht die Liebe, wenn das eine, Was da ist und bleibt, ihr Wunsch wie Freude sollte sein alleine.44
Verstehen beruht auf Liebe Einwände gegen das begriffliche Durcheinander, das sich in Schlegels Theoretisieren über die Liebe findet, in dem sich unverständliche Rede mit besonnener Verstellung paart und die sokratische Ironie mit der Philosophie Fichtes kopuliert, gehören so sehr zur philosophischen Kritik an der Romantik, dass sie hier nicht eigens vorgetragen werden müssen. Schlegels Idee der Liebe ähnelt einem etwas zu lang gekochten Eintopf, in dem sich die Zutaten nicht mehr unterscheiden lassen. Besser jedoch als das Nörgeln über die theoretische Inkonsistenz Schlegels ist die pragmatische Frage, was er denn hiermit bezweckt. Meiner Ansicht nach analysiert Schlegel in satirischer Form die Philosophie Fichtes, doch so, dass seine Poetologie des Wissens mit der philosophischen Arbeit konkurriert. Fichtes durchaus redliche Bemühungen um die Verständlichkeit einer komplexen Methodologie der Wissenschaften entspringen in Schlegels Perspektive bereits jener Eintopfphilosophie, die wir ihm unterstellen können: Fichte jedoch war es, der selbst nicht zwischen der Esoterik der Philosophie und ihrer populären Exoterik unterschied, sondern jene in diese vollständig zu überführen versuchte. So didaktisch klug deshalb Fichtes populäre Schriften auch sind, er stellt sich in ihnen methodisch gesehen selbst ein Bein, wenn er Philosophie als Lehrbuch versteht, um dieses dann noch in einer Art Tagebuch des philosophischen Geistes gleichsam zu materialisieren. Nicht nur bemerkenswert, sondern geradezu respekterheischend ist der konstruktivistische Ansatz Fichtes darin, dass er intersubjektive Nachvollziehbarkeit anstrebt. So müsste also ein jeder Mensch, guten Willen nur vorausgesetzt, zur gleichen Einsicht wie Fichte kommen. Doch es ist eben diese fundamentale Unterstellung jeglicher Philosophie, nicht nur der Fichtes, die Akzeptanz der jeweiligen eigenen Prämissen sei auch allen anderen ‚gegeben‘ – im falschen Bild: jeder schriebe dasselbe Tagebuch – oder diese seien doch jederzeit für alle Gutwilligen erzeugbar, die am Faktum vorbeigeht, dass dies weder je der Fall ist noch aber etwa schlimm ist, ermögli_____________ 44
Tieck, Ludwig, Minnelieder, S. 283.
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chen doch Unverständlichkeiten wie Missverständnisse und Liebe erst Kommunikationen.45 In Schlegels Rede über die Unverständlichkeit sind es deshalb nicht die Techniken begrifflicher Analyse, die das ganze Unternehmen der Philosophie bestimmen: Denn stellen wir uns vor, so seine Argumentation, die dem modus tollens folgt, der Konstruktivismus Fichtes ließe sich konsistent durchführen. Dann könnte man vor den Augen eines empirischen Lesers einen andern neuen Leser nach meinem Sinne [...]46 konstruieren, gleichsam ihm ins Gesicht.47 Gilt dieses konstruktivistische Dogma Fichtes, dann läßt sich von dieser Position aus nicht ausmachen, inwiefern sich philosophische von literarischen Verfahren unterscheiden, da mit gleichsam ihm ins Gesicht die alten rhetorischen Verfahren der evidentia, besonders der prosopoeia benannt werden,48 die spätestens durch Erasmus’ Lob der Torheit literarisch etabliert zum festen Bestandteil der romantischen Literatur gehören,49 aber auch, nicht zuletzt als Text-Bild-Komplexe in der romantischen Malerei zum Einsatz kommen.50 Prosopoeia ist zudem, vgl. z.B. Friedrich Christoph Oetingers Inquisitio in sensum communem et rationem, §§ 57-65, in der Philosophie als Mittel der sokratischen Kunst der Umlenkung bekannt, die menschliche Ignoranz verringern will.51 Dieser platonisch gefärbten Tradition geht es nicht wie den kritischen Philosophen um eine Erkenntnistheorie, sondern um jenen sensus communis, der nicht mit dem angeblich gesunden Menschenverstand, common sense, zu verwechseln ist: Der sensus communis setzt nicht wie dieser die Transparenz menschlicher Kommunikation als gegeben voraus, er sucht vielmehr nach jenen Vorstellungsräumen, innerhalb derer wir symbolisch handeln könnten. Hierzu müssen aber durch eine Kunst der Umlenkung alte, liebgewordene Vorstellungen erst verlassen werden. Symbolisches Handeln vs. begriffliches Erkennen bezeichnet die wissenschaftstheoretische Grenzscheide zwischen Schlegel und Fichte, die Schlegel wiederum polemisch so inszeniert: Die Richtigkeit von Fichtes _____________ 45 46 47 48
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Schumacher, Eckhard, Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man, Frankfurt/M. 2000. KFSA (II: S. 363). KFSA (II: S. 363). Mit de Man sogar als „Figur aller Figuration und aller Bedeutungsbildung“ lesbar, vgl. Menke, Bettine, Prosopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000, S. 15. Steigerwald, Jörn, „Stimmgabe: Rhetorische und ästhetische Prosopopeia im Kater Murr“, in: Monatshefte XCVII/2005, S. 579-594. Wesentlich: Scholl, Christian, Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst. Studien zur Bedeutungsgebung bei Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich und den Nazarenern, München/Berlin 2007, bes. S. 305 ff. mit Hinweisen auf das barocke vanitas-Repertoire. Vgl. Politeia VII 517c-519c.
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konstruktivistischen Setzungen vorausgesetzt, ist die negative Reaktion empirischer Leser auf die Texte Fichtes, aber auch auf seine eigene Rede über die Unverständlichkeit nicht erklärbar. Also beruht Fichtes Setzung auf unbegründeten Voraus-Setzungen. Damit entmutigt der Satiriker Schlegel jedoch auch die Hoffnung, man könne ihn selbst überhaupt jemals verstehen. Zumindest stellen sich folgende Fragen: parodiert er absichtlich Fichte, richtet er sich an diesen selbst als primären, impliziten Leser, um ihm über die literarischen, d.h. rhetorischen Bedingungen des Philosophierens zu informieren, tut er dies nach Fichtes eigener Methode, jedoch so, dass im Gegensatz zu Fichtes und Schlegels früherer Popularitätsforderung nur die esoterisch Eingeweihten dieses komplizierte Spiel verstehen können? Vielleicht aber macht sich Schlegel aber auch gleichsam von einer dritten Person aus, über sich und seine Eingeweihten lustigt, indem er das, was er zuvor im Athenäum noch als Fragment ernsthaft behauptete, nun parodiert, ohne dass jedoch die Parodie einerseits als solche erkennbar sein müsste und indem er dennoch andererseits durch den sehr artifiziellen Stil seiner Rede gerade darauf aufmerksam macht. Dann ginge es pragmatisch gesehen nicht mehr um eine esoterische Kommunikation zwischen Schlegel und Fichte, sondern um das Lächerlich machen des Philosophen, der borniert sich seiner Setzungen zu sicher ist. Vielleicht ist sich Schlegel aber auch selbst nicht sicher, und er übt nur für einen bevorstehenden philosophischen Kampf mit Fichte. Er argumentierte dann weder auf der Ebene der Literatur noch der Philosophie noch der Parodie der einen oder anderen Form, sondern spielte und probierte lediglich. Vielleicht probt er auch nicht, sondern redet nur, als ob er unverständlich redete. Vielleicht ist er aber einfach auch nur unverständlich und ich habe professionsgeschädigt bereits viel zu viel in ihn hinein gelesen. Mag es sich bei dieser Lesartenvielfalt eines unverständlichen Textes auch nur um Logeleien der Literatur oder ihrer Interpreten handeln, so kann man mit ihnen die Philosophie auf sich selbst aufmerksam machen: Logik und Diskursethik sind eben zweierlei Dinge, selbst wenn wir in diesem verwirrenden Spiel Schlegels noch nicht einmal entscheiden können, ob er uns mögliche diskursethische Implikationen nur vortäuscht. Doch nicht die Entscheidung hierüber ist selbst entscheidend, sondern dass ein solcher Text solche probenden Lektüren ermöglicht und uns zu ihnen erzieht. Wichtig ist, dass Schlegels Rede über die Unverständlichkeit nicht, wie man zunächst meinen könnte, in einem Solipsismus endet, der sich neue Leser im Sinne idealer Leser konstruiert, um den Auseinandersetzungen mit möglichen empirischen Lesern zu entgehen, sondern ganz umgekehrt liegt die gegenwärtige Wichtigkeit von Schlegel in der Konstruktion aller mög-
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lichen Missverständnisse als Bedingung der Möglichkeit einer Kommunikation, die das lesende Ich vom Text weg zu einem Du führt: Dies unmittelbare Wahrnehmen des Sinnes, die Bedeutung, welche die Grundlage des eigentlichen Verstehens ist, ist eine eigentliche innerliche Verbindung geschiedener, aber ähnlicher Geister, ein liebevolles Eins werden des Ichs mit dem, was der Gegenstand des Ichs ist, dem Du. Und sofern wir dies Wahrnehmen und Ergreifen des Ichs des Gegenstandes, diese Vermählung des wahrnehmenden Ichs und des wahrgenommenen Geistes sehr gut Liebe nennen, können wir den Satz aufstellen, ohne Liebe kein Sinn, der Sinn, das Verstehen beruht auf der Liebe.52
So gesehen wäre der nicht unberechtigte Vorwurf gegen Schlegel und andere Romantiker, ihre Ironie als Form des Paradoxen sei gekünstelt, gegenstandslos, da der romantische Text gerade in seiner rhetorischen Künstlichkeit auf sein mehr empirisches Anderes, die Liebe verweist und zu ihr hinzuführen versucht.53 Liebe kann nicht nur eine der Produktionsbedingungen von Büchern sein,54 es steht zu befürchten, dass jene oftmals aus diesen erlernt wurde: So kommt es zum Schreiben gegen die Liebe erzeugende Schrift und die die eigentümliche paradoxe, ironische Struktur romantischer Texte könnte man als Weg zu dieser Idee der gegen ihr eigenes Medium gewendeten Liebe deuten, durch die dann auch, freilich sehr vermittelt, die Probleme einer Allgemeinen Methodenlehre ihre Lösung erhalten. Denn weder literarische Texte noch philosophische Begriffe können die Aporien transzendentaler Ästhetik und des Denkens bewältigen. Doch tut dies darum schon die Schlegelianische Ersetzung des kartesischen Egos durch eine liebende Person: Ich liebe (dich), also bin ich? Soll die philosophische Fiktion, man könne sicheres Wissen erlangen, nicht durch eine neue, aber ebenso schlechte poetische ersetzt werden, so muss Liebe, deren Diskurs bereits 1977 als von extremer Einsamkeit analysiert wurde,55 im Zeitalter des Fraktalen56, gegenwärtig noch unwahrscheinlicher und einsamer werden als sie es zu Zeiten der Romantik je war: Auf jede Hoffnung selbst im Sinne eines ‚Ich werde (dich) geliebt haben‘ muss sie verzichten, um in ihrer Unlesbarkeit einmal das ganz gewesen sein zu können, was sie schon immer ist, - Abschied und Fragment. _____________ 52 53 54
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KFSA (XII: S. 350-351). Vgl. KFSA (XVIII: S. 134). Vgl. Nussbaum, Martha, „Narrative Gefühle: Becketts Genealogie der Liebe“. In: Kern, Andrea/Sonderegger, Ruth (Hgg.), Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt/M. 2002, S. 286-329. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 13. Görner, Rüdiger, Das Zeitalter des Fraktalen. Ein kulturkritischer Versuch, Wien 2007.
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Von Pflanzen und Engeln Friedrich Schlegels Sprachdenken im Kontext der frühen Biologie MICHAEL EGGERS Friedrich Schlegels Buch Über die Sprache und Weisheit der Indier von 1808 gilt nicht nur als Gründungsdokument der Indologie,1 sondern als Auftakt einer Wissenschaft von der Sprache, die systematisch grammatische Strukturen vergleicht. Es geht über die Konstruktion eines bloßen Spracheninventars hinaus, wie sie zeitgenössisch etwa noch Johann Christoph Adelungs monumentaler Mithridates bietet.2 In diesem Sinn wird Schlegels Buch von einer bereits recht früh einsetzenden linguistischen Wissenschaftsgeschichte gewürdigt.3 Schlegel wendet sich nach der Publikation dieses Buchs zunächst anderen Interessen zu, setzt seine Sprachtheorie dann allerdings im Spätwerk als Teil der „Philosophie des Lebens“ fort. Bereits im Indier-Buch ist das sprachanalytische Kapitel nicht sehr umfangreich, verglichen mit den ausführlichen Erörterungen zur antiken indischen Religion, Mythologie und Philosophie und den enthaltenen Übersetzungen aus dem Sanskrit ins Deutsche. Angesichts von Schlegels sich bereits früh abzeichnendem Interesse an metaphysischer Spekulation erscheint es bemerkenswert, dass in seinen Schriften zugleich eine Nähe zur zeitgenössischen Entwicklung der Naturwissenschaften zu erkennen ist. Im Folgenden soll nicht nur die viel kommentierte frühe, sondern auch die späte Sprachtheorie in den Kontext der Entwicklung des naturgeschichtlichen Wissens der Zeit gestellt werden. In Schlegels linguisti_____________ 1
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Zur seit dem 18. Jahrhundert aktuell werdenden Vorstellung von Indien als Ursprung der europäischen und deutschen Kultur, in deren Folge Schlegels Interesse an der indischen Literatur zu sehen ist, s. Gerard, René, L’orient et la pensée romantique allemande, Paris 1963; Willson, A. Leslie, A Mythical Image. The Ideal of India in German Romanticism, Durham, N.C. 1964. Adelung, Johann Christoph, Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mundarten, Berlin 1806-1817. Benfey, Theodor, Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen Philologie in Deutschland seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts mit einem Rückblick auf die früheren Zeiten, München 1869, S. 357-369.
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schem, aber auch in seinem literaturgeschichtlichen Denken zeigt sich eine von den modernen Konventionen des modernen Wissenssystems noch weit entfernte Vermischung natur- und geisteswissenschaftlicher Frageund Erklärungsmuster. Zu überprüfen ist, welchen epistemischen Status diese Verknüpfung hat. Benutzt Schlegel die Naturforschung nur als Stichwortgeber, um seinen eigenen Entwürfen Aktualität zu verleihen, oder sind naturwissenschaftliche Theoreme konstitutiver Teil seiner Argumentationskette? Michel Foucault hat in Die Ordnung der Dinge für die gesamte Epoche (und darüber hinaus) die Frage nach den Parallelen zwischen Naturgeschichte und Geisteswissenschaften gestellt und auf die epistemologische Verwandtschaft der frühen Sprachwissenschaften mit der Biologie hingewiesen. Meine Überlegungen zur Entwicklung von Schlegels Sprachdenken verstehen sich daher zugleich als Relektüre der Thesen Foucaults, deren Relevanz für den Fall Schlegel geprüft wird.
Artenkonstanz und Bildungstrieb Foucault lässt seine Darstellung der Anfänge linguistischer und philologischer Wissenschaften im frühen 19. Jahrhundert mit einem Zitat Schlegels beginnen. Es handelt sich um die wohl meistzitierte Stelle aus dem IndierBuch: Jener entscheidende Punkt aber, der hier alles aufhellen wird, ist die innere Struktur der Sprachen oder die vergleichende Grammatik, welche uns ganz neue Aufschlüsse über die Genealogie der Sprachen auf ähnliche Weise geben wird, wie die vergleichende Anatomie über die höhere Naturgeschichte Licht verbreitet hat.4
Schlegels prophetisch intonierte Bemerkung zeugt von der Absicht, die Rekonstruktion der Genealogie alter Sprachen am Kriterium der grammatischen Strukturen festzumachen und damit einen anderen als den erwartbaren Weg einzuschlagen. Denn zeitgenössisch üblich wäre es, die Geschichte der Sprachen über etymologische Parallelen zu rekonstruieren.5 _____________ 4
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Cf. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974, S. 342. S. Friedrich Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (im Folgenden: KFSA), Bd. 8, hg. v. Ernst Behler, München u.a. 1975, S. 105-433 (S. 137). Zum Verhältnis Schlegels zur Etymologie s. Willer, Stefan, Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik, Berlin 2003, S. 86 f. und ders.: „Haki Kraki. Über romantische Etymologie“. In: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hgg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaft um 1800, Würzburg 2004, S. 393-412 (S. 396): „Mit dem Indier-Buch scheint der feste Boden der historischen Sprachwissenschaft, der neuen Empirizitäten und des Denkens der Struktur betreten, in
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Dass Schlegel für sein Ziel, den Nachweis einer gemeinsamen historischen Urschicht für das Sanskrit, die deutsche, lateinische und griechische Sprache,6 ausgerechnet die vergleichende Anatomie Pate stehen lässt, ist zunächst mit dem Erfolg einiger prominenter Publikationen erklärbar, die in die Jahre vor seinem Paris-Aufenthalt und das Sanskrit-Studium fallen. George Cuviers bahnbrechende Leçons d'anatomie comparée erscheinen 18001805, gleichfalls 1805 publiziert Johann Friedrich Blumenbach sein Handbuch der vergleichenden Anatomie, das große Verbreitung findet.7 Es ist aber nicht nur die wissenschaftliche Anerkennung, die diesen Werken zuteil wird und an der Schlegel partizipieren will. Foucaults epistemologische Auswertung des frühen 19. Jahrhunderts stützt sich ja gerade auf die zentrale Annahme einer methodologischen Nähe zwischen vergleichender Anatomie und Sprachwissenschaft seit Cuvier und Schlegel.8 Tatsächlich ist bei Schlegel schon früh, deutlich vor seiner linguistischen Phase, eine Aufmerksamkeit für naturgeschichtliche Fragestellungen zu beobachten. Die frühromantische Programmschrift Über das Studium der griechischen Poesie (1797) etwa verweist auf die Klassifikation der Arten, um die eigene, spekulative Rekonstruktion der Kunstgeschichte zu untermauern: Reine Wissenschaft bestimmt nur die Ordnung der Erfahrung, die Fächer für den Inhalt der Anschauung. Sie allein würde leer sein − wie Erfahrung allein verworren, ohne Sinn und Zweck − und nur in Verbindung mit einer vollkommnen Geschichte würde sie die Natur der Kunst und ihrer Arten vollständig kennen lernen. Die Wissenschaft bedarf also der Erfahrung von einer Kunst, welche ein durchaus vollkommenes Beispiel ihrer Art, die Kunst kat’exochän, deren besondre Geschichte die allgemeine Naturgeschichte der Kunst wäre.9
Die Vision einer „allgemeinen Naturgeschichte der Kunst“ verbindet eine auf wissenschaftlichem Weg erzielte Ordnung mit der ästhetischen Erfahrung, die das spezifische Wissen bereitstellt. Innerhalb des hypothetischen _____________ 6
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dem etymologisierende Letternauguren ausgedient haben“. Zu Schlegels Ansicht über die Empirie s. weiter unten. Schon lange vor Schlegel wurde über diese Annahme spekuliert, s. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft, S. 222 und S. 336-338, zitiert in: Lehmann, Winfred P., „The Impact of Jones in German-Speaking Areas“. In: Garland Cannon/Kevin R. Brine (Hgg.), Objects of Enquiry. The Life, Contributions, and Influences of Sir William Jones (1746-1794). New York/ London, S. 131-40 (S. 133); Metcalf, George J., „The Indo-European Hypothesis in the 16th and 17th Centuries“. In: Dell Hymes (Hg.), Studies in the History of Linguistics, Bloomington 1974, S. 233-257. Vgl. Timpanaro, Sebastiano, „Friedrich Schlegel and the Beginnings of Indo-European Linguistics in Germany“. In: Friedrich Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Altertumskunde, hg. v. J. P. Maher, Amsterdam 1977, S. XXXV. S. vor allem Foucault, Die Ordnung der Dinge, Zweiter Teil, 7. und 8. Kapitel. Schlegel, Friedrich, Über das Studium der griechischen Poesie, Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Bd. 1, hg. v. Ernst Behler, München u.a. 1979, S. 273.
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Rahmens einer solchen Naturgeschichte würden, so lässt sich Schlegels Argument verstehen, Drama und Poesie der griechischen Antike ein natürliches System der Arten realisieren, eine Klassifikation aller Arten nach ihren naturgegebenen Kriterien; mit anderen Worten: eben jenes natürliche System, dessen theoretische Grundlage Carl von Linné 1735 erneuert hatte.10 Das System der Dichtkunst wäre demzufolge kein künstliches, mit willkürlich gewählten Unterscheidungskriterien, sondern würde „die Natur der Kunst und ihrer Arten“ umfassen: Die Gränzen ihrer [i.e., der griechischen Dichtung, M.E.] Dichtarten sind nicht durch willkürliche Scheidungen und Mischungen erkünstelt und bestimmt. Das System aller möglichen reinen Dichtarten ist sogar bis auf die Spielarten, die unreifen Arten der unentwickelten Kindheit, und die einfachsten Bastardarten […] vollständig erschöpft. Sie ist eine ewige Naturgeschichte des Geschmacks und der Kunst.11
Eine genauere Ausarbeitung dieser ästhetischen Version eines natürlichen Systems bleibt Schlegel schuldig,12 die Idee als solche ist in der idealisierenden Privilegierung der griechischen Literatur aber erkennbar.13 Für Linné ist die Natürlichkeit Voraussetzung und zugleich Ziel des (aufzufindenden) Systems, seine „ewige Naturgeschichte des Geschmacks“ bezieht aus ihr die behauptete Normativität der ästhetischen Führungsposition griechischer Kunst. Schlegels begriffliche und konzeptionelle Anleihe bei der Naturgeschichte erweist sich als durch seine philosophischen Vorstellungen konditioniert. Generell ignoriert sein Rückgriff auf dergestalt importierte Modelle deren unliebsame Implikationen und stützt sich lediglich auf die Aspekte, die den eigenen Argumentationszusammenhang stützen. So kann Schlegel die Idee eines Systems der Arten, das Linné als statisch und historisch unwandelbar entworfen hatte, nur deshalb mit seinen eigenen Vorstellungen einer geschichtlichen Entwicklung der Kunst in Verbindung _____________ 10
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So jedenfalls argumentiert Müller-Wille, Staffan, Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines Natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707-1787), Berlin 1999. Schlegel: Über das Studium, S. 308. Claudia Becker zeigt, dass es August Wilhelm Schlegel ist, der dieses Programm weiter verfolgt. S. Becker, Claudia, „Naturgeschichte der Kunst“: August Wilhelm Schlegels ästhetischer Ansatz im Schnittpunkt zwischen Aufklärung und Frühromantik, München 1998. Bereits Peter Szondi hat das erkannt, allerdings ohne Schlegels Anlehnung an die Naturgeschichte weiter zu verfolgen: „Der berühmte Satz aus dem Studium-Aufsatz, der die griechische Poesie als ‚eine ewige Naturgeschichte des Geschmacks und der Kunst‘ begreift, meint keine vom Naturgesetz bestimmte Geschichte, sondern, wie bei Plinius, eine Ordnung, ein natürliches System. Und Schlegel insistiert darauf, daß in der griechischen Poesie ‚der ganze Kreislauf der organischen Entwicklung der Kunst abgeschlossen und vollendet‘ ist, was die Rede vom System im strengen Sinn allererst erlaubt.“ Szondi, Peter, „Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten. Versuch einer Rekonstruktion auf Grund der Fragmente aus dem Nachlaß“. In: Euphorion, 64/1970, S. 181-199 (hier: S. 192).
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bringen, weil er sein System der Gattungen griechischer Literatur vor jeder temporalen Geschichte situiert: Es ist eben eine „ewige Naturgeschichte des Geschmacks und der Kunst“, die ihm vorschwebt. In der Anwendung des terminologischen Gegensatzes von natürlich vs. künstlich, der ihm dazu dient, Kunstwerke als exemplarische Vorbilder hervorzuheben oder umgekehrt abzuwerten, muss das besagte System dann definitionsgemäß ein natürliches sein. Mit dem Verlauf der Geschichte treten, Schlegel zufolge und einem rousseauistischen Verfallsmodell entsprechend, Vernunft und Künstlichkeit auf den Plan, folglich „entartet“ das reine und natürliche Ideal der griechischen Dichtung in der Zeit.14 Das aus diesem Befund sich ergebende poetische Programm fordert von der Moderne dann eine Wiederannäherung an das verloren gegangene Ideal. Die ‚Geschichte‘ ist daher eine in sich zerrissene: Zeugt Schlegels Abhandlung einerseits von einem sich im späten 18. Jahrhundert durchsetzenden Kunst- und Kulturgeschichtsdenken, das zeitliche Abläufe annimmt, so partizipiert sie anderseits noch an einem Wissensmodell der Naturgeschichte, das der Unveränderlichkeit der Arten und damit einem ahistorischen Weltbild verpflichtet ist.15 Der um 1800 sich abspielende, keineswegs ohne Wendungen verlaufende Prozess der Verzeitlichung der Naturgeschichte16 wird von Schlegel noch nicht in vollem Umfang aufgenommen, sehr wohl aber ist sein im temporalen Sinn geschichtliches Modell von Kunst und Literatur fortschrittlich. Der eigene Argumentationsgang bestimmt, an welcher Stelle beide Aspekte − Unveränderlichkeit und historische Entwicklung − von ihm aufgegriffen werden. Dass Schlegels ästhetisch-poetologische Position einen Widerspruch hinsichtlich ihrer historischen Normativität enthält, hat schon Hans Robert Jauß herausgearbeitet. Das Ideal des antiken Griechentums ist demnach ein in sich geschlossenes, das aber von einer Gegenwart, deren Fortschritt als unendliche Perfektibilität konzipiert ist, wieder erreicht werden soll.17 Zu widersprechen ist Jauß’ einschlägiger Darstellung aber hinsichtlich der in ihr vertretenen Auffassung des Begriffs ‚Naturgeschichte‘: Obgleich Schlegel eine Kulturgeschichte entwirft, bleibt die griechische Kunst (nur diese!) als idealisierte „ewige Naturgeschichte“ für ihn doch gerade _____________ 14 15
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Schlegel, Über das Studium, S. 350. Rheinberger, Hans-Jörg, „Aspekte des Bedeutungswandels im Begriff organismischer Ähnlichkeit vom 18. zum 19. Jahrhundert“. In: History and Philosophy of the Life Sciences, 8/1986, S. 238. Dazu Lepenies, Wolf, Das Ende der Naturgeschichte: Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München/Wien 1976. Jauß, Hans Robert, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970. Zur aporetischen Konstruktion des Studium-Aufsatzes s. auch Bernhard Fischer, „Die Aporie des progressiven Klassizismus. Friedrich Schlegels ‚Studium‘-Aufsatz“. In: Carsten Dutt/Roman Luckscheiter (Hgg.), Figurationen der literarischen Moderne, Heidelberg 2007, S. 61-84.
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ahistorisch. Das ‚Griechentum‘, das Jauß als „eine[…] in sich vollkommene[…] Geschichte“ bezeichnet, ist als Naturgeschichte konzipiert und entbehrt der Entwicklung. Es ist mustergültig und zeitenthoben, nicht „naturhafte Form der Geschichte“,18 sondern vorevolutionäre Naturform, die in ihrer Natürlichkeit makellos und vorbildlich ist.19 In dem Moment, in dem sein Verfall beginnt, hat es eben auch seine ganzheitlich geschlossene Idealität als Griechentum eingebüßt. Auch in seiner Darstellung des Sanskrit bleibt Schlegel der These einer von kulturellem Niedergang gefolgten Blüte in der Antike treu. Das Sprachmodell von 1808, 13 Jahre nach dem Studium-Aufsatz entstanden, ist an diesen durchaus anschlussfähig − auch wenn die frühromantische Phase spätestens mit den Sanskrit-Studien und der im Erscheinungsjahr des Indier-Buches erfolgenden Konversion zum Katholizismus als beendet gelten kann. Die Frage nach den Auswirkungen einer ‚Wende‘ zwischen dem Früh- und Spätwerk Schlegels ist hier nicht grundsätzlich zu entscheiden.20 Sie interessiert gleichwohl in Bezug auf die sprachtheoretischen Leitgedanken und ihren Bezug zum naturgeschichtlichen Diskurs. In dieser Hinsicht fällt auf, dass Schlegels Interesse an der Naturforschung, das sich schon in den frühen Schriften abzeichnet, bis zu den letzten, religiös ausgerichteten Vorlesungsreihen nicht nachlässt. Seine Gegenüberstellung organischer und mechanischer Sprachen, die er im Sinne einer Opposition von Natürlichem und Künstlichem als Wertungsmodell konzipiert, ist häufig beschrieben worden.21 Die Bedeutung der Bezüge, die dieses Modell zu den Naturwissenschaften der Zeit unterhält, sind hingegen noch nicht hinreichend herausgestellt. Schlegel beschreibt _____________ 18 19
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Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 91. Genauer sieht das Szondi: „Dabei darf man den Begriff Naturgeschichte nicht falsch verstehen. Der Ausdruck hat mit dem historischen Verständnis, wie es sich in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ausbildet, nichts zu tun, sondern er geht auf den alten Namen der Naturwissenschaften zurück: historia naturalis, histoire naturelle. Nicht von Geschichte ist hier die Rede, sondern von einem System der Natur, das alle ihre Erscheinungen erfaßt und ordnet.“ Szondi, Peter, Poetik und Geschichtsphilosophie I, Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 2, Frankfurt/M. 1974, S. 135 f. S. dazu Plumpe, Gerhard, Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd. 1, Von Kant bis Hegel, Opladen 1993, S. 151-172; sowie ausführlicher zum Spätwerk Schöning, Matthias, Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen ‚Athenäum‘ und ‚Philosophie des Lebens‘, Paderborn 2002. Angefangen mit Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft, S. 357-369; s. außerdem Nüsse, Heinrich, Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, Heidelberg 1962, S. 40 f.; Timpanaro, Sebastiano, „Friedrich Schlegel and the Beginnings“; Eisel, Eric, „Friedrich Schlegel’s ‚Über die Sprache und Weisheit der Indier‘“. In: New German Review, 9/1993, S. 45-61. Den Nachweis, dass Wilhelm von Humboldt, in dessen Sprachtheorie der Begriff des ‚Organischen‘ von entscheidender Bedeutung ist, das Schlegelsche Wertungsmodell von organisch vs. mechanisch strikt ablehnt, führt Nüsse, S. 48, Fn. 35.
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das Sanskrit als exemplarisch für die so genannten organischen Sprachen, die sich dadurch auszeichnen, flektierend zu sein. Ihre Struktur sei organisch gebildet, durch Flexion oder innere Veränderungen und Umbiegungen des Wurzellauts in allen seinen Bedeutungen ramifiziert, nicht bloß mechanisch durch angehängte Worte und Partikeln zusammengesetzt.22
Die verbalen Wurzeln solcher Sprache seien, so Schlegel, extrem wandelbar und verfügten über ein semantisches Potential, das Kombinationen mit anderen Morphemen in den meisten Fällen nicht notwendig werden lasse. Es wohne ihnen die Kraft inne, adäquate Bedeutung aus sich heraus zu generieren. Mit der griechischen Literatur teilen sie das Schicksal, im geschichtlichen Verlauf ihre Reinheit verloren zu haben, in den Anfängen aber sind sie den natürlichen Arten des griechischen poetologischen ‚Systems‘ aus dem Studium-Aufsatz ganz gleichwertig. Das Sanskrit habe „ein sehr feines Gefühl nämlich für den unterscheidend eigentümlichen Ausdruck, für die ursprüngliche Naturbedeutung, wenn ich so sagen darf, der Buchstaben, der Wurzellaute und Silben.“23 Von ihrem ursprünglichen Sinn ausgehend, passen die Wörter ihre Gestalt der jeweiligen grammatischen Konstruktion an, wobei sie an ihre jederzeit erkennbar bleibende Wurzel gebunden bleiben. Was über weite Strecken wie die Beschreibung gewöhnlicher Flexionsvorgänge erscheinen mag, ist für Schlegel gleichwohl die offensichtliche Demonstration der qualitativen Sonderstellung des Sanskrit. Nicht zufällig sieht Foucault in eben dieser Privilegierung des Flexionsprinzips eine der entscheidenden epistemologischen Weichenstellungen dieser Zeit: Die zuvor noch auf der Oberfläche der Dinge erkennbaren Distinktionsmerkmale, nach denen Objekte unterschieden und klassifiziert worden sind, werden nun im Inneren der Körper gesucht. Zeitgleich zur Praxis der anatomischen Körpersektion und dem Versuch, spezifisch lebenserhaltende Funktionen der Organe zu definieren,24 analysiert die Linguistik grammatische Strukturen und ‚verwurzelt‘ das Flexionsprinzip in der Tiefe der Wörter.25 Schlegels stark wertender Vergleich zwischen flektierenden und nicht flektierenden Sprachen zielt zwar einerseits darauf ab, eine Genealogie der − so seine Annahme − sich vom Sanskrit herleitenden Sprachen zu erstellen, ist also Voraussetzung für Sprachgeschichte und stellt in _____________ 22 23 24
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Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier, S. 149. Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier, S. 151. So fasst Foucault die Cuviersche Innovation des Fachs zusammen, s. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 322 f. S. auch Trabant, Jürgen, Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens, München 2003, S. 244.
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genau dieser Hinsicht Schlegels linguistische Innovation dar.26 Andererseits ist der Gegensatz selbst ein strikt typologischer. Insofern gilt auch hier, in Bezug auf Schlegels Anlehnung an die vergleichende Anatomie: „Sein anatomisches Konzept ist nicht evolutionär, sondern entspricht einer Konstanz der Arten“.27 Betrachtet man nun Schlegels privilegierte Einstufung der antiken Sprachen vor dem Hintergrund seiner Idealisierung der griechischen Dichtung und der Idee eines aus ihr gebildeten natürlichen Systems, so zeichnet sich in seiner Linguistik bereits ab, was August Schleicher ein halbes Jahrhundert später im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Neuerfindung der Sprachwissenschaft ausführen wird: Schleicher bezeichnet die Linguistik als „Theil der Naturgeschichte des Menschen“ und privilegiert, den Vorgaben Schlegels folgend, die Flexion als Kriterium höchster sprachlicher Qualität. Auch Schleicher sieht in den antiken, flektierenden Sprachen eine vorhistorische Blüte der Sprachentwicklung. Die genealogische Sprachvergleichung, wie Schlegel sie einführt, wird hier zum Kern einer Linguistik, deren „Weise der Specification“ dem „Wesen der natürlichen Systeme der Naturwissenschaften“ entsprechen soll.28 Schlegel konzipiert die Flexibilität und Wandelbarkeit der Wurzelmorpheme der klassischen Sprachen quasi vitalistisch als eine Art Lebenskraft. Er greift dabei auf ein Vokabular zurück, das er dem Kontext der Botanik entnimmt. Die „organische“ Entwicklung der Sprache und ihrer „Wurzeln“ geht aus von einem „fruchtbare[n] Same[n]“, einem „Keim lebendiger Entfaltung“, der „auf einen gemeinschaftlichen Stamm“ zurückgeführt werden kann, die Sprache selbst bildet „ein organisches Gewebe“.29 Einige dieser Ausdrücke waren freilich schon früh Teil linguistischer Terminologie, so gibt das Deutsche Wörterbuch als ersten Beleg für den Begriff der _____________ 26 27
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Timpanaro, „Friedrich Schlegel and the Beginnings“, S. XXXIV. Timpanaro, „Friedrich Schlegel and the Beginnings“, S. XXXV. In J. Peter Mahers Übersetzung aus dem Italienischen: „His concept is not of evolutionary anatomy, but an anatomy of fixed species.“ Timpanaros Urteil über die Implikationen ist eindeutig: Schlegels Wertung ist „a kind of Manichaean, potentially racist, mysticism which splits the human species in two.“ Zu differenzieren ist dagegen Koerners Ansicht, nach der Schlegel eine evolutionistische Sprachtheorie vertritt. Schlegel geht zwar von einer Entwicklung aus, diese ist aber eine kulturelle Verfallsgeschichte seit der Antike, und: „genealogical comparison was limited by him to languages which he thought to be reived from Sanskrit“ (ebd., S. XXXIV). Vgl. Koerner, Konrad, Professing linguistic historiography. Amsterdam 1995, S. 47-76. Schleicher, August, Die Sprachen Europas in systematischer Uebersicht, Bonn 1850, S. 1-39 (hier: S. 1, S. 23). Zu Schleicher s. Roggenbuck, Simone, „Die genealogische Idee in der vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Stufen, Stammbäume, Wellen“. In: Sigrid Weigel u.a. (Hgg.), Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie. Berlin 2005, S. 294 f. Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier, S. 159.
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Wurzel im linguistischen Sinn das Jahr 1571 an, während die spezifische Verwendungsweise, derer Schlegel sich bedient − Wurzel als ursprüngliches Morphem und Basis lexikalischer Neuerungen in verwandten Sprachen − von Herder und Grimm eingeführt worden war.30 Im Falle Schlegels ist diese Ausdrucksweise jedoch mehr als nur ein rhetorisches Mittel zur Illustration eines abstrakten Arguments. Sie stellt vielmehr die sprachliche Oberfläche einer tieferen, epistemologischen Korrespondenz der Terminologie mit ihrem Objekt dar. So muss, was Helmut Müller-Sievers für Wilhelm von Humboldt31 und John Neubauer für Friedrich Schlegels Literaturgeschichte32 gezeigt haben, auch für dessen Linguistik angenommen werden: Das Modell einer Sprache als “lebendige[s] Gewebe, das nun durch innere Kraft weiter fortwuchs und sich bildete“,33 ist angeregt durch die Epigenesis-These, die, vorbereitet durch Buffon und Caspar Friedrich Wolff,34 Johann Friedrich Blumenbach mit großer Wirkung auf die deutsche Naturphilosophie und Romantik einführt.35 Wie Blumenbach Organismen beschreibt, die nach der Geburt allmählich ihre endgültige Gestalt _____________ 30
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Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 30, Leipzig 1854-1961, Sp. 2356. Zu Schlegels „Wurzel“-Begriff und seiner früheren Geschichte s. Roggenbuck, Die genealogische Idee, S. 292 f. und S. 303. Zum Gebrauch biologischer Begrifflichkeiten in linguistischem Kontext s. Henry M. Hoenigswald/Linda F. Wiener (Hgg.), Biological metaphor and cladistic classification, Philadelphia 1987. Nach Percival sind die meisten der oben genannten biologischen Begriffe bereits in „ancient, medieval, and Renaissance thought“ in sprachbezogenem Gebrauch gewesen. Den Gebrauch von „Wurzel“ im morphologischen Sinn datiert er zurück auf „the early modern period“. S. ders., „Biological Analogy in the Study of Language Before the Advent of Comparative Grammar“, ebd., S. 3-38 (S. 21). Er erkennt allerdings keine epistemologischen Zusammenhänge: „In other words, there is no clear evidence that developments in linguistics up to the beginning of the nineteenth century had been influenced in any essential way by natural history.“ (S. 26) Müller-Sievers, Helmut, Self-generation: biology, philosophy, and literature around 1800, Stanford/ California 1997; Ders., Epigenesis. Naturphilosophie im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, Paderborn 1993; Ders., „Über Zeugungskraft. Biologische, philosophische und sprachliche Generativität“. In: Hans-Jörg Rheinberger (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 145-163. Neubauer, John, „Epigenetische Literaturgeschichten bei August Wilhelm und Friedrich Schlegel“. In: Reinhard Wegner (Hg.), Kunst – die andere Natur, Göttingen 2004, S. 211-227. Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier, S. 171. Wolff, Caspar Friedrich, Theorie von der Generation, in zwei Abhandlungen erklärt und bewiesen (1764)/Theoria generationis (1759), Hildesheim 1966. Blumenbach, Johann Friedrich, Über den Bildungstrieb, 2. Fassung, Göttingen 1789. MüllerSievers, Self-generation, zufolge ist die Epigenesis das Prinzip, das der deutschen romantischen Sprachphilosophie von Herder bis Wilhelm von Humboldt zugrunde liegt. Nach E.F.K. Koerner enthält Schlegels historische Linguistik Elemente eines Denkens der Evolution, wie es sich in der Naturgeschichte zu dieser Zeit abzuzeichnen beginnt. Es scheint jedoch plausibler, den historischen Zuschnitt der Sprachgenealogie Schlegels langfristiger von Winckelmann und Herder herzuleiten, die den zeitlichen Aspekt in die Kunst- und Kulturgeschichte eingeführt haben. Siehe Koerner, E.F.K., „Friedrich Schlegel and the Emergence of Historical-Comparative Grammar“. In: Lingua e Stile 22/1987, S. 341-365.
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annehmen und diese nach Verletzungen wieder herstellen, so konzipiert Schlegel die innere Kraft der Wurzelmorpheme, ihre Form und Bedeutung autonom hervorzubringen. Die verbalen Grundeinheiten eines solchen epigenetischen Sprachmodells brauchen keine sekundäre Leistung oder Supplementierung, die sie, in Schlegels Begrifflichkeit, zu „mechanischen“ machen würde. Die begriffliche Opposition „organisch“ vs. „mechanisch“ entspricht Blumenbachs strikter Einteilung der Natur in ein „organisiertes“ und ein „unorganisiertes“ Reich. Letzteres, so Blumenbach, weise zwar „bildende Kräfte“ auf, etwa bei Kristallisationen, entbehre aber den eigentlichen Bildungstrieb, der nur lebenden Wesen eigne.36 Diese Grundunterscheidung, die Foucault bereits bei Peter Simon Pallas und Jean-Baptiste de Lamarck entdeckt,37 impliziert eine Hierarchie der Naturreiche, die sich in Schlegels Klassifikation der Sprachen spiegelt. Schlegels Sprachtheorie folgt einem klassifikatorischen Denkmuster, ist aber keiner streng hierarchischen Systematik oder Taxonomie, also etwa einer Einteilung in Familien, Gattungen und Arten verpflichtet. Begriffe wie „Gattung“ und „Art“ benutzt Schlegel nicht im Sinn einer kohärenten Terminologie, er bedient sich aber doch der mit ihnen eingeführten Differenzierung der Objekte nach definierten Unterscheidungskriterien. Sein linguistisches wie sein literaturgeschichtliches Denken orientiert sich punktuell am Erkenntnisstand der zeitgenössischen Naturforschung, ohne deren Maßstäbe der Exaktheit zu übernehmen. Entsprechend kann auch die genealogische Dimension seiner Theorie vor dem Hintergrund einer naturgeschichtlichen und anthropologischen Thesenbildung gelesen werden: So findet etwa Kants Annahme eines ursprünglichen, einheitlichen Menschenstammes, aus dem sich durch verschiedene klimatische Einflüsse vier menschliche Rassen herausbilden,38 ein Echo in Schlegels Postulat einer oder mehrerer Ursprachen, aus der sich alle weiteren historisch ableiten lassen. Der späte Schlegel legt sich auf die adamitische Sprache als linguistische Urschicht fest,39 die, auch aufgrund ihrer unmittelbar göttlichen Qualität, nicht mehr rekonstruiert werden könne (wie ja auch Kant den Menschenstamm für wissenschaftlich nicht mehr rekonstruierbar hält, _____________ 36 37 38
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Blumenbach, Über den Bildungstrieb, S. 70 f. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 286 f. Kant, Immanuel, „Von den verschienen Rassen der Menschen“ und „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse“. In: Werkausgabe, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Bd. XI und XII, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt 1968, S. 11-30 und S. 65-82. Schlegel, Friedrich, „[Über J.G. Rhode: Über den Anfang unserer Geschichte und die letzte Revolution der Erde 1819]“. KFSA, Bd. 8, hg. v. Ernst Behler, S. 508 f.; Ders.: Philosophische Vorlesungen insbesondere über die Philosophie der Sprache und des Wortes. Geschrieben und vorgetragen zu Dresden im Dezember 1828 und in den ersten Tagen des Januars 1829, KFSA, Bd. 10, hg. v. Ernst Behler, S. 361 f.
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wenngleich aus anderen Gründen), benennt aber neben dieser religiös inspirierten Annahme die Methode der Geognosie als Vorbild für etwaige Versuche, die Entstehungsschichten der frühesten Sprachen wieder aufzufinden.40 Bis in seine von der katholischen Theologie durchdrungene Spätphilosophie hinein hält Schlegel an dem Versuch fest, die Evidenzen von Naturwissenschaft und Spekulation zu vereinbaren. Er befindet sich damit in Gesellschaft der Naturphilosophie, auch wenn er sich wiederholt und scharf von deren pantheistischer Tendenz abgrenzt.41 Die Theoreme der Naturforschung werden von ihm dankbar aufgegriffen und in die eigene Konzeption eingebunden − wobei die Bezüge zu den Objekten, an denen solche Erkenntnisse ursprünglich gemacht worden sind, genauso verloren gehen wie deren experimentelle Überprüfbarkeit. Die These einer bildenden Kraft der Wurzelmorpheme etwa bleibt eine Behauptung, die ein am lebenden Objekt beobachtetes Wissen auf sprachliche Gegenstände überträgt, ohne diesen Vorgang mit − aus heutiger Sicht − belastbaren analytischen Nachweisen zu stützen.
Pflanze und Tier Foucault benennt zwei weitere epistemologische Umstellungen, die sich um die Jahrhundertwende vollziehen. Während die Fortschritte der naturgeschichtlichen Klassifikationsmethoden in erster Linie auf dem Gebiet der Botanik gemacht wurden und entsprechend das Untersuchungsobjekt Pflanze im Mittelpunkt stand, übernimmt im 19. Jahrhundert die vergleichende Anatomie die Führungsrolle. In diesem Zuge verlagere sich der Schauplatz der entscheidenden Entdeckungen und methodischen Neuerungen auf das Tier.42 In engem Zusammenhang damit steht die zweite Umstellung: Zur zentralen Kategorie der biologischen Disziplinen dieser Zeit wird das Leben selbst als ein komplexer Prozess, der alle organischen Funktionen und die Hierarchie der Organe jedes lebenden Körpers bestimmt. Sind Foucaults Beobachtungen hinsichtlich der epistemologischen Grundtendenzen der Zeit einleuchtend, so muss doch mit Bezug auf Schlegel die erste der beiden modifiziert werden: Zwar ist der linguistischen und der anatomischen Forschung gemeinsam, dass sich ihr Blick weg von der Oberfläche und hin zu Strukturen verschiebt, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Dennoch sucht Schlegels Linguistik die Nähe zur Botanik und partizipiert an vielen Prinzipien botanischen Wis_____________ 40 41 42
Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 363 f. S. etwa das 2. Buch von Über die Sprache und Weisheit der Indier. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 338 f.
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sens. Die Theorie organisch flektierender Sprachen, denen ein Bildungstrieb innewohnt, lässt sich weitaus plausibler in einer Beschreibungssprache vorbringen, die von der Vorstellung eines gleichmäßigen und bewusstlosen pflanzlichen Lebens bestimmt ist. Schlegels Anleihe bei der Botanik bleibt aber nicht äußerlich, sie durchdringt auch die konzeptionelle Ebene seiner Thesen und geht über die Bildfelder in die Klassifikation der Sprachen ein. Dass er für seine Theorie eine dezidiert botanische Begrifflichkeit entwickelt, ist zudem nichts als konsequent angesichts seiner wiederholten Ablehnung einer der einflussreichsten Thesen des 18. Jahrhunderts, vertreten u.a. von Condillac und Rousseau: Der Annahme, die Sprache habe ihren Ursprung in unartikulierten Ausrufen heftiger Leidenschaft, in direkten Gefühlsäußerungen, die den instinktiven Stimmlauten der Tiere ähneln.43 Festzuhalten bleibt demnach, dass Schlegels Linguistik Parallelen sowohl zur vergleichenden Anatomie als auch zur Botanik aufweist. Schlegel ist freilich nicht der erste und einzige Sprachwissenschaftler, dessen Beschreibungen der Sprache an die von Pflanzen erinnern. Die Beispiele Friedrich Rückert,44 Jacob Grimm, Wilhelm von Humboldt45 und Franz Bopp zeigen zur Genüge, dass das Bildfeld der Botanik zu Anfang des Jahrhunderts verbreitet ist.46 August Schleicher wird später den Versuch unternehmen, die Analogie von Linguistik und Naturgeschichte wissenschaftlich zu präzisieren und in diesem Zug eine Klassifikation der Sprachen entsprechend der drei Naturreiche Mineralien, Pflanzen und Tiere vornehmen, wobei er den flektierenden Sprachen die höchste Stufe zuerkennt. Allerdings wird diese Sprachgruppe für Schleicher den Rang des „animalischen Organismus“ einnehmen,47 womit − in der Linguistik also erst Mitte des Jahrhunderts − das Tier die Pflanze als erkenntnistheoretisches Leitobjekt ablöst. _____________ 43
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Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier, S. 169; Schlegel, „[Über J.G. Rhode]“, S. 474-528 (S. 511); Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 309-534 (S. 359). Zu Schlegels Auffassung des Sprachursprungs s. Nüsse, Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, S. 50 f. Schlegel beurteilt den Stellenwert tierischer Lautäußerungen innerhalb der Geschichte der menschlichen Sprachentstehung kritisch und nimmt einen göttlichen Sprachursprung an. Der frühe Schlegel räumt eine Hilfsfunktion der Tierlaute ein, s. Nüsse, S. 17 f. Cf. Willer, „Haki Kraki“, S. 410 f. Zu Humboldt s. Picardi, Eva, „Some Problems of Classification in Linguistics and Biology, 1800-1830.“ In: Historiographia Linguistica, 4/1977, Nr. 1, S. 31-57 und Müller-Sievers, Selfgeneration. Tatsächlich hat man in der Sprachtheorie schon früher Vokabular gebraucht, dass der Beschreibung der Pflanzen entstammt. Vgl. dazu Willer, Poetik der Etymologie, S. 51 f., zu Justus Georg Schottels „organologische[r] Metaphorik“, die freilich ganz andere Intentionen und Implikationen hat. Schleicher, Die Sprachen Europas, S. 9.
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Dass die Nähe der beiden Wissensbereiche Linguistik und Botanik nicht nur oberflächlich und metaphorisch, sondern in der zeitgenössischen Entwicklung um 1800 epistemisch fundiert ist, zeigt sich auch bei einem Blick auf William Jones. Von ihm wird bekanntlich das Interesse am Sanskrit gegen Ende des Jahrhunderts angeregt: Seine Beobachtung von lexikalischen und grammatischen Ähnlichkeiten zwischen dem Sanskrit, Latein, Griechisch, Persisch und Deutsch löst die weitere Erforschung der genealogischen Verhältnisse dieser Sprachen aus.48 Jones erforscht allerdings nicht nur die Sprachen, die Philosophie und Mythologie Asiens, sondern auch die asiatische Flora. Die empirische Klassifikation der Pflanzen erscheint ihm als ein Erkenntnisprozess, der dem Sprachenlernen vergleichbar ist und gleich diesem Lehrwerke benötigt: As we learn a new language, by reading approved compositions in it with the aid of a Grammar and Dictionary, so we can only study with effect the natural history of vegetables by analysing the plants themselves with the Philosophia Botanica, which is the Grammar, and the Genera et Species Plantarum, which may be considered as the Dictionary, of that beautiful language, in which nature would teach us what plants we must avoid as noxious, and what we must cultivate as salutary, for that the qualities of plants are in some degree connected with the natural orders and classes of them, a number of instances would abundantly prove.49
Zwischen Jones’ und Schlegels wissenschaftlichem Interesse an der Sprache bestehen gleichwohl deutliche Unterschiede.50 Jones’ These einer gemeinsamen historischen Ausgangsbasis des Sanskrit und der alten europäischen Sprachen − für die er wohl mehr Ruhm erhalten hat, als für alle anderen seiner Aktivitäten, darunter umfangreiche Übersetzungen vom Persischen ins Französische und eine Grammatik des Persischen − ist in nicht mehr als einem Satz enthalten, der kaum weniger häufig zitiert worden ist,51 als Schlegels Parallelisierung der vergleichenden Anatomie mit der Genealogie der Sprachen. Jones’ These mag die Arbeiten Schlegels, und nach ihm die Franz Bopps, angeregt haben, ein Hinweis auf eine Sonderstellung der flektierenden Sprachen ist bei ihm jedoch genauso _____________ 48
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Gleichwohl ist er nicht der erste, der die genealogische Verbindung zwischen europäischen Sprachen und dem Sanskrit erkennt. Für eine Übersicht früherer Quellen s. Muller, JeanClaude, „Early stages of language comparison from Sassetti to Sir William Jones (1786).“ In: Kratylos, 31/1956, S. 1-31. S. auch Henry M. Hoenigswald, „Etymology against grammar in the early 19th century“. In: Histoire, épistémologie, langage 62/1984, S. 95-100. Jones, William, „The Design of a Treatise on the Plants of India.“ In: Anna Marie Jones (Hg.), Works in six vols, Vol. 2., London 1799, S. 1-8 (S. 8). Hoenigswald, Henry M., „On the History of the Comparative Method“. In: Anthropological Linguistics, 5/1963, S. 1-11 (S. 3): „A world of difference lies between him [i.e. W. Jones, M.E.] and even Schlegel’s comparative grammar - let alone the Comparative Method.“ Er wird deshalb hier nicht noch einmal wiedergegeben. Vgl. Jones, W.: „Third Anniversary Discourse. Delivered 2 February 1786.“ In: Anna Marie Jones (Hg.), Works, Vol. 1., London 1799, S. 26.
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wenig zu finden, wie eine botanische Begrifflichkeit in der Sprachbeschreibung. Sowohl Jones’ botanische als auch seine sprachtheoretischen Werke sind bestimmt von Linnéschen Klassifikationsmethoden, sie sind deskriptiv im Sinne einer empirischen Beobachtung der Form und Charakteristik des Objekts: Seine Botanical Observations on Select Indian Plants etwa bestehen aus einer Liste von in Indien gefundenen Pflanzen, zu deren Beschreibung und Linnéscher Nomenklatur er die jeweiligen indischen Namen hinzufügt, um weitere Forschungen auf diesem Gebiet zu erleichtern.52 Schlegel hingegen weist schon im Indier-Buch empirische Methoden entschieden von sich. In seiner Skizze des historischen Niedergangs der europäischen Philosophie sieht er einen ursprünglichen Idealismus, der der Menschheit durch göttliche Offenbarung zuteil wurde, allmählich herabsinken zur „empirische[n] Denkart“ als „letzte[m] Geisteszustand“, in dem es nicht mehr möglich sei, eine Gottheit zu denken.53 Im selben Jahr, in dem das Indier-Buch erscheint, konvertiert Schlegel zum Katholizismus. Das zweite Kapitel des Buches enthält bereits seine auch den späten Vorlesungen zugrunde liegende Überzeugung von einer ursprünglichen, monotheistischen Offenbarungsreligion. 1819 bestätigt er ausdrücklich seine frühere Klassifikation der Sprachen und die Hierarchie von organischen, flektierenden und einsilbigen Sprachen (wie Chinesisch oder piktographischen Schriftsystemen).54 Was dem Indier-Buch noch implizit zu entnehmen war, folgert er nun explizit: Auch die Sprache erscheint ihm gottgegeben und jede anzunehmende Ursprache damit göttlicher Natur. Er bezieht sich auf die Genesis, um die adamitische Erschaffung der Wörter zu erläutern und lässt keine Zweifel an der Quelle dieser ersten aller Sprachen, „eine[r] ursprünglich wahre[n] und wesentliche[n] Redemitteilung“.55
Entmaterialisierung des Lebens Im Zuge der Überprüfung von Foucaults Thesen bleibt zu klären, welchen Stellenwert der Begriff des Lebens bei Schlegel hat. ‚Leben‘ erhalte, _____________ 52
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Jones, William, „Botanical Observations on Select Indian Plants.“ In: Works. Vol. 2, S. 47118. Eine botanische Einschätzung dieser Arbeit bietet B. T. Styles, „Sir William Jones’ Names of Indian Plants.“ In: Taxon 25/1979, S. 671-674. Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier, S. 303. Schlegel, „[Über J.G. Rhode]“, S. 508 f. Schlegel, „[Über J.G. Rhode]“, S. 508 und S. 511. Vgl. Schöning, Ironieverzicht, S. 282, zur zunehmenden Bedeutung der Religion bei Schlegel: „Alle gesellschaftlichen Phänomene, und die Literatur ganz besonders, müssen sich − vor allem späterhin − an einem philosophisch-theologisch begründeten und kirchlich sanktionsfähigen Maßstab messen lassen.“
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so Foucault, um 1800 eine völlig neue Bedeutung und müsse als die wichtigste konzeptionelle Erfindung der neu entstandenen Biologie angesehen werden.56 Tatsächlich ist Schlegels Verwendung des Begriffs im sprachtheoretischen Zusammenhang nicht nur rhetorisch. Noch in seiner letzten, in Dresden gehaltenen Vorlesungsreihe (1828/29) unternimmt er den Versuch, die Begriffe des Lebens und der Sprache so miteinander zu verkoppeln, dass sie einander auf hohem Niveau bedingen. Bei emphatischer Zurückweisung des Rationalismus57 entwirft Schlegel eine Metaphysik, die sich auf sprachphilosophische Analogien gründet. Das Leben als „allumfassendes GrundWort“ ist ein Zusammenspiel der zwölf Buchstaben des „Alphabet[s] des Bewußtseyns.“ Unter diesen letzteren sind zwölf „Grundkräfte“ und „Nebenvermögen“ zu verstehen, aus denen alsdann weiter die ersten Stammsylben oder Sprachwurzeln der höhern Wahrheit und Erkenntnis hervorgehen und gebildet werden, und endlich ganze Wörter und zusammenhängende Redesätze in dieser innern Sprache der wahren Wissenschaft.58
An diesem späten Punkt seines Lebens führt Schlegel das Projekt konsequent zu Ende, das sich in seinen frühen Schriften schon andeutet: Was er nun „Wissenschaft“ nennt, steht im größtmöglichen Gegensatz zu empirischem Wissen. Es ist ihm die höchste Form des Bewusstseins, die zur Idee Gottes hinführt. Er errichtet ein metaphysisches System auf der Basis seiner frühen Terminologie, die er dabei nicht aufgeben muss. Zu den biologischen Versatzstücken seiner sprachgeschichtlichen Theorie addiert er die theologische Spekulation. Nach der historischen „Emanzipation des Wissens vom Glauben“ ist er bestrebt, beide wieder aneinander zu binden.59 Formulierungen wie die von „dem höhern Princip des innern Lebens und seinem ganzen organischen Gliederbau“ sind dabei keineswegs metaphorisch. Ihnen ist in Schlegels System eine eigentliche metaphysische Bedeutung zugedacht, die sich mit seinem Frühwerk vereinbaren lässt und deren Gültigkeitsanspruch sich aus der theologischen Überzeugung des Autors ergibt. Eine Passage aus der Philosophie der Sprache und des Wortes wie die, in der er die Silben als „die lebendigen Wurzeln oder auch de[n] Urstamm“, „das Erste und Ursprüngliche, was in einer Sprache gegeben ist“ bezeichnet,60 könnten ohne Einschränkung dem Indier-Buch entnommen sein. Beginnt mit Schlegels früher Linguistik ein Denken in _____________ 56 57 58 59
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Foucault, Ordnung der Dinge, S. 334 f. Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 447. Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 427. Jutta Osinski, Katholizismus und deutsche Literatur im 19. Jahrhundert, Paderborn 1993, S. 88. Osinski bietet eine gelungene Darstellung von Schlegels Spätphilosophie unter dem treffenden Titel „Spekulativer Universalkatholizismus“, s. ebd. S. 83-183. Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 433.
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grammatischen Strukturen, so überführt er dieses nun auf eine anzunehmende Ebene des höheren Bewusstseins, auf der die Sprache eine Quelle religiöser Erkenntnis ist: Dann wäre also die wahre Denkmethode in dieser Selbsterkenntniß des zur Sprache gelangten Lebens auch von einer durchaus grammatischen Natur und Beschaffenheit; und die höhere Logik, wenn man es so nennen […] wollte, würde dann auch nichts anders seyn als die innere Sprachregel und richtige Grammatik des lebendigen Denkens.61
In dieser Version einer Lebensphilosophie ist „Leben“ ein nahezu ausschließlich geistiger Begriff und der Verweis auf Physisches bis ins Bedeutungslose degradiert. Der „Leib“ (außerhalb des theologischen Diskurses wäre auch seinerzeit schon „Körper“ gebräuchlicher gewesen62) rangiert in der Begriffstrias Geist-Seele-Leib an letzter Stelle und gilt als „Anlaß des Widerstreits“ innerhalb des „Menschenwesens“.63 Aus dem Nachdruck, mit dem Schlegel nun das ‚Leben‘ ins Zentrum seiner Philosophie stellt, lässt sich der Wille ablesen, diese ‚entmaterialisierte‘ Bedeutungsschicht des Begriffs als dessen eigentliche zu etablieren. Nur folgerichtig ist es, dann auch den Tod zu eliminieren: Streng und genau genommen aber giebt es nach jenem Standpunkte des Lebens eigentlich keinen Tod, sondern nur einen Wechsel des Lebens und seiner vorübergehenden Formen […]. Es giebt keinen Tod in der Natur, d.h. der Tod ist nichts wesentlich Ursprüngliches; er ist erst später und zufällig in die Schöpfung hineingekommen.64
Die irritierende Verbindung der Anschauungen einer genauen Analyseform der Objekte auf der einen und eines allem auf diesem Weg gewonnenen Wissen zugrunde gelegten spiritualistischen Systems auf der anderen Seite, wie sie in der Entwicklung der Schlegelschen Sprachtheorie vorliegt, lässt sich als eine Version der in zwei entgegengesetzte Richtungen auseinanderdriftenden, aber doch miteinander korrespondierenden wissenschaftlichen Bemühungen der Zeit verstehen, wie Foucault sie beschreibt. „Die neue Positivität der Wissenschaften vom Leben, von der Sprache“, so Foucault, „korrespondiert mit der Einführung einer Transzendentalphilosophie. […] das Leben und die Sprache erscheinen jeweils als ‚Transzendentalien‘, die die objektive Erfahrung der Lebewesen […] und der Formen der Sprache ermöglichen.“65 An Schlegels Werk und _____________ 61 62
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Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 451. s. Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Wien 1811, Sp. 1990. Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 334. Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 502. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 301.
