Äther: Ein Medium der Moderne [1. Aufl.] 9783839406106

Wer heute über »Medien« spricht, denkt nur selten an das schon in der Antike bekannte fünfte Element, den Äther. Gerade

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German Pages 404 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
Einleitung. Äther als Thema der Medienwissenschaft?
Äther: Und es gibt ihn doch… Desontologisierte Überlegungen zur Immanenz der Medien
An Nichts denken müssen. Über den Äther und die Medienwissenschaft vor einer Medienwissenschaft
Die Wiederkehr des Raummediums Äther
Der Raum des Äthers Wissensarchitekturen – Wissenschaftsarchitekturen
Ezra Pounds Vortex im Äther der Kunst
„Äther“ und „Sinn“ – Ein Sprung als Präzedenzfall
Nebulöse Gefilde. Äther in der britischen Literatur um 1900
„Der Pfad ist keinem bezeichnet“ Zur Umschreibung des Äthers bei Hölderlin und Poe
Dem Schleier gleich
Veronica on TV. Ikonographien im Äther – Baraduc… Beckett
Im Äther der Intuition. Reichenbachs Lehre vom Od und die Kulturtheorie
„Ein Körnlein war’s“ – Fechners Totengeister (1836/1866)
Der Äther des Sozialen. Anmerkungen zu Bruno Latours Einstein-Rezeption
Autorenverzeichnis
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Äther: Ein Medium der Moderne [1. Aufl.]
 9783839406106

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Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hrsg.) Äther

Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Peter Gendolla.

Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hg.)

Äther Ein Medium der Moderne

Medienumbrüche | Band 19

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: O.F., [Messungen der vom Auge ausgestrahlten Welle zur Feststellung persönlicher Eigenschaften], in: A.K. Fiala, »Elektrophysiologische Zukunftsprobleme«, in: Der Deutsche Rundfunk 3, 1925, S. 75 Lektorat & Satz: Tobias May, Matthias Ruhmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-610-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort der Herausgeber....................................................................................7 Albert Kümmel-Schnur Einleitung Äther als Thema der Medienwissenschaft?.............................................................13 Stefan Kramer Äther: Und es gibt ihn doch… Desontologisierte Überlegungen zur Immanenz der Medien..............................33 Frank Furtwängler An Nichts denken müssen Über den Äther und die Medienwissenschaft vor einer Medienwissenschaft...57 Tristan Thielmann Die Wiederkehr des Raummediums Äther......................................................75 Christian Kassung, Marius Hug Der Raum des Äthers Wissensarchitekturen – Wissenschaftsarchitekturen.............................................99 Antje Pfannkuchen Ezra Pounds Vortex im Äther der Kunst.................................................133 Jürgen Stöhr „Äther“ und „Sinn“ – Ein Sprung als Präzedenzfall.........................161 Alexandra Lembert Nebulöse Gefilde Äther in der britischen Literatur um 1900............................................................205 Holger Steinmann „Der Pfad ist keinem bezeichnet“ Zur Umschreibung des Äthers bei Hölderlin und Poe.......................................227

Laurence A. Rickels Dem Schleier gleich..........................................................................................255 Wolfgang Hagen Veronica on TV Ikonographien im Äther – Baraduc… Beckett....................................................277 Stefan Rieger Im Äther der Intuition Reichenbachs Lehre vom Od und die Kulturtheorie..........................................315 Albert Kümmel-Schnur „Ein Körnlein war’s“ – Fechners Totengeister (1836/1866)............339 Jens Schröter Der Äther des Sozialen Anmerkungen zu Bruno Latours Einstein-Rezeption........................................367 Autorenverzeichnis........................................................................................397

Vorwort der Herausgeber

Vorwort der Herausgeber Nehmt aus der Welt die Elektrizität, und das Licht verschwindet; nehmt aus der Welt den lichttragenden Äther, und die elektrischen und magnetischen Kräfte können nicht mehr den Raum überschreiten. (Heinrich Hertz)

Folgt man der lexikalischen Einteilung des Brockhaus von 1932, also deutlich vor jeder medienwissenschaftlichen Erörterung eines als ‚Medien‘ ausgezeichneten Gegenstandsbereichs, verläuft die Genealogie des Medienbegriffs entlang dreier Stränge: erstens spiritistisch, zweitens linguistisch, drittens physikalisch. Eine MedienArchäologie des Spiritismus ’ ist inzwischen ein nach den Objektbereichen ‚Geister‘ und ‚personale Medien‘ differenzierter, gut etablierter Forschungszweig. Eine historische Untersuchung des linguistischen Medienbegriffs wird von Sprachwissenschaftlern vorgedacht, die der Sprache die Funktion eines ‚Archimediums‘ zuweisen. Still ist es demgegenüber hinsichtlich des dritten genealogischen Strangs, des physikalischen. Der Brockhaus verweist auf den Eintrag ‚Mittler‘ und erklärt diesen zu einem materiellen Trägermedium, eine Vorstellung, die auf das alte imponderable Einheitsmedium der Physik, den Äther, verweist. Er garantierte einerseits die Geschlossenheit eines vakuumfreien physikalischen Weltbildes. Der Äther ließ andererseits naturwissenschaftliche und okkulte Diskurse noch als ineinander übersetzbar erscheinen – eine Einheit des Wissens, die seitdem in Wissenschaft und Esoterik auseinander gebrochen ist. Im Namen des Äthers wird eine unendlich wandelbare, flüssige Welt gedacht, ein utopischer kosmologischer Entwurf. Der Äther ist das Medium, das es gestattet, ein letztes Mal eine Einheit von Mikro- und Makrokosmos zu denken – Universum, Gesellschaft und der zerbrechliche Menschenkörper als Kontinuum von Flüssen und Blockaden. 1905 kommt dann Einsteins Erklärung, dass der Äther ausgedient habe als Deutungskrücke. Die Physik bricht im Zeichen von Relativitätstheorie und Quantenmechanik auseinander. Der Äther wird in den Radiodiskursen der 1920er Jahre immer mehr zur bloßen Chiffre eines verlorenen Imperiums (die alten Einheitsdiskurse, die der Äther versprach, kleben wie Schatten an dieser Figur). Die Matrix aus undularen oder korpuskularen, fern- oder nahwirkenden Konzepten, die half, den Äther zu denken, war zu dieser Zeit längst eingewandert in Konzeptionen kultureller Kommunikation, die den Massenmedienbegriff hervorbrachten. Äthertheorien wären somit zentral beteiligt an jenem Medienumbruch, der ,die Medien‘ und ‚die Medienwissenschaft‘‚ selbst hervorgebracht haben.

♢♢♢ 7

Vorwort der Herausgeber

Die Graphiken, die zwischen den Beiträgen des Bandes eingefügt sind, entstammen dem Aufsatz „Elektrophysiologische Zukunftsprobleme“, der unter dem Autorennamen „A. K. Fiala“ im Jahre 1925 in der Zeitschrift Der Deutsche Rundfunk in einer Serie von Einzelfolgen erschien. Fiala geht von einer feinstofflichen, ätherischen Materialität von Gedanken aus und räsonniert über deren Manipulierbarkeit. Über den mit OF signierenden Graphiker ist leider nichts bekannt. Die den Graphiken zugeordneten Texte entsprechen den Bildunterschriften der Originalpublikation.

♢♢♢ Die Herausgeber möchten sich sehr herzlich bei Matthias Ruhmann, dessen genauem Blick kein Fehler und keine Abweichung vom Stylesheet des Forschungskollegs „Medienumbrüche“ der Universität Siegen entging, und Tobias May, der mit großer Souveränität den Band in eine Form gebracht hat, die das Lesen zum Vergnügen macht, bedanken. Konstanz und Siegen im August 2007 Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter

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Narkotika des Zukunftsmenschen

Albert Kümmel-Schnur | Einleitung

Albert Kümmel-Schnur

Einleitung Äther als Thema der Medienwissenschaft? We may use the term aether to denote this medium, whatever it may be. (James Clerk Maxwell)

Wer weiß, wo die Kraft dieses proteushaften Riesen [des Äthers] endet? (Madame Blavatsky)

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Medienwissenschaft als eigenständiges Fach im Kanon der Geistes- und Sozialwissenschaften etabliert. Auf der Grundlage durchaus unterschiedlicher Profile wurden Curricula entwickelt, die bei den Studierenden großen Anklang finden, was sich u.a. in hohen Auslastungszahlen und Abschlussquoten niederschlägt. Diese Entwicklung ist einmalig, denn kein anderes Fach konnte in diesem Wissenschaftssektor und in diesem Zeitraum derart schnell und umfassend an den Universitäten Fuß fassen.1 Medien sind en vogue. Dass diese These kaum überrascht, ist der beste Beleg für ihre Richtigkeit. Medien sind – buchstäblich – in aller Munde. Nicht nur medienwissenschaftliche Studiengänge boomen landauf, landab,2 sondern die Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften insgesamt haben sich die Rede von den ‚Medien‘ zueigen gemacht: kaum jemand, der nicht versichern würde, dass seine Forschungsgegenstände selbstverständlich auch ‚medial‘ geprägt, konstruiert, beeinflusst seien und dass ebenso selbstverständlich diese Einflussnahme auch zum Thema gemacht werde. Die junge Wissenschaft von den ‚Medien‘ ist so erfolgreich in alle geisteswissenschaftlichen Studiengänge eingewandert, dass ihre Eigenständigkeit fragwürdig wurde. Die Frage nach der Daseinsberechtigung von Medienwissenschaft ergibt sich jedoch nicht nur aus dem transdisziplinären Er1

Schneider/Spangenberg: „Profile einer Medienwissenschaft“.

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„In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Studenten im weiten Feld der Medien-Studiengänge von 28000 auf rund 55000 nahezu verdoppelt. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht neue Angebote gegründet werden. [...] Bundesweit gibt es bereits rund 400 Medienstudiengänge.“ (Schultz: „ ‚Irgendwas mit Medien‘ “, S. 17)

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Albert Kümmel-Schnur | Einleitung

folg ihres Gegenstands, sondern auch aus der Schwierigkeit, ihn zu greifen. „Mit Sorge betrachtet der Wissenschaftsrat, dass sich hinter gleichen Titeln oft ganz unterschiedliche Inhalte verbergen. [...] Noch dürftig sei bisher die Zusammenarbeit der verschiedenen Richtungen in der Forschung, dafür würden im Gegenzug die Ansätze in der Lehre allzu stark vermischt. Zu beobachten sei eine bisweilen ‚sorglose Kombinatorik‘ [...]“.3 Weil ‚Medien‘ so omnipräsent sind, wird die Frage nach einer Gegenstandsbestimmung außerhalb der Medienwissenschaft/en kaum, innerhalb jedoch umso deutlicher und unerbittlicher gestellt. Was jenseits des elfenbeinernen Turms hauptberuflicher akademischer Auseinandersetzung mit ‚Medien‘ als selbstverständliches Wissen auftritt, ist hinter den Turmmauern der Kampf ums Überleben: auf die Frage, was man meine, wenn man ‚Medium‘ oder ‚Medien‘ sage,4 können bereits Zweitsemester die Antwort geben, das ließe sich so einfach eben nicht sagen, die Aufgabe, einen Pudding an die Wand zu nageln, sei weitaus einfacher und mit höheren Erfolgsaussichten zu erfüllen. Und doch kann, wer ‚Medienwissenschaft‘ als Disziplin – mit Studien- und Prüfungsordnungen, Titeln und Drittmittelprojekten – betreiben will, sich nicht einfach um eine Antwort drücken. Mehr noch: Disziplin ist nur um den Preis von Disziplinierung zu haben.5 Im Falle der Medienwissenschaften bedeutet das also vorgängig eine Disziplinierung des Gegenstands selbst. Er soll Rede und Antwort stehen, sich ausweisen, historisch, systematisch, diskursiv, ästhetisch, epistemologisch, soll sagen ‚Hier stehe ich und kann nicht anders‘, wo es doch derzeit nur eine Sicherheit über diesen Gegenstand gibt: er kann so gut wie immer auch anders.6 In seiner am 30. April 2007 gehaltenen Abschiedsvorlesung, die den Titel „Warum Medien?“ trug, machte einer der Gründer der Medienwissenschaft, Joachim Paech, diese Definitionsschwierigkeiten deutlich: Medium heißt es immer dann, wenn ein bestimmter Gegenstand in seiner Funktion beschrieben werden soll, die dessen Gegenständlichkeit z.B. als Apparat übersteigt oder unterläuft. Es entsteht eine Undeutlichkeitsstelle, die mit einem ebenso undeutlichen Wort gefüllt, mediatisiert wird. Sehr schnell wird Medium ein fester Bestandteil eines neuen Jargons der (Un-)Eigentlichkeit, ein Wort, das zur Verfügung steht, wenn man nicht mehr genau sagen kann oder will, worum es wirklich geht, das können die Sprache sein oder die Mode, die Kunst 3 Schultz: „ ‚Irgendwas mit Medien‘ “, S. 17. 4

In Berlin kondensiert diese Frage zu dem idiosynchratischen Kolloquiumstitel „Medien, die wir meinen“ (Ernst: „Medien, die wir meinen“).

5

„Damit nun nicht auch die Hochschulen einfach ‚irgendwas mit Medien‘ anbieten, empfiehlt der Wissenschaftsrat, [...]“ (Schultz: „ ‚Irgendwas mit Medien‘ “, S. 17).

6

Siehe zur Kontingenz des Medienbegriffs: Rieger: Die Individualität der Medien, S. 7-14.

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Albert Kümmel-Schnur | Einleitung

oder die Massen ,medien‘ Radio, Fernsehen, Internet, die alle irgendwie zunächst ‚Medien‘ sind: ein allgemeiner Medienverdacht macht sich breit. Medium wird auch dann nicht konkreter, wenn damit etwas ‚dazwischen‘ gemeint ist, eine Verbindung ohne Verbindlichkeit. Medium verschwindet vollends, wenn es hinter seinem Effekt unsichtbar wird. Wie kann man mit einem derartigen ‚Phänomen‘ [...] eine wissenschaftliche Disziplin begründen? Warum ausgerechnet mit Medien?7 In so verzwickter Lage empfiehlt sich ein Blick in die Geschichte. Im Zeitraum zwischen 1890 und 1930 verdichtete sich die Rede von Kommunikationsapparaten – Ausdrucks- bzw. Verkehrsmitteln – wie Massenpresse, Kino, Radio, Bildfunk, Fernsehen etc., ohne allerdings das Gemeinte je mit einem Begriff bezeichnen, ‚labeln‘, zu können.8 Ab Mitte der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts sucht die neu an deutschen und schweizerischen Universitäten etablierte Zeitungswissenschaft intensiv nach Möglichkeiten, ihrem eigentlichen Gegenstand – der Presse – funktional ähnliche oder zumindest vergleichbare Gegenstände – Kino, Radio – zu assoziieren.9 Diese Versuche brechen 1933 radikal ab – die nationalsozialistische Propagandaforschung ist weniger an einer Theorie der Medien als an ihrer Praxis interessiert und die lässt sich wesentlich einfacher vom Einzelmedium, vom Radio, vom Film, von der Presse, her denken und v.a. umsetzen als im Kontext weiterer Medien. Der Begriff ‚Medien‘ kommt deshalb (trotz oder wegen vereinzelter früherer Begriffsverwendungen) nach Deutschland erst als Reimport aus Amerika, wo im Kontext der Propagandanalaysen des Princeton Radio Project, in dem prominente Emingranten – z.B. Paul Lazarsfeld und Theodor W. Adorno – arbeiten, der Begriff ‚mass communication‘ geprägt wird,10 der sich nur allzu leicht mit dem in der amerikanischen Werbesprache seit den 1920er Jahren gebräuchlichen Begriff der mass media verbinden kann und diesem zu konzeptuellem Gewicht verhilft. 1932, also zu einem Zeitpunkt, als die explizite Diskursivierung von Kommunikationsmitteln als ‚Medien‘ in Deutschland in greifbarer Nähe zu sein scheint, 7

Paech: „Warum Medien?“, S. 18-19.

8

Vgl. die Anthologie Medientheorie 1888-1933 (hrsg. v. Kümmel/Löffler), die diese These anhand von 64 ausführlich kommentierten Texten belegt.

9

Siehe Kümmel: „Papierfluten“.

10 In seiner Studie zur Geschichte der Kommunikationsforschung (A History of Communication Study) datiert Everett M. Rogers die Verwendung des Begriffes mass communication auf einen Brief von Ivor A. Richards an John Marshall vom 16.8.1939 und fährt fort: „the words communication and mass communication began to be used in the early 1940s, and then rapidly spread into common use by scholars in journalism and related fields of mass communication, with Wilbur Schramm leading the way.“ (ebd. S. 222).

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Albert Kümmel-Schnur | Einleitung

verzeichnet der Brockhaus drei verschiedene Medienbegriffe: einen physikalischen, einen linguistischen und einen spiritistischen.11 Weder dem physikalischen noch dem linguistischen Medienbegriff wird sonderlich viel Raum gewidmet. Der spiritistische Medienbegriff darf jedoch eine dreiviertel Spalte für sich beanspruchen, was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass diese Begriffsverwendung noch im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts die dominante war.12 Was die Attraktivität dieses Medienbegriffs auch für seine spätere Umformung ausmachte, ist einerseits seine undifferenzierte Zurechnung auf Personen – begabte Trancemedien – und Apparate – ouija oder weegee boards, Foto- und Filmapparate, das Fernsehen, der Funk etc. Der Titel ‚Medium‘ bleibt dabei den personalen Medien vorbehalten, die unter diesem Titel benannte Erfahrung wird auch Apparaten zugerechnet.13 An dem (psychosomatischen) Ort, den der Begriff ‚Medium‘ im spiritistischen Diskurs benennt, wird die „Inkongruenz von (intentionalem, betrügerischem, simulativem) Handeln und (passivem, empfindsamen) Erleiden“14 erfahrbar. Genau dieser Inkongruenz aber muss man sich auch beim Umgang mit den stets gestörten technischen Kommunikationsmedien stellen: der deutsche Bildungsdiskurs hat diesen Apparaten solche Ohnmachtserfahrungen nie verziehen und sie deshalb immer wieder als ‚geistlos‘ geächtet.15 Der linguistische Medienbegriff – „ein durch besondere Personalendungen gekennzeichnetes Genus des indogerman. Verbums“16 – bezeichnet ebenfalls einen Ort zwischen Aktivität und Passivität: ein Subjekt erfährt eine Zustandsänderung ohne Eigenaktivität und Fremdeinwirkung.17 „Das Seil reißt“ bringen die anonymen Wikipedia-Autoren als Beispielsatz für eine mediale Diathese, ie. die Beschreibung einer Handlungsrichtung, die weder aktivisch – Er zerriß das Seil - noch passivisch – Das Seil wurde von ihm zerrissen – gedeutet werden kann. 11 anonym: „Medium“ (Brockhaus), S. 317/Sp. 2. Zum Vergleich: die klassische Ausgabe der Britannica von 1911 kennt sogar nur einen spiritistischen Mediumsbegriff: anonym: „Medium“ (Britannica). 12 Siehe dazu Kümmel/Löffler: „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.): Medientheorie 1888-1933, S. 11-13; Kümmel/ Löffler: „Nachwort“, in: dies. (Hrsg.): Medientheorie 1888-1933, S. 557-559; Schüttpelz: „Empfindliche Materie“. 13 Grundsätzlich zu diesem Aspekt siehe ebd., und Schüttpelz: „ ,We cannot manifest through the medium‘ “. 14 Kümmel/Löffler: „Nachwort“, in: dies. (Hrsg.): Medientheorie 1888-1933, S. 558. 15 „Vielgelesene und in Radio wie Fernsehen massenmedial übrigens bemerkenswert präsente Theorieköpfe wie die von Theodor W. Adorno und Günther Anders befinden, daß Massenmedien wie der Film, das Radio und das Fernsehen verblöden, vereinfachen, vereinheitlichen, vermassen, vermasseln, verdinglichen.“ (Hörisch: „Medientheorie(n)“, S. 173) 16 anonym: „Medium“ (Brockhaus), S. 317/Sp. 2. 17 Vgl. Wikipedia-Kollektiv (deutsch): „Diathese“; vgl. Wikipedia-Kollektiv (deutsch): „Medium“.

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Albert Kümmel-Schnur | Einleitung

‚Reißen‘ ist weder eine Handlung noch keine Handlung des Seils. Und dennoch ist es beides: insofern das Material des Seils ermüdet ist oder fehlerhaft produziert wurde, ‚handelt‘18 das Seil, indem es reißt. Insofern äußere Einflüsse, z.B. Witterungsbedingungen, die Materialeigenschaften des Seils verändert haben, wurde das Seil behandelt und reißt nun infolge dessen. Aktivität und Passivität fallen also am Ort des Seils zusammen: seine Materialität ist so beschaffen, dass äußere Einflüsse den Effekt des Reißens hervorbringen können.19 Genau diesen Nirgendort besetzen auch die personalen Medien nicht nur des euroamerikanischen Spiritismus – bei ihnen fallen jedoch Aktivität und Passivität auseinander. Sie selbst sind der Ort dieses Auseinanderfallens. Eben eine solche Einheit der Differenz von Aktivität und Passivität, gleichgültig, ob man sie als integrierende oder dissoziierende Funktion deutet, kann auch der physikalische Medienbegriff, der dritte jener 1932 im Brockhaus genannten, für sich beanspruchen. Von den ersten Äthertheorien der Antike durch die ganze Geschichte des oder besser der Äther20 hindurch wird es stets um Fragen der Impulsübertragung, der Bewegungsweiterleitung, des Nachrichtenflusses gehen. Der Äther ist dabei entweder das die träge Materie erst aktivierende Handlungsprinzip oder aber selbst eine bloß inerte, wiewohl gewichtslose Materie, die bewegt werden will und muss.21 18 Ich setze das Verb ‚handeln‘ in einfache Anführungszeichen, um zu indizieren, dass darunter in diesem Fall selbstverständlich keine Form intentionaler, bewusstseinsgeleiteter Aktivität gemeint ist. 19 Es versteht sich von selbst, dass diese Ableitung keine echte Auseinandersetzung mit dem altphilologischen Begriff des grammatischen Mediums darstellt. Es geht nur um den vorsichtig tastenden Versuch einer ersten Annäherung. Vielleicht kann sie Wege für eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Spur ins antike Griechenland oder auch nur die linguistische Begriffsbildung der Altphilologie weisen. 20 James Clerk Maxwell entfährt in seinem berühmten Äther-Artikel aus der 9. Britannica-Auflage ein Stoßseufzer: „Aethers were invented for the planets to swim in, to constitute electric atmospheres and magnetic effluvia, to convey sensations from one part of our bodies to another, and so on, till all space had been filled three or four times over with aethers.“ (Maxwell: „Ether“, S. 763) Dies gilt allerdings auch und gerade für das 18. Jahrhundert, das Maxwell irritierenderweise als zu nüchtern für Äthertheorien darstellt. Auch Cantor und Hodge artikulieren zu Anfang ihres Sammelbandes zu Äthertheorien nach Newton das definitorische Problem eines Begriffs, der eher eine Familie höchst unterschiedlicher Materien und Kräfte benennt als sich eindeutig auf nur einen Gegenstand zu beziehen: „We cannot usefully indicate properties that all ethers must and only ethers can have.“ (Cantor/Hodge: Conceptions of Ether, S. 1) Cantor und Hodge geben die enge Problembezogenheit von Ätherkonzepten als Grund für ihre Diversität an: „ether theories tend to be problem relative“ (ebd. S. 29). 21 Äther könnte/n, in diesem Sinne, die so modellhaft ideale wie hoffnungslos fiktive Verkörperung des agency-Prinzips, das der britische Sozialanthropologe und Melane-

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Albert Kümmel-Schnur | Einleitung

In jedem Fall füllt er eine systemische Lücke zwischen Bewegung und Ruhe, die die Physik – manche sagen: bis heute22 – nicht schließen konnte. Als Beispiel kann Descartes’ Kosmologie dienen,23 die strikt zwischen ausgedehnten, aber unbewegten Körpern und einem zusätzlichen Bewegungsprinzip unterscheidet, das er Gott zuschreibt: Aktivität und Passivität zählen damit grundsätzlich unterschiedlichen Ordnungen zu. Aktiv im radikalen Wortsinn ist nur Gott selbst – allerdings gibt es ein endloses Spiel vermittelter Aktivitäten. Der Äther ist nichts weiter als ein elastisches feinstoffliches Füllmaterial, das die Zwischenräume zwischen den grobstofflichen Körpern schließt. „In the world of Descartes’ plenum [...] no body is ever free from the action of others. Every portion of matter is continually agent and patient.“24 Aktivität und Passivität finden demnach nicht nur im Äther, sondern überall zusammen, aber eben nur deshalb, weil ein materieller Äther keine leeren Räume lässt. Im ewigen Billardspiel großer und kleinster ausgedehnter Körper ist Bewegung immer empfangene und weitergesandte zugleich. Der kosmische Einheitsort von Handeln und BehandeltWerden ist damit eben der Äther.25 Der Brockhaus von 1932 diskutiert den physikalischen Medienbegriff freilich nicht in dieser Form. Stattdessen findet sich dort nur der lapidare Verweis: „In der

sienforscher Alfred Gell in den 1990er Jahren entwickelte, sein. Der agency-Begriff soll dabei den Handlungsbegriff der Soziologie insbesondere der Interaktionsanalyse ersetzen durch eine zweiwertige Relation aus Handeln und Behandelt-Werden, eben jener Einheit von Aktivität und Passivität, die sich, folgt man meiner oben gegebenen Skizze, als eigentlicher Ort der Medien herausstellt. 22 Manche halten die ‚dunkle Materie‘ der Astrophysiker – immerhin soll sie 95 Prozent des Universums ausmachen – für eine Variation bzw. Weiterentwicklung der Ätherhypothese (siehe z.B. Hagen: „Medienäther – Äthermedien“); andere stellen fest, dass eine quantenphysikalisch gedachte Welt so oder so auf den Äther bzw. ein ätherisches Medium angewiesen sei. Wenigstens die Gravitationsfelder, auf die auch die Relativitätstheorie nicht verzichten kann, sind auf ein nichtiges, aber unvermeidbares Medium angewiesen – vgl. dazu den Beitrag von Christian Kassung und Marius Hug in diesem Band. Für Hypothesen zum Überleben des Äthers über das magische Jahr 1905 hinaus siehe grundsätzlich die Ausführungen von Tristan Thielmann in diesem Band. 23 Siehe auch den Kommentar zu Maxwells Auseinandersetzung mit Descartes’ Äthertheorie von Frank Furtwängler in diesem Band. 24 Cantor/Hodge: Conceptions of Ether, S. 14. 25 Auch Newton lässt in einer seiner verschiedenen Äther-Hypothesen Aktivität und Passivität zusammenfallen: „The exact nature of Newton’s ether and of its relation to specific subtle fluids is obscure. In his second optical paper, he suggested that ether was not composed of ‚one uniform matter’ but was a mixture of ‚the main phlegmatic body of aether’, which was inactive, together with active and more subtle ‚aetherial spirits’.“ (ebd. S. 22) Im Unterschied zu den bei Descartes wirksamen Stoßkräften sind die ätherischen Geister Newtons stets eigenaktiv (vgl. ebd. S. 24).