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exemplarisch an seinem Begriff des Lebens ist diese Dualität ablesbar. Die klassifizierende Betrachtungsweise der Objekte, etwa der „mehrsilbigen Sprachen“ als „organisches lebendiges Gewebe“66 wird in Schlegels Spätwerk Teil einer metaphysischen Überzeugung, der zufolge das Leben eine Erscheinungsform des Gottesglaubens ist, bestehend aus „Geist, Seele und Gott“.67 Die Verbindung der beiden theoretischen Richtungen erfolgt auf dem Weg der Sprache und der Begriffe, geht aber – man sollte das nicht unterschätzen – über das bloß Metaphorische hinaus, sie ist vielmehr konzeptionell begründet. So heißt es in der Philosophie des Lebens über das „innere geistige Leben“, es habe Ähnlichkeit mit einem „lebendig fortwachsenden Naturgegenstande“, einem „Baum des menschlichen Bewusstseins und des Lebens“.68 Die dabei in Aussicht gestellte „höchste innere Einheit in der philosophischen Denkart“ gehöre „dem Leben […] an, und zwar nicht gleichnisweise ist sie aus demselben entnommen, sondern sie ist selbst ein Teil und Bestandteil des Lebens“.69 Während also zeitgleich das Leben (im physischen Sinn) zum Leitbegriff der neuen Wissenschaft der Biologie geworden ist, treibt Schlegel seine Anschauungen zu einem metaphysischen Höhepunkt, auf dem der „organische Leib“ nur notwendiger Bestandteil des Menschen ist, das eigentliche Ziel aber ohne alle Materie auskommt.70
Engelszungen Bei all dem bleibt Schlegel seiner komparatistischen Denkweise treu. Um herauszufinden, inwieweit der Mensch auf dem von ihm beschrittenen Weg einer systematisch und stufenweise sich offenbarenden Erkenntnis gehen kann, fordert er nun eine Klassifikation, die über die Naturreiche hinaus geht und auch ätherische Wesen mit einbezieht: Er postuliert eine „vergleichende Psychologie einer höhern Ordnung“,71 die den Menschen mit „reine[n] Geister“ bzw. „Lichtnaturen“ in Beziehung setzt. Die Stu_____________ 66 67 68
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Schlegel, „[Über J.G. Rhode]“, S. 510. Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 426. Dem Begriff des „Baumes“ kommt bei Schlegel große Bedeutung zu, wie Osinski verdeutlicht. Das gesamte Erkenntnisverfahren und die Darstellung der Wirklichkeit ist demnach konzipiert wie das Nachzeichnen eines Baumes, vgl. Osinski, Katholizismus und deutsche Literatur, S. 88. Schlegel, Friedrich, Philosophie des Lebens. In fünfzehn Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1827. In: KFSA, Bd. 10, hg. v. Ernst Behler, S. 7 und S. 11. Schlegel, Philosophie des Lebens, S. 22. Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 344 und S. 397. Schlegel verfolgt diese Idee schon seit der Philosophie des Lebens (1827), s. dort S. 18 f., S. 122.
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fenordnung der Natur sollte in diesem Sinn nicht mit dem Menschen als dem am höchsten entwickelten Wesen enden, sondern wäre fortzusetzen: Eine Vergleichung oder Zusammenstellung noch anderer Art wird das Charakteristische des menschlichen Bewußtseyns nach seinem jetzigen Zustande vielleicht noch deutlicher ins Licht stellen. Man richtet gewöhnlich den Blick mehr nach unten, auf die Thiere, um das eigenthümliche Wesen des Menschen in seinem Bewußtseyn nach dem Unterschiede von diesen zu bezeichnen […]. Fruchtbarer dürfte es noch seyn, den Blick wenigstens bisweilen auch nach oben zu richten und manche charakteristische Eigenthümlichkeiten des menschlichen Bewußtseyns lassen sich am kürzesten und schärfsten bezeichnen, durch eine Zusammenstellung mit den andern erschaffnen, oder wie der Dichter sie nennt, vorgezogenen Geistern, mit denen wir unser Wissen theilen.72
Angespielt ist damit zum Einen auf die aus der antiken Tradition stammende Vorstellung des Genius als einer je persönlich zugeordneten Schutz- und Zeugungsgottheit, die ja im Zuge der klassischen Poetik aktualisiert wird. Zum anderen aber setzt der Gedanke Schlegels philosophische Elaboration solcher christlichen Lehrinhalte fort, denen besonders in der katholischen Kirche Bedeutung zukommt: der Ursünde, der Abwendung des Teufels von Gott,73 der Wertschätzung der Ehe etc. Im Lauf der Geschichte des Christentums geht der antike Genius in die Figur des Schutzengels über, die spätantike Theologie und die Scholastik erfinden eine Rangfolge der Schöpfung, die alle Wesen unterhalb Gottes und über dem Menschen umfasst. Die Himmlische Hierarchie des Dionysius Areopagita etwa beschreibt eine Ordnung der Engel, während Thomas von Aquins Engellehre explizit eine Vergleichbarkeit der menschlichen Sphäre mit der der Engel vorsieht. Im achtzehnten Jahrhundert, wird diese scholastische Vorstellung eingebunden in die aufklärerische Diskussion um eine kontinuierliche Stufenfolge der Wesen, in der die göttliche Ordnung der Schöpfung zu erkennen sei. Die Überzeugung von einer lückenlosen Kette der Wesen ‚beweist‘ dabei die Existenz der Engel.74 Wenn dieser Gedanke dabei nach und nach „eine eher naturalistische Gestalt“ annimmt,75 so dreht Schlegel auch hier das Rad wieder zurück und fügt die methodische Entwicklung, die auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Klassifikationsverfahren bis dato gemacht worden ist, in ein traditionelles, scholastisch geprägtes Weltbild ein. _____________ 72 73 74 75
Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 330 und S. 339. Vgl. z.B. Philosophie des Lebens, S. 17 und Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 387. Astrid von der Lühe, Art. „Stufen“. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10 St-T, Sp. 352 f. Lovejoy, Arthur O., Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übersetzt von Dieter Turk, Frankfurt/M. 1993, S. 231. Zur Stellung der Engel in der Idee einer Kette der Wesen S. 102 und S. 229-231.
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Die vergleichende Annäherung des Menschen an den Wirkungsbereich der Engel führt dazu, der rangniedrigeren Seite eine höhere, sakrale Würde zu verschaffen. Betrifft dies in der scholastischen Engellehre die Kirchenhierarchie,76 so fällt in Schlegels Konzept ein heiligender Abglanz auf die menschliche Sprache zurück. Auf konventionelle Weise grenzt Schlegel den Menschen vom Tier ab, indem er das unterscheidende Kriterium in der menschlichen Sprachbegabung erkennt. Diese ist es aber zugleich, die den Menschen von den „andern erschaffenen Geistern“ unterscheide, und zwar als eine schöpferische Begabung zur Kunst. Wiederholt verweist Schlegel auf Schillers Gedicht „Die Künstler“ und die darin enthaltene Feier der Kunst („Im Fleiß kann dich die Biene meistern,/ In der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein,/ Dein Wissen teilest du mit vorgezognen Geistern,/ Die Kunst, o Mensch, hast du allein.“77), um mit der so zitierten, dichterischen Sprache diese selbst als „die allgemeine, allumfassende Menschenkunst“78 hervorzuheben, die Kunst selbst wiederum als „höhere, geistige Natursprache“79 − als die Eigenschaft also, in der der Mensch dem Engel am nächsten kommt, die zugleich aber sein ureigenstes bleibt. So rechtfertigt die Fähigkeit zur Sprache, mit der Kunst geschaffen werden kann, rhetorisch die Nachbarschaft von Mensch und Engel, zugleich ist sie Quelle der Offenbarung und Form des „inneren Lebens“ des Menschen. Mit seiner spekulativen Philosophie des Lebens manövriert sich Schlegel keineswegs völlig ins Abseits, in der Theologie der ersten Jahrhunderthälfte findet er damit bereitwillige Aufnahme.80 Dass Vorschläge _____________ 76
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Agamben, Giorgio, Die Beamten des Himmels, macht darauf aufmerksam, dass diese Anstrengungen der Theologie, die Hierarchie der Engel auszubuchstabieren, nicht zuletzt dazu dient, die irdische Macht der Kirche sakral zu legitimieren. Denn das strenge Stufensystem der Himmelsbewohner, die als Verwalter der Schöpfung eine Art Exekutive der Regierung Gottes darstellen, wird in der kirchlichen Ämterordnung nachgebildet. Der Vorbildcharakter der himmlischen Wesen würde sich demnach nicht nur auf ihre Dienerschaft Gottes, sondern auch auf ihre Eigenschaft erstrecken, Macht über die ihnen untergeordneten Gläubigen zu besitzen. Auf diesem Weg verschafft sich die kirchliche Hierarchie eine göttliche Bestätigung. So beginnt die Antwort auf Frage 106 des Abschnitts „Erhaltung und Regierung der Welt“, Bd. 8 der Summa theologica, mit der Feststellung: „Die kirchliche Rangstufenordnung ist eine Ableitung und Darstellung der himmlischen“, zitiert nach Agamben, Giorgio, Die Beamten des Himmels. Über Engel, aus dem Ital. übers. und hg. v. Andreas Hiepko. Gefolgt von der Angelologie des Thomas von Aquin, Frankfurt/M./Leipzig 2007, S. 84. Schlegel ist es wohl weniger um diesen gouvernementalen, machttheoretischen Aspekt zu tun. Dennoch ist der Effekt, den Agamben bemerkt, auch bei Schlegels Sprachphilosophie zu beobachten. Schiller, Friedrich, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte, hg. v. Georg Kurscheidt, Frankfurt/M., S. 208. Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 339. Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, S. 405. Behler, Ernst, „Einleitung“. In: KFSA, Bd. 10, S. LXVIII: „Mit den philosophischen Werken seiner Spätzeit wurde Schlegel, neben Schelling, einer der führenden Repräsentan-
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wie der eines Vergleichs von Engeln und Menschen mit erkenntnistheoretischer Absicht aber auch zu dieser Zeit schon geeignet sind, Spott auf sich zu ziehen, zeigt ein Aufsatz von Gustav Theodor Fechner. Fechner entwirft schon 1825, also zwei Jahre vor Schlegels Vorlesungen über die Philosophie des Lebens, eine Vergleichende Anatomie der Engel, in der er auf kaum ernst zu nehmende Weise die körperliche Gestalt der himmlischen Wesen beschreibt, um sie positiv vom fehlerhaften Erscheinungsbild des Menschen abzusetzen. Neben Körperbau (Engel haben die Form eines einzigen großen Auges) und der Sinneswahrnehmung (Engel sind vor allem für Licht und Gravitation empfindlich) äußert sich Fechner auch zur Sprache der Engel, und seine Ausführungen klingen stellenweise wie eine vorweggenommene Parodie Schlegels. Indem er die Hierarchie der Wesen von der Pflanze über das Tier und den Menschen vergleichend nach oben abschreitet, schreibt Fechner über das Verständigungsmedium der Engel: Nämlich es fehlt nun auch noch ein höchstes Geschöpf, das sich dem anderen durch das Gesicht mitteile; für welches Licht das Medium der Sprache sei. Der Stufengang der Natur führt uns hierauf. Dies Geschöpf ist der Engel. Seine Sprache reicht wiederum weiter als die vorigen; und wenn wir in der vorhin aufgeführten Stufenfolge schon bemerken konnten, wie die Sprache immer entwickelter ward, einen immer mannigfaltigeren Ausdruck gestattete, so sehen wie hier im Lichte, als Medium der Sprache, den Gipfel erreicht. […] Den Engeln ist das Licht das Element, wie uns die Luft. Das Medium unserer Gedankenmitteilung ist uns die Luft; denn der Schall besteht in Luftschwingungen; auch den Engeln wird ihr Element Mittel der Gedankenmitteilung sein.81
Die bei Fechner durchgeführte Gegenüberstellung dieser optischätherischen Kommunikation mit der Sprache des Menschen findet eine Fortsetzung in den Betrachtungen Schlegels. Dieser hält aber die Engelsprache nicht nur für das vollkommenere Medium, das frei von den in der menschlichen Sprache unvermeidlichen Missverständissen sei, sondern er sieht in ihr die jedem Zeichen notwendige Zweiteilung in Signifikat und Signifikant aufgehoben: Wenn bei jenen im Wissen vorgezogenen Geistern eine Mitteilung stattfindet, […] so muß doch diese unmittelbare Geistersprache eine ganz andre sein als unsre sinnlich-vernünftige oder irdisch-himmlische Natur- und Menschensprache, da sie eben als eine rein geistige, auch nur eine unmittelbare sein könnte, ohne Bild, und ohne diese erst zerteilte, und dann wieder zusammengefügte Form. […] Es kann sein, daß hie und da etwas der Art, etwas dem nicht ganz Unähnliches auch in dem menschlichen Wirken sich vorfindet, daß diese unmittelbare Geisterspra-
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ten einer christlichen Philosophie im damaligen Deutschland.“ Osinski, Katholizismus und deutsche Literatur, S. 135: „Bis etwa zur Jahrhundertmitte galt Schlegel in der deutschen katholischen Theologie als einer der führenden Denker.“ Fechner, Gustav Theodor, „Vergleichende Anatomie der Engel“. In: Kleine Schriften, Leipzig 1913, 2. Aufl., S. 131-161 (hier: S. 145 f.) Wiederabgedruckt in: Olaf Breidbach u.a. (Hgg.), Natur der Ästhetik. Ästhetik der Natur, Wien 1997, S. 196-220.
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che, als ein ganz verborgenes, unsichtbares Lebens-Element auch in der Menschensprache als ein einzelner höherer Bestandteil miteingeschlossen, und in dem äußern Körper, gleichsam eingehüllt wäre, der alsdann aber nur an den höchsten Momenten und Lichtpunkten aller Sprachwirkung bemerklich würde, wo die magische Kraft der Rede, und des in ihr waltenden wollenden Gedankens am meisten hervortritt.82
Ein machtpolitisches Kalkül, wie Agamben es in der scholastischen Angelologie aufspürt,83 braucht für solche ungedeckten Hypothesen kaum unterstellt zu werden. Dennoch sind auch Schlegels Überlegungen nicht ganz frei von diskursstrategischen Interessen. Wenn als tertium comparationis zwischen Menschen und Engeln die Sprache gewählt wird, so strahlt bei aller Unterschiedenheit die himmlische Kommunikation auf das Medium ab, dessen Schlegel selbst sich bedient und dem er seine akademische und literarische Karriere verdankt. Das Medium der Sprache, das zugleich Quelle der Uroffenbarung, Form des inneren Lebens und Bewusstseins ist, erweist sich als das Ziel der späten Philosophie Schlegels, die, auf die Zukunft gerichtet, die seit der Antike eingetretene kulturelle ‚Entartung‘ im wahren Glauben rückgängig machen soll. Neben der linientreuen Einbindung der eigenen Philosophie in das katholische Glaubenssystem fällt zudem der weit ausholende Stil der späten Vorlesungen auf, der alle wesentlichen Bereiche des menschlichen Lebens in ein theologisches Weltbild einbinden will. Diese auch im ausufernden Satzbau sich zeigende Absicht kann als Versuch einer Popularisierung katholischer Glaubensinhalte gedeutet werden, die durch die im gleichen Zug erfolgende Kommentierung zeitgenössischer Philosophie und Wissenschaft auf den Stand der damals aktuellen philosophischen und naturkundlichen Debatten gebracht und einem gehobenen Bildungspublikum nahe gelegt werden sollen.84 Schlegels Philosophie und Sprachtheorie, die schon seit dem Indier-Buch eine universalisierende Tendenz hat, fällt es leicht, Einzeltheoreme aus anderen Wissensbereichen, wie etwa den Bildungstrieb, in die eigene Argumentation einzubinden, während konkurrierende Entwürfe einer umfassenden Weltsicht − wie etwa die Naturphilosophie Schellings − der Kritik unterzogen werden. Man mag versucht sein, Schlegels frühromantische Phase für völlig unvereinbar mit den hier referierten, katholizistischen Vorlesungen zu halten. Zu bedenken ist aber, dass sich wesentliche Linien seines theoretischen Denkens durch das gesamte Werk ziehen. Das Interesse an Klassifikationen ist eine solche Klammer, die, bei allen Umwertungen zwischen _____________ 82 83 84
Schlegel, Philosophie des Lebens, S. 42 f. S. Fußnote 76. Über das Publikum und die unmittelbare Aufnahme der Vorlesungen s. Behler, „Einleitung“. In: KFSA, Bd. 10, S. XXV f.
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Früh- und Spätwerk, konstant bleibt. Davon zeugen nicht nur die hier näher untersuchten Texte.85 Jede der Klassifikationen Schlegels ist aber angebunden an eine historische Perspektive und Bestandteil einer systematischen Konstruktion, innerhalb der die klassifizierten Objekte einem zuvor festgelegten Wertungsschema unterzogen werden. In der frühen Dichtungstheorie betrifft das die Gegenüberstellung von antiker und moderner Literatur, in der Sprachgenealogie das Schema von flektierenden vs. mechanischen Sprachen. Die Lebensphilosophie wiederum ist durchzogen von Wertungen, die vom Parameter der Nähe zu Gott bestimmt sind. Wenn neben die Idee einer differenzierten „Hierarchie der himmlischen Heerscharen“ die Vorstellung von der Natur als einer „Stufenleiter der Auferstehung“ tritt, die „Schritt für Schritt hinaufführt zu dem Gipfel des Lichts in der himmlischen Verklärung“,86 so ist dies ein Versuch, tradierte Ordnungsmuster der Scholastik und der Naturgeschichte miteinander zu vereinbaren. Zugleich erhält auch diese Klassifikation der Wesen, die eine scala naturae ebenso umfasst wie eine caelesti hierarchia, eine historische Dimension − die freilich, mit dem aufgerufenen Bild der Jakobsleiter,87 als Aussicht auf jenseitige Erlösung auftritt und mit der wissenschaftlich innovativen Sprachgenealogie von 1808 kaum mehr etwas zu tun hat.
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Vgl. nur etwa auch den Versuch über den Begriff des Republikanismus oder Fragmente zur Literatur und Poesie, Nr. 224; AthenäumsFragmente, Nr. 113. Schlegel, Philosophie des Lebens, S. 123 und S. 83. Zur Symbolik der Jakobs- oder Himmelsleiter s. Eggers, Michael, Art. „Leiter, Treppe“. In: Günter Butzer/Joachim Jacob, Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart (im Druck).
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Elektrisches Menetekel Ritters Abbreviaturen einer allgemeinen Schrift FRIEDRICH WELTZIEN Die Romantiker lasen gern in der Natur. Das ist ein Allgemeinplatz, der gerne mit der vielzitierten Eingangspassage von Novalis’ Die Lehrlinge von Sais illustriert wird, 1802 von Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel postum herausgegeben: Sonderbare Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehen; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Krystallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech [Blech] und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt.1
Was sich metaphorisierend liest, ist im Lichte der Naturwissenschaft um 1800 aber ganz handfest gemeint. Der Bergwerksassessor Friedrich von Hardenberg, der sich unter dem Künstlernamen Novalis unsterblich machte, wusste um die Figuren „im Innern und Äußern der Gebirge“ wohl Bescheid, „Kristalle und Steinbildungen“ zu interpretieren war Teil seines Berufs. Im Folgenden werden weitere Beispiele, die Novalis hier nennt, identifiziert und auf ihre Lesbarkeit hin geprüft. In Konsequenz wird dies zu Ideen führen, die sein Freund und Lehrer in höherer Physik, Johann Wilhelm Ritter, in Bezug auf die Lesbarmachung der Natur niedergelegt hatte. Nach dem frühen Tod des bewunderten Novalis versuchte Ritter, wie er in seinen autobiographischen Skizzen von 1810 darlegt, mit Hilfe von physikalischen Experimenten ein Uralphabet aus der Materie zu destillieren:2 Die in-vitro-Erzeugung von Schrift – welch ein Vorhaben. Das La-
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Novalis, Schriften, hg. v. Ludwig Tieck/Friedrich Schlegel, 2 Bde., Berlin 1802, S. 159-246. Zit. n. Uerlings, Herbert (Hg.), Theorie der Romantik, Frankfurt/M. 2000, S. 104. Anonym [Johann Wilhelm Ritter], Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur, hg. v. J. W. Ritter, Heidelberg 1810.
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bor als Brutstatt der Bibliothek ist in der Tat ein Gedanke, der die poetologische Konzeption von Novalis hinter sich lässt und trotz oder dank seiner hybriden Verstiegenheit die Kunstgeschichte der Moderne befeuern sollte. Die Fragestellung „Lesbarkeit der Romantik“ begreife ich im Folgenden also im Hinblick auf die Definition von Lesbarkeit, wie sie von Forschern verfolgt wurde, die man füglich einer Geisteshaltung und einem Zeitraum zurechnen kann, die man Romantik nennt: Zum Verständnis von Lesbarkeit in der Romantik. Ein bemerkenswertes Resultat besteht darin, an konkreten Bildobjekten dingfest machen zu können, wie sich Lesbarkeit und Sichtbarkeit ineinander verschränken – ein Zusammenhang, der das Kunstverständnis bis auf den heutigen Tag entscheidend prägt. Voraussetzung dieses Verständnisses von Lesbarkeit, so meine leitende Prämisse, ist die Engführung von Naturwissenschaft, philosophischer Ästhetik und der avanciertesten bildgebenden Technologie der Zeit.
Liscows gefrierender Dampf Die sonderlichen Wege der Menschen, die sich zu einer großen Chiffrenschrift zusammenfinden, das ist kein Gedanke, den die Romantik erfunden hat. Das Mittelalter ist voll von Zeichensehern und Interpreten der Natur. Der Alchemist im Zwiegespräch mit der Natur wird von neuzeitlichen Rationalisten zu einer Art Kernmetapher des mittelalterlichen Weltbilds stilisiert und damit gleichermaßen als Zielscheibe der Kritik wie auch als Heldenfigur hergerichtet. Die Natur kommuniziert in dieser Vorstellung über Zeichen, die nach einer grammatikalischen Ordnung zu entschlüsseln sind. Noch im 17. Jahrhundert denken Gelehrte wie Athanasius Kircher oder Ulisse Aldrovandi3 ernsthaft über die Bedeutung von Bildern – etwa einer Jungfrau mit dem Jesuskind – nach, die im Querschnitt eines morschen Baumstammes oder auf Kieselsteinen gefunden wurden (Abb. 1). Im 18. Jahrhundert aber trifft die orakelnde Ausdeutung von allerhand Zufallsprodukten die beißende Kritik abgeklärter Zyniker. Christian Ludwig Liscow ist ein solcher Freigeist, dessen Satiren sich auch heute noch unterhaltsam lesen – teils wegen ihrer Keckheit, teils wegen ihrer großartigen Sprache.
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Kircher, Athanasius, Mundus Subterraneus, Amsterdam 1664; Aldrovandi, Ulisse, Museum Metallicum, Bologna 1648. Vgl. auch Valentini, M. B., Historia simplicium reformata sub Musei Museorum titulo, Frankfurt/M. 1704. Baltrušaitis, Jurgis, Imaginäre Realitäten. Fiktion und Illusion als produktive Kraft, Köln 1984, S. 72 führt Autoren des 16. Jahrhunderts wie Scaliger, Agricola und Gesner auf, die u.a. Chiffren im Stein beschreiben.
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Abb. 1: Athanasius Kircher zeigt in Mundus Subterraneus, Amsterdam 1664, eine Menge Bilder in Steinen. Es wurden damals verschiedene Theorien über deren natürliches Zustandekommen diskutiert.
Hohn und Spott gießt er über die „sinnreichen Naturkündiger“ aus, die Läuse, Würmer und „schimmelicht Brodt“ mit ihren Vergrößerungsgläsern untersuchen, um dann dicke Bücher über kleine Steine zu verfassen. Liscow mag dabei nicht nur an Kircher, sondern auch an Zeitgenossen, wie den Forscher Johann Jakob Scheuchzer gedacht haben, dem in Zürich ansässigen Mediziner, Fossiliensammler und Autor der Physica Sacra.4 Liscows Protagonist, der englische Ritter Robert Clifton, gibt vor, nicht zu diesen „Naturkündigern“ zu zählen und erweist sich gerade dadurch als ein solcher. Er präsentiert nämlich eine haarsträubende Theorie, wie die eigentümlichen Bilder zustande kämen, die des Winters gelegentlich auf
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Vgl. dessen „kleine Steine“ etwa bei Felfe, Robert, Naturgeschichte als kunstvolle Synthese. Physikotheologie und Bildpraxis bei Johann Jakob Scheuchzer, Berlin 2003.
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gefrorenen Fensterscheiben zu finden sind. Anlass ist eine komplexe Struktur, die er im Jahre 1739, „den 13ten Jenner des Morgens zwischen 8 und 9 Uhr“5 auf einer Scheibe seines Hauses entdeckt habe. Liscow hebt zu einer langatmigen Beschreibung an: Sie sehen darauf, mein Herr, in der Mitte ein Menschenangesicht, auf dessen Stirne die Zahl 666 sich deutlich zeiget. Das Haupt ist mit einer Art von Mützen gezieret, die anfangs immer spitzer wird; endlich aber sich zu beyden Seiten, als eine Flagge, ausbreitet, in deren Mitten ein halber Mond zu sehen, welcher zur Rechten und Linken mit Carakteren umgeben ist, die den arabischen und malabarischen Buchstaben ähnlich sind. Um den Hals ist ein doppelter Kragen; auf der Brust siehet man ganz deutlich ausgedruckte hebräische Buchstaben […].6
Was mich interessiert, ist die Bedeutung der Schriftzeichen, der „Caracteren“. Es ist nicht nur die Zahl, die von den Eisblumen an der Fensterscheibe hervorgebracht wurde, auch arabische, malabrische und hebräische Buchstaben entdeckt er. Später kommen in der seitenlangen Beschreibung noch „Cometen, Donnerkeile, chymische Zeichen, magische Carakteren, lateinische Buchstaben, Zahlen, Gesichter, Blumen, Bäume, […] musicalische Noten, und ich weiß nicht was für andere seltsame Figuren mehr“7 hinzu. Mindestens vier Alphabete sind auf Liscows matter Scheibe präsent, dazu mit den „chymischen Zeichen“, den „magischen Carakteren“ und der Notenschrift noch drei weitere Notationssysteme. Es sind weniger Bilder, als Buchstaben, die Liscows Ritter Clifton ins Auge springen. Liscow wurde viel gelesen. Auch der wirkmächtigste unter den Aufklärern, Immanuel Kant, hielt große Stücke auf dessen Satiren. In einem frühen Text aus dem Jahr 1766 über die Möglichkeit immaterieller Kreaturen, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik,8 kommt Kant zu dem Schluss, dass all jene, die „etwa im fleckigen Marmor die heilige Familie oder in Bildungen von Tropfstein Mönche, Taufstein und Orgeln oder sogar, wie der Spötter Liscow9 auf einer gefrorenen Fenster-
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Liscow, Christian Ludwig, „Das Schreiben des Ritters Clifton an den Samojeden“. In: Sammlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften, Frankfurt/Leipzig 1739, S. 45-88, hier S. 59. Liscow, „Das Schreiben des Ritters Clifton“, S. 55 f. Der „elende Skribent“ Clifton bittet um Aufnahme in die samojedische wissenschaftliche Sozietät, da ihm der Zugang zur englischen verwehrt sei. Als Empfehlung präsentiert er die Theorie der Eisbilder, denn er hofft, dass „nach der schönen Gelegenheit, die Ihnen Ihr Clima gibt“ (S. 71), Forschungen zu Frosteffekten dort auf Interesse stoßen. Ebd. Kant, Immanuel, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik [1766]. Unter Verwendung des Textes von Karl Vorländer mit einer Einleitung hg. v. Klaus Reich, Hamburg 1975. Liscow, „Das Schreiben des Ritters Clifton“, 45 ff. [Diese Anmerkung im Original. F.W.]
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scheibe die Zahl des Tieres und die dreifache Krone10 entdeckten“11 lediglich lauter Dinge finden, „die niemand sonst sieht, als dessen Kopf schon vorher davon angefüllt ist.“12 Kant hatte verstanden, dass es sich lediglich um eine Projektion handelt: Ein jeder sieht, was er sehen will. Damit geht er aber nicht über Liscow hinaus. Dieser schreibt in seiner Erzählung weiter, Clifton sei zunächst über diesen Anblick „eben so bestürzt gewesen, als Belsazer“13 und Nebucadnezar, als diese das Menetekel an ihrer Palastwand fanden. Und genau wie jene habe er sich mit Gelehrten umgeben, die die Erscheinung deuten sollten. Ritter Cockburn, Freund Cliftons und ein stiller Grübler, sollte nun entscheiden, welche These der klugen Männer die größte Überzeugungskraft habe. Er kommt zu folgendem Schluss: Keiner, war seine Antwort: denn die Figuren auf ihrer Fensterscheibe sind zufälliger weise entstanden, und bedeuten nichts; hat aber ja die Natur eine Absicht gehabt: so ist es keine andere, als den verworrenen Zustand des Gehirnes vieler Gelehrten abzubilden.14
Was sichtbar würde, sei nichts als „in Unordnung gebrachte Einbildungskraft“15, ganz ähnlich wie auch Kant diese Bilderkennung im Amorphen interpretiert. Die Stimme der Vernunft, die aus Ritter Cockburn spricht, könnte Liscow in den Schriften des Heiligen Bernhard gefunden haben. Bernhard hatte die Unsitte der Randzeichnungen und die übermäßige bildliche Ausgestaltung der heiligen Texte beklagt, vor allem die „wunderbare ungestalte Schönheit und schöne Ungestalt“ von „ungeheuern Centauren“ oder „Halbmenschen“ sei zu beklagen. Solche Machwerke führten dazu, überall fantastische Bilder zu sehen, was wiederum gefährlich unfromme Folgen zeitige: Kurz, es zeigt sich überall eine große und bewundernswürdige Mannigfaltigkeit der Bildungen, daß man mehr Behagen findet in dem Marmore als in Handschriften zu lesen; daß man lieber den ganzen Tag hinbringt mit Betrachtung all dieser Dinge, als mit Nachdenken über das göttliche Gesetz.16
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Geht wohl auf Offenbar. Johann. 13, 18 und auf die päpstliche Tiara zurück. [Diese Anmerkung im Original. F.W.] Kant, Träume, S. 54. Ebd. Liscow, „Das Schreiben des Ritter Clifton“, S. 59. Ebd., S. 62. Ebd., S. 55. Zit. n. Fiorillo, Johann Dominicus, Ueber die Groteske. Einladungsblätter zu Vorlesungen über die Geschichte und Theorie der bildenden Künste, Göttingen 1791. In: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 12, Kleine selbständige Schriften, Hildesheim 1998, S. 10. Fiorillo gibt folgenden Quellenverweis an: Santi Bernardi: Opera Omnia. Ed Parisii 1719, fl. Vol. I. pag. 545. Fiorillo war Kunsthistoriker in Göttingen und damit Kollege von Lichtenberg, der weiter unten zur Sprache
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War es für Bernhard lästerlich, so galt das „lesen im Marmor“ Liscow schlicht als dämlich. Kant wiederum scheint im Verhältnis zu dieser strengen Ablehnung, von selbst entstehende Bilder als bedeutungsvoll zu erachten, eher einen Schritt zurückzutreten, indem er dieses Phänomen zumindest für untersuchenswert hält und gar eigene Erfahrungen einbringt. Als Vergleich kommt Kant das morgendliche Aufwachen in den Sinn: Wenn man nach vollbrachtem Schlafe mit einer Gemächlichkeit, die einem Schlummer nahe kommt, und gleichsam mit gebrochenen Augen die mancherlei Fäden der Bettvorhänge oder des Bezuges oder die kleinen Flecken einer nahen Wand ansieht, so macht man sich daraus leichtlich Figuren von Menschengesichtern oder dergleichen. Das Blendwerk hört auf, sobald man will und die Aufmerksamkeit anstrengt.17
Die Gesichter kommen von ganz alleine, wie die Buchstaben im gefrierenden Kondenswasser. Willensanstrengung kostet es, sie wieder zu vertreiben. Allerdings unterscheidet sich der Inhalt der Botschaft, die von solchen selbsttätigen Bildern transportiert wird. Kant deutet sie im Unterschied zu Kircher und Aldrovandi nicht als kryptographe Mitteilungen göttlichen Wirkens, er sieht hier vielmehr die autonome Aktivität der menschlichen Einbildungskraft am Werke.
Physik und Grammatik Man kann diese Geschichte passenderweise als eine Geschichte des Lesens beschreiben: Liscow liest Bernhard, Kant liest Liscow. Und die Kette lässt sich weiterverfolgen. Ein Bewunderer von Kants Schriften ist der erste Göttinger Professor für Experimentalphysik, Georg Christoph Lichtenberg. Er galt nicht nur als Autorität in wissenschaftlichen Fragen, auch als Autor von geistreichen Aphorismen und unterhaltsamen Anekdoten war er berühmt. Sein Buch über die Kupferstiche von William Hogarth wies ihn zudem als Kenner und Liebhaber der bildenden Kunst aus.18 Eine Stelle aus den Aphorismenbüchern belegt, dass Lichtenberg auch mit Kants Träume eines Geistersehers vertraut war. Die „Beschreibung eines sonderbaren Bettvorhanges“ datiert Lichtenberg selbst auf das Jahr 1770, vier
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kommt. Liscow rechtfertigt sich verschiedentlich gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit seiner satirischen Schriften, womöglich dachte er dabei an Quellen wie Bernhard. Kant, Träume, S. 38. Vgl. Promies, Wolfgang (Hg.), Lichtenbergs Hogarth. Die Kalender-Erklärungen von Georg Christoph Lichtenberg mit den Nachstichen von Ernst Ludwig Riepenhausen zu den Kupferstich-Tafeln von William Hogarth, München 1999.
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Jahre nach Kant, und sie liest sich wie eine Paraphrase des Königsberger Erwachens: Im folgenden Jahr legte mich ein kleines Flußfieber in ein Bette, das einen schrägen Himmel hatte, durch dessen nicht gar dichtes Gewebe, das noch dazu aus ziemlich ungleichen Fäden bestund, die weise Wand durchschien. Hier zeigte sich eine unzählbare Menge der drolligsten Gesichter. 19
Diese „sich zeigenden“ Gesichter verwandeln sich ständig und beginnen gar, den kranken Physiker auszulachen. Gleichwohl erkennt er deren künstlerische Qualität, er vergleicht sie mit Hogarth' Köpfen und schließt: „Hätte ich sie mit eben der Krafft zeichnen können, mit welcher sie sich meinem Auge und Einbildungskrafft darstellten, ich würde gewiß diesen Vorhang verewigen. Leonardo da Vinci soll diese Beschäftigung jungen Mahlern empfehlen.“20 Was macht nun Lichtenberg aus diesem Phänomen? Der Kleriker hatte sie als Aufforderung zur Kontemplation begriffen, der Freigeist nutzt sie, die Dummheit zu geißeln, dem Aufklärer dienen sie zur Analyse der menschlichen Geistesfähigkeiten – und der Physiker? Er wird von seinem Landesvater fürs Experimentieren bezahlt, also tut er das auch. Er benötigt weniger als vier Jahre, um ein Verfahren zu entwickeln, das diese Formen der Bildentstehung imitiert. Noch heute wird dieses bildgebende Verfahren mit seinem Namen verbunden: die Lichtenberg-Figuren, von ihm elektrische oder Staubfiguren genannt. In seiner Schrift Über eine neue Methode, die Natur und Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen, gedruckt 1778, berichtet er über die Umstände der Entdeckung. „Gegen Frühlingsanfang des Jahres 1777“ beobachtete er, wie sich Harzstaub auf einem metallischen Schild seiner Elektrisiermaschine, dem so genannten Elektrophor, ablagerte. Als ich später des öfteren den Schild an der Zimmerdecke hängen ließ, geschah es, daß der auf der Grundfläche liegende Staub diese nicht, wie zuvor den Schild, gleichmäßig bedeckte, sondern sich nun an mehreren Stellen zu meinem großen Vergnügen in kleinen Sternen anordnete, die anfangs matt und schwer zu erkennen waren, die aber, als ich mit Eifer mehr Staub darauf streute, sehr deutlich und sehr schön wurden und häufig getriebener Arbeit glichen. Es zeigten sich mitunter fast unzählbar viele Sterne, Milchstraßen und größere Sonnen; Bogen, die an ihrer hohlen Seite dunkel, an ihrer erhabenen aber mit Strahlen versehen waren; ganz fein gebildete Ästchen, denen ähnlich, welche gefrorener Dampf an Fens-
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Lichtenberg, Georg Christoph, Die Aphorismen-Bücher. Nach den Handschriften hg. v. Albert Leitzmann, Frankfurt/M. 2005, S. 160, C 105. Die Textstelle erscheint hier in Abschnitt C, der „Die xxvii. Julii 1773“ überschrieben ist. Lichtenberg schildert also eine Begebenheit, die er drei Jahre zuvor erlebt haben will. Ebd. Hier fehlt der Raum, um dem Verweis auf Leonardo und dessen Bedeutung für die Romantik nachzugehen. Dies tue ich in einem Buch, das zu diesem Thema entsteht und 2010 erscheinen wird.
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terscheiben erzeugt; ferner Wolken, sehenswert in ihrer mannigfachen Gestalt und den verschiedenen Graden des Schattens.21
In der Folge untersucht er diesen Vorgang und entwickelt die Technik der elektrischen Figuren weiter. Er hat den Einfall diese Bilder zu konservieren, indem er mit Leim bestrichenes Papier darauf legt, so dass der Staub haften bleibt. Diese Werke verwendet er beispielsweise während seiner Vorlesungen, um seinen Studenten die Wirkungsweise der Elektrizität anschaulich zu machen. Er verwendet die Staubfiguren also durchaus in professionellem Einsatz, man muss es wohl für Understatement halten, wenn er zur selben Zeit an einen Freund darüber schreibt: „Es ist freilich gespielt, allein ein so schönes lehrreiches Spiel, daß ich mich dessen nie schämen werde.“22 Gleichzeitig legt diese Bemerkung nahe, dass er die LichtenbergFiguren mit den von selbst erscheinenden Gesichtern auf dem Bettvorhang in Zusammenhang sieht. Nicht nur die Schönheit und das spielerische Element, auch die Spontaneität und Plötzlichkeit ihrer Entstehung, Charakteristikum jener Zeichen, gelten für die Staubfiguren: „Alle Figuren auf dem Elektrophor […] hatte der Zufall erzeugt.“23 Noch deutlicher wird die genealogische Linie zu Liscow allerdings in der verräterischen Bemerkung der Ähnlichkeit zum „gefrorenen Dampf an Fensterscheiben“. Tatsächlich hatte Lichtenberg versucht, auch Gesichter auf elektrische Weise zu erzeugen, davon berichten zumindest Mitschriften seiner Schüler. Erhalten haben sich keine Originale aus seinem Besitz. Nur Kupferstiche, die sein wissenschaftliches Werk illustrieren, dienen als visuelle Zeugen (Siehe Abb. 2., S. 193). Aber es existieren dennoch Lichtenbergsche Figuren aus jener Zeit: Christoph Nathe, Landschaftszeichner aus der Lausitz, hatte im hervorragend ausgestatteten Labor seiner Gönners Adolf Traugott von Gersdorf die Möglichkeit, auf die notwendige Hochtechnologie zuzugreifen. Hunderte von Originalen haben sich bis heute im Kulturhistorischen Museum Görlitz erhalten (Siehe Abb. 3, S. 194).
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Lichtenberg, Georg Christoph, „Über eine neue Methode, die Natur und Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen“ [1778]. In: Ders., Observationes. Die lateinischen Schriften, hg. v. Dag Nikolaus Hasse, Göttingen 1997, S. 151. Lichtenberg, Georg Christoph, „Brief an Johann Andreas Schernhagen vom 5. Februar 1778“. In: Lichtenberg Briefwechsel, hg. v. Ulrich Joost/Albrecht Schöne, Bd. 1, München 1983, S. 440. Lichtenberg, Über eine neue Methode, S. 151.
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Abb. 2: Georg Christoph Lichtenberg: Lichtenbergsche Figur, Kupferstich aus seiner Publikation von 1778. Diese Bilder erschienen ihm so organisch, dass er als eine praktische Anwendung vorschlug, anhand der elektrischen Figuren Wachstumsprozesse von Pflanzen zu studieren.
Der eigenartig wackelige Status derartiger Figuren auf einem schmalen Grat zwischen Wissenschaftlichkeit und ästhetischer Faszination, der von Liscows „Naturkündigern“ bis zu Die Lehrlinge von Sais des Novalis markant ist, zeigt sich auch hier.
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Abb. 3: Christoph Nathe und Adolf Traugott von Gersdorf: Lichtenberg-Figur mit Profilkopf, zwischen 1798 und 1806 entstanden. Im Versuch, Lichtenbergs Technik in eine künstlerische Bildform zu verwandeln, entstanden Arbeiten, die Kirchers Gesichtern im Stein nicht unähnlich sind und Erinnerungen an die Bettvorhänge von Lichtenberg und Kant wachrufen.
Aber auch bei Lichtenberg reißt die literarische Kette nicht ab, der Lesefluss rinnt weiter: Auf die Inspiration einer Lichtenberglektüre verweist ein weiterer Naturzeichenproduzent, dem die Romantiker mit gespannter Aufmerksamkeit folgten. Es handelt sich um Ernst Florens Friedrich Chladni, entscheidender Wegbereiter der Akustik als wissenschaftlicher Disziplin und Entdecker der sogenannten Klangfiguren. Chladni schreibt: Die Beobachtungen von Lichtenberg über die Figuren, welche sich beim Aufstreuen des Harzstaubes auf Glas- oder Harzscheiben bei verschiedener Elektricität zeigen (in den Commentarien der Göttingischen Societät der Wissenschaften), worüber ich auch verschiedene Versuche anstellte, erregten in mir den Gedanken,
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daß vielleicht die mannichfaltigen schwingenden Bewegungen einer Scheibe sich ebenfalls durch eine Verschiedenheit der Erscheinungen verrathen würden, wenn ich Sand oder etwas Aehnliches aufstreute.24
Und so funktioniert denn Chladnis Lesbarmachung der Natur: Eine Scheibe aus Glas oder Blech, die mit feinem Sand bestreut ist, wird mit Hilfe eines Geigenbogens in Schwingung versetzt. Auf diese Weise wird nicht nur ein spezifischer Ton erzeugt, es entsteht auch ein Linienmuster, das bei exakter Wiederholung des Versuchs jedesmal identisch wiedererscheint. Das Muster entsteht, indem es auf der schwingenden Scheibe immer Stellen gibt, die in Ruhe verbleiben, da sie gewissermaßen am Nullpunkt der Sinuskurve liegen, Chladni nennt diese Zonen „Schwingungsknoten“25. Hier sammeln sich die Sandkörner, die von der vibrierenden Unterlage weggerüttelt werden. In seinen frühen Schriften hofft Chladni noch, eine visuelle Entsprechung musikalischer Harmonien liefern zu können, indem er jedem Ton ein Muster zuordnet. Dieser Plan ließ sich aufgrund der hohen Variabilität von Nebenfaktoren nicht realisieren. Dicke, Form, Material und Größe der Scheiben, Zahl und Ort der Haltepunkte, Geschwindigkeit und Druck des Bogenstrichs, Körnung des Sandes etc. spielen eine Rolle. Aber Chladni versuchte, die Muster zu analysieren, indem er sie auf Grundelemente reduzierte, aus denen sich alle Varianten aufbauen ließen. Er kann sie schließlich auf zwei Grundmuster reduzieren: Gerade Linien und gekrümmte. Die Krümmungen erkennt er als Variationen von „halben“ und „ganzen Biegungen“, die Geraden lassen sich nach parallelen und gekreuzten Formen unterscheiden. Auf der Suche nach einer verallgemeinerbaren Typologie erkennt er, dass sich mit Hilfe dieser beiden Elemente, Viertelkreis und Gerade, die er durch Abstraktion fand, gewissermaßen das gesamte Alphabet akustischer Muster erstellen lässt. Im Gegensatz zu Lichtenberg hatte Chladni keine wohldotierte Professorenstelle inne und war gezwungen, von der Vermarktung seiner Entdeckungen zu leben. Aus diesem Grund zog er durch ganz Europa und führte neben selbsterfundenen Musikinstrumenten wie Clavicylinder und Euphon seinem verblüfften Publikum die wundersame Entstehung einer präzisen linearen Struktur in der sandigen Fläche vor. Dieses performative Element und auch die auf ein großes Zielpublikum zugeschnittenen Publikationen verhalfen Chladnis Klangfiguren zu einer enormen Resonanz, die weit über die naturwissenschaftlichen Kreise hinausging.
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Zit. n. Schuster, Federico: Der gute Doctor Chladni. Eine Zierde der Nation. In: DU, Nr. 259, Sept. 1962, S. 32-76, hier S. 34. Chladni, Ernst Florens Friedrich, Entdeckungen über die Theorie des Klangs, Wittenberg 1787, S. 2.
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Abb. 4: Ernst Florens Friedrich Chladni: Tafel VII aus seinen Entdeckungen über die Theorie des Klangs, Wittenberg 1787. Die Figuren 82 bis 86 illustrieren Chladnis Analyse der Grundelemente von Viertelkreis und gekreuzten Geraden.
Einer, der aus dieser Vorführung gewissermaßen wie elektrisiert herauskam, war Friedrich von Hardenberg. Die „berührten und gestrichenen Scheiben von Pech [Blech] und Glas“ aus der Eingangspassage der Lehr-
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linge von Sais beziehen sich auf Chladnis Geigenbogenexperimente. Die Verwechslung von „Pech“ und „Blech“ lässt sich wohl auf einen Transkriptionsfehler von Tieck und Schlegel zurückführen – auch ein Lesefluss hat seine Katarakte. Novalis erkannte in Chladnis akustischen Figuren seine vielgesuchten hieroglyphischen Zeichen, in denen sich die Natur auszudrücken pflege. Aus einem seiner Fragmente wird ersichtlich, dass er in der Selbsttätigkeit des Vorgangs ein Charakteristikum von Chladnis Experimenten erkannte. Unter der Überschrift „Physik und Grammatik“ schreibt er dort: „Man zwingt eigentlich den Schall, sich selbst abzudrucken – zu chiffrieren – auf eine Kupfertafel zu bringen.“26 Der Dramatiker Franz Grillparzer sekundiert ihm und nennt Chladnis Verfahren „Natur im Selbstdruck“.27 In den Lehrlingen bringt er diese Chiffre wieder mit den „gefrierenden Wassern“ zusammen und schließt damit einen Kreis, der sich ein Menschenleben zuvor geöffnet hatte. Ob Liscow wohl angesichts der Verwandlung seines Spottmotivs in eines der zentralen Topoi romantischen Denkens gelacht hätte?
X und O: sich selbst gebende Zeichen Hätte er Novalis vielleicht noch lustig gefunden, bei der Lektüre eines glühenden Verehrers von Novalis wäre Liscow wohl aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. 1796 nimmt der vormalige Apothekerlehrling Johann Wilhelm Ritter in Jena das Studium der Chemie auf. Vier Semester später publiziert er bereits sein Erstlingswerk, eine spekulative Schrift über die galvanische Natur der Lebenskraft.28 Novalis bekommt dieses Buch zu Gesicht und sogleich macht er sich auf den Weg, dem jungen Autor einen Besuch abzustatten. In einem autobiographischen Text, dem er die Form eines anonym verfassten Nachrufs auf sich selbst gegeben hat, schildert Ritter diese erste Begegnung mit Novalis als ein
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Novalis, „Enzyklopädie VI, Fragment 1277“. In: Ders.: Werke/Briefe/Dokumente, hg. v. Ewald Wasmuth, Bd. 2, Heidelberg 1957, S. 344 f. Kursivierung im Original. Zit. n. Ernst, Wolfgang, „Sekretärinnen ohne Chef (Mnemosyne, Klio, Schreibmaschinen)“. In: Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hgg.), Europa. Kultur der Sekretäre. Zürich/Berlin 2003, S. 253-265. Ueber den Galvanismus; einige Resultate aus den bisherigen Untersuchungen darüber, und als endliches: die Entdeckung eines in der ganzen lebenden und todten Natur sehr tätigen Princips. Vgl. Johann Wilhelm Ritter, Die Begründung der Elektrochemie und Entdeckung der ultravioletten Strahlen. Eine Auswahl aus den Schriften des romantischen Physikers. Ausgewählt und kommentiert von Armin Hermann, Frankfurt/M. 1968.
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prägendes Erlebnis und dessen frühen Tod als traumatische Verlusterfahrung. Wer weiß, ob die beiden schon 1798 über Chladnis Klangfiguren sprachen? Möglich wäre es. Fest steht, dass sich Ritter erst nach seiner Berufung 1804 nach München eingehender mit wissenschaftlichen Untersuchungen dazu befasste. Vielleicht stimulierte Ritter die intensive Auseinandersetzung seines ehemaligen Schülers und lebenslangen Freundes Hans Christian Oersted in Kopenhagen mit den Klangfiguren.29 Auf jeden Fall macht sich Ritter nun daran, eine „chemische Klangfigur“30 zu finden. Auf diese Weise hofft er, chemische Prozesse unmittelbar visualisieren zu können. Im gleichen Buch, das auch seine Freundschaft zu Novalis feiert, die Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, beschreibt er seine Theorie eines möglichen direkten Ausdrucks von Naturkräften über ein sich selbst gebendes Zeichensystem. Der Hauptteil des Buches enthält die im Titel versprochenen Fragmente: einzeln durchnummerierte Ideen, Skizzen, Aphorismen, auch Kalauer, zumeist aus naturwissenschaftlichen Kontexten. Das Vorwort enthält die genannten autobiographischen Bezüge, in einem Anhang betitelten Schlusskapitel traktiert er die Klangfiguren. Vorwort und Anhang rahmen die Fragmente, indem sie einen jeweils zusammenhängenden Argumentationsstrang liefern. Im Anhang präsentiert sich Ritter als gutinformiert. Ihm ist klar, dass Chladnis Klangfiguren in einem genealogischen Zusammenhang mit Lichtenbergs Staubfiguren stehen und er begreift, dass dieser Zusammenhang methodisch und nicht inhaltlich legitimiert ist. Genauso wenig, wie es Chladni darum zu tun gewesen war, einen Zusammenhang zwischen Akustik und Elektrizität zu postulieren, wollte Ritter eine Chemie der Akustik finden. Es ging vielmehr um die Bildtechnik, die ein Zeichensystem generieren kann, das chemische Vorgänge in die Sichtbarkeit holt – so wie Chladni komplexe Schwingungen und Lichtenberg elektrische Felder
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Schreiben des Herrn Dr. Oersted an Herrn J.W. Ritter Chladnis Klangfiguren in elektrischer Hinsicht betreffend. In: Magazin für Naturkunde, hg. v. J. H. Voigt, Bd. IX, 1805, S. 31-32, scheint die erste Publikation dieser Thematik zu sein. Eine weitere Abhandlung Oersteds zu den Klangfiguren erschien 1809 im Journal für die Chemie, Physik und Mineralogie, hg. v. A. F. Gehlen, Bd. 8, Heft 2. (Vgl. Dietzsch, Steffen/Dietzsch, Birgit: „Nachwort. Die Phänomenologie der Natur des Johann Wilhelm Ritter oder von der Historizität der vernünftigen Erkenntnis“. In: Ritter, Johann Wilhelm, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur, hg. v. Steffen Dietzsch/Birgit Dietzsch, Hanau 1984, S. 404). Ritter: „Anhang“, in: Ritter, Fragmente. Dieser „Anhang“ beschäftigt sich ausschließlich mit dem Zusammenhang von Chladnis Klangfiguren, den Lichtenberg-Figuren und seiner Theorie der Chemie. Die ersten ungefähr vier Seiten geben nahezu im Wortlaut einen Brief Chladnis an Oersted vom 31. März 1809 wieder. Der Rest des Textes muss Ende 1809 entstanden sein.
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optisch darstellen konnte. Die Glaubwürdigkeit des Verfahrens beruht darauf, dass es die Natur selbst ist, die sich über ihre Kräfte mitteilt. Keine von außen herangetragene Form, kein fremder Ausdruck muss die Vorgänge näherungsweise beschreiben, sondern sie zeigen sich ganz von selbst: natürliche Zeichen. Wie sehen diese Zeichen nun konkret aus und wie lassen sie sich lesen, dechiffrieren? Ritter unternimmt zunächst einen phänomenologischen Vergleich zwischen den Figuren Chladnis und denen Lichtenbergs. Fast könnte man von einer vergleichenden Stilanalyse sprechen, wenn man ihm eine kunstwissenschaftliche Intention unterstellen wollte. Diese Analyse führt zu einem Ergebnis, das leicht von Chladnis Resultaten abweicht. Hatte jener die Gerade und das Kreissegment als kleinste Bestandteile seiner Klangfiguren erkannt, gelten Ritter ein großes X oder auch ein Kreuz und der Kreis als Grundelemente, aus denen die Figuren aufgebaut sind. Ritter formuliert das 1805 folgendermaßen: „+ u. ○ sind Abbreviaturen der Lichtenbergschen Figuren oder die Zeichen, die sich die Elektrizitäten selber geben.“31 Schon früh taucht hier die Vorstellung auf, dass die akustischen und elektrischen Figuren als Buchstaben einer natürlichen Schrift zu verstehen sind. Vielleicht stand diese Vorstellung sogar am Beginn seines Interesses für Chladni und Lichtenberg – und vielleicht hatte diesen Floh Novalis ihm schon sieben Jahre zuvor ins Ohr gesetzt. Weitere vier Jahre später hat er diese sich selbst gebenden Abbreviaturen zu einer Theorie der Schrift ausgebaut, indem er die Schallschwingung beim Sprechen und die Produktion elektrischer Frequenzen miteinander verbindet: Alle Elektrizitätserregung ist mit Oszillation begleitet […]. Alle Oszillation aber gibt Ton, und damit Wort. Aber die erregte Elektrizität projiziert sich überall sogleich Gestalt-formierend, ja die Gestalt geht ihr selbst voran, und wohnt schon ihrer Erregung bei […]. Es ist direkte Klangfigur, und beinahe könnte man sagen, sie sei nur zufällig zugleich elektrische; wiewohl umgekehrt jede Klangfigur eine elektrische und jede elektrische eine Klangfigur ist. Die Lichtenberg'schen Figuren sind nichts als Klangfiguren in der Normalerscheinung.32
Ritter interpretiert sowohl Chladnis Klangfiguren als auch Lichtenbergs elektrische Figuren, die er beide für Effekte eines letztlich identischen Prinzips hält, als sich selbst gebende Zeichen: „direkte Klangfigur“. Die Chiffren, von denen Novalis in eher metaphorischen Bedeutungen gesprochen hatte, finden hier eine im wahrsten Sinne buchstäbliche Entsprechung. Denn Ritter fährt fort:
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Ritter an Oersted, 16./17. August 1805, zit. n. Dietzsch/Dietzsch, Fragmente, S. 405. Ritter, Fragmente, S. 269.
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Ich habe Dir schon längst einmal geschrieben, wie + (oder *) und ○ sich in den ältesten Alphabeten als Anfangs- und Endbuchstabe derselben vorfinden. Dies sind die beiden Lichtenbergschen Figuren in ihrer einfachsten Gestalt. Ich wollte hierauf also die Ur- oder Naturschrift auf elektrischem Wege wiederfinden oder doch suchen […].33
Oder kürzer ausgedrückt: „Aller Buchstabe ist Klangfigur.“34 Und darum gilt auch: „Jeder Ton hat somit seinen Buchstaben immediate bei sich.“35 Aus diesem Grund fordert er Oersted und mit ihm den Leser seines Buches auf: „Sage selbst: wie verwandelt sich uns wohl der Gedanke, die Idee ins Wort; und haben wir je einen Gedanken, oder eine Idee, ohne ihre Hieroglyphe, ihren Buchstaben, ihre Schrift?“36 Er bleibt die Antwort nicht lange schuldig: Selbstabdruck, Selbstausdruck ist der Mechanismus, der den Gedanken mit seiner Hieroglyphe oder die Idee mit seinem Buchstaben verknüpft: Denn alles recht Gesehene ist darum verständlich, weil es ja direkter Abdruck des zu Verstehenden, Produkt desselben, Contemporan desselben, ist. Auch alles recht Gehörte wird verstanden, weil es Aussprache des zu Verstehenden, Selbstaussprache desselben, ist, und die Normal-Chiffer immer dabei ist.37
Ritter versteht das zu findende Zeichen genau so, wie Novalis Chladnis Klangfiguren betrachtete: als Selbstabdruck der Natur.
Allgemeine Schrift In diesem Sinne unterscheidet Ritter die Sprache vom Klang über das Kriterium des Allgemeinen gegen das Besondere. Oszillation ist das Allgemeine, die Musik das Besondere. Musik wiederum ist die allgemeine Sprache, die einzelnen Sprachen sind durch Sonderungen davon. Dieses Verhältnis überträgt er auf die Zeichen. Die besonderen Buchstaben der diversen Alphabete sind lediglich Fortentwicklungen einer allgemeinen Schrift, die er in den Klangfiguren erkannt hat: Wie es eine allgemeine Sprache, und wieder besondere gibt, so muß es auch eine allgemeine Schrift, und wieder besondere geben. Ihr nächstes Verhältnis zueinander wäre das von Note zu Buchstabe. Überall aber muß die Schrift das von der Sprache, dem Ton, dem Worte, selbst, Geschriebene, sein. Hier erhält man dann für die Musik, oder die allgemeine Sprache, die Hieroglyphe, oder die völlig vollständig den ganzen Ton, den ganzen Akkord usw. ausschreibt. Das Sprechende ist dem Ausgespro-
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Ebd. Ebd., S. 275. Ebd., S. 268. Ebd., S. 268. Ebd., S. 278.
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chenen gleich, da alles nur sich selbst ausspricht. Die Sache selbst ist also hier die Schrift, die Note. In solche Schrift und Nachschrift, Abschrift, gehört vornehmlich alle bildende Kunst: Architektur, Plastik, Malerei, usw., und was ihr in der Natur vorherging und -geht, als zum Beispiel der Bau der Erde, der Organisation, der einzelnen Organisationen, usw.38
Hier erweist sich Ritter als Leser Kants, indem er die bildende Kunst als Parallelkonstruktion zur Natur versteht.39
Abb. 5: Seite 230/231 des Anhangs aus Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers von 1810. Die Reihe zunehmender Abstraktion von Lichtenbergs Kupferstichen über Chladnis Formalisierung bis zu den Buchstaben Ritters wird an diesen Abbildungen ebenso deutlich wie in der theoretischen Traktierung.
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Ebd., S. 276 f. Wie in allen Zitaten aus dem „Anhang“ sind die Hervorhebungen im Original. Ritter schreibt am 20. Mai 1803 an Oerstedt: „Die Art, wie er [der Chemiker Jacob Joseph Winterl] mir den Kantianer abnimmt, ist mir nicht bloß aus Eitelkeit angenehm gewesen.“ (Dietzsch/Dietzsch, Fragmente, S. 361). Ebd., S. 360 kommen die beiden Autoren zum Ergebnis: „Ritter ist einer der ersten bedeutenden naturwissenschaftlichen Kantianer.“
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Aber Ritters Kantrezeption ist durch einen romantischen Filter gelaufen. Über Novalis hatte er Zugang zum Kreis um die Schlegel-Brüder, zu Schleiermacher und insbesondere zu Schelling bekommen, den er schätzte. Hier sah sich Ritter in seinen Ideen bestärkt, auch in seinen methodischen Ansätzen. Zentral war die Vermittlung von empirischen Daten mit spekulativer Theorie, die sich – wie auch die Kunst – aus Ahnungen, Träumen oder Ausgeburten der Fantasie speisen kann.40 Schon im Frühjahr 1799, nach Novalis' erstem Besuch, formuliert er dieses Theorieverständnis: Ist aber unsere Phantasie oft selbst nichts, als der Schatten der Wirklichkeit, ist Ahnung nicht selten nur das Morgenroth, welches dem Aufgang der Wahrheit vorangeht, was Wunder dann, wenn Dinge zur Wirklichkeit gelangen, an welche vorher die Dichtung kaum geglaubt haben möchte.41
Zufall, Ahnung, Traum und Fantasie gehören zum Erkenntnisprozess, ja liegen ihm unverzichtbar zu Grunde. Im Fragment Nr. 674 von 1810 schreibt er gar: „Man handelt überall aus Instinkt. Gründe sind klar gewordener Instinkt.“42 Bei aller Tätigkeit von Fantasie und Vorstellungskraft müssen die Theorien aber experimentell verifizierbar sein, sie müssen wissenschaftlichen Textstandards standhalten. Ritter berichtet von der leidvollen Erfahrung, „daß es schmerzhaft sey, ein schönes hypothetisches Gebäude auf einmal niederfallen zusehen“43, wenn der Theorie „andere Thatsachen widersprachen.“44 Deshalb haben die Figuren eine solch immense Bedeutung, sie sind die Antwort auf die alles entscheidende Frage: „Aber wie sollte man es sichtbar machen, das Unsichtbare, wie gleichsam der Geist übergehen in die Materie?“45 Indem sie sichtbar machen, sondern sie aus dem Fundus der Spekulation Tatsachen von Irrtümern, vermitteln Fantasie und Materie. Den grundsätzlichen Mechanismus glaubt er also gefunden zu haben. Die Herausforderung besteht nun darin, die Entsprechungen zwischen Ding und Zeichen im Einzelnen zu entdecken, das Alphabet der Urschrift
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Wie eng der Zusammenhang von Physik und Kunst ist, legt Ritter in seiner Antrittsvorlesung in München 1804 offen, die er unter die Überschrift Physik als Kunst stellt. Ritter, Johann Wilhelm, Die Physik als Kunst. Ein Versuch, die Tendenz der Physik aus ihrer Geschichte zu deuten, München 1806. Zit. n.: Ritter, Johann Wilhelm, Die Begründung der Elektrochemie und Entdeckung der ultravioletten Strahlen. Eine Auswahl aus den Schriften des romantischen Physikers, ausgewählt und kommentiert v. Armin Hermann, Frankfurt/M. 1968, S. 30. Zit. n. Dietzsch/Dietzsch, Fragmente, S. 264. Ritter, Begründung der Elektrochemie. Auwahl, S. 8. Ebd. Johann Wilhelm Ritter: Beweis, daß der Galvanismus auch in der anorg[an]ischen Natur zugegen sey [1799]. In: Ritter, Begründung der Elektrochemie. Auswahl, S. 32.
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Abb. 6: Fig. 48 auf Plate VIII im 4. Band von Recreations in Mathematics and Natural Philosophy, hg. v. Jacques Ozanam und Jean Etienne Montucla, London 1814, zeigt zwei Dianenbäume, die räumliche Dendriten bilden. Für Ritter eine Sichtbarmachung von Denkfunktionen.
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auszubuchstabieren. Ein Ansatz dieses Vorhabens – dessen Umsetzung durch Ritters frühen Tod am 23. Januar 1810 verhindert wurde, kein halbes Jahr, nachdem er den Anhang geschrieben hatte – bestand in einer Sortierung der Zeichen. In der Mitte dieser Ordnung stand das X im Kreis: „Theta, Menschen-, Gottesbuchstabe“. Auf der einen Seite finden sich die Buchstaben aus „+ (Abbreviaturen von *)“, die „in jenen alten Alphabeten mehr dendritische, Pflanzen-Figuren“ hervorbrachten, auf der anderen Seite im Zeichen des Kreises „mehr gerundete Tier-Figuren.“46 Es waren die Dendriten der Pflanzen-Figuren, die ihn auf die Fährte einer weiteren Technik von selbst entstehender Bildwerke brachten, dieses Mal allerdings dreidimensionale Stücke. Es handelt sich um den so genannten arbor dianae, ein „Metallgewächs“, wie es genannt wurde. Dieser Dianenbaum entsteht, indem man Silber in einer starken Säure auflöst, dem aqua fortis, und es daraufhin auskristallisieren lässt. Anscheinend von ganz alleine wächst eine vegetabile Struktur auch über die Gefäßränder hinaus und treibt immer feinere Spitzen aus, Dendriten. Im 18. Jahrhundert gehörte dieser Effekt zu den bekannten, aber in seiner Vorgangsweise ungeklärten Phänomenen. Im 19. Jahrhundert fand er Aufnahme in populäre Wissenschaftsbücher, die unterhaltsame und relativ einfach nachzumachende Experimente kompilierten.47 Der arbor dianae illustriert Ritters Vorstellung von der Kongruenz von Ding und Zeichen, dessen Wachstum er mit dem Vorgang des Denkens unmittelbar vergleicht. Im Fragment 31 schreibt er: So ist gleichsam die Silberauflösung im obigen Versuche das Gehirn, das kristallisierte metallische Silber der Nerve, durchsichtig für die Einwirkung, und das Anschießen des neuen Silbers eine Idee, – gewirkt auf ähnliche Art, als die unseren.48
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Alle Zitate Ritter, Fragmente, S. 230 f. Blanckaert, Steven, Lexicum Medicum, Halle 1748, etwa liefert auf S. 79 folgende Definition: „Arbor Dianae est quadem crystallisatio mercurii, et argenti in aqua forti dissoluti, fruticis speciem acquirens.“ Ein anderes Beispiel bieten Jacques Ozanam/Jean Etienne Montucla (Hgg.), Recreations in Mathematics and Natural Philosophy, London 1814. In Bd. 4, S. 372-374, berichtet T. Davison zu „Arbor Dianae“ und „Arbor Mortis“, einem vergleichbaren Effekt mit Eisen an Stelle von Silber, was andernorts gelegentlich auch „Baum des Mars“ genannt wird. In dieser Publikation findet sich auch eine Abbildung des Arbor Dianae. Ritter, Fragmente, S. 72. In Nachricht von der Fortsetzung seiner Versuche mit Volta's Galvanischer Batterie (zit. n. Dietzsch/Dietzsch, Fragmente, S. 371 f.) schreibt Ritter über seine Versuche: „Ich habe in Gotha die Auflösung fast aller bekannten Metalle der Wirkung der sehr starken Batterie von 600 Lagen auszusetzen Gelegenheit gehabt. […] Eine von 600 Lagen schuf binnen weniger Stunden in langen V-ähnlichen Röhren einen Arbor Dianae von 4, 6 und mehr Zoll Länge, dessen Äste sich wenig verzweigten, sondern, in gedrängter Constistenz, und dem reinsten Glanze, in ihrer Mitte einen Stamm erhielten, der durch keine Fortsetzung unterbrochen wurde.“
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Klangfigur und arbor dianae sind beides Beispiele für die Hieroglyphen der Natur, denn sie entstehen selbsttätig aufgrund inhärenter Kräfte und sie machen Unsichtbares sichtbar. Im Falle der Dendriten zeigt sie, wie das zentrale Nervensystem und seine Funktion des Denkens nach Ritters Meinung vor sich gehen. Die beobachtbaren Wirkungen sind sich so ähnlich, dass er Dendriten tatsächlich als materielles Korrelat des Denkens verstehen kann und sich an anderer Stelle zu der Feststellung hinreißen lässt: „Die Musik ist eine höhere Vegetation“49, ohne hinzuzufügen: so, wie der Dianenbaum eine metallische Vegetation ist. Es ließe sich der Einwand geltend machen, dass weder die Klangfiguren noch der Arbor Dianae tatsächlich experimentelle Bestätigungen seiner spekulativen Theorie darstellten, sondern umgekehrt die Befunde die Spekulation erst in Gang setzten. Aber seine gewagt anmutenden Thesen vom Zusammenhang zwischen Denkvorgang und der Entstehung von Klangfiguren hatten durchaus Parallelen. Der Arzt und Hirnforscher Samuel Thomas Sömmering war Ritter vorausgegangen, indem er in den flüssigkeitsgefüllten Hirnhöhlen des Menschen den Sitz der Seele vermutete.50 Nach seiner Erkenntnis mündeten hier die Nervenenden der Sinnesorgane ein. Die Nerven erschüttern die Flüssigkeit, so Sömmerings Theorie, und erzeugen Muster, „Schwingungsformen der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen“51, die denen von Chladnis Klangfiguren zu vergleichen wären. In umgekehrter Richtung sei „die Spontaneität der Seelenkraft“ – „zum Beispiele bei der Einbildung (Imaginatio)“52 – in der Lage, die Nerven zu stimulieren und so körperliche Aktivitäten hervorzurufen. Hier wird Chladnis Klangfiguren eine Produktivkraft, ja die menschliche Produktivkraft zugeschrieben. Nach Sömmering sind die Klangfiguren nicht nur das Medium, über das die Seele mit der Welt in Kontakt steht, sie steuern und strukturieren auch all unsere Handlungsweisen. In Relation zu einer solch eminenten Bewertung der Klangfiguren nimmt sich Ritters Theorie vergleichsweise zurückhaltend und kühl aus. Den Ansatz, mit Hilfe von Chladnis Erkenntnissen künstlerisches Schaffen als Resultat „thätiger Ideenassoziatio-
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Ritter, Fragmente, S. 186. Vgl. zu Sömmerings Rezeption von Chladni und seinen Einfluss auf Ritter: Welsh, Caroline, Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Literatur um 1800, Freiburg/Br. 2003, bes. S. 70-109. Nebenbei existieren auch in aktuellen kognitionswissenschaftlichen Buchstaben-Theorien ganz ähnliche Ansätze, wie sie Ritter verfolgte, wenn auch die zugrundeliegenden Mechanismen anders gedeutet werden, etwa als Selektionsvorgang im Gehirn (vgl. Mark Changizi). Sömmering, Samuel Thomas von, „Ueber das Organ der Seele“ [1796]. In: Ders.: Werke, hg. v. Jost Benedum/Werner Friedrich Kümmel, Bd. 9, Basel 1999, S. 155-248, S. 208, § 37. Zit. n. Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, S. 58. Ebd., § 55, zit. n. Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, S. 59.
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nen – auf selbstthätiger, absichtlicher, idealischer Zufallsproduktion“53 beruhend zu bestimmen, findet Ritter bei Sömmering vorformuliert und rezipiert ihn gemeinsam mit Novalis. Und immerhin kann ja tatsächlich ein Jeder, der über ein entsprechend ausgestattetes Labor verfügt, die Experimente Chladnis und Lichtenbergs nachvollziehen. Die Figuren entstehen wirklich, und sie entstehen jedesmal wieder aufs Neue. Und das wichtigste dabei: Im Gegensatz zu Sömmerings Hirnhöhlen kann jedermann sie sehen.
Lesen versus Sehen Ritters Fantasie ist ausgesprochen aktiv. Er brütet über der Möglichkeit leuchtender Klangfiguren durch „Oszillationsglut“54. Ein anderes Gedankenexperiment besteht darin, ob nicht eine Glasplatte mit feuchtem Hornsilber überzogen, anstatt mit Sand bestreut, auch eine Klangfigur erzeugen müsse, indem sie an den schwingenden Teilen eher Schwärzungen aufweist, als an den Schwingungsknoten.55 Ritter kannte die Versuche von Giacomo Battista Beccaria, der die Lichtempfindlichkeit des Hornsilbers untersucht und sie dafür verwendet hatte, um Schattenrisse zu kopieren. Hornsilber, chemisch Silberchlorid, färbt sich unter Lichteinwirkung schwarz und war zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur beliebter Gegenstand unterschiedlicher Experimente, sondern wurde auch zum wesentlichen Reagenz der Fotografie. Ritter wusste auch um Berthollets Versuche mit Hornsilber und hielt im Frühjahr 1801 einen Vortrag über Friedrich Wilhelm Herschels Entdeckung des „ultraroten Lichts“ und der Entwicklung eines eigenen Nachweises „unsichtbarer Strahlen außerhalb des Violetts“ mit der Hilfe von Hornsilberschwärzungen jenseits des sichtbaren Spektrums bei prismatischer Brechung des Sonnenlichtes.56 Die Erfinder der fotografischen Verfahren, allen voran Jacques Louis Mandé Daguere und William Henry Fox Talbot legitimieren nach 1839 die Naturtreue der Fotografie mit einem ganz ähnlichen Argument: The Pencil of Nature – die sich selbst gebenden Zeichen der Natur.57 Aber im Gegensatz zu den Fotografen versteht Ritter diese Zeichen nicht im Sinne einer mimetischen Ähnlichkeitsbeziehung: Es sind keine
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Novalis, zit. n. Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, S. 216. Zit. n. Dietzsch/Dietzsch, Fragmente, S. 280. Fragment 364, ebd., S. 167. Vgl. Anm. zu Fragment 261, ebd., S. 389 f. Auch Fragment 358 weist auf Herschels und Ritters Prismenversuche hin, ebd., S. 166. Talbot, William Henry Fox, The pencil of Nature, London 1844.
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Bilder, die entstehen. Es handelt sich vielmehr um Abbreviaturen, Kürzel. Der Vorgang der Sichtbarmachung stellt eine Reduktion dar, eine Abstraktion. Daher sind die Resultate weder Abbilder noch Symbole, sondern Buchstaben. Als solche sind sie nicht zu betrachten, sondern zu lesen. Dadurch sind sie im Prinzip auch standardisierbar, konventionalisierbar. Die sich um 1800 international allmählich durchsetzende Bezeichnung von „+“ und „–“ für die gegensätzlichen Spannungen eines elektrischen Stromes hält Ritter deshalb auch für verkehrt, da sie die natürlichen Zeichen, die die Elektrizität sich selbst gegeben hat, ignorieren. Denn diese sind „+“ und „○“, das beweisen Lichtenbergs Staubfiguren. Erkenntnistheorie ist für Ritter insofern eine Theorie des Lesens, die sich als Teil einer Lesegeschichte darstellen lässt. Ritter hatte nicht nur Novalis gelesen, er kannte außerdem die Chladni und Lichtenberg. Eine Erwähnung des schwedischen Geistersehers Swedenborg im Anhang legt den Verdacht nahe, dass er auch mit Kants Abhandlung über Swedenborg vertraut war, die Träume eines Geistersehers. Sollte dem so gewesen sein, dann wäre er über diesen Weg auch auf Liscow gestoßen. Das wäre interessant, denn die Satire Liscows geht mit der Präsentation von Robert Cliftons eigener Theorie zur Entstehung der Buchstaben auf der winterlichen Fensterscheibe zu Ende. Derzufolge seien die Frostfiguren an der Scheibe Spuren der vorabendlichen Diskussionen: Unsere Gedanken sind Bilder der Dinge, die ausser uns sind: Die Worte, die wir sprechen, sind Bilder unserer Gedanken. Sprechen ist nichts anderes, als den Athem auf eine gewisse Art von sich lassen. Der Athem bestehet in gewissen Ausdünstungen. Folglich sind die Worte, die wir sprechen, nichts als Ausdünstungen unseres Cörpers. Da nun aber die Worte Bilder unserer Gedanken, und die Gedanken Bilder der Dinge, die ausser uns sind: so sind auch die Ausdünstungen unsers Mundes, wann wir sprechen, Bilder der Dinge, die ausser uns sind. Wann nun diese Ausdünstungen, durch die Kälte zusammen gedrücket, sichtbar werden: so werden auch die Gedanken, deren Bildniß diese Ausdünstungen vorstellen, sichtbar. Werden die Gedanken sichtbar: so müssen wir auch nothwendig die Bilder der Dinge, die ausser uns sind, und von welchen wir reden, in diesen sichtbar gewordenen Ausdünstungen erblicken. Q.E.D.58
Folglich wäre es unbestreitbar, dass die Figuren an der Scheibe sichtbare Niederschläge der Gespräche vom Vorabend seien, wo er mit seinen Freunden „von der Mathematik, Astronomie, Chymie, und Mythologie, von der hebräischen, arabischen, chinesischen und malabarischen Sprache, vom Festungsbau, von Cometen, von Donner und Blitz, und ich weiß nicht, von wie viel anderen Dingen geredet“59 hatte.
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Liscow, Sammlung, S. 66 f. Liscow, Sammlung, S. 67.
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Die Theorien Cliftons und Ritters zu der Frage, wie Geist und Materie zusammenhängen, sind gar nicht so weit entfernt voneinander, abgesehen von dem Umstand, dass es sich im einen Fall um Satire im anderen um ernstgemeinte Wissenschaft handelt. Fühlte sich Clifton wie Belsazar, der mit Schaudern die göttliche Feuerschrift an der Wand entdeckte, so könnte man der Atemlosigkeit, mit der Ritter den Anhang formulierte, eine ganz ähnliche Befindlichkeit entnehmen. Denn wer führt den Stift der Natur, wenn nicht Gott persönlich? Romantisches Lesen erweist sich damit aber auch als ein Umdeuten, ein Neulesen: Aus dem biblischen Schrecken wird wissenschaftliche Neugier, und satirische Gedanken werden ohne Angst vor Ridikülisierung auf ihre Relevanz geprüft. Das Menetekel ist der romantischen Lesbarkeit weniger grauenvolle Warnung, als die einzigartige Gelegenheit, Gottes Handschrift zu studieren: Die Wege des Herrn werden ergründlich, aber sonderbare Wege gehen die Lektüren.
Bibliografie 1. Quellen
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Mediale Konfigurationen
Die Diabolik der Medien als Intriganz von Schreibern und Sekretären. Die ‚romantische‘ Beobachtung der Kommunikation bei Schiller und Novalis TORSTEN HAHN 1797 moniert Friedrich Schlegel einen Mangel im poetologischen Schrifttum: „An die Stelle des Schicksals“, merkt der Frühromantiker an, „tritt in der modernen Tragödie zuweilen Gott der Vater, noch öfter aber der Teufel selbst. Wie kommts, daß dies noch keinen Kunstgelehrten zu einer Theorie der diabolischen Dichtart veranlasst hat?“1 Schlegels Frage ist selbst ein genuiner Beitrag zur Ästhetik, also jener Disziplin, die im Anschluss an Baumgarten und Kant im deutschen Idealismus Karriere macht. Denn sie liefert einen kompakten Begriff, um die Phänomene zu beschreiben, die in der Geschichte der nach-klassischen Tragödie vornehmlich dafür sorgen, dass überhaupt etwas passiert, also Handlung in Gang gesetzt wird und Konflikte möglich werden: das Diabolische. Dieses kann und sollte als ein Prinzip verstanden werden, das auch dann noch aktiv ist, wenn der leibhaftige Teufel die Bühne räumt. In diesem Sinne hat Peter von Matt in seiner Studie Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist angemerkt, es könne sich bei der fraglichen Theorie nicht „um eine bloße Literaturgeschichte des geschwänzten Satans“ handeln. Dies griffe zu kurz. Gemeint sei „vielmehr eine reflektierte Geschichte jener Literatur, in der das Schicksal aus der Hand der Götter in die Hand einer diesseitigen Intelligenz gelegt ist, eine Literaturgeschichte der Intrige, die um deren Herkunft weiß.“2 Der vorliegende Beitrag geht einer geschichtlichen Konkretisierung dieses diabolischen Prinzips nach. Diese ist nicht zufällig oder den Idiosynkrasien einzelner Autoren geschuldet, sondern intrikat und aufs innigste mit einer Umstellung der Beobachtung der Gesellschaft und dessen was sie konstituiert, nämlich Kommunikation, verbunden.
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Friedrich Schlegel, „Lyceums-Fragmente“, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, hg. v. Ernst Behler, München u.a. 1967, S. 149 (Nr. 30). von Matt, Peter, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München/Wien 2006, S. 206.
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Torsten Hahn
Indessen führt die Frage nach der Herkunft des Diabolischen zunächst zurück auf einen Umbruch, der geschichtlich als Makrodifferenz von antiker und christlicher Welt beobachtbar ist – eine Differenz, deren Ausstellung und Betonung gerade dem späten 18. Jahrhundert alles andere als fremd ist, man denke nur an Schillers Die Götter Griechenlands. Greifbar werde der Rückzug der mythischen Welt in einer Diabolik, so von Matt, die als „Steuerung aus dem Hinterhalt“3 auftrete. Das Schicksal als sowohl „mythisch-theologische“ wie auch „literarisch-technische“ Instanz, „welche mir mein Geschick schickt“4, wie von Matt zum Schicksal formuliert, wird von anderen Mächten abgelöst. In allen Spielarten des Diabolischen echot demnach der Untergang der Welt des Schicksals und der Götter Griechenlands; die Familie der Intriganten ist ein Produkt der romantischen Kunstperiode im Sinne der Hegel’schen Epochensequenz.5 Diese Beobachtung wirft aber zugleich die Frage auf, was für die Evolution des Diabolischen sorgt, d.h. was die Verschiebungen des Ortes bedingt, von dem die Intriganz und die Diabolik ihren Ausgang nehmen. Diese Verschiebungen sind Indikatoren weitreichender gesellschaftlicher Strukturänderungen. Mit der Evolution der Gesellschaft und ihrer Beschreibung durch den Beobachter einher gehen neue diabolische Mächte, die mit ihren Vorgängern gemein haben, dass sie aus einem unbeobachteten oder vielleicht unbeobachtbaren Hinter- oder Untergrund agieren und, obwohl im Gepräge des Inferioren auftretend, den Lauf der Geschichte ändern. Die These, die dem vorliegenden Aufsatz zugrunde liegt, ist die, dass sich mit dem Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft auch die Verortung und Darstellung des Diabolischen und der mit ihm einhergehenden Intriganz erneut grundlegend ändert. Die mit dem Strukturwechsel einhergehende diesseitige Intelligenz wird zu einer Agentur, die zugleich Verbindungen ermöglicht und trennt, im Rücken der scheinbar souveränen Akteure operiert, Pläne stört und ihren eigenen Willen verfolgt. Mehr und mehr wird der diabolische Störfall in den Systemen und seinen Agenten lokalisiert, die, um an von Matts Wortspiel anzuschließen, Relais in einem, im weiten Sinne, postalischen Geschicke sind: Relais, die Signale umwandeln – etwa die mündliche Rede in die Schrift – und diese prozessieren – als Boten oder Mittler. Entscheidend ist nicht, was verschickt wurde oder was ein unter diesen Bedingungen nur scheinbar souveräner Akteur im Sinn hatte, sondern die Veränderungen
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Ebd., S. 206. Ebd., S. 205. Der Unterscheidung von symbolischer, klassischer und romantischer Kunstform als Erstreben, Erreichen und Überschreiten des Ideals. Vgl. G.W.F. Hegel, Werke. Bd. 13, Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt/M. 1970, S. 107-114.
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und Verzerrungen, die mediale Agenturen im Geschicke beisteuern. Diese sorgen einerseits dafür, dass es überhaupt Schicker und Beschickte gibt, d.h. sie verbinden, und andererseits interferieren sie, stören eben diese Verbindung und sorgen für Missverständnis, Verrat und Zerfall. Sie sind der, wie sich zeigen wird, unzurechenbare Störfall, der ebenso fatale Handlungsketten auslöst, wie einst das allmächtige Schicksal. Das, was zwischen den souveränen Willen und die mediale Fixierung tritt, sind Agenturen, die um 1800 notorisch werden, wenn es um Verzerrung des Willens und Verstellung sowie Anschläge aus dem Hinterhalt, kurzum: Intriganz geht. Das Geschick formt sich, so möchte ich zeigen, nun allererst im Geschicke, d.h. im Schriftverkehr und seinen Spielarten: der technischen Übermittlung und Archivierung der Rede. Die Agenten dieser Form des Diabolischen – ich werde den Begriff im Folgenden näher bestimmen – sind Schreiber, die beginnen, sich ganz und gar eigenwillig aufzuführen. Der unbeobachtete Untergrund, in dem dieses Diabolische haust, hat auf den ersten Blick nichts Höllisches. Aber gerade diese inferiore, quasi-technische Sphäre, die dafür zu sorgen hat, dass der souveräne Wille kommuniziert wird, beginnt, eine beträchtliche Eigenwilligkeit zu offenbaren. Durch ihre Einmischung werden Schreiber und Sekretäre zum maximalen Störfall, ihr dämonisches Treiben hat gravierende Konsequenzen, die, vom Standpunkt des souveränen Subjekts aus, nicht kontrollierbar sind. Aber auch die Schreiber sind letztlich nur Personifikationen, mittels derer eine sich um 1800 aufdrängende Einsicht kommunizierbar wird – und dies insbesondere im Modus der Literatur. Diese Einsicht bzw. dieses Wissen geht mit der Umstellung der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung von Interaktion auf Fernkommunikation, als einem zentralen Effekt des gesellschaftlichen Strukturwandels, einher. Die Effekte dieser Umstellung zeigen sich, glaubt man Niklas Luhmann, insbesondere in der Literatur der Romantik. So habe man sich in der langen Epoche der Aufklärung noch primär am „Interaktionsmodell, also letztlich an mündlicher Kommunikation“ orientiert, wenn es darum ging, die Gesellschaft zu beschreiben. „Erst die Romantik“, so der Soziologe, „stellt sich, um [...] Inkommunikabilität und abweichende Realitätssichten in die Kommunikation einbeziehen zu können, auf Schrift und Druck um; und erst damit wird das Scheitern der Kommunikation zu einem bevorzugten literarischen Thema.“6 Mit der Umstellung einher, so kann man wohl festhalten, geht die Einsicht, dass Störung und Missverständnis weitaus wahrscheinlicher sind als im Sinne der Verschickenden und Beschickten gelingende Kommunikation. Mit der Beobachtung der Akteure, die nächstens zu den Kanälen der Kommunikation operie-
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Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 300 f.
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ren, wird deutlich, was für Kommunikation überhaupt gilt: dass nämlich nur Kommunikation kommuniziert und zwar nach eigenen Regeln, auf die auch das souveräne Subjekt keinen Zugriff hat. Die Schreiber und Sekretäre sind, was die Zuschreibung von Handlungsmacht betrifft, eine neue Adresse, die mit der Umstellung der Beobachtung von Kommunikation emergiert. Diesen illegitimen Akteuren, werden die Folgekosten der Autonomie der Kommunikation zugeschrieben bzw. angelastet werden, aus Gründen, die in der Form des Mediums Schrift liegen und die im Folgenden näher zu erläutern sein werden. Diese Medien werden haftbar gemacht für das, was sich nicht länger ausblenden lässt: dass Kommunikation einem eigenen und verborgenen Regelwerk folgt, das sich der Verfügungsgewalt des Subjekts letztlich entzieht. Die Beobachtung einer wahrscheinlichen Verzerrung des Sinns legt den Verdacht nahe, dass jeder Kommunikationsversuch einen Dritten anlockt, der verfälscht, verdreht und stört. Der Störung kann so zumindest ein – wenn auch bösartiges – Kalkül unterstellt werden. Die Unberechenbarkeit der Kommunikation, ihre Eigenwilligkeit wird Mensch-Medien zugeschrieben und angelastet; die Autonomie der Kommunikation wird als Diabolik des Mediums greifbar. Die (Mensch-)Medien sind die Adresse, der die unvermeidbar mit jeder Kommunikation und jedem Kommunikationsversuch einhergehende Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit der Störung zugeschrieben werden kann; die Diabolik der Medien ist die beobachtbar gemachte Eigenwilligkeit der Kommunikation. Es bleibt aber nicht bei der Wahrnehmung und Ausgestaltung der unvermeidlichen Störung. Vielmehr tritt Literatur an, der Störung eine Nachgeschichte beizusteuern, die von neuem Heil kündet. Die Gegenstrukturalität7 der Kunst zur modernen Gesellschaft eröffnet, in Novalis’ Worten, die Möglichkeit, die „durchausentgegengesetzte Welt der Welt der Wahrheit (Geschichte)“ zu gestalten und diese zur „Prophetische[n] Darstellung“8 zu erheben. Gattungspoetisch genauer meint dies die Möglichkeit, die Störung im Märchen aufzuheben. Die Störung wird im Märchen zur Negation auf Zeit; sie schafft die Bedingungen für den baldigen Anbruch eines neuen goldenen Zeitalters. Diese romantische Lösung sattelt allerdings auf eine Formgebung der Intriganz der Medien auf, die literaturgeschichtlich in der Klassik beheimatet ist. Insofern greift es, zumindest unter Beibehaltung eines orthodoxen Epochenverständnisses, zu kurz, wie Luhmann zu behaupten, erst die Romantik stelle auf Schrift und Druck um – und präferiere infolgedessen
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Vgl. zur These von der Gegenstrukturalität von Kunst (und Liebe) Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 987 f. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2, Das philosophischtheoretische Werk, hg. v. Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, Darmstadt 1999, S. 514.
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Störung, Missverstehen und Inkommunikabilität. Nimmt man die Beobachtungsperspektive einer Theorie der diabolischen Dichtart literaturgeschichtlich ernst, wird Luhmanns grober Epochenschnitt, der die Klassik schlicht ignoriert, durchaus fragwürdig. Die Beobachtung der Intriganz der Medien verbindet das, was sonst durch formgeschichtliche Beobachtungsvorgaben auseinanderdividiert wird: in dem Fall, den ich vorstellen möchte, Friedrich Schillers klassisches Drama Maria Stuart und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen. In beiden Fällen wird die Diabolik der Kommunikation als dämonische Eigenwilligkeit von Schreibern und Sekretären inszeniert und im Modus der Schönheit überwunden. Ich werde nun zunächst die gerade skizzierte Intriganz der Medien und die Dynamik der Störung näher bestimmen und theoretisch grundieren, um anschließend auf dieser Folie Schillers und Novalis’ Verarbeitungen der ‚romantischen‘ (sensu Luhmann) Beobachtung der Diabolik der Kommunikation zu entfalten.
1. Dämonie und Diabolik im Feld der Kommunikation Die Beobachtung einer teuflischen Intriganz der Medien, die im Grunde der Eigenwilligkeit der Kommunikation geschuldet ist, nimmt ihren Ausgang von minimalen Abweichungen. Der entsprechende Dämon wohnt zunächst im sprichwörtlichen Detail. Und er ist wandelbar: er passt sich der jeweiligen Medientechnik an, durch die er hervorgebracht wird. Für eine erste Bestimmung dieses Dämons können wir auf Michel Serres’ Hermes I zurückgreifen. Serres geht zunächst von der wenig spektakulären Beobachtung aus, dass, wer kommunizieren will, auf eine Reihe von Techniken zurückgreifen kann. Eine der „einfachsten und reichhaltigsten Techniken“ ist, so Serres, die Schrift, denn sie gestattet es uns, Information zu speichern, zu übertragen und zu vervielfältigen.“9 Unvoreingenommen betrachtet ist dieses Medium „eine Zeichnung, […] eine durch Konvention festgelegte graphische Figur.“10 In Kenntnis der Regeln ist beobachtbar, wie sie Personen verbindet, die „in der Lage sind, eine Bedeutung mit Hilfe desselben Schlüssels zu kodieren und zu dekodieren.“11 Die Norm wäre eine reine Schrift, ohne individuelle Abweichung, eine Kodierung, die sich im Akt der dekodierenden Lektüre vollständig auflöst und keine Reste erzeugt.
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Serres, Michel, Hermes I. Kommunikation, Berlin 1991, S. 47. Ebd., S. 47 f. Ebd., S. 48.
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Der Normalfall ist allerdings eine Häufung von „Kommunikationspathologien“12, denn immer mischen sich Abweichungen ein. Zwar soll der Schreibende „die Zeichnung so gut wie möglich ausführen“. Aber in die „wesentlichen“ Merkmale des Buchstabens oder der Zeichnung, also die normgerechten Enkodierung des Lautes, mischen sich stets Merkmale ein, die „nicht wesentlich, sondern akzidentieller Natur sind […] und von Faktoren wie Geschicklichkeit oder Ungeschicklichkeit des Schreibenden, Kultur, Leidenschaft, Krankheit und vielem anderen abhängen“13. In diesen Merkmalen zieht das wahrnehmbar in die Kommunikation ein, was sich nicht oder nur schwerlich berechnen lässt, kurzum: als zufällig erscheinen muss und Bedeutungen verstellt bzw. neue entstehen lässt. In diesen Abweichungen, dem Zufälligen wohnt die Überraschung, die dazu tendiert, informativer als die eigentliche Botschaft zu sein.14 Diese Zufälligkeit bringt Kommunikation, sei sie nun technischmedial vermittelt oder nicht, stets hervor, in der Schrift wird sie nur besonders sinnfällig. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass Schrift zur bewussten Differenzierung von Information und Mitteilung zwingt bzw., durch die Zerdehnung der Kommunikation, die den Blick auf das Medium ermöglicht, anregt: das ‚Wie‘ der Kommunikation wird beobachtbar– und thematisierbar. Gerade durch die Abweichung, also durch das, was außerhalb der Norm liegt, wird der Blick auf die Mitteilung gelenkt, sie wird eben in dem, was stört, sinnfällig. Auch mit Blick auf die Kommunikationspathologien lässt sich Schrift mit Niklas Luhmann als eine, verglichen mit Interaktion, „kommunikativere Form der Kommunikation“15 bezeichnen: eben weil sie auf die Unterscheidung von Mitteilung und Information drängt, was in der Rede allein schon aus Gründen der zur Antwort zur Verfügung stehenden Zeit nur schwerlich möglich ist. In der Schrift wird die Differenz von Mitteilung und Information augenscheinlich. Die Folgekosten bestehen – insbesondere dann, wenn der Beobachter Abweichungen und Unberechenbares wahrnimmt, das stört und nicht primär der Transmission von Information zuträglich ist sowie sich nicht in Verstehen auflösen lässt, m.a.W. keinen eigentlich Zweck zu haben scheint – in einem wachsenden Verdacht, „der sich aus der Sonderanfertigung der Mitteilung ergibt: daß sie eigenen Regeln folgt und nicht nur Dienerin der Information ist.“16
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Serres, Hermes I, S. 49. Ebd., S. 48. Wobei die Unterscheidung von Botschaft und Rauschen selbst problematisch bzw. beobachterabhängig ist. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, Frankfurt/M. 1984, S. 224. Ebd., S. 223.
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Es ist eben dieser Verdacht, der, im Zuge der Umstellung der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung auf Schriftverkehr, das Medium für den Beobachter dämonisch macht. Der Verdacht schafft also den Dämon, der dann wiederum, rekursiv, diesem Verdacht einen Grund gibt und in Folge dafür sorgt, dass der Beobachter sich und den Konstruktivismus des Verdachts, der sich seine Ursache schafft, vergessen kann. Diese Störung, die erzwingt, dass Kommunikation als Form, d.h. als Differenz von Information und Mitteilung beobachtet wird, und einen umgreifenden Verdacht auslöst, da sie als Einmischung einer fremden Größe erfahren wird, findet sich in allen Medien, als „Hintergrundgeräusche, Flimmern, […] mangelnde Synchronisation“. Das, was auf den ersten Blick als akzidentiell erscheint, avanciert zum zentralen Merkmal: „[D]as Zufällige, das Hintergrundrauschen [ist] wesentliches Moment der Kommunikation.“17 Das Rauschen zeigt an, dass kommuniziert wird, zugleich bedeutet somit „jedes Kommunizieren einen Sinn den Gefahren des Rauschens auszusetzen.“18. Kommunizieren meint in diesem Sinne, „einen Dritten setzen und ihn auszuschließen versuchen“; dieser Dritte ist der „Dämon […], das personifizierte Rauschen“19 – wer kommuniziert, muss damit rechnen, dass der dämonische Dritte seinen Auftritt hat. Keine Kommunikation ohne Dämon also; die Frage ist, wohin die Wetten auf den Ausgang des Ausschlussversuchs tendieren, was als wahrscheinlicher gilt: Verstehen oder Missverstehen und Verfälschung des Gedankens bzw. des intendierten Sinns. Mit der Umstellung auf Fernkommunikation verschiebt sich für den Beobachter die Wahrscheinlichkeit: Immer häufiger ist es das Rauschen, das die Oberhand behält. Mit den Schriftführern und Schreibern, um die es mir im Folgenden gehen wird, erhält diese Dämonie in der Beschreibung ein Gesicht und wird adressierbar – was umgekehrt bedeutet, dass die Störung zur Größe eigener Wertigkeit avanciert, das Medium oder das ‚Wie‘ der Kommunikation nicht mehr ignoriert werden können. Das Akzidentielle, die Abweichung oder Verzerrung, wird zum Wesentlichen: Die Dämonie der Kommunikation wird im intriganten Medium greifbar gemacht. Diese Dämonie bzw. der intrigante Dämon ist der personalisierte Grund dafür, dass der Sinn seine Medialisierung nicht unbeschadet übersteht. Immer mischt sich der Dritte ein und stört. Der Dämon trennt, wo er verbindet – und dies führt zum Begriff der Diabolik, einer Variation der grundsätzlichen Dämonie aller Kommunikation. Die Rede von der Diabolik der Kommunikation ordnet das Feld der Medien
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Serres, Hermes I, S. 49. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50.
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nicht nach guten und schlechten Medien, vielmehr kann jedes Medium sym-bolisch, also verbindend, als auch dia-bolisch, also trennend wirken. In diesem Sinne hat Luhmann in Die Wirtschaft der Gesellschaft darauf hingewiesen, dass an Kommunikationsmedien stets sowohl eine symbolische als auch eine diabolische Seite beobachtbar ist. Kommunikationsmedien, deren Leistung darin liegt, zu verbinden und ein Passen des Unterschiedenen zu ermöglichen bzw. wahrscheinlich zu machen, neigen ebenfalls dazu, im gleichen Maße neue Differenzen zu erzeugen. Mit dem Sýmbolon wird zugleich das Diábolon gesetzt; die Einheit dieser Differenz kann nun „in Richtung auf das Zusammen des Unterschiedenen, aber auch in Richtung auf das Auseinander artikuliert werden“. Konvergenz oder Divergenz kann für den Beobachter hervortreten, wobei letztere auffällig wird, weil sie im Zuge eines „Konvergenzversuch[s]“20 produziert wird. Kommunikationsmedien sind in diesem Sinne sowohl symbolisch als auch diabolisch. Indem Differenzen, seien diese räumlicher oder zeitlicher Natur, überbrückt werden, werden zugleich neue gestiftet. Es steht dem Beobachter frei bzw. liegt in seinem Erleben begründet, welchen Aspekt des Mediums er in seiner Beschreibung hervorhebt. Dieser kann entweder die symbolischen oder die diabolischen Tendenzen betonen, wobei sich dann in einem zweiten Schritt Epochen mit bestimmten Vorlieben beobachten lassen – um 1800 wird insbesondere das Diabolische der Kommunikationsmedien bevorzugt und diesem ein Gesicht mit mehr (Schiller) oder weniger (Novalis) menschlich-individualisierten Zügen beigesteuert. Die literarische Medienbeobachtung, die mich im Folgenden interessiert, ist eine, die das Scheitern des Konvergenzversuchs, also das Diabolische des Medialen und den personifizierten Dämon zusammenbringt. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem Konvergenzversuch Divergenz resultiert, leitet sie aus dem Verdacht ab, den das Rauschen der Mitteilung geweckt hat.
2. Sekretäre und Königinnen Der Fall der historischen Maria Stuart ist für die oben skizzierte Problematik attraktiv, da er ein fester Bestandteil der Geschichte der Kryptographie ist. Es ist insbesondere Englands erster großer Kryptoanalytiker, nämlich Thomas Phelippes, der den Untergang der schottischen Königin beschleunigt. Wir haben es also zunächst mit einem Sonderfall der Schrift
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Luhmann, Niklas, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, S. 258. Luhmann zielt mit dem Begriffspaar auf einen besonderen Typus von Medien, nämlich die symbolisch generalisierten und insbesondere das Geld. Für den vorliegenden Zusammenhang ist diese Einschränkung aber nicht von Belang. Vgl. zur Unterscheidung insgesamt ebd., S. 230-271.
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zu tun: mit der Geheimschrift. Aber auch die Enkodierung zweiter Stufe, die nicht auf Lautung, sondern selbst wiederum auf das Graphem verweist, folgt den grundlegenden Regeln der Schrift: Es muss gewährleistet sein, dass Schicker und Beschickter über den gleichen Schlüssel verfügen, nur dass dieser exklusiv bleiben muss, wenn die Geheimhaltung erfolgreich sein soll. In die kryptographisch geschützte Kommunikation der schottischen Königin mischt sich Phelippes. Er übernimmt die Funktion des Dritten und agiert als personifizierter Dämon, der für mehr Information sorgt, als die Parteien intendieren konnten. Er schreibt sich im Geschicke ein und reichert die Botschaft an, womit diese das Schicksal der Verschwörer besiegelt. Der Sinn der Botschaft verändert sich – und die Botschaft sorgt für den Zerfall des Kommunikationssystems. Phelippes wurde von Sir Francis Walsingham engagiert, um den regen Nachrichtenverkehr zu entschlüsseln, den Maria Stuart noch vom Ort ihrer Gefangenschaft aus unterhielt. Der Analytiker dekodiert aber wie gesagt nicht nur, er enkodiert auch – und mischt eine fremde Rede in den Schriftverkehr; eine Rede, die, da sie der verabredeten Norm der Enkodierung entspricht, nicht als Fremdkörper auffällt. Phelippes interferiert aus dem Hinterhalt, insbesondere bittet er, im Namen Marias, in einem Absatz, dem er einem entschlüsselten Brief der Gegenkönigin Marias hinzufügt, bevor dieser erneut wieder verschlüsselt und weitergeleitet wird, den Verschwörer Babington um die Namen aller in das Komplott gegen Elisabeth verwickelten Gentlemen, was auch gelingt.21 Von diesen Briefen existieren schon zur Zeit der Verurteilung Marias, wie gerade die an der Sensation orientierten Erzählungen von historischen Verschwörungen des 18. Jahrhunderts hervorheben,22 nun nur noch Abschriften, was die im Sinne des rechts entscheidende Frage nach der der Autorschaft problematisch macht. Für sein Drama arbeitet Schiller das historische Geschehen als Verschwörung auf, wobei Babington zu Beginn des Trauerspiels schon verurteilt und hingerichtet worden ist. Dennoch sorgen die Briefe für ein Nachbeben, das die Handlung des Trauerspiels in Gang setzt. Die Briefe sind ein zentrales Thema, wie ein Dialog zwischen Maria und Burleigh zeigt: BURLEIGH [...] Ihr wart mit Babington, dem Hochverräter, Und seinen Mordgesellen einverstanden, Ihr hattet Wissenschaft von allem, lenktet
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Vgl. Kahn, David, The Codebreakers. The Comprehensive History of Secret Communication from Ancient Times to the Internet. Revised and Updated, New York 1996, S. 119-124. Vgl. Duport du Tertre, François Joachim, Des Herrn Düport dü Tertre Geschichte der sowohl alten als neuern Verschwörungen, Meutereyen und merkwürdigen Revolutionen, 10 Bde., Breslau 1764-1771 (hier Bd. 4, S. 230-239).
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Aus Eurem Kerker planvoll die Verschwörung. MARIA Wann hätt ich das getan? Man zeige mir Die Dokumente auf. Die hat man Euch BURLEIGH Schon neulich vor Gerichte vorgewiesen. MARIA Die Kopien, von fremder Hand geschrieben! Man bringe die Beweise mir herbei, Dass ich sie selbst diktiert, dass ich sie so, Diktiert, gerade so, wie man gelesen. BURLEIGH Dass es dieselben sind, die er empfangen, Hat Babington vor seinem Tod bekannt.23
Die Situation ist verwickelt. Einerseits gibt es nur Kopien, andererseits will Maria aber auch noch einen Beweis dafür, dass ihr Schreiber Kurl ihre Worte getreu aufgezeichnet hat, ohne Hinzufügungen, ohne Auslassungen. Die Identität von Kopie und empfangenen Original mag der unglückliche Empfänger bestätigt haben – und dennoch ist Burleighs Argument so keines, denn dass Babington Briefe ebensolchen Inhalts empfangen hat, wird ja nicht bestritten. Die Frage, auf die die Königin insistiert, ist vielmehr, was zwischen ihr Wort und die Aufzeichnung getreten ist, ob hier Störungen aufgetreten sind, die Babington von ihrer Rede nicht unterscheiden konnte. Statt Kryptographie ist es hier die Enkodierung erster Stufe, in der die dämonische Störung wohnt: denn es ist Marias Schreiber, der den königlichen Botschaften eine fremde Rede beimischt – und dann bezeugt, eben das aufgezeichnet zu haben, was die Königin diktiert habe. Zwischen Stimme und Schrift haust eine intrigante Instanz, deren Unscheinbarkeit in krassem Widerspruch zu ihrer Handlungsmacht steht. Das Relais verzerrt das souveräne Wort, es reichert es mit fremder Rede an und sorgt dafür, dass eine Königin legal zum Tode verurteilt werden kann. Für Maria liegt die Provokation aber bereits darin, überhaupt auf das „Zeugnis meiner Hausbedienten“ (V. 887) hin – eben des Schreibers Kurl – verurteilt zu werden. Dass die verachtete Infrastruktur, deren Auftrag darin besteht, wortlos zu notieren, was das souveräne Subjekt diktiert,24
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Schiller, Friedrich, Maria Stuart. Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Ders., Werke, Bd. 5, Dramen IV, hg. v. Matthias Luserke, Frankfurt/M. 1996, S. 9-148, hier V. 867-879. Zum Ideal des Boten notiert Sybille Krämer, was auch für den Schreiber gilt: Er hat „diskursiv ohnmächtig zu sein“ und ist „‚ontologisch neutral‘“: Ob die Funktion personal oder technisch realisiert wird, darf eigentlich keine Rolle spielen. Er ist strenggenommen „Nicht-Person“. Krämer, Sybille, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/M. 2008, S. 119 und 121. Dieser Status wird gerade dann fraglich, wenn Störung und Diabolik auf ein beträchtliches Maß an Handlungsmacht schließen lassen, Handlungsmacht, die auf der anderen Seite den legitimen Personen, Akteuren, kurz: Subjekten fehlt, die sich genau davon von der Sphäre der Nicht-Personen bzw. Objekten zu unterscheiden wähnen. Vgl. zur Rolle der Sekretäre in der Umstrukturierung der Macht die konzisen
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überhaupt das Recht der Zeugenschaft im Prozess gegen eine Königin zugesprochen wird, ist aus Sicht der Königin ebenso unfassbar wie der Prozess selbst. Und obwohl der Verdacht gegen den Schreiber nicht fern liegen kann, kann Maria nicht auf „Schreiber und Notarien“ (V. 190) verzichten; trotz der naheliegenden Vermutung, Opfer diabolischer Umtriebe geworden zu sein, die einen Keil zwischen das Subjekt der Aussagens und das Subjekt der (nun schriftlich fixierten) Aussage treiben, verlangt sie weiterhin nach einem Sekretär, dieser ist ihr zu Beginn ebenso wichtig wie ein Priester ihres Glaubens. Aber auch die Handlungen Elisabeths sind auf die Diabolik der Medien bezogen. Elisabeth geht den umgekehrten Weg: sie setzt darauf, dass Medien Eigensinn unterstellt werden kann, dass sie immer im Verdacht stehen, „ihren eignen blutgen Sinn“ (V. 3982) in die Worte des Souveräns streuen, um selbst von aller Schuld frei zu sein. Die Königin Englands thematisiert die Differenz von Schrift und souveränem Willen anlässlich des Todesurteils, das ihr „Schreiber Davison“ (V. 3901) aufgesetzt hat – wohl wissend, dass der unterschriebene Schriftsatz das gesprochene Wort und den Rückgriff auf den ausdrücklich und von ihr in persona bestätigten souveränen Willen überflüssig macht, und als Urteil für sich selbst steht und Effekte zeitigen wird. Elisabeth baut auf eine Hintertür aus der Verantwortung, nämlich die unverantwortliche Schrift: DAVISON wirft einen Blick in das Papier und erschrickt. Königin! Dein Name! Du hast entschieden? ELISABETH - Unterschreiben sollt ich. Ich hab's getan. Ein Blatt Papier entscheidet Noch nicht, ein Name tötet nicht. DAVISON Dein Name, Königin, unter dieser Schrift Entscheidet alles [...] [.] (V. 3265-3270)
Die Folgekosten dieser Unterschrift und des erwünschten Todes der Rivalin, den sie nun vor Aller Augen beweinen kann, sollen der Schreiber und die Beschickten tragen. Letztere seien voreilig der unautorisierten Anweisung eines eigensinnigen Mediums und damit einer frei schweifenden und verantwortungslosen Schrift gefolgt, deren Sinn durch fremden Willen kontaminiert sei. Der eigentliche Willen einer Königin äußere sich jedoch allein und exklusiv in ihrer Rede – und niemals in der Schrift. In diesem Fall erzeugt die Kopplung aus anonymer Schrift und Unterschrift aber den Willen des Souveräns, ob dieser gewollt haben will oder nicht. Der Versuch, auf die Spaltung von schriftlich fixiertem Wort und königlichem Willen zu setzen, misslingt – und damit auch der Versuch, sich durch die
_____________ Ausführungen von Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph, „Vorwort“. In: Dies. (Hgg.), Europa: Kultur der Sekretäre, Zürich/Berlin 2003, S. 7-9.
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Hintertür der Unberechenbarkeit des Medialen aus der Verantwortung zu stehlen. Elisabeths Ziel war dabei nichts Geringeres, als die Möglichkeit einer Verurteilung durch die Geschichte, die ihr von Schrewsbury gleich zu Beginn – mit dem Hinweis auf die Wandelbarkeit von Recht in Unrecht in der Zeit – prophezeit wurde, auszuschalten. Der dünne „Federzug“ entscheidet, wie Schrewsbury später ausführen wird, tatsächlich des „Lebens Glück und Frieden“ (V. 3095f.) – er ist eine dem Schicksals äquivalente Größe. Elisabeths Versuch, zu richten ohne gerichtet zu haben, ist selbst schon, vor aller Aufführung, theatralisch zu nennen: ELISABETH Redet, Lord! Habt ihr den tödlichen Befehl von mir Empfangen? Nein, Gebieterin! Ich empfing ihn BURLEIGH Von Davison. ELISABETH Hat Davison ihn euch In meinem Namen übergeben? Nein! BURLEIGH Das hat er nicht – ELISABETH Und ihr vollstrecktet ihn, Rasch, ohne meinen Willen erst zu wissen? Das Urteil war gerecht, die Welt kann uns Nicht tadeln, aber euch gebührte nicht, Der Milde unsres Herzens vorzugreifen Drum seid verbannt von unserm Angesicht! (V. 3994-4006)
All dies wie die darauf folgenden Verbannungen kommt natürlich zu spät bzw. kann nicht greifen. Denn Elisabeth kann ihr primäres Ziel, die Hinrichtung der Rivalin, nur durchsetzen, weil ihre Unterschrift symbolische Kommunikation produziert: Der Hinrichtungsbefehl wird rechtskräftig, die Unterschrift verbindet die Macht der Königin mit dem Parlament und signiert das Urteil, auf das im Trauerspiel häufig genug durch das toto pro pars „die Schrift“ (V. 1970) Bezug genommen wird. Alle im Jenseits des unterschrieben Urteils möglichen Vorbehalte, wie der eigentliche souveräne Wille und die Milde der Majestät, verlieren ihre Bedeutung gegen ein unscheinbares Blatt und eine Unterschrift. Die Diabolik der Kommunikation realisiert sich schlussendlich doch noch in vollem Ausmaß, nur anders als geplant: Inkorporierte Souveränität und persönliche Willensäußerung – die alten Symbole souveräner Herrschaft – werden ausgehöhlt und nebensächlich, die Unterschrift allein ist ausreichend. Die Königin kann sich nicht darauf zurückziehen, nicht gewusst zu haben, dass ihre Unterschrift den dazugehörigen Willen generiert. Im Anschluss an ihre Unterschrift und das eindeutige Urteil entfaltet sich die volle Diabolik des Mediums, was Schiller in der letzten Szene eindrücklich gestaltet: Die Königin ist allein, Schrewsbury gibt sein Siegel
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zurück, Graf Lester ist auf dem Weg nach Frankreich. Isoliert bleibt ihr nichts anderes, als Zeugin des Beginns der politischen Moderne zu werden, die die Souveränität differenziert und aufspaltet, indem Monarchien zu konstitutionellen Monarchien umgebaut werden, was insbesondere eine Umverteilung der Macht impliziert. Dieser Bruch kann nicht gekittet werden, es wird auch ästhetisch nicht versucht, sondern mit dem Schluss des Trauerspiels verstärkt. Überwindbar wird die Diabolik des Mediums hingegen im Schicksal Marias. Hier erscheint als Verschwörung, was im Falle Elisabeths als Wandel der Souveränität in der Geschichte lesbar wird. Denn anhand von Marias Tod entwickelt das Kunstwerk seine volle Gegenstrukturalität zur Moderne und ihren Anforderungen, die im Medium der Kunst negierbar werden: Das Trauerspiel lässt eine Zeit der poetischen Harmonie von Glaube und Herrschaft aufscheinen; die Souveränität wird in diesem – angesichts der historischen Umstände der Aufspaltung der Macht – unerwarteten Passen von neuem schön. Maria ist die Figur, die für ein neues Heil und ein gutes Ende nach dem unrühmlichen Ende der Verschwörung einsteht – was natürlich auf Kosten des diabolischen Mediums Schreiber geht. Das diabolische Medium wird schließlich wahnsinnig werden, also im Wortsinne das, was es als Störung bereits zuvor für die Akteure war, die es wegen seines Staus ignorieren zu dürfen glaubten: unzurechenbar. Im Kunstwerk lassen sich so die Effekte der Moderne noch einmal abfedern, ja aufheben – und als Verschwörung und Intrige beobachten. Schrewsburys Bericht von Kurls Ende lässt nichts zu wünschen übrig: Das Haar verwildert, mit des Wahnsinns Blicken, Wie ein von Furien gequälter, lag Der Schotte Kurl auf seinem Lager – Kaum Erkennt mich der Unglückliche, so stürzt er Zu meinen Füßen – schreiend, meine Knie Umklammernd mit Verzweiflung, wie ein Wurm Vor mir gekrümmt – fleht er mich an, beschwört mich, Ihm seiner Königin Schicksal zu verkünden; Denn ein Gerücht, daß sie zum Tod verurteilt sei, War in des Towers Klüfte eingedrungen. Als ich ihm das bejahet nach der Wahrheit, Hinzu gefügt, daß es sein Zeugnis sei, Wodurch sie sterbe, sprang er wütend auf, Fiel seinen Mitgefangnen an, riß ihn Zu Boden, mit des Wahnsinns Riesenkraft, Ihn zu erwürgen strebend. Kaum entrissen wir Den Unglückselgen seines Grimmes Händen. Nun kehrt’ er gegen sich die Wut, zerschlug Mit grimmgen Fäusten sich die Brust, verfluchte sich Und den Gefährten allen Höllengeistern.
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Er habe falsch gezeugt, die Unglücksbriefe An Babington, die er als echt beschworen, Sie seien falsch, er habe andre Worte Geschrieben, als die Königin diktiert, Der Böswicht Nau hab’ ihn dazu verleitet. (V. 3916-3940)
Die Wahrheit tritt im Wahnsinn des Schreibers hervor und das souveräne Wort wird gereinigt, wie auch die schottische Königin selbst. Aber damit nicht genug: Gegen die Diabolik der Medien bringt Schiller die Kunst als ein Medium in Stellung, in dem das Symbolische gefeiert wird. In Maria und ihrem Auftritt erfüllen sich mehrere zentrale Forderungen aus Schillers Ästhetik. In unserem Kontext ist die Integration zweier Qualitäten zentral, die das Symbolische der Figur hervortreten lassen, die so in noch schärferen Kontrast zur Diabolik der Medien gebracht wird. In der kurzen Zeit vor ihrer Hinrichtung sorgt Marias Erscheinung dafür, dass, gemäß Schillers Forderung in Über das Erhabene (1801), „das Erhabene mit dem Schönen sich gattet.“25 Maria ist „weiß und festlich gekleidet, am Halse trägt sie an einer Kette von kleinen Kugeln ein Agnus Dei, ein Rosenkranz hängt am Gürtel herab, sie hat ein Kruzifix in der Hand, und ein Diadem in den Haaren, ihr großer schwarzer Schleier ist zurück geschlagen. Bei ihrem Eintritt weichen die Anwesenden zu beiden Seiten zurück, und drücken den heftigsten Schmerz aus.“26
In der Überwindung ihrer physischen Existenz und durch die Vernichtung der Gewalt, die durch die Akzeptanz des Todes keine mehr ist, zeigen sich die erhabenen Züge Marias.27 Zudem zitiert ihr Auftritt aber mehr als deutlich die Braut und wird so zum sinnlichen Ausdruck des Anspruches – so paradox dies in Marias Fall scheinen mag – als die eigentliche jungfräuliche Königin zu gelten. Die notorische Schönheit der Königin wird gereinigt. Ihre Ausschweifungen sind angesichts des Todes keine mehr; ihre neue Erscheinungsweise ist die der jungfräulichen Braut: Sie ist nun, gemäß Schillers ästhetischer Definition von Schönheit, wirklich und nicht nur einseitig sinnlich schön, da nun, „Vernunft und Sinnlichkeit zusammen[stimmen]“28. Mit dem Verlust der Herrschaft gewinnt sie Hoheit im Sinne der altitudo oder excelsitas animi: Maria wird zur Exponentin ästhetischer Souveränität.
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Schiller, Friedrich, Über das Erhabene. In: Ders., Werke, Bd. 8, Theoretische Schriften, hg. v. Rolf-Peter Janz, Frankfurt/M. 1992, S. 822-840, hier S. 839. Schiller, Maria Stuart, S. 129. Vgl. dazu Schillers Definition im Kontext der Bestimmung des Erhabenen: „Eine Gewalt dem Begriffe nach vernichten, heißt aber nichts anders, als sich derselben freiwillig unterwerfen. Die Kultur, die […] dazu geschickt macht, heißt die moralische.“ Schiller, Über das Erhabene, S. 823. Ebd., S. 828.
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MARIA mit ruhiger Hoheit im ganzen Kreise herumsehend: Was klagt ihr? Warum weint ihr? Freuen solltet Ihr euch mit mir, daß meiner Leiden Ziel Nun endlich naht, daß meine Bande fallen, Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich Auf Engelsflügeln schwingt zur ew’gen Freiheit. (V. 3480-3484)
In Marias Sprechen ist wiederum fremde Rede gemischt, diesmal aber von anderer Instanz als es Schreiber und Sekretäre sind. Die Rede aus Johannes 16, 16-24, klingt mehr deutlich an: „Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet bekümmert sein, aber euer Kummer wird sich in Freude verwandeln.“ Die kurze Zeitspanne vor der Hinrichtung ist der Eucharistie und damit einem Medium gewidmet, dessen symbolische Züge nach all der Diabolik noch klarer hervortreten. Dies macht die Wandlung der Königin perfekt. Wie um dies zu unterstreichen und die symbolischen Qualitäten des Mediums Abendmahl auszustellen, fügt Schiller noch eine Szene ein, in der Maria beim Abendmahl aus dem Kelch trinkt, den ihr der Priester reicht. Aufgerufen wird so das jenseits des geistlichen Stands exklusive Vorrecht der Könige im katholischen Ritus. Zugleich aktualisiert das Trauerspiel eine vormoderne poetische Zeit. Maria beichtet – und noch einmal wird klar gemacht, dass der „Schreiber falsch gezeugt“ (V. 3731 ) hat. Daraufhin empfängt sie die Hostie und den Wein: Er reicht ihr die Hostie. Nimm hin, den Leib, er ist für dich geopfert! Er ergreift den Kelch, der auf dem Tische steht, konsekriert ihn mit stillem Gebet, dann reicht er ihr denselben. Sie zögert, ihn anzunehmen, und weis’t ihn mit der Hand zurück. Nimm hin das Blut, es ist für dich vergossen! Nimm hin! Der Papst erzeigt dir diese Gunst! Im Tode noch sollst du das höchste Recht Der Könige, das priesterliche, üben! Sie empfängt den Kelch. (V. 3746-3751)
Das Abendmahl ist das symbolische Medium, dessen Wirkungskraft durch den Verrat des Schreibers erneuert, oder wenn man so will, poetisch wird. Wo diabolische Medien das Feld übernommen haben, verhilft Kunst einem älteren, substantialistischen Medium, in dem sich, so Jochen Hörischs Ausführungen in Brot und Wein, Sein und Sinn versammelten d.h. zum Passen gebracht wurden, zu neuem Recht.29
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Vgl. Hörisch, Jochen, Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt/M. 1992, S. 7-29.
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Damit tritt das wieder zusammen, was die Moderne auftrennt: die zwei Körper des Königs, realer und übersinnlicher Leib, d.h. das Königtum durch Gottes Gnade sowie, mit Blick auf die Qualitäten der katholischen Königin, Glaube und Liebe in Gestalt des schönen Souveräns – eine durchaus romantische Wendung. Umgekehrt wird die Aufspaltung der persona geminata – „menschlich von Natur, göttlich durch die Gnade“30 wie Ernst H. Kantorowicz in seiner bahnbrechenden Studie zur Zwei-KörperLehre ausführt – des Königs in Elisabeths Schicksal exemplarisch auf der Bühne vorgeführt. Vor dieser Wiederherstellung der symbolischen Verhältnisse hatte Maria gerade die Erhabenheit als Hoheit des Menschen (und nicht: des Herrschers) entdeckt. Die letzte Krone ist zunächst eine, die dem Menschen als moralischem Wesen zukommt. Im sechsten Auftritt tut Maria kund: Da, als ich in die Macht der stolzen Feindin Gegeben war, Unwürdiges erduldend, Was einer freien großen Königin Nicht ziemt, da war es Zeit, um mich zu weinen! – Wohltätig, heilend, nahet mir der Tod, Der ernste Freund! Mit seinen schwarzen Flügeln Bedeckt er meine Schmach – den Menschen adelt, Den tiefstgesunkenen, das letzte Schicksal. Die Krone fühl ich wieder auf dem Haupt, Den würd’gen Stolz in meiner edeln Seele! (V. 3485-3494)
Die der eucharistischen Handlung gewidmete Szene im siebten Auftritt restituiert hingegen nach dieser Demokratisierung der Hoheit das Königtum und die legitimen Ansprüche Marias auf den Thron. Die Anordnung der Szenen ist zumindest bemerkenswert. Dieser Ausweg aus der Moderne und der Vorherrschaft des Diabolischen lässt sich wohl im oben angeführten Sinne als gegenstrukturell bezeichnen: Zumutungen der Moderne werden abgebaut beziehungsweise auf höherer Ebene aufgelöst. Eben darin liegt, und damit komme ich nun zum dritten Teil des Aufsatzes, eine zentrale Schnittstelle zur Romantik und zu Novalis’ Ausgestaltung des diabolischen Plots. Zuvor noch eine Bemerkung zu den romantischen Zügen dieses Vorzeigestücks des Klassizismus: Dass Schillers Text sich Richtung Romantik öffnet, wurde bereits angemerkt. Gert Sautermeister hebt zu den „unverkennbar romantisch[en] Anmutungen des Stücks hervor, das Potential des Stoffs und der Figuren habe Schiller die Gelegenheit geboten, „den gewaltig auftrumpfenden Romantikern um die Schlegels, Tieck und Wackenro-
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Kantorowicz, Ernst H., Die zwei Körper des Königs. ‚The King’s Two Bodies‘. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 79.