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Physik -> Mittel“26. Schlägt man dann dort nach, findet man folgende Erläuterung: ein Mittel sei „in der Physik die Materie, innerhalb derer sich ein bestimmter physikal. Vorgang, z.B. die Fortpflanzung eines Lichtstrahls abspielt.“27 Vor Einsteins Aufsatz „Über die Elektrodynamik bewegter Körper“ aus dem Jahre 1905, der erstmals die spezielle Relativitätstheorie der Öffentlichkeit vorstellte, hätte man diese subtile Substanz, die dem Licht einen Pfad bietet, noch ganz einfach ‚Äther‘ genannt: „a material substance of a more subtle kind than visible bodies, supposed to exist in those parts of space which are apparently empty.“28 Die Vorstellung einer geheimnisvollen weltfüllenden Substanz läßt sich zwar bis Aristoteles zurückverfolgen, jedoch gilt Newton als Begründer einer Physik, zu der ein ‚ätherisches Medium‘ gehörte, das Licht- und Wärmeschwingungen überträgt und Materie durchdringen kann. Er beschrieb Äther als ‚infinit rarer und subtiler als Luft, infinit dehnbarer und regsamer‘. Lord Kelvin stellte Mitte des 19. Jahrhunderts Überlegungen zu der verbreiteten Annahme an, wonach Äther der Ursprung der Materie sei, und meinte, materielle ‚Atome‘ könnten strudelnde Wirbelringe im Äther sein. Äther selbst wurde damals mit wechselnden Begriffen beschrieben, wobei das Schwergewicht auf Eigenschaften lag, die für die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen erforderlich waren: Elastizität und hohe Dichte [...]29 In seinem letzten Lebensjahr30 schreibt James Clerk Maxwell in der neunten Auflage der Encyclopaedia Britannica (1875-1889), Äther im Sinne eines Lichtmediums sei die einzige Äthertheorie, die die Zeitläufte überlebt hätte: „The only aether which has survived is that which was invented by Huygens to explain the propagation of light.“31 Jede zusätzliche Erkenntnis über die Eigenschaften von Licht und anderen Strahlungen, fährt Maxwell fort, habe geholfen, diese Äthertheorie zu stärken. Schließlich habe sich – nicht zuletzt durch Maxwells eigene Arbeiten – herausgestellt, dass „the properties of this medium, as deduced from the phenomena of light, have been found to be precisely those required to explain electromagnetic phenomena.“32 Der Äther stiftet die Einheit der physikalischen Phänomene: nicht mehrere Äther, das Chaos, das Maxwell als Ergebnis der historischen Recherche zu Beginn seines Lexikonartikels beschwor, sondern nur ein Äther, ein 26 anonym: „Medium“ (Brockhaus), S. 317/Sp. 2. 27 anonym: „Mittel“, S. 622/Sp. 2. 28 Maxwell: „Ether“, S. 763. 29 Henderson: „Die moderne Kunst und das Unsichtbare“, S. 16. 30 Park: The Fire Within the Eye, S. 185/286. 31 Maxwell: „Ether“, S. 763. 32 Ebd. S. 764.

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universales Einheitsmedium, eine Ordnung der physikalischen Welt: Elektrizität, Magnetismus und Licht finden im selben Trägermedium zueinander. „The electromagnetic theory of light is presented as the theory which seems to show not that these ethers exist – that is assumed – but that they are the same.“33 Maxwell war, so betont Richard Parks mit guten Gründen,34 von der realen Existenz des Äthers überzeugt, brauchte ihn jedoch nicht für das System seiner Feldgleichungen. „Maxwell’s explanations required an ether even if his equations didn’t“35. Maxwell nimmt also eine Schlüsselrolle im Denken über den Äther ein: er stärkt ihn als Einheitsmedium – jenseits seiner Theorie des elektromagnetischen Feldes – und schwächt ihn – in Konsequenz seiner Bemühungen um mathematische Formalisierung – als physikalische Modellvorstellung.36 Im Herzen des Problems steht dabei die Frage einer mechanisch argumentierenden Physik.37 Die grundsätzliche Bindung von Ätherkonzepten an die Mechanik – an das Prinzip von Stößen und Gegenstößen, Impulsen und ihrer Weiterleitung – ließ ihn, wie oben skizziert, zum Einheitsmedium von Aktivität und Passivität werden.38 Fällt eine mechanische Erklärung der Welt, wird auch der Äther obsolet: „Mit der Überwindung dieses Naturverständnisses ist auch der 33 Park: The Fire Within The Eye, S. 286. 34 „There was never any doubt in Maxwell’s mind as to the reality of ether. The index of his two-volume Treatise on Electricity and Magnetism (1873), written toward the end of his life, contains no entry for it, but that is a scientific book, and the statements in it are supposed to be verifiable by experiment. [...] in his last year he wrote a beatiful article, ‚Ether’, for the Encyclopedia Britannica (9th ed.) that [...] explains the roles that the ethers of light and electromagnetism must play.“ (Ebd. S. 285/286) 35 Ebd. S. 296. 36 Sehr schön fassen die Brüder Böhme in ihrer Kulturgeschichte der Elemente die paradoxe Lage, in die der Äther mit Maxwell geraten war, zusammen: „Man kann sagen, daß schließlich mit Maxwell der Äther physikalisch an einer entscheidenden Stelle, nämlich als Lichtträger, überflüssig geworden war. Das trifft aber nur zum Teil zu. Einerseits nämlich wäre er, selbst wenn er physikalisch sich als Hypothese schon erübrigt hätte, philosophisch noch notwendig gewesen, weil nach dem Substanz-Akzidenz-Denken Schwingungsvorgänge sehr wohl einen Träger verlangten. Ferner war aber die Lichttheorie bzw. die umfassendere, die elektromagnetische Theorie nicht von anderen physikalischen Phänomenen und Theorien zu isolieren.“ (Böhme/ Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 161) Für eine Rekonstruktion der Entwicklung der Äthervorstellungen Maxwells von einem von Faraday abgeleiteten hydrodynamischen Modell über das Konzept einer Maschine mit Zahnrädern und Zügen bis hin zu jenem System der Feldgleichungen, die de facto den Äther verabschieden, siehe das elfte Kapitel der Maxwell-Biographie von Martin Goldman (Goldman: The Demon in the Aether, S. 134-165). 37 Böhme/Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 163. 38 Der Äther, so könnte man diese These auch übersetzen, ist gleichermaßen der Ursprung aller Materie als auch der leerste aller Signifikanten: bloße und frei verschiebbare Füllmasse systemischer Leerstellen.

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Äther überflüssig geworden.“39 Der Brockhaus hat die Abwendung vom mechanischen Weltbild ganz offensichtlich nicht nachvollzogen. Sein physikalischer Mittler ist eine „Materie“40. Immer wieder wurde jedoch darauf hingewiesen, dass Einsteins Verabschiedung des Äthers – unabhängig davon, wie endgültig sie gewesen sein mochte41 – sich keineswegs unmittelbar durchsetzte.42 Die Kunsthistorikerin Linda Henderson hält fest: despite the regular claims in cultural history that Einstein in 1905 finished off the ether, the question of its existence was hotly debated among scientists skeptical of Einstein’s theories during the 1910s and 1920s, with passionate defenses of the ether being made in scientific and popular literature, including in France.43 Ein langsames Vergessen der Ätherhypothese stellt Henderson erst für die 1930er Jahre fest44 – der Brockhaus von 1932 wäre also zwar nicht auf der Höhe der Physik seiner Zeit, aber dennoch recht vorsichtig mit der zurückhaltenden Feststellung, „Mittler“ bezeichne in der Physik (irgend)eine „Materie“, in dem ein Prozess („ein bestimmter physikal. Vorgang “45) ablaufe, ohne diese Materie noch „Äther“ zu nennen. Wo also setzt die hier postulierte Genealogie eines ätherischen Medienbegriffs, der bis in die Moderne hineinreicht, jenseits seiner epistemologischen Verortung in einem Spannungsfeld von Aktivität und Passivität ein? Das populäre Lexikon hält am spiritistischen Medienbegriff fest und scheint den physikalischen kaum zu kennen; dieser bleibt sogar gegenüber dem ebenfalls nur knapp definierten linguistischen beinahe substanzlos. Ist der spiritistische Medienbegriff noch Anfang der 1930er Jahre allgemein geläufig, scheint der physikalische so obskur wie peripher. Allerdings greift der spiritistische Medienbegriff so selbstredend wie gern auf die Polysemie des alten Ätherbegriffs zurück, ins39 Ebd. S. 163. Dass es gute Gründe gibt, einer endgültigen Verabschiedung des Äthers zu misstrauen, zeigen die Beiträge von Tristan Thielmann und Christian Kassung/Marius Hug in diesem Band. Zurecht weist jedoch Frank Furtwängler (ebenfalls in diesem Band) darauf hin, dass gegenwärtige Konzepte eines kosmischen Hintergrundmediums, wie immer man es nennen mag, eben schon im Verzicht auf den Namen ‚Äther‘ einen Bruch mit der Tradition dieses Universalmediums bedeuten. 40 nonym: „Mittel“, S. 622/Sp. 2. 41 Siehe dazu den Beitrag von Kassung/Hug in diesem Band. 42 Für die Wissenschaftsgeschichte des Äthers vgl. v.a. die klassische Studie von Whittaker und den Sammelband von Cantor/Hodge. Für das popkulturelle Weiterleben des Äthers siehe das jüngst erschienene Buch von Milutis: Ether. 43 Henderson: „Recovering“, S. 13. 44 Ebd. S. 4. 45 nonym: „Mittel“, S. 622/Sp. 2.

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besondere dort, wo er versucht, seine Theorien der Geisterkommunikation physikalisch zu begründen oder eine solche Begründung wenigstens zu insinuieren. Man wird weitgehend dieser Spur unscharfer Überlagerungen, anmaßender Indienstnahmen und unvermeidbarer Interdependenzen folgen müssen, will man die Bedeutsamkeit des Äthers (bzw. der ätherischen Medien) für die Geschichte des Medienbegriffs in die Etablierung von Medienwissenschaft an deutschen Universitäten hinein erhellen. Dass ich hier Medientheorien ins Spiel bringe und ihnen einen Zustand der Unzugänglichkeit zuschreibe, die epistemologisch bestenfalls nur noch vom Begriff des Äthers selbst überboten wird, darf Sie nicht wundern. Wenn es überhaupt ein erstes Medium gibt, das nicht je schon etwas anderes war, ein Element beispielsweise, als wären Feuer, Wasser, Luft, Erde oder Schrift, dann ist es der Äther.46 Historisch und epistemologisch sind Medienwissenschaft/en und Äthertheorie/n aufeinander bezogen: der Äther ist einerseits das primordiale, älteste aller Medien, das erste nämlich, das so genannt wurde. In einer „medienepistemologischen Fußnote“ zur Geschichte des Medienbegriffs führt Wolfgang Hagen ihn auf die von Griechischkenntnissen unbeleckte Aristoteles-Lektüre Thomas von Aquins zurück. Wo Aristoteles ein vages ‚Dazwischen‘ annahm, setzte Thomas von Aquin zur Verdeutlichung ein ontologisierendes Medium. Die Folgen dieser Umbesetzung können, so Hagen, kaum überschätzt werden.47 Andererseits ist der Äther 46 Hagen: „Medienäther – Äthermedien“. 47 Zu Beginn seines Essays skizziert Hagen kurz den Bogen seiner Überlegung, der verdient, in voller Länge zitiert zu werden: „Die Begriffsgeschichte des Mediums, der wir auf der Spur sind, setzt ein mit Thomas von Aquin und seinem Versuch, diejenigen Passagen des aristotelischen Περι Πυχη zu übersetzen, die sich auf die physiologischen Wahrnehmungstheorien des Gesichtssinns, des Sehens, des Hörens, des Tastens, Schmeckens und des Riechens beziehen. Hier interpoliert Aquin, wie ich ihnen zeigen werde, das Wort Medium mit einiger Verlegenheit in einen griechischen Text hinein, wo er sich nicht findet. Das führt zu großen und lang anhaltenden Irritationen in der Diskussion um die Optik in der frühen Neuzeit, vor allem bei Kepler, geht dann über in die zunächst mechanistischen Deutungen bei Descartes und mündet in den klaren und nüchternen Mathematisierungen des Medium-Begriffes bei Newton, die ihrerseits aber in der Deutschen Romantik auf einen heftigen, klassizistisch motivierten Widerstand treffen und zu den großen spekulativen Umgangsweisen mit dem Begriff des Mediums bei Schelling und Hegel führen. Hochaufgeladen mit einer überbordenden romantischen Spekulation gerät der Begriff des Mediums noch im Laufe des 19. Jahrhunderts gleichsam zielgenau in die Fänge jener Verstärkungs- und Entmischungsapparaturen Telegrafie, Radio und Film. Das hat weitreichende Folgen, denn mit dem romantischen Passwort des Mediums sind die kognitiven, affektiven und konativen Effekte dieser Techniken am allerwenigsten greifbar und so kommt es zu Wechselwirkungen mit den spiritistischen Gegenphänomenen dieser Apparaturen, nämlich den interkommunikativen mediumistischen Medien des

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Medium sans phrase: nicht anderes eben als ein bloßes – wie immer gegenständlich imaginiertes – Dazwischen, ein Relations- und Übertragungsort. Gerade diese vage Unbestimmtheit mitsamt dem Anspruch auf universale Geltung macht den Äther zum Modell für Medialität schlechthin: Medientheorien, so folgert Hagen zurecht, müssen umso spekulativer und umso inhaltsleerer sein, je weitreichender ihr Anspruch ist. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht ist sowohl der hohe Anspruch der Medienwissenschaft, Universalwissenschaft zu sein als auch die chaotische konkrete Praxis, die zu den eingangs zitierten Forderungen des deutschen Wissenschaftsrats sowie den disziplinierenden Maßnahmen der Medienwissenschaftler selbst führen, verständlich.48 Indem der vorliegende Band sich der Spur widmet, die das Konzept des Äthers und den Begriff der Medien (bzw. des Mediums) vom neunzehnten bis ins frühe einundzwanzigste Jahrhundert aufeinander bezieht, trägt er nicht nur zur Genealogie des Begriffs ‚Medium‘, sondern auch zur Standortbestimmung der mit diesem ungegenständlichen Gegenstand befassten Wissenschaft bei. Vielen der hier versammelten Aufsätze ist das historische Fallbeispiel deshalb stets auch Möglichkeitsraum aktuellen Weiterdenkens. Stefan Kramer denkt Bergson weiter, Frank Furtwängler Cassirer, Tristan Thielmann Michelson/Morley und Albert Kümmel-Schnur Fechner. Andere Texte fragen nach dem quid juris solcher Übertragungen: Christian Kassung und Marius Hug widmen sich dem Einsteinturm in Potsdam und der Frage, wie Mendelssohn Einsteins Relativitätstheorie architektonisch interpretierte. Antje Pfannkuchen zeigt, wie Ezra Pound Kelvins Wirbeltheorien poetologisch las. Jürgen Stöhr demonstriert, was passiert, wenn man in den feinstofflichen Äther zu springen vermeint und im Sinngefüge der Kunstwissenschaft landet. Eine vergleichbare Lektüre nimmt Stefan Rieger vor: er verfolgt das ätherische Medium Od in die Kulturtheorie Aby Warburgs hinein und analysiert dessen Theorie des kulturellen Gedächtnisses auf Basis von Engrammen und mnemischen Wellen – ein Gedanke, der schon, wie KümmelSchnurs Ausführungen zeigen, Fechner umgetrieben hat. Endet Riegers Text Spiritismus einerseits und zur Ausbildung der Begriffsapparate der empirischen Psychologien andererseits, die im wesentlichen die nicht gelingende Konfrontation des Mediums mit seinen neuen Kulturtechniken zu beschreiben versuchen. Als Konfrontationsprodukte sehen wir dann bei Pierre Janet, William James und Sigmund Freud solche Begriffskonzepte wie Psychischer Automatismus, das Unbewusste, die Übertragung, die streams of consciousness, Ausdifferenzierungen der psychischen Ich-Instanzen und dergleichen mehr sich heranbilden, was weit hinein ins zwanzigste Jahrhundert hineinreicht, in dem der Begriff des Mediums sich zudem noch mit einem weiteren hochaufgeladenen Begriff des 19ten Jahrhunderts amalgamiert, zu dem eine Tagung fällig wäre, nämlich dem Begriff der Masse, id est: Das Massenmedium.“ (Hagen: „Was ist ein Medium?“ S. 2). 48 Wobei dahingestellt sein mag, ob eine Disziplinierung des wilden Begriffs ‚Medium‘ überhaupt wünschenswert ist.

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mit „Ludwig Binswangers Kreuzlinger Anstalt für Mediengeschädigte“ beginnt Laurence Rickels’ Essay mit der Binswanger-Lektüre des kalifornischen ScienceFiction-Autors Philip K. Dick: der vorliegende Band ordnet seine Beiträge nicht nach chronologischen Abläufen, kausalen Zusammenhängen oder systematisierenden Kategorien. Er verlässt sich vielmehr auf die Zusammenhang stiftende Kraft narrativer Übergänge. Endet der Aufsatz Jürgen Stöhrs zu Yves Kleins Sprung und seiner fotografischen Dokumentation durch Harry Shunk mit dem chemischen Äther, nimmt Alexandra Lemberts Ausflug in die Welt der okkulten Detektivromane Großbritanniens den Staffelstab genau an dieser Stelle auf. Auf die psychoanalytische Science Fiction Philip K. Dicks folgt die technische Science Fiction Samuel Becketts. Wolfgang Hagen dekonstruiert das Bild eines späten religiös-romantischen und ergo weich gewordenen Existenzialisten und fördert einen technisch versierten Medienpoeten zutage. Den Indifferenzpunkt zwischen spiritistischer und technischer Medienauffassung belegt Hagen mit dem Autorennamen Edgar Allen Poe. Seinen Texten und seiner Ätherauffassung widmen sich sowohl Alexandra Lembert als auch Holger Steinmann. Steinmann entdeckt bei seinen Lektüren Poes und Hölderlins die Sprache als ein vom Äther getragenes poetisches Medium. Lembert widmet sich der Mediatisierungsfunktion von Ätherdiskursen zwischen Naturwissenschaft und Literatur. Genau diese Funktion bereitet Jens Schröter in seiner Lektüre von Bruno Latours Reassembling the Social Schwierigkeiten. Schröter fragt am Leitfaden des Äthers nach der Legitimität von Begriffsübertragungen im wissenschaftlichen Diskurs – im literarischen ist sowieso erlaubt, was immer starke Texte generiert. Latour beschreibt in seinem Rückblick haltenden, um Synthese seiner bisherigen Überlegungen bemühten Buch die Soziologie in eben der Weise, wie heutige Medienwissenschaftler die Medienwissenschaft beschreiben. Soziologen sei eben alles eine Erscheinung des ‚Sozialen‘ bzw. jedes Phänomen meine man durch das Attribut ‚sozial‘ auszeichnen und klassifizieren zu können. Diese Situation entspräche der Ätherhypothese in der Physik: auch der Äther sei ja ein gleichermaßen universeller wie ungreifbarer Lückenbüßer, der systemische Schließung dort leisten sollte, wo sie auf andere Weise nicht erreicht werden konnte, gewesen. Die Situation ist durchaus derjenigen der Theologie im Allgemeinen vergleichbar, die Max Bense folgendermaßen beschrieb: Es läßt sich zeigen, daß Aussagen über Gott von der Art ‚Gott ist höchstes Wesen‘ oder ‚Gott ist transzendent‘ nicht das Geringste mehr aussagen als etwa ‚X ist pektabel‘. In einer solchen Aussage wird von einem unbestimmten Etwas (X) ein unbestimmtes Prädikat (ist pektabel) ausgesagt. Diese sprachliche Formulierung ist kein Satz, sondern ein Scheinsatz.49 49 Bense: „Warum man Atheist sein muß“, S. 70.

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Bruno Latour schlägt vor, die Rede vom alles durchdringenden Sozialen zu ersetzen durch eine Analyse konkreter Handlungszusammenhänge in Kollektiven menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. Die zentrale Vernetzungsaufgabe, darauf weist Schröter zurecht hin, kommt dabei Inskriptionstechniken jeder Couleur, man könnte auch sagen: technischen Medien, zu. Und so kehren, mit zwinkerndem Auge, die Äther und ihre schlechterdings unvorstellbaren Mechaniken durch die Hintertür in Latours Text zurück: als „Metapher für die Irreduzibilität der Vermittlung“ (Schröter). Wir werden ihn also nicht los: zu diesem Schluss kommen viele Texte dieses Bandes. Stefan Kramer verweist mit einem bestimmten „Und es gibt ihn doch“ auf das vergessene Verständnis des Äthers als ‚Marktplatz‘, jenen Ort, der das Zusammenkommen der Dinge und die Struktur ihrer Relationierungen bestimmt. Als einen Ort in eben diesem Sinne begreift Kramer auch die Massenmedien: „Massenmedien, welche als alles verbindende Kraft in gewissem Sinne in der gesellschaftlichen Selbst- und Mythenkonstruktion an die Stelle des Äthers getreten sind.“ Immanente Medien im Sinne Kramers sind demnach weniger vermittelnd als strukturbildend. Wie quälend es sein kann, sich ein rein immanentes Relationsgefüge denken zu wollen und doch immer wieder an der Insistenz eines viskosen, allumfassenden Mediums hängen zu bleiben, zeigt Albert Kümmel-Schnurs Analyse von Fechners Büchlein vom Leben nach dem Tode. Fechners Text könnte durchaus als Versuch eine Massenkommunikationstheorie avant la lettre gelesen werden, wenn Fechner nicht auf der physikalisch nachweisbaren Realität der von ihm beschriebenen kommunikativen Effekte beharrte. Die Engrammtheorie des Mediziners Richard Semon als Grundlage der Theorie des kulturellen Gedächnisses Aby Warburgs, wie Stefan Rieger sie beschreibt, kann durchaus als variierende Wiederauflage von Fechners Austausch lebender und toter Geister in materielle gedachten Bewusstseinswellen aufgefasst werden. Es ist kein Zufall, dass diese Bewegungen von Substanz zu Prozess bzw. Relation in mit dem Universalmedium Äther befassten Texten und Theorien stattfanden: der Äther kann geradezu als Paradigma dieses langsamen, diskontinierlichen Übergangs aufgefasst werden. „Im Äther“, schreibt Frank Furtwängler in seinem Beitrag, „erkennen wir noch leicht die Vereinigung der ‚Physik der Substanzen‘ mit der ‚Physik der Prinzipien‘ vor ihrer Trennung.“ Der Äther war Substanz und verflüchtigte sich in dem Moment, als die Physik hypothetische Gegenstände durch die Beschreibung von Relationsgefügen ersetzte: dieses Relationsgefüge, zeigt Furtwängler, wird spätestens in der Relativitätstheorie als sein eigenes Medium aufgefasst: „Das Medium konstituiert sich aus Relationen und sich ergebenden Wirkungen.“ Eben ein solch selbsttragendes Medium aber, ein Medium, das nach der Auflösung des stofflichen physikalischen Mediums ‚Äther‘ bleibt, macht Medienwissenschaft erst möglich und interessant.

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Das aber heißt, wie Christian Kassung und Marius Hug betonen, dass der Äther „epistemologisch notwendiger als jemals zuvor“ geworden ist, denn ein „leerer Raum ohne Äther oder Medium würde über ‚keinerlei physikalische Eigenschaften‘ verfügen“. Wo Kassung/Hug einen ganz konkreten, nämlich architektonischen Raum analysieren, erzählt Tristan Thielmann in rasantem Vogelflug die zweieinhalbtausendjährige Geschichte des abstrakten Raummediums Äther. Dieses kehrt wieder, so die Pointe seiner Ausführungen, im Moment des spatial turns und den in diesem Kontext immer wieder artikulierten Bestrebungen einer Re-essentialisierung kulturwissenschaftlicher Analysen nach dem Niedergang der Postmoderne. Aber diese Wiederkehr ist, so macht Thielmann klar, eine selbst mediengenerierte Fiktion. Gerade deshalb aber müssten Medienwissenschaftler nachhaltig die Ätherhypothesen vertreten: schon im eigenen Interesse.

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Messung der vom Auge ausgestrahlten Wellen zur Feststellung persönlicher Eigenschaf

Stefan Kramer | Äther: Und es gibt ihn doch

Stefan Kramer

Äther: Und es gibt ihn doch… Desontologisierte Überlegungen zur Immanenz der Medien Sie sehen doch, dass alle Macht denen gehört, die das Harte und das Weiche besitzen und insbeson­dere jenes Flüchtige, das bei sei­ nem raschen Durchgang durch das Netz auf keinerlei Gegenmacht stößt: auf die Medien, die mit der überzeugenden Macht der Verführung Botschaften kontrollieren; auf die Wissenschaft, die über die Wahr­heit gebietet; auf das Recht, dem der Bereich der Durchführung gehört. (Michel Serres)1

Es ist allgemein bekannt, dass der Begriff des Äthers nicht erst eine Erfindung der europäischen Neuzeit mit ihrem (natur-)wissenschaftlichen Forscherdrang und technischen Erfindergeist war. Er wurde im Rahmen der Substanzlehre von Aristoteles’ Metaphysik bereits vor mehr als zwei Jahrtausenden in die Wissenschaftstradition eingeführt. Damals hatte der griechische Philosoph und Wissenschaftler, der nicht nur mit diesem Konzept maßgeblich an der Konstitution eines zu weiten Teilen bis in die Gegenwart gültigen Kultur- und Wissenschaftsverständnisses in Europa mitgewirkt hatte, den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft den Äther als die quinta essentia, das fünfte Seiende, hinzugefügt. Mit der Begründung dieses neuen Terminus hielt er den sich durch ihre Wandlungsfähigkeit auszeichnenden vier Elementen einen weiteren Stoff entgegen. Dieser galt als unwandelbar und ewig. Er zeichnete sich als alles durchdringende Substanz dadurch aus, dass er alles Seiende verknüpfte und somit in gewissem Sinne einen medialen Charakter aufzuweisen hätte. Mit der Einführung der quinta essentia hatte Aristoteles damals also nicht nur den Äther eingeführt, sondern auch die Voraussetzungen für einen Medienund Kommunikationsbegriff geschaffen, auf den sich die Wissen­schaften auf die eine oder andere Weise bis in die Gegenwart zu beziehen haben. Mit der darin zentralen Definition der Substanz schuf Aristoteles die Grundlagen für die Ausdifferenzierung der Elemente einschließlich des Äthers und hat damit in gewissem Sinne bereits den materiellen Begriff auch der Medien vorweggenommen. Substanz bezeichnet in seinem Modell die Materie als das Zugrundeliegende, welches allerdings immer erst durch das eidos, die Art und Form, zu Bedeutung 1

Serres: Atlas, S. 187f.