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der Paroli zu bieten.“31 So dürfte weiterhin die „Gesellschaftlichkeit der Schillerschen Klassik [...] nicht zuletzt auch in einer virtuosen Synthese heteronomer Stile und Moden“ sowie „Marktstrategien zu suchen sein.“32 Die Beobachtung der durchaus auffälligen Affinitäten führt hier zur Feststellung von Differenzen (Heteronomie) bzw., mit Bourdieu gesprochen, von Konkurrenz und Strategien im Kampf um Hegemonie im literarischen Feld. Auch diese Betonung ist letztlich Effekt der Grenzziehung von Klassik und Romantik zugunsten des starken epochalen Schnitts. Diese Trennung macht aber Problemzusammenhänge unsichtbar; sie weist also selbst eine starke diabolische Seite auf, die Divergenzen produziert, wo faktisch ein Problem mit Mitteln des Kunstsystems um 1800 verarbeitet wird.33 Hier wie dort kreisen die Texte um die Überwindung der medialen Diabolik und die Restituierung des Symbolischen, wofür sich auch Gründe jenseits des Kampfs um Vorherrschaft und Felddefinition finden lassen.
3. Schreiber Novalis macht die Diabolik der Kommunikation, die dem Eigensinn der Medien angelastet wird, in Heinrich von Ofterdingen zum zentralen Bestandteil von Klingsohrs allegorischem Märchen. Der merkwürdige Haushalt, entworfen als Allegorie der Gemeinschaft von „Liebe in der Wiege“, „Vernunft – Fantasie. Verstand. Gedächtniß. Herz“ fällt einer Rebellion des Gesindes zum Opfer. Diese wird angezettelt von einem schon lange unzufriedenen Insurgenten: „Der Verstand ist feindselig“. 34 Im Sinne der Vorarbeiten zum Roman bietet das Märchen „[d]unkle Beziehungen auf den Kampf der Vernunft – des Verstandes – der Fantasie, des Gedächtnisses und des Herzens.“35 Weniger dunkel bleibt allerdings die Instanz, die im ausgeführten Roman aus Unzufriedenheit rebelliert und für den Zerfall des Haushalts sorgt. In Klingsohrs Märchen ist es eine in der medialen Infra-
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Sautermeister, Gert, „Maria Stuart. Ästhetik, Seelenkunde, historisch-gesellschaftlicher Ort“, in: Walter Hinderer (Hg.), Schillers Dramen. Interpretationen, Stuttgart 1992, S. 280-334, hier S. 333. Sautermeister, „Maria Stuart“, S. 334. Im Gegensatz dazu führt Jochen Hörisch, ebenfalls im Anschluss an Luhmanns Begriffspaar, aus, Literaturgeschichtsschreibung sei die Funktion eigen, diabolische (poetische bzw. literarische) in symbolische Kommunikation ‚zurückzubiegen‘. Vgl. Hörisch, Jochen, Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt/M. 1996, S. 41 f. Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, hg. v. Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel. Darmstadt 1999, S. 387. Ebd., S. 386.
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struktur inkorporierte Böswilligkeit, die zum Auslöser einer Kette von Ereignissen wird, an deren Ende Fabel das wieder vereinigt, was sich getrennt hatte, trennen musste, damit die Restitution der guten symbolischen Ordnung auf höherer Stufe und die Bannung des Kriegs im Schachbrett möglich wird: nämlich Eros und Freya bzw. Liebe und Frieden. Das Medium, das mehr sein will als eine selbstlose Magd der Kommunikation und der Informationsspeicherung, trägt hier den Namen „Schreiber“ – eine im Gegensatz zu den anderen Figuren und Personifikationen fast schlichte Allegorie. Die diabolischen Züge des Mediums treten hier zwar klarer als bei Schillers Schreiber Kurl hervor, der zum historisch identifizierbaren Personal gehört und dessen (bereits reduzierten) individuellen Merkmale die Generalisierung teilweise blockieren. Die Beobachtung von Medien und Kommunikation aus der diese Figuren resultieren ist aber dieselbe. Die Frühromantik verarbeitet die Diabolik des Mediums märchenhaft, am grundsätzlichen Befund ändert dies nichts. Im allegorischen Haushalt stört einer gewaltig: eben der Schreiber. Bei Novalis steht „Schreiber“ mit seinem an die vorherrschenden Zeichen in der Schrift- und Druckkultur erinnernden „mageren Hals“36 für das Gegenteil einer „schöne[n] Harmonie der Zeichen und Figuren“37 – und damit des Goldenen Zeitalters – ein. Schreiber trägt eine Last, die aus der Ja/Nein-Codierung der Sprache selbst entsteht,38 und die Luhmann gewöhnlich mit einem verkürzten Zitat aus den Wahlverwandtschaften belegt: „‚Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn‘“, heißt es in Ottiliens Tagebuch, und Luhmann fügt hinzu: „Will man dieses Problem vermeiden, muß man auf Kommunikation verzichten.“39 Für die von Luhmann präferierte Romantik trifft dies nicht ganz zu, zumindest wenn sie die Welt im Medium des Märchens beschreibt. Hier ist nämlich speziell einer dafür verantwortlich, die Harmonie zu stören: Schreiber ist bekannt für „unnütze Widerreden“, statt auf Bejahung setzt er stets auf Negation und Differenz bzw. Divergenz statt Konvergenz. Allerdings hatten sich, wie Klingsohr erzählt, alle schon an diese Widerreden „gewohnt“:40 In diesem Sinne muss man also nicht, wie Luhmann behauptet, auf Kommunikation überhaupt, sondern primär auf Notarien, Schriftführer und Schreiber verzichten, wenn vermieden werden soll, dass jedes Sinnan-
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Ebd., S. 342. Ebd., S. 341. Vgl. dazu ausführlich Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 221-230. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 226. Vgl. zu Luhmanns (problematischer) Verwendung des Zitats Stanitzek, Georg, „Brutale Lektüre, ‚um 1800‘ (heute)“, in: Joseph Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 249-265, hier S. 258-260. Novalis, Werke, Bd. 1, S. 343.
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gebot den Gegensinn hervorbringt. Schreiber ist auch nicht nur bemüht, die Amme Ginnistan, die für ihr „sehr gutes Gedächtniß“41 bekannt ist und bei der er sich laufend erkundigen muss, aus dem Weg zu räumen, um seiner künstlichen und scheinbar defizitären Methode der externen Speicherung zum Erfolg zu verhelfen, was einen traditionellen Vorwurf gegen die Schrift anzitiert. Novalis’ Schreiber zeichnet sich vielmehr besonders durch eine Charaktereigenschaft aus, die, wie oben bereits ausgeführt, typischerweise von Medien wie Schrift und Druck hervorgebracht wird. Er ist „argwöhnisch“ und verfolgt alles und jeden „mit spähenden Blicken“:42 Der Verdacht, den Medien unabhängig von ihren Inhalten produzieren, sobald sie den Blick auf die Mitteilung freigeben, sei es durch die Form des Mediums oder Pathologien der Kommunikation, wird hier zur Eigenschaft des Mediums Schreiber. Der übliche Deutungsspielraum für diese Figur ist also zu erweitern; gewöhnlich wird sie, im Sinne von Novalis’ Brief an Friedrich Schlegel vom 18. Juni 1800, als allegorische Darstellung des „Petrificirende[n] und Petrificirte[n] Verstand[es]“43 interpretiert. Dennoch bleibt dann aber interessant, wie die Verkörperung dieses Begriffs gestaltet ist – und darin findet sich alles wieder, was zum Inventar der diabolischen Medien gehört. Eben dieser alles und jeden beargwöhnende Schreiber, der nutzloseste der noch namentlich bekannten Domestiken, jener Infrastruktur des Hauses, deren Intriganz auch Maria Stuart unterschätzt, wartet nur auf seine Gelegenheit zur Konspiration. Nachdem Ginnistan und Eros das Haus verließen, war „zu Hause“, so das Märchen, eine traurige Veränderung vorgegangen. Der Schreiber hatte das Gesinde in eine gefährliche Verschwörung verwickelt. Sein feindseliges Gemüt hatte längst Gelegenheit gesucht, sich des Hausregiments zu bemächtigen, und sein Joch abzuschütteln. Er hatte sie gefunden. Zuerst bemächtigte sich sein Anhang der Mutter, die in eiserne Bande gelegt wurde. Der Vater ward bey Wasser und Brot ebenfalls hingesetzt. Die kleine Fabel hörte den Lärm im Zimmer. Sie verkroch sich hinter dem Altare, und wie sie bemerkte, daß eine Thür an seiner Rückseite verborgen war, so öffnete sie dieselbe mit vieler Behendigkeit, und fand, daß eine Treppe in ihm hinunterging. Sie zog die Thür nach sich, und stieg im Dunkeln die Treppe hinunter. Der Schreiber stürzte sich mit Ungestüm herein, um sich an der kleinen Fabel zu rächen [...] In seinem Grimme zerschlug er den Altar in tausend Stücke, ohne jedoch die heimliche Treppe zu entdecken.44
Der Schreiber mit seinem Buchstabenhals zerstört den Altar: Im Märchen wiederholt sich so allegorisch die Aushöhlung und Vernichtung der Sym-
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Ebd., S. 344. Ebd., S. 342 f. Ebd., S. 743. Ebd., S. 349.
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bole des religiösen Sinns durch Druck und Philologie. Schreiber zerschlägt den Altar, das Symbol der, wie es in Die Christenheit oder Europa heißt, „ächte[n] Religion“45 hinter den sich die Poesie allerdings flüchten konnte. Hier wie dort bringen, noch einmal in der Sprache von Die Christenheit, „Insurgenten“46, heißen diese nun Protestanten und Philologen47 oder Schreiber, Vernichtung: Teilung und ‚Trennung des Untrennbaren‘48. Ihr Werk ist also durchaus diabolisch im oben skizzierten Sinne zu nennen. Allerdings ist diese Negation nur eine auf Zeit. Entgegen ihrer Absichten befreit sie die echte Religion von ihrer, in Novalis’ Diktion, „zufällige[n] Form“:49 Auch Schreibers Verschwörung wird schließlich scheitern, auch er endet im Wahnsinn, auch er teilt das Schicksal, das typisch für diabolische Medien ist, wenn Kunst ihre Gegenstrukturalität ausspielt. Es ist Fabel, die den Tod der Mutter auf dem Scheiterhaufen rächt. Sie kehrt zum Hof mit einem Gefolge von Taranteln zurück und überrascht Schreiber und seine Gehilfen, die das Feuer, das sie in die Welt gesetzt haben, kaum löschen können: Sie hatten sich vergeblich angestrengt, die Flamme zu löschen, und waren bey dieser Gelegenheit nicht ohne Beschädigungen geblieben. Der Schmerz und die Angst preßte ihnen entsetzliche Verwünschungen und Klagen aus. Sie erschraken noch mehr, als Fabel ins Zimmer trat, und stürmten mit wüthendem Geschrey auf sie ein, um an ihr den Grimm auszulassen. Fabel schlüpfte hinter die Wiege, und ihre Verfolger traten ungestüm in das Gewebe der Taranteln, die sich durch unzählige Bisse an ihnen rächten. Der ganze Haufen fing nun toll an zu tanzen, wozu Fabel ein lustiges Lied spielte. Mit vielem Lachen über ihre possierlichen Fratzen ging sie auf die Trümmer des Altars zu, und räumte sie weg, um die verborgene Treppe zu finden, auf der sie mit ihrem Tarantelgefolge hinunter stieg.50
Diabolische Medien müssen im Wahnsinn enden, die Unzurechenbarkeit der Kommunikation schlägt, semantisch verschoben, auf sie zurück: Hier als irrsinnige Tarantella, die zugleich Zeichen für das Ende der Differenzen ist, deren Quelle sie sind. Fabel bringt danach neuen Frieden in die
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Novalis, Werke, Bd. 2, S. 750. Ebd., S. 736. Vgl. ebd., S. 737: „Indeß liegt dem Protestantismus bei weitem nicht bloß jener reine Begriff zum Grunde, sondern Luther behandelte das Christenthum überhaupt willkührlich, verkannte seinen Geist, und führte einen anderen Buchstaben und eine andere Religion ein, nemlich die heilge Allgemeingültigkeit der Bibel, und damit wurde leider eine andere höchst fremde irdische Wissenschaft in die Religionsangelegenheit gemischt – die Philologie – deren auszehrender Einfluß von da an unverkennbar wird.“. Auch die Beschreibung in Die Christenheit oder Europa rückt mit Formulierungen wie der von den „klugen Aufklärungs-Pläne[n]“ (ebd., S. 742) die Geschehnisse in die Nähe der Verschwörung. Vgl. ebd., S. 736. Ebd., S. 750. Novalis, Werke, Bd. 1, S. 356.
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Welt, indem sie ihren Milchbruder Eros, die Liebe, und König Arcturus Tochter Freya, den Frieden, vereinigt. Ihre letzten Verse sind märchenhaft schön – und Vorboten einer neuen Zeit, die durch ihre symbolischen Züge in Form von Paarreim und ausbalancierten männlichen und weiblichen Kadenzen sowie Symmetrie durch den Wechsel des Metrums, ein durchgeführtes ‚Passen‘ des Unterschiedenen also, besticht: Gegründet ist das Reich der Ewigkeit, In Lieb’ und Frieden endigt sich der Streit, Vorüber ging der lange Traum der Schmerzen, Sophie ist ewig Priesterin der Herzen.51
Die Zeit der Trennung und der Drift sowie der Widerreden ist vorüber, der chiliastische Ton in der Ankündigung der neuen Harmonie ist kaum zu überhören. Das Märchen ist die Kunst der Synthese, das Symbolische wird hier durch Konvergenz und neue Einheit in Schönheit realisiert. Dass die Feier der guten symbolischen Ordnung im Märchen statthat, ist programmatisch, denn diese Gattung ist im Blick des Frühromantikers durch eine Besonderheit bestimmt. Im Allgemeinen Brouillon notiert Novalis: „Sonderbar, daß eine absolute, wunderbare Synthesis oft die Axe des Märchens – oder das Ziel desselben ist.“52 Souveräne katholische Schönheit und geklärte ächte Religion, die frei von Schreibern, Philologen und damit der den religiösen Sinn aushöhlenden Arbeit des Buchstabens ist, sind Gestaltungen der Gegenstrukturalität der Kunst, die mit der Beobachtung der Diabolik des Mediums einhergeht beziehungsweise im Anschluss an den Ausbruch des Wahnsinns der Medien Gestalt gewinnt.
Bibliografie 1. Quellen Duport du Tertre, François Joachim: Des Herrn Düport dü Tertre Geschichte der sowohl alten als neuern Verschwörungen, Meutereyen und merkwürdigen Revolutionen, 10 Bde. Breslau 1764-1771. Hegel, G.W.F.: Werke, Bd. 13, Vorlesungen über die Ästhetik I, hg. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 1970.
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Ebd., S. 364. Novalis, Werke, Bd. 2., S. 697.
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Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, Bd. 1, Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, Darmstadt 1999. –: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 2, Das philosophisch-theoretische Werk, Darmstadt 1999. Schiller, Friedrich: Maria Stuart. Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Ders.: Werke, Bd. 5, Dramen IV, hg. v. Matthias Luserke, Frankfurt/M. 1996. –: „Über das Erhabene“. In: Ders.: Werke. Bd. 8, Theoretische Schriften, hg. v. RolfPeter Janz, Frankfurt/M. 1992. Schlegel, Friedrich: „Lyceums-Fragmente“. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jaques Anstett/Hans Eichner, Bd. 2, Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), München/Paderborn/Wien 1967.
2. Forschungsliteratur Hörisch, Jochen: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt/M. 1992. –: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt/M. 1996. Kahn, David: The Codebreakers. The Comprehensive History of Secret Communication from Ancient Times to the Internet. Revised and Updated, New York 1996. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. ‚The King’s Two Bodies‘. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/M. 2008. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984. –: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988. –: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998. Matt, Peter von: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München/Wien 2006. Sautermeister, Gert: „Maria Stuart. Ästhetik, Seelenkunde, historisch-gesellschaftlicher Ort“. In: Walter Hinderer (Hg.): Schillers Dramen. Interpretationen, Stuttgart 1992. Serres, Michel: Hermes I. Kommunikation, Berlin 1991. Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph: „Vorwort“. In: Dies. (Hgg.): Europa: Kultur der Sekretäre, Zürich/Berlin 2003. Stanitzek, Georg: „Brutale Lektüre, ‚um 1800‘ (heute)“. In: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 249-265.
Poesie und Niedertracht Über Brentanos Restaurationsgeschichte ETHEL MATALA DE MAZZA / JOSEPH VOGL Dass Geschichte eine Sache von Wiederholung sei, gehört zur Erfahrung dessen, was man im 19. Jahrhundert den ‚historischen Sinn‘ nannte. Dabei mag man nicht nur an jenes mindere Theater denken, in dem sich für den Marx des 18. Brumaire das Schauspiel der Großen Revolution als Farce wiederholt und das dabei hohle Masken, tote Zitate und erstarrte Pathosformeln aus einer historischen Vorvergangenheit vorgeführt hatte. In einem noch weiteren Umfang und in einem breiten Spektrum von Sachfragen liegt die Vergangenheit der Geschichte für das 19. Jahrhundert in Form von Chiffren und Resten, von Hieroglyphen und Verschlüsselungen vor, die auf verschiedene Weise ein Wiederholungsprogramm umschließen. Die Arbeit der Geschichte führt zu semiotischen Unkenntlichkeiten, die die Arbeit an der Geschichte zu einer anamnetischen Wiederholung herausfordern: zur Interpretation und Klarstellung dessen, was die Zeichen der Geschichte als Interpretation hinterlassen haben. Damit sah sich etwa Nietzsches historischer Sinn konfrontiert. Er liest, entziffert und interpretiert jene undeutlichen und vielfältigen Zeichen, die bedeutungsvoll nur deshalb erscheinen, weil sie selbst Interpretationen sind, Auslegungen von Aktionen und Herrschaftsgefügen, Auslegungen, die sich selbst als Aktionen und Machtäußerungen behaupten.1 Die Entzifferung der Geschichte verlangt die Auslegung jener Interpretationen, in denen Geschichte sich schreibt. Wahrscheinlich hat eine Hermeneutik dieser Art, die sich nicht auf die Auslegung von Zeichen, sondern auf die Interpretation von Interpretationen versteht, im Umkreis der Romantik ihren Anfang genommen. So jedenfalls ließe sich das Rätsel von Texten umschreiben, die eigentlich als Texte zweiter Ordnung funktionieren, als Texte, die sich als Lektüre jener Texte und Zeichen begreifen, in denen ein chiffrierter historischer Sinn-
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Vgl. Foucault, Michel, „Nietzsche, Freud, Marx“. In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert/François Ewald, Bd. 1, Frankfurt/M. 2001, S. 735.
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gehalt insistiert. Einen Hinweis darauf kann man wohl in einer Schicksalsdramatik erkennen, in der das Vergangene als Requisit der Bedeutung, als dunkle Sinnhandlung wirksam wird und die Gegenwärtigen in einen fatalen Deutungsprozess verstrickt. Genauer noch zeigt sich das aber an Exemplaren, deren Erzählung die Erzählung der Geschichte wiederholt. Geradezu programmatisch wird diese Konstellation in Brentanos Die Schachtel mit der Friedenspuppe verhandelt, in einer Novelle, auf die man erst in jüngerer Zeit aufmerksam geworden ist.2 Ein Geflecht aus Wiederholungen und Wechselverweisen betrifft zunächst das Datum der Erzählung selbst. Sie wird im Herbst 1814 niedergeschrieben, zu einem Datum, an dem sich die so genannte Leipziger Völkerschlacht ein erstes Mal jährt. Umgehend kehrt dieser Termin auch in der Erzählung selbst wieder, und zwar als Erzählgegenwart, die in der Feier eben dieses Jahrestags kulminiert. Dabei ist nicht zu übersehen, wie der Jahrestag und sein Anlass, wie die Niederlage der napoleonischen Truppen selbst wiederum als Wiederholung, genauer: als Umkehrung und Spiegelung angesetzt sind – als palindromartige Wiederholung dessen, was einmal das Revolutionsjahr 1789 beschert hatte. Und schließlich wurde Brentanos Novelle von einem weiteren Wiederholungsbegehren diktiert und in jenen Wiener Friedensblättern vom Januar 1815 publiziert, die am Tag des Pariser Friedensvertrags gegründet wurden und punktgenau zum Beginn des Wiener Kongresses erschienen: als sollte all das, das Ereignis der Revolution, ihr Ende, dessen Jahrestag und dessen politische Besiegelung noch einmal insgesamt und mit einem einzigen narrativen Schlag rekapituliert werden.3 Den inneren wie äußeren Rahmen von Brentanos Novelle bilden also Jahrestage, ihre Wiederkehr und Verkehrung, Wiederholungen und Resonanzen, in denen sich eine eigentümliche Mehrmaligkeit von Ereignissen behauptet. Ähnliches strukturiert auch die narrative Ordnung der Novelle. Denn das zentrale oder fatale Requisit der Novelle, ein Behälter oder eine „Schachtel“, die eine intrikate Spur von den Pariser Revolutionsereignissen nach Moskau und von dort, nach der Niederlage der napoleonischen Truppen, zurück auf ein preußisches Landgut zieht, hat ihr Pendant in zahlreichen Verschachtelungen, die das Ein- und Auspacken zum Motiv
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Zur Forschungslage vgl. Puschner, Marco, Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik. Konstruktionen des „Deutschen“ und „Jüdischen“ bei Arnim, Brentano und Saul Ascher, Tübingen 2008, S. 395-396. Über die Entstehungsgeschichte der Erzählung vgl. den Kommentar in: Brentano, Clemens: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Jürgen Behrens/Konrad Feilchenfeldt/Wolfgang Frühwald/Christoph Perels/Hartwig Schultz, Bd. 19, Prosa IV, hg. v. Gerhard Kluge, Stuttgart u.a. 1987, S. 697-706 (Brentanos Text wird im Folgenden mit Seitenangaben aus dieser Ausgabe zitiert).
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der verschiedenen – eben verschachtelten – Binnenerzählungen macht.4 Darum folgt der Gang der Erzählung einer kriminalistischer Aufklärung oder Detektion und zudem einer gerichtlichen Untersuchung; und wie kaum je ein Beitrag zu dieser Novelle ohne Nacherzählung auskommt, soll auch hier wenigstens ein Überblick über das Erzählte gegeben werden. Das geht etwa folgendermaßen. Während der Vorbereitungen zum Jahrestag der Völkerschlacht auf einem preußischen Landgut zieht eine Gruppe französischer Kriegsgefangener vorüber. Für den Wiederaufbau einer Scheune soll ein großer Felsbrocken gehoben werden, und aus dem Tross der Franzosen eilt ein Offizier namens Frenel zur Hilfe herbei. Nebenbei fällt die Frau dieses Offiziers in Ohnmacht, und zwar angesichts einer Schachtel und einer Puppe darin, mit denen die Kinder des preußischen Barons spielen. Zu dieser Seltsamkeit kommt hinzu, dass zugleich der Schwiegervater des Offiziers namens St. Luce, ein Pelzhändler aus Moskau, mit einem anderen Kriegsgefangenen in Streit gerät. Der Konflikt endet in schweren Verletzungen. Das gesamte Personal – der französische Offizier Frenel, seine Frau, deren Vater St. Luce und der verletzte Franzose namens Pigot – wird daraufhin im Schloss des Barons untergebracht. Der zuständige Gerichtshalter stellt sogleich verschiedene Verhöre an, und aus dem Gegeneinander diverser und voneinander abweichender Geschichten ergibt sich im Rückblick die folgende Klärung. Mitten in der französischen Revolution ließ sich die Tochter eines französischen Adeligen, eines Chevalier de Montpréville, von einem Bürgerlichen namens Sanseau nicht nur zur Ehe, sondern zu den revolutionären Idolen verführen. Der untröstliche Vater heiratete erneut, und kurz nach seinem Tod wurde gleichsam als Ersatz für die abtrünnige Tochter ein neuer und adeliger Erbe geboren. Mit Hilfe eines jüdischen Totengräbers beschaffte der Bürger Sanseau eine Kinderleiche und ließ sie der Mutter des Neugeborenen unterschieben, um selbst in den Besitz des Erbes zu gelangen. Die Säuglingsleiche wurde von einem fünfjährigen Mädchen in einer Schachtel überbracht; das Mädchen wiederum – es handelte sich um die Tochter einer Adeligen, die über der Totgeburt verstarb, also um die Schwester des toten Kinds – wurde vom fliehenden Totengräber nach Moskau mitgenommen und nun als dessen eigene Tochter ausgegeben. Beim Brand von Moskau wurde sie von einem französischen Offizier gerettet und kurz darauf geheiratet. In der Zwischenzeit nahm die Schachtel, die die Totgeburt enthielt, einen eigenen Weg. Der preußische Baron, den die Befreiungskriege nach Paris führten, kaufte dort als Ge-
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Vgl. Weingart, Brigitte, „Macht und Ohnmacht der Dinge: Clemens Brentanos ‚Die Schachtel mit der Friedenspuppe‘“. In: Friedrich Balke/Harun Maye/Leander Scholz (Hgg.), Ästhetische Regime um 1800, München 2009, S. 119-137.
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schenk für seine Frau eine Puppe – die so genannte ‚Friedenspuppe‘ – und brachte sie in eben jener Schachtel verpackt auf sein Gut. An der Schachtel mit der Friedenspuppe laufen nun die verschiedenen Stränge der Intrige zusammen: Die in Ohnmacht gefallene Frau Frenels erkennt in ihr jenen Behälter wieder, in dem sie einst das tote Kind überbracht hatte; Frenel, der französische Offizier, stellt sich als der vom Bürger Sanseau um Erbe und Name betrogene Sohn des Chevaliers de Montpréville heraus; Sanseau selbst ist der verwundete Kriegsgefangene Pigot; und natürlich kann darum der vermeintliche Vater der jungen Frau, St. Luce, nur der ehemalige Totengräber sein, jener Jude namens Dumoulin, der im revolutionären Paris die Kinderleiche beschaffte und verkaufte. Schon diese sehr unvollständige Nacherzählung, die überdies noch nicht zum Ende der Novelle gelangt ist, lässt erkennen, dass es sich hier um eine systematische Verwirrung oder eine Verwirrung mit System handelt. Was auf dem preußischen Landgut und in Vorbereitung der Siegesfeiern – am Jahrestag der Völkerschlacht – geschieht und französisches wie deutsches Personal zufällig und über ein intrikates Behältnis zusammenbringt, hat sein Pendant in einem Vorspiel, das die Geschichte der Revolution und ihrer Folgen ist. Diese beiden Daten verhalten sich nicht nur wie Verwirrung und Entwirrung, Problem und Auflösung zueinander, sie werden auch durch die Hinterlassenschaft undeutlicher Zeichen und Chiffren miteinander verknüpft, die sich unschwer als Geschichtszeichen identifizieren lassen. Das sind zum einen Indizien. Der Felsbrocken etwa, an dem das Geschehen seinen Anstoß nahm, trägt die Spuren marodierender französischer Truppen, die auf ihrem Eroberungszug dort ihr Feldlager samt Feuerstelle aufgeschlagen hatten – er trägt also gleichsam den Ruß und die Brandspuren der Revolution. Zum zweiten erscheint die vergangene Geschichte als Symptom. Das zeigt sich in der folgenden Episode. Ein Amtsbote auf dem preußischen Gut demonstriert, einmal angesprochen, mit seinem „untertänigen Lächeln“ ganz „widernatürliche“ Gesichtszüge, ein Zucken und ein Grimassieren: „die rechte Wange blieb unbewegt, und die linke, das ganze Lachgeschäft auf sich nehmend, zog den Mund bis zum Ohrläppchen hinauf“ (316). Auch dieses Zeichen ist schnell erklärt: Es geht auf die üble Behandlung durch einen französischen Sergeanten zurück (es war der genannte Revolutionär namens Sanseau alias Pigot), der im Zorn dem Amtsboten einige Kopfhaare ausriss und damit den Tick für immer begründete: eine politische Grimasse, das leidende Gesicht der vergangenen Revolution, das anhaltende Leiden an der Revolution, die Einschreibung der Geschichte als Wunde und ihre Fortdauer als Zucken und eben Symptom.
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Kern und Brennpunkt dieser historisch-politischen Zeichenlehre aber bleibt die ominöse „Schachtel“, deren Signifikant vom Titel der Novelle zu allen Naht- und Bruchstellen der erzählten Verwicklungen hinüberführt. Diese Schachtel enthält das verwirrte Geschehen wie dessen Entwirrung; sie ist der Behälter einer erzählten Geschichte, der von der Erzählung selbst geöffnet und ausgepackt wird; sie präsentiert sich als Chiffre einer Historie, deren Dechiffrierung wiederum Gegenstand von Brentanos Novelle ist. Und sie muss daher nicht nur als eine Art Dingsymbol, sondern als Geschichtszeichen besonderer Art angesehen werden, als semiotischer Komplex, der von Brentanos Novelle so konstruiert wird, dass diese sich lesend und interpretierend, deutend und aufdeckend an ihm bewähren kann. Schließlich wird mit der Frage nach der Bedeutung der Schachtel zugleich die Frage nach ihrem Inhalt gestellt, nach dem historischen Sachgehalt; und dieser Inhalt hat eine doppelte und gegensätzliche Gestalt. Denn einerseits wird sie – im Umkreis der Pariser Revolution – als „Unglücksschachtel voll Zank und Streit“ (326) oder als „Schachtel des Kriegs, Streits und Todes“ (336) adressiert; sie hat also ein im Wortsinn dia-bolisches Format, das auch noch von ihrem ersten Besitzer, vom jüdischen Totengräber bestätigt wird, der als späterer St. Luce ja das Pseudonym Luzifers oder des Teufels trägt. Dabei erscheint es bemerkenswert, auf welche Weise diese Schachtel ihre Diabolik entfaltet. Die Kinderleiche nämlich, mit der der seltsame Behälter seinen Weg in die Historie beginnt, überbringt mit dem Tod auch einen symbolischen Tod oder genauer noch: den nachhaltigen Tod einer symbolischen Ordnung. Einmal im Haushalt des Aristokraten de Montpréville deponiert, unterbricht sie die adelige Generationsfolge ebenso wie die Weitergabe von Erbe und Eigentum. Sie setzt an die Stelle der Krippe den Sarg, zerreißt damit die Kontinuität der genealogischen und dynastischen Ordnung. Brentanos Novelle ist an dieser Stelle überdeutlich und plakativ: Eines der Revolutionsfeste, das vom Bürger Sanseau und seiner verbürgerlichten Ehefrau aufgeführt wird, endet in der Verbrennung des Stammbaums derer von Montpréville; und wohl nicht zufällig ist der Name des rabiaten Sanseau homonym mit dem jenes Charles Henri Sanson, der – einer Scharfrichterdynastie entstammend – nicht nur als ‚Henker von Paris‘, sondern auch als Chefmaschinist der Guillotine während der Schreckensherrschaft Geschichte schrieb und insgesamt 2918 Köpfe, darunter den Ludwig XVI., rollen ließ.5 Die Revolution, so will es die markante These von Brentanos Erzäh-
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Vgl. Lex, Hans-Eberhard, Der Henker von Paris. Charles-Henri Sanson, die Guillotine, die Opfer, Hamburg 1989. In Brentanos fragmentarischer Erzählung aus der französischen Revolution wurde eine ähnliche Verknüpfung zwischen Stammbaumvernichtung, Entzweiung und Diabo-
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lung, durchtrennt die Zeichenordnung politischer Macht, sie vernichtet die dynastische Erbfolge, die Symbolik des adeligen Bluts, und durch sie wird überdies die rechtmäßige Übertragung der Erbschaft blockiert. Diese doppelte Entwendung aber bringt nicht nur Betrug, Diebstahl und fatale Vertauschung ins Spiel; sie birgt vielmehr ein prekäres semiotisches Potential. Während nämlich auf der einen Seite die klare und kontinuierliche Überlieferung im Zeichen übertragener Namen und genealogischer Fortzeugung steht, die die Zeichen mit ihren Trägern auf immer verwachsen lässt, markiert die Diabolik der Schachtel die Vertauschung bzw. die Unkenntlichkeit ihres Gehalts; sie markiert eine Barriere, die mit dem Tod der dynastischen oder symbolischen Ordnung auch alle Namen von ihren Referenten trennt und schließlich verrätselt, was die kursierenden Zeichen überhaupt noch bedeuten. Was hier geschieht, ist die revolutionäre Verwandlung von Genealogie in Geschichte, die mit dem Sturz der symbolischen Ordnung in ein arbiträres Zeichenspiel zusammen fällt. Die Schachtel ist zur Krypta geworden, ihr Zeichen zum Kryptogramm. Und das wäre die historische These dieser Novelle, die zugleich eine politische und eine zeichenpolitische ist: Der revolutionäre Akt manifestiert sich in einer Interpretation, die die genealogische Abfolge und Zeichenordnung entstellt, zirkulierende Zeichen freisetzt und deren Rätsel an eine wiederholte, hermeneutische und richtig stellende Lektüre weiter gibt. Die Revolution hat unkenntliche, opake Zeichenkörper hinterlassen; und die Revolutionäre selbst, so könnte man folgern, interpretieren eben verrückt. Auf der anderen Seite aber schreibt sich Brentanos Erzählung selbst ein Verfahren zu, das aus der Revolution eine Restauration, aus der Entstellung eine Wiederherstellung und aus der dia-bolischen Zersetzung ein symbállein, eine sym-bolische Zusammenfügung macht. Folgt schon die gerichtliche Ermittlung einem Prozess, der Geschichten mit Geschichten, Bruchstücke mit Bruchstücken verfugt und aus den zufällig verstreuten Personen und Requisiten die Wahrheit eines Sachverhalts gewinnt, so hat diese symbolische Operation6 zugleich einen mehrfachen Widerhall. Das beginnt mit der Schachtel, der „boête fatale“ (321) selbst. Der ehemalige Sarg und Unheilsbehälter wird vom deutschen Sieger, vom preußischen Baron, neu gefüllt; und wie dieser einmal dazu beigetragen hatte, dass die entführte Viktoria aus Paris an den angestammten Berliner Ort zurück gebracht wird, trägt er in der Schachtel jene so genannte Friedenspuppe davon, die mit einem „Chapeau à l’Angoulême au Bouquet de Lys“ aus-
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lik als revolutionäres Elementarereignis angesetzt; in: Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 367-371. Vgl. dazu grundlegend Foucault, Michel, „Die Wahrheit und die juristischen Formen“. In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, 1970-1975, hg. v. Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt/M. 2002, S. 669-792.
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gestattet ist, mit einem Hut samt Lilienstrauß, der durch die Herzogin von Angoulême, der Schwiegertochter Ludwig des XVIII., in Mode kam und nun die Wiedereinsetzung des Bourbonischen Königtums dokumentiert.7 Die Namen der Geschichte werden von neuem sortiert, alles bekommt seinen Platz. Und eine ähnliche Umordnung vollzieht sich am Personal. Der betrogene Erbe Frenel wird als rechtmäßiger Erbfolger eingesetzt und als neuer Chevalier de Montpréville rehabilitiert; seine Frau, die Scheintochter des jüdischen Totengräbers, wird ihm standesgemäß als Marie Geneviève de Renaut zur Seite gestellt. Der liederliche Bürger und Revolutionär, der genannte Sanseau, stirbt an seiner Verletzung, nicht ohne dabei an eine „göttliche Gerechtigkeit“ (344) zu appellieren und testamentarisch seine Schuld zu bekennen: Sein erlogenes Vermögen geht an den wirklichen Erben zurück; und für sein Seelenheil wird wunschgemäß eine Totenmesse in der Kirche St. Denis in Paris, im Grabmal der französischen Könige sorgen – auch das eine nachträgliche Richtigstellung und Kompensation. Die revolutionäre Vertauschung von Namen und Rollen ist damit behoben, die verstreuten Personen haben ihre Titel, die Zeichen ihre Referenten gefunden; die Geschichte und ihre Chiffren sind genealogisch gewendet, enträtselt und aufgelöst; Revolutionsgeschichte wurde wiederum zur genealogischen Ordnung von Blut und Erbschaft korrigiert. Und selbst jener, der wie Sanseau ohne Recht, Urkunde und Siegel (frz. sans sceau) operierte, hat mit seinem Schuldbekenntnis die reumütige Rückkehr in die restituierte Symbol- und Rechtsordnung besiegelt. Nicht von ungefähr wird gerade ihm am Ende der Erzählung ein Denkmal und Monument in Aussicht gestellt, das sich über dem erratischen Felsbrocken vom Beginn erheben soll. Hier wird, am revolutionären Urheber der flottierenden Signifikanten, eine sühnende Reterritorialisierung der Zeichenform vollzogen. Und die kriminalistische Auflösung des Falls hat die latente Wahrheit des historischen Textes restauriert. All das semantische Potential, das Brentanos Erzählung mit den Wortfeldern des ‚Wiederherstellens‘, ‚Wiedererstattens‘ und ‚Wiedergutmachens‘ als Restaurationstext ausweist8, gipfelt in der Restitution von Symbolik überhaupt. Die Wiederherstellung der Genealogie und des symbolischen Rasters wird in Brentanos Novelle – und das wäre ein letzter Aspekt – aber nicht nur als Gang einer Geschichte nacherzählt, die gleichsam von selbst in ihren alten Ablauf zurückkehrt. Vielmehr wird mit dem restaurativen Akt zugleich eine rechtsförmige Ordnung hergestellt, für deren Gerechtigkeit die Logik der Dichtung allein bürgt. Das Emblem für diese Justiz ist die
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Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 735. Schaub, Gerhard, „‚Die Schachtel mit der Friedenspuppe‘. Brentanos RestaurationsErzählung“. In: Hartwig Schultz (Hg.), Clemens Brentanos Landschaften. Beiträge des ersten Koblenzer Brentano-Kolloquiums, Koblenz 1986, S. 83-122, hier S. 101.
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Gerichtsstube auf dem preußischen Landgut, das Zentrum der symbolischen Topographie. Als Plünderer war der Revolutionär Sanseau einst hier eingedrungen, hatte randalierend die rotseidene Wandbespannung zerfetzt, die Textur patrimonialer Gerichtsbarkeit zerrissen. Und als versehrter Kriegsgefangener wird er hier sein letztes Quartier finden und nach der fälligen Beichte an seinen Wunden verbluten. Dass das Blut des reumütigen Revolutionärs die beschädigte Gerechtigkeit tatsächlich heilt, bestätigt sich sogleich: Aus dessen Nachlass vermacht der Gewinner, der wirkliche Chevalier de Montpréville, dem preußischen Baron ein Geschenk, eine „schöne Hautelisse Tapete“, auf der sich das „Urteil Salomons“ zeigt (355). Auf diese Weise hat auch der einstige Revolutionär seinen Platz in der Textur der symbolischen Ordnung gefunden. Das Kryptogramm der Geschichte, Produkt der französischen Revolution, wird derart enträtselt, dass wie im antiken symbolon eins zum anderen zurückfindet: der betrogene Erbe zum Betrüger, die Tapete zu ihrem Schänder, das Urteil Salomons an den Ort, wo das Recht recht am Platz ist. Anders aber als im Verfahren des alttestamentlichen Richters gibt es im neuen Bund oder Vermächtnis, das Brentanos Novelle stiftet, keine personale richterliche Instanz. Nur durch Zufall geriet die fatale Schachtel in die Hände des preußischen Barons; durch Zufall begegneten sich deutsche Sieger und französische Verlierer; durch Zufall haben sich die Berichte der einen mit den Geständnissen der anderen ergänzt; durch Zufall löst sich der Fall wie von selbst. Der Gerichtshalter auf dem preußischen Gut ist kein Salomon, um ihn herum fügen sich die Bruchstücke so akkurat und von alleine zusammen, dass sich alle weiteren Schritte ergeben oder erübrigen. So sehr er nämlich – als „kluger umsichtiger Mann“ (326) – an der „Erforschung der Wahrheit“ (334) interessiert ist, Verhöre führt und Aussagen stimuliert, so sehr erweist er sich vor allem als Arrangeur des narrativen, d.h. historischen Zusammenhangs. Er protokolliert, nimmt letzte Verfügungen, Testamente und Geständnisse auf und bietet mit der Synopse unterschiedlicher Binnenerzählungen – von Frenel alias de Montpréville, Pigot alias Sanseau, St. Luce alias Dumoulin – die Voraussetzung einer vergleichenden, gleichsam historisch-kritischen Lektüre der versammelten Zeugnisse und Quellen. Zweifellos lässt sich der „Gerichtshalter“ und „Justiziar“ darum als Schreiber-Maske und Vertretung des Textsubjekts im Text begreifen9; und an dieser Stelle springt die Instanz des Gerichts von den erzählten Figuren über auf die Instanz, die die Erzählung selbst ist. Das ergibt eine besondere Spielart poetischer Gerech-
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Saul, Nicholas, „Die Kunstthematik in Clemens Brentanos Novelle ‚Die Schachtel mit der Friedenspuppe‘“. In: ZfdPh 112/1993, S. 117-128, insbesondere S. 123-126; zur zentralen Funktion des Gerichtshalters vgl. auch Ziegler, Vickie L., „Justice in Brentano’s ‚Die Schachtel mit der Friedenspuppe‘“. In: The Germanic Review 53/1978, S. 174-179.
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tigkeit. Die Kontingenz der Ereignisse wird in der Konsequenz der Erzählung gelöst, das Kryptogramm der Geschichtszeichen nur von ihr richtig gedeutet, die diabolische Entstellung nur von ihr symbolisch gefügt. Die Narration und ihr juridisches Arrangement setzen das plakativ ausgemalte Zufällige nur deshalb voraus, um sich als Macht der Vorsehung daran zu behaupten, und bürgen darum für den unerbittlichen, gerechten und providentiellen Gang. Brentanos Novelle schließt mit den Beichten und Geständnissen, mit den Vermächtnissen und Testamenten, in denen sich die einst verworrene symbolische Ordnung restituiert. Als symbolisches Organ aber bleibt einzig Brentanos Text selbst autorisiert: An der Spitze des genannten Denkmals, das die Inschrift „Paci et Providentiae“, eines „Tempel[s] des Friedens und der Vorsehung“ trägt, ist ein Behältnis, eine hohle kupferne Kugel reserviert, in der schließlich die Erzählung selbst eingelagert wird – zur „Freude einer forschenden Nachwelt“ (356), wie es heißt. Die Schachtel des Unheils wurde also durch einen dauerhaften Behälter ersetzt, der die Erzählung als Erbschaft, als den interpretatorischen Akt schlechthin umschließt: eine Bekehrung, die die Verwandlung opaker historischer Chiffren und diabolischer Kryptogramme zur Konserve eines symbolischen Klartextes vollzieht. Dennoch bleibt in Brentanos verworrener, aber geheimnisloser Novelle ein Rest, der selbst nichts weniger als geheimnisvoll ist. Und diesem Rest kann und will die Erzählung symbolisch nicht beikommen, macht aus ihm vielmehr ein politisches, zeichen-politisches Programm. Deshalb zelebriert sie etwa das abschließende Sieges- und Friedensfest zugleich als Fanal einer unüberwindlichen Feindschaft. Während sich unter dem Nachthimmel Brandenburgs Adelige und Bürger, Deutsche und Franzosen, Protestanten und Katholiken einträchtig ums Freudenfeuer versammeln, bleibt der jüdische Totengräber alias St. Luce einsam in seiner Haft zurück, um düster Bilanz zu ziehen und seinem Leben ein Ende zu setzen. Als ein „Feind der Freyheit und des Friedens“ (351), als Feind also schlechthin, sei er während des Fests gestorben, lautet der nachträgliche und lapidare Kommentar des Gerichtshalters; das Geknalle der patriotischen Freundenssalven signalisiert seinen Tod. Und folgerichtig darf der Jude in Brentanos Erzählung auch nach seinem Ableben keine letzte Ruhe finden. Die „Kartoffelgrube bey dem Walde“, der man den Kadaver übergibt, soll den Toten nur „für einstweilen“ (354) aufnehmen, heißt es im Text, und geradezu aufdringlich, mit einem Vorzug an Deutlichkeit, stellt die Novelle heraus, dass einer abjekten Gestalt wie dem Juden nur Recht geschehen kann, indem man ihr verweigert, was dem Revolutionär Sanseau gnädig gewährt werden konnte. Das Diabolische, das bereits in dem
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luziferischen Decknamen St. Luce hauste10, sucht auch noch die letzten Konfrontationen mit dem Juden heim, und wo in der Novelle ansonsten nur Wunden geheilt und Risse geflickt werden, da insistiert in der Figur des Juden ein Bruch, den die Erzählung ihrerseits in vielfältigen Brechungen abbildet. Am sinnfälligsten wird dies am Testament, mit dem der luziferische Jude von den anderen scheidet. Denn was sein Vermächtnis den Erben vermacht, ist ein Vermögen, das selbst nur erbeutet war; und zwiespältig wie der nachgelassene Reichtum bleibt auch die Geste, die ihn verteilt, wenn sie im selben Zug das Aufteilen der Beute bedauert. Die Ungnädigkeit schließlich, von der sein letzter Satz zeugt – „ich brauche keine Gnade, was soll mir die Gnade? mein Geld werden sie mir doch nehmen!“ – steht im schroffen Kontrast zu dem frommen Gebet, mit dem die vermeintliche Tochter noch ihres Ziehvaters gedenkt, und „milderte sehr das Mitleid der Anwesenden“ (353); und sie rechtfertigt die Gnadenlosigkeit des Erzählers, der sich von vornherein nicht die Mühe macht, mehr als das Nötigste aus dem Testament mitzuteilen: „im Auszuge“ (352), wie der Text sagt, und in der verschobenen Rede des bloßen Zitats, das den Zitierten – als strukturell Abwesenden, als bereits Ersetzten – noch einmal exkommuniziert. Ganz konsequent stiftet die Verlesung dieses Testaments durch den Gerichtsrat denn auch weder alte noch neue Verbindlichkeiten. So wenig das verteilte Erbe des Juden dem Erhalt einer eigenen Genealogie zu Gute kommt, so wenig fühlen sich die Profiteure des letzten Willensschlusses zu versöhnlichen Schlichtungen berufen. Nach der Eröffnung des Testaments ist der Jude einsamer denn je; sein Vermächtnis ist eine genau gesetzte Annullierung des testamentarischen Akts. Zweifellos werden hier markante und geläufige antijudaische Topoi zitiert. Denn einerseits hat in dieser testamentarischen Verfügung das Geld die genealogische Fortzeugung übernommen und erinnert an das alte, aristotelische bzw. scholastische Verdikt: dass nämlich das Geld und der Handel mit Geld nur einen widernatürlichen Nachwuchs gebären – Aristoteles hatte in diesem Zusammenhang daran erinnert, das griech. tokos eben „Junges“ oder „Kind“ ebenso wie „Zins“ bedeutet.11 An die Stelle gefüllter, naturwüchsiger Zeichenkörper tritt mit dem Juden also der verwirrende, annihilierende und leere Signifikant, und der Tausch einer Totgeburt gegen Geld, mit der die Verwirrung begann, ist hier ökonomisch wie moralphilosophisch äquivalent. Wer so tauscht, hat seine Teilhabe an
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Vermengt natürlich mit den Elementen von Raubritterwesen und Jakobinertum, das den Saint-Lük aus Arnims Revolutionserzählung Melück Maria Blainville, die Hausprophetin aus Arabien (1812) charakterisierte; vgl. Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 735-736. Aristoteles, Politik, 1258b.
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der Gemeinschaft der Gerechten verwirkt. Zudem spinnt Brentanos Text hier die Überdeterminierungen fort, die die Christlich-deutsche Tischgesellschaft in Berlin so amüsierten: die denunziatorische Verknüpfung von Franzosentum und Judentum, die Kodierung des Juden als gefährlichen, weil unkenntlichen Fremdkörper, der in allen vertrauten Beziehungen haust.12 Andererseits hat man ihm darum zwangläufig auch jegliche heilsgeschichtliche Aussicht verwehrt. Einstmals mit dem Allerweltsnamen Dumoulin versehen und „eigentlich nie getauft“, hat er gleichsam ahasverisch „eine Menge Stände durchlaufen“ (352), bleibt er als Träger usurpierter oder verwechselbarer Namen namenlos, ortlos und eine bloße Lücke im genealogischen Projekt; und ausgeschlossen vom neuen Bund, vom neutestamentlichen Gnadenprogramm, unter dem sich die deutschen Sieger selbst feiern, markiert sein Tod – in diesem politisch-theologischen Passepartout – nur eine endgültige Unerlösbarkeit. Die Verzeihung, die der analogen Schurkenfigur in Brentanos französischer Vorlage noch zufiel13, wird hier programmatisch kassiert. Und genau darauf hebt die Novelle unverblümt ab, wenn sie die Verstoßung bzw. Verwerfung des Juden besiegelt. „Kälte und Niederträchtigkeit“ (353) werden ihm attestiert, weil er mit seiner Gewinnsucht das älteste aller Judenstereotype zu verkörpern scheint. Dabei ist dieses Verhältnis zum Eigentum von vornherein aber nur Symptom einer Existenz, die ihn auf fundamentalere Weise zum Störer jeglicher Ordnung macht. Die Gefahr, die von ihm für den sozialen Frieden ausgeht, ist die des Parasiten, der alle Beziehungen infiziert – Blutsbande, Erbfolgen, Besitzverhältnisse, Namensverwandtschaften – und diese Bezüglichkeiten nur verwirren kann, weil er selbst keinen Ort oder symbolischen Posten darin findet. Wie er zu Beginn der Intrige nichts anderes als Medium und Zwischenträger der Revolution, also Agentur und Totengräber genealogischer Ordnung gewesen war, so steht der Jude auch am Ende der Erzählung da: ohne Kind – denn die einzige Tochter war geraubt; ohne Vermögen – denn die Reichtümer wurden den Toten entwendet; nur mit Pelzrock und Zobelmütze bekleidet – mit Kleidungsstücken, für die wilde Tiere ihr Fell hatten lassen müssen. Mit System und Infamie hat Brentanos Novelle alle Signalemente zusammengetragen, die aus dem jüdischen Subjekt von Anbeginn ein abjectum machen und eine Feindschaft begründen, die jenseits
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Puschner, Antisemitismus, S. 186-188, S. 284, S. 407-408; ausführlicher: Matala de Mazza, Ethel, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg/Br. 1999, S. 362-388; außerdem: Dies., „Sozietäten“. In: Ingo Breuer (Hg.), KleistHandbuch, Stuttgart/Weimar 2009, S. 283-285. Es handelt sich um D. de Vaubretons Le Prétendu Enfant Supposé [...] von 1740, aufgefunden in Arnims Wiepersdorfer Bibliothek; vgl. Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 19, S. 707-720, insbesondere S. 719.
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aller Feindschaften liegt, eben weil sie die Nahbeziehungen beschädigt und multiple Entzweiungen produziert, Entzweiungen zwischen Müttern und Töchtern, Vätern und Söhnen, Toten und Lebenden, Gebern und Nehmern, Erben und Erblassern. Gegen die konstruierte ‚Niedertracht‘ dieses verworfenen Feindes setzt Brentanos Novelle die manifeste Niedertracht einer Erzählung, die ein Leben aussondert, das sterben muss, damit ein anderes Leben sich im Frieden versöhnt. Dass der Jude diese Eliminierung an sich selbst vollzieht, dass er sich selbst den Tod gibt, kaschiert dabei zuletzt als freie Entscheidung, was Frieden und Vorsehung ihm schon zu Beginn der Erzählung zugedacht hatten. Mit einem tödlichen Degenstoß, zu dem Sanseau im Wald auf St. Luce ansetzte, begann der Auftritt des Juden, und mit dem Schuss aus einem Jagdgewehr erlegt der Totengräber am Ende sich selbst. Die Geschichte der Verwirrungen und Entwirrungen, die sich zwischen diesen beiden Szenen der Rahmenerzählung entfaltet – sie könnte auch als eine Geschichte erzählt werden, die in erster Linie ans Licht bringen sollte, dass der gegen den Juden geführte Hieb treffsicher gezielt war und von Anbeginn dem Richtigen galt. Was dem hitzigen Ex-Revolutionär nur halb gelang, vollendet später der Jäger, der den Juden bewacht. Die Büchse – wieder wie zufällig und scheinbar absichtslos am Lager des Kranken zurückgelassen – liefert das Werkzeug zu einem Tod, der nur auf euphemistische Weise ‚Selbstmord‘ genannt werden kann. Wie in der Erzählung insgesamt sind es hier wiederum Zufälle über Zufälle, die sich durch höhere narrative Gewalt zu einem letzten und endgültigen Gewaltakt fügen. Der Tod des Juden ist niemandes Schuld; und die Wahrheit der metonymischen Beziehung zwischen Jagdgewehr, Pelzhändler, Fellgewand und jüdischem Abjekt liegt darin, dass dessen Sterben als das eines wilden Tiers und eines Gejagten erscheint, an dem sich keiner vergeht und beschmutzt. Während also die Revolution durch das Geständnis des liederlichen Revolutionärs ihre Schuld bekennt und somit gesühnt ihr Bürgerrecht in der neuen Rechts- und Symbolordnung erhält, bleibt der jüdische Parasit so schuldlos wie unfähig zur Schuld und somit stets rechts- und friedlos gesetzt. So wenig Brentanos Text an ihm die allseits verteilte Läuterung vollziehen mag, so sehr sind hier poetische Gerechtigkeit einerseits und poetische Rechtlossetzung andererseits ein und dasselbe. Abseits der nationalen Freudenfeuer erlischt ein Leben, das schon zu Lebzeiten kein Leben gezeugt hat, keines zeugen konnte und verworfen war, weil seine Funktion allein darin bestand, die Vitalität von Reproduktion und genealogischen Folgen zu vernichten – mithin ein ‚Leben‘, das diesen Begriff in biologischer, sozialer und politischer Hinsicht verfehlt. Hier verdichten sich nicht bloß die romantischen Kriegserklärungen gegen ein Judentum,
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das zum Gesellschaftsfeind schlechthin avanciert.14 Mit sauberen Händen und in aller Unschuld kündigt sich vielmehr an, was man später einmal Rassismus wird nennen können: die Referenz an ein verworfenes Leben, dessen Vernichtung niemanden besudelt und das nur im Tod das reuelose Fortleben der anderen garantiert. Mit diesem narrativen Programm vollzieht sich die Auflösung einer historisch-politischen Rätselfigur im Sinne einer Restlosigkeit, die Brentanos Novelle alles sagen lässt, was nur gesagt werden kann. Das symbolische Arrangement dieser Literatur produziert weder ein freies Zeichenspiel noch semiotischen Überschuss, kein ästhetisches ‚Unbewußtes‘ prägt die Logik ihres Resultats.15 Als politische Literatur praktiziert sie eine radikale Erledigung, die flagrante Lösung eines in aller Umständlichkeit konstruierten Entzifferungs- und Lektüreproblems. Was man ‚kunstvoll‘ an ihr nennen mag, ist die Inszenierung einer Verwirrung, die sich mimetisch und hypothetisch zu den Revolutionswirren verhält. Dabei ergibt sich die Parallelität mehrerer Bewegungen, mit denen sie sich als literarische, rechtliche und politische Restauration behauptet. Erstens wird hier das Datum der Revolution als historisches, kollektives Trauma inszeniert, das undeutliche Zeichen, Symptome und Spuren hinterlässt und zur anamnetischen Tätigkeit, zur Durcharbeitung herausfordert. Das ist ihr novellistischer Kern: ein unerhörtes Ereignis, dessen Fortsetzungen, Wucherungen, Resonanzen und Symptome kriminalistisch – als Fall – aufgelöst und datiert werden können. Brentanos Text betreibt eine Art Trauma-Politik und installiert die ‚Wunde‘ der Revolution als insistierenden Signifikanten des historischen Textes. Dazu gehört zweitens eine hermeneutische, besser: eine meta-hermeneutische Szene. Mit der Entstellung von Genealogien wird die Revolution als Interpretationsakt adressiert, der eine repräsentative Symbolordnung in diabolische Kryptogramme verwandelt und eine wiederholte, klärende Lektüre und Deutung verlangt. Revolution wird als Vorfall gestellt, der die Historie von Erbfolgen in hieroglyphische Geschichtszeichen verzerrte. Brentanos Text legt darum den Text der Geschichte noch einmal aus und beansprucht eine rektifizierende Gewalt. Er interpretiert untergeschobene Interpretationen. Ein dritter Aspekt ist aber wohl ‚romantisch‘ im engeren Sinn. Mit der erzählerischen Exekution wird nicht nur die Aufführung der republikanischen Gleichheit beendet, deren allegorischer Gestalt Brentanos Text einmal ein ebenso groteskes wie obszönes Schauspiel vorbehalten hat und
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Oesterle, Günter, „Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik“. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 2/1992, S. 55-89, hier S. 69; Puschner, Antisemitismus, S. 279-283. Vgl. dagegen die Lesart von Weingart, „Macht und Ohnmacht der Dinge“, insbesondere S. 136-137.
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dabei das Register des Herrenwitzes bemüht – mit einer „ziemlich garstige[n] Gleichheit“ im Zentrum, die trotz aller „Unebenheiten“ sogleich ihre „Unschuld“ verlor (337). Es wird vielmehr eine Gleichsinnigkeit von Poesie und Recht behauptet, die bei Brentano zwei Angelpunkte besitzt. Einerseits wird sie historisch verankert und legitimiert, hervorgehend aus dem Sieg über die Revolution, aus einem Sieg, der mit der Annullierung des Code Napoleon ja auch das Bürgerrecht für Juden wiederum streicht. Brentanos Novelle wiederholt, was die Rechtsgeschichte der Restauration mit dem Wiener Kongress diktiert.16 Der Spruch romantischer Poesie entsetzt revolutionäre Gesetzeskraft. Andererseits funktioniert sie als unerbittliche poetische Gerechtigkeit. Nicht aus der einen oder anderen juridischen Instanz in der Erzählung, sondern aus dem literarischen Sagen selbst spricht hier das Recht. Der revolutionäre Schnitt in die Textur patrimonialen Rechts hat auch die Einheit von Poesie und Recht zerschlissen und republikanisches Gesetz einerseits, opake Signifikanten andererseits hinterlassen. Diese Wunde wird mit dem aristokratischen Geschenk der neuen Hautelisse-Tapete symbolisch geheilt17 und appelliert an die Gabe, die Brentanos Erzählung selbst sein will. Denn sie beansprucht eine Gesetz gebende Gewalt von Genealogie, Verwandtschaft und Erbe, die im Zentrum der germanischen bzw. germanistischen Korrespondenz von Recht und Poesie überhaupt steht. Wie sich nach Jacob Grimm „gesetze und lieder“ gleichermaßen nur als „angeborenes erbgut“ von Generation zu Generation vererbt und fortgepflanzt haben, so werden der „bau“ und das „wesen der sprache“ selbst ausschließlich durch das gerechtfertigt und bestimmt, was „anfänglich und innerlich verwandt“ ist. Und darum dokumentiert sich die Recht setzende Spruchkraft der Sprache, mithin die Poesie im Recht, etymologisch vor allem in Ausdrücken, die wie keine anderen eine erste, d.h. verwandtschaftliche und genealogische Beziehung setzen: Begriffe wie „geschlecht, schoos, stamm und baum“.18 Vielleicht ist es darum kein Zufall, dass sich Brentanos Novelle passagenweise wie Paraphrasen jener „sprichwörter des germanischen rechts“ lesen lässt, mit denen Grimm sein rechtshistorisches Programm illustriert: „das erb geht nicht aus dem busen; kind fällt wieder in der mutter schoos; blutige hand
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Nach dem Sieg Napoleons über Preußen wurden die bislang nur durch Schutzbriefe abgesicherten Juden seit 1812 gleichwertige Bürger Preußens, allerdings unter der Bedingung der Assimilation; dieses Bürgerrecht wurde während des Wiener Kongresses ersatzlos gestrichen (vgl. E. Brantner, Christina, „Zur Problematik des vaterländischen Freiheitsgedankens in Brentanos ‚Die Schachtel mit der Friedenspuppe‘“. In: German Life and Letters 46,1/1993, S. 12-24, insbesondere S. 19.) Saul, „Kunstthematik“, S. 126. Grimm, Jacob, „Von der Poesie im Recht“. In: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 2/1816, S. 22-99, hier S. 28-30 und S. 46 f.
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nimmt kein erbe“.19 Vor allem aber trifft das den poetologischen, d.h. rechtsförmigen Kern von Brentanos symbolischem Arrangement – dass sich nämlich die Setzung des genealogischen Bands zugleich als das Gesetz vollstreckt. Daraus ergibt sich – letztens – die innige Verschränkung von Poesie und Niedertracht. Während am Ende der Novelle nicht nur alle Intrigen behoben sind, sondern zudem der Sog des Friedensfestes Bürger und Aristokraten, Katholiken und Protestanten, Franzosen und Deutsche in einem neuen Bund und im Zeichen der Erbfolge eint, kennt diese neue Einheit das ‚genre humain‘ über alle Artenvielfalt hinweg nur als partikulares. Die alten Feinde versöhnen sich um den Preis einer unversöhnlichen Feindseligkeit. Diese Feindschaft – markiert in der Gestalt des ort- und namenlosen Juden, in der Figur parasitärer Auszehrung der Genealogie – bleibt endlos, weil sie eine Aufhebung im neuen Rechtsfrieden nicht kennt. Das Leben, das sich in genealogischen Abfolgen bewahrt, wird in Brentanos Text nicht nur durch die Einheit von Poesie und Recht, sondern auch durch den Zusammenfall von Gesetz und Gattung sanktioniert. Der proklamierten ‚Niedertracht‘ des Juden wird der Zugang zu Schuld und Sühne, der Zugang zu Gesetz- und Rechtmäßigkeit überhaupt verwehrt. Die einzige Anforderung, die an dieses friedlose Leben gestellt wird, liegt in der niederträchtigen Aufforderung, dass es sich selbst unversöhnt und zur Gnade der anderen tilgt. Niedertracht wäre hier das gute Gewissen der Exstirpation; und literarische Niedertracht das Angebot einer Lektüre, in der der hermeneutische Prozess und der glückliche Moment eines Verstehens zugleich einen Akt zwangsläufiger Ausrottung vollziehen. So spricht Poesie Recht: Wer hier entziffern und verstehen will und den Sinnhorizont des Textes erschließt, affirmiert zugleich ein endgültiges Verdikt, über das sich die friedvolle Gemeinschaft des lesenden Publikums schließt.
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Bibliografie 1. Quellen
Aristoteles, Politik, Buch 1, Über die Hausverwaltung und die Herrschaft des Herrn über Sklaven, übersetzt und erläutert von Eckart Schütrumpf. In: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, hg. von Hellmut Flashar, Bd. 9, Politik, Teil 1, Darmstadt 1991. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Jürgen Behrens/Konrad Feilchenfeldt/Wolfgang Frühwald/Christoph Perels/Hartwig Schultz, Bd. 19, Prosa IV, hg. v. Gerhard Kluge, Stuttgart u.a. 1987, S. 697-706.
2. Forschungsliteratur
Brantner, Christina E.: „Zur Problematik des vaterländischen Freiheitsgedankens in Brentanos ‚Die Schachtel mit der Friedenspuppe‘“. In: German Life and Letters 46,1/1993, S. 12-24. Matala de Mazza, Ethel: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg 1999. –: „Sozietäten“. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2009, S. 283-285. Foucault, Michel: „Die Wahrheit und die juristischen Formen.“ In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert/François Ewald, Bd. 2, 1970-1975, Frankfurt/M. 2002, S. 669-792. –: „Nietzsche, Freud, Marx.“ In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert/François Ewald, Bd. 1, 1954-1969, Frankfurt/M. 2001, S. 727-743. Grimm, Jacob: „Von der Poesie im Recht.“ In: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 2/1816, S. 22-99. Lex, Hans-Eberhard: Der Henker von Paris. Charles-Henri Sanson, die Guillotine, die Opfer, Hamburg 1989. Oesterle, Günter: „Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik.“ In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 2/1992, S. 55-89. Puschner, Marco: Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik. Konstruktionen des „Deutschen“ und „Jüdischen“ bei Arnim, Brentano und Saul Ascher, Tübingen 2008. Saul, Nicholas: „Die Kunstthematik in Clemens Brentanos Novelle ‚Die Schachtel mit der Friedenspuppe‘“. In: ZfdPh 112/1993, S. 117-128. Schaub, Gerhard: „‚Die Schachtel mit der Friedenspuppe.‘ Brentanos RestaurationsErzählung.“ In: Hartwig Schultz (Hg.): Clemens Brentanos Landschaften. Beiträge des ersten Koblenzer Brentano-Kolloquiums, Koblenz 1986, S. 83-122. Weingart, Brigitte: „Macht und Ohnmacht der Dinge: Clemens Brentanos ‚Die Schachtel mit der Friedenspuppe‘“. In: Friedrich Balke/Harun Maye/Leander Scholz (Hgg.): Ästhetische Regime um 1800, München 2009, S. 119-137. Ziegler, Vickie L.: „Justice in Brentano‘s ‚Die Schachtel mit der Friedenspuppe‘“. In: The Germanic Review 53/1978, S. 174-179.
Verräumlichte Augen-Blicke: Narrative Visualisierungsstrategien in Mme de Staëls ‚Corinne‘ und Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ JÖRN STEIGERWALD Im Zeitalter der Romantik werden zwei Romane veröffentlicht, die von Anfang an eine hochgradige Irritation für die Leser darstellten: Mme de Staëls 1806 erschienene Corinne ou l’Italie und Goethes 1809 publizierte Wahlverwandtschaften.1 Beide werden in der aktuellen Forschung als erste literarische Monumente gewertet, die am Beginn des 19. Jahrhunderts die Beschleunigung der Wissenszirkulation und des sozialen Wandels exemplarisch vorstellen.2 Vor dem Hintergrund einer vermeintlich anachronistisch gewordenen Welt des Adels zeichnen sich demnach die quasi auf Permanenz gestellten, revolutionären sozio-kulturellen Bewegungen der Umwelt in dieser höfischen Welt en miniature nur umso besser ab. Dabei verarbeiten die Romane die historischen Erfahrungen nach der französischen Revolution, indem sie erstens das Scheitern der Repräsentanten der höfischen Kultur an ihrer eigenen Realität präsentieren und zweitens die Erzählung dadurch unterfüttern, dass sie die moderne Erfahrung der akzelerierten Wissensakkumulation in die Darstellung integrieren.
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Zitiert wird nach den Ausgaben Mme de Staël, Corinne ou l’Italie, édition présentée, établie et annotée par Simone Balayé, Paris, Gallimard 1985 und Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften, hg. v. Erich Trunz, München 1980. Siehe hierzu exemplarisch die Beiträge in den Sammelbänden von Bolz, Norbert (Hg.), Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, Hildesheim 1981 und Brandstetter, Gabriele (Hg.), Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘, Freiburg/Br. 2003, Vogl, Joseph, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich/Berlin 2004, besonders ‚Fünftes Kapitel, Der ökonomische Mensch, 1. Modernisierungen‘, S. 289-310 und Schneider, Helmut J. „Wahllandschaften. Mobilisierung der Natur und das Darstellungsproblem der Moderne in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“. In: Martha B. Helfer (Hg.), Rereading Romanticism, Amsterdam 2000, S. 285-300 sowie Behrens, Rudolf‚ „Fließtext. Raumwahrnehmung, Kunstbetrachtung und Imagination in Corinne ou l’Italie von Germaine de Staёl“. In: Romanistisches Jahrbuch 57/2006, S. 169-197. Diese Studie bietet zudem einen prägnanten Überblick über aktuellen Tendenzen der Forschung zu Mme de Staëls Roman.
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Auf diesen wohl begründeten Befunden aufbauend, aber zugleich in Absetzung zu ihnen, soll in der vorliegenden Studie ein Kontrapunkt zu den genannten, die Fiktionen weitgehend prägenden Verzeitlichungsstrategien der Romane herausgearbeitet werden, nämlich die Stillstellung der Zeit durch die Fokussierung auf eine rein präsentische, von der Imagination der Figuren affizierte und in der Narration visualisierte Raumerfahrung. In den Blick genommen wird folglich jene narrative Konfiguration, die aus der Stillstellung von Handlung im Tableau resultiert, dabei einen Überschuss des Fiktiven in der Darstellung produziert und sich in verräumlichten Augen-Blicken konkretisiert. Intendiert ist demgemäß eine Analyse, die von den romanesken Präsentationsformen ausgeht und die Ausfaltung visueller Repräsentationsformen in der jeweiligen Erzählung betrachtet. Als leitende These sei hierfür vorangestellt, dass in beiden Romanen die Imagination den Protagonisten Räume eröffnet, die deren Selbstverortung als Subjekt einerseits ermöglichen, andererseits diese aber durch eine visuell überformte, raumgreifende Darstellung im discours aufheben. Denn das Subjekt, so zeigen die Romane, steht um 1800 in Räumen, die es sich selbst imaginativ geschaffen hat, ohne dass ihm diese Räume die Möglichkeit zur Fixierung geben.3 Dabei möchte ich zeigen, dass sich um 1800 eine spezifische literarische Anthropologie ausbildet, die zum einen in den anthropologischen Theorien in der Konfiguration von Raum, Imagination und Subjekt Gestalt gewinnt, die zum anderen aber auch bzw. vor allem in den Erzähltexten ausgefaltet wird, insofern sich die Subjekte imaginativ im Raum zu verorten streben. Besonders hervorhebenswert ist hierbei, dass diese subjektiven Verortungen im Raum jenseits nationaler Eingrenzungen stattfinden und folglich einen komparatistischen Blick erfordern, um als Konfiguration beschreibbar zu werden. Ich werde im Folgenden erstens kurz die historische Konstellation von Subjektivität, Spatialität und Visualität um 1800 skizzieren, die ich als verräumlichten Augen-Blick fasse, um darauf aufbauend zweitens die spezifischen Augen-Blicks-Konfigurationen in Mme de Staëls Corinne und schließlich drittens in Goethes Wahlverwandtschaften exemplarisch zu analysieren.
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Die vorliegende Studie baut auf den Ergebnissen mehrerer Forschungsprojekte sowohl zu den Theorien der Imagination im anthropologischen Diskurs der französischen Aufklärung als auch zur Konfiguration von Raum, Imagination und Subjekt in französischen Erzähltexten um 1800 auf. Die Publikation der Projektergebnisse ist zurzeit in Vorbereitung. Siehe Behrens, Rudolf/Steigerwald, Jörn (Hgg.), Aufklärung und Imagination in Frankreich (16751810). Anthologie und Analyse. 2 Bde., Tübingen 2009 sowie Dies. (Hgg.), Räume des Subjekts um 1800. Die Selbstverortung des Individuums zwischen Spätaufklärung und Romantik, Tübingen 2009.
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1. Verräumlichte Augen-Blicke4 Der Augen-Blick im doppelten Sinne des Wortes gehört zwar zu den Gründungsmythen unserer christlichen Kultur, kennt aber historisch je eigene Formen der Problematisierung, die ihn zu einem der Paradigmen kultureller Selbstdarstellung machen. Dabei stehen seit geraumer Zeit zwei Modelle des Augen-Blicks im Zentrum des Interesses, der biblische und der zeichentheoretische, die ich hier nur kurz in Erinnerung rufe, um mich auf ein drittes, bisher nur wenig beachtetes historisches Modell um 1800 zu konzentrieren, das ich als verräumlichten Augen-Blick fasse. Dieser beschreibt eine spezifische, kulturprägende Konfiguration, die aus der räumlichen Verdichtung des biblischen und des zeichentheoretischen Augen-Blicks in der narrativen Vergegenwärtigung des Erzählens resultiert. Zunächst zum biblischen Augenblick: Dieser bezieht sich auf die Szene des menschlichen Sündenfalls, also auf den Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte, in sich dem Adam und Eva in die Augen blickten, und sich ihnen, wie es im 1. Buch Mose heißt, „die Augen aufgetan“ wurden.5 Denn in diesem Moment erkennen sich Adam und Eva nicht nur als se-
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Für die Konfiguration des erzählten Augenblicks baue ich zum einen auf der Arbeit von Gerhard Neumann und zum anderen auf denen von Helmut Pfotenhauer auf. Siehe Neumann, Gerhard, „Wissen und Liebe. Der auratische Augenblick im Werk Goethes“. In: Christian W. Thomsen/Hans Holländer (Hgg.), Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt 1984, S. 282-305; Ders., „Bild und Schrift. Zur Inszenierung von Fiktionalität in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“. In: Freiburger Universitätsblätter, 103/1989, 28. Jg., S. 119-128; Ders., „Erkennungs-Szene. Wahrnehmung zwischen den Geschlechtern im literarischen Text“. In: Kati Röttger/Heike Paul (Hgg.), Differenzen in der Geschlechterdifferenz - Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung. Berlin 1999, S. 202-221 und Pfotenhauer, Helmut, „Literarische Anthropologie und Ikonologie: ein Entwurf“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 230/1993, S. 18-32; Ders., „Die nicht mehr abbildenden Bilder. Zur Verräumlichung der Zeit in der Prosaliteratur um 1800“. In: POETICA 28/1996. H. 3/4, S. 345-355; Ders., „Bild versus Geschichte. Zur Funktion des novellistischen Augenblicks in Goethes Romanen“. In: Ders., Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert. Würzburg 2000, S. 45-66. Siehe: „Da wurden ihnen die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“. Die Bibel, 1 Mose 3, 7. Zur Bedeutung des Augenblicks für die Literatur, insbesondere seit Dantes Vita nuova und Petrarcas Canzoniere siehe Neumann, Wissen und Liebe und umfänglich Rousset, Jean, Leurs yeux se rencontrèrent. La scène de première vue dans les romans, Paris: Corti 1981. Zum Augen-Blick in den behandelten Romanen siehe die Studien von Delon, Michel, „Corinne ou l’école du regard“. In: Revue de littérature française er comparée 13/1999, S. 153-159, Öhlschläger, Claudia, „‚Kunstgriffe‘ oder Poiesis der Mortifikation. Zur Aporie des ‚erfüllten‘ Augenblicks in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“, In: Brandstetter (Hg.), Erzählen und Wissen, S. 187-204 und Mehigan, Tim, „‚From hence they resolve all Beings to Eyes‘. Zur Blickproblematik in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“. In: Brandstetter (Hg.), Erzählen und Wissen, S. 169-185.
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xuell differente Wesen und bestimmen sich dadurch füreinander, sie begrenzen auch ihr Dasein, so dass bis in alle Ewigkeit die Sexualität und die Sterblichkeit vom ersten Augen-Blick der Menschheit zeugen. Der zeichentheoretische Augen-Blick bezeichnet hingegen eine spezifische Lösung des Paragoneproblems. Mit seiner Abhandlung Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie entscheidet Gotthold Ephraim Lessing Mitte des 18. Jahrhunderts die Frage nach der Höherwertigkeit der Künste dadurch, dass er eine kategoriale Differenz zwischen ihnen setzt: Demnach bringt die Literatur ein zeitliches Nacheinander der Handlung zur Darstellung, während die Malerei sich auf ein räumliches Nebeneinander der Handlung konzentriert.6 Von Interesse ist im vorliegenden Rahmen besonders das Moment des so genannten ‚prägnanten Augenblicks‘. Denn diesen sollen die bildenden Künstler fokussieren, um im Raum des Dargestellten ein Nacheinander so in das Nebeneinander hineinzuspielen, dass der Betrachter die Sukzession vor Augen stehen hat. In zeitlich unmittelbarer Nachfolge zu Lessings zeichentheoretischer Trennung der Künste kommt es indes zu einer Auseinandersetzung mit dieser, die darin mündet, dass in einer Vielzahl von Erzähltexten gerade auf die Inszenierung von prägnanten Augenblicken abgehoben wird, die zu einer Stillstellung der Handlung im Tableau führen. Ermöglicht wird diese Stillstellung durch den Fokus auf eine weitere kulturprägende Schöpfungsgeschichte, den Mythos von Pygmalion und Galathea.7 Denn in diesem Künstlermythos wird ein produktionsästhetischer Augenblick vorgestellt, der in der Ursprungsgeschichte als Moment der Verlebendigung der Statue, in den Folgegeschichten hingegen häufiger als Moment der Mortifizierung gestaltet wird. Von Rousseau über Goethe bis hin zu Balzac und Poe etabliert sich dann die romantische Literatur von den schönen weiblichen Toten, die dem Augenblick ihr verblassendes Gesicht geben.8 All dies ist zu bekannt, als dass es nochmals ausgeführt werden müsste. Gleichwohl möchte ich bei dem Augen-Blick noch etwas verweilen,
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Aus der mittlerweile fast unüberschaubaren Literatur zu Lessings Laokoon und dessen Folgen sei exemplarisch verwiesen auf die klassische Studie von Wellbery, David, Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason, Cambridge 1984 sowie den Sammelband Gebauer, Gunter (Hg.), Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984. Zu Pygmalion und der Pygmaliontik siehe einschlägig den Sammelband von Mayer, Matthias/Neumann, Gerhard (Hg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg/Br. 1997 und speziell zur Pygmaliontik sowie dem damit verbundenen neuen literarischen Konzept der ‚Darstellung‘ Mülder-Bach, Inka, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert, München 1998. So lautet die bekannte Diagnose zur Ästhetik der romantischen Liebe bzw. der romantischen Geliebten von Bronfen, Elisabeth, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994.
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um eine Bedingung näher zu beleuchten, die diesen von Anfang an konstituierte, die aber um 1800 erstmals eine spezifisch epistemologische Konfiguration ausprägt: die Verräumlichung des Augen-Blicks. Der Sehsinn wird seit alters her als Distanzsinn verstanden, so dass jeder Augen-Blick notwendiger Weise eine räumliche Distanz zwischen den Blickenden voraussetzt. Indes bringt der Augen-Blick auch den Betrachtenden die Distanz zwischen ihnen zum Bewusstsein, wodurch eine Positionierung des Subjekts geleistet wird. Um 1800 kommt dieser Verortung des Subjekts eine neue Bedeutung zu, insofern in dieser Zeit in den anthropologischen Theorien erstmalig eine Relationierung von Subjekt und Raum vorgenommen wird, die grundlegend über ein ebenfalls raumschaffendes Vermögen, nämlich die Imagination, geleistet wird.9 Der Augen-Blick erhält zu diesem historischen Zeitpunkt folglich seine räumliche Prägung und konstituiert zugleich die im Augen-Blick gebundenen Subjekte im und durch den Raum, in dem sie sich befinden. Genauerhin lassen sich zwei Ausprägungen des verräumlichten Augenblicks namhaft machen, die zwei je spezifische Konfiguration vorstellen: Zum einen ein verräumlichter Blick, der, wie in der Corinne, den Fokus stärker auf die Wahrnehmung des Subjekts und damit auf die Gnoseologie der Darstellung legt und zum anderen ein verräumlichter Augenblick der, wie in den Wahlverwandtschaften, vorwiegend die Imagination des Subjekts im Raum, mithin die Epistemologie der Darstellung betrifft.10 In diesem Sinne werden die beiden Romane, Mme de Staëls Corinne und Goethes Wahlverwandtschaften, als je eigene Modellierungen verräumlichter
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Zur Imagination in Aufklärung und Romantik siehe die klassische Studie von Becq, Annie, Genèse de l’esthétique française moderne, De la Raison classique à l’imagination créatrice, Paris, Michel 1994 (Original Pisa 1984) sowie Behrens/Steigerwald (Hgg.), Aufklärung und Imagination und Dies., Räume des Subjekts. Erste exemplarische Lektüren der Konfiguration von Raum, Imagination und Subjekt um 1800 geben Behrens, Rudolf, „Räumliche Dimensionen imaginativer Selbstkonstitution um 1800 (Rousseau, Senancour, Chateaubriand)“. In: Mülder-Bach, Inka/Neumann, Gerhard (Hgg.), Räume der Romantik, Würzburg 2008, S. 27-63‚ und Steigerwald, Jörn, „Räume des empfindsamen Subjekts. Seelenausfaltungstechnologien in Sénancours Obermann“. In: Heinz Thoma/Kathrin van der Meer (Hgg.), Epochale Psycheme und Menschenwissen. Von Montaigne bis Redonnet , Würzburg 2007, S. 107-127. Die bisherigen, vorzugsweise romanistischen Studien zur Raumwahrnehmung im Roman um 1800 fokussieren weitgehend im Anschluss an Michel Foucaults Les mots et les choses die Epistemologie der Wahrnehmung und stellen derart die Gnoseologie hintan. Siehe hierzu paradigmatisch den Aufsatz von Warning, Rainer „Romantische Tiefenperspektivik und moderner Perspektivismus. Chateaubriand – Flaubert – Proust“. In: Karl Maurerl/Winfried Wehle (Hgg.), Romantik. Aufbruch zur Moderne, München 1991, S. 295-324 sowie darauf aufbauend Michael Backes, Figuren der romantischen Vision: Victor Hugo als Paradigma, Tübingen 1994 und den Band von Mülder-Bach/Neumann, Romantische Räume. Dem gegenüber bzw. ergänzend dazu konzentrieren sich die Beiträge des Bandes Behrens/Steigerwald, Räume des Subjekts auch auf die Gnoseologie der Wahrnehmung, um die literarische Anthropologie der Romantik historisch adäquat zu analysieren.
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Augen-Blicke verstanden und eben nicht darauf reduziert, wie dies in der Forschung häufig der Fall ist, Ausgestaltungen der kulturbildenden Doppelformation von Vivifikation und Mortifikation zu sein, die unter dem Namen Pygmaliontik firmiert. Denn dies würde zum einen dazu führen, dass sich die Lektüre der Romane allein auf die Motivik des Tableau vivant oder der Attitüde beschränkte und damit das kulturhistorisch Spezifische, eben Raumprägende des Augenblicks hintenanstellte und zum anderen die Handlung deutlich gegenüber der Erzählung privilegierte und dies obwohl beide Romane deutlich den récit über die histoire stellen.11 Dem entsprechend wird hier eine spatiale Lektüre vorgeschlagen, die den Fokus auf die narrative Gestaltung des Augen-Blicks legt, insofern in den Erzählungen die Blicke der Protagonisten nicht einfach motivisch aufrufen, sondern, gegenläufig zu Lessings Laokoon-Verdikt, erzählstrategisch integrieren, um eine Vergegenwärtigung subjektkonstituierender und raumgreifender Augen-Blicke in der Präsentation zu leisten.12
2. Corinne ou l’Italie Mme de Staëls Roman, in dem der verräumlichte Blick als Wahrnehmunsmodell prägnant Gestalt gewinnt, erzählt die Geschichte zweier Liebender, der Halb-Italienierin und Halb-Engländerin Corinne und des Engländers Lord Oswald Nelvil, die sich in Rom kennen und kurze Zeit
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Zum ‚Tableau vivant‘ siehe grundlegend die Studien von August Langen, „Attitüde und Tableau in der Goethezeit“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 12/1968, S. 194-258 und Miller, Norbert, „Mutmaßungen über lebende Bilder. Attitüde und ‚tableau vivant‘ als Anschauungsform des 19. Jahrhunderts. In: Helga de la Motte-Haber (Hgg.), Das Triviale in Literatur, Musik und bildender Kunst, Frankfurt 1972, S. 106-130. Siehe zudem Joost, Birgit, Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin 1999 und McIsaac, Peter, „Rethinking Tableaux Vivants and Triviality in the Writings of Johann Wolfgang von Goethe, Johanna Schopenhauer, and Fanny Lewald“. In: Monatshefte, 99, Number 2, Summer 2007, S. 152-176. Zum Tableau vivant in den Wahlverwandtschaften siehe vor allem die Beiträge von Joost, Birgit‚ „Lebende Bilder als Charakterbeschreibungen in Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘“ und von Reschke, Nils‚ „‚Die Wirklichkeit als Bild‘. Die Tableaux vivants der ‚Wahlverwandtschaften‘“. In: Brandstetter, Erzählen und Wissen, S. 111-136 und S. 137-167. Diese Studien beleuchten wichtige Funktionen der Tableaux vivants, lassen dabei aber die Verräumlichungen der Narration im Augen-Blick außer Acht, die hier im Zentrum des Interesses steht. Insbesondere für die Novellistik um 1800 wurde die Gegenläufigkeit zu Lessings kategorialer Unterscheidung von bildlichem Nebeneinander und narrativem Nacheinander mehrfach herausgearbeitet. Siehe beispielhaft Neumann, Gerhard‚ „Die Anfänge deutscher Novellistik. Schillers ‚Verbrecher aus verlorner Ehre‘ – Goethes ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘“. In: Barner, Wilfried et al. (Hgg.), Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, Stuttgart 1984, S. 433-460 und Pfotenhauer, Bild versus Geschichte. Darauf aufbauend wird hier eine umgreifende Verräumlichung der Literatur um 1800 vorausgesetzt, die sich nicht auf eine spezifische Gattung wie die Novelle beschränkt.
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später auch lieben lernen.13 Allerdings ist die Beziehung zwischen beiden von Anfang an zahlreichen Unbilden ausgesetzt, von denen die meisten aus ihrer Vergangenheit resultieren, die beide Protagonisten in der neuen Beziehung abstreifen wollen, die jedoch letztlich das Ende ihrer Beziehung bedeuten. Denn Corinne und Nelvil waren von ihren Vätern einst füreinander bestimmt, doch lehnte Nelvils Vater nach einem ersten Kontakt mit Corinne diese Verbindung ab und beförderte stattdessen eine mit deren jüngerer Schwester. Auch wenn diese bis dato nicht zustande kam, so liegt doch der Urteilsspruch des Vaters wie ein Verdikt auf ihrer Beziehung, das, sobald es wieder ausgesprochen wird, deren Ende einläutet. Bis es jedoch dazu kommt, versuchen sich die beiden Protagonisten einander anzunähern, indem sie verschiedene Formen des gemeinsamen Erlebens beim Abschreiten archäologischer und vor allem die Wahrnehmung respektive Empfindsamkeit affizierender Orte suchen.14 Beachtenswert ist dabei, dass beide Protagonisten vorderhand gemäß jenem anthropologischen Modell konstituiert sind, das auf der tradierten, und in den zeitgenössischen Naturgeschichten reaktualisierten Klimatheorie aufbaut: Der kühle und rationale, eher zur Melancholie neigende Nordländer Nelvil trifft auf die leidenschaftliche und leicht von der Imagination affizierte Südländerin Corinne.15 Zudem scheint es zunächst auch so, als ob die von Nelvil in Italien gesuchte Kur gegen seine Schwermut anschlägt: Er gibt sichtlich seine melancholische Haltung auf und lässt sich sowohl von seiner Umgebung als auch, und besonders, von Corinne derart anregen, dass man geradezu von einer imaginativ aufgeladenen Kur sprechen kann.16 Doch befeuert die Imagination nicht nur Nelvils unterkühltes Temperament, sondern erregt es imaginativ auch derart, dass er in spezifischen Augenblicken seinen Halt verliert.17
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Zu Mme de Staëls Roman ‚Corinne‘ siehe auch die umfassende Einfühung von Didier, Béatrice, Béatrice Didier commente Corinne ou l’Italie de Madame de Staël, Paris 1999. Verwiesen sei hierfür auch auf Schöningh, Udo, „Die Funktionalisierung des Orts in Mme de Staëls Corinne ou l’Italie“. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 23/1999, S. 55-67, der jedoch allein die Funktionen der Orte für die Handlung und nicht für die Erzählung untersucht. Siehe hierzu Garry-Boussel, Glaire, „L’homme du Nord et l’homme du Midi dans Corinne de Mme de Staël“. In: Michel Delon/ Françoise Mélonio (Hgg.), Mme de Staël. Actes du colloque de la Sorbonne de 20 novembre 1999, Paris 2000, S. 55-66 sowie weitergehend Penzenstadler, Franz, „Ästhetischer Relativismus und Klimatheorie in klassizistischer und romantischer Poetik“. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur CII/1992, S. 263-286. Zur Bedeutung der Melancholie im Werk Mme de Staëls im Allgemeinen und in der ‚Corinne‘ im Speziellen siehe einschlägig Amendt-Söchting, Anne, Zwischen ‚Implosion‘ und ‚Explosion‘ – zur Dynamik der Melancholie im Werk der Germaine de Staël, Trier 1991. Die Bedeutung der Imagination in der Corinne hat besonders herausgearbeitet Behrens, Fließtext unter Rekurs auf die für Mme de Staël wichtige Imaginationstheorie von KarlViktor von Bonstetten Recherches sur la nature et les lois de l’imagination von 1806. Siehe zudem
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Ein deutliches Beispiel hierfür stellt im Roman die Inszenierung von Shakespeares Tragödie Romeo and Juliet dar, die von Corinne übersetzt und späterhin auch theatral umgesetzt wird. Diese Geschehnisse werden im siebten Buch dargestellt, das ausschließlich der italienischen Literatur, genauer: deren anthropologischem und sozialem Substrat gewidmet ist. So wird insbesondere die Relation von italienischer Literatur und Leidenschaftsdarstellung durch eine überaus aktive, geradezu ausgreifende Imagination in den Mittelpunkt der Konversationen gestellt, wobei Corinne als Medium und Repräsentantin dieser Literatur fungiert.18 Einer Literatur indes, die Corinne bewusst Nelvil an die Hand gibt, um dessen Melancholie zu kurieren und ihn damit an sich zu binden. Denn die Übersetzung der Shakespeareschen Tragödie und insbesondere die Aufführung ihrer italienischen Variante sollen ihrer Intention nach den möglichen englischitalienischen Kulturtransfer in ihrer Person symbolisieren. Realiter produziert sie jedoch erste Kippphänomene, die das Überborden der Imagination, die in eine rein imaginativ aufgeladene Präsenzerfahrung mündet, drastisch vorstellen und zugleich das zukünftige Scheitern der Liebenden, analog zur gespielten Tragödie, indizieren. Bereits zu Beginn der Aufführung des Stückes imaginiert sich Nelvil nämlich derart an die Stelle Romeos, dass es ihm scheint, er spräche die Verse Romeos an Julia als seine Verehrungen für Corinne. Dieses Erleben steigert sich im Verlauf der Vorstellung so weit, dass er im finalen Akt die Grenze zwischen theatraler Repräsentation und realer Darstellung nicht mehr unterscheidet bzw. diese Grenze geradezu überschreitet. An die Stelle eines Augen-Blicks der Erkenntnis rückt damit ein verräumlichter, genauer: präsentischer Blick, der einerseits im Raum des Theaters die Liebenden zusammenbringt, sie aber andererseits durch ihre Position in verschiedenen Räumen des Theaters auf Distanz hält und dadurch erst die
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die Briefäußerungen von Mme de Staël an Bonstetten vom April 1807: „je viens de lire votre ouvrage [i.e. die Recherches] mon cher bonstetten et il faut que je vous dise à quel point j’y trouve d’esprit et d’imagination c’est la première fois qu’en France on a mis dans la métaphysique la connaissance du cœur humain, et de la poësie vous avez analysé l’ètre vivant et j’èprouvois pour ce livre l’intérêt de l’histoire […].“ Und vom 25 Juni 1807: „quand à paris vous n’en serez pas content pour vos nouvelles études il y a un esprit de frivolité qui ne permet qu’aux romans ou aux faits d’ètre saisi – avec vous cependant lu un second extrait de votre ouvrage dans le publiciste il est bien fait mais il faudroit encadrer vos idées qui sont si neuves, et si profondes dans un voyage dans un roman enfin de les unir à un tissu quelquonque qui puisse ètre saisi ou saisir pour mieux dire les esprits accoutumés par 18 ans de révolution à ne lire que les gazettes [...].“ Zitiert nach Bonstetten, Karl Viktor von, Philosophie 1804-1831, hg. v. Doris Walser-Wilhelm/Peter Walser-Wilhelm, Göttingen 2006, S. LX und S. LXII. Siehe hierzu auch Delon, Michel, „Du vague staëlien des passions“. In: Ders./Mélonio (Hgg.), Mme de Staël, S. 75-83 sowie Giusti, Ada, „The Politics of Location. Italian Narratives of Mme de Staël and George Sand“. In: Neohelicon 22 (2)/1995, S. 205-219.
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Imagination des Betrachters affiziert. So heißt es von Lord Nelvils Präsenzerfahrung, die stilistisch durch den Übergang vom Imparfait zum Présent historique hervorgehoben wird: Il [i.e. Nelvil] ne pouvait supporter de voir Corinne dans les bras d’un autre; il frémissait en contemplant l’image de celle qu’il aimait ainsi privée de vie ; enfin il éprouvait, comme Roméo, ce mélange cruel de désespoir et d’amour, de mort et de volupté, qui font de cette scène la plus déchirante du théâtre. Enfin quand Juliette se réveille de ce tombeau, au pied duquel son amant vient de s’immoler, et que ses premiers mots dans son cercueil, sous ces voûtes funèbres, ne sont point inspirés par l’effroi qu’elles devaient causer, lorsqu’elle s’écrie : Where is my lord? where is my Roméo? lord Nelvil répondit à ces cris par des gémissements, et ne revint à lui que lorsqu’il fut entraîné par M. Edgermond hors de la salle.19
Nelvil erblickt hier Corinne, wie sie die sterbende Julia vorstellt und erlebt diese Darstellung derart präsent, dass ihn die Szene vollkommen einnimmt und er nicht mehr zwischen Inszenierung und Realität unterscheiden kann. Diese Überschreitung der Grenze von Bühnen- und Zuschauerraum, die aus der affizierten Imagination gespeist wird, endet jedoch keineswegs an dieser Stelle: Vielmehr hebt Nelvil die Differenz von theatralem und sozialem Rollenspiel nochmals auf, wenn er nach der Vorstellung die noch kostümierte Corinne in deren Theatergemach besucht und bei ihrem Anblick vollkommen verwirrt wird: Dans l’excès de son trouble, il [i.e. Nelvil] ne savait pas distinguer si c’était la vérité ou la fiction ; et se jetant aux pieds de Corinne, il lui dit en anglais ces paroles de Roméo : « Oh mes yeux, regardez-la pour la dernière fois ! oh, mes bras, serrez-la pour la dernière fois contre mon cœur. » Corinne encore égarée, s’écria : Grand Dieu ! que dites-vous ? Voudriez-vous me quitter, le voudriez-vous ? – Non, non, interrompit Oswald, non je jure [...].20
Spielt Corinne bewusst die Rolle Julias, um durch einen Kulturtransfer den melancholischen Engländer im leidenschaftlichen Italien heimisch zu machen, so scheitert sie damit weniger an Nelvils rationaler Reserviertheit, als an seiner überbordenden Imagination.21 Diese lässt ihn nicht nur die
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Mme de Staël, Corinne ou l’Italie, S. 199 f. (Meine Hervorhebung). Mme de Staël, Corinne ou l’Italie, S. 200 (Meine Hervorhebung). Gemäß dem von Michel Espagne und Michel Werner entwickelten Konzept des Kulturtransfers kann man genauer von Corinne als Kulturvermittlerin sprechen, die Shakespeares Tragödie in Italien akkulturiert, um eine zuvor existente Leerstelle auszufüllen und damit zugleich des vorhandene Kultursystem neu zu konfigurieren. Siehe hierzu grundlegend Espagne, Michel/Werner, Michael, „Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze“. In: Dies. (Hgg.), Transferts: Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle), Paris 1988, S. 11-34 sowie Espagne, Michel, „Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer“. In: Hans-Jürgen Lüsebrinck/Rolf Reichardt (Hgg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich – Deutschland 1770 bis 1815, Leipzig 1997, S. 309-329. Gleichwohl zeigt gerade Corinnes Akkulturation die Grenzen des Kulturtransfers auf, insofern gemäß der Logik des Romans sich nicht nur das Akkulturierte im neuen
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Differenz zwischen Wahrheit und Fiktion verkennen, sondern auch die zwischen verschiedenen Formen von Rollenspiel, obwohl gerade er sonst darauf insistiert. Die Erfahrung von Corinnes Präsenz auf der Bühne, die jedoch nur eine performativ produzierte Präsenz bezeichnet, hebt ihn derart aus seiner sicher geglaubten Position, dass er wahlweise ohnmächtig wird, wahlweise eine nur imaginativ miterlebte Rolle weiterspielt, so dass er nicht nur seine, sondern auch Corinnes Position nachhaltig destabilisiert. Das Theater fungiert hier folglich keineswegs als moralische Anstalt, vielmehr stellt es denjenigen Raum vor, in dem die Leidenschaften und die Phantasien ihre affizierende Wirkung im präsentischen Augen-Blick gerade an Lord Nelvil vorführen, obwohl bzw. gerade weil dieser deren Wirkungen stets als schädlich gekennzeichnet hat. Noch deutlicher wird das transgressive Potential der Imagination, das in narrative Visualisierungsstrategien eingebettet ist, um Präsenzerfahrungen zu suggerien, in dem Abschnitt, der direkt auf Nelvils Lebensbeichte folgt und der den Beginn des 13. Buches, Le Vésuve et la campagne de Naples einleitet.22 Lord Nelvil resta long-temps anéanti après le récit cruel qui avait ébranlé toute son âme. Corinne essaya doucement de le rappeler à lui-même : la rivière de feu qui tombait de Vésuve, rendue visible enfin par la nuit, frappa vivement l’imagination troublée d’Oswald. Corinne profita de cette impression pour l’arracher aux souvenirs qui l’agitaient, et se hâta de l’entraîner avec elle sur le rivage de cendres de la lave enflammée. Le terrain qu’il traversèrent, avant d’y arriver, fuyait sous leurs pas, et semblait les repousser loin d’un séjour ennemi de tout ce qui a vie : la nature n’est plus dans ces lieux en relation avec l’homme. Il ne peut plus s’en croire le dominateur ; elle échappe à son tyran par la mort. Le feu du torrent est d’une couleur funèbre ; néanmoins quand il brûle les vignes ou les arbres, on en voit sortir une flamme claire et brillante ; mais la lave même est sombre, tel qu’on se représente un fleuve d’enfer ; elle roule lentement comme un sable noir de jour et rouge la nuit. On entend, quand elle approche, un petit bruit d’étincelle qui fait d’autant plus de peur qu’il est léger, et que la ruse semble se joindre à la force […]. Sa marche n’est point assez rapide pour que les hommes ne puissent pas fuir devant elle ; elle atteint, comme le temps, les imprudents et les vieillards, qui, la voyant venir lourdement et silencieusement, s’imaginent qu’il est aisé de lui échapper. Son éclat est si ardent, que pour la première fois la terre se réfléchit dans le ciel, et lui donne l’apparence d’un éclair continuel : ce ciel, à son tour, se répète dans la mer, et la nature est embrasée par cette triple image du feu.23
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Kontext verändert, wie etwa die Übersetzung bzw. Übertragung von Romeo and Juliet ins Italienische verdeutlicht, sondern auch die Differenz zwischen tendenziell transferresistentem Leib (Nelvil) und transferierbarem Text (Romeo and Juliet) herausgestellt wird. Zur Bedeutung des Vesuvs für die Raumwahrnehmung des Subjekts um 1800 sei exemplarisch verwiesen auf Wehle, Winfried, „Kinästhetik. Schreiben im Bilde des Vesuv. – Goethe/Chateaubriand“, erscheint in: Behrens/Steigerwald (Hgg.), Räume des Subjekts. Mme de Stael, Corinne ou l’Italie, S. 337.
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Was der Leser hier als Tableau quasi bildlich vor Augen hat, lässt sich zunächst als ‚erhabene Landschaft‘ bezeichnen, wobei der Blick auf den Krater und die Lavaströme des Vesuvs den topischen Referenzpunkt bildet.24 Bei näherem Hinsehen erkennt man jedoch einige grundlegende Differenzen zur Erfahrung solcher Landschaften, wie sie vor 1800 gängig war. Bekanntlich produziert in der Theorie des Erhabenen des 18. Jahrhunderts der erfahrene Schrecken nur deswegen einen angenehmen Schauder, weil zwischen dem erlebendem Subjekt und dem Ereignis eine unüberbrückbare Differenz liegt: Gerade aus der Distanz heraus wird der Schrecken zu einem ästhetischen Erlebnis, da er die eigene Sicherheit garantiert, und den Schauder sublimiert. Die Sache liegt hier indes anders: Corinne will die ‚imagination troublée’ Nelvils dadurch leiten, dass sie ihn inmitten der Lavaströme mit präsentischen Erfahrungen konfrontiert, um seine vergangenen Erlebnisse, von denen er eben berichtete, auszulöschen und durch die neuen Erfahrungen zu ersetzen. Dafür hebt sie die Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem auf und setzt sich und Nelvil einem unmittelbaren, und damit neuartigem erhabenen Erleben aus. Die Beschreibung dieser erhabenen Landschaft geht indes noch weiter, da sie nicht nur den visuellen Eindruck einer toten und menschenfeindlichen Landschaft vorstellt, sondern dies auch in der Narration um die akustische Ebene erweitert und dadurch dynamisiert. Auch wenn gemäß der Erzählstimme die Lavaströme weitgehend leise und schwerfällig verlaufen, so liegt doch gerade in dieser Schwerfälligkeit ihr eigentliches Bedrohungspotential, das aus der erhabenen Erfahrung ein tödliches Erlebnis werden lässt: Nicht die Lava ist es, die man beim Näher kommen hört, sondern deren Opfer, die noch ein letztes Mal auflodern, bevor sie verglühen und dabei ein finales Knistern von sich geben. Daher wird auch die Imagination derjenigen als rein illusionär und töricht vorgestellt, die meinen, sie könnten sich stets in Sicherheit bringen und die Distanz zwischen sich und der Lava wieder schaffen. An der Stelle einer distanzierten Erfahrung steht am Schluss des zitierten Abschnitts ein Tableau umfassender Gewalt, in der dem Menschen kein Platz mehr zugestanden wird. Allein das Spiel der Elemente, das durch die Lava hervorgebracht wird, führt zur vermeintlichen Verbindung von Erde und Himmel und zur Illu-
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Für das Konzept des Erhabenen um 1800 sei exemplarisch verwiesen auf die Arbeiten von Begemann, Christian, „Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58/1984, S. 74-110 und Zelle, Carsten, ‚Angenehmes Grauen‘ Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987 sowie Ders., Die Doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995.
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sion einer Kontinuität, die indes allein dem Göttlichen und eben nicht dem Irdischen vorbehalten ist. Doch wird diese tödliche Illusion, die im Namen erhabener Landschaft präsentiert wird, in eine narrative Repräsentation eingebunden, die diese Präsenzerfahrungen der Figuren bindet und sie zugleich unterläuft. Betrachtet man die gebotene Darstellung, so fällt zunächst auf, dass die Erfahrungen des Erhabenen auch dadurch radikalisiert werden, dass die Distanz aufgehoben und eine reine Präsenz der Darstellung geschaffen wird, die durch ‚la nature n’est plus‘ eingeleitet und den Übergang vom Imparfait zum Présent historique auch grammatikalisch markiert wird. D.h. genauer, dass Corinne und Nelvil auf dem erzählten Bilde selbst stehen, so dass sie ihre Umwelt erleben, als ob ihnen, mit Kleist gesprochen, die Augenlider abgeschnitten wären und sie keine Möglichkeit mehr hätten, ihren Blick abzuwenden. Sie sind der erhabenen Präsenz vollkommen ausgesetzt bis sie in dieser wie ein Strauch in der Lava untergehen und mit einem letzten Funken verglühen. Die erzähltechnische Komplexität der visuellen Präsentation wird vollends deutlich, wenn man sie vom Ende der Darstellung her betrachtet. Dann zeigt sich, dass die beschriebene Situation der Einsamkeit und des Ausgesetztseins durchaus der Realität der Figuren entspricht, da sie in der Tat von ihren Begleitern verlassen wurden, die sich nicht der Lava so weit nähern wollten wie sie.25 Noch bemerkenswerter wird die Beschreibung, wenn man die ersten Worte Corinnes berücksichtigt, da sie deutlich darauf hinweisen, dass die beschriebene Landschaft keineswegs als Darstellung der Erzählinstanz zu lesen sind, sie aber auch nicht eindeutig als interne Fokalisierung zu verstehen sind, da weder Corinne noch Oswald explizit als Urheber der Gedanken und Erfahrungen namhaft gemacht werden.26 So stehen dem Leser Bilder vor Augen, die im Schnittpunkt visueller und narrativer Erhabenheitsdarstellungen eine Präsenz bzw. eine absolute Evidenz hervorbringen. Die mehrfache energetische Aufladung des Bildes, das dem Leser vor Augen steht, schafft so eine reine Präsenz, die für die Figuren indes nicht nur destabilisierend, sondern, wie das
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Mme de Staël, Corinne ou l’Italie: „Un silence profond régnait autour d’Oswald et de Corinne: leurs guides eux-mêmes s’étaient retirés dans l’éloignement; et comme il n’y a prés du cratère ni animal, ni insecte, ni plante, on n’y entendait que le sifflement de la flamme agitée. Néanmoins, un bruit de la ville arriva jusque dans ce lieu; c’était le son des cloche qui se faisait entendre à travers les airs: peut-être célébraient-elles la mort, peut-être annoçaient-elles la naissance; n’importe, elles causèrent une douce émotion aux voyageurs“ S. 338-339. Der Übergang von der vorausgehenden Fokalisierung zur anschließenden Diegese wird durch einen Gedankenstrich markiert, ohne dass indes aufgelöst wird, welcher Figur die Fokalisierung zugeordnet wird. „ – Cher Oswald, dit Corinne, quittons ce désert, redescendons vers les vivants; mon ame est ici mal à l’aise.“ Mme de Staël, Corinne ou l’Italie, S. 339.
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Schlusstableau indiziert, geradezu tödlich ist; auch wenn Corinne und Nelvil diese Situation noch verlassen können, ohne jedoch in ihrer Geschichte wirklich nochmals Fuß zu fassen. Denn nach den erhabenen Landschaftserfahrungen am Vesuv erzählt Corinne ihre Lebensgeschichte Nelvil, innerhalb derer sie auch vom Nein seines Vaters gegen ihre zuvor geplante Hochzeit berichtet. Damit läutet sie den Anfang vom Ende der Liebesgeschichte beider ein, die von der inszenierten Auflösung der Dichterin Corinne und der destabilisierten Position des zur Distanz verpflichteten Zuschauers Nelvil in der finalen Lesungs-Szene des Romans gekrönt wird.27
3. Die Wahlverwandtschaften In Goethes Wahlverwandtschaften wird die imaginativ produzierte Präsenzerfahrung der Figuren im verräumlichten Augen-Blick nochmals radikalisiert, indem der Fokus auf die Epistemologie gelegt wird. Eindrücklich zeigt sich dies zum einen im berühmten ‚doppelten Ehebruch‘ der Protagonisten Eduard und Charlotte, und zum anderen in dessen romaninternen Kontrapunkt, dem finalen Aufeinandertreffen von Eduard und Ottilie, da beide aus dem Zusammenspiel von Raum, Imagination und Subjekt Augen-Blicke besonderer Art erzeugen. Doch wird der Roman von Anfang an von dieser Konfiguration geprägt, was sich etwa am Beginn des ersten Kapitels in der Mooshütten-Szene28 oder im zweiten Kapitel in der
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Im letzten Kapitel des Romans, das den Titel Dernier Chant de Corinne trägt, wird der letzte öffentliche Vortrag eines Textes von Corinne beschrieben, wodurch zum einen ein deutlicher Gegensatz zum Anfang des Romans gesetzt wird und zum anderen das endgültige Verstummen Corinnes eingeleitet wird: War Corinne am Beginn des Romans eine Dichterin, die instantan ihre Poesie vortrug, mithin sie selbst in der Performanz allererst produzierte, so wird sie am Ende des Romans als Dichterin dargestellt, deren verschriftlichter, mithin fixierter Text von einer Dritten vorgetragen wird, wodurch sie erstens ihrer dichterischen Stimme verlustig und zweitens das mediale Bindeglied zwischen ihr und Nelvil verloren geht. Siehe hierzu auch: „Ainsi finit le dernier chant de Corinne. La salle retentit d’un triste et profond murmure d’applaudissements. Lord Nelvil, ne pouvant soutenir la violence de son émotion, perdit entièrement connaissance. Corinne en le voyant dans cet état voulut aller vers lui; mais ses forces lui manquèrent au moment où elle essayait de se lever: on la rapporta chez elle; et depuis ce moment il n’y eut plus d’espoir de la sauver.“ Mme de Staël, Corinne ou l’Italie, S. 584. „An der Türe empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergestalt niedersitzen, daß er durch Tür und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick übersehen konnte. Er freute sich daran in Hoffnung, daß der Frühling bald alles noch reichlicher beleben würde. ‚Nur eines habe ich zu erinnern,‘ setzte er hinzu, ‚die Hütte scheint mir etwas zu eng‘.“ Goethe, Wahlverwandtschaften, S. 8. In dieser einleitenden Szene wird das für die Aufklärung paradigmatische Modell der Rahmenschau aufgerufen und zugleich subtil von Eduard verabschiedet, der die damit verbun-
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Beschreibung des Kirchhofs zeigt, von dem es heißt: sie, d.h. Charlotte hatte „alles so zu vergleichen und zu ordnen gewusst, dass es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten“.29 Zunächst zur Episode des doppelten Ehebruchs, der bekanntlich die Ankunft des Grafen und der Baronesse auf dem Schlosse vorausgeht, die auf dem Weg zum gemeinsamen Badeaufenthalt bei den Freunden einkehren und dabei die weitere Handlung katalysatorisch in Bewegung setzen. Nach dem gemeinsamen Abendessen und dem anschließenden Gespräch der Männer bittet der Graf Eduard, ihm den Weg zur Baronesse zu zeigen, damit er sich dort noch ein wenig unterhalten könne. Eduard geleitet den Freund daraufhin zu dessen Geliebter und übergibt ihn dort der Wartenden.30 Er selbst bleibt hingegen in einem dunklen Raum zurück und lauscht dort den Worten Charlottes, die vom Nebenzimmer zu ihm dringen. So hört er Charlottes Worte, dass Ottilie noch schreibe, woraufhin sich seine Gedanken ganz um Ottilie drehen, doch wendet er sich von einer „sonderbaren Verwechslung“, d.h. genauer: von einer raum- und subjektergreifenden Imagination getrieben dem Zimmer seiner Gattin zu, um dort Einlass zu erhalten: Eduard hörte mit Entzücken, daß Ottilie noch schreibe. ‚Sie beschäftigt sich für mich!‘ dachte er triumphierend. Durch die Finsternis ganz in sich selbst eingeengt, sah er sie [i.e. Ottilie] sitzen, schreiben; er glaubte zu ihr zu treten, sie zu sehen, wie sie sich nach ihm umkehrte; er fühlte ein unüberwindliches Verlangen, ihr noch einmal nahe zu sein. Von hier aus aber war kein Weg in das Halbgeschoß, wo sie wohnte. Nun fand er sich unmittelbar an seiner Frauen Türe, eine sonderbare Verwechslung ging in seiner Seele vor; er suchte die Türe aufzudrehen, er fand sie verschlossen, er pochte leise an, Charlotte hörte nicht.31
In der Dunkelheit des Raums, „ganz in sich selbst eingeengt“, agiert Eduards Einbildungskraft derart, dass sie ihm nicht nur Ottilie präsent vor Augen stellt, sondern auch noch erotisch aufgeladene Verheißungen vorspielt, so dass er von ihr geradezu zu seiner weiteren Handlung angetrieben wird. Allein die räumliche Unmöglichkeit, direkt zu Ottilie zu gelan-
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dene Enge bzw. genauer: Einengung reklamiert und an deren Stelle eine größere Weite bzw. eine Erweiterung anstrebt. Eben diese Erweiterung, die zunächst das Hinzukommen des Hauptmanns und Ottilies betrifft, initialisiert dann die weitere Erzählung. Zur Rahmenschau siehe die klassische Studie von Langen, August, Anschauungsformen in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus, 2. Aufl., Darmstadt 1965. Goethe, Wahlverwandtschaften, S. 19. „Sie erstiegen eine Wendeltreppe, oben auf einem engen Ruheplatz deutete Eduard dem Grafen, dem er das Licht an die Hand gab, nach einer Tapetentür, die beim ersten Versuch sogleich sich öffnete, den Grafen aufnahm und Eduard in dem dunklen Gang zurückließ.“ Goethe, Wahlverwandtschaften, S. 84. Ebd., S. 84.
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gen, verbunden mit der räumlichen Nähe zum Zimmer seiner Frau führt dazu, dass eine Überlagerung von Raum- und Realitätsordnung durch die Imagination produziert wird, die bewirkt, dass Eduard auf der Suche nach Ottilie an Charlottes Tür klopft. Aus seiner Verwechslung resultiert dann eine weitere Nivellierung von Realität und Begehren, die in der Produktion einer neuen, illusionären Realität mündet. Diese neue, rein imaginative Realität produziert dann einen besonderen, fruchtbaren Augen-Blick, in dem Charlotte und Eduard sich miteinander in jenem Akt vereinigen, von dem Otto zeugen wird und der zugleich Ausdruck ihrer imaginativen Zeugungsfähigkeit ist: In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotte schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander.32
Dieser Zeugungsakt kann in doppelter Hinsicht als ‚prägnanter Augenblick‘ gefasst werden: Der Augenblick der Zeugung wird von der Erzählstimme als ein fruchtbarer Augenblick stilisiert, der zu gleichen Teilen einen imaginativen Überschuss wie ein reales Produkt hervorbringt. Damit es dazu jedoch kommen kann, bedarf es einer räumlichen Konfiguration, die sowohl epistemologisch als auch medial höchst aussagekräftig ist, da sie allererst den doppelten Augen-Blick hervortreibt: der dunkle Raum.33 Denn dieser dunkle Raum fungiert innerhalb der Erzählung als epistemologische Metapher bzw. genauer: epistemologische Metonymie, steht er doch zugleich für die reale Dunkelheit zunächst des Gangs und dann der Kammer als auch für das Medium der Camera obscura, der dunklen Kammer, ein, deren Betrachtertechnik hier aufgerufen wird.34 Gleichwohl ist zu bemerken, dass die Camera obscura hier nicht mehr, wie im 18. Jahrhundert für eine transparente Repräsentation einsteht, die eine stabile Subjekt-Objekt-Relation garantiert, sondern auf einen epistemischen Bruch verweist, der eine neue Epistemologie, mithin das Modell des ‚sub-
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Goethe, Wahlverwandtschaften, S. 86. „Sie erstiegen eine Wendeltreppe; oben auf einem engen Ruheplatz deutete Eduard dem Grafen, dem er das Licht in die Hand gab, nach einer Tapetentür rechts, die beim ersten Versuch sogleich sich öffnete, den Grafen aufnahm und Eduard in dem dunklen Gang zurückließ.“ Ebd., S. 84. Zum Begriff der ‚epistemologischen Metapher‘ siehe Eco, Umberto, Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1973, S. 160-168. Zur Technik der Camera obscura siehe exemplarisch Hammond, John J., The Camera obscura. A Chronicle, Bristol 1981, Hick, Ulrike, Geschichte der optischen Medien, München 1999 und Lefèvre, Wolfgang (Hg.), Inside the Camera Obscura – Optics and Art under the Spell of the Projected Image, Berlin 2007 (Preprint 333 des MPIWG).
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jektiven Sehens‘ verkündet.35 Denn erst der dunkle Raum affiziert Eduards Imagination, da er ihm den imaginativ auszufüllenden Freiraum bietet, den sein subjektives Begehren sucht und auch findet. Die mehrfachen Verwechslungen, die der Imagination entspringen, zeigen sich dann sowohl in der Verkehrung der Raumordnung als auch in der imaginativen Überblendung des jeweils Anderen: Im verräumlichten Augen-Blick hält Eduard zwar Charlotte in seinen Armen, vermeint aber bei Ottilie zu liegen, wie auch Charlotte in Eduards Armen liegend in Gedanken ganz beim Hauptmann ist. In den Wahlverwandtschaften markiert der verräumlichte Augen-Blick einerseits ein Kippphänomen, das in der Erzählung jene imaginativ aufgeladene und damit visualisierte Präsenzerfahrung produziert, die eine Stillstellung im Tableau hervorbringt. Andererseits präpariert der Augen-Blick auch die jeder Stillstellung innewohnende Mortifikation, die sich am Ausgang des doppelten Ehebruchs, dem Treffen zwischen Eduard und Ottilie sowie dem Tod von Otto zeigt. Das Treffen zwischen beiden findet an dem Tag statt, an dem nach Eduards Ansicht alle alten Beziehungen aufgehoben und durch neue ersetzt werden sollen, was jedoch nicht geschieht und durch den Tod Ottos für alle Zeit unmöglich wird. In dieser Szene treten die narrativen Visualisierungsstrategien des Romans deutlich vor Augen und zeugen erneut von der gestaltenden Kraft des verräumlichten Augen-Blicks. Nachdem Eduard den Hauptmann zu Charlotte gesendet hat, um mit dieser über die Auflösung der Ehe zu verhandeln, wird er wieder einmal von seinem Begehren fortgetragen und macht sich auf die Suche nach Ottilie, die er beim Spaziergang im Park weiß. Dabei kommt es zu einer narrativen Visualisierung in der Erzählung, die durch einen doppelten Präsenzeffekt stilistisch bzw. genauer: erzähltechnisch hervorgehoben wird: Eduard, dem es bisher gelungen war, unbemerkt so weit vorzudringen, der seinen Park leer, die Gegend einsam fand, wagte sich immer weiter. Endlich bricht er durch das Gebüsch bei den Eichen, er sieht Ottilien, sie ihn: er fliegt auf sie zu und liegt
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Zum Konzept der Betrachtertechniken sowie dem Übergang vom Aufklärungs-Paradigma der ‚Camera obscura‘ zum moderne Paradigma des ‚subjektiven Sehens‘ siehe grundlegend Crary, Jonathan, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996. Die Bedeutung von Crarys Studie wird nicht zuletzt an der Intensität kritischer Lektüren deutlich, die zu vielen Präzisierungen und mitunter auch Relativierungen der klar konturierten, gelegentlich aber auch rigiden Struktur des Craryschen Konzepts geführt haben. Verwiesen sei hierfür exemplarisch auf die Arbeiten von Fiorentini, Erna (Hg.), Camera obscura vs. Camera lucida. Distinguishing Early Nineteenth Century Modes of Seeing, Berlin 2006, (Preprint 307 des MPIWG), dies. (Hg.), Observing Nature – Representing Experience. The Osmotic Dynamics of Romanticism 1800-1850, Berlin 2007 und dies., Prismatisches Sehen. Die Camera lucida als Metapher des Visuellen im frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2009.
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zu ihren Füßen. Nach einer langen, stummen Pause, in der sich beide zu fassen suchen, erklärt er ihr mit wenigen Worten, warum und wie er hierher gekommen. Er habe den Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schicksal werde vielleicht in diesem Augenblick entschieden. Nie habe er an ihrer Liebe gezweifelt, sie gewiß auch nie an der seinigen. Er bitte sie um ihre Einwilligung. Sie zauderte, er beschwur sie; er wollte seine alten Rechte geltend machen und sie in seine Arme schließen; sie deutete auf das Kind hin. Eduard erblickt es und staunt. „Großer Gott!“ ruft er aus, „wenn ich Ursache hätte, an meiner Frau, an meinem Freunde zu zweifeln, so würde diese Gestalt fürchterlich gegen sie zeugen. Ist dies nicht die Bildung des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen.“ „Nicht doch!“ versetzte Ottilie; „alle Welt sagt, es gleiche mir.“ – „Wär es möglich?“ versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das Kind die Augen auf, zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich. Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu kennen, die vor ihm standen.36
Die narrativen Visualisierungstrategien produzieren hier nur allzu deutlich eine räumliche Präsenz der Darstellung, indem sie die Darstellung im doppelten Sinne präsentisch vor Augen stellen. Dies wird bereits auf der Ebene der Grammatik sowohl anhand der Syntax als auch der verwendeten Tempora deutlich. Betrachtet man den ersten der zitierten Sätze, so erkennt man, dass hier die Erzählstimme das Präteritum für die Beschreibung der Handlung verwendet. Ab dem zweiten Satz findet sich jedoch ein Wechsel vom Präteritum zum historischen Präsens, wodurch die Handlung nicht mehr als vergangen, sondern als präsent vorgestellt wird.37 Hinzu kommt der Wechsel von einem vorwiegend hypotaktischen zu
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Goethe, Wahlverwandtschaften, S. 219 f. (Meine Hervorhebungen). Johann Christoph Adelung, der maßgebliche Grammatiker der deutschen Spätaufklärung, hebt in seinen Schriften die Funktion des historischen Präsens als Verfahren zur Steigerung der ‚Lebhaftigkeit‘ des Stils bzw. als Modus der so genannten ‚malenden Poesie‘ eigens hervor, insofern dieses Tempus eine spezifische narrative Visualisierung produziere. Siehe hierzu Adelung, Johann Christoph, „Eine höhere Art des Gebrauchs wird von dieser Figur [i.e. des historischen Präsens] in der pathetischen Schreibart gemacht, wenn man eine begebenheit mit einer im hohen Grade erwärmten Einbildungskraft und Empfindung erzählet, und diesen Grad der Täuschung seinen Lesern und Zuhörern beybringen will.“ In: Ders., Über den deutschen Styl, Kap. 9. Von der Lebhaftigkeit, IX Darstellung eines abwesendes Dinges als gegenwärtig, I. Gebrauch des Präsentis anstatt des Präteriti, § 101-103, Berlin 1785 (Nachdruck Hildesheim/New York 1974), I, S. 443-447, hier § 102, S. 445. Siehe ebenfalls Adelungs Erläuterung zum Gebrauch des historischen Präsens: „Welche Form doch theils der vertraulichen, theils der mahlerischen und dichterischen Erzählungsart angemessen ist, als der ernsthaften historischen, welche auf keine Weise täuschen muß.“ In: Ders., Deutsche Sprachlehre. Zum Gebrauch der Schulen in den königl. Landen, 1. Theil, 4. Abschnitt, Syntax, § 674, Berlin 1781 (Nachdruck Hildesheim/New York 1977), S. 443. Zu Adelung als Theoretiker dichterischer ‚Lebhaftigkeit‘ siehe zudem Campe, Rüdiger, „Vor Augen stellen: Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“. In: Neumann, Gerhard (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 1997, S. 208-225.