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gelangt. Substanz wird demnach zunächst noch nicht als bestimmungsfreie Materie verstanden. Vielmehr hat sie immer konkrete Bezugsgrößen. Sie erhält in ihren Kontextualisierungen eine von außen auferlegte Bedeutung, welche als Ordnungsprinzip immer zugleich auch Kultur und Kommunikation bedeutet. Nach Aristoteles war Substanz also noch nicht ausschließlich stofflich definiert. Äther verstand sich quasi vorbe­grifflich, immanent. Als Substanz ein­ geführt, galt er dennoch weniger als Stoff denn als eine – hinzugefügte – Form zu den vier stofflich nachgewiesenen, in ihrer metaphysischen, kulturellen Bedeutung aber ebenfalls weit über ihre Substanz hinausgehenden vier Elementen. Folgt man dieser Argumentation und überträgt sie auf ein antikes Kultur- und Kommunikations­verständnis, dann lassen sich die Medien als Verbindendes begreifen, das nicht ausschließlich zwischen den materiellen Elementen angesiedelt ist. Vielmehr weist es diesen erst jene Form, eidos, zu, die ihnen und den durch sie verknüpften Elementen Bedeutung verleiht, um sie damit selbst in das Zentrum einer sinnerfüllten Substanz zu stellen. Es definiert sie in der ursprünglich zentralen Bedeutung des griechischen Wortes Medium als die Mitte, den zentralen Marktplatz, von dem selbst in der Interaktion mit den auf ihn strömenden Substanzen alle Bedeutung ausgeht. Die antike Substanzlehre des Aristoteles war nur bis zu einem gewissen Grade Vorbild für den sich in der Medienforschung abbildenden Substanz­gedanken, mit welchem René Descartes2, Immanuel Kant3 und andere im 17. und 18. Jahrhundert die Moderne einläuteten. Sie trennten die Materie endgültig von der Erfahrung ab, um sie im selben Zuge zu deren Apriori zu bestimmen und damit eine bis heute nicht überwundene Teilung zwischen Natur und Kultur wissenschaftlich zu fundieren. Unter diesen grundlegenden Dispositionen neuzeitlicher Wissenschaftstradition haben sich die Disziplinen formiert und ihre Methoden ausdifferenziert und werden Äther und Medien bis in die Gegenwart verhandelt. Bei den Fragen nach dem Verständnis von Äther und nach der Begriffsbestimmung der Medien handelt es sich, aus der Perspektive unseres eigenen Erkenntnisraums betrachtet, daher in erster Linie immer um diejenige nach den Kontinuitäten und dem Wandel im Verständnis des zentralen Begriffs der Substanz. Ihm werden der Äther als ein angenommener physikalischer Feinstoff und die Medien als selbst materiell definierte Instrumente der Abbildung von Materie und der Vermittlung von Wissen und Bedeutung zugerechnet. Zugrunde liegen die Anordnungen einer rational logisch argumentierenden, ausschließlich an die (formlose) Materie und deren Abbildung gebundenen Wissenschaft, die unter den Bedingungen der 2

Descartes: Meditationen über die erste Philosophie.

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Kant: Vorlesungen über die Metaphysik. Vgl. auch Kant: Kritik der reinen Vernunft. Als weiterführende Lektüre zu diesem hier nur angerissenen Thema empfiehlt sich etwa die Arbeit von Forst: Das Ding in seiner Verbundenheit von Substanz und Erscheinungen.

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Aufklärung und Industrialisierung einen wesentlichen Teil der Thesen des Aristoteles in den Bereich des Transzendenten, nicht Beweisbaren, verbannt hat. Die Voraussetzung dafür war, dass die Immanenz der aristotelischen Metaphysik zugunsten der Transzendenz des descartschen Gottesbeweises oder auch der kantschen Kategorien, welche Materie zwar als Apriori von Erfahrung, nicht aber als Erfahrung selbst betrachten, aufgelöst worden war. Mit René Descartes wurde Substanz zu dem, was existiert und nichts anderes für seine Existenz voraussetzt. Damit führte der französische (Natur-)Wis­senschaftler im frühen 17. Jahrhundert neben derjenigen zwischen Natur und Kultur auch die bis in die Gegenwart im Allgemeinen als gültig wahrgenommene Differenz zwischen Geist und Materie ein und begründete den cartesianischen Dualismus. Auch Immanuel Kant, der in der materiellen Welt zwar unendlich viele Substanzen erkannte, diese aber fein säuberlich von der Wahrnehmungskategorie und somit von ihrer äußeren (kulturell-kommunikativen) Bedeutungszuschreibung abtrennte, favorisierte ein Jahr­hundert später einen ausschließlich materiellen, die Wahrnehmungs­kategorie vernachlässigenden Substanzbegriff. Diesem Konsens bei der Bestimmung von Substanz als auf der stofflichen Ebene immer formlose Materie in den aufgeklärten Wissenschaften Europas liegt auch die Definition des Äthers als Feinstoff zugrunde, wie ihn die Naturwissenschaften unter den industrialisierten Anordnungen von Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhun­dert diskutiert haben. In diesem Verständnis wurde auch dem Äther eine nunmehr aus­schließlich materielle Bestimmung zugewiesen. Er selbst galt mit einem Mal als erfahrungsunabhängig und stellte als Kategorie das Apriori derselben dar. In diesem Verständnis geriet er unausweichlich in die Abhängigkeit seiner stofflichen Existenz und Beweisbarkeit, welche das Wissenschaftsparadigma bis hin zu dem von René Descartes unter Verweis auf den Äther angetretenen rational-wissenschaftlichen Gottesbeweis nachhaltig prägte. Auf das Verständ­nis des Mediums übertragen bedeutet das sozusagen den Wandel weg von jenem antiken Verständnis der Mitte, des Marktplatzes, wie er im Kom­munikations­verständnis des Aristoteles noch prägend war und sich in zahlreichen außereuropäischen Kulturen bis in die Gegenwart hat erhalten können. An seine Stelle trat in Europa damals die Definition des Vermittlers, des Dazwischenliegenden. Dieses verlagert die zentrale Aufmerksamkeit unausweichlich von der Form auf die Substanz, nämlich auf diejenigen Elemente, zwischen denen die Medien zu vermitteln haben: die Sender und die Empfänger von Nachrichten, welche durch Äther und Medien miteinander verknüpft sind. Dieser Gedanke, welcher die Medien zu bloßen selbst bedeutungsleeren und erst durch ihre Anbindung an die Substanz zu Sinn gelangenden Werkzeugen degradiert, hat die Informationstheorie genauso geprägt wie alle semiotischen Modelle der Kommunikation. Er wurde auch im Medienbegriff Marshall McLuhans („The medium is the message“) nicht gänzlich überwunden. Genauso wie der wirkungsanalytisch argumentierende Jean

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Louis Baudry mit seiner Dispositivtheorie und zahlreiche in deren Tradition argumentierende Forscher, hatte McLuhan zwar die Rolle der durch die Medien mit bedingten Anordnungen bei der Herstellung von Bedeutung erkannt. Er ist dabei aber dem Werkzeugbegriff und somit auch dem Differenzgedanken verhaftet geblieben. Dieser ist selbst in den Thesen der Dekonstruktion noch evident. Deren Logozentrismuskritik, welche die Frage nach der Differenz ja in ihren Mittelpunkt rückt, zielt zwar unmittelbar auf die Linearität und Binarität all dieser Modelle und des ihnen vorausgehenden Erkenntnissystems ab. Sie argumentiert aber selbst aus ihnen heraus und vermag ihnen keine wirklichen Alternativen entgegenzusetzen.4 Nun wissen wir alle, dass die seriösen Forschungen zu einer angenom­menen Substanz von Äther, ohne dass die Existenz dieses physikalischen Mediums für die Ausbreitung von Licht im Vakuum unter den Bedingungen moderner Naturwissenschaft hätte belegt werden können, von den Vertretern der frühen Relativitäts- und Quantentheorie, allen voran Albert Einstein in seiner im Jahre 1905 erschienenen Arbeit über die „spezielle Relativitäts­theorie“5, bereits im frühen 20. Jahrhundert wieder abgeschlossen worden sind. Äther wurde damals angesichts seiner Nicht-Iden­tifizierbarkeit unter Ver­wen­dung der damaligen (und gegenwärtigen) naturwissenschaftlichen Dar­stellungs­methoden zu einer nicht existierenden Materie erklärt. Ihm stand mit einem Mal keine substantielle Entsprechung mehr gegenüber, auf deren Grundlage die europäischen Wissenschaften ihre materialistisch argumen­tierenden Logikdiskurse weiterhin hätten ausbreiten und legitimieren und den Äther in ihr modernisiertes Substanzverständnis integrieren können. Durch die Loslösung des Äthers aus seiner apriorischen materiellen Bestimmung wurden aber zugleich die – bis heute allerdings kaum genutzten – Grundlagen dafür geschaffen, ihn in gewissem Sinne wieder an seine Ursprungsdiskurse anzubinden und die Frage nach seiner Bedeutung über den überkommenen materialistischen Substanzbegriff hinaus zu stellen. Ein Medium, das, von den materialistischen Wissenschaften zur Chimäre erklärt, nur noch als bloße Hypothese weiterexistiert, ist schließlich auch nicht mehr an den wissen­ schaftlichen logós seiner etwaigen materiellen Bedingungen geknüpft. Es befreit sich aus den Fesseln seiner Substanz und wird, wie es Michel Serres in seiner eingangs zitierten Arbeit Atlas beschreibt, als in seinen Aneignungs- und soziokulturellen Funktionsstrukturen ewig „Flüchtige, das bei seinem Durchgang durch das Netz auf keinerlei Gegenmacht stößt“, als bloßer Diskurs zur recht eigentlichen Verwirklichung der Eigenschaften, welche Aristoteles ursprünglich der Substanz des Äthers zumindest hinzugedacht hatte. Auf seine diskursive Existenz zurückgeführt, ist der Äther in Wirklichkeit aber zur Leere, zum großen 4

Vgl. die Modelle von McLuhan (Die magischen Kanäle), Baudry („Das Dispositiv“) und Derrida (Die Schrift und die Differenz).

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Einstein: „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“.

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Nichts geworden, welches die Ontologien unseres Erkenntnisraumes in ihren strikten Binäroppositionen mittlerweile als einzige Ersetzung für die verlustig gegangene Substanz bereithalten. Daran vermögen auch die über die Widerlegung des substantiellen Äthers hinaus bis in die Gegenwart wirksamen natur­ wissenschaftlichen Betrachtungen zur „feinstofflichen Materie“ nicht nach­haltig etwas zu ändern. Die Nicht-Existenz von Materie lässt sich mit den vorhandenen naturwissenschaftlichen Methoden, die ausschließlich auf den positiven Beweis ausgelegt sind, während der Umkehrschluss einer nicht feststellbaren Existenz immer einen – auf die Methodik selbst abzielenden – Restzweifel zulässt, ja nicht wirklich beweisen. So sind an die Stelle der nicht verifizierbaren Substanz schon immer die Spekulation und Transzendenz getreten. In diesem Sinne haben zahlreiche Forscher nach wie vor nicht von der Möglichkeit der Existenz des Äthers abgelassen und, um diese darzulegen, nicht selten die Grenzen anerkannter Wissenschaft weit überschritten. Die Widerlegung des physikalischen Äthers hatte es eigentlich nahe gelegt, von der simplen Differenzkonstruktion von Materie und Geist, Natur und Kultur abzulassen und zur Frage nach deren Form und Strukturen zurückzu­kehren, um den Äther als gesellschaftlich-kulturellen Bedeutungsgeber wieder zu entdecken und ihn, genauso wie die Medien, als Räume der Immanenz zu begreifen. Stattdessen beharren die Wissenschaften bis heute überwiegend auf den transzendenten Differenzierungen zwischen purer stofflicher Substanz und purem Geist. Dies geschieht allerdings nicht, ohne dass dabei beide bei Bedarf doch immer wieder miteinander zur Indifferenz vermengt werden. Unter Berufung auf Einsteins Begriff eines „relativistischen Äthers“, mit welchem der Physiker in seiner am 5. Mai 1920 gehaltenen Leidener An­trittsvorlesung dem Gedanken eines gänzlich leeren Raumes durch die Idee eines nicht nur auf die trägen Massen einwirkenden sondern selbst durch diese bedingten Äthers begegnete,6 knüpft etwa der Heidelberger Chemiker Klaus Volkamer noch heute an längst überkommene Wissenschaftsmythen an. Er stellt in der Einleitung zu seinem 2003 erschienenen Buch zur Feinstofflichen Erweiterung der Naturwissenschaften der beschreib- und darstellbaren „grob­stofflichen Materie“ eine der Möglichkeitsform nach substantiell vorhandene „feinstoffliche Materie“ gegenüber, die aber eben bislang nicht nachweisbar geworden sei: „Diese feinstoffliche Materieart scheint feldförmig, all­gegenwärtig alles zu durchdringen. Trotzdem ist sie von der modernen Physik bisher unentdeckt geblieben.“7 Damit überspringt Volkamer – und mit ihm zahl­reiche in dieser Tradition forschende Wissenschaftler – die Grenz­markierungen von den materialistischen Wissenschaften zu esoterischen Glau­bens­vorstellungen: 6

Einstein: Äther und Relativitätstheorie. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Christian Kassung und Marius Hug in diesem Band.

7

Volkamer: Feinstoffliche Erweiterung der Naturwissenschaften, S. 7.

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Der Nachweis einer bisher unbekannten feinstofflichen Materie führt über einen erweiterten Raum- und Teilchenbegriff zu einer grund­legen­ den Erweiterung der Physik, Chemie und Biologie. Mikros­kopische, makroskopische und kosmische Konsequenzen der neuent­deckten Feinstofflichkeit als Basis eines universellen, realen physik­alischen Äthers werden diskutiert.8 Daran zeigt sich das grundlegende Dilemma der logisch-material­istischen Wis­ senschaften, die hier wie in vielen Fällen an die Grenzen ihrer positiven Beweisfähigkeit stoßen und, eingezwängt in die Schranken ihres Erkenntnis­systems, nur durch die Verkündung der Nichtexistenz des gesuchten Stoffes (wie im Falle Einsteins) oder von dessen Transzendenz (wie im Falle Vol­kamers, der sich nichtsdestoweniger auf Einstein beruft) auf dessen binäre Dispositionen zurückgeworfen werden, ohne diese selbst allerdings in ihren Modellen mitdenken zu können. Die Naturwissenschaften werden hier als Zeugen für die Existenz des Unsichtbaren und Flüchtigen herangezogen, das doch immerhin die Welt und die Herkunft sowie das Sein und Werden von deren Bestandteilen erklären soll. Äther wird dabei in Wirklichkeit aber zu einer bloßen semantischen Größe ohne substantielle Entsprechung, aber auch ohne die Erkenntnis einer Existenz jenseits seiner stofflichen Beweisbarkeit. Gerade die Thesen Volkamers, die sich dem Immateriellen, dem natur­wissenschaftlich nicht Nachweisbaren, hingeben, unterstreichen dabei unbeab­sichtigt, wie der Äther als bloßer semantischer Diskurs dennoch die Funktions­macht einer sinnstiftenden Größe an sich zu ziehen imstande ist. Selbst keine materiell nachweisbare Wahrheit mehr zu vertreten genötigt und in seiner im­mer die Möglichkeitsform und die Unzulänglichkeiten der Naturwissen­schaften bemühenden Argumentations­form auch nicht wirklich widerlegbar, wird er zur Spielwiese für die Herstellung beliebiger Botschaften und Wahr­heiten und zum notwendigen Bezugsfeld der soziokulturellen Metadiskurse um Macht und Widerstand innerhalb der industrialisierten Gesellschaften Europas und Nordamerikas, denen sich in weitreichendem Maße auch die soziologisch orientierten, ideologisch determinierten Forschungen zu den „Massenmedien“ wie auch dieser Begriff selbst angeschlossen haben. Genauso wie der Äther werden auch die Medien und deren Spezifizierung auf den Begriff der Massenmedien im 20. Jahrhundert in Ermangelung einer greifund bestimmbaren Materie, über welche sie sich substantiell definieren könnten, zum Nichts, zu einer leeren, semantisch aber beliebig gestaltbaren Projektionsfläche. Dies bestätigen die ideologischen Grabenkämpfe, welche, alle­samt von der Imagination einer geschlossenen Substanz der passiven Empfängermasse von Nachrichten ausgehend, bis heute in den Wissen­schaften, der Politik und den populären Diskursen um sie als sinnstiftende Instrumente etwa des Nation Building 8 Volkamer: Feinstoffliche Erweiterung der Naturwissenschaften, S. 7.

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oder auch als Gewalt und Verrohung fördernde Verdummungsmaschinerien geführt werden und dabei der zweiten Substanzgröße, den Sendern, eine quasi uneingeschränkte Bedeutungsmacht zugestehen. Bei aller Absurdität der hier geführten Diskurse zeigt sich in ihnen dennoch die kulturelle und gesellschaftliche Funktion, mit welcher Äther und Medien aus der nach Gutdünken auffüllbaren Symbolkraft ihrer Zeichen und Bezeichnungen ihre eigenen, auf die Möglichkeit (und beliebige diskursive Gestaltbarkeit) ihrer stofflichen Existenz abzielenden Mythen generieren. Dies finden wir etwa, wenn unter den zentralistischen und hoch standardisierten fordistischen Produktions- und Kommunikationsbedin­ gungen im 20. Jahrhun­dert die Massenmedien als treibende Hegemonialkraft der Stabilisierung von Nationen und Volkswirtschaften durchgesetzt werden, ohne dass bis heute überhaupt ihre tatsächliche Wirkung und Wirksamkeit hat nachgewiesen werden können. Wir finden es genauso, wenn im Zuge der Kulturkritik und kritischen Theorie mit der Benennung derselben unter dem den Massenmedien hinzugefügten Label der ‚Kulturindustrie‘ ein wider­ständiger Mythos in die Welt getragen wird, unter dessen Wirkungskraft es letzten Endes unerheblich wird, dass weder der ja vor allem ideologisch konzipierte, sicher keine substanzielle Entsprechung aufweisende Begriff der Masse noch derjenige des Mediums bislang überhaupt wirklich haben greifbar und einheitlich definiert werden können. Es entsteht gar, wie Joe Milutis bereits in der Einleitung zu seinem jüngsten Buch zu den Ätherdiskursen schreibt und wie es die meisten medienwissenschaftlichen Reflektionen ihres eigenen Gegenstandes fort­während wiederholen, ein globaler Universalismus.9 Dieser gedenkt nicht im Rahmen seiner eigenen Semantik zu verharren. Vielmehr ist er in alther­gebrachter kolonialer Tradition darum bemüht, sich mit seinem logisch-materialistischen Autoritätsanspruch in andere Erkenntnis­räume einzu­schreiben, um dabei selbst zu einem globalen Erklärungsmuster zu generieren und auf diesem Wege durch die Hintertür des modernen Wissen­schafts­mythos’ wieder Eingang in das Welterklärungsmodell des Aristoteles zu finden. Milutis schreibt im Eingangssatz seines Werkes: Every culture has its own name for this nothing. Kundalini and anima, Ein Sof and mana, the orgone, the lapis, akasha, chi and prana. The ether is the superflux of sky, triggering a plenitude of thought, even though the word stands for the void.10 Er verzichtet also darauf, quasi medien- und diskursarchäologisch eine Transzendenz des Äthers als sinnstiftende Instanz zu rekonstruieren, welche die Diskurse des 19. Jahrhunderts in erheblichem Maße geprägt hatten, um darüber vielleicht eine erkenntniskritische Perspektive nicht nur auf die Ätherdiskurse, sondern 9

Milutis: Ether.

10 Ebd. S. ix.

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auch auf deren Anordnungen und ihre Herleitungen zu erreichen. Indem er den Versuch einer Universalisierung von Äther nunmehr als semantische Größe globaler Sinngebung anstrebt, verweist er in dieser wie in seinen weiteren Perspektiven stattdessen immer nur auf die Diskurse zurück, unter denen er seinen Gegenstand selbst verhandelt. Ohne eine Außen­perspektive einzunehmen und sich aus dieser heraus wirklich mit den jeweiligen Erkenntnissystemen auseinanderzusetzen, welche die Konzepte der von ihm zitierten Kulturen prägen, verpasst er, indem er sie alle unter dem ihm und seiner Kultur wie deren Semantik eigenen Konzept der „Leere“ zusammenfasst, eine differenzierte Betrachtung derjenigen Kulturen, unter denen Äther und alle diejenigen Begriffe und Stoffe, welche er mit diesem vergleicht oder die er gar als mit ihm äquivalent ansieht, verhandelt werden. Damit kommt er auch dem Begriff des Äthers selbst kaum näher. Wie alle philosophischen Diskurse in der descartschen und kantschen Tradition, die zugleich die Wahrnehmung der Medien und die Konstruktion eines hoch- und spätmodernen Medienbegriffs des Vermittlers und Dazwischen prägen, wird auch der Äther-Diskurs, wie Milutis ihn zitiert und fortschreibt, angesichts seiner Nicht-Fortführbarkeit unter dem Gesichtspunkt des modernen Substanzverständnisses vor allem unter Aspekten der Trans­zendenz, der Überschreitung von einer diesseitigen zu einer jenseitigen Welt, von einer empirisch nachweisbaren Materialität zu einem leeren Wissen­schaftsdiskurs verhandelt. Dieser, so in den Technikdiskursen des 19. Jahr­hunderts genauso wie im Falle von Klaus Volkamers gegenwärtigen Betrach­tungen, trägt im selben Moment auch immer religiöse und esoterische Züge oder errichtet Ersatzmythen zu denselbigen. Eine Annäherung an das Vorphilosophische und an das Vorbegriffliche der Immanenz der kulturell spezifisch ausgeprägten Diskurse, die Aristoteles zumindest als Problem­stellung in seine Überlegungen zur Substanz eingedacht hatte und die integraler Bestandteil aller von Milutis zitierten fernöstlichen Diskurse sind, wird in beiden Fällen vermieden. Zwar gab es, wie es z.B. Astrid DeuberMankowsky hinsichtlich des Illusionsbegriffs in den europäischen Wissen­schaften des späten 18. Jahrhunderts darlegt,11 auch damals durchaus schon Zweifel an den fixen Zuschreibungen von substantieller Identität und Differenz. So lassen sich auch Einsteins eineinhalb Jahrzehnte nach dem Aufsatz zur speziellen Relativitätstheorie in seiner Leidener Antrittsvorlesung geäußerten Thesen zu einer unmittelbaren Teilhabe von Raum und Zeit am physikalischen Geschehen und die daraus entwickelte Frage nach einem materiellen Apriori dieser Kategorien nicht mehr ausschließlich mit dem Substanzverständnis in der Tradition von Descartes und Kant begreifen. Und die im Jahre 1908 publizierte Theorie der Moderne von Georg Simmel, in welcher der Soziologe von den Begriffen der Ge11 Deuber-Mankowsky: Praktiken der Illusion. Vgl. hierzu insbesondere auch den aus diesem Buch heraus erweiterten Aufsatz: „Eine Aussicht auf die Zukunft, so wie in einem optischen Kasten“.

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sellschaft und des Indi­viduums als zentrale Parameter sozialer Bedeutungsbildung absieht und an deren Stelle die sozialen Interaktionen und Wechselwirkungen, die Kom­munikation, in den Vordergrund rückt, ist ein genauso prägnantes wie einflussreiches Beispiel dafür, dass eine ausschließlich an die Materie gebundene Betrachtung von Substanz durchaus keinen universellen Charakter hat, sondern unmittelbar an die Diskurse gebunden ist, unter denen sie verhandelt wird. Demnach erkannte man – jenseits von deren Erkenntnisraum – auch damals schon Alternativen zum binär angeordneten Verständnis des Äthers wie auch der Medien. Diese in ihren Strukturen zu erkennen, ohne sie dabei in das eigene epistemologische System zu integrieren, setzt allerdings das zumindest vorgestellte Verlassen desselben, die Annahme der Position einer Heterotopie, voraus, an welche sich allerdings keiner der genannten Forscher konsequent herangewagt hat. 12 Den Modellen Einsteins und Simmels sowie zahlreicher weiterer Gelehrter aller Disziplinen im 20. Jahrhundert von dem Philosophen Gilles Deleuze13 bis hin zu dem Soziologen Maurizio Lazzarato14, die sich um antibinäre, sich vom Substanzdogma in der kantschen Tradition lossagende Erkenntnis­modelle bemüht haben, stand vor allem der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson Pate. Dieser hat insbesondere in seinen Arbeiten Materie und Gedächtnis (1896) und Schöpferische Entwicklung (1907) sowie in seinem programmatischen Aufsatz zur Einführung in die Metaphysik (1903), auf welche Deleuze und Lazzarato sich genauso beziehen wie Einstein, die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen dafür geschaffen, einen alternativen Raum- und Zeitbegriff innerhalb und unter den Bedingungen unseres eigenen Wahrnehmungsraums zu definieren und damit auch die Frage nach der Substanz neu zu verorten.15 Insbesondere mit seinem Konzept der „durée“ und der darin vorgenommenen Neubetrachtung des Raum-Zeit-Verhältnisses widersprach Bergson schon damals den kantschen Kategorien und den bis heute weitgehend gültigen Ontologien der Natur­wissenschaften. An die Stelle von deren Fixierung als gleichberechtigte, auf dem materiellen Apriori beruhende Anschauungsformen, bei denen sich Zeit tatsächlich nur durch ihre Bewegung im Raum, also durch Hinzufügung dieser zweiten, materiellen Kategorie, messen lasse, versucht Bergson mit der durée die Erkenntnisformen von ihren materiellen Apriori abzukoppeln. Er überlässt die Materialität des Raums, der sich als homogene Summe von (durch Objekte einnehmbaren) Punkten präsentiert, den rational-analytischen Naturwissen­schaften und macht damit Platz für eine erkenntniskritische Wahrnehmung von Zeit, die sich unmittelbar auf die Substanz des Raums bezieht. Bedeutung und damit auch 12 Simmel: Soziologie. 13 Vgl. u.a. Deleuze: Differenz und Wiederholung. 14 Vgl. u.a. Lazzarato: Videophilosophie. 15 Bergson: Materie und Gedächtnis. Ders.: Schöpferische Entwicklung. Ders.: Einführung in die Metaphysik.