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einem parataktischen Satzbau, der gleichfalls den Präsenzeffekt der Darstellung verstärkt. Unterstützt wird diese Präsenzgestaltung durch die Hervorhebung des Augenblicks im letzten zitierten Absatz, der sowohl das Zeitmaß als auch den realen Blickkontakt bezeichnet. Des Weiteren tritt ein Moment hervor, das die eigentliche Potenz des Augenblicks konkretisiert, indem es auf den biblischen Zusammenhang von Menschwerdung, Zeugung und Augenblick in dieser Szenerie als Augen-Blick en miniature abhebt. Denn Ottilie deutet auf den Knaben Otto, in dem Moment, als Eduard seine ‚alten Rechte‘ einfordert, um ihn an dessen reale alte Rechte zu erinnern, da Otto leibhaftig für die Zeugung durch Charlotte und Eduard einsteht. Doch zeugt er eben auch von dem doppelten Ehebruch Charlottes und Eduards, der dieser Zeugung vorausgegangen ist und sie begleitet hat: Sieht doch Eduard in der Gestalt des Knaben den Hauptmann wieder und erkennt in dem Augenblick, als der Knabe die Augen öffnet, Ottilie im Knaben.38 Doch befördert dieser mehrfache Augenblick keine Erkenntnis mehr, vielmehr steht er allein für dessen ästhetische Prägnanz ein, die keine Auflösung mehr auf der Ebene der Handlung kennen wird. Denn aus dem gemeinsamen Augenblick resultiert Ottilies Bitte an Eduard, sie zu verlassen, um selbst zum Schloss zurückzukehren. Und nur wenige Momente später, stirbt Otto in einem wiederum narrativ ausgestalteten Augenblick, so dass am Ende der Liebesgeschichte statt der Vivifikation die Mortifikation steht und statt der Erkenntnis des Anderen als Komplement die Erkenntnis des Anderen als Anderen, der so distanziert ist, dass ein unüberbrückbarer Raum zwischen beiden steht.39
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Diese mehrfache Bindung der Protagonisten, die bereits auf der Ebene der Namen vorhanden ist, und die sie in ein geradezu abgründiges Verhältnis zueinander setzt, hat besonders Heinz Schlaffer herausgearbeitet. Siehe Schlaffer, Heinz, „Namen und Buchstaben in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“. In: Bolz, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 211-229. Die mehrfache Prägung Ottos durch die Einbildungskraft Charlottes rekurriert auf das um 1800 letztmals intensiv diskutierte Konzept des so genannten ‚Versehens der Mütter‘, das in den imaginationistischen Theoriebildungen behauptet wurde. Siehe hierzu exemplarisch Hagner, Michael, „Enlightened Monsters“. In: William Clark/Jan Golinski/Simon Schaffer (Hgg.), The Sciences in Enlightened Europe, Chicago/London 1999, S. 175-217. Diese Doppelung von Vivifikation und Mortifikation im Augenblick nach dem Tod Ottos wird von der Erzählstimme eindrücklich hervorgehoben und durch die durchgängige Beschreibung im Tempus des historischen Präsens nochmals verstärkt: „In dem Augenblicke kehrt ihre [i.e. Ottiliens] ganze Besonnenheit zurück, aber um desto größer ist ihr Schmerz. Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das Ruder schwimmt fern, sie erblickt niemanden am Ufer, und auch was hätte es ihr geholfen, jemanden zu sehen! Von allem abgesondert schwebt sie auf dem treulosen, unzugänglichen Elemente. Sie sucht Hilfe bei sich selbst. So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehört. Noch am Abend ihres Geburtstages hatte sie es erlebt. Sie entkleidet das Kind und trocknets mit ihrem Musselingewand. Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum erstenmal dem freien Himmel; zum erstenmal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust, ach! Und kein Lebendiges. Die
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Im verräumlichten Augen-Blick wird dem Leser folglich sowohl in Corinne als auch in den Wahlverwandtschaften narrativ ein Raum vor Augen gestellt, in dem sich die Figuren zu finden streben, auch wenn bzw. gerade weil dieser Raum keineswegs ein natürlicher Raum, sondern ein jeweils kulturell überformter Raum ist: Es sei der des Theaters, der Landschaft bzw. des Parks, oder aber der dunkle Raum, der nur allzu deutlich von der dunklen Kammer kündet. In ihnen versucht das Subjekt sich zu verorten, doch kann es nur imaginativ seine Position im Raum finden, da es erkennen muss, dass jeder Raum nur als quasi phänomenologisch konstituierter Raum existiert, in dem zwar die Imagination und das Begehren sich entfalten können, jedoch dem Subjekt gerade dadurch kein Halt geboten wird. Die in den Narrationen gestaltete Präsenzerfahrung ist demnach vorzugsweise eine narrativ allererst hervorgebrachte, visualisierte Präsenzdarstellung, die sich im Raum ausfaltet. Doch zeigen die beiden Romane auch und vielleicht nur allzu deutlich, dass die neuen verräumlichten AugenBlicke letztlich vor allem eins versinnbildlichen, nämlich die tödliche Erfahrung des Subjekts im Angesicht einer umfassenden Beschleunigung, die keine wirkliche Stillstellung mehr zulässt, sondern nur ein mortales Stillehalten kennt.
Bibliografie 1. Quellen
Adelung, Johann Christoph: Über den deutschen Styl, Berlin 1785 (Nachdruck Hildesheim/New York 1974). –: Deutsche Sprachlehre. Zum Gebrauch der Schulen in den königl. Landen, Berlin 1781 (Nachdruck Hildesheim/New York 1977). Bonstetten, Karl Viktor von: Philosophie 1804-1831, hg. v. Doris Walser-Wilhelm/ Peter Walser-Wilhelm, Göttingen 2006. Mme de Staël: Corinne ou l’Italie, édition présentée, établie et annotée par Simone Balayé, Paris/Gallimard 1985.
_____________ kalten Glieder des unglücklichen Geschöpfs verkälten ihren Busen bis ins innerste Herz. Unendliche Tränen entquellen ihren Augen und erteilen der Oberfläche des Erstarrten einen Schein von Wärme und Leben. Sie läßt nicht nach, sie überhüllt es mit ihrem Schal, und durch Streicheln, Andrücken, Anhauchen, Küssen, Tränen glaubt sie jene Hilfsmittel zu ersetzen, die ihr in dieser Abgeschnittenheit versagt sind.“ Goethe, Wahlverwandtschaften, S. 222.
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Goethe, Johann Wolfgang: „Die Wahlverwandtschaften“, hg. v. Erich Trunz, München 1980.
2. Forschungsliteratur
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Kunstdiskurse
Anschauung oder Lektüre? Philipp Otto Runges Kommentar-Projekt zu den ‚Zeiten‘ und die Schwierigkeiten der Kunstgeschichte mit der Kunst der Romantik∗ CHRISTIAN SCHOLL Als sich die Künstler Friedrich Overbeck, Franz Pforr, Ludwig Vogel, Johann Conrad Hottinger, Joseph Wintergerst und Joseph Sutter im Jahre 1809 zum Lukasbund zusammenschlossen, wählten sie für ihr Signet ein naheliegendes Motiv: den heiligen Lukas, der einer Legende zufolge die Gottesmutter Maria gemalt haben soll und daher traditionell als Schutzpatron der Maler gilt.1 Auf dem von Friedrich Overbeck geschaffenen Holzschnitt weisen Attribute wie der Stier und die Staffelei die dargestellte Person ikonographisch eindeutig aus. Bemerkenswert ist allerdings, dass der heilige Lukas bei Overbeck nicht malt, sondern schreibt. Er hat das Bild der Maria samt Palette und den Pinseln hinter seinen Schemel gestellt und schreibt offensichtlich an seinem Evangelium. Bedenkt man die Funktion dieses Signets als Zeichen für einen Malerbund, so erscheint dies geradezu als eine Entsagung. Dabei handelt es sich nicht um einen Einzelfall. So sitzt im Zentrum von Overbecks 1829-40 gemalten Programmbild Der Triumph der Religion in den Künsten2 Maria mit dem Kind, die dabei ist, das „Magnificat“ niederzuschreiben. Sie soll hier das „Centrum aller Künste“ repräsentieren, und dies war nach Aussage des Künstlers keineswegs die Malerei, sondern vielmehr die Poesie:
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Dieser Beitrag beruht zum Teil auf Ergebnissen der vom Verfasser geleiteten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Emmy Noether-Gruppe Romantikrezeption, Autonomieästhetik und Kunstgeschichte am Kunstgeschichtlichen Seminar der GeorgAugust-Universität Göttingen. Mein herzlicher Dank gilt meinen Mitarbeitern, Dr. Kerstin Schwedes und Reinhard Spiekermann. Lechner, Gregor Martin, „Lukas Evangelist“. In: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 7, begründet von E. Kirschbaum u. hg. v. Wolfgang Braunfels, Rom/Freiburg/Basel/Wien 1994, Sp. 448-464. Öl auf Leinwand, 392 x 392 cm, Frankfurt/M., Städelsches Kunstinstitut.
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Christian Scholl
Die Poesie aber erscheint in der Mitte durch die hl. Jungfrau selbst, die jenen erhabenen Lobgesang niederschreibt, vertreten; indem die Poesie Centrum aller Künste ist, wie das Geheimniß der Menschwerdung Gottes aus der Jungfrau Centrum aller religiösen Ideen ist.3
Was Overbeck hier umsetzt, lässt sich durchaus als ein spezifisch romantisches Konzept verstehen.4 So ist Poesie als romantische Leitkunst ein zentrales Thema in Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie von 1800. Auf die Frage der Amalia im Gespräch, ob denn alles Poesie sei, antwortet Lothario: „Jede Kunst und jede Wissenschaft die durch die Rede wirkt, wenn sie als Kunst um ihrer selbst willen geübt wird, und wenn sie den höchsten Gipfel erreicht, erscheint als Poesie.“ Und der ebenfalls am Gespräch beteiligte Ludoviko ergänzt: „Und jede, die auch nicht in den Worten der Sprache ihr Wesen treibt, hat einen unsichtbaren Geist, und der ist Poesie.“5 Poesie erscheint hier gleichsam als Essenz für das Künstlerische schlechthin. Was im Medium der Sprache metaphorisch genommen werden kann, führte bei seiner Übertragung auf den Bereich der bildenden Kunst allerdings zu Problemen. Vor dem Hintergrund der in Gotthold Ephraim Lessings Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766 thematisierten Differenzen zwischen den Künsten und Medien implizierte es zahlreiche Grenz- und Regelverletzungen.6 Man kann dies etwa am Beispiel von Caspar David Friedrich belegen, der in den Augen der Zeitgenossen die Tragfähigkeit der Gattung Landschaft mit seinen allegorischen Bildinhalten regelrecht überforderte. Dementsprechend wurde sein künstlerisches Vorgehen teils lobend, überwiegend jedoch kritisch als „poetisch“ oder „dichterisch“ charakterisiert.7
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Overbeck, Friedrich, Der Triumph der Religion in den Künsten, zitiert n. Howitt, Margaret, Friedrich Overbeck. Sein Leben und Schaffen. Nachdruck der Ausgabe der Herder’schen Verlagsbuchhandlung, Freiburg 1886, Bern 1971, Bd. 2, S. 62. Vgl. hierzu auch Heise, Brigitte, Johann Friedrich Overbeck. Das künstlerische Werk und seine literarischen und autobiographischen Quellen. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 232. Vgl. auch Heise, Johann Friedrich Overbeck, S. 232 f.; Grewe, Cordula, „Beyond Hegel’s End of Art: Schadow’s Mignon and the Religious Project of Late Romanticism“. In: Modern Intellectual History 1,2/2004, S. 185-217; Scholl, Christian, Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst. Studien zur Bedeutungsgebung bei Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich und den Nazarenern. München, Berlin 2007, S. 233-250. Schlegel, Friedrich, „Gespräch über die Poesie“. In: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Dritten Bandes Erstes Stück, 1800. Reprographischer Nachdruck, Darmstadt 1992, S. 87. Lessing, Gotthold Ephraim, „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“. In: Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. V/2, hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt/M. 1990, S. 11-321. Vgl. etwa die anonyme Rezension: „Über die Dresdener Kunstausstellung im Herbst 1822“, in: Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode [1822]. Zitiert nach: BörschSupan, Helmut/Jähnig, Karl Wilhelm, Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und
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Andere Künstler verknüpften auf noch direktere Weise Bildkunst und Sprachkunst. Zu ihnen gehört der Maler und Zeichner, dem dieser Beitrag gewidmet sein soll, und der wohl das komplexeste romantische Programm im Bereich der bildenden Kunst entwickelt und verfolgt hat: Philipp Otto Runge. Am Beispiel von Runges Strategien, Dichtung in den Konzeptions-, Mal- und Rezeptionsprozess seiner Bilder einzubeziehen, soll im Folgenden deutlich gemacht werden, wie direkt bildende Künstler die romantische Vorstellung von Poesie als Leitkunst mitunter umgesetzt haben. Dabei lässt sich zeigen, dass diese Direktheit gerade im Falle Runges sogar Schriftsteller der Romantik irritiert hat und dass sie auch die Kunstgeschichtsschreibung, die sich um 1900 verstärkt um eine Kanonisierung romantischer Malerei bemühte, vor gravierende Probleme stellte. Der folgende Beitrag schlägt somit eine Brücke vom transmedialen Kunstkonzept Runges zu dessen Rezeption an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Bei Runge trifft man in allen Stadien des Werkprozesses immer wieder auf eine Auseinandersetzung mit Dichtung. So sind einige seiner Hauptwerke direkt von Gedichten angeregt. Das ab 1801 konzipierte, 1802-3 gemalte Bild Die Lehrstunde der Nachtigall bezieht sich auf eine Ode Friedrich Gottlieb Klopstocks.8 Die schon ab 1797 entwickelte Bildidee zum
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bildmäßige Zeichnungen, München 1973, S. 95: „Unser poetischer Friedrich steht dem Wahrheitskünstler Dahl gegenüber. So sehr wir sein Gemählde gewöhnlich lieben, so möchten wir doch dieß mal fragen: ‚sind denn dies wirklich noch Landschaften, oder was ist es? Seine Kunst streift ganz das Gebiet der Dichtung; einer Seits ist dieß schön und bildet eine ihm eigne Bahn; doch die Grenzen malerischer Wirkung sind nicht zu überschreiten, Gesetzlosigkeit taugt hier wie überall nichts. […]‘“ Vgl. hierzu: Scholl, Christian, „Caspar David Friedrich als Dichter“. In: Umění XLIX/2001, S. 426-436. Vgl. Traeger, Jörg, Philipp Otto Runge und sein Werk. Monographie und kritischer Katalog. München 1975, S. 330-336. Schon in der ersten Erwähnung des Projektes in einem Brief an Conrad Christian August Böhndel vom 7. November 1801 heißt es: „Von einem Stücke, welches ich dieser Tage entworfen, findest du hierin eine kleine Skizze. Der Gedanke ist eine Nachtigal, die ihre Jungen singen lehrt, nach Klopstock.“ (Runge, Philipp Otto, Hinterlassene Schriften, hg. v. dessen ältestem Bruder. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 18401841, Göttingen 1965, Bd. 1, S. 223). In einem Brief vom 4. April 1802 schreibt Runge seinem Bruder Daniel: „Sey doch so gut, wenn du mir schreibst, schicke mir die Ode von Klopstock, wo die Nachtigal ihr Junges singen lehrt; ich denke diese Composition so bald als möglich und so fleißig wie möglich auszuführen […].“ (Ebd., Bd. 2, S. 123; gemeint ist die Ode Die Lehrstunde). Allerdings bietet Klopstocks Text nur einen Impuls und keine dauerhafte Grundlage. So heißt es in einem Brief vom 4. August 1802 an den Bruder Daniel: „Ich bin mit Klopstock’s Idee nur da ganz zufrieden, wo die Orphea (wie oben) singt, das übrige gehört eigentlich nicht hinein, oder müsste wenigstens nicht so deutlich seyn.“ (Ebd., Bd. 1, S. 223 f.). Damit wird ein Grundproblem romantischer Kunst berührt: das Auswägen zwischen Deutlichkeit und Undeutlichkeit. Runges 1802-03 entstandenes Gemälde Die Lehrstunde der Nachtigall ist 1931 im Münchner Glaspalast verbrannt. Eine zweite Fassung von 1804-05 (Öl auf Leinwand, 104,7 x 85,5 cm, Hamburg, Kunsthalle) trägt auf dem ovalen Binnenrahmen die Umschrift „Flöten mußt du, bald mit immer stärkerem Lau-
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Triumph des Amor rekurriert auf ein Gedicht von Johann Gottfried Herder.9 Die Verbindungen mit der Poesie gehen aber noch darüber hinaus. In einem Brief an seinen Vater vom 27. Januar 1802, der sich auf den Triumph des Amor bezieht, vergleicht Runge sein eigenes Verfahren zunächst einmal metaphorisch mit dem eines Dichters. Er sendet eine Kreideskizze an den Adressaten und kommentiert diese folgendermaßen: Sie können hier bloß den allgemeinen Gedanken sehen, der natürlich vorangehen muß, ehe die Wörter oder schönen Buchstaben kommen, womit er geschrieben wird, und diese sollen bey unser einem die schönen Figuren seyn. Ich muß Ihnen nun zwar den Gedanken noch etwas weiter erklären und Sie sind so gut und nehmen es nicht so genau, wenn ich das durch beyliegendes Blatt nicht so ganz in Prosa thun konnte. Die ganze Composition ist keine Prosa, und so entstand während dem ersten Entwurf diese poetische Skizze meiner Gedanken ebenfalls.10
Letzteres bezieht sich nun nicht mehr auf die gezeichnete Skizze, sondern auf einen geschriebenen Text. Runge berichtet, dass er nicht nur im übertragenen Sinne poetisch gemalt, sondern neben dem Malen tatsächlich mit Worten gedichtet hat. Dabei erklärt er auch die Funktion dieses Dichtens: Es ist so nothwendig dazu, eine Sache ganz aus einem Stücke zu machen, daß man sich auf alle Fälle bis auf den lezten Pinselstrich die poetische Wuth der ersten Begeisterung lebendig erhalte, und thut man dieses nicht schriftlich, so kommt man hernach leicht auf andre Gedanken, und jene, welche dem Werke doch eigentlich zum Grunde liegen sollen, gehen verloren.11
Das Schreiben soll demnach den künstlerischen Furor für die Dauer des Malprozesses sichern. Besonders auffällig ist, wie Runge diesen mit den zugrunde liegenden „Gedanken“ in Verbindung bringt. Der hier entwickelte, keineswegs selbstverständliche Zusammenhang ist für ein Verständnis von Runges Kunstkonzept überaus bedeutsam. Dabei überrascht, dass es vom Ansatz her durchaus um eine sprachlich fassbare Gedanklichkeit geht: Das Poetische ist bei Runge also nicht unbedingt ein Unsagbares.
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te, Bald mit leiserem, bis sich verlieren die Töne; Schmettern dann, daß es die Winkel des Waldes durchrauscht; Flöten, flöten, bis sich bey den Rosenknospen Verlieren die Töne.“ Dabei handelt es sich um die Worte der Nachtigallenkönigin Orphea, welche die Nachtigallenmutter ihrem Kind als Anweisung zum Singen mitteilt. Vgl. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Oden. Mit Unterstützung des Klopstockvereins in Quedlinburg hg. v. Franz Muncker/Jaro Pawel, Bd. 2, Stuttgart 1889, S. 4-6. Vgl. Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, S. 279. Es handelt sich um ein Gedicht, das 1796 in Friedrich Schillers Musenalmanach erschien: „Liebe, dich trägt ein Wagen, von Schmetterlingen gezogen/Und du regierst sie sanft, spielend die Leyer dazu!/Gütiger Gott, laß nie, laß nie die Fessel sie fühlen;/Unter melodischem Klang fliegen sie willig und froh“ (zitiert nach: ebd.). Philipp Otto Runge an seinen Vater, den 27. Januar 1802. Zitiert nach Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 219. Ebd.
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Nun taucht bei Runge Poesie als Dichtung auch noch auf einer weiteren Ebene auf: nämlich da, wo es um die Steuerung der Bildrezeption geht. In den Jahren 1802-03 entstand das ambitionierteste und bedeutendste Werk des Künstlers, der vierteilige graphische Zyklus der Zeiten, der mit seinem komplexen Gefüge von Arabesken den Wechsel der Tages-, Jahres- und Weltzeiten allegorisiert.12 Zu diesem Zyklus plante Runge einen poetischen Kommentar, den Ludwig Tieck verfassen sollte. Mit dem Triumph des Amor hatte er die Freundschaft Tiecks errungen.13 Im Frühjahr 1803 reiste er zu dem Dichter nach Ziebingen, um ihm die Vorzeichnungen für die Zeiten zu präsentieren und das Kommentarprojekt zu besprechen. Schon im Vorfeld der Reise berichtet er in einem Brief vom 22. Februar 1803 an seinen Bruder Daniel über das anspruchsvolle Projekt, das Malerei, Dichtung, Musik und Architektur zusammenführen sollte: Montag Morgen gleich nach dem Ball, denke ich, werde ich wohl mit der Alberti zu Tieck’s nach Ziebingen abreisen. Ich denke da recht etwas zu Stande zu bringen und du sollst eine ordentliche Reisebeschreibung davon haben. Ich habe noch Sachen im Kopf, ich sage nur soviel: – Salz! Meine vier Bilder, das ganze Große davon und was daraus entstehen kann: kurz, wenn sich das erst entwickelt, es wird eine abstracte mahlerische phantastisch-musikalische Dichtung mit Chö-
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Zu Runges Zeiten vgl. u.a. Waetzoldt, Stephan, Philipp Otto Runges ‚Vier Zeiten‘, Phil. Diss. Hamburg 1951; Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, S. 46-56 und S. 343-363; Hohl, Hanna, „Das Universum der Zeiten“. In: Werner Hofmann (Hg.), Runge in seiner Zeit, München 1977, S. 188-203; Scheel, Heike, Die erlösende Kraft des Lichts. Philipp Otto Runges Botschaft in den vier Blättern der ‚Zeiten‘, Bern/Berlin/Frankfurt/M./New York/Paris/Wien 1993; Haas, Anette, „Von einem der ‚Leimruthen‘ auslegt: aber in aller Ehrlichkeit. Über einen Aspekt der ‚Zeiten‘ Philipp Otto Runges“. In: Carolin Bahr/Gora Jain (Hgg.), Zwischen Askese und Sinnlichkeit. Festschrift für Norbert Werner zum 60. Geburtstag. Gießener Beiträge zur Kunstgeschichte 10/1997, Dettelbach 1997, S. 126-140; Hohl, Hanna, Philipp Otto Runge. Die Zeiten – Der Morgen, Hamburg 1997; Littlejohns, Richard, „Philipp Otto Runge’s Tageszeiten and their Relationship to Romantic Nature Philosophy“. In: Studies in Romanticism 42/2003, S. 55-74; Dickel, Hans, „Diesseits der Ikonographie. Philipp Otto Runges ‚Morgen‘ und die Sprache der Blumen“. In: Margrit Kern/Thomas Kirchner/Hubertus Kohle (Hgg.), Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, München/Berlin 2004, S. 249-263. Zum Verhältnis von Runge und Tieck gibt es vor allem ältere Literatur: vgl. u. a. Krebs, Siegfried, Philipp Otto Runges Entwicklung unter dem Einflusse Ludwig Tiecks. Mit 5 ungedruckten Briefen Tiecks, Heidelberg 1909; Grundy, J. B. C., Tieck and Runge. A Study in the Relationship of Literature and Art in the Romantic Period with Special Reference to ‚Franz Sternbald‘, Strasburg 1930; Franke, Christa, Philipp Otto Runge und die Kunstansichten Wackenroders und Tiecks, Marburg 1974. Einen vergleichsweise neueren Forschungsstand bieten Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, S. 18 f.; Feilchenfeldt, Konrad, „Runge und die Dichter“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 21/1977, S. 304-311, und Jensen, Jens Christian, Philipp Otto Runge. Leben und Werk, 2. Aufl., Köln 1978, S. 107-113. Generell wird die Runge-Forschung derzeit weniger intensiv betrieben als in den 1970er Jahren. Maßstabsetzend ist nach wie vor die umfangreiche Monographie Jörg Traegers.
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ren, eine Composition für alle drey Künste zusammen, wofür die Baukunst ein ganz eignes Gebäude aufführen – sollte.14
Der utopische Charakter dieses Projektes klingt in der Schlussformulierung bereits an. Dabei bezeichnet Runge das Vorhaben insgesamt als „Dichtung“ und bestätigt damit seine Vorstellungen von Poesie als romantischer Leitkunst. Als Runge dem Dichter die ersten Entwürfe zu den Zeiten präsentierte, zeigte sich dieser in hohem Maße beeindruckt.15 Es gelang dem Maler tatsächlich, Tieck für eine gedichtete Beigabe zu gewinnen. Stolz berichtet er in einem Brief vom 10. März 1803 aus Ziebingen an seinen Bruder Daniel: Ich habe übrigens schon große Beute gemacht, und Du sollst zu seiner Zeit alles erfahren. Tieck […] hat sich […] aus freyen Stücken erboten, eine poetische Beylage zu meinen vier Bildern zu machen. Auch ist mir durch ihn etwas Neues darüber aufgegangen, so daß wir dieses Gedicht zusammen verfassen werden – –.16
Die Entwürfe, die Runge Tieck präsentierte, wiesen zu diesem Zeitpunkt noch nicht die (freilich von Beginn an geplanten) Arabeskenrahmen auf. Erst nach dem Ziebingen-Aufenthalt fügte er diese hinzu.17 Die Rahmen enthalten mehr Elemente aus dem Bereich der konventionellen Ikonographie als die Binnenbilder. Dazu gehören etwa die Gloriole mit dem Gottesnamen und die Uroboros-Schlange im Morgen, das Dreieck als Gottessymbol und der Regenbogen im Tag, der Kelch und das Kreuz im Abend sowie die Taube des Heiligen Geistes in der Nacht. Diese Zeichen bewirken eine religiöse Kontextualisierung des Geschehens in den Binnenbildern. Runge nutzt somit die Rahmen, um die Bedeutung seiner Bilder im Sinne der romantischen Kunsttheorie zu potenzieren, aber auch, um die Interpretation in bestimmte Richtungen zu lenken.
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Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 202. Vgl. Runges Brief an seinen Bruder Daniel vom 23. März 1803: „Wie ich in Ziebingen Tieck meine Zeichnungen zeigte, war er ganz bestürzt; er schwieg stille, wohl eine Stunde, dann meynte er, es könne nie anders, nie deutlicher ausgesprochen werden, was er immer mit der neuen Kunst gemeynt habe; es hatte ihn aus der Fassung gesetzt, daß das, was er sich doch nie als Gestalt gedacht, wovon er nur den Zusammenhang geahnet, jetzt als Gestalt ihn immer von dem ersten bis zum lezten herumriß; wie nicht eine Idee ausgesprochen, sondern der Zusammenhang der Mathematik, Musik, und Farben hier sichtbar in großen Blumen, Figuren und Linien hingeschrieben stehe.“ (Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 36). Zitiert n. Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 203. Vgl. Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, S. 344.
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Abb. 7: Philipp Otto Runge: Der Morgen, Kupferstich, 70,8 x 47,2 cm, Hamburg, Kunsthalle.
Die hier zu findenden Darstellungen steigern die Mehrdeutigkeit der Bilder, aber eben nicht deren Sinnoffenheit. Dies ist für ein Verständnis der
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weiteren Entwicklung des von Runge betriebenen Kommentarprojektes für die Zeiten bedeutsam, denn auch hier ging es offenbar um „Deutlichkeit“. So schreibt Runge am 28. März 1803 an seinen Vater über Tieck: Ich werde wohl mit ihm zusammen etwas veranstalten, wie die Bilder herauszugeben und für Jeden mehr verständlich zu machen; wie man nicht nach dem Speculativen in allen Wissenschaften streben sollte, und wie alles doch nur für das Gemüth des Menschen etwas seyn, und nicht den Menschen aus sich heraus in eine unendliche Spitzfündigkeit und ein immerwährendes Hypothesenbauen zerstreuen und zerstückeln soll. Würden die Bilder ohne irgend etwas erscheinen, so könnten sie leicht eine noch größere Verwirrung anrichten, als schon da ist.18
Runge lag viel an dem Kommentarprojekt. Schon am 23. März 1803 berichtet er seinem Bruder Daniel: „Ueber meine vier Bilder werde ich mit T[ieck] zusammen etwas schreiben und es wird wohl so viel werden, so daß es wie ein Buch dazu herauskommt.“19 Im Frühsommer 1803 übernahm er schließlich die Initiative. Bereits in seinem Brief vom 10. März war die Rede davon gewesen, dass er sich an der Dichtung beteiligen wollte. Nun, wenige Monate später, begann er selbst mit dem Dichten und setzte darauf, dass Tieck ihm helfen würde. An seinen Bruder Daniel schreibt er in einem Brief vom 12. Juni 1803: Ich werde mit Tieck, der auf kurze Zeit wieder hier ist, doch Verschiedenes anfangen können. Ich habe etwas Poetisches über die Bilder angefangen und er ist davon eingenommen; ich soll es nur fertig schreiben, so bringt er es hernach ganz in Ordnung, und dann legen wir es dir vor.20
In seiner Ausgabe der Hinterlassenen Schriften hat Runges Bruder Daniel unter dem Titel „Zur Begleitung der Tageszeiten. Fragment“ ein Gedicht des Künstlers veröffentlicht, bei der es sich vermutlich um den Anfang des poetischen Kommentarprojektes handelt. Es ist auffallend, dass dieses von der Forschung bisher noch keiner systematischen Untersuchung unterzogen wurde.21 Dabei bietet es nicht nur einen wichtigen Schlüssel zum
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Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 471. Vgl. auch die Bemerkung Daniel Runges über das Kommentarprojekt in: Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 471: „Das Verlangen nach einer näheren Deutung und Erklärung des Einzelnen in den vier Bildern, wie es die Natur des Allegorischen herbeyführt, war von ihrer Entstehung an in Allen, die sie sahen, groß, und es dürften die meisten der Leser auch wohl noch jetzt durch das, was der Künstler selbst hievon in dieser Sammlung [der Hinterlassenen Schriften] vorbringt, lange nicht zur Genüge befriedigt seyn. Im Gefühl dieses Bedürfnisses gedachte er die Blätter bey ihrer Erscheinung mit einem poetischen Commentar als Beygänger zu begleiten, den er unter Beyhülfe von Tieck (wohl gar mit musikalischer Composition von Berger) auszuarbeiten vorhatte.“ Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 204. Ebd., Bd. 2, S. 219. Wolfgang Roch zitiert das Gedicht als „ein[] poetische[s] Fragment zu den ‚Tageszeiten’, geht aber nicht auf das Kommentarprojekt ein (Roch, Wolfgang, Philipp Otto Runges Kunst-
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inhaltlichen Verständnis der Zeiten, sondern lässt sich auch als Teil jenes medienübergreifenden Projektes einer „abstracte[n] mahlerische[n] phantastisch-musikalische[n] Dichtung mit Chören“ identifizieren, von dem Runge in seinem Brief vom 22. Februar 1803 spricht.22 Dass es bislang vernachlässigt wurde, kann als symptomatisch für die Schwierigkeiten angesehen werden, welche die Forschung nach wie vor mit solchen transmedialen Projekten hat. Das von Daniel Runge edierte Fragment lässt die Dimensionen erahnen, in denen Runge geplant hat: Die Hinterlassenen Schriften geben insgesamt zehn Strophen wieder, die anspruchsvoll komponiert sind. Neun Strophen beziehen sich auf das erste Blatt des Zyklus: den Morgen (Abb. 7). Durch drei Asteriske getrennt, folgt eine weitere Strophe, die zum Tag gehört und mit der Abkürzung „u. s. w.“ endet.23 Runge scheint das Gedicht nicht fertig gestellt zu haben. Wenn man annimmt, dass jedes Blatt mit neun Strophen bedacht worden wäre, so hätte eine umfangreiche Dichtung von insgesamt sechsunddreißig Strophen den Zyklus begleitet. Dabei sind die überlieferten Strophen überaus regelmäßig gebaut.24 Sie bestehen aus siebenzeiligen jambischen Fünfhebern. Diese folgen dem Reimschema abaabcc mit klingenden Kadenzen auf a und c und stumpfer
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anschauung (dargestellt nach seinen ‚Hinterlassenen Schriften‘) und ihr Verhältnis zur Frühromantik, Strassburg 1909, S. 92 f.). Franke, Philipp Otto Runge und die Kunstansichten Wackenroders und Tiecks, S. 107, erwähnt immerhin das Gedichtfragment, geht aber nicht auf dessen Inhalt ein: „Doch ist weder Tiecks Dialog zustande gekommen nicht hat Runge sein angefangenes Gedicht vollendet.“ Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, S. 55, und Hohl: „Das Universum der Zeiten“, S. 189, Anm. 12, beziehen lediglich einzelne Zeilen der Dichtung in ihre Interpretation der Zeiten ein, ohne auf deren besonderen Status als Teil des ambitionierten Kommentarprojektes einzugehen. Peter Betthausen gelangt zu der Feststellung, dass Runges Idee, „eine abstrakte malerische phantastisch-musikalische Dichtung mit Chören“ zu verfassen, letztlich für den Künstler selbst „nichts weiter als ein Wunschtraum“ blieb (vgl. das Vorwort zu: Runge, Philipp Otto, Briefe und Schriften, hg. u. kommentiert von Peter Betthausen, Berlin 1981, S. 13 f.), negiert jedoch, dass er in seiner eigenen Edition immerhin ein Fragment dieses ehrgeizigen Vorhabens publiziert (ebd., S. 271-273). In seinem Kommentar, ebd., S. 305, heißt es: „In den ‚Hinterlassenen Schriften‘ trägt dieses Gedicht die wohl von Daniel Runge formulierte Überschrift ‚Zur Begleitung der ‚Tageszeiten‘. Fragment. Ev. Joh. Kap. 1.‘“ Man darf jedoch bezweifeln, dass Daniel diesen Bezug zu den Zeiten erfunden hat. Schließlich schreibt Runge selbst in seinem Brief an Daniel vom 12. Juni 1803, dass er „etwas Poetisches über die Bilder angefangen“ habe (Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 219). Vgl. Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 202. Spätere Editionen haben diese Abtrennung und das „u.s.w.“ getilgt: Vgl. Runge, Philipp Otto, Schriften. Fragmente/Briefe. Unter Zugrundelegung der von Daniel Runge herausgegebenen Hinterlassenen Schriften besorgt von Ernst Forsthoff, Leipzig 1938, S. 665; Runge, Briefe und Schriften, Berlin 1981, S. 273. Als Vermittler für diese kunstvolle Gedichtform kommt wiederum Ludwig Tieck in Frage. Zum Austausch zwischen Runge und Tieck in Fragen der Dichtkunst vgl. auch Franke, Philipp Otto Runge und die Kunstansichten Wackenroders und Tiecks, S. 113 f.
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Kadenz auf b. Die siebenzeilige Strophe ist in der deutschen Literatur sehr verbreitet und tritt insbesondere in volkstümlicher Lyrik auf. Üblicherweise folgt sie dort dem Aufbau aus Kreuzreim (abab), Paarreim und einzelnem Schlussvers (ccb bzw. ccx).25 Es entsteht also ein zweiteiliger Aufbau aus Quartett und Terzine. Bei Runge sind die Verse dagegen raffiniert verschlungen und münden mit den beiden letzten Versen in eine Art Ergebnis. Mit dieser variierenden Bezugnahme, die über die gesamte Länge hin überaus kunstvoll durchgehalten wird, verweist Runge wie so oft in der Romantik auf das Volkslied, unterstreicht dabei aber ebenso deutlich dessen artifiziellen Charakter. Bemerkenswert ist nun, wie der Künstler einerseits Bilder und Texte aufeinander bezieht und andererseits jedem Medium eigene Aufgaben zuteilt. Den Hauptanknüpfungspunkt bietet dabei zunächst einmal die vielschichtige Anlage der Zeiten. Diese symbolisieren die: Tageszeiten und Jahreszeiten; die Lebenszeiten des Menschen von der Geburt bis zum Tod; die Weltzeiten, d. h. ‚Entstehung, Wachsthum, Verfall und Untergang der Völker, Jugend, Blüthe, Reife, Versinken – und Verklärung der Menschheit…‘; endlich Zeit und Ewigkeit oder den ‚religiösen Standpunct für das Ganze.‘26
Diesen universalen Dimensionen entspricht die Bibelstelle, welche der ersten Strophe vorangestellt ist. Es ist „Ev. Joh. Cap. I.“27 Runge legt damit eine religiöse Ausdeutung der Zeiten nahe, die mit der Symbolik der Bildrahmen korrespondiert. Das erste Kapitel des Johannesevangeliums beginnt mit der bekannten Formulierung „Am Anfang war das Wort“. Runge beschwört somit das Thema des Anfangs. Dies entspricht der Bedeutung des Morgens als erstem Blatt der Zeiten. Dabei übernimmt das ‚Wort‘, zu dem der Maler Runge keinerlei Berührungsängste hatte, eine Schlüsselstellung – man kann Joh. 1,1 auch als Referenzstelle für das romantische Projekt einer sich verwirklichenden, ins Leben tretenden göttlichen Universalpoesie lesen. Die Dichtung selbst bedient sich einer Natur- und vor allem einer Blumenmetaphorik, die zumindest teilweise mit den Arabesken des Zyklus korrespondiert. In der ersten Strophe wird der Anbruch des Frühlings mit dem Morgen in eine Parallele gesetzt:
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Frank, Horst Joachim, Handbuch der deutschen Strophenformen, 2. Aufl., Tübingen/Basel 1993, S. 525-556. Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, S. 50. Die Binnenzitate stammen aus den Erläuterungen Daniel Runges in: Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 473 f. Vgl. Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 52. Zur Bedeutung dieser Bibelstelle für Runge vgl. auch Hohl, „Das Universum der Zeiten“, S. 189, Anm. 12; dieselbe: „Abend des Abendlandes und Morgen des Morgenlandes. Die ‚Ruhe auf der Flucht‘ und das Problem der religiösen Landschaft“. In: Hofmann (Hg.), Runge in seiner Zeit, S. 176; Scheel, Die erlösende Kraft des Lichts, S. 83.
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Erst lag der Schnee noch weiß auf lichten Höhen, Das Wasser und der Thau noch starr in Eis. Nun fließt der Bach; in Fluß und klaren Seen Erflimmert’s hell bey warmen sanftem Wehen, Auch sind die fernen Berge nicht mehr weiß. Es ist des Winters Zeit, die Nacht, vergangen, Der Erde finstrer Schoos hat nun den Tag empfangen.28
Für das Verhältnis von Text und Bild ist es wichtig, dass die in dieser Strophe genannten Motive (Schnee, Gewässer, Berge) auf dem graphischen Blatt nicht zu finden sind. Das Gedicht wirkt hier demnach ergänzend, indem es die Sinnebene der Jahreszeiten hervorhebt, welche aus dem Bild nicht ersichtlich wird, obgleich sie in der Vierteiligkeit des Zyklus zweifellos mitgedacht ist. Paradoxerweise ist die Dichtung hier ‚naturalistischer‘ als das Bild: Sie wirkt beschreibend, während die Zeichnung allegorisiert.29 Dies setzt sich in der zweiten Strophe zunächst fort: In blauer Luft will schon der Vogel singen, Und grün bedeckt sich rings das weite Feld. Aus Zweigen wollen Blatt und Blüthe dringen: Des Menschen Herz, es möcht’ im Busen springen, Er fühlet die Geburt der neuen Welt. Sie kommt, die Zeit, da Blum’ und Blüthen sprießen, Die Farben überall, ihm unverständlich, grüßen.30
Diese Strophe schildert die Reaktionen der Tiere, Pflanzen und des Menschen auf die Ankunft des Morgens, des Frühlings und auf den Beginn der Welt. Diese Reflexivität ist für Runges Denken charakteristisch: der Gesang der Vögel und das Sprießen der Zweige fungieren sowohl als Manifestationen des anbrechenden Neuen als auch als dessen Kommentar. Dabei wird Natur vom Künstler als Offenbarung Gottes aufgefasst. Das Ahnen der in ihr angelegten Bedeutung durch die Pflanzen und Lebewesen ist bei Runge ein zentrales Thema. Der Mensch ist dabei zwar in der Lage, diese Bedeutung in seinem Herzen zu fühlen, kann sie aber nicht vollends verstehen.31 Motivisch bleibt das Gedicht immer noch weitge-
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Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 52. An dieser Stelle danke ich herzlich Ethel Matala de Mazza für ihren treffenden Hinweis bei der Tagungsdiskussion, dass Runge auf diese Weise sowohl als Maler wie auch als Dichter mit der Grenzziehung zwischen Malerei und Poesie in Gotthold Ephraim Lessings Laokoon bricht. Lessing erhebt den Vorwurf, dass die Kritik aufgrund der missverstandenen utpictura-poesis-Formel „in der Poesie die Schilderungssucht, und in der Malerei die Allegoristerei erzeuget“ habe (Lessing, „Laokoon“, S. 15). Runge erfüllt beide negative Kriterien. Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 53. Zu Runges Auffassung von Natur als Offenbarung und dem daraus resultierenden hermeneutischen Naturzugang vgl. Scholl, Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst, S. 54-64. Eine
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hend unabhängig vom Bild, das weder Vögel noch Zweige zeigt. Erst die nächsten beiden Strophen führen zur Motivwelt der Zeiten hin: Und blühen erst die Bäum’ an allen Zweigen, Manch Blümlein freundlich aus der Erde sieht, Die Glöcklein duftend ihre Köpfchen beugen, Sich Blumen bunt in Wald und Wiese zeigen, Bis uns die Rose durch die Seele glüht: Gestillt ist da des Herzens stumm Verlangen, Wenn Farben duftend als auf ein: Es werde! prangen. Die rothe Rose kommt hervor geflogen. Sie kündet nur der Blumen Königin, Und schmückt als Botin ihr den Ehrenbogen; Die Herrlichste kommt bald ihr nachgezogen Mit stillem sanftem unschuldsvollem Sinn –. Der Lilie Stengel strebt hoch in die Lüfte, Aus reinem weißen Kelch ergießend süße Düfte.32
Zunächst einmal setzt sich mit den blühenden Blumen die Beschreibung des anbrechenden Frühlings fort. Dann aber werden die beiden Blumen eingeführt, welche auch im graphischen Zyklus zentrale Positionen besetzen: Rose und Lilie. Beim Morgen steigt auf der Mittelachse eine stilisierte Lilie auf, deren zentrale, geöffnete und nach oben gerichtete Blüte Kindergruppen trägt. Dies entspricht der Gedichtzeile „Der Lilie Stengel strebt hoch in die Lüfte“. Darunter beugen sich im Bild vier geschlossene Lilienknospen, auf deren Stengeln musizierende Kinder sitzen, zur Erde und werfen Rosenblüten ab. Im Gedicht ist es die Rose, die zunächst durch die Seele „glüht“, bevor sie in der folgenden Strophe selbst „hervor geflogen“ kommt.33 Sie figuriert wiederum nur als farbiger irdischer Abglanz der Lilie, die bei Runge für das strahlende göttliche Licht steht, das vom Menschen nicht direkt angeschaut werden kann. Die rote Farbe der Rose parallelisiert die Morgenröte und ist, wie andere Texte Runges belegen, gedanklich auf Christus bezogen.34 Der gerötete Morgen ist die Tages-
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Parallele bietet das Gedicht Der trübe Nebel ist zerflossen in: Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 48 f. Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 53. Runge differenziert hier zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung: die Rose erscheint zuerst der Seele und wird erst dann sichtbares Ereignis. Diese Präferenz des „Inneren“ hängt mit Runges mystischer Prägung zusammen. Zum Verhältnis Runges zur Mystik und zur Funktion der inneren Schau bei diesem Künstler vgl. Scholl, Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst, S. 64-90. Vgl. Runges Brief an seinen Bruder Daniel vom 7. November 1802: „Die Farbe ist die lezte Kunst und die uns noch immer mystisch ist und bleiben muß, die wir auf eine wunderlich ahnende Weise wieder nur in den Blumen verstehen. – Es liegt in ihnen das ganze Symbol der Dreyeinigkeit zum Grunde: Licht, oder weiß, und Finsterniß, oder schwarz, sind keine
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zeit, in der die Sonne angeschaut werden kann. Dies entspricht der Geburt Christi, mit der sich Gott den Menschen zuneigt, und korrespondiert mit der „Fleischwerdung“ des Wortes bei Joh. 1,1, aber auch mit der Schöpfung.35 In den folgenden Gedichtstrophen verehren die übrigen Blumen und Bäume die Lilie als Lichtbringerin: Und erst entquillt der Erde nun das Leben. Die Bäume schütteln ihr Geschmeid’ herab, Des Lichtes Rang der Lilie nur zu geben, Sie soll in einzig süßem Glanze schweben, Die Blüthen sinken willig in ihr Grab; Und Blumen sprechen duftend, wie mit Zungen: Das Licht, das Licht ist in die Blumenwelt gedrungen! Und Segen thauet auf die Erde nieder. Die Lilie senket schon ihr schönes Haupt. Helljauchzend preisen sie der Vöglein Lieder, Und auch die Rose blüht noch röther wieder – Und ist die Erde jetzt des Lichts beraubt? – Sie hat ein schönes Feuer sich gezündet: Die Farben haben duftend rings ein Lob verkündet! 36
Auch hier bettet Runge die Hauptmotive des Zyklus in die mannigfaltigere Naturschilderung des Gedichtes ein, in dem weitere Pflanzen und Vögel genannt werden. Damit behält das Gedicht seine Unabhängigkeit gegenüber der verknappten Zeichenwelt der Graphiken. Inhaltlich vertieft der Künstler die Beziehung zwischen der farblosen Lilie, die das aufsteigende Licht repräsentiert, und den übrigen, farbigen Blumen. Diese verhalten sich wie das Feuer zum (Sonnen-)Licht der Lilie. Runge nutzt im Folgenden Spiegelmetaphern, um zu verdeutlichen, dass das reine Licht der Lilie nicht mehr unmittelbar angeschaut werden kann: Die Rose als farbiger Abglanz wird im Tau reflektiert, der wiederum zur Erde hinabsinkt und „der Lilie Schein“ sichtbar macht:
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Farben, das Licht ist das Gute, und die Finsterniß ist das Böse (ich beziehe mich wieder auf die Schöpfung); das Licht können wir nicht begreifen, und die Finsterniß sollen wie nicht begreifen, da ist den Menschen die Offenbarung gegeben und die Farben sind in die Welt gekommen, das ist: blau und roth und gelb. Das Licht ist die Sonne, die wir nicht ansehen können, aber wenn sie sich zur Erde, oder zum Menschen neigt, wird der Himmel roth. Blau hält uns in einer gewissen Ehrfurcht, das ist der Vater, und roth ist ordentlich der Mittler zwischen Erde und Himmel; wann beyde verschwinden, so kommt in der Nacht das Feuer, das ist das Gelbe und der Tröster, der uns gesandt wird – auch der Mond ist nur gelb.“ (Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 17). Dementsprechend prangen die Blumen in der dritten Strophe als ein „Es werde!“: vgl. Gen 1. Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 53.
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Die rothe Blume, schön vorangegangen, Sie spiegelte sich in dem klaren Thau, Und wie die Vöglein in den Zweigen sangen, Der Lilie gedrängte Knospen sprangen, Sank perlend er hinab zur grünen Au’. Da haben wir der Lilie Schein gesehen; Doch was die Hohe sprach, wer konnt’ es ganz verstehen?37
Bedeutsam ist die Verbindung von indirektem Sehen und eingeschränktem Verstehen: die sinnliche Wahrnehmung wird bei Runge als hermeneutischer Akt gedacht. Dass eine unmittelbare Anschauung des Lichtes, die zugleich eine vollständige Erkenntnis bedeuten würde, nicht mehr möglich ist, erfährt schließlich eine theologische Begründung durch die Selbstüberhebung Luzifers. Hier wird die Ursache für das eingeschränkte Verstehen verortet: Die Farben sind’s, die erst das Wort gesprochen, Was wohl der Lilie süßes Wesen war. Und hat der Dorn der Lilie Glanz erstochen, So hat die Rose doch von ihr gesprochen, Nun lebt das Licht in Farben offenbar. – O hätten näher wir das Wort gehöret, Das durch den Hochmuth doch nicht ganz uns ward zerstöret! Der böse Dorn war anfangs anzuschauen Ohn’ alle Farbe, licht und weiß wie Schnee. Da wollt’ er stolz auf eigne Kräfte bauen, Und fiel und fiel in nächtlich tiefes Grauen, Verlor die weißen Blüthen – Weh’ dir, weh’! Und wann die Blumen all’ zurückgekommen. Bleibt er der Frucht, der herben schwarzen, unbenommen.38
Der „Dorn“ bezieht sich auf den Luzifer-Mythos.39 Damit wird klar, dass die Selbstüberhebung und der anschließende Fall dieses Engels die Ursache dafür ist, dass das Licht der Lilie nicht mehr angeschaut und ihre „Rede“ nicht mehr in Gänze verstanden werden kann. Die Farben haben demnach eine kompensatorische Funktion: Sie vermitteln etwas vom unanschaubaren Licht und sind auf diese Weise das „schöne Feuer“, das die
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Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 53. Ebd., Bd. 1, S. 54. Die biblischen Referenzstellen sind Jes 14,12, Luk 10,18 und Offb 8, 10. Auch in Jakob Böhmes Schrift Aurora, die Runge auf Anregung Ludwig Tiecks studierte und wesentliche Gedanken daraus in seinen Bildern verarbeitete, nimmt der Luzifer-Mythos eine zentrale Stellung ein (Böhme, Jakob, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, hg. v. Gerhard Wehr, Frankfurt/M. 1992, S. 264-331). Zur Beziehung Runges Böhme-Studien vgl. u. a. Möseneder, Karl, Philipp Otto Runge und Jakob Böhme. Über Runges ‚Quelle und Dichter‘ und den ‚Kleinen Morgen‘. Mit einem Exkurs über ein Palmenemblem, Marburg/Lahn 1981.
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Lilie auf der Erde entzündet hat, während sie selbst sich dieser entzieht. Damit wird auch das Motiv der Lilienknospen erklärt, welche in der graphischen Fassung des Morgen Rosenblüten auf die Erde abwerfen. Die neun Strophen zum ersten Blatt der Zeiten belegen die Komplexität von Runges mystisch-theologischem Programm, welches das Werden und Vergehen im Zyklus der Tages- und Jahreszeiten, aber auch der Lebens- und Weltzeit mit Fragen der Anschaubarkeit und des Verständnisses Gottes verbindet. Die Gotteserkenntnis erscheint bei ihm als etwas hochgradig Ersehntes, das nur noch mittelbar möglich ist. Dies belegen die Verse: „O hätten näher wir das Wort gehöret,/Das durch den Hochmuth doch nicht ganz uns ward zerstöret!“ Der Fall Luzifers hat den unmittelbaren Zugang zu Gott gestört, aber nicht gänzlich unterbrochen. Die verbleibende Strophe zum Tag erweist sich demgegenüber als weniger komplex: Wenn jetzt die Sonne heiß am Himmel stehet; Es dampft die Flur im reichen Blumenduft; Vom warmen Wind, der durch die Lüfte wehet, Ein wogend Wallen über Felder gehet, Zum Wiederklange blauer Himmelsluft: Es wehen Glöckchen blau von allen Hügeln; Der Himmel will sich in des Kornes Blume spiegeln u. s. w.40
Erneut bietet Runge eine atmosphärisch aufgeladene Naturschilderung, wobei einzelne Motive des Tages wie die Glocken- und Kornblumen aufgegriffen werden. Auffällig ist, wie der Künstler alle Sinne anzusprechen sucht: Bereits bei den Strophen zum Morgen spielt das Duften der Blumen, das Wehen des Windes und das Singen der Vögel eine wichtige Rolle. Generell entwickelt Runge den gedichteten Kommentar als Sinnesund Sinnerweiterung für den graphischen Zyklus. Einerseits gibt es Elemente, die es ermöglichen, die Motivwelt von Dichtung und Bildern in eine Beziehung zu setzen. Hierzu gehört vor allem das Verhältnis von Rose und Lilie. Andererseits nutzt Runge das Medium der Sprache, um die im Zyklus selbst angelegte Verzeitlichung zu verstärken. So betont er das Sukzessive der Jahres- und Tageszeiten, indem er das Tauen des Schnees, das Sprießen der Blumen, die Ankunft der Rose und schließlich auch der Lilie in eine Abfolge bringt und als etwas geradezu mit Ungeduld Erwartetes schildert. Dabei trifft man immer wieder auf sprachliche Bezüge zur Bibel, so dass die in den Rahmendarstellungen des Zyklus sowie in der vorangestellten Zitatangabe des Kommentars angelegte religiöse Bedeutungsebene eine Fortsetzung findet. Bis zu diesem Punkt hält der Künstler sich noch weitgehend an die medienspezifischen Differenzen
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zwischen Texten und Bildern, wie sie etwa Lessing im Laokoon beschrieben hat.41 Bemerkenswert ist allerdings, dass es dabei nicht bleibt. Vielmehr geht der Text paradoxerweise gerade in einem Bereich über die Bilder hinaus, in dem die bildende Kunst eigentlich weitaus kompetenter wäre als Dichtung: in der Benennung der Farben. Von Beginn an hatte Runge eine farbige Realisierung der Bildfolge geplant.42 Mit dem graphischen Zyklus, der auf dem Weg zu einem umfassenden, Architektur, Malerei und Musik zusammenführenden Projekt nur eine Zwischenstufe darstellte, konnte er dies jedoch nicht umsetzen. Gerade an dieser Stelle hätte der gedichtete Kommentar wirksam werden können. Es ist bemerkenswert, dass Runge in dieser Form der Ergänzung offenbar kein Problem sah. In seinem romantischen Kunstverständnis waren die Grenzen zwischen den Medien von vornherein durchlässig. Da die Romantik sich vom klassischen Ideal der formalen Vollendung gelöst hatte, war es ihren Protagonisten möglich, ausgreifende, möglicherweise nie zu verwirklichende Vorhaben gleichsam in einem vorläufigen Entwurfsstadium der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Demnach hätte Runge es seinen Lesern zugetraut, die Farben gedanklich in die Betrachtung des Bildzyklus einzubeziehen. Man kann dies mit der Praxis romantischer Lesedramen vergleichen, bei denen man sich das Bühnengeschehen imaginieren musste. Das ersehnte Endprodukt, auf das Runge hinarbeitete, war freilich ein monumentaler, gemalter Zyklus in einer entsprechenden Architektur, der mit Vokalmusik präsentiert werden sollte. Hier hätte die Dichtung nicht mehr kompensierend, sondern nur noch potenzierend gewirkt. Wichtig ist, dass der gedichtete Kommentar trotz seiner assoziativen Metaphorik von vornherein als Klärung gemeint war. In seinem Brief an den Bruder Daniel vom 12. Juni 1803 bestätigt der Künstler sein Streben nach größtmöglicher Deutlichkeit, beschwört allerdings gleichzeitig auch die Unverständlichkeit seiner Dichtung: Die Hauptsache bleibt, daß es so deutlich wie möglich werde; das kannst du, wie wir hier meynen, da du das Ganze und Einzelne doch verstehst und begreifst, doch mehr beurtheilen, da du mehr außer der Sache stehst. Das gegenwärtige erste Gedicht, als die Einleitung, würde vielleicht noch unverständlicher und ge-
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Lessing, Laokoon, S. 116: „Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen, aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen.“ Vgl. etwa Runges Brief an Ludwig Tieck vom 29. März 1805, in: Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 60 f.
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heimnißvoller, wie die Bilder selbst; darum meynt T[ieck], könnte das Ganze mit einem durchaus verständlichen, fast gleichgültigen Dialog beginnen, und meine Arbeit nur als ein Versuch hinterdrein kommen, so daß im Gemüthe des Lesers selbst sich durch das Gedicht die Vorstellung von der Möglichkeit, oder die Begierde nach der Möglichkeit solcher Bilder erzeugte.43
Diese Briefpassage legt überdies nahe, dass Tieck abweichende Vorstellungen von der Einbindung eines solchen Kommentars hatte. Er schlug demnach einen Text vor, welcher den Bildern vorausgehen und die Betrachter auf diese vorbereiten sollte. Dabei ging es ihm nicht um eine Klärung, sondern allein um die Weckung eines Sinns für die Möglichkeit solcher Bilder. Tieck dachte offenbar an eine Abfolge von Text und Bild, die von einem verständlichen, aber eher beiläufigen Eingangsdialog über Runges unverständlichere Gedichte hin zu den Bildern selbst geführt hätte. Diese Abfolge ist nach dem Prinzip einer Steigerung konzipiert, die zugleich eine Auflösung der Verständlichkeit zugunsten der Potenzialität dieser Bilder impliziert. Dabei fällt auf, dass Tieck als Dichter offenbar einen ausgeprägteren Sinn für das Unsagbare dieser Bilder hatte als Runge selbst. Dass Runge und Tieck durchaus nicht einer Meinung waren, wird schließlich in einem späteren Brief Tiecks manifest. Dieser wurde am 24. Februar 1804 verfasst, als Runge gerade an der Publikation der Zeiten arbeitete. Tieck beginnt sein Schreiben mit schriftstellerischem Geschick, indem er vorgibt, geträumt zu haben, dass Runge die Veröffentlichung seiner Zeiten vorerst zurückstellen wolle. Er entwirft also ein radikales (freilich völlig fiktives) Szenario, um seinen eigenen Vorschlag als moderatere Position erscheinen zu lassen. Dabei beinhaltet dieser nicht weniger als eine Absage an das gemeinsame Kommentarprojekt: Wenn Sie [Runge] dies [eine Veröffentlichung des Zyklus] auch nicht unterlassen, so sollten Sie aber wenigstens gewiß nicht, mein theurer Freund, allen oder vielen Leuten die eigentliche Bedeutung und Ihre Absicht deutlich zu machen suchen. Sie werden gewiß die Erfahrung an sich selbst gemacht haben, daß Sie dadurch, wenn auch nur auf kurze Zeiten, an sich selbst irre geworden sind, indem Sie Andre irre gemacht haben.44
Tieck sieht die Gefahr, dass man beim Aussprechen der Gedanken seine eigene künstlerische Grundlage aufgibt und sich selbst fremd wird: Anfangs meynt man, man könne dem Fremden das Gefühl des eignen Gemüthes mittheilen, man freut sich der Gewalt, welche man ausübt, man fühlt sich erhoben, und plötzlich, indem wir wahrzunehmen glauben, wie die Ueberzeugung jenem recht nahe tritt, fühlen wir, wie sie uns selber fremd wird und immer fremder. Dabey müssen Sie auch nie vergessen, daß Ihr Bestreben durchaus neu ist,
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Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 219. Ebd., Bd. 2, S. 263.
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daß dieses Streben ein neuer Fortschritt der Kunst ist: alle ächte Kunst, sey sie welche sie wolle, ist nur Armirung unseres Geistes, ein Fernrohr unserer innern Sinne, durch welches wir neue Sterne am Firmamente unseres Gemüthes entdecken wollen: das geheimste Wunder in uns, welches wir nicht aussprechen, nicht denken und nicht fühlen können, diese innerste Liebe sucht ja eben in wehmüthiger liebender Aengstlichkeit und zitterndem Entzücken nach den magischsymbolischen Zeichen der Kunst, stellt sie anders und will sie neu gebrauchen; darum können wir das nicht nennen, was uns antreibt, so oder so zu verfahren, wenn wir wahrhaft etwas Neues wollen, wir sollen es auch nicht, denn der Tiefsinn verleitet uns leicht dahin, daß wir uns selber mißverstehen und uns dadurch der kindliche Leichtsinn fremd wird, durch welchen doch einzig und allein alle Kunst würken kann.45
Tieck unterscheidet hier zwischen der unaussprechlichen künstlerischen Kraft, die das Werk hervorbringt, und der sprachlich fassbaren, gedanklichen Konzeption. Während Runge in seinem Brief über den Triumph des Amor die „poetische Wuth der ersten Begeisterung“ und die Gedanken, „welche dem Werke doch eigentlich zum Grunde liegen sollen“, identifiziert hatte, zieht der Dichter eine deutliche Trennlinie zwischen beidem. Er warnt davor, die Intention mit dem eigentlichen Schaffenstrieb zu verwechseln, und hebt den Bestand des Werkes unabhängig von den Selbstdeutungen des Künstlers hervor. Ein begleitender Text hätte diese Existenz seiner Auffassung nach geschmälert – eine Ansicht, die durchaus noch dem modernen Verständnis vom Verhältnis von Werk und Künstlerintention entspricht.46 Im Umkehrschluss kann man Runges nicht minder erstaunliches, aus heutiger Perspektive sogar befremdlich anmutendes Kunstverständnis rekonstruieren, das gerade nicht auf die Selbstevidenz der Bilder setzte, sondern ein kompliziertes Wechselspiel zwischen Bildern und Texten anstrebte. Dabei sollten die Texte nicht zuletzt einen Interpretationsrahmen für die Bildbetrachtung setzen. Diese beschränkt sich bei Runge wie auch bei anderen Künstlern der Romantik nicht auf die rein ästhetische Anschauung, sondern schließt stets auch einen hermeneutischen Akt mit ein.47 Runge sah sich sowohl im übertragenen als auch im buchstäblichen Sinn als Dichter, während der Dichter Tieck dem Maler Runge riet, Maler zu bleiben. Mehr als zwei Jahrzehnte nach Runges frühem Tod im Jahre 1810 erinnert Tieck in seiner Novelle Eine Sommerreise von 1834 an den Künstler:
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Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 263. Vgl. die Bemerkung bei Jensen, Philipp Otto Runge, S. 112, über die besagte Passage aus Tiecks Brief: „Diese klugen Bemerkungen Tiecks, mit denen er eine Warnung an Runge einkleidet, seine Bildwerke, vor allem die ‚Zeiten‘ nicht ständig selbst anderen erläutern zu wollen, weil das im Grunde nur deren Mißverständlichkeit begünstige, gehörte eigentlich als Motto über jedes Buch, das sich mit Runge beschäftigt.“ Vgl. Scholl, Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst, S. 39-43 und passim.