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ein im ständigen Fließen begriffenes, zum ewigen Werden generierendes Sein entstehen in der durée aber ausschließlich als eine Bewusst­seinskategorie, welche den Raum unaufhörlich in der Zeit (und Intuition) aktualisiert. Mit seinem an die durée anknüpfenden Konzept eines élan vital aus dieser Wiederanbindung der Zeit an den Raum resp. des Raums an die Zeit führte Bergson eine weitere Bedeutungskategorie ein. Diese ist durchaus in der Lage, die Substanz zu integrieren. Sie befreit sie aber aus ihren apriorischen Bedingungen. Damit hat der Nobelpreisträger in seinen philosophischen Schrif­ten immerhin die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen für eine Ab­wendung vom Substanzdogma und für die Reinvention von nicht-rationalis­ti­schen Konzepten in das europäische Denken bereitgestellt. Zudem hat er das Feld für einen Äther- und Medienbegriff bereitet, der sich, wenn er konse­quent weiterverfolgt worden wäre, den Problemen ihrer Bestimmung zwischen Substanz und Transzendenz hätte entziehen und erkenntniskritisch der Immanenz des Seins resp. Werdens ihrer Gegenstände zuwenden können. So steht die von Bergson mit seinen Thesen in gewissem Sinne mit an­ gedachte Frage danach, ob es Raum und Zeit und ob es analog dazu Verstand und Intuition nur dann gibt, wenn es auch Materie gibt, nach wie vor im Raume. An sie knüpft sich diejenige danach an, ob es Äther und ob es Medien nur dann gibt, wenn es für ihre Konzeptionen auch eine materielle Entsprechung gibt. Im Falle des Äthers, bei dem man nach heutigem Kenntnisstand davon ausgehen muss, dass es eine solche nicht gibt, scheint der Fall klarer zu sein als bei den Medien und insbesondere bei den Massenmedien, welche als alles verbindende Kraft in gewissem Sinne in der gesellschaftlichen Selbst- und Mythenkonstruktion an die Stelle des Äthers getreten sind. Die Vertreter der Massenmedienforschung gehen zum einen davon aus, dass es zwei oder mehrere Substanzen (nämlich die sich zur Masse formenden Individuen und die durch ihre Institutionen vertretenen Gesell­schaften und politisch oder ökonomisch definierten Machtapparate) gibt, zwischen denen die Medien vermitteln und zwischen denen sie ihren eigenen Raum besetzen. Zum anderen schreiben sie, indem sie Film, Fernsehen und andere Kulturtechniken als ausführende Werkzeuge ausmachen, den Medien dabei selbst eine Substanz zu. Letzteres war und ist unter den festgeschriebenen Ontologien einer auf der Basis von Substanz argumen­tierenden Wissenschaft unabdingbar, um überhaupt eine Medienwissenschaft begründen und legitimieren zu können. Denn was ist eine Wissenschaft, die keinen Gegenstand hat? Zugleich ist es aber einem jeden, der sich mit Medien beschäftigt, klar, dass dieser Gegenstand ein beliebiger ist und, abhängig von seiner Funktionalisierung ein Hammer genauso zum Medium werden kann wie ein Filmprojektor oder Fernsehgerät und die Luft ebenso Träger von Informationen ist wie das Telefon oder das WorldWideWeb. Die Auswahl ist also von der Ausgangsperspektive einer formlosen Substanz her immer willkürlich und an die jeweiligen gesellschaftlichen Dis-

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kursanordnungen gebunden. Sie gelangt erst in ihrer Anwendung zu ihrer – semantisch vorweg­genommenen – Bestimmung. Genauso wie es eine mediale Substanz gibt, die unabdingbare Vor­aussetzung für das Sein resp. Werden des Mediums ist, dabei als Substanz aber selbst nur einen geringen Einfluss auf letzteres hat, diesen vielmehr an das Bewusstsein, den Verstand und die Intuition oder an die hegemonialen und widerständigen Diskurse ihres Aneignungsraumes abtritt, so sind auch die Kategorien von Gesellschaft und Individuum wie insbesondere diejenige der Masse indifferent. Von den Eigenschaften und der sich in der Zeit verschiebenden Bedeutungsproduktion ihrer Einzelpunkte (den Individuen) losgelöst, welche nach Bergson die durée ergeben würden, um statt dessen selbst als eine homogene Substanz präsentiert zu werden, wird die Masse genauso zur Chimäre moderner Wissenschaftsdiskurse wie die vorgeblich homogenen Substanzen der Medien, welche nach den Thesen der Massenmedienforschung als hegemoniale gesellschaftliche Institutionen von der Zeit und Intuition befreite Bedeutungszusammenhänge vermitteln. Sieht man von seinen zwar bahnbrechenden, mit wenigen Ausnahmen in den Wissenschaften aber nicht wirklich weiterentwickelten Thesen ab, dann verharrt die Auseinandersetzung mit Äther und Medien auch ein Jahrhundert nach Bergsons Entwürfen nach wie vor zumeist unabdingbar in der Be­schreibung oder dem Versuch der Überwindung der Differenz einer materiellen Existenz oder Nicht-Existenz ihrer Substanz. Dies entspricht exakt der modernen und gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der Materialität der Medien in ihrer vermeintlichen Rolle als Instrumente der Abbildung von Substanz oder als (jeweils eine Empfängermasse von Informationen als quasi neue Substanz produzierender) Vermittler von Sinn in der Kommunikation zweier oder mehrerer Elemente. Sie sieht als dessen Anderes nichts als die Transzendenz, nämlich das Jenseitige und Religiöse vor. Äther und Medien werden, indem sie selbst das Andere darstellen, über welches sich Substanz bestimmt, diese Darstellung aber nur darüber funktioniert, dass ihnen ebenfalls eine substantielle Bestimmung zugewiesen wird, somit immer wieder unter den jeweiligen Diskursanordnungen ihrer wahrnehmenden Gesellschaften zu transzendenten Größen erhoben und im Rahmen von deren Logik und Begrifflichkeit festgeschrieben. Während man mit einer derartigen, sich nicht aus dem kantschen Verständnis lösenden Herangehensweise zwar in der Lage ist, den Äther in das Reich der Mythen zu verbannen und, hinsichtlich der Medien, Problemstellungen anzugehen, die unmittelbar an ihre Substanz gebunden sind, führen sie uns kaum näher an das Wesen, nämlich an die Ordnungsstrukturen und die Dispositionen heran, unter denen sie selbst ihre Bedeutung generieren und auf spezifische (kulturelle) Ordnungs- und Anordnungssysteme zurückverweisen. Der Blick auf den Äther und auf die Medien, welcher aus unserer Perspektive sinnvoll erscheint und ein

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Verständnis seiner Gegenstände jenseits der substantiellen Einschreibungen der Vermittler und des Dazwischen ermöglichen, bindet sich an ihr ureigenstes, in gewissem Sinne vorbegriffliches Verständnis an. Es handelt sich um dasjenige der Mitte, des zentralen Marktplatzes, wie es bei Aristoteles noch evident war. Als Mitte betrachtet, handelt es sich bei Äther und Medien zunächst immer um pure Immanenz. In Anlehnung und konsequenter Fortführung des aristotelischen Formgedankens in Bergsons Thesen zur durée bringt diese selbst eine neue Ebene jenseits der Substanz hervor. Von dieser Immanenzebene aus differenzieren sich die Medien in ihre jeweiligen Aneignungsdiskurse hinein aus: Eine derartige Ebene ist vielleicht ein radikaler Empirismus: Er böte nicht einen Erlebnisfluss, der einem Subjekt immanent wäre und sich in dem individualisierte, was zu einem Ich gehört. Er bietet nur Ereignisse, das heißt mögliche Welten als Begriffe, und Andere als Ausdrücke möglicher Welten oder Begriffspersonen. Das Ereignis bezieht nicht das Erleben auf ein transzendentes Subjekt = Ich, sondern bezieht sich im Gegenteil auf den immanenten Überflug eines subjektlosen Feldes; der Andere gibt einem anderen Ich keine Transzendenz zurück, sondern bringt jedes andere Ich auf die Immanenz des überflogenen Feldes zurück. Der Empirismus kennt nur Ereignisse und Andere und ist darum ein großer Schöpfer von Begriffen. Seine Kraft beginnt von dem Augenblick an zu wirken, an dem er das Subjekt definiert: eine Verhaltensweise, eine Gewohnheit, nichts als eine Gewohnheit in einem Immanenzfeld, die Gewohnheit „ich“ zu sagen…16 Die Betrachtung einer möglichen Immanenzebene von Äther und in dessen Konsequenz auch der Medien als Alternative zu den Substanz-Transzendenz-Diskursen der Moderne und als Anknüpfung und Fortführung des Formgedankens von Aristoteles führt uns zunächst dorthin zurück, wo Materie schon immer nicht in erster Linie als Substanz und Essenz definiert sondern vor allem als Struktur und Energie gesehen wurde. Den Anstoß hierzu hat Milutis unbeabsichtigt mit dem oben zitierten Einleitungssatz seines Bandes gegeben. Indem er die materialistische Betrachtungsweise von Äther in der europäischen Tradition, welcher auch die von ihm zitieren Konzepte von anima, der Seele, oder dem lapis, dem Stein (der Weisen) beinhaltet, mit Konzeptionen wie denjenigen des naturphilosophisch polynesischen Mana, der buddhistischen Kundalini, Akasha oder Prana wie nicht zuletzt des daoistischen qi gleichsetzt, verpasst er jenen klaren, immanenten und vorbegrifflichen, vorphilosophischen Blick auf den betrachteten Gegenstand, der notwendig wäre, diesem wirklich näher zu kommen. Als das wohl älteste und am umfangreichsten aufgezeichnete Konzept asiatischer Konstruktionen eines „Äther“ lassen sich die Differenzen an dem Be16 Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 56-57.

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griff des qi 气 in der chinesischen Philosophie vielleicht am anschaulichsten darstellen. Dieser taucht erstmals in den Schriften des daoistischen Philosophen Zhuangzi (ca. 365-290 v. Chr.) auf und wird im Allgemeinen mit Energie, Luft, Atmosphäre, Kosmos, auch mit Äther übersetzt. Dabei verweist das qi unmittelbar auf den ebenfalls bei Zhuangzi erstmals erwähnten Begriff des jing 精.17 Letzteren beschreibt der Pariser Sinologe François Jullien in seiner kulturkonstitutiven Bedeutung: Es handelt sich um den Ausdruck, den wir zunächst mit „Essenz“ oder besser mit „Quintessenz“ übersetzt haben – „Blüte“, „Auswahl“, „Elite“, „Energie“. Er steht durchaus in Zusammenhang mit dem Körperlichen, aber in einer verfeinerten Weise: er bezeichnet ursprünglich das ausgewählte oder geschälte Reiskorn, und zwar im Sinne von fine fleur de [die Blüte oder das Beste von]; er dient aber auch dazu, das Sperma des Mannes, den Geist des Weines und jedes Material zu bezeichnen, das so weit geläutert und verfeinert wird, bis es sich mit Energie auflädt und in kommunikativer Weise seine Wirkung entfaltet.18 Aus einer materialistischen Perspektive betrachtet, würde dies exakt dem modernen europäischen Verständnis des Äthers entsprechen, der sich als Feinmaterie von der empirisch nachweisbaren Grobmaterie abhebt und als wahrgenommene Leere das Verbindungsglied, das ver- und übermittelnde Medium für alles, darstellt: „The nothing that connects everything“, wie Milutis im Untertitel seines Buches schreibt. Tatsächlich ist mit dem jing aber bereits die Konzeption eines bis in die Gegenwart alle fernöstlichen Diskurse beherrschenden qi vorgegeben, das bekannter Weise über die Hintertür der Transzendenz als Esoterikdiskurs ja auch Eingang in das binär angeordnete europäische Selbstverständnis gefunden hat. Das qi beschreibt das Medium nicht als Vermittler und also auch nicht als leeres und flüchtiges Dazwischen von Stoffen. Vielmehr beschreibt es das Medium selbst als die Mitte, welches zwar auf Materie rekurriert, in seiner Bedeutungsbildung aber unabhängig von deren Substanz jeweils Struktur (die durchaus in der Nähe zum aristotelischen Formbegriff angesiedelt ist, dabei aber auf deren Differenzkategorien verzichtet) aktualisiert und also in der Kommunikation Bedeutung herausbildet. Diese ist immer vorbegrifflich, immanent und entzieht sich jeglicher transzendenten Beschreibung genauso wie einer materialistischen Be- oder Widerlegbarkeit. In ähnlicher Weise wie die ihm verwandten Begriffe aus Indien und Polynesien begreift das qi sich also nicht als Substanz. Vielmehr hat es jeweils ganz eigene Anordnungen hervorgebracht und beschreibt diese im Hinblick auf die spe17 Vgl. Dschuang Dsi (Zhuangzi): Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. (Übersetzung von Richard Wilhelm). 18 Jullien: Sein Leben nähren, S. 34f.

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zifische kulturelle Situation ihrer Herkunft. Dabei wird eine (Wahrnehmungs-) Welt der Immanenz beschrieben, welche zugleich auf den medialen Charakter des eigenen Konzeptes verweist und sich selbst wie schließlich auch die Medien der Kommunikation in die Mitte rückt, auf den zentralen Marktplatz. Dieser ist alles andere als leer und flüchtig. Vielmehr gibt er mit seiner ganz eigenen Struktur die Dispositionen auch einer jeden sich auf und um ihn herum ansiedelnden Substanz vor, welche er an sich bindet und erst dadurch zu ihren Dispositionen und ihrer, allerdings wandelbaren und im ständigen Fluss begriffenen, eben nicht auf Differenz beruhenden Identität verhilft. Es sind also nicht die Substanzen, welche durch ihre Stofflichkeit den Raum für das Dazwischenliegende, das selbst Leere und Vermittelnde, freigeben und dieses damit entscheidend bestimmen. Vielmehr definiert sich die Bedeutung einer jeden Substanz, eines jeden Punktes, welcher Teil des Ganzen ist, immer im Rahmen des von der Mitte, dem Marktplatz und Medium ausgehenden Ganzen als Energiestrom (den Bergson mit seinem Konzepten der Intuition und des élan vital ja ebenfalls angedacht hatte) selbst und hebt darin alle Differenzen auf. Damit steht qi für ein System von Ordnung ein, bei dem Materie und Wahrnehmung eine dynamische, sich als Energiestrom unaufhörlich aktualisierende Einheit darstellen, aus der sich in der Bewegung in Raum und Zeit jeweils Struktur aktualisiert. Sie ist es, auf welche das fernöstliche Verständnis von (einem allerdings niemals in Raum und Zeit fixierbaren) Sein und dem alles bestimmenden Werden anstelle der Substanzfixierung in der europäischen Moderne vor allem abzielt. Genauso wie jing ist auch qi als Struktur vorbegrifflich und vorphilosophisch. Es verweist unmittelbar auf die Immanenz des kulturellen Ordnungsverständnisses, auf welches es sich bezieht und für welches es einsteht: Sie [die Seele und der Körper] sind die Frucht von – matriziellen – kulturellen Entscheidungen, die so tief verankert sind, dass nur die Betrachtung von anderen Entscheidungen sie in ihrer Fremdheit wiederaufscheinen lassen kann. Denn wenn das chinesische Denken seinerseits eine solche Spaltung in seiner Vorstellung vom Menschlichen nicht gebilligt hat, so liegt das daran, dass es auf einer einheitlichen Auffassung von der Heraufkunft und von der Konstitution der Welt und zugleich auch des Menschen gründete, welche ganz allgemein die des Energie-Atems ist, das qi. Dieses Sinogramm zeigt nach seinen alten Graphien das Element Dunst, welcher sich über dem Reis erhebt und somit an seine Ernährungsfunktion erinnert; oder welcher sich über dem Feuer erhebt und somit für seine Fähigkeit der Emanation und der diffusen Zirkulation steht. Die Entstehung des Menschen und der Dinge ist folglich als eine Kondensation oder Koagulation dieses ursprünglichen und kontinuierlichen Fließens zu verstehen. […] So wie das Wasser kondensiert und „zu Eis erstarrt“, „kondensiert“ sich das qi „zum Menschen“; und so wie das Eis beim Schmelzen wieder zu

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Wasser wird, verschmilzt der Mensch, wenn er sich bei seinem Tod auflöst, (wieder) mit diesem Energiestrom, der unsichtbar und diffus ist, weil nicht aktualisiert und nicht verdunkelt, und der nicht aufhört, die Welt zu durchqueren und zu beleben.19 Die Konzeptionen von jing und qi sind in Europa vor allem von esoterischen Glaubensvorstellungen aufgegriffen und, so auch von Milutis in seiner Einleitung, in das eigene, substantiell argumentierende Erkenntnissystem integriert worden. Sie zeichnen in Folge der materiellen Widerlegung von Äther nunmehr nur noch eine ausschließlich transzendente Welt, die in den Wissenschaftsdiskursen der Gegenwart in Wirklichkeit keinen Platz mehr finden. Tatsächlich verweisen die hierzu herangezogenen Vergleichsgrößen des qi und des ihr verwandten jing, und in ähnlicher Weise auch Konzeptionen aus Indien, unmittelbar auf ein kulturelles Metakonzept. Dieses beruht nicht auf der Vorstellung einer Differenz von Natur und Kultur oder von Substanz und Wahrnehmung. Anders als die modernen Wissenschaften in ihrem Beharren auf die bekannten Binärkonstruktionen tritt es auch nicht unmittelbar kulturalistisch auf und muss sich nicht als Identitätsgröße durch die Herausbildung von Differenz beweisen. Die Stoffe sind jeweils durch Vermittlung und also durch Medien, die selbst Substanz sind, immer wieder auf ’s Neue zu überbrücken. So soll die, wie wir seit Niklas Luhmann wissen, unmögliche Kommunikation doch noch ermöglicht werden: als Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Systemen oder, wie es die Massenmedienforschung privilegiert, als eine interaktionsfreie oder interaktionsarme Vermittlung von Informationen in hegemonialer Absicht und unter hegemonial festgeschriebenen institutionellen und dispositiven Bedingungen.20 Während diese Differenz immer substantiell argumentiert, also etwa zwischen Materie und Geist, zwischen belebter und unbelebter resp. toter Materie, zwischen Kultur und Natur unterscheidet und auch das Modell der Transzendenz auf dem Verständnis einer Binärdifferenzierung der Wahrnehmungswelt beruht, kennt das fernöstliche Welterklärungsmodell diese Differenzen nicht. Vielmehr verweist es auf die allen dort gängigen Welterklärungs-Konzeptionen vorausgehenden Entwürfe des Daoismus, für welche deren Vordenker Laozi (Li Er, ca. 6. J.h. v. Chr.) die Begriffe von dao 道 und de 德 eingeführt hatte. Diese werden im Allgemeinen mit „Weg“ und „Tugend“ übersetzt. Sie treffen in dieser auch sinngemäßen Übertragung in unser Erkenntnissystem aber nicht den Kern seines Konzeptes. Laozis bekanntester Übersetzer in das Deutsche, der Sinologe Richard Wilhelm, hat stattdessen die Begriffe „Sinn“ und „Leben“(-skraft) vorgeschlagen. Insbesondere dadurch, dass er mit diesem Begriff unmittelbar auf Bergsons Konzept des élan vital rekurriert, hat er sich damit sehr viel mehr der Denkweise 19 Jullien: Sein Leben nähren, S. 99-100. 20 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft.

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des Daoismus angenähert und, ohne – wie er selbst wusste – dieser semantisch tatsächlich gerecht zu werden, immerhin nach Möglichkeiten von deren Anbindung an unser Erkenntnissystem und dessen Semantik gesucht. Dies vermag, was nicht dem Übersetzer anzulasten ist, nur bedingt erfolgreich zu sein. Denn wie sollte sich ein System der Immanenz bezeichnen lassen, ohne dasselbe ad absurdum zu führen? Tatsächlich also steht, wie andere Übersetzer es in ihrer Übertragung durch die Nicht-Übersetzung der zentralen Termini des Laozi berücksichtigt haben, das dao als Begriff der Immanenz ausschließlich für sich selbst. Wie Laozi selbst hervorhob, bedarf es keiner weiteren Erklärung und ist auch nicht auf einer weiteren Ebene beschreib- und übertragbar: Das Dao leer Und doch in seiner Verwendung Andererseits nicht zu füllen Abgründig ach Wie der abertausend Wesen Urahn Es mildert ihre Schärfe Löst ihre Knoten Harmonisiert ihren Glanz Vereint sich mit ihrer Welt Verborgen ach Doch andererseits gegenwärtig Ich weiß nicht wes Kind es ist Anscheinend des Himmels Vorspiel21 Als „Vorspiel des Himmels“ ist das dao vorbegrifflich und vorphilosophisch. Es entbehrt jeder materiellen ebenso wie jeder transzendenten Beschreibung. Indem es zugleich „verborgen“ wie „gegenwärtig“ ist, verzichtet es auf alle semantisch konstruierten und dabei auf ein kulturelles System rekurrierenden Differenzbetrachtungen, welche weitere Medien zu ihrer Überbrückung heranziehen müssten. Vielmehr steht es ausschließlich für sich selbst: Der Mensch richtet sich nach der Erde Die Erde richtet sich nach dem Himmel Der Himmel richtet sich nach dem Dao Das Dao richtet sich nach sich selbst22

21 Laozi: Daodejing, Abs. 4 (textgetreu übertragen aus der Wang Bi-Ausgabe). 22 Ebd. Abs. 25.

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Damit bildet das dao die Metaebene einer puren Immanenz, die sich in den Konzeptionen des jing und des qi genauso abbildet wie in derjenigen des de, der Kraft und Lebenskraft, als welche sich jing und qi in der Verwendung von Laozis bekanntestem daoistischen Nachfolger Zhuangzi (ca. 365-290 v. Chr.) vielleicht am eingängigsten beschreiben lassen. Zugleich bildet die Konzeption des dao die Grundlage für einen anderen Medienbegriff. Seine Anordnungen beruhen nicht auf der dem Äther zugeschriebenen Idee einer (selbst materiellen) Brücke zwischen der Materie und dem Transzendenten, zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen, zwischen Zeichen und Bezeichnetem sowie zwischen Substanz und Verstand resp. Intuition, wie sie auch Bergson mit seinem Konzept der durée nicht wirklich hat überwinden können. Die chinesischen Diskurse haben keinen Medienbegriff des Vermittlers und auch keinen solchen des Dazwischen als Verbindungsglied zwischen zentral gedachten Substanzen herausgebildet. Denn dort, wo keine Differenz gedacht wird und wo es keine bedeutungsleeren Zwischenräume zwischen zwei erst durch ihre Differenz und Zwischenräume an Bedeutung gewinnenden Stoffen gibt, muss, wie Zhuangzi konstatiert, auch kein Gedanke daran verschwendet werden, diese zu überwinden, um Bedeutung zu erzeugen.23 Stattdessen rückt bei seiner Konstruktion eines immanenten dao das Medium selbst in den Mittelpunkt der Beschreibung. Es ist Teil eines jeden Elementes im Mikro- wie im Makrokosmos und wird als Mitte von allem zum zentralen bedeutungsbildenden Element des Werdens. Es bildet die zentrale Anordnung allen Energiestroms heraus, welcher dabei nicht zwischen Materie und Geist unterscheidet, sondern beide in einer unauflöslichen Einheit des Werdens miteinander verschmolzen sieht. Zugleich verweist es auf alle Elemente zurück, die sich im Mikrokosmos dieser spezifischen Anordnung genauso wieder finden wie im Makrokosmos des immanenten dao, unter dem das qi den Fluss von Materie und Geist verkörpert. Zhuangzi erläutert dieses Prinzip anhand der Geschichte eines Kochs, der dem Fürsten Wen Hui seine Kunstfertigkeit im Umgang mit dem Medium Messer beim Zerteilen von Rindern erläutert: Der SINN [das dao, A.d.V.] ist’s, was dein Diener liebt. Das ist mehr als Geschicklichkeit. Als ich anfing, Rinder zu zerlegen, da sah ich eben nur Rinder vor mir. Nach drei Jahren hatte ich’s soweit gebracht, dass ich die Rinder nicht mehr ungeteilt vor mir sah. Heutzutage verlasse ich mich ganz auf den Geist und nicht mehr auf den Augenschein. Der Sinne Wissen hab’ ich aufgegeben und handle nur noch nach den Regungen des Geistes. Ich folge den natürlichen Linien nach, dringe 23 Vgl. Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 47f. („Jenseits der Unterschiede“).

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ein in die großen Spalten und fahre den großen Höhlungen entlang. Ich verlasse mich auf die (anatomischen) Gesetze. Geschickt folge ich auch den kleinsten Zwischenräumen zwischen Muskeln und Sehnen, von den großen Gelenken ganz zu schweigen. […] Ich habe mein Messer nun schon neunzehn Jahre lang und habe schon mehrere Tausend Rinder zerlegt, und doch ist seine Schneide wie frisch geschliffen. Die Gelenke haben Zwischenräume; des Messers Schneide hat keine Dicke. Was aber keine Dicke hat, dringt in Zwischenräume ein – ungehindert, wie spielend, so dass die Klinge Platz genug hat.24 Der Geist ersetzt den Augenschein, die Struktur ersetzt die Substanz. Das Messer, welches im Werkzeug-Verständnis medienwissenschaftlicher Betrachtung die Verbindung zwischen Koch und Rind herstellt und dabei als Erweiterung der physischen und geistigen Fähigkeiten des Kochs, nämlich das Rind verzehrfertig zu machen, fungiert, verliert in dieser Sichtweise seine Bedeutung gegenüber den Strukturen des Seins. Diese selbst, welche Bergson als dem Verstand und der Anschauung überlegene Intuition immerhin angedacht hatte, sind es, welche den medialen Charakter, denjenigen der Mitte, herstellen und dabei auch das Messer, den Geist und die Hand des Kochs wie nicht zuletzt das Rind mit einschließen. Medialität ist in diesem Sinne nicht als die Substanz eines dieser Elemente zu begreifen. Sie versteht sich vielmehr in der Struktur, in den Anordnungen der Arbeit des Kochs, welche ihrerseits als mikrokosmisches Prinzip auf das Ganze kultureller Bedeutung verweisen. François Jullien interpretiert diese Mediendefinition Zhuangzis wie folgt: Das Werkzeug ist nicht nur ein Mittel, sondern es ist der Vektor der Wirksamkeit (das Messer des Schlachters oder der Pinsel des Malers – selbst die Künste des Malens wurden im alten China von dieser Episode inspiriert). Es ist weniger geboten, „nach den Gliederungen“ zu schneiden, sondern zwischen ihnen; es sind nicht die Elemente, die die Struktur bilden, in Betracht zu ziehen, sondern die Leere im Zwischenraum, durch die die Kommunikation erfolgt.25 Auch Jullien verweist auf den zentralen Terminus chinesischer Bedeutungsbildung: denjenigen der Struktur. Sie steht zwar in einer fortwährenden quasi metonymischen Kommunikationsbeziehung zur Substanz auf der einen, dem Geist auf der anderen Seite. Dabei generiert sie aber unabhängig von diesen und jenseits der Anschauung und des Verstandes ihre Bedeutungen: Diese Prozedur, der die Handlung des Messers folgt, hat den Prozess der Immanenz deutlich gemacht, der sich ohne Verausgabung und 24 Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 54f. („Der Koch“). 25 Jullien: Sein Leben nähren. S. 125.

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ohne Widerstand mit der einzigartigen natürlichen Struktur vereint und somit kontinuierlich seinen Weg, Tao, findet.26 Die frühen chinesischen Diskurse um das qi, das jing sowie deren Verweise auf makrokulturelle Konstruktionen haben es von vorneherein vermieden, die Frage nach der Substanz in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu rücken und dabei zwischen Materie und dem Transzendenten zu differenzieren. Vielmehr sind sie immanent geblieben. Sie haben es in ihren Konstruktionen von Raum und Zeit, von Materie und Geist sowie von Bezeichnetem und Bezeichnendem vermieden, das Sein unter den Bedingungen seiner begrifflichen Rekonstruktion erklären zu wollen, welche ja immer schon Teil dieser Erklärung ist.27 Stattdessen haben sie, wie es zuletzt der republikzeitliche Philosoph Zhang Dongsun (1896-1973) in seiner Auseinandersetzung mit Kant und den frühen chinesischen Schulen dargelegt hat, schon früh die Absurdität dessen erkannt, was die europäischen Wissenschaften in ihrer ontologischen Fixierung auf Binärkonstruktionen trotz vieler Zweifel bis in die Gegenwart nicht wirklich haben überwinden können.28 Weder hat es jemals einen substantiellen Äther gegeben, noch lassen sich die Medien, welche, ohne bis heute einen Konsens über ihre materielle Definition erreicht zu haben, ja immerhin eine ganze Wissenschaftsdisziplin begründen, oder gar die Massenmedien, welche ein weiteres indifferentes Wort hinzugefügt haben und damit gleich mehrere Disziplinen beschäftigen, als Stoff greifbar machen und analog auf eine materielle Welt übertragen. Nichtsdestoweniger existieren sie allesamt. Es gibt sie doch, wie ja nicht zuletzt dieses Buch beweist, welches sie alle in seiner Thematik führt. Sie existieren als Struktur und lassen sich sinnvoll nur jenseits ihrer Substanz und Semantik ausschließlich als solche verhandeln. Hierfür ist ein immanenter Blick auf das angezeigt, was tatsächlich die Gegenstände medienwissenschaftlicher Forschung sind, wie es Zhuangzi bereits vor mehr als zwei Jahrtausenden erkannt hatte und es Vorbild für eine erkenntniskritische Medienwissenschaft auch hierzulande sein könnte: Gibt es einen Anfang, so gibt es auch eine Zeit, da dieser Anfang noch nicht war, und weiterhin eine Zeit, die der Zeit, da dieser Anfang noch nicht war, vorangeht. Gibt es Sein, so geht ihm das Nicht-Sein voran, und diesem Nicht-Sein geht eine Zeit voran, da auch das Nicht-Sein noch nicht angefangen hatte, und weiterhin eine Zeit, da der NichtAnfang des Nicht-Seins noch nicht angefangen hatte. Unvermittelt tritt nun das Nicht-Sein in die Existenz, ohne dass man sagen könnte, ob dieses Sein des Nicht-Seins dem Sein zuzurechnen ist oder dem Nicht-Sein. Nun habe ich aber einen Ausdruck dafür, ohne dass man 26 Ebd. S. 123. 27 Vgl. Kramer: Das chinesische Fernsehpublikum, S. 111ff. 28 Vgl. Zhang: Zhishi yu wenhua (Erkenntnis und Kultur).

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sagen könnte, ob das, was ich damit ausdrücke, in Wahrheit einen Sinn hat oder keinen Sinn hat. […] Himmel und Erde entstehen mit mir zugleich, und alle Dinge sind mit mir eins. Da sie nun Eins sind, kann es nicht noch außerdem ein Wort dafür geben; da sie aber andererseits als Eins bezeichnet werden, so muss es noch außerdem ein Wort dafür geben. Das Eine und das Wort sind zwei; zwei und eins sind drei. Von da kann man fortmachen, dass auch der geschickteste Rechner nicht folgen kann, wie viel weniger die Masse der Menschen! Wenn man nun schon vom Nicht-Sein aus das Sein erreicht bis zu drei, wohin kommt man dann erst, wenn man vom Sein aus das Sein erreichen will! Man erreicht nichts damit. Darum genug davon!29

Literatur Aristoteles: Metaphysik, Berlin 2003. Baudry, Jean-Louis: „Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“, in: Psyche, Jg. 48, Nr. 11, 1994, S. 1047-1074. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis: Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1991. Bergson, Henri: Einführung in die Metaphysik, Cuxhaven 1988. Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung, Hanau 1977. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1997. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie? Frankfurt a.M. 2000. Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 2003. Descartes, René: Meditationen über die erste Philosophie, Leipzig 1986. Deuber-Mankowsky, Astrid: Praktiken der Illusion: Kant, Nietzsche, Cohen, Benjamin bis Donna J. Haraway, Berlin 2007. Deuber-Mankowsky, Astrid: „Eine Aussicht auf die Zukunft, so wie in einem optischen Kasten. Transzendente Perspektive, optische Illusion und beständiger Schein bei Immanuel Kant und Johann Heinrich Lambert“, in: Daniel Gethmann/Christoph B. Schulz (Hrsg.): Apparaturen bewegter Bilder, Münster 2006, S. 19-35. Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, München 2006.

29 Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, S. 46. („Begriff und Sein“).

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Einstein, Albert: „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“, in: Annalen der Physik und Chemie, Jg. 17, 1905, S. 891-921. Einstein, Albert: Äther und Relativitätstheorie, Berlin 1920. Forst, Stephan Philipp: Das Ding in seiner Verbundenheit von Substanz und Erscheinungen: Entwicklung eines deskriptiven Dingbegriffs auf der Basis von Aristoteles, Kant und Piaget, München 2001. Jullien, François: Sein Leben nähren. Abseits vom Glück, Berlin 2006. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Darmstadt 1998. Kant, Immanuel: Vorlesungen über die Metaphysik, Darmstadt 1988. Kramer, Stefan: Das chinesische Fernsehpublikum: Zur Rezeption und Reproduktion eines neuen Mediums, Bielefeld 2006. Lazzarato, Maurizio: Videophilosophie: Zeitwahrnehmung im Postfordismus, Berlin 2002. Luhmann, Niklas: „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, in: ders. (Hrsg.): Was ist Kommunikation? Frankfurt a.M. 1997, S. 113-127. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle, Düsseldorf 1992. Milutis, Joe: Ether. The Nothing that Connects Everything, Minneapolis/London 2006. Serres, Michel: Atlas, Berlin 2005. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M. 1992. Volkamer, Klaus: Feinstoffliche Erweiterung der Naturwissenschaften, Berlin 2004. Zhang Dongsun: 张东荪: Zhishi yu wenhua 知识与文化 (Erkenntnis und Kultur), Peking 1995.

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Schwingungsresonanz

Frank Furtwängler | An Nichts denken müssen

Frank Furtwängler

An Nichts denken müssen Über den Äther und die Medienwissenschaft vor einer Medienwissenschaft We may use the term æther to denote this medium, whatever it may be. (James Clerk Maxwell)

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Einen Äther denken

Irgendwann vor dem Jahr 1875 verfasste James Clerk Maxwell (1831-1879) mehrere Einträge für die neunte Auflage der Encyclopaedia Britannica. Darunter ein Lemma ‚Ether‘, in dem er eine generelle Skepsis über die Vorstellung eines ‚Äthers‘ äußerte. Begründet ist diese Skepsis in einem doppelten Unbehagen: „To those who maintained the existence of a plenum1 as a philosophical principle, nature’s abhorrence of a vacuum was a sufficient reason for imagining an all-surrounding æther, even though every other argument should be against it.“2 Was Maxwell hier auf den ersten Blick einer Abneigung oder Abscheu der Natur vor der Leere zuschreibt, motiviert sich im zweiten Blick aus einem horror vacui menschlichen Ursprungs, der einen Äther auch wider den beliebigen Druck von Gegenargumenten ins (physikalische) ‚Nichts‘ fließen lässt. Maxwells Beobachtung kurz vor der grundlegenden Krise jeglicher Äthertheorie in der Physik ist scharf. Sie führt uns zum Kern der Ätherfrage, wie er mir in einer ungebrochenen Sehnsucht des Menschen nach der Existenz eines Äthers vorzuliegen scheint. Diese Sehnsucht entspringt einer an Unfähigkeit grenzenden Unlust des Menschen, ein substanzielles ‚Nichts‘ in seinen anschaulichen Modellen der Welt unterzubringen. Um einem in dieser Weise drohenden Versäumnis der Schöpfung entgegenzuwirken, generiert der Mensch kraft seiner eigenen Imagination Substanzen, die für die Modelle seiner Wirklichkeit eine Anschaulichkeit garantieren, auch wenn sie außerhalb dieser Modelle keine Wirklichkeit besitzen. Mehr kann ihm dabei die Natur bedauerlicher Weise kaum entgegenkommen.

1 Im Englischen bedeutet plenum hier ein Zustand, Raum oder Einschluss, in dem Luft oder ein anderes ‚Gas‘ einen höheren Druck hat als die Außenatmosphäre. 2 Maxwell: „Ether“, S. 763.

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Schon ein kursorischer Streifzug durch die symptomatischen Sinn/Unsinn-Konfigurationen auf den zugangsfreien Redeplattformen eines World Wide Web genügt in vielerlei Hinsicht einem Beleg für die angesprochene Sehnsucht. Die Physik selbst spielt eine oft zweifelhafte Rolle in den Überzeugungsstrategien mancher Autoren, die auf eine Betäubung des Leserverstands zielen, wenn sie in Wahrheit den Wahrheitsanspruch der Physik für einen ganz eigenen instrumentalisieren. Hier entstehen Interessensgemeinschaften wie SAFE, „die von der Existenz der Raumenergie überzeugt sind und sich in der ‚Arbeitsgemeinschaft für Freie Energie‘ zusammengeschlossen haben“3. Ein Beitrag eines ihrer Mitglieder bezieht unmissverständlich Stellung zum Äther heute: Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgehen, daß mit den heutigen Erkenntnissen der Physik der Äther längst durch verschiedene Hintertüren wieder Einzug in die theoretischen Modelle genommen hat. Allerdings hat seine Bezeichnung gewechselt. Die häufigste Bezeichnung ist heute die Nullpunktstrahlung, die Strahlung also, welche im Vakuum bei Null Kelvin immer noch vorhanden ist.4 Nun wird aber exakt diesem ‚aufmerksamen Leser‘ nicht entgangen sein, dass allein der Verlust des Äthers in den Modellen selbst eine derartige Behauptung begründet, und vielmehr der Leser selbst zu einer der angesprochenen ‚Hintertüren‘ wird, sofern er nicht aufmerksam genug liest. Die Kritik an einer Physik ohne Äther, die sich der Sehnsucht nach einem Äther unmissverständlich anschließt, ist häufig mit einem Verweis auf fehlende ‚Anschaulichkeit‘ verbunden. Sie wird besonders mit dem verstärkten Einzug der Mathematik in die Modelle der Physik identifiziert: „Der Siegeszug der Mathematik in der Naturwissenschaft konnte seit dieser Zeit bis in den heutigen Tag nicht mehr gebremst werden. Der Preis dafür ist, dass wir heute in der Physik anstelle von anschaulichen Modellen nur noch abstrakte mathematische Ableitungen finden.“5. An den ‚Vorzügen eines Mediums‘ lässt der Autor hier keinen Zweifel: Ein anschauliches Modell ist erst wieder möglich, wenn versucht wird, in der Naturwissenschaft die Existenz eines Mediums oder Äthers ernst zu nehmen. Es gibt keinen experimentellen Beweis, daß kein Äther existiert. Selbst Einstein hat oft erwähnt, daß mit dem Michelson/ Morley Experiment nicht nachgewiesen werden kann, daß kein Äther existiert. (Es gibt mindestens fünf verschiedene Erklärungen für das Ergebnis dieses Experimentes.) Der Äther wurde nur überflüssig, weil 3 Vgl. die Homepage von SAFE: http://www.safeswiss.org, 05.01.2007. 4 Waser: „Der Äther in der Naturwissenschaft“. 5 Ebd.

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neue physikalische Modelle diesen nicht mehr benötigt haben, und nicht, weil dessen Nicht-Existenz bewiesen werden konnte.6 Nun besteht in der Behauptung, der Äther hätte nur ausgedient, weil er eben für physikalische Modelle ausgedient hatte, eine bemerkenswerte Wahrheit, die wir in einem Wandel der Physik auf dem Weg zu ihrer modernsten Formulierung Anfang des 20. Jahrhunderts annehmen. Diese Auffassung unterschlägt allerdings, wie sehr der Wandel, der den Äther in der Physik als ‚Medium der Moderne‘ letztendlich disqualifizierte, nur in der logischen Konsequenz einer Entwicklung gegeben ist, die wir in einer radikalen Umsetzung der physikalischen Methode selbst zu sehen haben. Diese besteht, vereinfacht gesagt, in der Identität von Wertgleichheit und Wesensgleichheit. Wer hätte also den Siegeszug der Mathematik in der Physik bremsen sollen? Die Nützlichkeit eines Äthers in einem physikalischen Modell verweist lediglich auf das maßgebliche Kriterium, an dem sich der Äther als Medium in der Physik zu messen hatte. Entscheidend bleibt dabei die grundlegende Fähigkeit zur Unterscheidung und nicht zur Verwechslung von der Realität der Natur und der Realität der Physik als Methode, die die Realität der Natur in Modellen erfasst. Die Realität der Physik verweist damit zuallererst auf die Realität ihrer Physiker, die die Effektivität ihrer Modelle nicht an einem universellen Wahrheitsanspruch zu messen haben, der ohnehin historischen Wandlungen unterliegt. Hierin bewährt sich wieder jener ‚Anthropomorphismus‘ aller unserer Naturbegriffe, auf den Goethes Altersweisheit hinzudeuten liebte. ‚Alle Philosophie über die Natur bleibt doch nur Anthropomorphismus, d.h. der Mensch, eins mit sich selbst, teilt allem, was er nicht ist, diese Einheit mit, zieht es in die seinige herein, macht es mit sich selbst eins. [...] Wir mögen an der Natur beobachten, messen, rechnen, wägen usw., wie wir wollen, es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß der Dinge ist, 7 wie Ernst Cassirer sagt und Goethe zitiert. Dieser ‚Anthropomorphismus‘ der Naturbegriffe ist grundsätzlich nicht überwindbar in der wissenschaftlichen Erkenntnis – auch wenn Max Planck davon ausging, dass das charakteristische Merkmal der Entwicklung des Systems der theoretischen Physik „eine fortschreitende 6

Ebd. Es gibt auch physikalisch fundiertere Plädoyers für die Wiederaufnahme des Äthers ins physikalische Weltbild, wie beispielsweise von Norbert Feist, dessen erste Fußnote „eingereicht bei den ‚Annalen der Physik‘ am 18. u. 31.8.00, zurück am 15.9./3.10.00“ freilich die Vergeblichkeit eines solchen Versuchs nur dokumentiert, gerade über jene Zeitschrift Gehör zu finden, in der Albert Einstein zwischen 1901 und 1922 fast fünfzig mal veröffentlicht hatte, darunter seine wichtigsten Beiträge.

7 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 111.

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Emanzipation von den anthropomorphen Elementen bezeichnet, die die möglichst vollständige Trennung des Systems der Physik von der individuellen Persönlichkeit des Physikers zum Ziele hat“.8 Solange es gängige Praxis ist, eine Beweisführung mit ‚Selbst Einstein [oder ein beliebig anderes Genie mit fester Autorität für einen bestimmten Bereich der Wissenschaften, FF] hat oft erwähnt, dass […]‘ einzuleiten und sie gleichzeitig zum Abschluss zu bringen, müssen wir doch erkennen, wie sehr eine fortschreitende Emanzipation von den anthropomorphen Elementen in den Naturwissenschaften größtenteils Wunsch bleibt. In der Realität der Physik beweist sich die Effizienz von Modellen an ihren Erklärungen von Phänomenen, die sie zu einer Zeit leisten können und die im Idealfall zu Anwendungen und technologischen Erschließungen führen. Die physikalische Realität, die in diesem Prinzip von der Physik erzeugt wird, ist zu jeder Zeit absolut, in der Selbstreflexion selten historisch und der jeweiligen Zeit ihrer Herrschaft unhintergehbar, wie jeder Student der Physik leicht bestätigen kann.9 Der Äther disqualifizierte sich zunächst nur für die Wirklichkeit einer Physik und nicht der Natur. Die Frage, ob der ‚Äther‘ heute noch Relevanz besitzt, ist gerade deswegen keine Frage primär nach der Wirklichkeit einer Natur. Sie betrifft zuerst die Theorie und Methode, mit denen die Wirklichkeit der Natur als Wirklichkeit der Physik modelliert wird. Damit ist sie automatisch eine Frage nach der Relevanz für diejenigen, die eine Existenz des ‚Äthers‘ in der Welt häufig zwanghaft annehmen mussten und müssen, um den eigenen horror vacui zu bewältigen. Es geht also um den Zugriff des Menschen auf den Äther – nicht etwa der Natur und dem Äther – es geht um eine Denkbewegung die der ‚Äther‘ aufzeichnet und gleichzeitig selbst bedingt.

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Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 111.

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Diese Herrschaft ist freilich auch an Lichtgestalten der Physik wie Albert Einstein, Niels Bohr und früher Isaac Newton gebunden. Einstein wird voraussichtlich das herausragende Beispiel und der am reichsten dokumentierte Fall eines Geniekults in der Physik (und weit darüber hinaus) bleiben, wie insbesondere das Einstein-Jahr 2005 erschöpfend vorführte. Über die eher offensichtlichen Beispiele hinaus liegen auch zahlreiche kritische Arbeiten vor, die sich detailliert mit der Vorherrschaft bestimmter Interpretationen der Physik auseinandersetzen. So setzt sich James T. Cushings Arbeit Quantum Mechanic. Historical Contingency and the Copenhagen Hegemony mit der Deutungsgeschichte der Quantentheorie auseinander und beleuchtet kritisch die Durchsetzung der mit dem Kreis um Niels Bohr zusammenhängende, sog. Kopenhagener Deutung, jedoch unter dem spürbaren Vorzeichen, die alternative Deutung David Bohms zu fördern, bzw. eine weniger bekannte Lichtfigur ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu setzen. Vgl. Cushing: Quantum Mechanic.

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Einen Äther bewegen

Maxwell beschreibt in seinem Lemma ‚Ether‘ in diesem Sinne die Nutzung des Äthers ganz aus dem profanen Grund seiner menschlichen Erfindung heraus, die offensichtlich eine Universaltheorie einer Substanz anvisierte, die das genaue Gegenteil eines ‚Nichts‘ bedeuten sollte – sie wirkt wie ein Trost über die immerfort drohende Leere einer Welt: Planeten sollten im Äther schwimmen, er sollte elektrische Atmosphären und magnetische Ausstrahlungen (magnetic effluvia) schaffen, Gefühle von einem Teil des Körpers in andere übertragen und so weiter, bis der Raum vier-, fünfmal mit ‚Äthern‘ angefüllt war, wie es bei Maxwell heißt: „It is only when we remember the extensive and mischievous influence on science which hypotheses about æthers used formerly to exercise, that we can appreciate the horror of æthers which sober-minded men had during the 18th century […].“10 Was dem Einen Spekulationen über den Äther ermöglicht, provoziert für den Anderen längst den horror of æthers. Dieses Spannungsfeld hat Geschichte, und Maxwell sieht das Problem mit den ‚Äthern‘ in Descartes’ virulenter Vorstellung der Ausdehnung als einzig essentieller Eigenschaft von Materie begründet: „To Descartes, who made extension the sole essential property of matter, and matter a necessary condition of extension, the bare existence of bodies apparently at a distance was a proof of the existence of a continuous medium between them.“11 Auf die Fehler, die in dieser Annahme stecken, geht Maxwell ungefähr zeitgleich in Matter and Motion (1877) ein, einer kleinen aber bemerkenswerten Abhandlung über die Mechanik, die vollständig auf Verweise zum Gebiet der Elektrodynamik verzichtet, in dem er unbestritten seine deutlichsten Spuren hinterließ. Seine neunzehn Paragraphen umfassende Einleitung strukturiert er um die essentiellsten Grundlagen der Physik, in dieser Schrift für die Konfiguration eines materiellen Systems; so in Kapitel 1 Nature of Physical Sciences, 5 Diagrams, 6 Material Particle, 8 Vectors etc. Zwischen den grundlegendsten überhaupt – Kapitel 15 On the Idea of Space und 17 On the Idea of Time – kommt es zu einem, für die Grundlagen der Physik bemerkenswerten Einschub: In 16 Error of Descartes wird der Irrtum eines einzelnen Philosophen zu einem Grundprinzip der Physik erhoben. Dies verdeutlicht zunächst zweierlei: Einerseits den ungebrochen hohen Stellenwert der Cartesischen Auffassung am Ende des 19. Jahrhunderts. Andererseits erkennen wir in der vehementen Ablehnung einer metaphysischen Begründung physikalischer Anschauungen die Dominanz einer Physik Newtons in dieser Zeit, der die Interessensgebiete des Physikers und Metaphysikers bzw. spekulativen Naturphilosophen entschieden zu trennen versuchte, auch wenn dies kaum gelingen sollte. Letztendlich entscheidend ist für uns nur, dass der Äther nicht in der ‚objektiven‘ 10 Maxwell: „Ether“, S. 763. 11 Ebd. S. 763.

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Beobachtung der Natur fundiert ist, sondern ganz maßgeblich mit der Rolle des Menschen zusammenhängt, der ihn annimmt bzw. imaginiert. Nur wenige Zeilen verwendet Maxwell in Matter and Motion, um Descartes’ Gedanken zu entkräften, die auf die „Gleichsetzung vom Materie und Ausdehnung“ hinauslaufen bzw. auf einer ursprünglichen Verwechslung von Raum und Materie beruhen, wie es dort heißt. Den „Irrthum des Cartesius“12 identifiziert Maxwell besonders in jenem Gedanken aus Principia philosophiae II. 18, der nach Entnahme des Inhalts eines hohlen Gefäßes, ohne Austausch des Entnommenen, eine anschließende Berührung der Gefäßwände postuliert. Eine der Beobachtung und Intuition widersprechende und dabei dennoch logische Behauptung, die nur aufgestellt werden kann, wenn dem ‚Nichts‘ die (physikalische) Existenz aberkannt wird. Seinen Ursprung findet diese Behauptung in Descartes’ Versuch, vom Gedanken der Einheit des Bewusstseins aus zugleich auch eine neue Einheit der Natur zu fordern, wie Cassirer sagt, und wir erinnern uns sogleich an Goethes Hinweis auf jenen ‚Anthropomorphismus‘ aller unserer Naturbegriffe. Diese Einheit gilt Descartes nur als erreichbar, wenn er den Gegensatz des ‚Vollen‘ und ‚Leeren‘, der ‚Materie‘ und der ‚Ausdehnung‘ fallen lässt. Das physische Sein des Körpers und das geometrische Sein der Ausdehnung bilden ein und denselben Gegenstand: Die ‚Substanz‘ des Körpers geht in seinen räumlich-geometrischen Bestimmungen auf.13 Damit überwindet Descartes in einem neuen, methodisch tiefen und fruchtbaren Ansatz der Physik, die bis auf Demokrits antike Atomistik zurückgehende, dualistische Konzeption der Natur, die sich auf den Gegensatz und die physikalische Realität des ‚Vollen‘ und des ‚Leeren‘ beruft. Dieser Ansatz zeigte sich aber der konkreten „Durchführung von Descartes’ Physik nirgends gewachsen“, wie Cassirer erklärt14 – schon allein aus dem Grund, weil diese Art der Abstraktion einen Anschlag auf die Anschaulichkeit der Physik bedeutet. Für Maxwell bleibt hier nur ein Ratschlag zu folgern: „I shall not attempt to trace it down to modern times, but I would advise those who study any system of metaphysics to examine carefully that part of it which deals with physical ideas.“ 15 Newtons Satz „Hypotheses non fingo“16 („Hypothesen erdichte ich nicht“) aus dem Scholium generale am Ende der zweiten, ergänzten Auflage der Philosophiae Natura12 Vgl. die charmant von Ernst v. Fleischl ins Deutsche übertragene Ausgabe: Maxwell: Substanz und Bewegung, S. 11. 13 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 54. 14 Ebd. S. 53f. 15 Maxwell: Matter and Motion, S. 10f. 16 Newton: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, S. 484.

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lis Principia Mathematica von 1713 können wir leicht als Maxwells Vorlage für diese Ermahnung betrachten. Newton war speziell damit befasst, die hypothetischen und spekulativen Prämissen der Cartesischen Physik zu bekämpfen,17 und auch für Maxwell basiert die Theorie des Äthers in weiten Teilen auf erdichteten Hypothesen. Er betont in seinem Beitrag zur neunten Auflage der Encyclopaedia Britannica ausdrücklich Newtons Entscheidung, eine Äthertheorie niemals zu veröffentlichen, obwohl er durchaus geneigt war, beispielsweise die Gravitation über Druckunterschiede in einem Äther zu erklären.18 Newton konnte einen Äther jedoch in keinem Experiment nachweisen. Eindeutig zuzuordnen bleibt Maxwells Partei bei alldem nicht, gerade wenn er Descartes’ Irrtum, so weit es ihm möglich ist, mit einem Verweis auf die „high metaphysical necessities for a medium“ entschuldigt.19 Dies veranlasst uns zu einer etwas anderen Betrachtung der Situation,20 da die Ermahnung, bei dem Studium der Metaphysik jene Teile mit Vorsicht zu behandeln, die Teile der Physik betreffen, eben auch in die andere Richtung funktioniert: Maxwell läuft Gefahr, die ‚Natur‘ der physikalischen Methode, gleichermaßen deren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen zu verkennen, wenn er die Metaphysik von der Physik vollkommen getrennt sehen will – eine künstliche Trennung, die spätestens auf Ebene der theoretischen Modellbildung wohl nie aufrecht zu erhalten ist. Aus diesem Grund lässt Maxwell die metaphysischen Voraussetzungen der Physik geschickt über das Ätherkonzept laufen und (re)integriert sie damit über die Vermittlung des Äthers in die Physik, da er diesen zwar in einer unbegründeten Vielfalt leugnet, jedoch nicht an sich ablehnt. Der Äther wird hier seiner eigentlichen Bestimmung als Medium zugeführt, indem er in der Vermittlung überprüfbarer Beobachtungen und spekulativer Annahmen, eine Denkbewegung aufzeichnet, deren eigener Ursprung er ist. Was vorliegt, ist nicht nur eine Diskussion mit Geschichte, sondern mit einer überaus sperrigen Tradition. Ihr Verlauf ist v.a. über einen Streit von Positionen dokumentiert, der freilich nicht ausschließlich auf die Diskussion des Ätherbegriffs reduzierbar ist.21 Dennoch markiert die Diskussion des Ätherbegriffs 17 Vgl. Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 54. 18 Maxwell: „Ether“, S. 764. 19 Ebd. S. 762. 20 Was Maxwell genau mit der Spur in die ‚modernen Zeiten‘ andeutet bleibt hier unklar und ist auch nicht ohne weiteres zu klären. 21 Es gibt wohl kaum ein eindrücklicheres Dokument als den Briefwechsel Samuel Clarkes mit G. W. Leibniz von 1715/16, der über die Vermittlung dieser beiden ‚Anwälte‘ auch zwischen dem noch lebenden Sir Isaac und dem schon 65 Jahre toten Descartes stattfand und gleichermaßen als Streit zwischen den antiken philosophischen Schulen des Sokrates/Platon und Aristoteles zu verstehen ist – in jeweils entsprechender Gegenüberstellung. Vgl. Clarke: Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz von 1715/1716, hier besonders auch die Einführung von Ed Dellian, z.B. Kapitel II: „Leibnizscher Rationalismus versus Newtonischen Realismus“, S. XXVIIff.