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Es war eine Freude, diesen gesunden Menschen diese Zeichnungen selbst erklären zu hören, und zu vernehmen, was er Alles dabei gedacht. Ich suchte ihn […] darauf aufmerksam zu machen, daß er, besonders in den Randzeichnungen, die die Hauptgestalten umgeben, mehr wie einmal aus dem Symbol und der Allegorie in die zu willkürliche Bezeichnung, in die Hieroglyphe gefallen sei. […] So ist in diesen Bildern manches, was Runge wohl nur allein versteht, und es ist zu fürchten, daß bei seiner verbindenden reichen Phantasie er noch tiefer in das Gebiet der Willkür geräth und er die Erscheinung selbst als solche zu sehr vernachlässigen möchte.48
Mit der „Erscheinung selbst als solche[r]“ wird das medienspezifische Charakteristikum von bildender Kunst bezeichnet. Dass ein Bild primär über die Anschauung wirken müsse, ist als Forderung von der Ästhetik immer wieder erhoben worden.49 Runge hat sich hierüber bewusst hinweggesetzt. Letztlich hat sich in der Kunsttheorie und Kunstkritik freilich das Anschaulichkeitspostulat durchgesetzt. Das romantische Konzept einer mediensprengenden diskursiven Einbindung von Bildern vermochte sich demgegenüber nicht zu behaupten. Dies ist einer der Gründe, weshalb Runges Kunst in den Jahrzehnten zwischen 1830 und 1890 in den Hintergrund rückte. Völlig vergessen wurde sie dabei freilich nicht: die Zeiten wurden als Drucke nach wie vor in den Kunstgeschichten behandelt.50 In den Jahren 1840-41 wurden die Hinterlassenen Schriften Runges von dessen Bruder Daniel herausgegeben. Damit verkomplizierte sich das Verhältnis von Anschauung und Lektüre: Obgleich Daniel Runge die Texte sprachlich geglättet und zum Teil umarrangiert hat, ist seine Ausgabe bis heute
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Tieck, Ludwig, „Eine Sommerreise“, in: Ludwig Tieck’s Schriften, Bd. 23, Berlin 1853, S. 18 f. Vgl. etwa Meyer, Heinrich, „Über die Gegenstände der bildenden Kunst“. In: Ders., Kleine Schriften zur Kunst, Heilbronn 1886, S. 3 f.: „Man fordert von einem jeden Kunstwerke, daß es ein Ganzes für sich ausmache, und von einem Werke der bildenden Kunst besonders, daß es sich selbst ganz ausspreche. Es muß unabhängig seyn, die vorgestellte Handlung, der Gegenstand muß, im Wesentlichen, ohne äussere Beyhülfe, ohne Nebenerklärung, die man aus einem Dichter oder Geschichtsschreiber schöpfen müßte, gefaßt und verstanden werden. So wie wir ein Gedicht tadeln würden, dessen Fabel und Motive nur aus angehängten Noten verständlich werden könnten, so haben wir Ursache mit Gemählden oder Statuen unzufrieden zu seyn, deren Bedeutung nicht vor unserm Auge liegt, sondern erst nachgelesen oder erzählt werden müßte.“ Vgl. u. a. Raczynski, Athanasius Graf, Geschichte der neueren deutschen Kunst. Bd. 3: Berlin/ Dresden/Hamburg/Mecklenburg/Weimar/Halberstadt/Göttingen. Ausflüge nach Holland, Belgien, England, Schweiz, Polen, Russland, Schweden, Dänemark und NordAmerika. Aus dem Französischen übersetzt von Friedr. Heinr. von der Hagen. Berlin 1841, S. 235; Hagen, Ernst August, Die Deutsche Kunst in unserem Jahrhundert. Eine Reihe von Vorlesungen mit erläuternden Beischriften, Bd. 1, Berlin 1857, S. 77-80; Reber, Franz, Geschichte der neueren deutschen Kunst vom Ende des vorigen Jahrhunderts bis zur Wiener Ausstellung 1873 mit Berücksichtigung der gleichzeitigen Kunstentwicklung in Frankreich, Belgien, Holland, England, Italien und den Ostseeländern, Stuttgart 1876, S. 210.
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die wichtigste Quelle für die Runge-Forschung geblieben – auch der vorliegende Beitrag stützt sich auf sie.51 Durch den Hamburger Stadtbrand von 1842 ist der Großteil der Materialien, auf die sich der Bruder des Künstlers stützte, verloren gegangen.52 So kommt es zu der paradoxen Situation, dass sich auch diejenigen Interpreten, welche die Anschauung gegen die Lektüre ausspielten, auf die (tendenziell unsichere) Lektüre der Hinterlassenen Schriften beriefen. Dies sollte sich besonders in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zeigen, als es zu einem grundlegenden Umschwung im allgemeinen Kunstverständnis kam, der von einer Radikalisierung der Ästhetik getragen wurde. Bis in die 1850er Jahre hatte das Postulat eines Gleichgewichts von Form und Inhalt gegolten, das über die Gattungshierarchie geregelt wurde.53 Nun aber setzte sich eine formale Ästhetik durch, die dem Inhaltlichen überhaupt keinen Eigenwert mehr beimaß, und es dort, wo es sich in den Vordergrund zu drängen drohte, zunehmend als Gefährdung der formalen Wirkung begriff.54 Im ausgehenden 19. Jahrhundert bestimmte diese Ästhetik zunehmend auch die Prämissen der Kunstgeschichte als Wissenschaft, die in dieser Zeit einen enormen Aufschwung erlebte.
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Zur Problematik der Hinterlassenen Schriften vgl. u. a. Vasella-Lüber, Margrit Maria, Philipp Otto Runges Briefe, Zürich 1967, S. 1-8; Langner, Johannes, „Runge in seiner Zeit. Zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle. 21. Oktober 1977 bis 8. Januar 1978“. In: Kunstchronik 31/1978, S. 186; Feilchenfeldt, Konrad, „Gedanken zu einer textkritischen Ausgabe der ‚Schriften‘ von Philipp Otto Runge“. In: Philobiblon 22/1978, S. 286-297. Dagegen nimmt Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, S. 23, eine moderatere Haltung ein und weist – sicher mit Recht – auf die Unverzichtbarkeit der Hinterlassenen Schriften als Quelle hin. Vgl. Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, S. 22. Vgl. etwa Schiller, Friedrich, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, hg. v. Helmut Koopmann/Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 382: „Darinn also besteht das eigentliche Kunstgeheimniß des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphirender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet.“ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik I. In: Ders., Werke, Bd. 13, Frankfurt/M. 1986, S. 225: „Die höhere Kunst wird diejenige sein, welche sich die Darstellung dieses höheren Inhalts zur Aufgabe macht.“ Vischer, Friedrich Theodor, „Ueber das Verhältniss von Inhalt und Form in der Kunst“. In: Monatsschrift des wissenschaftlichen Vereins in Zürich 3/1858, S. 74: „Das Stoffartige ist in die Form aufgegangen, aber es ist nicht gleichgültig, was aufgegangen ist.“ Eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung der formalen Ästhetik kommt dem HerbartSchüler Robert Zimmermann zu. Vgl. hierzu u.a. Wiesing, Lambert, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek 1997; Ders., „Formale Ästhetik nach Herbart und Zimmermann“. In: Andreas Höschen/Lothar Schneider (Hgg.), Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 283-296.
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Die Kunsthistoriker wiederum gingen kurz vor 1900 daran, die Malerei des zu Ende gehenden Jahrhunderts in Deutschland einer grundlegenden Revision zu unterziehen, die nicht zuletzt die Romantik betraf.55 Von ihrem allegorischen und medienübergreifenden Konzept her entsprach die bildende Kunst der Romantik eigentlich in keiner Weise dem neuen, formalistischen Kunstideal. Dies wurde jedoch im Zuge des Revisionsprozesses um 1900, der die Linie zwischen für gut und für schlecht befundenen Kunstwerken quer durch die Romantik zog, zu weiten Teilen überdeckt. So erfuhr die bis dahin erfolgreichere, von den Nazarenern gepflegte Historienmalerei aufgrund ihrer Inhaltslastigkeit eine Abwertung. Gleichzeitig kam es zur regelrechten Neuentdeckung einer Reihe von Künstlern, die vor allem niedere Gattungen wie das Porträt und die Landschaft gepflegt hatten und deren Werke nun unter formalästhetischen Gesichtspunkten neu gesehen wurden. Hierzu gehörte neben Caspar David Friedrich auch Philipp Otto Runge: Beide Künstler wurden um 1900 nachhaltig, wenngleich nicht widerstandslos, kanonisiert. Bezeichnenderweise vollzog sich diese Kanonisierung im Falle Runges vor allem an dessen Ölgemälden. Diese hatten sich bis dahin weitgehend in Privatbesitz befunden und wurden erst jetzt Stück für Stück der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Eine Schlüsselstellung kam dabei dem Gemälde Die Hülsenbeckschen Kinder56 von 1805/06 zu (siehe Abb. 8), das bereits 1862 der Hamburger Kunsthalle geschenkt worden war, aber erst 1889 von deren Leiter, Alfred Lichtwark, aus dem Magazin in die Museumsräume überführt wurde.57 Seine ‚Wiederentdeckung‘ bildete den Auftakt für eine regelrechte Runge-Renaissance, die dadurch beflügelt wurde, dass man in dem Künstler nunmehr einen Vorreiter des aktuellen Impressionismus erblickte. So schreibt Lichtwark über das Bild der Hülsenbeckschen Kinder: Die drei Kinder seines [d.h. Runges] Freundes Hülsenbeck sind im Freien unter vollem Sonnenlicht dargestellt. Das ist ein Unterfangen, das man jener Epoche nicht zugetraut haben würde. Runge hat hier alles auszusprechen versucht, was
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Diese Revision kulminiert in der Jahrhundertausstellung deutscher Kunst, die 1906 in der Berliner Nationalgalerie stattfand. Vgl. hierzu: Beneke, Sabine, Im Blick der Moderne. Die ‚Jahrhundertausstellung deutscher Kunst (1775-1875)‘ in der Berliner Nationalgalerie 1906, Berlin 1999. Öl auf Leinwand, 131,5 x 143,5 cm, Hamburg, Kunsthalle. Zu diesem Bild vgl. Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, S. 84-86, 150-153, 378 f. sowie ders., Philipp Otto Runge. Die Hülsenbeckschen Kinder. Von der Reflexion des Naiven im Kunstwerk der Romantik, Frankfurt/M. 1987. Vgl. u. a. Langner, Johannes, Philipp Otto Runge in der Hamburger Kunsthalle. Bilderhefte der Hamburger Kunsthalle IV, Hamburg 1976, S. 5. Zu Lichtwarks Runge-Sicht vgl. auch Dibbern, Margrit, Die Hamburger Kunsthalle unter Alfred Lichtwark (1886-1914), Entwicklung der Sammlungen und Neubau, Phil. Diss. Hamburg 1980, S. 47 f.; Präffke, Hans, Der Kunstbegriff Alfred Lichtwarks, Hildesheim/Zürich/New York 1986, S. 86-108.
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ihm als Problem der neuen Kunst, die er schaffen wollte, auf dem Herzen lag. Die Arbeit dreier folgender Generationen hat uns eigentlich noch nicht weiter gebracht.58
Abb. 8: Philipp Otto Runge: Die Hülsenbeckschen Kinder, Öl auf Leinwand, 131,5 x 143,5 cm, Hamburg, Kunsthalle.
Diese Einschätzung wurde von Richard Muther aufgegriffen, der das Gemälde unter der Kapitelüberschrift „Ein Vorspiel“ zu Beginn des zweiten Bandes seiner Geschichte der Malerei des XIX. Jahrhunderts von 1893 behandelt – herausgelöst aus dem historischen Kontext und an der Stelle, wo es um dem Umbruch der Kunst in der zweiten Jahrhunderthälfte geht: Es ist ein sehr merkwürdiges Bild. Der Einklang der Luft und des Lichtes mit dem, was sie leben lassen, – das grosse Problem der modernen Malerei ist darin
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Lichtwark, Alfred, Herrmann Kauffmann und die Kunst in Hamburg von 1800-1850, München 1893, S. 40.
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nicht nur aufgeworfen, sondern meisterhaft gelöst. Und doch steht die Jahrzahl 1805 darauf. Die Arbeit dreier folgenden Generationen hat die Kunst kaum weiter gebracht.59
Bemerkenswert ist, dass diese Aufwertung eines der Öffentlichkeit praktisch unbekannten Bildes zumindest teilweise auf Kosten desjenigen Werkes vollzogen wurde, das bis dahin nahezu allein Runges kunstgeschichtlichen Rang begründet hatte: der druckgraphischen Fassung der Zeiten. „Über diese Blätter ist sehr viel geschrieben worden“, bemerkt Lichtwark und zitiert unter anderem die bereits angeführte Passage aus Tiecks Novelle Eine Sommerreise, in der davon die Rede ist, dass in den Zeiten manches sei, was Runge wohl nur allein verstehe.60 Dass ihn die inhaltliche Ausdeutung des Zyklus letztlich wenig interessiert, macht Lichtwark im Folgenden deutlich. Er verweist auf die gemalten Fassungen des Morgens, die Runge 1808-09 in einer Weiterführung des Zeiten-Projektes geschaffen hatte (Siehe Abb. 9).61 Von der Lektüre der Hinterlassenen Schriften wusste Lichtwark, dass der Künstler von vornherein eine farbige Ausführung des Zyklus geplant hatte. In der Farbigkeit sieht Lichtwark nun die entscheidende Qualität der Gemälde: Aber die Umrißstiche, aus denen seine Zeitgenossen die Tageszeiten kennen lernten, geben von seiner Absicht nur ein ganz unzulängliches, ja ein falsches Bild. Alle Kommentare drehen sich deshalb um die Ausdeutung des künstlerisch nebensächlichen Gedankeninhalts. Erst die farbige Ausführung einer der Kompositionen, des Morgens, jetzt im Besitz des Herrn P. Runge in Berlin, giebt eine Vorstellung von den eigentlichen Zielen des Künstlers. Was in den leeren Linien der Umrisse ganz unverständlich bleibt, hat hier Leben und Bedeutung gewonnen. Alles ist Farbe, Licht, Luft und Raum geworden.62
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Muther, Richard, Geschichte der Malerei des XIX. Jahrhunderts, Bd. 2, München 1893, S. 3. Lichtwark, Herrmann Kauffmann, S. 37. Die Bezeichnung dieser Gemälde, die als Vorstufen für eine noch monumentalere Endausführung entstanden, bezieht sich auf deren unterschiedliche Bildgröße: Der Kleine Morgen, 1808, Öl auf Leinwand, 109 x 85,5 cm, Hamburg, Kunsthalle; Der Große Morgen, 1809, Öl auf Leinwand, 152 x 113 cm, Hamburg, Kunsthalle. Vgl. Traeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, S. 417-433, S. 455-472. Lichtwark, Herrmann Kauffmann, S. 38.
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Abb. 9: Philipp Otto Runge: Der kleine Morgen, Öl auf Leinwand, 109 x 85,5 cm, Hamburg, Kunsthalle.
Um die von Lichtwark betriebene Akzentverschiebung in ihrer Eigenart zu erfassen, ist es wichtig, sich den historischen Wandel des Farbverständnisses in der Kunst und Kunsttheorie seit 1800 vor Augen zu führen: Es war Runges spezifisches Anliegen gewesen, eine intensive, hochgradig
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atmosphärisch aufgeladene Farbigkeit mit einer allegorischen Bildstruktur zusammenzuführen, deren komplexe Bedeutung kommentarbedürftig blieb. Spätere Künstler wie Peter Cornelius hielten an dieser Verbindung von Sinn und Sinnlichkeit jedoch nicht fest, sondern erachteten im Gegenteil beides als unvereinbar. Die Farbe wurde bewusst zurückgenommen, um auf eine übersinnliche Bedeutung hinzuweisen.63 Als dieses idealistische Kunstmodell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend der Kritik verfiel, kam es zu einer vollständigen Umkehrung: Die Farbigkeit wurde zu einem unerlässlichen Wesensmerkmal von Malerei erklärt, die Bedeutung hingegen nicht nur als irrelevant, sondern sogar als potentiell gefährdend angesehen – zumal dann, wenn sie sich nicht durch die reine Betrachtung erschloss.64 Genau hier kann Lichtwarks Posi-
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Vgl. etwa die Replik Ludwig Schorns auf eine Kritik Otto Friedrich Gruppes am Kolorit der Münchner Kunst unter Peter Cornelius: „Wollte man die Verschiedenheit der Richtungen [gemeint ist der Gegensatz zwischen Cornelius-Schule und der Düsseldorfer Malerschule] untersuchen, von welchen der Vf. [Gruppe] spricht, so wäre vorerst zu erörtern, ob die Gegenstände, welche die Münchener Künstler bis jetzt behandelt haben, überhaupt den äußern Reiz der Beleuchtung, des Helldunkels u. s. w. in dem Grade zulassen, welchen der Vf. zu verlangen scheint. Gewisse Gegenstände sind zu ernst, um spielende Effekte und den sogenannten Zauber des Helldunkels ohne Verlust des einfachen und großartigen Eindrucks, den sie bewirken sollen, zu gestatten.“ (Schorn, Ludwig, „Nachschrift und Bemerkungen des Herausgebers zu einem Aufsatze des Berliner Kunstblatts vom December 1829“. In: Kunstblatt 11/1830, S. 142). Dabei handelt es sich um eine idealistische Position, die keineswegs auf den Umkreis von Cornelius beschränkt war und die beispielsweise auch in der französischen Malerei eine Rolle spielt: vgl. Krüger, Matthias, Das Relief der Farbe. Pastose Malerei in der französischen Kunstkritik 1850-1890, München/Berlin 2007, S. 46-50. Diese Umkehrung zeigt sich nicht zuletzt an der auf- und anschließenden Abwertung der Genremalerei, der als „niedere“ Gattung auch von der idealistischen Kunstkritik von vornherein eine stärkere Farbigkeit zugestanden worden war. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Genremalerei als „volkstümliche“ Gattung gefeiert, deren Künstler (z. B. Ludwig Knaus oder Franz Defregger) sich gegenüber Historienmalern wie Peter Cornelius technisch als überlegen erwiesen hatten. Ab den 1870er und 80er Jahren verfiel sie jedoch aufgrund der dominanten Bildnarration zunehmend der Kritik (vgl. u.a. Söntgen, Beate, „Kein Appell an das Gemüt. Wilhelm Leibls Realismus“. In: Uwe Fleckner/Martin Schieder/Michael F. Zimmermann (Hgg.), Jenseits der Grenzen. Französische und deutsche Kunst vom Ancien Régime bis zur Gegenwart. Thomas W. Gaehtgens zum 60. Geburtstag, Bd. 2, Köln 2000, S. 391-400). So schreibt Alfred Lichtwark über die Berliner Akademieausstellung von 1883: „Aus diesem Zurückgehen der religiösen Malerei, des Historienbildes und des novellistischen und scherzhaften Genre möchten wir gern auf eine radicale Wendung in unserer Kunst schließen, die im Porträt, in der schlichten Landschaft und dem Zustandsbild aus unserer Umgebung den Boden zu gewinnen sucht, auf dem sie weiter bauen kann, um allmählich wieder aufzunehmen, was sie für eine Zeit von sich weist.“ (Lichtwark, Alfred, „Aus der Hauptstadt. Die Ausstellung der Akademie“. In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben 23/1883, S. 302 f.). Diese Diagnose ist für die Kanonisierung von Künstlern der Romantik wie Friedrich und Runge überaus bedeutsam, weil diese Künstler genau diejenigen Gattungen vertraten, deren Fortbestand Lichtwark hier konstatiert: Landschaft und Porträt.
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tion verortet werden. Der ‚Gedankeninhalt‘, der Runge zweifellos ebenso wichtig war wie die Farbe, wird bei diesem zu etwas künstlerisch Nebensächlichem. In diesem Sinne schreibt auch Richard Muther: Nicht als trockene Kupferstiche, sondern als monumentale Wandbilder hatte sich Runge den Cyklus gedacht, und keine philosophischen Gedanken, – auf die seine Commentatoren allein Gewicht legten – sondern glänzend phantastische Lichterscheinungen wollte er darin ausdrücken.65
Vor diesem Hintergrund wird auch die Bevorzugung von Runges Porträts sowohl gegenüber den graphischen als auch den gemalten Fassungen der Zeiten verständlich. Hier musste man sich nicht erst gegen eine tradierte Textgruppe von ausdeutenden Kommentaren zur Wehr setzen. Lichtwark schreibt, nachdem er die Zeiten behandelt hat: „Aber alle die bisher erwähnten Leistungen werden in den Schatten gestellt durch Runges Bildnisse.“66 In diesem Zusammenhang wendet er sich dann auch den Hülsenbeckschen Kindern zu. In diesem Bild sah er eine uneingeschränkte Offenbarung von Runges Modernität. Allerdings glaubten nicht alle Befürworter der Moderne an eine solche Evidenz. Dementsprechend verlief die Kanonisierung Runges keineswegs ohne Widerstand. Es gab Kritiker, die in ihren Grundüberzeugungen zwar durchaus mit Lichtwark und Muther übereinstimmten, in Runges Bildern jedoch nicht die von diesen beschworenen Qualitäten zu entdecken vermochten. Bei ihnen wird umso deutlicher, dass die Aneignung der behandelten Kunstwerke nicht bruchlos möglich war. So schreibt etwa Emil Heilbut in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Kunst und Künstler von 1906: Es entspricht ganz dem doch mehr litterarischen als auf Anschauung gerichteten Wesen der Deutschen, dass Runge ihnen den ausserordentlichen Eindruck macht, denn er ist es, der seine Empfindungen und Gedanken aufgeschrieben hat. Man konnte es nun bequem nach Hause tragen, dass ‚Licht und Farbe und bewegendes Leben‘ die Kräfte des modernen Bildes sind. Man war durchdrungen von dem Gedanken, dass, wer das empfinden konnte, es auch malen konnte, und versäumte wohl doch zu sehr, in Erfahrung zu bringen, ob er auch die Kraft gehabt hat, seine Theorien in der Ausführung zu bewähren.67
Heilbuts Fazit ist vernichtend: Runge sei ein „would-be-Maler“ gewesen.68 Dabei argumentiert er mit der Opposition zwischen Anschauung und Lektüre. Runge habe, wie man seinen Hinterlassenen Schriften entnehmen konnte, zwar über Anschauung geschrieben, dieser Anschauung aber in
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Muther, Geschichte der Malerei des XIX. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 6. Lichtwark, Herrmann Kauffmann, S. 39. Heilbut, Emil, „Die Jahrhundertausstellung in der Nationalgalerie“. In: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für Kunst und Kunstgewerbe 4/1905/06, S. 250 f. Heilbut, „Die Jahrhundertausstellung in der Nationalgalerie“, S. 251.
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seinen Bildern wenig Überzeugendes geboten. Heilbut spricht dem Künstler somit den Rang ab, den ihm Kunsthistoriker wie Lichtwark oder Muther seit kurzer Zeit zubilligten. Damit ist er der Schwierigkeit enthoben, Runges eigenes Kunstkonzept in seiner Widerständigkeit mit seinen eigenen Kunstanschauungen harmonisieren zu müssen. Bei anderen Kunstschriftstellern, die Runge weniger kritisch sahen, lassen sich diese Schwierigkeiten deutlich erkennen. Zu ihnen gehört auch Cornelius Gurlitt, der mit seinem Buch Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts. Ihre Ziele und Thaten von 1899 einen der wichtigsten Beiträge zur Revision der Kunstgeschichte um 1900 lieferte.69 Gurlitts zentrales Thema ist die Opposition von Gelehrsamkeit und Kunst. Schon bei Winckelmann sei die Gelehrsamkeit so sehr erstarkt, dass sie „zu einem gefährlichen Nachbar für die Kunst geworden“ sei.70 Auf Winckelmann sei „die Erkenntnis bei den Gebildeten“ gefolgt, „daß man über die Kunst gelesen haben müsse, um ihre Werke zu verstehen.“ – „Und noch heute kämpft die Kunst bei uns gegen das Wissen der allzu gelehrten Leute.“71 Mit einem solchen dualistischen Modell war es von vornherein schwierig, einen Künstler wie Runge angemessen zu behandeln. Durch den Befund, den die Hinterlassenen Schriften vermittelten, konnte man das besondere Gewicht des Gedanklichen in dessen Kunst keineswegs ohne weiteres absprechen. Gurlitt muss dies dementsprechend eingestehen: Runge ist der Vermittler zwischen dem Realismus und der Romantik. Ein schwerlebiger, gedankenreicher, empfindungsvoller Grübler, dem die eigentlich künstlerische Arbeit nur unter saurem Schweiß von der Hand ging, der viel zu
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Vgl. Beneke, Im Blick der Moderne, S. 16-29. Gurlitt, Cornelius, Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts. Ihre Ziele und Thaten, Berlin 1999, S. 16. Gurlitt, Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts, S. 33. Gurlitt steht mit dieser Auffassung keineswegs allein. Vgl. etwa Muther, Geschichte der Malerei des XIX. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 213, zu Peter Cornelius: S. 213: „diese gemalte Gelehrsamkeit entsprach dem, was die Zeit mit ihrer vorherrschenden Gedankenhaftigkeit wünschte. Die Gelehrten wollten in Cornelius den Dichter, den Doctor der Philosophie, legten den einzigen Werth auf den Gedankeninhalt des Kunstwerkes und sahen ihre höchste Aufgabe darin, dem Inhalt einen womöglich noch correkteren Ausdruck zu geben, als der Künstler selbst. Der Gedanke, hiess es, sei das A und O für die bildende Kunst und müsse auch bei der schemenhaftesten äussern Erscheinung als vollgültig anerkannt werden. Diese Anschauungen haben sich nun heute geändert. Ein langer Verkehr mit den alten Meistern und der ausländischen Kunst hat allmählich auch uns Deutsche von jener Hypertrophie des Gehirns geheilt, an der wir früher der Kunst gegenüber litten – einem Leiden, dessen bezeichnendstes Symptom der völlige Mangel an Sinnlichkeit war, an jener Empfänglichkeit für die Schönheit der Form und den Reiz der Erscheinung, die die Grundstimmung einer Gesellschaft, in der die Kunst blühen soll, immer gewesen ist und immer sein muss. Wir sind allmählich dazu gekommen, uns in der Malerei für das Malerische zu interessiren, in erster Linie das Gemalte selbst ins Auge zu fassen und erst dann zu fragen, was der Maler sich dabei gedacht oder der Beschauer sich dabei denken könnte.“
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viel nachdachte, viel zu sehr über das Ziel der Kunst hinaus in die Kreise des Gedankens griff, um in der wirklichen Darstellung zur Abrundung gelangen zu können.72
Damit ist das Gewicht des Gedanklichen bei Runge ausgesprochen, und Gurlitt kann sich nun der Aufgabe zuwenden, dieses wieder zu bagatellisieren. Er tut dies auf einfache aber wirkungsvolle Weise, indem er die Suche nach Tiefsinn immer mehr dem Künstler ab- und stattdessen den Kritikern, die ja Theoretiker sind, zuschreibt. So äußert er sich über die Zeiten, die er als „schlichte[.] Arbeiten“ bezeichnet: Die Kritik verstand sie vollends nicht. Es setzte sich das Witzwort fest, sie seien Hieroglyphen. Man suchte den Inhalt der Zeichnung und, da er sehr einfach war, fand man ihn nicht: Blumen, in ihrer Beziehung zur Jahreszeit, aufblühend, sich niedersenkend; Gestalten, die ihr Wesen erklären, menschlich ihr Blumensein vorleben; in ihrer Beziehung von Aufblühen und Morgen, ihrem Glanz, ihrem Vergehen und ihrer Auflösung mit den Tages- und Jahreszeiten; das Ganze durchtränkt von einem weichen aber starken Zug frommen Christentums.73
Gurlitt wehrt hier die Anwendung des romantischen Konzeptes der Hieroglyphe auf Runge ab. Eine angemessenere Annäherung an den Zyklus der Zeiten nimmt er bei Goethe wahr: Goethe, der ja sehr wohl wußte, daß die echte Lyrik nicht in ihrer Klarheit ihren Wert hat, sondern daß es in ihr ein unaufgeklärtes Dunkel geben müsse, […] erkannte wohl, daß es sich hier um rein malerisch symbolische Werte handle; daß die Eigenart, zu der Runge sich selbst durcharbeitete, erfreulich sei und daß man den Inhalt der Blätter nicht zu verstehen brauche, um sich doch in ihre geheimnisvoll anmutige Welt gern vertiefen zu können.74
Goethe wird somit als Autorität hinzugezogen, um die Selbständigkeit der Bildwirkung gegenüber der Verpflichtung auf ein Vorwissen zu verteidigen. Letztlich führt Gurlitt hier eine Auseinandersetzung weiter, die bereits Tieck und Runge selbst um die Veröffentlichung eines poetischen Kommentars zu den Zeiten geführt hatten. Dabei kehrt er die Parteiungen jedoch um, indem er Tieck an die Seite jener Theoretiker stellt, die letztlich keinen Sinn für das Anschaubare der Kunst gehabt hätten. Schon im Zusammenhang mit der Behandlung Caspar David Friedrichs schreibt er über den Dichter: Tieck war der Ansicht, Friedrich wolle in die Natur Allegorie und Symbolik einführen, die Landschaft, die uns immer als ein so unbestimmter Vorwurf, als Traum und Willkür erscheine, über Geschichte und Legende erheben durch die
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Gurlitt, Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts, S. 152. Ebd., S. 152 f. Ebd., S. 153.
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bestimmte Deutlichkeit der Begriffe und Absichtlichkeit in der Phantasie. Man konnte den Maler nicht gut stärker mißverstehen!75
Im Falle Runges war es schwieriger, eine Opposition zu Tieck zu konstruieren. So erscheinen Maler und Dichter gemeinsam auf einem gedankenlastigen Abweg, wobei Gurlitt doch deutlich Tieck als denjenigen kennzeichnet, der stärker an einer „geistigen Vertiefung“ interessiert war. Dabei wird auch auf die differierenden Ansätze zwischen den Romantikern und den klassizistisch orientierten „Weimarer Kunstfreunden“ eingegangen: Man sieht deutlich, daß Tieck mit diesem [Runge] nicht auf den realistischen Kern das Hauptgewicht legte, sondern daß beide den hieraus sich entwickelnden Mystizismus vor allem pflegten. Während die heutige Betrachtung von Runges Schaffen vor allem in seinen Bildnissen die redliche Naturliebe, die sonnige Klarheit des Wandelns auf das Licht zu überrascht, sah Tieck von all dem wenig; dafür aber um so mehr eine geistige Vertiefung, die ihrem Wesen nach der kalten Allegorisiererei der Freunde der Antike widersprach.76
Auffällig ist, wie Gurlitt in diesem Satz die Subjekte verschiebt: Zu Beginn sind Tieck und Runge vereint, wobei der Maler bezeichnenderweise erst an zweiter Stelle erscheint und nicht beim Namen genannt wird. Dann wird ein neuer Gegensatz zwischen dem Dichter und dem modernen Betrachter eröffnet. Im ersten Teil ist von Runges Intention die Rede, während im zweiten Teil sein Werk zum Objekt wird. Es wird deutlich, dass Gurlitt zwischen Künstlertum und Theorie zu trennen sucht, zugleich aber eingestehen muss, dass eine solche Trennung bei Runge nicht funktioniert. Erst in der Anschauung der Werke kann er die Opposition zwischen Kunst und Theorie wieder herstellen: Hier vermochten Gurlitts zeitgenössische Betrachter etwas zu sehen, wofür Tieck angeblich kein Auge gehabt habe: die Naturliebe und die Darstellung des Lichts, in der auch Lichtwark und Muther die Modernität Runges begründet sahen. Für die damalige Kanonisierung von Runges Werken – wie übrigens auch für die Bilder Friedrichs – spielt deren tendenzielle Herauslösung aus dem historischen Interpretationsrahmen der schriftlich niedergelegten Künstler-Selbstdeutungen eine wichtige Rolle. Tieck, der seinerzeit Runge empfohlen hatte, diesen zusätzlichen Rahmen nicht allzu fest um die Bilder zu legen, wurde dabei gewissermaßen zum Opfer dieser Herauslösung. Zumindest Gurlitt erklärt ihn zum Repräsentanten einer unkünstlerischen Auffassung von Kunst. In der Runge-Forschung hat sich freilich – anders als in der Friedrich-Forschung – bald nach 1900 die Einsicht durchgesetzt,
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Ebd., S. 144. Vgl. hierzu auch Börsch-Supan, Helmut, „Zur Deutung der Kunst Caspar David Friedrichs“. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 27/1976, 3. Folge, S. 206. Gurlitt, Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts, S. 153.
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dass man dem Künstler nur gerecht werden kann, wenn man dessen Werk in dessen schriftlich überliefertes, bewusst medienübergreifendes Kunstkonzept einbettet. Dies ist nicht zuletzt eine Folge des Gewichts, das die Hinterlassenen Schriften bei der Interpretation Runges einnehmen. Tatsächlich hängt die Frage nach dem Umgang mit dieser Quelle eng mit der Problematik von Lektüre und Anschauung zusammen. Dies gilt bereits für die Zeit um 1900 und setzt sich bis in die Gegenwart fort. Als Emil Sulger-Gebing 1907 auf Grundlage der Hinterlassenen Schriften eine Ausgabe der Gedanken und Gedichte Runges edierte,77 wurde diese von Franz Schultz kritisch rezensiert. Schultz wies auf die unsichere Quellenlage der Hinterlassenen Schriften hin.78 Er entwickelte aber auch ein eigenes Runge-Bild, das von der Skepsis gegenüber fixierten Interpretationen geprägt ist. So betont er das „Unfertige“ bei Runge, das bei Sulger-Gebing zu einem Monument verfestigt werde.79 Dieses Persönlichkeitsbild konnte Schultz freilich nur aus derjenigen Quelle erschließen, deren dokumentarischen Wert er anzweifelte: aus den Hinterlassenen Schriften. Dementsprechend führt Schultz ein Zitat an: ‚Alle echte Kunst‘, so schreibt Runge, ‚ist nur Armierung unseres Geistes, ein Fernrohr unserer inneren Sinne – das geheimste Wunder in uns, welches wir nicht aussprechen, nicht denken und fühlen können.‘80
Allerdings scheint Schultz die Hinterlassenen Schriften dann doch nicht gründlich genug studiert zu haben, denn die von ihm wiedergegebene Aussage stammt eben nicht von Runge, sondern von Ludwig Tieck: sie steht in der bereits zitierten Absage an das Kommentarprojekt zu den Zeiten und richtet sich potentiell gegen das Streben des Künstlers nach Bedeutungsklärung.81 Das Problem der Verwendung schriftlicher Quellen zur Interpretation von Werken der bildenden Kunst ist im Falle der Hinterlassenen Schriften besonders prekär, denn hier ist ohne Zweifel posthum ein Runge-Bild entwickelt worden, dessen Konstruktcharakter es zu beachten gilt.82 Dass die Rezeption dieses Künstlers ohne eine Kenntnis dieser Edition anders
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Runge, Philipp Otto, Gedanken und Gedichte. Ausgewählt von Emil Sulger-Gebing. Statuen deutscher Kultur, Bd. 16, München 1907. Schultz, Franz, „Philipp Otto Runge als Denker und Dichter“. In: Deutsche Literaturzeitung 29/1908, Sp. 3208. Vgl. ebd., Sp. 3207: „Aber wie hätte wohl dieser kindlich-bescheidene, spätreifende Jüngling, an dem alles noch triebhaft und unfertig war, als er von hinnen ging, der, wie er selbst wußte, alles nur erst gewollt, geahnt, geträumt hatte, wie hätte er über den emphatischen Titel gedacht, unter dem unsere neudruckende buchhändlerische Betriebsamkeit ihn jetzt vorstellt – als eine ‚Statue deutscher Kultur’?“ Schultz, „Philipp Otto Runge“, Sp. 3205. Vgl. Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. 2, S. 263. Vgl. Feilchenfeldt, „Runge und die Dichter“, S. 324.
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verlaufen wäre, ist überaus wahrscheinlich.83 Andererseits ist deren Existenz doch eher als ein Gewinn anzusehen. Ein quellenkritisches Studium der durch Runges Bruder herausgegebenen Schriften bietet nämlich überhaupt erst die Chance, ein Kunstkonzept in seiner ganzen Eigenart zu entdecken, das gar keine Autonomie beanspruchte. Tatsächlich hat Runge in einer so direkten und unmittelbaren Weise an der Umsetzung des romantischen Leitbildes ‚Universalpoesie‘ gearbeitet, dass selbst ein Schriftsteller der Romantik wie Ludwig Tieck nicht gewillt war, diese Umsetzung mitzutragen. Runges Arbeiten lassen sich demnach nicht angemessen erfassen, solange man Anschauung und Lektüre in eine Opposition setzt. Seine Kunst steht für eine Romantik, die sowohl geschaut als auch gelesen werden muss.
Bibliographie 1. Quellen
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Vgl. Langner, „Runge in seiner Zeit“, S. 186.
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Natur, Volk und Geschichte Die künstlerische Konstruktion Norwegens in der Landschaftsmalerei Johan Christian Claussen Dahls (1788-1857) SUSANNE WITTEKIND Die aktuelle Diskussion in den Kulturwissenschaften um Räume, mental maps und Erinnerungsorte motiviert mich zu einer neuen Betrachtung oder relecture der Landschaftsmalerei Dahls. Dieser gilt in der Kunstgeschichte allgemein als Protagonist einer realistischen Landschaftskunst und − ungeachtet seiner Zeitgenossenschaft und engen Freundschaft mit Caspar David Friedrich − als Gegenpol einer symbolisch-romantischen Landschaftsmalerei. Aufgreifen möchte ich Sigrid Weigels Konzept der ‚Topo-Graphie‘, die den Raum „als eine Art Text betrachtet, dessen Zeichen oder Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern sind“.1 Dieses Konzept ist mit Überlegungen zur Natur- und Erdgeschichte in der Romantik zu verknüpfen. Denn die Romantiker beschreiben die Natur als für den Menschen unlesbar gewordenen Text, als Hieroglyphen, die erst durch den Künstler sichtbar und erfahrbar gemacht und zu Sinnbildern verdichtet werden.2 Dahl und Friedrich markieren zwei unterschiedliche Weisen, die Landschaft als bedeutungshaltiges visuelles (Sprach)Medium künstlerisch neu zu erschließen. Geschieht dies bei Friedrich vor allem durch Motivwahl und kompositionelle Inszenierung, die auf die Bedeutungshaltigkeit des Bildes hinweist, so wird der symbolische und historische Gehalt in den geographisch und topographisch ‚richtig‘ dargestellten Landschaften Dahls eher verborgen. Dieses Konzept versteckter, natürlicher und zugleich allgemeinverständlicher
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Weigel, Sigrid, „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“. In: Kultur-Poetik 2/2002, S. 151-165, hier S. 160. Vgl. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan, „Was lesen wir im Raume?“. In: Dies. (Hgg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 7-49, hier S. 16 f. Vgl. Scholl, Christian, Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst, München/Berlin 2007.
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Symbolik ist im Kunstdiskurs der 1820er Jahre zu verorten. Dahls Konstruktion norwegischer Landschaft strebt nach ‚wahrer‘ Darstellung der Natur und Landschaft, d.h. sie beruht auf einer Verbindung von geologisch und botanisch genauer Beobachtung mit symbolischem Bedeutungsgehalt. Seine malerische Vision norwegischer Landschaft ist enorm erfolgreich und prägt die Ausbildung nationaler Erinnerungsorte und nationalen Selbstverständnisses in Norwegen im 19. Jahrhundert und bis heute.
Tendenzen romantischer (Landschafts-)Kunst Als Hauptvertreter und Inbegriff romantischer Malerei gelten heute die Künstler Caspar David Friedrich (1774-1840) und Philipp Otto Runge (1777-1810). Sie waren Dichtern wie Ludwig Tieck oder Clemens Brentano freundschaftlich eng verbunden. Vergleichbar der von Novalis geforderten Romantisierung oder Poetisierung der Welt3, strebten sie danach, in den scheinbar einfachen Dingen der Natur Symbole für die Grundverhältnisse des Lebens und des Wirkens Gottes zu finden und durch künstlerische Darstellung dem Gemüt anderer Menschen zu vermitteln, dies insbesondere in der Landschaftsmalerei.4 Doch auch für eine jüngere Generation romantischer Künstler bildeten die Dichtungen von Novalis, Wackenroder, Tieck und der Brüder Schlegel, ihre Ideen, Ansätze und Problemstellungen – ebenso wie die Malerei Friedrichs – einen wichtigen Bezugspunkt. Insbesondere die Suche nach einer neuen, natürlichen und
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Novalis (Friedrich Hardenberg), „Vorarbeiten 1798“, Nr. 105. In: Ders., Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, Das philosophisch-theoretische Werk, hg. v. Hans-Joachim Mähl, München/ Wien, S. 334: „Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation idenfizirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.“ Vgl. Runge, Philipp Otto, „Brief an seinen Bruder Daniel in Hamburg, den 9. März 1802“. In: Ders., Die Begier nach der Möglichkeit der Bilder, Leipzig 1982, S. 90-98. Schon Sulzer sah die Landschaftsmalerei in besonderer Weise dazu geeignet, Empfindungen des Herzens beim Betrachter zu regen; vgl. Sulzer, Johann Georg, „Künste, schöne Künste“. In: Ders., Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig 1792, 2. Aufl., Reprint Hildesheim 1970, Bd. 3, S. 72-95, hier S. 73 f. Vgl. Büttner, Frank, „Bildungsidee und bildenden Kunst in Deutschland um 1800“. In: Reinhart Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 259-284, hier S. 264 f.
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unmittelbar auf das Gemüt der Betrachter wirkenden, sinnbildhaften Sprache wurde aufgegriffen und weitergeführt.5 So berichtet der 1803 in Dresden geborene Ludwig Richter in seinem römischen Tagebuch am 30. Januar 1825, dass in der deutschen Künstlerversammlung über die Entzifferung der Sprache der Natur und Friedrichs Naturauffassung diskutiert wurde.6 Das Ideal des Kindersinns, mit dem die Natur wahrhaft zu erfassen sei, findet sich bei Richter ebenso wie die Begeisterung für Shakespeare oder Volksmärchen.7 Doch der Blick zurück in die geistige Aufbruchszeit um 1800 und die Zeit der Freiheitskriege ist unter der Herrschaft der Restauration in den 1820er Jahren geprägt von Zorn über die ausgebliebene Realisierung der damaligen Ideale und das Scheitern der nationalen Einheit und die Abweisung bürgerlicher Mitsprache, er ist getragen von Skepsis gegenüber den älteren romantischen Versuchen der Realisierung einer wahren, das Gemüt oder Herz bewegenden Kunst.8 Zwei markante Akzentverschiebungen gegenüber der romantischen Malerei Runges und Friedrichs sollen im folgenden am Beispiel Dahls dargelegt werden, einerseits das Streben nach einer unmittelbar wirksamen Kunst für das Volk, andererseits die Thematisierung und Visualisierung der historischen Dimension von Natur und menschlichem Lebensraum. Neues Gewicht erhält in den 1820er Jahren die Suche nach einer unmittelbar auf das Gemüt einwirkenden Symbolsprache, die in der naturwahren Darstellung der Dinge verborgen ist, durch den Künstler freigelegt
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Scholl, Romantische Malerei, S. 55-60 zur Thematisierung der Natur als Sprache und Offenbarung Gottes bei Runge und Tieck, sowie zur romantischen Rezeption Jakob Böhmes. Richter sieht den Geist, die Bedeutung der Natur in Friedrichs Bilder „hineingezwungen“, er kritisiert dessen bloß allegorisch-zeichenhaften Gebrauch der Naturformen; siehe Richter, Ludwig, Lebenserinnerungen eines deutschen Malers. Selbstbiographie nebst Tagebuchniederschriften und Briefen, hg. v. Heinrich Richter, Leipzig 1909, S. 536 f. Runge, Philipp Otto, „Brief an Johann Heinrich Besser in Hamburg, im Februar 1802“. In: Ders., Begier, Leipzig 1982, S. 88: „Kinder müssen wir werden, wenn wir das Beste erreichen wollen“; Richter, Lebenserinnerungen, Tagebucheintrag vom 27.8.1825: „Ich wünschte, ich wäre imstande, die Natur mit einem recht einfältigen, frommen Kindersinn zu erassen und sie ebenso anspruchslos und einfach, wie ein liebevolles Spiel, darzustellen und zu behandeln.“ (Ebd., S. 555); Tagebucheintrag vom 26.11.1824: „Es ist gewiß recht gut für den Landschafter, wenn er die Volkssagen, Lieder und Märchen seiner Nation studiert. Er sieht darin den Geist des Volkes, welcher mit diesen Sagen seinen Umgebungen belebt...Wie herrlich sind... alte Burgen, Klöster, einsame Waldgegenden, sonderbare Felsen dargestellt! Köhler, Schäfer, Pilger, schöne Jungfrauen, Jäger, Müller, Ritter, Nixen und Riesen, das sind die natürlichen, romantischen Personen, welche in jenen Sagen spielen“ (Ebd., S. 519). Vgl. Richter, Lebenserinnerungen, Tagebucheintrag vom 24.9.1825:...“Deutschland! Das Wort mit allen sienen großen Erwartungen war es, welches vor zehen bis zwölf Jahren Kunst und Wissenschaft emporhob. Der Geist des Volkes rauschte auf wie eine Welle. Die Erwartungen des deutschen Volkes wurden von den Fürsten nicht erfüllt, die schöne Welle brandete und verlor sich. Wo ist denn jetzt das schöne begeisterte Treiben hin? Alles verloren und verschwunden.“ (Ebd., S. 558).
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wird und das Volk erreicht – das Leitbild wandelt sich vom Künstler als Außenseiter der Gesellschaft zum populären Künstler.9 Der künstlerische Diskurs verlagert sich von der Reflexion auf den künstlerischen Schaffensprozess (und das künstlerische Erfassen und Darstellen des Wesens der Natur – so bei Runge durch die Interferenz von Naturbeobachtung und einer aus dem Gemüt geschöpften, auf Natur projizierten Bedeutung –) einerseits auf die Affizierung des Gemüts der Betrachter durch die Kunst und die Vermittlung von Gehalten, andererseits auf exakt beobachtete naturwissenschaftlich gestützte Landschaftsaufnahmen. Schon Runge hatte (selbstkritisch) gesehen, dass seine Werke nur von den wenigsten verstanden bzw. richtig empfunden wurden.10 Nun suchen Künstler wie Peter Cornelius, Julius Schnorr von Carolsfeld, Ludwig Richter und Johan Claussen Dahl nach neuen Wegen, durch die Kunst auf das Gemüt der Menschen bildend einzuwirken. Cornelius (1783-1867) propagiert öffentlich zugängliche, monumentale Wandmalereien als geeignetes Medium der Volksbildung und initiiert große historische Freskenzyklen.11 Kunstgenuss soll nicht mehr Privileg des Adels oder reicher Bürger sein, sondern auch dem Volk ermöglicht werden. Denn mit der ‚wahren‘ Kunst werden zugleich Werte vermittelt zur inneren Bildung des Menschen, die nötig ist, um eine neue Gesellschaft von innen heraus zu verwirklichen. Ähnliche Bestrebungen finden sich bei Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872), der in Rom 1825 eine Bibel in Bildern als Volksausgabe entwirft. Ihr stellt er
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Vgl. Büttner, Bildungsideen, S. 282-284. Scholl, Romantische Malerei, S. 90-95. Schon 1814 war Peter Cornelius mit seinen Überlegungen zur Wiedererweckung der öffentlichen Monumentalmalerei an den Publizisten Joseph Görres in München herangetreten mit der Bitte, sich für entsprechende Aufträge zur Ausmalung öffentlicher Gebäude, von Kirchen und Kapellen, Rathäusern und Kaufhäusern in deutschen Städten einzusetzen; denn „das öffentliche Leben ist ja so arm an allem edlen Schmuck“; die Künstler sollen „ihre wahrhaft hohe Kunst mit wirksamer Kraft ins Herz der Nation, ins volle Menschenleben“ ergießen. Vgl. Peter Cornelius, Brief an Joseph Görres vom 3.11.1814, zitiert nach Metken, Günter, „Die Nazarener: Selbstzeugnisse und Kritiken“. In: Klaus Gallwitz (Hg.), Ausstellungskatalog Die Nazarener, Frankfurt 1977, S. 401-416, hier S. 402. Als Direktor der Düsseldorfer Akademie regte Cornelius 1823 einen mittelalterlichen Historienmalereizyklus für den Freiherrn von Stein auf Schloss Cappenberg an und gewann Graf Franz von Spee für die Ausmalung des Gartensaales von Schloss Heltorf durch Düsseldorfer Historienmaler; siehe Löcher, Kurt, „Die Staufer in der bildenden Kunst“. In: Ausstellungskatalog Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur, Stuttgart 1977, Bd. 3: Aufsätze, hg. v. Haussherr, Reiner, S. 291-306, hier S. 296 f; Fastert, Sabine, Die Entdeckung des Mittelalters. Geschichtsrezeption in der nazarenischen Malerei des frühen 19. Jahrhunderts, München 2000, zu den Anfängen romantischer Geschichtsmalerei S. 40 f, zu Pforrs Rudolf von Habsburg-Bilder 1808/10 S. 66-75, zu den Malereien in Heltorf und Cappenberg S. 116-135. Vgl. auch Büttner, Frank, Peter Cornelius. Fresken und Freskenprojekte, Bd. 1, Wiesbaden 1980, S. 64-72; sowie Ders., „Bildung des Volkes durch Geschichte. Zu den Anfängen öffentlicher Geschichtsmalerei in Deutschland“. In: Ekkehard Mai (Hg.), Historienmalerei in Europa. Paradigmen in Form, Funktion und Ideologie, Mainz 1990, S. 77-94.
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im Druck 1860 Betrachtungen über den Beruf und die Mittel der bildenden Künste Antheil zu nehmen an der Erziehung und Bildung des Menschen voran.12 Auch Ludwig Richter (1803-1884) fasst in Rom 1825 den Plan, über künstlerisch gestaltete Volkskalender und Volksbücher zu wirken, realisiert diese aber erst in Dresden in Zusammenarbeit mit dem Verleger Georg Wigand seit den 1840er Jahren.13 Religiöse Erweckung und politisch-historische Volksbildung gehen in der Kunst dieser „Deutsch-Römer“ zusammen. Den Deutsch-Römern und ihrem Bemühen um eine „deutsche“ Malerei bzw. patriotische Kunst vergleichbar setzt sich der gebürtige Norweger und in Kopenhagen sowie Dresden ausgebildete und tätige Dahl (17881857) zum Ziel, eine norwegische Malerei zu begründen und durch sie das Heimatland seinen Bewohnern erst nahe zu bringen und die Ausbildung eines nationalen Selbstbewusstseins durch seine Kunst zu befördern.14 Dies geschieht vor dem zeitpolitischen Hintergrund der Ablösung der jahrhundertelangen dänischen Oberherrschaft durch die schwedische Herrschaft in Norwegen 1814 und steht im Kontext der Ausbildung einer norwegischen Schriftsprache und Literatur. Zunächst setzt Dahl seine Bilder aus Chiffren des Nordisch-Rauhen zusammen – d.h. dem Modell Everdingens folgend aus Wasserfällen, dunklen Wäldern, schroffen Ber-
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Schnorr von Carolsfeld, Julius, Die Bibel in Bildern. Bilderläuterungen von Heinrich Merz, Leipzig 1860, Neudruck Düsseldorf, 4. Auflage, 1988, die „Betrachtungen“ hier S. 5-23: „Die in der Kunst liegenden Bildungsmittel können aber so wirksam sein, namentlich auch auf dem Gebiete des sittlichen und religiösen Lebens, daß die Beförderung der rechten Ausübung und des rechten Verständnisses derselben als eine Angelegenheit von großer Bedeutung erscheint.“ (S. 5) „[..] und doch ist die Kunst ein bildliches Denken, sei spricht, indem sie gestaltet. Sie ist eine Sprache, die nebst der Musik eine Eigenschaft besitzt, welche sie vor allen anderen Sprachen auszeichnet. Sie bedarf keiner Verdollmetschung, sie ist eine Weltsprache, eine Universalsprache.“ (S. 8). „Die Bilder sind ihm (dem Kind) Gedanken...“ (S. 8). „Das Werk will ein Volksbuch werden...“ (S. 21). Vgl. Wittekind, Susanne, „König David, seine Frauen und die Moral. ‚Die Bibel in Bildern‘ von Julius Veit Schnorr von Carolsfeld“. In: Annelies Amberger/Sabine Rehm u.a. (Hgg.), Per assiduum studium scientiae adipisci margaritam. Festschrift für Ursula Nilgen zum 65. Geburtstag, St. Ottilien 1997, S. 325-338. Richter, Lebenserinnerungen, Tagebucheintrag vom 19.10.1825: „Man sollte wirklich auf die gewöhnlichen Volkskalender mehr Fleiß verwenden, und ich habe wohl Lust, noch künftig die Kupfer dazu zu machen, wenn sich nur ein Gleichgesinnter für die Wahl des Textes fände; man könnte viel Gutes damit stiften.“ (Ebd. S. 560) Vgl. Wittekind, Susanne, „Kunst fürs Volk. Ludwig Richters Dorfgeiger als Programmbild“. In: Renate Buschmann/Marcel R. Marburger/Friedrich Weltzien (Hgg.), Dazwischen. Die Vermittlung von Kunst. Festschrift für Antje von Graevenitz, Berlin 2005, S. 161-168. Grundlegend zu Dahl ist immer noch die Monographie mit Werkverzeichnis und Briefedition von Lodrup Bang, Marie, Johan Christian Dahl 1788-1857. Life and Works, 3 Bde., Oslo 1988, zu seiner Verortung innerhalb der romantischen Landschaftskunst und seiner (Er)findung der norwegischen Landschaft hier Kap. 11-13, S. 138-150.
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gen, einsamen Gehöften.15 Doch, so die These, modifiziert er diese in einer Weise, dass ein neues Norwegenbild hervortritt, das die Menschen in Harmonie mit der großartigen, sie umgebenden Landschaft zeigt. Seine Landschaften thematisieren die erdgeschichtlichen Rahmenbedingungen ihrer Existenz. Ein wissenschaftlich-geologisch geschulter Blick begleitet das künstlerische Auffinden ‚wahrer‘ und zugleich sprechender Motive. Dahl prägt auf diese Weise mit seinen Landschaftsgemälden das ‚Bild‘ Norwegens für die nachfolgenden (Künstler)Generationen. Zum anderen erarbeitet Dahl, noch bevor Carl Rottmann um 1830 seine Gemäldereihe berühmter antiker Geschichtssorte beginnt, ein neuartiges Konzept der historischen Landschaft.16 Denn er wählt Bildausschnitte mit Menhiren (aufgerichtete Findlinge), die an die vorchristliche Geschichte des Landes erinnern, er malt Stabkirchen als Zeugnisse der christlich-mittelalterlichen Vergangenheit Norwegens und Landschaftsorte als heute leere Bühne nationalgeschichtlich wichtiger Ereignisse. In literarischer Form ist das Aufrufen konkreter Städte oder Stätten als Orten wichtiger historischer Ereignisse oder als Zeugen der kulturellen Blüte einer Epoche in der Romantik geläufig. So setzt Wilhelm Heinrich Wackenroders Ehrengedächtnis unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürer ein:17
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Vgl. Graduiertenkolleg Kiel, Imaginatio borealis, 1999-2008, www.uni-kiel.de/borealis. Kulturgeschichtlich ist dieses Bild des Nordens und seiner der Landschaft und Klima angepassten Bewohner von Tacitus geprägt, von den französischen Klimatheoretikern des 18. Jahrhunderts fortgeschrieben, auch bei Herder fassbar; vgl. Fink, Gonthier-Louis, „Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive“. In: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744-1803 (Studien zum 18. Jahrhundert Bd. 9), Hamburg 1987, S. 156-176, zu Herder hier S. 172-175; zur Aufwertung der nordischen Dichtung als angemessener Ausdruck der Völker vgl. Johann Gottfried Herder, „Von deutscher Art und Kunst“. In: Johann Gottfried Herder. Werke, Bd. 1, Herder und der Sturm und Drang 1764-1774, hg. v. Wolfgang Pross, Darmstadt 1984, 475-572, hier S. 481-484; vgl. Dann, Otto, „Herder und die Deutsche Bewegung“. In: Sauder (Hg.), Herder, S. 308-340, hier S. 321 f. Zu dem von Fernow 1806 geprägten Begriff, der zunächst für Gemälde J. A. Kochs verwendet wurde, siehe Eschenburg, Barbara, „Die historische Landschaft. Überlegungen zu Form und Inhalt der Landschaftsmalerei im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert“. In: Christoph Heilmann/Erika Rödiger-Diruf (Hgg.), Ausstellungskatalog Landschaft als Geschichte. Carl Rottmann 1797-1850. Hofmaler König Ludwigs I., München 1998, S. 63-74; Bierhaus-Rödiger, Erika, „Die historische Landschaftsmalerei in München unter Ludwig I.“ In: Zweite, Arnim (Hg.), Ausstellungskatalog Münchner Landschaftsmalerei 1800-1850, München 1979, S. 126-148; zuletzt Brevern, Jan von, „Bild und Erinnerungsort. Carl Rottmanns Schlachtfeld von Marathon“. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 71/2008, S. 527-542. Wackenroder, Wilhelm Heinrich, „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (Berlin 1797). In: Werner Busch/Wolfgang Beyrodt (Hgg.), Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland Bd. I: Kunsttheorie und Malerei. Kunstwissenschaft, Stuttgart 1982, S. 40-47, hier S. 40.
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„Nürnberg! Du vormals weltberühmte Stadt. Wie gern durchwanderte ich deine krummen Gassen; mit welcher kindlichen Liebe betrachtete ich deine altväterlichen Häuser und Kirchen, denen die feste Spur von unsrer alten vaterländischen Kunst eingedrückt ist!“
Diesem literarischen Städtelob liegt ein Konzept topographisch gestützter Erinnerung zugrunde, die persönliche wie literarische Eindrücke mit einschließt.18 In den 1820er Jahren wird die Wahrnehmung der Kunstzeugnisse alter Zeiten wissenschaftlicher und zugleich politisch aufgeladen. So widmet der Frankfurter Jurist Johann Friedrich Böhmer (1795-1863) sich dem kunsthistorischen Studium deutscher Baudenkmäler mit dem Ziel, seine Mitbürger auf kulturelle Leistungen ihrer Vorfahren aufmerksam zu machen und ihr politisches Selbstbewusstsein wie ihre kulturelle Verantwortung dadurch zu stärken.19 Er regt zu diesem Zweck populären Unterricht über Kunst an,20 publiziert daneben eigene kunsthistorische Studien zu wichtigen Monumenten seiner Heimatstadt Frankfurt, zur rothen Türe
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Dieses hat in der jüngsten Zeit im Kontext des ‚spatial turns‘ in der Geschichts- und Kulturwissenschaft neue Aufmerksamkeit erfahren. Wieder entdeckt wurden im Kontext der Mentalitäts- und Memoriaforschung die kultursoziologischen Arbeiten von Maurice Halbwachs Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis (1941), Konstanz 2003 und Fernand Braudel „Géohistoire und geographischer Determinismus“ (1949). In: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hgg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2006, S. 395-407), so von Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Fruchtbar gemacht wurden diese Ansätze bisher vor allem im Rahmen der Diskussion um nationale Erinnerungsorte oder Genese nationaler Symbole in Frankreich Nora, Pierre (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005) und Deutschland Francois, Etienne/Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001-2002. Zu überlegen wäre, inwiefern z.B. bei Gaston Bachelard „Poetik des Raumes“ (1957). In: Dünne/Günzel (Hg.), Raumtheorie, S. 166-179) die intensiv erlebten und in individueller Erinnerung sinnenumfassend und zeitlos präsenten glücklichen Kindheitsräume auf romantische Konzepten tiefen Erlebens fußen. Die Reflexion auf das sinnliche Erlebnis und auf die von persönlicher Stimmung und Handlungszusammenhängen bedingten Wahrnehmung wird im Zuge der Wahrnehmungspsychologie Anfang des 20. Jahrhunderts von Kurt Lewin thematisiert („Kriegslandschaft“ (1917). In: Dünne/Günzel (Hg.), Raumtheorie, S. 129-140). Böhmer ist als Regesten-Editor in der Geschichtswissenschaft bekannt, seine kunsthistorischen Ansätze und Arbeiten wurden jedoch kaum beachtet; eine Ausnahme bildet Eberlein, Kurt Karl, „Johann Friedrich Böhmer und die Kunstwissenschaft der Nazarener“. In: Festschrift für Adolf Goldschmidt zum 60 Geburtstag, Leipzig 1923, S. 126-138. Grundlage für das Folgende ist die Edition von Texten Böhmers durch Janssen, Johannes, Johann Friedrich Böhmers Briefe und kleinere Schriften, Freiburg 1868/1869, 3 Bde. Mit besonderem Interesse vermerkt Böhmer bei seinen Reisen zünftische und bürgerlich-gemeinschaftliche Kunststiftungen. So schildert er den Chor der Nürnberger Sebalduskirche, dessen von der Stadt bezahlte Architektur Raum gab für Nischenstatuen, Glasfenster, Reliefs und Gemälde, die von einzelnen Familien mit Angabe ihres Wappens gestiftet wurden, und dessen künstlerischer Höhepunkt, das Sebaldusgrabmals Peter Vischers, gar durch die Almosen einfacher Leute finanziert wurde. Vgl. Böhmers Briefe an Passavant vom 17.2.1821 (Janssen, Böhmer, Bd. 2, Nr. 34, S. 77) sowie vom 20.2.1820 (Janssen, Böhmer, Bd. 2, Nr. 26, S. 56). Vgl. Böhmers Brief an Passavant vom 10.4.1821 (Janssen, Böhmer, Bd. 2, Nr. 35, S. 86).