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mehrere entscheidende Stellen in der Entwicklung der neueren Physik. Cassirer sieht ihn neben dem Begriff der Materie als „zweiten Grund- und Hauptbegriff der neueren Physik“,22 wobei diese Begriffe kaum sauber getrennt werden können. Cassirer skizziert einen Stufengang, eine Klimax der physikalischen Theorien, die die Einsicht förderten, Wertgleichheit bedeute Wesensgleichheit, eben weil dem Physiker „das Wesen in nichts anderem als in exaktem Maß- und Größenbestimmungen definiert ist“.23 Die Entwicklung von einer stofflich-dinglichen Gesamtanschauung ändert die ‚Physik der Stoffe‘ im 18. Jahrhundert zu einer immer deutlicher dominierenden ‚Physik der Prinzipien‘ im Verlauf des 19. Jahrhunderts, an dessen Ende auch über die Existenz des Äthers entschieden wird. In der ‚Physik der Prinzipien‘ wird „nicht von dem hypothetischen Dasein bestimmter Stoffe und Agenzien, sondern von gewissen allgemeinen Beziehungen ausgegangen, die als Kriterien für die Deutung der besonderen Erscheinungen angesehen werden.“24 Auch der Äther wurzelte im ‚hypothetischen Dasein bestimmter Stoffe und Agenzien“. Wie in Maxwells Ausführungen leitet auch in Cassirers Betrachtungsweise die übermäßig angestrengte Vorstellungskraft zur Rettung des Äthers unter den Vorzeichen einer veränderten Physik dessen Ende ein. Mit diesem Ende kam auch der Verlust der Anschaulichkeit: Mehr und mehr sah sich daher die moderne Physik dazu gedrängt, auf diese Art der sinnlichen Beschreibung und Verdeutlichung prinzipiell Verzicht zu leisten. Aber auch dann, wenn man nicht mehr nach irgendwelchen konkreten Eigenschaften des Äthers, sondern lediglich nach den abstrakten Gesetzen seiner Bewegung fragte, blieb die Schwierigkeit unverändert. Der Versuch, eine Mechanik des Äthers auszubilden, führte nach und nach zu einer Aufopferung aller Grundprinzipien der klassischen Mechanik.25 Diejenigen, die den Äther einsetzen, um damit Phänomene zu erklären, konnten die Bewegung dieser Medien nicht spezifizieren und nicht beweisen, dass diese Medien jene Effekte auch produzierten, die sie erklären sollten. So lesen wir es bei Maxwell, der hier erneut die Imagination des Äthers doppelt betont: „On the other hand, those who imagined æthers in order to explain phenomena could not specify the nature of the motion of these media, and could not prove that the media, as imagined by them, would produce the effects they were meant to explain.“26 Hier liegt vor allem Anderen ein methodisch problematisches Phänomen 22 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 63. 23 Ebd. S. 63. 24 Ebd. S. 63. 25 Ebd. S. 64. 26 Maxwell: „Ether“, S. 764.

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zirkulärer Bedingungen vor, das doppelt auf die Auflösung eines konkreten Gegenstands wirken kann. Die Medienwissenschaft im Umfeld einer Philosophie, oder allgemeiner Geisteswissenschaft, setzt sich mit einem solchen Phänomen vielleicht noch auseinander oder definiert sich gar über die Paradoxien einer solchen Situation – Cassirer spricht hier von Antinomie –;27 die Physik kann ein solches Phänomen nur verbannen. In der Physik des ausgehenden 19. Jahrhunderts kam es zunächst dazu, dass der einzige Äther, der bis zu Einsteins spezieller Relativitätstheorie im 20. Jahrhundert überleben sollte, jener war, den Huygens zur Erklärung der Lichtfortpflanzung eingesetzt hatte. Die Undulationstheorie des Lichts skizziert über die Beobachtung der Interferenz den kürzesten Beweis dafür, dass Licht selbst keine Substanz sein kann: „Now, we cannot suppose that two bodies when put together can annihilate each other; therefore light cannot be a substance.“28 Die eine Menge an Licht +a kann auch das exakte Gegenteil -a sein, was immer a auch sein mag. Derartige Größen sind niemals das Maß von Substanzen, sondern immer von Prozessen, die in einer Substanz – einem Medium – ablaufen:29 „We may use the term æther to denote this medium, whatever it may be.“30 Doch in der Medienwissenschaft wissen wir heute, dass der Begriff ‚Medium‘ immer beides beinhaltet: Prozess und Substanz. Im Verlauf seiner Ausführungen über das Konzept des Äthers im Rahmen der Undulationstheorie bzw. der elektromagnetischen Theorie des Lichts weicht Maxwells anfängliche Skepsis hier scheinbar einer festen Überzeugung über die Existenz eines Äthers: Whether this vast homogeneous expanse of isotropic matter is fitted not only to be a medium of physical interaction between distant bodies, and to fulfil other physical functions of which, perhaps, we have as yet no conception, but also, as the authors of the Unseen Universe seem to suggest, to constitute the material organism of beings exercising functions of life and mind as high or higher than ours are at present, is a question far transcending the limits of physical speculation.31 Maxwell erliegt damit zu einem gewissen Grad der Versuchung und nimmt (weitere Spekulationen nicht ausgeschlossen) jenen (Licht)Äther an, den Albert Abraham Michelson nur zwei Jahre nach Maxwells Tod 1881 erstmals, im später als Michelson-Morley-Experiment32 bekannt gewordenen Versuch widerlegte, ohne 27 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 64. 28 Ebd. S. 64. 29 Ebd. S. 764f. 30 Ebd. S. 767. 31 Ebd. S. 775. 32 Michelson/Morley: „The Relative Motion of the Earth“.

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es jemals zu beabsichtigen und den Einstein rund 20 Jahre später in seiner endgültigen Formulierung der speziellen Relativitätstheorie 1905 schon wirksam aus der Diskussion entfernt hatte, als Michelson und Morely noch bis nach 1930 versuchten, den Äther in immer weiter verfeinerten Versuchsanordnungen doch noch nachzuweisen. Im Falle Maxwells ist es Zeugnis einer gewissen Ironie, wenn sich der vermeintlich gerettete Lichtäther selbst nach der vehementen Ablehnung unsystematischer, unfundierter, metaphorischer Äther-Annahmen ebenfalls in jenem Nichts auflöst, das sich keiner so recht vorstellen will. In zitierter Passage erweitert Maxwell das Verständnis eines Äthers als Medium bzw. Substanz schon deshalb, weil er im Rahmen eines Lexikons nicht völlig frei argumentieren kann. Deutlich erkennt man in seiner Einschätzung, welch enge Verbindung der Äther als Medium mit dem Prozess der physikalischen Interaktion zwischen zwei Körpern eingeht, der in ihm stattfindet. Im Äther erkennen wir noch leicht die Vereinigung der ‚Physik der Substanzen‘ mit der ‚Physik der Prinzipien‘ vor ihrer Trennung. Für die Lichtfortpflanzung sollte dies später bedeuten, dass der Prozess das Medium seiner eigenen Fortpflanzung ist. Doch noch war der Dualismus von Prozess und Substanz im Medium bzw. die reine Identität von Medium und Substanz nicht überwunden.33

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Der Äther und das ‚Medium der Moderne‘

Cassirer bringt die letztendlich durchgeführte Umkehr der Betrachtungsweise auf eine simple Frage: „Wie – wenn nun alle Schwierigkeiten der Antwort in der Frage selbst begründet lägen, weil und sofern ihr kein klarer und bestimmter physikalischer Sinn innewohnte?“34 Der physikalische Sinn einer angenommenen Größe richtet sich, wie hier schon mehrfach erwähnt, rein an ihrer Nützlichkeit in einem physikalischen Modell aus. Je unklarer der Sinn des Äthers, je schwieriger die Aufrechterhaltung seiner Existenz wurde, desto klarer vernichteten sich dessen Eigenschaften und Konstitution selbst, die ihn als reales Ding hätten bestätigen können. Cassirer sieht genau in dieser Frage die neue Stellung gegeben, die die Relativitätstheorie zur Frage des Äthers einnahm, um ihn danach schrittweise zu widerlegen. Lucien Poincaré meinte hierzu, wir sprächen gewohnheitsmäßig von einer Bewegung, die sich im Äther fortpflanze. Die dem Experiment zugängliche Erscheinung sei jedoch die Fortpflanzung dieser Veränderungen – also demnach nicht der Nachweis einer Substanz.35 Wir stehen wieder vor 33 Für das Licht selbst kam es sogar zu einem Dualismus der besonderen Art, die sich in dessen seltsamen Eigenschaften von Wellen und Teilchen (Photonen) ergaben. 34 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 65. 35 Lucien Poincaré: Die moderne Physik, zitiert in: ebd. S.65.

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einem jener „Triumphe des kritischen Funktionsbegriffs über die naive Dingund Substanzvorstellung, wie die Geschichte der exakten Wissenschaft sie fortschreitend verzeichnet“, so Cassirer.36 Hier nun wird der Prozess zum Medium seiner eigenen Fortpflanzung, da in der Relativitätstheorie eine völlig neue Auffassung über die Fortpflanzung elektromagnetischer Wirkungen im leeren Raum herrscht, die nicht durch ein Medium übertragen sind und auch nicht in unvermittelter Fernwirkung vor sich gehen: „Sondern das elektromagnetische Feld im leeren Raume ist ein von aller Substanz unabhängiges Ding von selbständiger physikalischer Wirklichkeit“, wie Laue als Vertreter der Relativitätstheorie dies ausdrückte.37 Die Abkehr von der Theorie eines Äthers als Substanz und Medium der Lichtfortpflanzung verleiht dem von Maxwell angeführten Beweis, das Licht könne aufgrund seiner Eigenschaften nur ein Prozess und keine Substanz sein die entscheidende Pointe in der Geschichte der Physik: Prozess und Medium sind nicht unterscheidbar. Damit gewinnt der Medienbegriff am historischen Punkt seiner Auflösung im Äther die entscheidende Relevanz für die eigentliche Medienwissenschaft. Die Relevanz des Äthers zeigt sich nicht als sondern für ein ‚Medium der Moderne‘. Die hier besprochene Unterscheidung zwischen Metaphysik und Physik scheint mir für die Grundlagen einer Medienwissenschaft nach dieser Medienwissenschaft wichtig zu sein, besonders wenn sie wie in diesem Fall an der mehr oder weniger konkreten Diskussion des Medienbegriffs im Zusammenhang mit dem sog. ‚Äther‘ ablesbar ist. Ziehen wir all jene Spekulationen über das ‚Medium‘ ab, die die reine Physik übersteigen, so wird deutlich, wie langweilig eine Medienwissenschaft geraten kann, wenn sie ihr ‚metaphysisches‘ Erkenntnisinteresse im Kontext reiner Physik auflösen will. Jene Medienwissenschaft, die sich gern auf die ausschließliche Relevanz der Physik für ihre eigenen Mediendefinitionen beruft, muss die grundlegenden Gegebenheiten der Physik und ihrer Methode reflektieren, um sinnvoll mit ihr arbeiten zu können. Dabei ist eine derartige Reflexion nicht einmal unbedingt in der Physik selbst gegeben. Für eine Begründung des Medienbegriffs aus der Geschichte der Physik heraus, können wir an dieser Stelle zwei Dinge anmerken, die uns an die gegebene Situation einer Medienwissenschaft heute verweisen: Erstens erinnert uns die Descartes zugeschriebene Beobachtung, dass die reine Existenz zweier ‚Körper‘ auf Distanz schon hinreichend Gründe für den Beweis eines kontinuierlichen Mediums zwischen ihnen liefere, an jenes magere, aber kommunikationstheoretisch gesicherte Wissen über die Medien, auf das die Medienwissenschaft zuweilen mit einiger Sorge und Existenzangst blicken mag. Zweitens erinnert die Neigung zur Vervielfachung eines Rätsels, wenn es ‚lediglich‘ um die Differenzierung eines so angenommenen Mediums gehen soll, an die eigene Ohnmacht ein einheitliches Prinzip in der Medi36 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 65. 37 Max von Lane: „Das Relativitätsprinzip“, zitiert in: ebd. S. 66.

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enwissenschaft zu generieren, das den Gegenstandsbereich nach innen und außen plausibel ordnen könnte, ohne ihm die Vielseitigkeit seiner Phänomene zu nehmen. Wie viele Äther – wie viele Medien? An diesem Punkt steckt die Suche nach dem Medium in der Medienwissenschaft noch mitten in der Jagd nach jenem Phantom, das auch der Äther von jeher war. Betreiben wir – als Gedankenexperiment – Medienwissenschaft für den Moment rein anhand der Physik des Äthers bzw. anhand eines naiven Substanz- oder Trägerbegriffs des Mediums, so müssten wir von einer Abschaffung des Gegenstands ausgehen und damit auch von der Auflösung einer Wissenschaft. Die eigentliche Bedeutung des Äthers für eine Medienwissenschaft liegt jedoch nicht hier begründet. Die Physik schuf den Äther (als Gegenstand) aus der radikalen Umsetzung der eigenen Methode heraus ab, da sie sich auf eine solche berufen konnte. Was bliebe der Medienwissenschaft für eine Rückzugsmöglichkeit offen, wenn sie ggf. auf die eigene Methode verwiesen wird? Wie vollzieht die Medienwissenschaft einen Wandel von den Substanzen zu den Prinzipien, wenn sie sich nicht auf eine eigene Methode und eine Tradition einer eigenen Methode beziehen kann? Sie könnte dies analog zur Physik und deren Wandel vollziehen, indem sie nicht mehr zwischen Substanz und Prinzip an der Basis unterscheidet, die Prozesse in einem Medium auch als Medium selbst akzeptiert und damit – wie die moderne Physik in gewisser Weise auch – zur Cartesischen Gleichsetzung von Materie und Ausdehnung zurückkehrt. Die Physik hatte in ihrer Entwicklung eine ähnliche Entscheidung zu treffen, wie Cassirer eindrücklich beschreibt. Die moderne Physik wandte sich „zwar nicht in inhaltlicher, wohl aber in methodischer Hinsicht“ wieder Descartes‘ Weg zu: Auch sie strebt von verschiedenen Seiten her zu einer Gesamtansicht hin, in welcher der Dualismus von ‚Raum‘ und ‚Materie‘ sich aufhebt – in welcher beide nicht mehr als verschiedene Klassen physikalischer Objektbegriffe auftreten. Zwischen die ‚Materie‘ und den ‚leeren Raum‘ tritt jetzt, im Begriff des ‚Feldes‘, ein neuer Mittelbegriff.38 Im Feld ergab sich ein neuer Medienbegriff, der eine fortschreitende Umbildung des Begriffs der Materie einleitete, da er „fortan immer bestimmter und deutlicher als der eigentliche Ausdruck des Physisch-Realen, weil als der vollgültige Ausdruck der physikalischen Wirkungsgesetze, erscheint“.39 Auch an dieser Stelle tauschte eine Frage erneut Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung, indem sich Materie aus dem Feld und damit einem Wirkungsprinzip konstruierte. Denn wie schon mehrfach erwähnt, wird in der ‚Physik der Prinzipien‘ nicht von dem hypothetischen Dasein bestimmter Stoffe und Agenzien, sondern von gewissen 38 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 55. 39 Ebd. S. 55.

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allgemeinen Beziehungen ausgegangen, die als Kriterien für die Deutung der besonderen Erscheinungen angesehen werden. Das Medium konstituiert sich aus Relationen und sich ergebenden Wirkungen. Wenn Fragen wie im hier skizzierten Fall die Richtungen ihrer Bezeichnungen tauschen, so lösen sie fast automatisch die Schwierigkeiten eines Fragestellers, der die Bewegung der Medien nicht für einen Beweis jener Phänomene spezifizieren kann, die diese Medien selbst erzeugen. Damit wird die Bestimmung des Äthers in der Wirklichkeit der Natur exakt am Punkt seiner Bestimmung als Medium hinfällig, wenn er in der Vermittlung überprüfbarer Beobachtungen und spekulativer Annahmen eine Denkbewegung aufzeichnet, deren eigener Ursprung er ist. Dies führt uns relativ unmittelbar zur Annahme jener grundlegenden Paradoxie einer gegenständlichen Selbsterzeugung zurück, die die Physik vielleicht nur augenscheinlich ablehnt und damit keineswegs einer heutigen Medienwissenschaft unverbunden ist, die eine solche Paradoxie eben nicht grundsätzlich auflöst. Für Ernst Cassirer war sein hier mehrfach zitiertes Werk Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen von 1921 der eigentliche Ausgangspunkt seiner Philosophie der symbolischen Formen, deren ersten Band er bereits 1923 veröffentlichte. Im „Postulat der absoluten Methode“, wie er in Umdeutung von Minkowskis „Postulat der absoluten Welt“ sagt,40 findet Cassirer die eigentliche Motivation, die Erkenntnistheorie zu einer systematischen Philosophie umzuarbeiten. Es ist der Inhalt der Relativitätsbehauptung, der „mit innerer Konsequenz und Notwendigkeit aus der Form der Physik selbst herauswächst“, der ihn dazu bewegt, die Vielfalt unserer (analytischen) Weltzugänge systematisch unter dem Begriff der symbolischen Formen in eben einer solchen systematischen Philosophie zu erfassen: „Sie hat das Ganze der symbolischen Formen, aus deren Anwendung für uns der Begriff einer in sich gegliederten Wirklichkeit entspringt – kraft deren sich für uns Subjekt und Objekt, Ich und Welt scheiden und in bestimmter Gestaltung gegenübertreten –, zu erfassen und jedem Einzelnen in dieser Gesamtheit seine feste Stelle anzuweisen“.41 Nur die „systematische Allheit“ ist nach Cassirer Ausdruck der ‚Wahrheit‘ und ‚Wirklichkeit‘. Die Überwindung des zugrunde liegenden Anthropomorphismus in der Suche nach einem „von aller Zufälligkeit des individuellen Standorts und der individuellen Persönlichkeit losgelöste[n] Systems“, besteht nur in einem Austausch gegen die Anwendung jener allgemeinen Systembedingungen, „auf denen die Eigenart der physikalischen Problemstellung als solcher beruht“.42 Im Einfluss der Systembedingungen auf das System selbst spiegelt sich die gesamte Diskussion des Äthers, in der sich auf diesem Weg auch jenseits einer Begriffsgeschichte ein für die Medienwissenschaft beachtlicher konzeptioneller Inhalt offenbart, der hier freilich 40 Ebd. S. 112. 41 Ebd. S. 113f. 42 Ebd. S. 111.

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keineswegs befriedigend behandelt werden konnte. Wie viele Äther – wie viele Medien? In der Frage selbst steckt wohl die Antwort, da gerade sie uns auf die ‚systematische Allheit‘ verweist, in der sich sowohl die Wirklichkeit als auch die Wirklichkeit einer Medienwissenschaft versteckt hält.

Literatur Cassirer, Ernst: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Darmstadt 2001. Clarke, Samuel: Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz von 1715/1716, Hamburg 1990. Cushing, James T.: Quantum Mechanic. Historical Contingency and the Copenhagen Hegemony, Chicago 1994. Feist, Norbert: „Plädoyer für den Äther“, in: http://xxx.uni-augsburg.de/ftp/ physics/0104/0104047.pdf, 30.10.2007. Maxwell, James Clerk: „Ether“ (Lemma in: Encyclopaedia Britannica, 9. Auflage, 1875-89), in: The Scientific Papers of James Clerk Maxwell, hrsg. v. W. D. Niven, New York 1965, S. 763-775. Maxwell, James Clerk: Substanz und Bewegung, übers. v. Ernst von Fleischl, Braunschweig 1879. Maxwell, James Clerk: Matter and Motion, New York 1952. Michelson, Albert A./Morley, Edward W.: „On the Relative Motion of the Earth and the Luminiferous Aether“, in: American Journal of Science, Series 3, Nr. 34, 1887, S. 333-345. Michelson, Albert A.: „The Relative Motion of the Earth and the Luminiferous Aether“, in: American Journal of Science, Series 3, Nr. 22, 1881, S. 120-129. Newton, Isaac: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, 1713 (2. Auflage). Waser, André: „Der Äther in der Naturwissenschaft“, in: http://www.safeswiss. org/infobereich/publikationen/waser/aetherindernaturwissenschaft.htm, 05.01.2007.

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Physiologischer Funkverkehr

Tristan Thielmann | Die Wiederkehr des Raummediums Äther

Tristan Thielmann

Die Wiederkehr des Raummediums Äther Naturwissenschaft ist der Glaube an die Unwissenheit der Experten. (Richard Feynman)

Einleitung Für mehr als 2300 Jahre galt der Äther als das urgründige Weltmedium, eine alles erfüllende Weltseele, die jeden Körper durchdringt und über unvorstellbar große Räume hinweg zu einer Einheit in der Verschiedenheit verbindet. Bei Plato ist der Äther noch der fünfte Urkörper, eine Mittlerschicht zwischen dem Feuer und der Luft, der das Ganze des Kosmos repräsentiert.1 Ende des 18. Jahrhunderts schlugen Nicolas Fatio de Duillier und George-Louis Le Sage sogar eine Gravitationstheorie auf der Basis des Äthers vor.2 Doch die später als Michelson-Morley-Experiment bekannten Versuche zum Nachweis des Äthers, führten 1881 und 1887 zu einem vermeintlichen Negativ-Ergebnis. Obwohl später der Nachweis gelang,3 hatte der Äther für den Rest des 20. Jahrhunderts ausgedient. Denn als Albert Einstein 1905 seine spezielle Relativitätstheorie vorstellte und den Äther dabei für „überflüssig“ erklärte,4 schien das Medium bedeutungslos geworden zu sein. Sein späterer Einwand, ein Äther müsse wohl doch existieren,5 wurde wissenschaftlich kaum zur Kenntnis genommen. Dies musste auch Ott Christoph Hilgenberg erfahren, der 1933 seine Schrift Vom wachsenden Erdball veröffentlichte, in der er den Äther als Ursache für den Massenzuwachs der Erde vermutete.6 1937 reichte er als konsequente Fortsetzung seiner Forschung eine Dissertation Über Strömungsversuche mit Senken und Quellen, die das Wesen der Schwerkraft grundlegend erklären ein. Die Arbeit wurde abgelehnt, 1

Vgl. Böhme: „Das Volle und das Leere“, S. 45.

2

Vgl. Edwards: Pushing Gravity; Zehe: Die Gravitationstheorie des Nicolas Fatio de Duillier.

3

Vgl. Miller: „Significance of the Ether Drift Experiments of 1925 at Mount Wilson“; Miller: „The Ether-Drift Experiment and the Determination of the Absolute Motion of the Earth“.

4

Vgl. Einstein: „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“, S. 892.

5

Vgl. Einstein: „Äther und Relativitätstheorie“.

6 Vgl. Hilgenberg: Vom wachsenden Erdball.

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weil die in ihr entworfene Äthertheorie nicht den damaligen Auffassungen der Wissenschaft entsprach. Vermutlich zu Unrecht, wie die neu entfachten Diskussionen über kosmische Neutrinos zeigen, die das Raummedium Äther nicht mehr als Utopie erscheinen lassen.7

Überleitung Mit der Geschichte des physika­lischen Ätherbegriffes sind Namen wie Christiaan Huygens (1629-1695), Siméon Denis Poisson (1781-1840), Augustin Jean Fresnel (1788-1827), Augustin Louis Cauchy (1789-1857), Franz Ernst Neumann (1798-1895), James McCullagh (1809-1847), Ludwig Boltzmann (1844-1906) oder Philipp Lenard (1862-1947) verbunden. Sie sahen den Äther als ein materielles Medium und versuchten, ihn nach dem klassischen mechanischen Modellbild gesetzlich zu erfassen. Mit den Physikern Faraday, Maxwell und Hertz erfuhr der Ätherbegriff einen Bedeutungswandel. Der Äther wurde jetzt als Medium und Träger elektromagnetischer Zustände und Feldänderungen angesehen, womit zwar nicht auf die Annahme der physischen Grund- und Trägersubstanz selbst, aber auf deren Materialität und mechanische Interpretation verzichtet wurde. Die in Gleichun­gen gefassten amechanischen Gesetze der elektromagnetischen Felder, ihre Kräfte, Spannungen und Zustandsänderungen, konnten als Beschreibungen von Äthereigenschaften derart genau beschrieben werden, dass Gustav Mie feststellte, die Weltäthervorgänge seien hinsichtlich ihrer mikrophysikalischen Struktur exakter bekannt als die Vorgänge der materiellen Wirklichkeit.8 Ende des 19. Jahrhunderts war das physikalische Denken noch vom mechanisch-materialistischen Modell bestimmt. Man stellte im Sinne des Relativitätsprinzips der Newtonschen Mechanik die Frage nach der Relativ­bewegung zweier Inertialsysteme K und K ’.9 Dabei wurde der materielle kosmische Körper (K ) durch die translatierende Erdkugel, bestehend aus Kern und sphärischer Hülle, repräsentiert und der Ätherkörper (K ’ ) als ein starres Koordinatensystem imaginiert. Unter diesen Voraussetzungen schien es prinzipiell möglich, mit Hilfe des Lichts (der elektromagnetischen Ätherwellen der Geschwindigkeitskonstanz c ) die absolute kosmische Ge­schwindigkeit der offen7

Vgl. Bahcall/Davis: „An Account of the Development of the Solar Neutrino Problem“. Für den Nachweis kosmischer Neutrinos erhielten Raymond Davis Jr. und Masatoshi Koshiba 2002 den Nobelpreises für Physik.

8

Vgl. Mie: Moleküle, Atome, Weltäther.

9

Ein Bezugssystem, in welchem das erste Newtonsche Gesetz erfüllt ist, wird als Inertialsystem bezeichnet. In einem Inertialsystem verharrt ein Körper, auf den keine äußere Kraft einwirkt, in seinem Bewegungszustand. Vgl. Lange: „Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei’schen Beharrungsgesetzes“.

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bar durch und gegen das Äthermedium fliegenden oder schwim­menden – je nachdem, ob man den Äther bildhaft mit Luft oder Wasser vergleicht – Erdkugel festzustellen, eben weil von einer Wirkung der Erdbewegung auf die Äthermaterie ausgegangen wurde. Beim Michelson-Morley-Versuch ging es um den Nachweis der absoluten Eigen­geschwindigkeit der Erde, d.h. um die Feststellung ihrer gleichförmigen Um­laufbewegung um die Sonne, was sich in dem bestimmten Bahnrichtungssinn der Experimentalanordnung ebenso ausdrückt wie in der richtungsabsolut bestimmten äthermechanischen Kontraktionshypothese von Lorentz.10 Dieses seit 1881 regelmäßig durchgeführte Experiment von Michelson, Michelson/Morley, Morley/Miller und später Miller allein sollte die Existenz des Äthers in Bezug auf die Erdbewegung nachweisen: Ein Lichtstrahl wird in Richtung des angenommenen Äthers an einem Halbspiegel geteilt sowie rechtwinklig dazu abgestrahlt. Zwei Spiegel in gleicher Entfernung vom Teilungspunkt reflektieren beide Lichtstrahlen, so dass nach ihrem erneuten Zusammentreffen aus Interferenzmustern auf die Geschwindigkeit der Messapparatur und mit ihr auf die der Erde relativ zum Äther geschlossen werden sollte. Wie allgemein kolportiert wird, war in den ersten Experimenten von Michelson und Morley keine Relativgeschwindigkeit, mit der sich die Erde durch den Äther bewegt, messbar.11 Das Resultat schien so, als ob das materielle Körpersystem Erde und Äther zueinander gleichwertige Ruhesysteme wären, denn relativ zu beiden Systemen K und K’ breitete sich das Licht nach allen Richtungen konstant gleichmäßig aus. Auch heutige Michelson-Morley-Experimente, die mit millionenfach gesteigerter Empfindlichkeit nach sehr viel diffizileren Effekten suchen, wie sie etwa von modernen Ansätzen für eine Quantentheorie der Gravitation (Stringtheorie) nahe gelegt werden, konnten keine Licht-Laufzeitabweichungen feststellen.12 However, and this fact must be emphasized, the indicated effect was not zero; the sensitivity of the apparatus was such that the conclusion, published in 1887, stated that the observed relative motion of the earth and the ether did not exceed one-fourth of the earth‘s orbital velocity. 10 Vgl. Lorentz: „Conference on the Michelson-Morley Experiment“. Vgl. auch Abraham: Theorie der Elektrizität, S. 363f. 11 Das Michelson-Morley-Experiment wurde erstmals 1881 von Albert Abraham Michelson im Keller vom Hauptgebäude des Astrophysikalischen Observatoriums auf dem Telegraphenberg in Potsdam (heute Michelsonhaus) durchgeführt. Vgl. Michelson: „The Relative Motion of the Earth and the Luminiferous Aether“. Anfang Juli 1887 fand eine verfeinerte Form des Experiments zusammen mit Edward Morley in Cleveland/Ohio statt. Vgl. Michelson/Morley: „On the Relative Motion of the Earth and the Luminiferous Aether“. 12 Vgl. Müller/Peters: „Einsteins Theorie auf dem optischen Prüfstand“.

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This is quite different from a null effect now so frequently imputed to this experiment by writers on Relativity.13 Dass Michelson/Morley in ihrer Schlussfolgerung zunächst von einem Nullbzw. Negativ-Ergebnis sprachen, entstand vor allem aus der Enttäuschung, dass die Ergebnisse sehr viel geringer ausfielen als erwartet.14 Trotz eines detektierten Ätherwinds wurde das Michelson-Morley-Experiment von 1887 mehr als 25 Jahre später von Einstein retrospektiv als entscheidender Beweis für die Gültigkeit der Relativitätstheorie eingestuft und das obwohl, wie wir heute wissen, das Experiment einen solchen Nachweis gar nicht liefern konnte.15 1988 stellte Ernst Grimsehl in seinem Lehrbuch der Physik fest: „Den Michelsonversuch bei direkter Bewegung relativ zur Erdoberfläche anzustellen, ist bisher wegen der technischen Schwierigkeiten (Störungen durch Erschütterungen, Temperaturveränderungen u. dgl.) noch nicht gelungen.“16 Mit dem Michelsonschen Interferometer war eine Absolutbewegung der Erde überhaupt nicht feststellbar. Die Techniksoziologen Harry Collins und Trevor Pinch kommen daher zu dem Schluss: We have reached the point where the theory of relativity had rendered the Michelson-Morley experiment important as a sustaining myth, rather than a set of results. Results that ran counter to what it was believed the Michelson-Morley experiment demonstrated were largely ignored.17 Aufgrund der von Befürwortern und Gegnern der Relativitätstheorie betriebenen wechselseitigen Mythifizierung der Michelson-Morley-Versuche spielte es schon damals keine Rolle, dass es (a ) das Null-Ergebnis von 1887 nicht gibt, (b ) es messtechnisch keinen Beweis der speziellen Relativitätstheorie liefern konnte und (c ) selbst eine nachgewiesene Relativbewegung der Erde noch nichts über die Ätherexistenz aussagt. 13 Miller: „The Ether-Drift Experiment and the Determination of the Absolute Motion of the Earth“, S. 206. 14 Vgl. Mueller: „Über die absolute Größe der Speziellen Relativitätstheorie“, S. 43; Collins/Pinch: The Golem, S. 37. 15 Collins/Pinch: The Golem, S. 38, 43. Bereits 1887 legte Woldemar Voigt eine umfangreiche „Theorie des Lichts für bewegte Medien“ vor, in der dargelegt wird, dass „Michelson die negativen Resultate, die er factisch erhalten hat, erhalten mußte, gleichviel, ob sich der Aether mit der Erde bewegt oder nicht“ (Voigt: „Theorie des Lichtes für bewegte Medien“, S. 235). In späteren Veröffentlichungen distanziert sich Voigt allerdings von dieser These. 16 Grimsehl: Lehrbuch der Physik, S. 217. 17 Collins/Pinch: The Golem, S. 42.

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Die Tatsache, dass sich in heutigen Versuchen keine Veränderung der Interferenzstreifen bei diesem Experiment ergibt, wird interpretiert als Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber der bewegten Erde. Weder eine theoretisch vorausgesetzte Bewegung des Äthers noch eine Bewegung durch den Äther und gegen ihn sind mit lasergestützten Messmethoden experimentell nachzuweisen. Daraus den Schluss zu ziehen, aus dem Fehlen einer Änderung des Interferenzmusters würde der Beweis erbracht, dass kein Äther existiere, greift dennoch zu weit. Die Michelson-Morley-Versuche beweisen lediglich, dass in der Versuchsumgebung kein absolut ruhendes Medium existiert. Die mit dem Experimentaleffekt verbundene empirische Erkenntnisgrenze rechtfertigt somit noch nicht die ontologische Behauptung, dass es keinen Äther gibt. Sie ist gerade deswegen so bedenklich, weil es kategorial verfehlt ist, für den Äther den leeren Raum einzusetzen und diesen nun seinerseits als den Träger geometrisch-physikalischer Eigen­schaften zu bestimmen. Dies erkannte auch Einstein in seiner Leidener Rede: „Den Äther leugnen, bedeutet letzten Endes annehmen, daß dem leeren Raume keinerlei physikalische Eigenschaften zukommen.“18 Dass es einen Äther im Einklang mit der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie geben kann, ja geben muss, wird 1951 selbst vom Mitbegründer der Quantenphysik Paul Dirac postuliert.19 Nichtsdestotrotz wurde aus den ersten beiden Michelson-(Morley-)Versuchen jahrzehntelang geschlossen, dass die Lichtgeschwindigkeit unabhängig von der Wahl des Bezugssystems (K ) durchgehend konstant bleibt, also eine Größe von beziehungsunabhängiger Absolutheit darstellt.20 Diesem Prinzip folgend hat die von der Messungsrelativität her bestimmte Relativitätstheorie zum einen den materiell-mechanisch inter­pretierten Ätherbegriff aufgegeben, zum anderen hat sie den Äther durch eine neu definierte Kategorie des Raums substituiert und Raum und Zeit als Realkategorien relativiert. Fasst die Relativitätstheorie das Konzept der Vierdimensionalität als einen Nachweis der Unabhängigkeit der Naturgesetze von der Wahl des Bezugssystems und damit als eine mögliche, relativ zur Vermessung der Wirklichkeit zu betrachtende Standpunktlehre auf,21 ist sie ein wohlberechtigtes Erkenntnisverfahren. Aber die Theorie behauptet weit 18 Einstein: „Äther und Relativitätstheorie“, S. 119. 19 Vgl. Dirac: „Is there an Aether?“ 20 Selbst für diese Erkenntnis, so Kritiker, könne man die Michelson-Morley-Versuche nicht heranziehen: „Diese Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist nicht Ergebnis des Michelson Versuches; sie war eine Vorausannahme, deren Bestätigung vom Ausgang des Experiments erwartet wurde. Einsteins ‚Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum‘ ist da etwas grundsätzlich anderes. Von zahlreichen Autoren wird dieser Unterschied fahrlässig oder irreführend verwischt“ (Baer: Spur eines Jahrhundertirrtums, Kap. 5.1, http://www.miriup.de/spur/5.1.html, 31.05.2007). 21 Vgl. Sommerfeld: Vorlesungen über theoretische Physik, S. 197ff.

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mehr: sie überträgt das mathematisch vierdimensionale Raum-Zeitschema auf das real-physische Sein. Damit wird ein „mittels der Lichtgeschwindigkeit zu einem einheitlichen Kontinuum“22 zusammengeschweißtes Raum-Zeit-Gebilde wie ein Gefäß(raum) dinglich behandelt. Dieser Raum ist nur deshalb kein „absolute[r] Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert“23, weil er in Wirkungsrelation zu seinen physikalischen Inhalten (Körpern, Energien, bewegten Massen) steht, die sein gekrümmtes Verhalten prägen. Vom phänomenologisch-ontologischen Standpunkt aus betrachtet, ist dies aber spekulativ und im Grunde unphysikalisch, denn das vierdimensional konstruierte Idealsystem, das bereits 1919 um eine fünfte Dimension erweitert wurde,24 ist eine rein mathematische Interpretation. So bleibt auch heute noch offen, was realkategorial die Energien und Massen sind, deren Verteilungen das durch die Geschwindigkeit c zur Raum-Zeit-Union ausgebildete Kontinuum bilden. Auch die Frage, ob man den Raum als solchen wie ein Ding, das räumlich im Raum ist, krümmen, dehnen oder verkürzen (Lorentz-Kontraktion) kann, ist letztlich ungeklärt – schließlich wurden die von Einstein vorausgesagten Gravitationswellen,25 die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten und die Raum-Zeit verzerren, bislang noch nie direkt nachgewiesen.26 Es ist ein kategoriales Missverständnis, den quantenmechanischen Raum wie ein realphysisch existierendes Etwas, wie ein Gerüst mit geometrischen oder physikalischen Eigenschaften zu behandeln. Der Raum der Naturwissenschaft als Dimensionskate­gorie mit grenzenloser, homogener, richtungsfreier Kontinuität und der ungeformten, gestaltlosen, unendlichen Ausdehnung ist die einheitliche Grundbedingung vielmöglicher räumlich-extensiver geometrischer Formen und Figuren – aber er selbst ist eben nicht räumlich geformt. Er hat weder Größe noch Maß wie die Gebilde in ihm. Der reine Raum hat den Charakter eines Idealmediums. Theorien, die auch heute noch den Äther als ein den Weltraum erfüllendes Material begreifen, sind daher höchst problematisch, denn der neue Äther ist nicht etwas Räumliches im Raum und er ist auch nicht mit dem leeren Raum identisch. Vielmehr ist umgekehrt „der Raum als Extensitätsprinzip ‚im‘ Äther und keinesfalls der Äther ‚im‘ Raum“27, wie Günther Petry in seiner philosophisch-ontologischen Analyse darlegt: 22 Planck: Vorträge und Erinnerungen. 23 Newton: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, S. 44. 24 Vgl. Wünsch: Der Erfinder der 5. Dimension. 25 Vgl. Einstein: „Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie.“; ders.: „Über Gravitationswellen“. 26 Vgl. Vitolini-Naldini: „Auf der Suche nach Gravitationswellen“. 27 Petry: Grundlagen für eine einheitliche Welt- und Materietheorie, S. 191.

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Der Raum überhaupt ist kein Medium, dessen Zustände die physischen Dinge sein könnten und ‚in‘ dem die räumlich-zeitlichen Quantendinge darinnen sind. Da wir dennoch niemals (es sei denn durch methodische Ausklammerung) um die Frage herumkommen, was der Träger von Bewegungen und Vorgängen, von Wellen und Schwingungen und Zuständen sei und ‚in‘ welchem Etwas die Naturdinge sind, bestehen und sich bewegen, so kommen wir notwendig auf eine absolute Substanz zurück, die im philosophischen Sinne bestimmt ist als das unendliche Leere, als das urgründige Weltmedium […].28 Für dieses Weltmedium existiert spätestens seit Einsteins Leidener Rede von 1920 ein neuer Ätherbegriff, der sich wesentlich vom Ätherbegriff Newtons, Fresnels und Lorentz’ unterscheidet. Der Äther der allgemeinen Relativitätstheorie basiert auf Ernst Machs Trägheitsversuchen, im Rahmen derer Äther als Vermittler der Trägheitswirkung akzeptiert wurde. Das prinzipiell Neuartige des Äthers der allgemeinen Relativitätstheorie gegenüber dem Lorentzschen Äther besteht darin, daß der Zustand des ersteren an jeder Stelle bestimmt ist durch gesetzliche Zusammenhänge mit der Materie und mit dem Ätherzustände in benachbarten Stellen in Gestalt von Differentialgleichungen, während der Zustand des Lorentzschen Äthers bei Abwesenheit von elektromagnetischen Feldern durch nichts außer ihm bedingt und überall der gleiche ist. […] Über die Rolle, welche der neue Äther im physikalischen Weltbilde der Zukunft zu spielen berufen ist, sind wir noch nicht im klaren. Wir wissen, daß er die metrischen Beziehungen im raum-zeitlichen Kontinuum, z.B. die Konfigurationsmöglichkeiten fester Körper sowie die Gravitationsfelder bestimmt; aber wir wissen nicht, ob er am Aufbau der die Materie konstituierenden elektrischen Elementarteilchen einen wesentlichen Anteil hat.29 Für Einstein existieren daher „zwei begrifflich vollkommen voneinander getrennte, wenn auch kausal aneinander gebundene Realitäten, nämlich Gravitationsäther und elektromagnetisches Feld oder – wie man sie auch nennen könnte – Raum und Materie“30. Damit wird deutlich, dass für Einstein der Raum seiner allgemeinen Relativitätstheorie wesensgleich ist mit dem, was er den „neuen Äther“ nennt, wenn auch Einstein ausdrücklich darauf hinweist, dass man sich diesen Äther keinesfalls als aus „verfolgbaren Teilen“ bestehend denken dürfe.

28 Ebd. S. 117f. 29 Einstein: „Äther und Relativitätstheorie“, S. 120f. 30 Ebd. S. 123.

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Es ist offenkundig, dass sich einige Grundmomente des Raumes auf den Äther übertragen lassen. Auch der Äther als absolut statisches Grundmedium ist ein unbestimmtes, gestaltloses, grenzen- und größenloses Kontinuum. Vielleicht kann man sagen, dass der neue Äther das Raumprinzip als potentielle Dimension für die Vielmöglichkeit des Räumlichseienden bestimmt und damit ganz im Sinne heutiger sozialwissenschaftlicher Spacing-Konzepte Raum als die „relationale Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“31 definiert, die weder physisch vorgegeben noch naturalisierbar sind. Aber – und damit steht der Äther im Gegensatz zur Raumkategorie im Allgemeinen und zur Konstitution von Raum als sozialem Produkt im Speziellen – als Bedingungsgrund für die physikalischen Realsubstrate Licht und Materie muss dem Äther im Einklang mit der Relativitätstheorie und im Sinne eines ontologischen Weltfundamentes realphysische Existenz zugeschrieben werden, wie dies Einstein selbst nahe legt: Nach der allgemeinen Relativitätstheorie ist der Raum mit physikalischen Qualitäten ausgestattet; es existiert also in diesem Sinne ein Äther. Gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie ist ein Raum ohne Äther undenkbar; denn in einem solchen gäbe es nicht nur keine Lichtfortpflanzung, sondern auch keine Existenzmöglichkeit von Maßstäben und Uhren, also auch keine räumlich-zeitlichen Entfernungen im Sinne der Physik. Dieser Äther darf aber nicht mit der für ponderable Medien charakteristischen Eigenschaft ausgestattet gedacht werden, aus durch die Zeit verfolgbaren Teilen zu bestehen; der Bewegungsbegriff darf auf ihn nicht angewendet werden.32 Das formlose Medium Äther ist als die statische, ruhende Voraussetzung nicht raum-zeitlich präformiert. Die in der Veränderung harrende Äthersubstanz ist in ihrer unräumlichen, richtungsindifferenten kontinuierlichen Ausdehnung nicht selbst etwas im Raum und ist in ihrer absolut geschehnislosen Unzeitlichkeit nicht etwas in der Zeit. Der Äther ist zwar kein reales Etwas in Raum und Zeit, dennoch ist er „als ‚materia prima‘ Prinzip und constituens des räumlich-zeitlich Seienden. Indem ‚an‘ dem Medium die Veränderung als zeitlicher Ablauf (motus successivus) erfolgt, entsteht der extensiv seiende und diskret geformte Andauerzustand der Bewegtheit.“33 Jenseits seiner begrenzten und geformten Veränderungsvorgänge ist der Äther nicht größenbestimmt. Im Gegensatz zur Raumdimension kann der Äther nicht als homogen und isotrop betrachtet werden, denn seine freien, 31 Löw: Raumsoziologie, S. 160. 32 Einstein: „Äther und Relativitätstheorie“, S. 123. 33 Petry: Grundlagen für eine einheitliche Welt- und Materietheorie, S. 187.

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zustandsbeharrlichen, gleichförmig und formkonsistent andauernden Eigenprozesse sind nicht nach ihren extensiven und intensiven Grundbestimmungen größengleich. Er ist nicht messbar, physikalisch sozusagen leer; er ist ein überempirisches Apeiron.34 Kann er auch nicht per se erfasst werden, umso exakter mittelbar von seinen Bewegungsvorgängen und Veränderungsprozessen her. Dies lässt sich insbesondere an Hilgenbergs Erdexpansionshypothese verdeutlichen, die bis in die 1960er Jahre noch gleichberechtigt zu Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung existierte35 und das, obwohl der Äther seit 1905 angeblich längst abgeschafft war.

Erste Ableitung: Geophysik Seit Mitte der 1950er Jahre wurde mit Hilfe von Atomuhren eine Verlangsamung der Erdrotation diagnostiziert.36 Laut Drehimpulssatz der Physik müsste daraus eine Erdexpansion resultieren. „In Zahlen ausgesprochen heißt das: die 0,7 Sekunden pro Jahr Verlangsamung der Erdrotation müssten genau 19 cm Wachstum am Erdumfang pro Jahr entsprechen.“37 Paläontologen könnten nach dieser Theorie Größe und Gewicht der Dinosaurier erklären, wenn sie für deren Zeitepoche von einer kleineren Erde und damit einer geringeren Schwerkraft ausgehen.38 Ob es tatsächlich messbare Beweise für ein Erdwachstum gibt, wie von Michihei Hoshino, Konstantin Meyl, Ilton Perin oder Giancarlo Scalera behauptet,39 kann hier nicht geklärt werden; die allgemein vertretene These von der Verschiebung der Kontinentalplatten scheint jedenfalls diskussionswürdig.40 Stattdessen 34 Vgl. ebd. S. 118. 35 Heinz Haber widmete 1965 in der ZDF-Reihe „Unser blauer Planet. Die Entwicklungsgeschichte der Erde“ der Theorie vom wachsenden Erdball eine ganze Sendung. In seinem gleichnamigen Buch ist sogar davon die Rede, dass die „Theorie Wegeners aufgegeben werden mußte“ (Haber: Unser blauer Planet, S. 47). 36 Vgl. Nelson: „The Leap Second: Its History and Possible Future“; Panella: „Paleontological Evidence of the Earth´s Rotational History since early Precambrian“; Veselov: „Chance Coincidences or Natural Phenomena“. Schon Immanuel Kant war von der Hemmung der Erdrotation durch die Gezeitenströmungen im Meer überzeugt. Vgl. Kant: „Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wodurch sie die Abwechselung des Tages und der Nacht hervorbringt, einige Veränderung seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe“. 37 Konstantin Meyl in: Und sie bewegt sich doch! Ein Film über die wachsende Erde (Arte, 31.01.2007, Regie: Franz Fitzke). 38 Vgl. Hurrell: Dinosaurs and the Expanding Earth. 39 Vgl. Hoshino: The Expanding Earth; Meyl: „Erdwachstum durch Neutrino-Power“, S. 2; Perin: „The Expanding Hemispheric Ring“; Scalera: „The Expanding Earth“. Zur Kritik vgl. Bruhn: „Anerkennung meilenweit entfernt“. 40 Vgl. Pratt: „Plate Tectonics“.

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gibt es eine Reihe von Hypothesen, die den geophysikalischen Quellmechanismus der Erde zu erklären versuchen. So geht der Feldphysiker Meyl davon aus, dass Neutrinos aus dem Weltall vom Erdkern absorbiert und materialisiert werden und dadurch die Masse der Erde wächst.41 Wenn die Masse der Erde zunimmt, dann muss unser Planet Nahrung erhal42 ten. Quelle dafür kann nur der Kosmos sein. Auch der kosmische Äther kommt damit als Quelle des Massenzuwachses wieder in Frage.43 Von naturwissenschaftlicher Seite wird jedenfalls vermutetet, dass Himmelskörper einen kosmologischen Stoff absorbieren und ihn in ihrem Inneren zu Materie verwirbeln, wobei Wärme produziert wird.44 Wenn im Erdinneren eine Art Quantenäther 45 sich ständig zu einer realphysischen Substanz verwandelt und verdichtet, muss die Erdkugel Äther einsaugen. Dann befinden wir uns in einer Ätherströmung, die alle Körper ins Erdinnere mitreißt und so unsere Gravitation (pushing gravity) bewirkt. Damit wird die alte Schirmtheorie des Schweizers George-Louis Le Sage (1782) reanimiert, die annimmt, dass jeder Himmelskörper durch eine „kosmische Ätherströmung“ von allen Richtungen her durchdrungen wird.46 Wie lässt sich die wachsende Zahl der Veröffentlichungen zu Hilgenbergs Theorie vom Wachstum der Erde durch Aufnahme von kosmischem Äther erklären,47 obwohl 1920 ein physikalisch leerer, materieloser Äther eingeführt wurde? Es hat im Wesentlichen mit dem Untersuchungsgegenstand selbst zu tun. Für diese Theorie trifft eindeutig zu, dass sie nur von den Veränderungsprozessen her erfasst werden kann. Über die Ursachen des Erdwachstums können nur Vermutungen angestellt werden. Sie lassen sich empirisch nicht ergründen. Die Bedingungen für ein unermessliches, unwägbares und unendliches Substanzmedium, ein Apeiron sind also erfüllt, ob man es nun Äther oder Neutrinos nennt.

41 Vgl. Meyl: „Erdwachstum durch Neutrino-Power“. 42 „From a philosophical standpoint, an analogy exists between organic matter, characterized by assimilation of food, and anorganic (or falsely called) ‚dead‘ matter, for aether is being the ‚food‘ of anorganic matter“ (Hilgenberg: Geotektonik, neuartig gesehen, S. 188). 43 Vgl. Hilgenberg: Vom wachsenden Erdball, S. 29-35; Kokus: Toward a New Paradigm; Krafft: Der Äther und seine Wirbel. 44 Vgl. Carey: The Expanding Earth; Carey: Theories of the Earth and the Universe; Scalera/Jacob: Why Expanding Earth?; Veselov: „Chance Coincidences or Natural Phenomena“. 45 Vgl. Levin/Wen: „Quantum Ether“; Oesterle: Goldene Mitte; Sidharth: „The Mysterious Dark Energy“. 46 Vgl. Edwards: Pushing Gravity. 47 Vgl. Scalera: „Bibliographical Sources for the Expanding Earth“, S. 421.

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Zweite Ableitung: Astrophysik Ob Twistoren48, Gyronen49, Beltrami-Strömungen50 oder das Neutrino-Meer51, der Äther hat in neuem Gewand längst wieder Einzug in die Physik gehalten. Die Renaissance des Äthers fällt dabei nicht zufällig zusammen mit der Entmachtung der Materie in der modernen Physik. Was über Jahrhunderte als Grundstoff der Welt galt, entpuppt sich als Randphänomen. Nur zu ein paar Prozent besteht unser Universum aus sichtbarer Materie. Für Schätzungsweise 95 Prozent des kosmischen Inventars haben Forscher bislang wenig mehr als Namen, und schon die sind mysteriös genug: Dunkle Materie und Dunkle Energie. Das All ist erfüllt von etwas, was wir nicht sehen, und wird getrieben von einer Kraft, die wir nicht verstehen.52 Ob man zur Erklärung des „Weltenschaums“ nahtlos an Äther-Theorien anknüpfen kann, sei dahingestellt. Dennoch ist die heutige Lage der Physik mit jener um 1900 vergleichbar. Auch damals galt das physikalische Weltbild, dank der Newtonschen Mechanik, der Gibbschen Thermodynamik und der Maxwellschen Elektrodynamik, als fast vollendet. Lediglich der Äther entzog sich dem experimentellen Nachweis, und beim Beheben des vermeintlich lapidaren Ätherproblems brachte Einstein das gesamte Theoriegebäude der klassischen Physik zum Kollabieren. Heute ist es das Standardmodell der Elementarteilchenphysik, das über – darin herrscht in der Physik offenbar Konsens – behebbare Schönheitsfehler verfügt. Das Standardmodell beschreibt die bekannten Elementarteilchen und drei der vier fundamentalen Naturkräfte. Es enthält die Quantenfeldtheorien der starken, schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkung. Die 1964 entwickelte Modellvorstellung, die die Grundbausteine der Welt in 17 Teilchenarten ordnet, hat seither alle neu entdeckten Elementarteilchen vorhergesagt. Die Übereinstimmung mit der experimentellen Wirklichkeit ist nahezu perfekt – bis auf ein lästiges Detail: Das allerletzte Teilchen, das sogenannte Higgs-Boson, ist noch immer nicht nachgewiesen worden. Zudem kann das Standardmodell die Schwerkraft nicht erklären, dazu braucht es die allgemeine Relativitätstheorie.53 48 Vgl. Penrose/MacCallum: „Twistor Theory“. 49 Vgl. Meno: „Photons, Electrons, and Gravitation as Aether Dynamics“. 50 Vgl. Reed: „Beltrami Vector Fields in Electrodynamics“. 51 Vgl. Reinhardt: „Neuere Probleme der Kosmologie“. 52 Hürter: „So viel Anfang war nie“, S. 29. Vgl. auch Dvali: „Neutrino Probes of Dark Energy“. 53 Eine konsistente Quantenfeldtheorie der Gravitation (Quantengravitation), die die

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Wir stehen heute vor ähnlichen Herausforderungen wie zur Zeit des Fin de siècle, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied. Während es Ende des 19. Jahrhunderts experimentelle Befunde waren, die zur Entwicklung der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik führten, ist es heute umgekehrt: Die Theorie wird nicht mehr von Experimenten vorangetrieben, sondern muss auf sie warten. „Heute ist das meiste, was Theoretiker über die Grundlagen der Physik publizieren, nicht überprüfbar“54. So ist der heiß gehandelte Kandidat für eine Theory of Everything, die Stringtheorie, reine Mathematik. Die Trennung zwischen Philosophie, Kosmologie und Teilchenphysik ist faktisch aufgelöst. Mit dem neuen Cern-Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider) verbindet sich die Hoffnung, dem reinen Denken zu entfliehen. Das Cern war stets an vorderster Front der Netzwerktechnik. Hier wurden die WWW-Protokolle entwickelt, und hier entsteht derzeit der Internetnachfolger Grid. Sollte das Cern auch diesmal einen Medienumbruch einläuten und durch den Nachweis einer Äther 2.0-Theorie die Physik aus ihrer Grundlagenkrise befreien? Das Wiederaufflammen der Äther-Diskussion findet also nicht von ungefähr zu Zeiten einer erneuten Krise der Physik statt. „Nach der kopernikanischen Revolution blieb die Physik für 150 Jahre zerrissen, bis Isaac Newton sie wieder einte. ‚Heute scheint sie wieder völlig zerrissen‘, sagt Carlo Rovelli von der Universität Marseille.“55 Mit dem ätherischen Rezidivieren ist somit auch die nostalgische Hoffnung verbunden, zu einer empirischen Physik zurückzukehren, die durch Laborexperimente noch theoretische Weltbilder zum Einsturz bringen konnte. Dieses Bedürfnis scheint die Physik mit der Medienwissenschaft zu teilen.