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der Bartholomäuskirche als städtischem Rechtsort (1831) und zum alten Frankfurter Hospiz (1840), um den von Bürgern gestifteten gotischen Bau vor dem Abriss zu bewahren und als Zeugnis bürgerlich-karitativer Verantwortung und Selbstverwaltung zu erhalten.21 In der jüngeren Generation der Romantiker formiert sich ein neuer Künstlertypus, dessen künstlerisches Schaffen stark mit einem politischkulturellen Sendungsbewusstsein verbunden ist, das Gegenwart und historische Vergangenheit verknüpft. Das Kunstschaffen wie die Kunstwahrnehmung bleiben im Gemüt verankert, doch wissenschaftliche Studien und historisches Bewusstsein begleiten und bestimmen sie mit. So wirkt der Künstler Dahl nicht allein durch seine Gemälde, sondern er engagiert sich als Mitbegründer eines norwegischen Kunst- und Altertumsvereins, er rettet Stabkirchen vor dem Abriss und legt eine erste kunsthistorische Untersuchung derselben vor. Aufgrund der biographischen und künstlerischen Nähe zu C.D. Friedrich liegt es nahe, Dahls Werk auf die hier skizzierten Verschiebungen innerhalb der romantischen Malerei in den 1820er Jahren hin zu untersuchen.
Die künstlerische Konstruktion Norwegens durch Johan Claussen Dahl Die Landschaftsmalerei nahm bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in der akademischen Hierarchie der Kunstgattungen eine untergeordnete Stellung ein, denn ihr Wesen wurde als bloß abbildend, als mimetisch bestimmt. Ungeachtet dessen erschließen Anfang des 19. Jahrhunderts Künstler in der Landschaftsmalerei neue Wege, um sittlich-moralische Gehalte und Reflexionen, die bisher der Historienmalerei vorbehalten waren, dem Betrachter über das Gemüt zugänglich zu machen. Sie werten mit künstlerischen Mitteln die Landschaftsmalerei zur Historienmalerei auf, ohne die traditionellen Themen und Motive der Landschaftskunst zu verlassen. Diese Leistung wird in der kunsthistorischen Forschung vor allem C.D. Friedrich zugeschrieben. Er wird als Inbegriff romantischer Malerei, als Theoretiker und Begründer einer subjektiven, auf das Gemüt wirkenden Gedankenkunst gefeiert. Doch diese Fokussierung verengt den Blick auf die Neudeutung der Landschaft in der romantischen Malerei. Denn neben Friedrich stehen viele andere ‚romantische‘ Künstler, die mit
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Böhmer, Johann Friedrich, „Die rothe Thüre zu Frankfurt am Main“. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 1/1844, Heft 3, S. 114-124, wiederabgedruckt bei Janssen, Böhmer, Bd. 3, S. 432-440; Ders., „Das Hospital zum heiligen Geist in Frankfurt“. In: Frankfurter Conversationsblatt , 6./9. März 1840, wiederabgedruckt bei Janssen, Böhmer, Bd. 3, S. 441-452.
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anderen Mitteln ähnliche Ziele verfolgen. Zu diesen gehört Friedrichs Dresdner Künstlerfreund, der Norweger Johan Christian Dahl.22 In der Forschung wird er als künstlerischer Gegenpol Friedrichs stilisiert, als ein spontaner, realistischer Schilderer von Natureindrücken. Gelobt werden daher vor allem seine fast meteorologisch genauen Wolkenstudien.23 In der norwegischen Kunstgeschichte wird Dahl hingegen seit Ende des 19. Jahrhunderts als Begründer der norwegischen Kunst/Malerei gefeiert. Denn, so das euphorische Lob von Diedrichson und Aubert, er habe in seinen Werken als erster das Wesen der norwegischen Natur erfasst und ideal zur Darstellung gebracht.24 Doch auch hier begründet der Realismus seiner Landschaftsansichten, denen gern Fotografien vergleichend zur Seite gestellt werden, seine Wertschätzung. Dieser Deutung Dahls als Realist möchte ich die These entgegenstellen, dass auch Dahl die Landschaftsmalerei aufwertet zu einer reflexiven Bedeutungskunst. Aus dieser entwickelt er ein anthropologisch-ethisches Volks- und Nationskonzept für Norwegen. Er greift anfangs gezielt solche Motive auf, die seit dem 17. Jahrhundert als typisch nordische, im 18. Jahrhundert dann als nordisch-erhabene Naturmotive galten – mit Vorliebe waldige Berglandschaften mit wilden Wasserfällen. Doch distanziert sich Dahl, indem er sie aufruft, von dieser Tradition der Darstellung des Erhabenen in der Natur. Dies geschieht durch künstlerische Mittel wie veränderte Bildausschnitte, Betrachterstandpunkte und Lichtregie. Dieser bildmäßig-komponierte Charakter ist bereits seinen auf der Norwegenreise vor Ort, plein-air gezeichneten oder gemalten Studien eigen. Wichtig ist gegenüber der ‚erhabenen‘ Landschaftskunst vor allem die gezielte Einbeziehung und Thematisierung der menschlichen Lebenswelt an den Grenzen der ‚erhabenen‘ Natur. Damit insistiert er, wie bereits Bang angedeutet hat, auf dem Leben der Landbewohner als integralem Teil der Natur einer Region.25 Dahl, so die These, reflektiert auf die Landschaft als ein die menschliche Lebensweise und damit den ‚Volkscharakter‘ prägendes Element. In den geologisch präzise erfassten norwegischen Landschaften thematisiert er zudem das Verhältnis von erdgeschichtlicher und historischer Zeit gegenüber der Spanne des menschlichen Lebens. Natürliche
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Aubert, Andreas, Die nordische Landschaftsmalerei und Johan Christian Dahl, Berlin 1947 (Orig. Den nordiske Naturfolelse og Professor Dahl. Hans Kunst og dens Stilling i Aarhundredets Utvikling, Kristiania 1894). Heilmann, Christoph (Hg.), Ausstellungskatalog Johan Christian Dahl (1788-1857). Ein Malerfreund Caspar David Friedrichs, München 1988, Einleitung S. 12; Guratzsch, Herwig (Hg.), Ausstellungskatalog Schloss Gottorf, München. Wolken, Wogen, Wehmut: Johan Christian Dahl 1788-1857, der Freund Caspar David Friedrichs, Köln 2002, Einleitung S. 9. Hoppmann, Jürgen, „Johan Christian Dahls Ölstudien vom 2. Dezember 1820. IschiaMotive damals und heute“. In: Guratzsch (Hg.), Wolken, S. 47-53. Bang, Dahl, Bd. 1, S. 162.
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Formungsprozesse, kulturelle Relikte vergangener Zeiten wie Bauta-Steine und Menhire, Verkehrswege, Bauweisen, Trachten und Musikinstrumente der Menschen lassen die Landschaften mit ihren Bewohnern zu Reflexions- und Erinnerungsräumen werden, die verschiedene Zeit- und Lebenserfahrungen im Landschaftserleben wachrufen. Um dies zu zeigen, wird zunächst Dahls künstlerische Ausgangslage skizziert – seine Auseinandersetzung mit der traditionellen nordischen Landschaftskunst des 17. Jahrhunderts, den norwegischen Veduten seines Kopenhagener Lehrers Lorentzen und ‚erhabenen‘ Gebirgslandschaften. Es folgt eine Skizze der von Dahl in seinen Dresdener Jahren 1818-1853 diskutierten Problemen, einerseits seine Auseinandersetzung mit dem Geologen Naumann und mit C.D. Friedrich und Carus hinsichtlich der rechten Erfassung und Darstellung der Natur, zum anderen der Diskurs um die Bildung einer norwegischen Identität im Briefwechsel mit seinen Mentoren, den Geschichtsforschern Thomsen und Lyder Sagen. Diese bieten die Basis für die nachstehende Analyse ausgewählter norwegischer Landschaftsbilder Dahls.
Die künstlerische Ausgangslage Dahls Dahl, geboren 1788 in Bergen als Sohn eines armen Fischers und Fährmanns, schloß zunächst eine Lehre als Dekorationsmaler in Bergen ab.26 Gelegenheit, die heimische Landschaft zu bereisen, hatte er nicht. 18111818 ging er mit Hilfe eines Stipendiums zum Studium an die Akademie in Kopenhagen. Hier lernte Dahl die Norwegen-Reiseveduten seines Akademie-Lehrers Lorentzen von 1792 kennen, suchte und fand künstlerische Anregungen jedoch vor allem im Studium niederländischer Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts in der königlichen Galerie und in privaten Sammlungen in Kopenhagen, vor allem in Werken Allaert van Everdingens (1621-1675). Dieser war nach Aussage des Kunstschriftstellers Houbraken selbst in Norwegen gewesen,27 was seine Werke mit ihren
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Aus dieser Zeit stammt die Zeichnung Dahls vom Marktplatz und Hafen in Bergen, um 1806 (Guratzsch, Wolken, S. 136). Derartige Bilder waren in Europa beliebt, als Erinnerung an Reisen oder als Demonstration örtlicher Verbundenheit des bürgerlicher Kunden. Zur Ausbildung Dahls siehe kurz auch Neidhardt, Hans Joachim, „Johan Christian Dahl – ein norwegischer Maler in Dresden“. In: Heilmann (Hg.), Dahl, S. 15-19, sowie Dress, Jan, „Johan Christian Dahl und sein Weg zur Natur. Biographische Skizze zum Leben eines Malers zwischen Romantik und Realismus“. In: Guratzsch (Hg.), Wolken, S. 10-34. Houbraken, Arnold, De groote Schouburgh der nederlantsche Konstschilders en Schilderessen, Gravenhage 1753, 2. Aufl., Reprint Amsterdam 1976, Het II. Deel, S. 95 f. berichtet, ein Seesturm habe Aldert von Everdingen an die Küste Norwegens verschlagen, seine nordischen Landschaften werden als besondere Meisterstücke gerühmt.
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wilden Wasserfällen zwischen felsigen Waldstücken in menschenarmer, rauher Umgebung zu ‚authentischen‘ Bildern des Nordens werden ließ. Sie konnten zugleich als Beispiele dynamisch-erhabener Natur betrachtet werden, die in Kants Kritik der Urteilskraft bildhaft aufgerufen werden:28 Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, […] ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u.d.gl. machen unser Vermögen [der Gewalt der Natur] zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit.
Der Vergleich zwischen van Everdingens und Dahls nordischen Landschaften der Kopenhagener Zeit macht jedoch Akzente Dahls deutlich.
Abb. 10: J. C. Dahl, Nordische Landschaft mit einem Wasserfall 1817, Kopenhagen, Kunstmuseum, Inv. Nr. 43, Öl au f Leinwand, 187.5 x 250.5 cm.29
Dahls Waldarbeiter zeigen einem bürgerlich gekleideten Reisenden den Wasserfall. Nicht die bäuerliche Arbeit in der wilden Natur, sondern die
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Kant, Immanuel, „B. Vom Dynamisch-Erhabenen der Natur § 28. Von der Natur als einer Macht“. In: Ders., Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Bd. X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, 5. Aufl. 1981, S. 184-189, hier S. 185. Vgl. Guratzsch (Hg.), Wolken, Nr. 11, S. 200.
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moderne Naturbetrachtung des Städters wird thematisiert. Dieser tritt, die Erfahrung des Erhabenen im Angesicht der wilden Kraft der Natur suchend, so nah wie möglich an den Fall heran. Damit greift Dahl ein Leitmotiv der Alpenveduten des späten 18. Jahrhunderts auf, in denen Gruppen Schaulustiger, von sicheren Felsen im Vordergrund aus, gewaltig aufragende Gletscher bestaunen.30 Zwar zeigt auch Dahl die neugierige Annäherung des Bürgers an die wilde Natur, doch seine Komposition distanziert den Bildbetrachter vom Wasserfall und lenkt seinen Blick über die Stromschnelle hinaus in die dahinter liegende weite Hügellandschaft. Schräg einfallendes Licht lässt warm das Grün auf dem Felsen leuchten, die dunklen Tannen gegen den hellen Himmel licht und leicht erscheinen. Diese Elemente konterkarieren eine ‚erhabene‘ Wirkung des Wasserfallmotivs zugunsten einer Harmonie zwischen Mensch und Natur. Dieses modifizierte Norwegen-‚Bild‘ Dahls gefällt dem dänischem Kronprinzen Frederick und wird von ihm erworben. Das Gemälde erhält, nachdem die dänische Krone 1814 Norwegen an Schweden hatte abtreten müssen, den Status eines Erinnerungsbildes. Gemalt von einem ehemaligen Staatsbürger, dem Norweger Dahl, wird es zu einem Stellvertreter des Landes, das seit dem 14. Jahrhundert zur dänischen Krone gehört hatte.
Dahls Stellung in den zeitgenössischen Diskursen über Natur, Landschaftsmalerei und Nationalgeschichte In Dresden schließt Dahl 1818 enge Freundschaft mit C.D. Friedrich (1774-1840) und wird dessen Hausgenosse, er lernt den Dichter Ludwig Tieck (1773-1853) kennen, den Hofarzt und Maler Carl Gustav Carus (1789-1869), den Geologen und Mineralogen Carl Friedrich Naumann (1797-1871).31 Daneben bleibt er mit seinem dänischen Mentor, dem Archäologen und Historiker Thomsen in engem Kontakt, erbittet von ihm Literatur zur dänischen Geschichte und nordische Dichtungen, aber auch
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Berühmte Beispiele sind Caspar Wolfs Rhonegletscher 1778 (Aarau) und Lauteraargletscher 1776 (Basel); vgl. Raeber, Willi, Caspar Wolf 1735-1783. Sein Leben und sein Werk. Ein Beitrag zur Geschichte der Schweizer Malerei des 18. Jahrhunderts, München 1979, Werkverzeichnis Nr. 251 f. und Nr. 372; Boerlin-Brodbeck, Yvonne, „Die Alpenlandschaften Caspar Wolfs“. In: Ausstellungskatalog Caspar Wolf (1735-1783). Landschaft im Vorfeld der Romantik, Basel 1980, S. 43-56, sowie Nr. 130. Vgl. Artikel „Karl Friedrich Naumann“. In: Brockhaus´ Konversations-Lexikon, Bd. 12., Leipzig 1898, Sp. 208: Naumann publizierte die Ergebnisse seiner Norwegenreise der Jahre 1821/22 als Beiträge zur Kenntnis Norwegens, 2 Bde., Leipzig 1824, habilitierte sich in Jena und Leipzig, wo er 1826 Professor für Kristallographie sowie Disziplinarinspektor der Bergakademie Freiberg wurde, 1835 Professor für Geognosie (Geologie) in Freiberg, 1842-71 in Leipzig.
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mit Lyder Sander in Bergen, dem Begründer des dortigen Kunst- und Geschichtsvereins. Dahl ist kein Theoretiker, seine Überlegungen sind verstreut über Briefe und Fragmente. Sie belegen aber, dass er Anteil nahm an den aktuellen Diskussionen dieses Kreises. Die Bilder sind seine wichtigsten Statements. Dahl sieht die Landschaftsmalerei nicht als bloß abbildende Kunst, sondern der Künstler interpretiert sie ähnlich wie der Dichter. So notiert er:32 Man kann die Natur nicht unmittelbar umschreiben, nur als ein Gedicht, gepflückt aus der Natur ..., wir müssen sie interpretieren, um Natur und ihre Sprache zu verstehen, ihre Physiognomie, ihre Poesie und ihren Reichtum. ... Jede Region, jeder Gegenstand hat seine eigene Poesie, oft lokal, ja sogar bestimmt von Wetter und Wolkenformen. Man muß ruhig den Eindruck bedenken, den die Natur auf uns macht, und sie mit diesem Eindruck ins Bild setzen. Kurz gesagt, Natur muß als Bild gesehen werden und das Bild als Natur.33
Dahl wendet sich somit gegen ein mimetisches Konzept der Landschaftsmalerei, betont demgegenüber den Wert subjektiver Naturwahrnehmung, Naturerkenntnis und künstlerischer Bildproduktion, die im künstlerisch-schöpferischen Prozess zusammenfallen. Doch fordert er von der künstlerischen Darstellung einer Landschaft Wahrscheinlichkeit, d.h. dass sie den Naturgesetzen nicht widerspreche und die kulturelle Nutzung der Landschaft berücksichtige. Daher kritisiert er Ruisdaels Judenfriedhof in der Dresdner Gemäldegalerie 1818:34 (er) ist zwar sehr schön, doch ich weiß nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Tag muß es wohl sein, weil da ein schwacher Regenbogen ist... Aber es ist in der Natur kaum so, wie Ruisdael es gemalt hat, nämlich, daß da ein Wasserfall auf einem Friedhof ist, die Toten begräbt man kaum an Wasserstellen.
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Aubert, Nordische Landschaftsmalerei, S. 128 f. zitiert aus dem Briefkonzept an den englischen Maler Edward Price, den Dahl 1826 in Norwegen getroffen hatte; vgl. Bang, Dahl, Bd. 1, Nr. 52, S. 248 f. Bang, Dahl, 1988, Bd. 1, Nr. 47, S. 246: Briefkonzept an Christie, Februar 1833. Ähnlich äußert sich Carus, der vom Künstler fordert, die Natur nicht einfach „abzukupfern“; er betont die Nichtigkeit des wie im bloßen Spiegelbild wiedergegebenen und verlangt das Durchdringen des Künstlers zum Wesentlichen und zur ästhetisch bildnerisch geformten Umsetzung desselben. Denn erst das künstlerische Bild könne das Volk erziehen, die Schönheit der von Gott geschaffenen Natur zu erkennen. Carus, Carl Gustav, Neun Briefe über Landschaftsmalerei. Geschrieben in den Jahren 1815 bis 1824, Leipzig 1835, 2. Aufl., zitiert nach dem Wiederabdruck von Apel, Friedmar (Hg.), Romantische Kunstlehre. Poesie und Poetik des Blicks in der deutschen Romantik (Bibliothek der Kunstliteratur 4), Frankfurt/M. 1992, S. 203-279, Stellenkommentar S. 798-806. Guratzsch, Wolken, Anhang VII. Brief Dahls an Ole Devegge in Kopenhagen, Dresden d. 12. Dezember 1818, S. 190 f.; vgl. Lange, Marit, 1819 – ein kritisches Jahr in Dahls Kunst. In: Heilmann, Dahl, S. 29-35, hier S. 30 f.
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Indem der Künstler das Wesen, das Charakteristische einer Landschaft auffasst und zur Darstellung bringt, erhält die Landschaftsmalerei zugleich identitätsstiftenden Wert. In einem Brief an Lyder Sagen erläutert Dahl 1841:35 Eine Landschaft muß uns nicht nur in ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Gegend führen, sondern sie muß das Charakteristische dieses Landes und seiner Natur haben, sie muß den empfindsamen Beschauer in einer poetischen Weise ansprechen, muß ihm gleichzeitig sozusagen von der Natur des Landes, von Bauweise, Volk und Sitten erzählen, bald idyllisch, bald historisch-melancholisch, so wie es war und ist, wenn ich mich so ausdrücken darf. Selbst Lebensweise, Beschäftigung und Tracht mögen uns einen Hinweis über das geben, was nicht ausgesprochen, sondern nur angedeutet ist.
Das Landschaftsbild bewegt wie die Historienmalerei die Gemüter der Betrachter und wird zum Ausdruck individualisierter Menschen- und Volksgeschichte.36 So schreibt Dahl 1827:37 Die Landschaftsmalerei kann unterweisen und die Augen öffnen ... Norwegen ist jungfräuliche Erde und gibt ein großartiges Feld – die Leute und Gebräuche, und sogar die heroische Vergangenheit mit ihren Monumenten ist alt genug für poetische Maler.
Dazu gibt Dahl zwei Beispiele: Ich habe hier eine kleine Malerei, von meiner Reise im Tessingdal im Jahre 1826. Ein einsamer Bauernhof liegt auf dem Abhang zu einem tiefen Tale. Am Hof liegt ein Grabhügel mit einem Bautastein; daneben übt sich jemand, auf der Lure zu blasen, sie tönt über das tiefe Tal bis zum Hofe am jenseitigen Berge. Neben dem Hofe und dem Grabhügel steht eine üppige Birke, denn die Leute schonen solchen Baum oft, wenn er an einer heiligen Stätte steht, während sie sonst alle Birken beschneiden, um Viehfutter für den Winter zu gewinnen. Auf die steilen Berge, wo sonst nur die Ziegen hinkommen, klettern Menschen unter Lebensgefahr, um sich Heu zum Wintervorrat zu suchen.38 Sehen Sie, dies muß mehr oder weniger in einer Landschaft liegen, ohne daß es etwa auffallend aussehen darf oder als wäre es an den Haaren herbeigezogen, denn unser wahres Gefühl ist ja unser Verstand. Eine andere Gegend aus Tind, die für Heftye in Christiania bestimmt ist, steht auch hier. Auch dies ist eine Gegend mit der jetzt abgerissenen Kirche in altnordischem Stil. Wenn die Malerei so lange besteht und keinen ande-
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Aubert, Nordische Landschaftsmalerei, S. 125. Vgl. Bang, Marie L., „Dahl, der ‚nordische Bildner‘“. In: Heilmann (Hg.), Dahl, S. 20-28, hier S. 23. Bang, Dahl, 1988, Bd. 1, S. 234: Brief an Lyder Sagen aus Kopenhagen vom 4.5.1818: „Es scheint, daß Landschaftsmalerei ebensogut wie Historienmalerei zum Herzen sprechen kann, wenn der Maler den Gegenstand interessant zu fassen weiß.“ Bang, Dahl, Bd. 1, Nr. 37, S. 243: Brief an Lyder Sagen vom 5.2.1827; vgl. Aubert, Nordische Landschaftsmalerei, S. 13. Dieses Motiv akzentuiert Dahl in der Variante des Bildes von 1841 (Bang, Dahl, Bd. 2, Nr. 939).
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ren Wert sonst besitzt, so hat sie doch den, daß sie zeigt, so sahen in der alten Zeit unsere Landkirchen aus, so reich bewaldet und gut bebaut war die Gegend.39
Abb. 11: J. C. Dahl, Hof im Tessingdal, 1840, Kopenhagen, Thorwaldsen Museum, Inv. Nr. B 189, Öl auf Leinwand, 7,8 x 13,1 cm.40
Aus diesem nationalgeschichtlich-antiquarischen Interesse heraus verfasst Dahl eine erste Monografie über norwegische Stabkirchen.41 Denn manche dieser wichtigen Zeugnisse der norwegischen, bis ins Mittelalter zurückreichenden Kultur, die er auf seiner ersten Norwegen-Reise 1826 entdeckt hatte, waren 1834 bereits abgerissen worden. Die Stabkirche in Vang erwirbt Dahl 1839, um sie zu bewahren. Zusammen mit Lyder Sa-
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Bang, Dahl, 1988, Bd. 1, 138; Bd. 2 Nr. 935, 1841, 47 x 59.5 cm, Oslo Privatsammlung, (Abb. Bd. 3); sie weist anhand von Dahls 1837 publizierten Werk über Stabkirchen nach, daß Dahl hier die basilikale Stabkirche aus Borgund statt der einschiffigen aus Atra eingefügt. Bang, Dahl, Bd. 2, Nr. 924 (Bd. 3, P. 393): Kopenhagen, Thorwaldsen Museum, Inv. Nr. B 189, an Thorwaldsen geschenkt anläßlich seines Besuchs in Dresden 1841; vgl. die Varianten von 1841 (31 x 40 cm; Bang, Dahl, Bd. 2, Nr. 939, S. 284: Oslo, Privatsammlung) und 1842 (Bang, Nr. 963, S. 292); Grundlage ist die Zeichnung NG Inv. No. B 2751 (Tind. Gaarden Aasen, d. 23 July 1926 D.); hinzu kommt eine Nachzeichnung vom 5 Marts 1841. Aufgrund dieses 1837 unter dem Titel Denkmale einer sehr ausgebildeten Holzbaukunst aus den frühesten Jahrhunderten in den Landschaften Norwegens von Johan C. C. Dahl herausgegebenen, in Dresden und Leipzig in 3 Bänden 1837 erschienenen Werks wird Dahl in die elitäre Dresdner Antiquarische Gesellschaft aufgenommen. Vgl. Ormhaug, Knut, „Johan Christian Dahl und die norwegische Kultur. Denkmäler – Nationalgalerie – Kunstvereine“. In: Guratzsch (Hg.), Wolken, S. 137-144. Die zeichnerischen Bauaufnahmen für das Stabkirchen-Opus lieferte sein Schüler Schiertz, den Dahl eigens dafür nach Norwegen schickt.
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gen bemüht er sich um die Gründung eines Altertumsvereins in Norwegen, doch erfolgreich ist nur die Gründung der Nationalgalerie in Oslo und des Kunstvereins in Bergen. Wie durch seine Gemälde, will Dahl auch auf diese Weise das Bewusstsein für die eigene Kultur, Landschaft und Geschichte wecken und fördern. Seine norwegischen Landschaftsgemälde dienen ihm als Darstellungsmedien innerer Bewusstheit des Eigenen, sie stellen eine reflexive humane Identität her. Das von Lyder Sagen und Thomsen in Dahl angeregte Geschichtsinteresse greift über die menschliche Kultur auf die Natur und ihre Geschichtlichkeit, auf die Geologie aus. Schon Novalis hatte 1799, angeregt durch seine berufsbedingte Auseinandersetzung mit dem Bergbau und den geologischen und mineralogischen Forschungen von Professor Abraham Gottlob Werner in Freiberg, als Urkunden der Naturgeschichte und Sprache, deren Verständnis erst noch gewonnen werden muss, bezeichnet.42 Anfang des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer Intensivierung der Beschäftigung mit der Erdgeschichte und Geologie als Naturgeschichte, an der auch Künstler anteilnehmen. So schreibt Dahl 1841 an Lyder Sagen:43 ... Wie viele Tausende betrachten nicht täglich die Erde, ohne daran zu denken, welcher Art die Erde und wie ihre Geschichte ist? Wie viele Tausende atmen nicht die Luft, genießen den Sonnenschein und Regen, ohne irgendwie an die Ursachen dieser mannigfachen Veränderungen zu denken?
Dies ist vor dem Hintergrund einer wissenschaftsgeschichtlichen Epochenwende zu sehen.44 Die zeitgenössische Geologie entwickelte neue Erdzeitmodelle, die mit ihren großen Zeitdimensionen alle bisherige, noch biblisch begründete Ordnung sprengen. Der Erdschichtenaufbau wird erforscht, das Alter von Gesteinen erschlossen, der norwegische Granit als Vertreter der ältesten, nicht sedimenthaften oder petrischen Gesteinsart erkannt. Die Entstehung und Veränderung von Gebirgsformationen durch vulkanische Aktivität, Erdplattenverschiebungen, Wasser und Wind wird diskutiert. Der Dresdener Mineraloge und Geologe Naumann, den
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Novalis, Brief Nr. 117, Novalis an den Geh. Finanzrat Julius Wilhelm von Oppel in Dresden, Artern, Anfang Dez. 1799 (Entwurf): In: Ders., Werke, Bd. 1, S. 707-712, hier S. 708: „Der Mangel an richtigen Situationskarten ist ein großes Hinderniß. Scheinbare Unregelmäßigkeiten hemmen die glückliche Entwicklung der geogenischen Geschichte aus großen einfachen Thatsachen. .. Besonders merklich wird die Unmöglichkeit ein einzelnes Stück der Erdoberfläche richtig zu bestimmen. Die Urkunden dieser uralten Naturgeschichte sind voll Interpolationen und unleserlicher Stellen. Überdem fehlen uns noch das höchstewichtige Capitel aus der Grammatik dieser Sprache der allgemeinen Physik und selbst Werners kühn entworfenes Alphabet und Syntax scheint noch große Lücken zu haben.“ Aubert, Nordische Landschaftsmalerei, S. 132. Zum folgenden siehe Toulmin, Stephen/Goodfield, June, Entdeckung der Zeit, Frankfurt/M. 1985, S. 157-199.
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Dahl, Carus und Friedrich kennen lernen, gehört zu den führenden Vertretern des neuen Wissenschaftszweiges.45 Von ihm erhält Dahl das Skizzenbuch, das jener 1820/21 auf einer Norwegenreise anlegte – mit recht naiven Zeichnungen, wie Dahl anmerkt.46
Fallstudie: Dahls Bilder von Stalheim in Naerodalen und vom Sognefjord Dahl reist im Frühsommer 1826 über Kopenhagen nach Norwegen. Die Route wurde für ihn von norwegischen Bekannten vorbereitet.47 Auf dem Landweg von Kristiania/Olso nach Bergen reisend kam Dahl über Stalheim, das er bereits durch Naumanns Zeichnung ‚kannte‘. Es liegt auf einer Anhöhe hoch über dem Naerotal, welches zum Sognefjord führt. In Stalheim befand sich seit 1647 eine Poststation mit Wirtschaft und Herberge.48 Auch andere Künstler malten den Blick ins Tal, so C. Lehmann 1824. Vom Talgrund aus fokussiert er durch den steilen Taleinschnitt hindurch den hell beleuchteten Bergkegel des Jordalsnuten. Dahl skizziert den Ausblick ins Naerotal hingegen vom Weg aus, der von der Passhöhe zum Ort hoch über dem Tal führt.
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Ein geschärftes Bewußtsein für die geologische Bedingtheit bestimmter Landschaften mit ihrer Vegetation zeigen auch Carus’ „8. Brief“ über Landschaftsmalerei (Carus, Landschaftsmalerei, S. 271). Gegen künstlerische Willkür bei der Zusammensetzung von Landschaftsmotiven fordert er die „Beachtung des Zusammenhanges, welcher notwendigerweise gewisse Gebirgsformen mit der inneren Struktur ihrer Massen in Übereinstimmung setzt, und auf die Notwendigkeit, mit der wieder diese innere Struktur aus der Geschichte dieser Gebirge folgt, ferner auf die Notwendigkeit einer gewissen Vegetation für gewisse Standorte, auf den innern, durchaus regelmäßigen und gesetzmäßigen Bau des Vegetabils, auf die Umstände, welche die Entwicklung der Pflanze, des Baumes, des Strauches bald so bald so modifizieren [...] auf die eigentümlichen Gesetze der atmosphärischen Erscheinungen, die verschiedenartige Natur der Wolken, ihre Bildung und Auflösung, wie ihre Bewegung.“ (Carus, Landschaftsmalerei, S. 265). Dies berichtet Dahl im Brief an Lyder Sagen vom 1.9.1823 (Bang, Dahl, Bd. 1, Nr. 32, S. 242). Dahl zeichnet einige dieser Skizzen ab, so den Blick auf Stalheim im Naerodalen (Bang, Dahl, Bd. 1, 81 fig. 44 (Bergen, Billedgalleri)). Auffällig ist, daß er sich gleich anfangs dem von Everdingen gemalten Wasserfall von Trollhättan (Drees 2002, 24) zuwendet – also auf den Spuren des künstlerischen Vorbilds dessen „nordische“ Motive aufsucht. C. Lehmann, Stalheim, 1824 (95 x 130 cm, Stalheim Hotel), vgl. Bang Dahl, Bd. 1, 140, Fig. 76.
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Abb. 12: J. C. Dahl, Naerodalen, 29. July 1826 Klock 9, Oslo, Nationalgalerie, Inv. Nr. 957, Zeichnung, 24 x 34 cm.
Bereits seine Reiseskizze ist auf bildmäßige Komposition hin angelegt. Sie wird jedoch nicht direkt ins Bild übertragen, sondern leicht modifiziert. Auf der Zeichnung vermerkt Dahl „Norge d. 29 July 1826. Aften Kl 9“.49 Die Sonne steht entsprechend niedrig. Der Blick gleitet von dem locker mit Bäumen besetzten Vordergrund hinab ins Tal, wo rechts der Flusslauf hell neben der dunkel bewaldeten, steil abfallenden Bergflanke aufscheint, bevor er in einer tief eingegrabenen Schlucht verschwindet. Über ihr liegen links auf einem sonnenbeschienenen Plateau die Gehöfte Stalheims, hinter einem von Bäumen gesäumten Einschnitt ein weiteres Plateau. Von ihm aus spannt sich über die Schlucht hinweg ein Regenbogen. Er überfängt noch die hinten das Tal abschließenden Bergkuppen, die von den letzten Sonnenstrahlen angestrahlt werden. Der Regenbogen ist ein altes Symbol der Versöhnung, des Friedens, des Bundes Gottes mit den Menschen. J.A. Koch verwendet es in vielen seiner heroischen, antikisierenden Landschaften, aber auch C.D. Friedrich. Dem vom Pass, im Schatten des Berges herabsteigenden Wanderer erscheint der Regenbogen über dem Tal als Verheißung. Die von den letz-
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Ostby, Leif (Hg.), Ausstellungskatalog Johan Christian Dahl. Tegninger og Akvarller, Oslo 1957, S. 171; die Zeichnung (Oslo, Nationalgalerie, Inv. Nr. 957) hat die Maße 24 x 34 cm.
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ten Sonnenstrahlen erfassten Gehöfte versprechen sichere Herberge, die Natur erscheint als Heimat. Die Skizze hält einen flüchtigen Moment fest – das späte Abendlicht auf dem Ort Stalheim, den Regenbogen über dem Tal. Zugleich sind diese Lichteffekte für die langen Mittsommertage im Norden charakteristisch, die Objekte im Schatten wirken selbstleuchtend. Evoziert werden Abend und Heimat, Reflexion und Ruhe, Versöhnung von Geist und Leben bzw. Reflexion und Tätigkeit.
Abb. 13: J. C. Dahl, Naerodalen bei Stalheim, 1842, Oslo, Nationalgalerie, Inv. Nr. 1060, Öl auf Leinwand, 190,5 x 246 cm.
Das erst 1842 für eine norwegische Gräfin ausgeführte, monumentale Gemälde des Naerodalen bei Stalheim50 macht die speziellen Lichteffekte der nordischen Abendsonne noch deutlicher, so das indirekte Leuchten einzelner, im Schatten des Berges liegender Wiesenflecken im Vordergrund. Dahl fügt hier einen Weg ein, der den Betrachter über eine Hirtengruppe rechts und eine Gruppe von Reisenden links zu den Gehöften im
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Oslo, Nationalgalerie, 190 x 246 cm; farbig abgebildet bei Börsch-Supan, Helmut, Die deutsche Malerei von Anton Graff bis Hans von Marées 1760-1870, München 1988, S. 259, sowie bei Bang, Dahl. Bd. 2, Nr. 953, Bd. 3, Pl. 585.
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Licht führt – das Motiv der Peregrinatio.51 Der Widerschein des Flusses wird zurückgenommen zugunsten der Licht-Fokussierung auf die Ansiedlung auf dem Plateau. Das Tal wird verengt und auf den steiler gebildeten, abschließenden Kogel des Jordalsnuten ausgerichtet, sodass das Plateau mit der Ansiedlung umso mehr als wirtliche Insel in rauer Umgebung erscheint.52 Sie verheißt dem Menschen das Zusichkommen in der sinnlichen Natur. Die ruhig ihrer Arbeit nachgehenden Hirten nehmen ebenso wie Sonne und Regenbogen der Szenerie trotz der noch dunklen Gewitterwolken über dem Tal das Bedrohliche. Es geht Dahl nicht nur um einen reizvollen Landschaftsausschnitt, sondern seinem Anspruch nach soll die Kunst das Charakteristische erfassen. Das heißt, dass Dahl mit der Wahl des Ausschnitts und Moments aus der unendlichen Fülle der Möglichkeiten einzelne Merkmale als wesentlich herausstellt: Das durchschnittene Plateau, der in die Schlucht eingegrabene Flusslauf sowie die von Wind abgeschliffenen Bergkuppen demonstrieren das Wirken natürlicher Kräfte in der Zeit, die Geschichtlichkeit der Natur. Die Ansiedlung zeugt von der Fähigkeit des Menschen, auch unwirtlichen, isolierten Orten Harmonie und Lebenswertes abzuringen. Die Geschichtlichkeit der menschlichen Siedlungen macht Dahl hier ebenso bewusst wie die Geschichtlichkeit der Erde. Als Ziel der Geschichte erscheint die moralische Behausung des Menschen in der Welt. Dadurch tritt der Vedutencharakter in seinen Landschaften zurück. Und dennoch werden Dahls Bilder in Norwegen begeistert aufgenommen, Varianten bestimmter Bilder bestellt; andere Künstler suchen dieselben Orte auf. Die von ihm gemalten Orte werden zu touristischen Zielen, Stalheim eines der beliebtesten, so dass dort 1885 ein Luxushotel errichtet, in dem auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. regelmäßig seine Sommer verbringt. Eine beliebte Touristenattraktion ist der dortige Wasserfall, der ins Naerotal herabstürzt, gern fotografiert wird aber auch der Blick übers Tal mit dem markanten Bergkogel des Jordalnuten.53 Dahls Blick und Kunst formt die norwegische Landschaft zur historisch bedeutungshaltigen Topographie.54 Mit den Ortsnamen seiner Bildti-
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Vgl. Ost, Hans, Einsiedler und Mönche in der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 1971, zum Motiv der Peregrinatio S. 209-219. Vgl. Bang, Dahl, Bd. 1, S. 140 mit Darstellungen dieses Berges durch andere Künstler (Fig. 76-78). Vgl. www.stalheimhotel.no sowie zahlreiche im Internet verfügbare Postkarten des 19. Jahrhunderts von Stalheim. Ähnlich macht dies mit sehr viel prominenteren Orten Carl Rottmann (1797-1850) in Italien und Griechenland im Auftrag des Königs Ludwig I. von Bayern, vgl. von Brevern, Bild; Rott, Herbert W./Poggendorf, Renate/Stürmer, Elisabeth (Hgg.), Carl Rottmann. Die Landschaften Griechenlands, Ostfildern 2007; Rödiger-Diruf, Erika, „Carl Rottmann im Zeitvergleich. Aspekte der Deutung von Licht- und Wetter-Phänomenen in der Landschafts-
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tel wird das Wissen um historische Ereignisse oder Verbindungswege aufgerufen, wird an das Alter der Nation gemahnt. Doch erst durch Dahls Gemälde wird dieses Wissen visuell konkretisiert, bildhaft abrufbar, ja vor Ort vom Touristen abschreitbar. Seine Landschaftsbilder machen reale Landschaften zu geschichtlichen, zu nationalen Erinnerungsstätten.
Abb. 14: J. C. Dahl, Menhir am Sognefjord, 19. August 1826, Bergen, Bildergalerie, Inv. Nr. 267, Zeichnung 18,9 x 24,1 cm.
Noch deutlicher wird dies in Dahls „Menhir am Sognefjord“. Seine Zeichnung „Femereid d. 19 August 1826“ stellt in der sommerlichen Landschaft einen Bautastein (Findling) als Relikt kultischer Praktiken aus dem vorchristlichen Norwegen in den Vordergrund, der sich realiter dort nie befand, mehrere derselben hingegen im benachbarten Nornes. Er greift im Medium des Bildes die Praxis der alten Zeit auf, wichtige Orte mit solchen natürlichen Erinnerungsmalen zu besetzen, holt das von den Alten versäumte nach.55 Denn mit dem Blick auf den gegenüberliegenden Vorhügel wird gerade derjenige Ort fixiert, an dem 1184 eine entscheidende Schlacht zwischen König Sverre (Sigurdarson, 1177-1202) und
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malerei zwischen 1800 und 1850“. In: Heilmann/Rödiger-Diruf (Hgg.), Landschaft als Geschichte, S. 31-47. Ostby, Tegninger, S. 182; Bang, Dahl, Bd. 1, S. 135-137, Bd. 2, Nr. 543.
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seinem Rivalen Magnus (Erlingson, 1163-1184) bei Fimreite geschlagen wurde.56 Dahl erinnert damit an eine große Zeit des christlichen norwegischen Königtums, das im 11. Jahrhundert eine Einigung des Reiches erreichte und seine Unabhängigkeit von Dänemark behauptete, seit den 1160er Jahren aber durch Thronfolgekämpfe gefährdet war und erst unter König Sverre und seinen Nachkommen zur neuen Einheit geführt wurde. Im 1827 ausgeführten Gemälde friert Dahl die geschichtliche Erinnerung in der Landschaft ein, indem er den historischen Ort winterlich einhüllt, tot, zeitlos stellt.57
Abb. 15: J. C. Dahl, Menhir in Sognefjord im Winter, 1827, Oslo Nationalgalerie, Inv. Nr. 3138, Öl auf Leinwand, 61 x 75cm.
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Bang, Dahl, Bd. 1, S. 135-137, Anm. 20; Heilmann, Dahl, Nr. 63 (Bang). Zur mittelalterlichen Geschichte Norwegens siehe Bagge, Sverre, „Norwegen“. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München 1993, Sp. 1257-1270, sowie LaFarge, Beatrice, „Magnus Erlingsson“, ebd. Sp. 98. Magnus ertrank bei dieser Schlacht im Sognefjjord. Heilmann, Dahl, Nr. 63 (Bang); Bang, Dahl, Bd. 2, Nr. 543, S. 182 f.
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In vergleichbarer Weise inszeniert C.D. Friedrich die ruinöse Abtei im Eichwald (1809, Berlin, Nationalgalerie), in einer winterlichen Landschaft, um die Vergangenheit als nicht mehr für die Gegenwart lebendig fortwirkend zu kennzeichnen. In Dahls „Sognefjord im Winter“ hält kein Kulturmonument die Erinnerung an das geschichtliche Ereignis wach, sondern nur dem historisch wissenden Betrachter erschließt sich die Bedeutung des Ortes. Vor seinem inneren Auge kann er die feindlichen Heere am gegenüberliegenden Ufer heranziehen und kämpfen lassen, den Tod Magnus´ nachvollziehen. Dieses Vertrauen auf die lebendige Imagination des Betrachters verbindet Dahl mit den Konzepten der Romantiker. Historische Erinnerung wird nun jedoch nicht mehr durch Kulturmonumente der Vergangenheit erweckt, sondern auch die Landschaftsmalerei schafft Erinnerungsorte.
Schluss Dahl gibt mit seinen Bildern Norwegens ein Modell, durch das auch unscheinbare Landschaften zu Kulturorten werden58 – dies in einem Land, das sich, zum Leidwesen der kleinen Schicht von Gebildeten, trotz großer mittelalterlicher Vergangenheit als weitgehend geschichts- und kulturloses erlebte. Dahls norwegische Landschaften sind ‚realistisch‘ gemalt, weil sie Authentizität stiften und vermitteln wollen. Dahl wählt solche Bildmomente zur Darstellung aus, die Bedeutungshaltigkeit entfalten können, indem sie das Gemüt ansprechen und Reflexionen über Natur und Menschenleben, Kultur, Vergangenheit und Gegenwart auslösen. In vielen Bildern beschreibt Dahl die beharrliche Kraft der kleinen Gemeinschaften angesichts ebenso rauer wie schöner Natur, er berücksichtigt dabei örtliche Trachten und Bräuche – auch dies ein Mittel nationaler Identitätsbildung. Daher ist Dahls norwegische Landschaftsmalerei nicht als Realismus, sondern vielmehr als konstruktives, politisch-nationales SelbstBildungsprogramm im romantischen Gewand aufzufassen, das ergänzt wird durch seinen antiquarischen Bestrebungen zur Sicherung der norwegischen Altertümer.
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Vgl. Carus, Landschaftsmalerei, S. 258 f., der im 7. Brief fordert, daß nicht nur „lauter gigantische Szenen im größten Format dargebildet werden, als sollten nur Schilderungen der Alpenwelt, Seestürme, große Gebirgswaldungen, Vulkane und Wasserstürze der Vorwurf solcher Erdlebenbilder sein“ sollten, sondern daß auch auch der stillste Waldwinkel, der einfachste Rasenhügel das schönste Erdlebenbild geben kann, „wenn nur ihr eigentlicher Sinn, die in ihr verborgene göttliche Idee richtig erfaßt ist“. Spuren des Menschenlebens mindern für Carus nicht die Erhabenheit der Natur, sondern „vervollständigen das Erdenleben und seine künstlerische Darstellung“, doch sollten sie durch die Erdnatur bestimmt erscheinen.
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Welche große Bedeutung Dahls Sicht bzw. seine Konstruktion einer norwegischen Landschaft mit der neuartigen Verbindung regionaler Landschaftspezifika mit regionalen Lebensformen für die Ausbildung eines norwegischen Nationalgefühls hatte, macht folgendes Zitat des norwegischen Kunsthistorikers Andreas Aubert deutlich: 59 Als wir im Jahre 1888 auf der Jahrhundertausstellung einen gesammelten vollen Eindruck der norwegischen Bilder Dahls erhielten, waren zweifellos die meisten von uns von der Wahrheit dieser Schilderungen getroffen und fühlten unwillkürlich: dies ist das Norwegen, vor allem, - dies ist das Bergen-Stift, das wir kennen. Das Gesamtbild unseres Landes, das vor dieser Kunst aufstieg, war uns im ganzen so heimatlich und vertraut. [...] Er hat die berühmtesten Orte unseres Landes geschildert, die [später] in Wergelands Liedern erklingen und die am frühesten das Ziel aller Weltreisenden wurden: Krokkleven mit Ringerike, Gausta und Rjukan [...] man müßte ergänzen ‚Stalheim im Naerotal‘ und ‚Sognefjord‘.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Entnommen aus: Jurgis Baltrušaitis: Imaginäre Realitäten. Fiktion und Illusion als produktive Kraft, Köln 1984, S. 72. Abb. 2: Entnommen aus: Georg Christoph Lichtenberg: Observationes. Die lateinischen Schriften. Hg. v. Dag Nikolaus Hasse, Göttingen 1997, S. 151. Abb. 3: Kulturhistorisches Museum Görlitz, Foto Constanze Herrmann. Abb. 4: Ernst Florens Friedrich Chladni: Tafel VII aus seinen Entdeckungen über die Theorie des Klangs, Wittenberg 1787. Abb. 5: Seite 230/231 des Anhangs aus Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, 1810. Abb. 6: Entnommen aus: Jacques Ozanam: Recreations in Mathematics and Natural Philosophy, hg. v. Jean Etienne Montucla, Fig. 48 auf Plate VIII, Band 4, London 1814. Abb. 7: Philipp Otto Runge: Der Morgen, Kupferstich, 70,8 x 47,2 cm, Hamburg, Kunsthalle bpk/Hamburger Kunsthalle/Christoph Irrgang. Abb. 8: Philipp Otto Runge: Die Hülsenbeckschen Kinder, Öl auf Leinwand, 131,5 x 143,5 cm, Hamburg, Kunsthalle, bpk/Hamburger Kunsthalle/Elke Walford. Abb. 9: Philipp Otto Runge: Der kleine Morgen, Öl auf Leinwand, 109 x 85,5 cm, Hamburg, Kunsthalle, bpk/Hamburger Kunsthalle/Elke Walford. Abb. 10: J. C. Dahl, Nordische Landschaft mit einem Wasserfall, 1817 (Kopenhagen, Kunstmuseum, Inv.Nr.43, Öl auf Leinwand, 187,5 x 250,5 cm). Entnommen aus: Guratzsch, Herwig (Hg.): Ausstellungskatalog Schloß Gottorf/ München Wolken, Wogen, Wehmut: Johan Christian Dahl 1788-1857, der Freund Caspar David Friedrichs, Köln 2002, Nr. 11, S. 200.
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 11: J. C. Dahl, Hof im Tessingdal, 1840 (Kopenhagen, Thorwaldsen Museum, Inv.Nr. B 189, Öl auf Leinwand, 7,8 x 13,1 cm). Entnommen aus: Lodrup Bang, Marie: Johan Christian Dahl 1788-1857. Life and Works, Oslo 1988, Bd. 3, Pl. 393 (Kat. Nr. 924). Abb. 12: J. C. Dahl, Naerodalen, 29. July 1826 Klock 9, (Oslo, Nationalgalerie, Inv. Nr. 957, Zeichnung, 24 x 34 cm). Entnommen aus: Ausstellungskatalog Johan Christian Dahl. Tegninger og Akvarller, Ostby, Leif (Hg.), Oslo 1957, S. 171. Abb. 13: J. C. Dahl, Naerodalen bei Stalheim, 1842 (Oslo, Nationalgalerie, Inv. Nr. 1060, Öl auf Leinwand, 190,5 x 246 cm). Entnommen aus: Bang, Marie, Johan Christian Dahl 1788-1857. Life and Works, Bd. 3 Oslo 1988, Pl.585. Abb. 14: J. C. Dahl, Menhir am Sognefjord, 19. August 1826 (Bergen, Bildergalerie Inv. Nr. 267, Zeichnung, 18,9 x 24,1 cm). Entnommen aus: Ostby, Tegninger, 1957, S. 182. Abb. 15: J. C. Dahl, Menhir in Sognefjord im Winter, 1827 (Oslo Nationalgalerie, Inv. Nr. 3138, Öl auf Leinwand, 61 x 75 cm). Entnommen aus: Johan Christian Dahl 1788-1857. Ein Malerfreund Caspar David Friedrichs, Ausst. Kat., hg. v. Christoph Heilmann, München: Neue Pinakothek 1988-1989 S. 165.
Beiträgerinnen und Beiträger PROF. DR. RUDOLF DRUX Geboren 1948, Studium der Germanistik, Latinistik und Komparatistik. Staatsexamen (1973), Promotion (1976) und Habilitation (1984) in Köln; anschließend Lehrstuhlvertretungen in Mannheim, Essen und Kiel, Gastprofessuren in Sassari (It.), Breslau (Pl.) und Madison, Wi (USA). Von 1992 an Prof. für Deutsche Literatur und Kulturgeschichte an der TU Darmstadt. Seit 1996 C 4-Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur vom Frühbarock bis zum Nachmärz und des 20. Jahrhunderts; Gattungspoetik; Metaphorologie und Motivforschung, besoders im Kontext der Wechselbeziehungen von Literatur- und Technikgeschichte, Dichtung und Musik, Poetik und Rhetorik. Zu diesen Gebieten zahlreiche Buch- und Aufsatzpublikationen. DR. MICHAEL EGGERS Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln. Promoviert 2003 mit der Arbeit: Texte, die alles sagen. Erzählende Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und Theorien der Stimme, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. In 2009 erschien von ihm der Band (Hg. mit Matthias Rothe) Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften sowie der Aufsatz „‚Vergleiche dich! Erkenne, was du bist!‘ Vergleich und Klassifikation zwischen Naturgeschichte und deutscher Ästhetik um 1800“, in: M. Liebscher, B. Schofield, G. Weiss-Sussex (Hg.): The Racehorse of Genius. Literary and Cultural Comparison. Zu seinen Forschungsgebieten zählt die ‚Stimme‘ in Literatur und Kulturtheorie, Multilinguale Literatur, Gegenwartsdramatik, Ästhetik und Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert. PROF. DR. RÜDIGER GÖRNER Geboren 1957, Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Musikwissenschaft an der Universität Tübingen mit Anglistik und Philosophie am University College London; 1987 Promotion; lehrte an den Universitäten Surrey und Aston, ab 1997 als Professor of German. 1999-
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2004 Director des Institute of Germanic Studies der University of London; seit 2004 Professor of German Literature und Founding Director des Centre for Anglo-German Cultural Relations am Queen Mary College, University of London. Buchveröffentlichungen seit 2004: Rainer Maria Rilke – Im Herzwerk der Sprache (Zsolnay 2004); Thomas Mann – Der Zauber des Letzten (Artemis & Winkler 2005); Im Zeitalter des Fraktalen. Ein kulturkritischer Essay (Passagen 2007); Wenn Götzen dämmern. Formen ästhetischen Denkens bei Nietzsche (Vandenhoeck & Ruprecht 2008). PROF. DR. TORSTEN HAHN lehrt Neuere deutsche Literatur und Medienästhetik an der FernUniversität in Hagen. Forschungsschwerpunkte zum Politischen der Literatur, Kommunikation und Medienkultur um 1800 sowie Medienkultur des 20. Jahrhunderts. 2001 Promotion zum Dr. phil (Dissertationsschrift: Fluchtlinien des Politischen. Das Ende des Staates bei Alfred Döblin, Köln/Weimar/ Wien 2003), 2007 Habilitation. Letzte Veröffentlichungen: „Im Absturz. Kafkas Beobachtung der Gegenseite oder Von Resten und Medien“, erscheint in: The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung. Hg. v. Marcus Krause/Arno Meteling. München 2010, „Der Page der Königin und der Subalterne des Ministers. Botengänge in der Literatur.“ In: Archiv für Medienwissenschaft, Nr. 8 (2008); Das schwarze Unternehmen, Heidelberg 2008; Freund – Feind – Verrat (Mithg.). Köln 2004. PROF. DR. LAURIE RUTH JOHNSON Associate Professor of German, mit Nebenanstellungen in der Abteilung für Komparatistik und im Fachbereich Kritische Theorie an der Universität von Illinois/Urbana-Champaign. Nach einem Studium in Chicago (Northwestern University) und St. Louis (Washington University), einschließlich Studienaufenthalten in Köln, Tübingen und Regensburg, war sie an der Vanderbilt University tätig. Ihr Buch The Art of Recollection in Jena Romanticism (Niemeyer) erschien 2002 und Aesthetic Anxiety: Uncanny Symptoms in German Literature and Culture (Rodopi) erscheint demnächst. PROF. DR. ERICH KLEINSCHMIDT Geboren 1946, Prof. für Neuere deutsche Literatur mit kulturwissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Ausrichtung an der Universität zu Köln (seit 1992), Geschäftsführender Direktor des ‚Zentrums für Moderneforschung‘ an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln (2001-2008). Forschungsschwerpunkte: Frühe Neuzeit; 18. Jh.; Klassische Moderne; Exilliteratur; Literatur- und Kulturtheorie; Ästhetik und Poetik; Sprachphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Die Entdeckung der Intensität
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(2004); Kontingenz und Steuerung, hg. mit T. Hahn und N. Pethes (2004); Sammeln und Lesen. Die Kölner H.C. Artmann-Sammlung Knupfer. Lektüren, hg. mit W. Schmitz (2006); Kulturhermeneutik als Kulturpoetik. Friedrich Schlegels Über das Studium der griechischen Poesie, in: Goethezeitportal (http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/schlegel_fr/kl einschmidt_kulturhermeneutik.pdf - 14.1.2008). PROF. DR. ETHEL MATALA DE MAZZA Studium der Neueren deutschen Literatur, Philosophie, Linguistik und Kunstgeschichte in Bochum, Paris und München. 1999-2006 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Deutsche Philologie der LudwigMaximilians-Universität München und Mitarbeiterin des Projekts „Poetologie der Körperschaften“ am Zentrum für Literaturforschung Berlin (in Kooperation mit Thomas Frank, Albrecht Koschorke und Susanne Lüdemann). Habilitierte 2006 mit der Arbeit Poetik des Kleinen. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton, (Typoskript). Im Wintersemester 2006/2007 Visiting Associate Professor an der Harvard University; im Sommersemester 2007 Vertretungsprofessur an der LMU München; seit Wintersemester 2007/2008 Professorin für Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Methoden an der Universität Konstanz. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Literaturgeschichte des 17. bis 20. Jahrhunderts, Literatur- und Theoriegeschichte des politischen Imaginären, Wechselbeziehungen zwischen Recht und Literatur sowie Kulturtheorie. PROF. DR. WOLFRAM NITSCH Jahrgang 1960, Professor für Romanische Philologie an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Neuere französische und ältere spanische Literatur, Medienfiktionen der argentinischen Moderne, französisches Kino, Anthropologie der Literatur, des Spiels und der Technik. Verfasser der Bücher Sprache und Gewalt bei Claude Simon (1992) und Barocktheater als Spielraum (2000). Mitherausgeber der Bände Rédas Paris (2001), Vom Flugblatt zum Feuilleton (2002), Marcel Proust und die Künste (2004), Transports. Les métaphores de Claude Simon (2006), Zwischen dem Heiligen und dem Profanen (2008) und Ficciones de los medios en la periferia (2008). PD DR. CHRISTIAN SCHOLL Geboren 1971, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Literaturwissenschaft in Braunschweig und Berlin (HU), 1999 Promotion an der Georg-August-Universität Göttingen. Von 1999 bis 2001 Stipendiat des Landes Niedersachsen am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München, 2002-2004 Forschung und Lehre an der University of Chicago. 2005 Habilitation an der Universität Göttingen. Die Habilitationsschrift Roman-
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tische Malerei als neue Sinnbildkunst erschien 2007 im Deutschen Kunstverlag. Seit 2004 Leiter der Forschungsgruppe „Romantikrezeption, Autonomieästhetik und Kunstgeschichte“ im Rahmen des Emmy NoetherProgramms der DFG in Göttingen. Weitere Publikationen u. a. zur Sakralarchitektur des 12. Jahrhunderts und zum Kunst- und Architekturverständnis der Neuzeit. PROF. DR. CHRISTIAN SINN Jahrgang 1962, Studium der Neueren Deutschen Literatur und der Philosophie in Konstanz. 1993 Promotion mit einem Promotionsstipendium des Landes Baden-Württemberg zu Jean Paul. Hinführung zu seiner Semiologie der Wissenschaft (Stuttgart 1995); 2001 Habilitation zu Dichten und Denken. Entwurf zu einer Grundlegung der Entdeckungslogik in den exakten und ‚schönen‘ Wissenschaften (Aachen 2001). Seit 2005 apl. Professor an der Universität Konstanz. Er hatte u.a. Gastprofessuren in Iassi/ Rumänien, an der Karls-Universität Prag, und an der Monash-University, Melbourne inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Frühe Neuzeit, Goethezeit und Romantik, Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Literarische Ethik und Anthropologie sowie Editionen von Jakob Bidermann, Johann Ulrich Erhard und Clemens Brentano. DR. JÖRN STEIGERWALD Zur Zeit Heisenberg-Stipendiat für Französische und Italienische Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte sind die Literatur von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne, insbesondere die Liebesmodelle der italienische Renaissance, die Galanterie im französischen siècle classique sowie die Konfiguration von Raum, Imagination und Subjekt zwischen Aufklärung und Romantik. Publikationen: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft 16501710. Erscheint Heidelberg 2009, sowie Mitherausgabe der Sammelbände: Reiz - Imagination - Aufmerksamkeit. Über Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830). Hg. v. J. S./Daniela Watzke. Würzburg 2003; Räume des Subjekts um 1800. Die Selbstverortung des Individuums zwischen Spätaufklärung und Romantik. Hg. v. Rudolf Behrens/J.S. Erscheint Wiesbaden 2010.
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PROF. DR. JOSEPH VOGL Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen u.a.: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen (2002); Europa. Kultur der Sekretäre (Mit-Hg., 2003); Politische Zoologie (Mit-Hg., 2007); Über das Zaudern (2007); Für alle und keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Kafka und Nietzsche (Mit-Hg., 2008); Versuchsanordnungen 1800 (Mit-Hg., 2009); Alexander Kluge/Joseph Vogl: Soll und Haben. Fernsehgespräche (2009). DR. FRIEDRICH WELTZIEN Kunsthistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Zu Forschungsschwerpunkten zählen Kunsttheorie von der Romantik bis heute, die Geschichte experimenteller Bildmedien und methodische Fragen der Produktionsästhetik. Nach der Dissertation im Jahr 2001 an der Universität zu Köln (erschienen unter dem Titel: E. W. Nay - Figur und Körperbild. Kunst und Kunsttheorie der vierziger Jahre, Reimer Verlag, Berlin 2003) mehrere Forschungsvorhaben am Graduiertenkolleg „Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses“ an der Universität der Künste, Berlin und dem Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Publikationen, u.a. von selbst. Autopoietische Verfahren im 19. Jahrhundert, Berlin 2006. Derzeit entsteht ein Buch zu experimentellen Bildtechniken in Kunst und Wissenschaft der Romantik. PROF. DR. SUSANNE WITTEKIND Geboren 1964, war Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Politische Ikonographie“ in Hamburg und promovierte 1993 in München mit einer Arbeit über illuminierte Psalmenkommentarhandschriften des Hochmittelalters. Als Postdoc-Stipendiatin verfolgte sie im Münsteraner Graduiertenkolleg „Schriftkultur und Gesellschaft im Mittelalter“ 1993-1995 ein Projekt zu den Kunststiftungen Abt Wibalds von Stablo. 1996/97 erhielt sie Stipendium für ein Projekt zur Transformation christlicher Kunst im 19. Jh., 1999 habilitierte sie sich in München, seit 2002 ist sie Professorin für Kunstgeschichte der Universität zu Köln. Publikationen: Kommentar mit Bildern, Frankfurt 1994; Altar – Reliquiar – Retabel, Köln 2004; Hrsg.: Romanik (Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland Bd. 2), München 2009; Hrsg. zusammen mit K. Böse: AusBILDung des Rechts, Frankfurt 2009.