Dritte Ableitung: Mediengeographie In Joe Milutis’ Pastism-Manifest Ether. The Nothing That Connects Everything dient Äther nicht nur als Netzwerk und Assoziationsgerüst zur Beschreibung medialer Zwischenräume. Was Milutis antreibt, ist die Sehnsucht nach der naturwissenschaftlichen und philosophischen Polysemie des Äthers im 19. Jahrhundert. Dies ist mit der romantischen Hoffnung verbunden, man könne mit dem Raummedium Äther die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts wie auch die Zukunft des 21. Jahrhundert neu erzählen und gestalten: „the ethereal ur-medium holds out the fantasy (or dare we say ‚possibility‘) of return to something immediate

beiden großen physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts, die Quantentheorie und die allgemeine Relativitätstheorie, vereinigt, befindet sich noch in der Entwicklung (vgl. Vaas: Tunnel durch Raum und Zeit). 54 Lee Smolin, zitiert nach Hürter: „So viel Anfang war nie“, S. 29. 55 Hürter: „So viel Anfang war nie“, S. 29.

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that has been lost but is not irretrievable.“56 Insofern verwundert es auch nicht, dass gerade aus der Medienpraxis ein Festhalten am Medium Äther (und der dazugehörigen Erdexpansionstheorie) propagiert wird.57 Gerade die Entwicklung im Bereich des neuen Felds der Geomedien wie Navigations- und Ortungssysteme lässt die Theorie von der vollständigen oder teilweisen Mitführung des Äthers durch bewegte Körper wieder aufleben.58 Satellit und Empfänger des Global Positioning Systems (GPS) müssen exakt (atomuhrgenau) synchronisiert werden, um durch die Signallaufzeitmessung die Position bestimmen zu können, heißt es oft lapidar in der Fachliteratur zur Satellitennavigation.59 De facto wird aber die Eigenfrequenz jeder GPS-Satellitenuhr um einen konstanten Faktor korrigiert, was sowohl als Nachweis für die Gültigkeit der Relativitätstheorie als auch als Nachweis für das Vorhandensein von erdnahem Ätherwind angesehen wird.60 Dass es sich bei letzterem eher um äther-esoterische Verschwörungstheorien handelt, muss allerdings einschränkend bemerkt werden. Aber die Aufgabe der Medien(-wissenschaft) war es ja schon immer, die phänomenologische Belegleistung für eine in Frage gestellte Realität zu leisten.61 Dieses Beispiel sowie die Diskussion in der Naturphilosophie als auch in der Geo- und Astrophysik zeigt: Partikular existiert auch heute noch ein Äther, der naturwissenschaftliche und spiritistische Diskurse als ineinander übersetzbar erschei56 Milutis: Ether, S. xv. 57 Vgl. Dyson: „Wireless Affections“. Vgl. die Arte-Dokumentation „Und sie bewegt sich doch! Ein Film über die wachsende Erde“; der Autor Franz Fitzke ist ZDF-Umwelt-Redakteur. Vgl. auch Varesi: „Erweiterte spezielle Relativitätstheorie“; in Varesis Vita ist zu lesen: „Im Medienverband der TV-Branche Eyes & Ears of Europe leitet er den Arbeitskreis Mobilfunk und arbeitet zusammen mit den großen TV-Sendern an der Gestaltung der mobilen Zukunft des Fernsehens“ (http://www.einstein-relativity.de/01abb5965b0ba2a01/index.html, 31.05.2007). Zu Cyborgs als Äther vgl. Haraway: „A Manifesto for Cyborgs“, S. 195. Darüber hinaus gibt es eine Reihe verschiedener Aether Art-Projekte. Vgl. hierzu insbesondere http://www.aether.hu, 31.05.2007. 58 So hat sich selbst Friedwardt Winterberg, der 1955 die Basis für das Global Positioning System (GPS) legte, in den 1990er Jahren zu einem Äthertheoretiker entwickelt. Vgl. z.B. Winterberg: The Planck Aether Hypothesis. 59 Vgl. Roth: Mobile Computing, S. 254f. 60 Während Uhren auf der Erde mit 10,23 Mhz ticken, werden Satellitenuhren auf die etwas kleinere Frequenz 10,229999995453 Mhz geeicht. „Man tut (und rechnet) so, also ob die Satelliten-Eigenfrequenz 10.23 Mhz wäre und kümmert sich nicht weiter um die Relativitätstheorie“ (Embacher: „Relativistische Korrekturen für GPS“). Vgl. auch Campbell: „GPS im Schatten des Uhrenparadoxons“. Äthertheoretiker hingegen leiten die notwendige Zeitkorrektur der Satellitenuhr aus der Geschwindigkeit des Ätherwindes ab. Vgl. Bourbaki: „Das Bourbakische Ätherwindmeßgerät“; Nasselstein: Erstrahlung, Überlagerung und Relativität. 61 Vgl. Matzker: „Menschen, Medien, Mythos und Metaphysik“, S. 13.

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nen lässt. Wie auch schon bei Aristoteles kommt dem imponderablen Einheitsmedium Äther nach wie vor die Aufgabe zu, das Prinzip der Fülle zu sichern,62 wie die Theorie vom Wachstum der Erde belegt. So wird demnächst von den Geographen Jim Craine, Jason Dittmer und Chris Lukinbeal eine neue wissenschaftliche Zeitschrift namens Aether – The Journal of Media Geography herausgegeben, die zwar nicht wie etwa bei Milutis die topologische, aber die topographische Dimension der verschiedenen Einzelmedien zu erfassen versucht. Äther repräsentiert hier (als fünfter Urkörper, als Quintessenz) die Einheit des multimedialen Kosmos, die „kohärente Raumerfüllung“63, und zwar nicht – darauf kommt es hier an – als Luftmedium, sondern als Erdmedium: „Aether offers a forum that examines the geography of media, including cinema, television, the Internet, music, art, advertising, newspapers and magazines, video and animation.“64 Die derzeit Konjunktur erlebenden Auseinandersetzungen mit Geomedien – also Medien, über die sich Räume konstituieren65 – machen etwas sichtbar, was im relativistischen Raumverständnis der modernen Physik wie auch im relationalen Sozialraumentwurf ausgespart bleibt: nämlich dass Medien nicht nur Werkzeuge, sondern selbst Weisen der Welterzeugung sind.66 Dieser Aspekt hat höchstwahrscheinlich die Bedeutung des Äthers seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stärker beeinflusst als Einsteins Relativitätstheorie allein dies jemals geschafft hätte. Die Geschichte der Äthernachweise ist der beste Beweis dafür, dass „Denkkollektive“67 physikalische Wirklichkeit erzeugen. Hier trifft bereits das zu, was ein Jahrhundert später Lothar Schäfer am Beispiel der Entdeckung der Wund Z-Bosonen gezeigt hat: „Das Fundament der Wissenschaft, wenn diese Rede überhaupt statthaft ist, sind nicht die harten Fakten, sondern die in Laboratorien praktizierten Denkstile.“68 Der Blick ins Labor erweist die wissenschaftliche Erkenntnis als ein soziales und vor allem mediales Konstrukt. Um es mit Friedrich Kittler zu sagen: „Mit dem Schein Wirklichkeit schaffen ist der entscheidende Punkt und das, was den technischen Medien zum Erfolg verhilft.“69

62 Vgl. Lovejoy: The Great Chain of Being, Kap. IV, V. 63 Böhme: „Das Volle und das Leere“, S. 45. 64 Center for Geographic Studies at California State University: Aether – The Journal of Media Geography, Northridge 2007, http://geogdata.csun.edu/~aether/, 31.05.2007. 65 Dies betrifft nicht nur den Äther, sondern auch das gesamte Feld der neuen kartographischen Praktiken, sei es im Geomarketing, beim Geotagging von Fotos auf der Tauschplattform Flickr oder bei der Nutzung von Google Earth. 66 Vgl. Krämer: „Das Medium als Spur und Apparat“. 67 Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. 68 Schäfer: „Die Erscheinung der Natur unter Laborbedingungen“, S. 27. 69 Friedrich Kittler nach Matzker: „Menschen, Medien, Mythos und Metaphysik“.

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Die Vorstellung vom physikalisch leeren, absolut unveränderten Äther, der nicht materiell ist und von daher auch keine dynamisch-räumlichen Wirkungen erfahren kann, deckt sich – das ist das Paradoxe – mit einem Experimentalbefund von Michelson und Morley, den es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Die technischen Medien und ihre Symbolisierungen fabrizieren Realitäten innerhalb des Fiktiven – oder wie es Schäfer ausdrückt: „Die Technizität des Wissens und die Konstruktion der Tatsachen sind zwei Seiten derselben Medaille und sie sind untrennbar voneinander.“70 Wie dieser Beitrag zeigt, wird am Äther-Nachweis die Verschränkung von instrumenteller Aufbereitung der Bedingungen des Natur-Erscheinens und dem entsprechenden Wirklichkeitskonzept besonders deutlich. Man kann daher zu Recht feststellen, dass Äthertheorien – oder präziser gesagt, die fehlinterpretierten, mythifizierten Michelson-Morley-Versuche – zentral an jenem Medienumbruch beteiligt waren, der die Medienwissenschaft selbst hervorgebracht hat.71 Die unvollständige und fehlerhafte Durchführung des Michelson-Morley-Experiments wurde allerdings nicht von der Medienwissenschaft, sondern 1993 von den Technik- und Wissenschaftssoziologen Collins und Pinch aufgedeckt. Daher muss man konstatieren: „Die Physik ist für die Physiker viel zu schwer, wenn ihnen die Soziologie [und die Medienwissenschaft, T.T.] nicht kritisch dabei hilft.“72

Ausleitung Resümierend lässt sich feststellen, dass die Wiederbelebung der Äthertheorien und -diskurse nicht zufällig im Zusammenhang mit einem vielerorts diskutierten spatial turn steht,73 dem in diesem Fall durchaus ein Rückfall in ein essentialistisches Raumverständnis attestiert werden kann.74 Schließlich wird die binäre Opposition von sozialem Praxisraum und physischem Raum offenbar erst durch Geomedialität, die Untersuchung medialer Territorialitäts- und Raumkonstitutionen, sinnvoll überwunden. Versteht man im Sinne Petrys den Raum als Dimensionssystem im Äther und nicht umgekehrt den Äther im Raum, scheint das urgründige Weltmedium nicht von ungefähr auch in Form der erd- und kabelgebundenen Datennetztechnologie Ethernet, „that resides in the basements of institutional space and facilita-

70 Schäfer: „Die Erscheinung der Natur unter Laborbedingungen“, S. 22. 71 Vgl. Vorwort von Albert Kümmel-Schnur und Jens Schröter in diesem Band. 72 Mueller: „Über die absolute Größe der Speziellen Relativitätstheorie“, S. 42. 73 Vgl. Döring/Thielmann: Spatial Turn. 74 Vgl. Lippuner/Lossau: „In der Raumfalle“.

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tes local area networks“75, auf die „Bodenhaftung der Netzwerkgesellschaft“76 zu deuten. Der ätherische spatial turn erscheint dabei im Gewand neuer (alter) naturwissenschaftlicher Befunde, um einen erkenntnistheoretischen Geo- bzw. Labordeterminismus wiederzubeleben, der in den letzten Jahrzehnten – insbesondere im Zuge des Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus oder Radikalen Konstruktivismus – verloren ging. Der Äther erlebt also seine Wiedergeburt, (a) wo geophysikalische oder kosmologische Veränderungsprozesse detektierbar sind, die einer empirischen Erklärbarkeit entbehren, oder (b) als holistische, topologische Dimension mediengeographischer Diskurse. Das imponderable Medium ist – darin liegt die neue Wendung – weniger im Sinne einer Einheit des Wissens von Wissenschaft und Esoterik als vielmehr in Form einer geomorphologischen Einheit der Einzelmedien zu begreifen. Die immaterielle und unwägbare Realität dieses Äthers ist dennoch nicht gleichzusetzen mit der allgemeinen spirituellen Weltsubstanz Newtons,77 auch wenn diese ebenfalls nicht als materieller Stoff aufgefasst wird. Als physikalisch leere, überempirische Messgröße wird der neue Äther offenbar erst dann für die Medien(-wissenschaft) interessant, wenn er zum einen als Einheitsgeomedium, zum anderen als Erklärungskonstrukt für das nicht Ergründbare – und das im wahrsten Sinne des Wortes – dienen kann. Dadurch wird im Grunde erst jetzt historisch bewusst, dass der gesamte Prozess der Abschaffung des Äthers primär einen medien- und apparatetechnischen Diskurs darstellt. Die Medienwissenschaft belebt an dieser Stelle ein Medium wieder, das aus heutiger Sicht, wenn überhaupt, lediglich für den Zeitraum von 1905 bis 1920 als abgeschafft gelten kann. Zumindest die Medienwissenschaft müsste die Existenz des Äthers anerkennen. Doch ob das die Physik beeindruckt?

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75 Milutis: Ether, S. ix. 76 Potthast: Die Bodenhaftung der Netzwerkgesellschaft. 77 Vgl. Buchwald: Isaac Newton’s Natural Philosophy.

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Christian Kassung, Marius Hug

Der Raum des Äthers Wissensarchitekturen – Wissenschaftsarchitekturen

,Es ist kein Zufall, dass‘ Wissenschaftsgeschichte ist voller mysteriöser Gleichzeitigkeiten. Doch oft bleibt die rhetorisch so effiziente Formel ,es ist kein Zufall, dass‘ nichts anderes als eine bloß temporale Koinzidenz zweier willkürlich ausgewählter Ereignisse oder Phänomene. Vielleicht besonders drastisch illustrieren dies Querverbindungen, die zwischen der Einsteinschen Relativitätstheorie einerseits und der Architekturgeschichte andererseits gezogen werden: Die Auflösung absoluter Raum- und Zeitgrößen kann einfach nicht spurlos an der Architektur vorübergegangen sein – doch was heißt das konkret?

Abbildung 1: Astrophysikalisches Observatorium Potsdam.

Wir möchten im Folgenden versuchen, einige Verbindungslinien zwischen einer neuen Wissensarchitektur in der Folge der Relativitätstheorie und der zeitgleichen Wissenschaftsarchitektur am Beispiel einer einzigen Koinzidenz so genau wie möglich zu analysieren. Als Albert Einstein am 5. Mai 1920 seine berühmte Rede „Äther und Relativitätstheorie“ an der Universität Leiden hält, tritt gleich-

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zeitig die Bauplanung des ‚Einsteinturms‘ in Potsdam unter Erwin Finlay Freundlich und Erich Mendelsohn in seine entscheidende Phase.1 Unter dem Druck seiner eigenen Popularität und der wissenschaftspolitischen Ereignisse im Nachkriegsdeutschland erläutert Einstein in den Niederlanden einem breiten Publikum seine Theorie, die soeben erstmals von Arthur Stanley Eddington bei einer Sonnenfinsternis in Brasilien und an der westafrikanischen Küste – am 29. Mai 1919 – experimentell bestätigt worden war. Welche wissensgeschichtliche Koinzidenz entspricht der temporalen Gleichzeitigkeit dieser Ereignisse? Wir möchten zunächst nur in aller Kürze einige Wissensstränge vorpräparieren, um diese später detailiert zu kontextualisieren. Einstein behauptet in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie unter anderem, dass Uhren auf der Oberfläche der Sonne langsamer gehen als auf der Erdoberfläche. Lichtstrahlen sind mit ihren Farben nichts anderes als Uhren, weshalb Spektrallinien durch die Gravitation nach ihrem roten Ende hin verschoben werden. Dieser Effekt ist außerordentlich klein und beträgt für die Gravitationswirkung der Sonne etwa den millionsten Teil der Lichtwellenlänge. Der Einsteinturm wurde gebaut, um diese Minimaldifferenz auflösen und visualisieren zu können. Zugleich spricht Einstein in Leiden davon, dass die Allgemeine Relativitätstheorie, deren Effekte man in Potsdam zu sehen hoffte, das Konzept des Äthers wieder mit ins physikalische Wissen hinein nahm. Fünfzehn Jahre zuvor hatte Einstein höchstpersönlich dem Äther mit der Speziellen Relativitätstheorie den zumindest theoretischen Garaus bereitet, was zu leidenschaftlichen wissenschaftlichen wie populärwissenschaftlichen Debatten geführt hatte. Stellte also die experimentelle Verifikation der Rotverschiebung im Einsteinturm eine neue semantische Füllung des Ätherbegriffs dar? Ließe sich ein solcher Zusammenhang (re-) konstruieren, so könnte es kaum ein Zufall gewesen sein, dass der Vortrag in Leiden und die Bauplanung in Potsdam ins gleiche Jahr fielen.

Vom Auszug der Observatorien Im preussischen Berlin bemühte sich kein Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz um die Gründung einer gelehrten Gesellschaft mitsamt astronomischem Observatorium. Nach beharrlichen Verhandlungen mit dem späteren König Friedrich I. sicherte 1700 die Kurfürstin Sophie Charlotte ihre finanzielle Unterstützung zu, um den Mittelpavillon des Marstalls in der Dorotheenstraße aufzustocken. So wurde der Architekt Martin Grünberg damit beauftragt, den Sternen zukünftig und gemeinsam mit der „Akademie der Künste“ nicht mehr auf 1 Zudem veröffentlicht Max Born in diesem Jahr seine „Relativitätstheorie Einsteins“ mit sehr aufschlussreichen Passagen zum Ätherproblem. Vgl. Born: Die Relativitätstheorie Einsteins.

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Augenhöhe mit den kurfürstlichen Pferden begegnen zu müssen. Dass mit diesen Maßnahmen der politische Wert der preußischen Residenzstadt aufgewertet werden sollte, sei hier ebenso nur am Rande erwähnt wie die Tatsache, dass im Gegensatz zu anderen Repräsentationsbauten der Turm der beiden Akademien nahezu vollständig schmucklos gestaltet war, sich dafür aber vollkommen selbstfinanzierte: durch ein Kalendermonopol.

Abbildung 2: Karl Fr. Schinkel, Entwurf der Sternwarte.

Dem immer wieder herangezogenen wie empfindlich gefürchteten Vergleich mit dem Pariser Observatorium konnte die Berliner Sternwarte in der Dorotheenstraße von Anfang an nicht gerecht werden. Entsprechend waren Gebäude wie Instrumente zu Anfang des 19. Jahrhunderts derart veraltet, dass sich Alexander von Humboldt persönlich einschalten musste. Nach seinem langen Parisaufenthalt plante Humboldt ein Berliner comeback. Um sein zweites Lebenswerk, den

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„Kosmos“ zu veröffentlichen, benötigte Humboldt ein wissenschaftliches Netzwerk, das eben zentral auch die Astronomie und damit die Berliner Sternwarte umfasste. Humboldt gelingt es, beim König Friedrich Wilhelm III. den notwendigen Druck für einen Neubau zu erzeugen, womit Karl Friedrich Schinkel beauftragt werden kann. Innerhalb von drei Jahren entsteht in der Nähe des Halleschen Tors, also am Rande des damaligen Stadtbezirks, ein kreuzförmiges Gebäude, in dessen Zentrum sich unter einer Kuppel der neue Refraktor mit einem Durchmesser von etwa 7,5 Metern befindet. Funktional hatte man entscheidende Konsequenzen aus dem dorotheenstädter Bau gezogen: Das Isolieren dieser Mauermassen von den Umfangsmauern der Räume, und die dadurch entstehenden geschlossenen Luftschichten tragen vorzüglich dazu bei, die Einwirkung von Wärme, Kälte und Nässe auf Ausdehnung und Zusammenziehung dieser Massen zu beseitigen, und die Unbeweglichkeit der darauf gestellten Instrumente zu sichern. Zu diesem Behuf ist auch die Einrichtung getroffen, die hölzernen Fußböden um die Instrumente völlig von diesen durch kleine Zwischenräume entfernt zu halten, wodurch jede Erschütterung derselben unmöglich wird.2 Im Gegensatz dazu waren die Unterschiede im Äußeren nicht so deutlich. Der für Schinkels Spätwerk so charakteristische Klassizismus rückt den Neubau von 1835 in seiner wissenschaftsarchitektonischen Hauptaussage sehr in die Nähe der Grünbergschen Sternwarte: Hinter diesen Mauern wird nüchterne, klare und schnörkellose Wissenschaft betrieben. Das Beispiel der Neptunentdeckung symbolisiert dieses Wissenschaftsverständnis geradezu perfekt: Es werden nicht beliebig-zufällige Beobachtungen ex post durch Theorien erklärt, sondern das Theoriegebäude der klassischen Himmelsmechnik Newtons wird durch die Empirie zielsicher bestätigt. Dass der Neptun erst mit einer bezeichnenden Verspätung astronomisch dingfest gemacht werden konnte, hat sehr viel mit dem wissenschaftsinternen Verständnis von Störungen zu tun, was in diesem Zusammenhang jedoch nicht weiter ausgeführt werden soll.3 Die Geschichte der Stadtflucht aufgrund zu starker Erschütterungen der Instrumente wiederholt sich ein zweites Mal, als der damalige Leiter der Berliner Sternwarte, Wilhelm Förster, in einer Denkschrift von 1871 vorschlägt, ein neues astrophysikalisches Observatorium außerhalb von Berlin zu errichten. 1876 beginnen die Bauarbeiten auf dem Telegraphenberg bei Potsdam unter der Leitung von Paul E. Spieker, einem an der Bauakademie ausgebildeten Architekten aus

2 Schinkel: Sammlung architektonischer Entwürfe, S. 202. 3 Vgl. hierzu Wilderotter: „Auf welcher Höhe liegt der Olymp?“, S. 31-36.

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der ‚Enkelgeneration‘ der Schinkelschule.4 Die orientalisch anmutenden Sichtziegelbauten zeigen eine recht starre Winkligkeit und signalisieren alles andere als Modernismus von Wissenschaftsarchitektur. Demgegenüber vollzieht sich im Inneren der Gebäude der entscheidende Umbau der Wissensarchitektur weg von der klassischen Astronomie.

Abbildung 3: Erster Spektrograph von 1888 am Refraktor in der Hauptkuppel des Astrophysikalischen Observatoriums in Potsdam.

Bisher war das Licht, das von Sternen und Planeten zur Erde gesendet wurde, lediglich der neutrale Bote und Überbringer von Informationen zur Position und Bewegung der Himmelskörper. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber beginnt man sich für das Licht selbst zu interessieren, womit es als Medium zu einer eigenen Botschaft wird. Neben der Photometrie Karl Friedrich Zöllners ist es die Spektralanalyse, die empirisch begründet, was Astrophysik in der Nachfolge der Astronomie wissensgeschichtlich meint: Jeder Körper sendet ein ganz spezifisches Licht aus, das auf seinem Weg durch das Universum in ganz individueller Weise verändert wird. Als Gustav Kirchhoff und Robert Wilhelm Bunsen 1859 in bester Goethescher Tradition das Licht verbrennender Gase mithilfe eines Prismas spektral zerlegten, zogen sie im Gegensatz zu Goethe die richtigen Konsequenzen: Jedes chemische Element besitzt ein charakteristisches Linienspektrum. Im Licht eines Himmelskörpers lässt sich seither sein physikalisch-chemischer 4 Vgl. Bernhard: „Merkwürdig fremde und doch überzeugende Schönheit“.

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Aufbau wie an einem Fingerabdruck ablesen. Damit wird das Licht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Medium im modernen Wortsinne und verlangte dementsprechend nach einer neuen Wissensarchitektur.

Vom Wissen des Äthers Was hat diese Stadtflucht der Berliner Observatorien mit dem Äther zu tun? Und wie lässt sich eine solche Frage beantworten, ohne damit zugleich die gesamte Geschichte dieses naturphilosophisch-physikalischen Konzepts entfalten zu müssen? An dieser Stelle mag ein Sprung vor und wieder zurück helfen, d. h. erst in den Leidener Vortrag „Äther und Relativitätstheorie“ aus dem Jahr 1920 und dann in dessen eigene historische Voraussetzungen hinein. Denn natürlich operiert auch Einstein geistes- und kulturgeschichtlich besehen alles andere als voraussetzungslos, womit das Terrain einer Wissensgeschichte des Äthers vorgezeichnet ist, das es im Folgenden und in aller Kürze abzustecken gilt. Einstein beginnt seinen Vortrag mit einer Frage an sich selbst bzw. an die Zunft der Physiker. Worin liegt begründet, dass diese – eben die Physiker – „neben der der Abstraktion des Alltagslebens entstammenden Idee, der ponderablen Materie, die Idee von der Existenz einer anderen Materie, des Äthers, […] setzen“?5 Es gehört seit jeher zu den zentralen Debatten der Naturphilosophie, ob der Raum unabhängig von der Materie existiert oder ob er immer schon mit irgendwelchen Eigenschaften ausgestattet sein muss, ohne die sich die Bewegung der Materie in ihm – und in der Zeit – nicht erklären lässt. Offensichtlich spricht Einstein hier von einer Trias aus einem abstrakten Raum als der Bedingung der Möglichkeit, dass etwas oder nichts in diesem Raum ist, der schweren Materie in diesem Raum und einem ebenfalls materiellen Äther. Diese Trias bildet eine überaus komplexe Konfiguration, deren Geschichte von Einstein nicht erwähnt, wohl aber als begriffliches Instrumentarium vorausgesetzt, verwendet und sehr spezifisch angeeignet wird. Innerhalb einer longue durée der Ätherhypothese ist die zentrale Referenzfigur das Aristotelische Plenarmodell. Gedankliche Grundlage dieses Modells ist, dass alles einen Ort hat, was gleichbedeutend mit einer strikten Trennung der Welt in Körper (Materie) und deren Orte (Raum) ist. Als drittes kommt die Zeit von dem Moment an ins Spiel, wo etwas geschieht, d. h. wo sich etwas verändert oder bewegt:

5 Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 3.

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Es gibt aber keine Veränderung abgesehen von den Dingen: es wandelt sich ja je das sich Wandelnde entweder seinem Wesen nach oder nach dem „wieviel“ oder dem „wie geartet“ oder nach dem Ort […].6 Dass alles Wahrnehmbare die Eigenschaft besitzt, „irgendwo zu sein“7, ist dabei nur die eine Hälfte der Medaille. „Ebenso wie jeder Körper an einem Ort, genauso (ist) auch an jedem Ort ein Körper.“8 Es gibt demnach für Aristoteles keinen Ort ohne Körper, bzw. keinen Ort, an dem kein Körper ist. Im Plenarmodell ist der Raum immer stofflich gefüllt, der horror vacui zeigt sich von seiner eindeutigsten Seite. Um die Bewegung der Dinge genauer spezifizieren zu können, übernimmt Aristoteles die vorsokratische Idee der Vier-Elemente-Lehre, allerdings weniger substantiell als prozessual-kombinatorisch gedacht. Erde, Wasser, Luft und Feuer treten in Kombinationen auf, d. h. trocken und warm ist das Feuer, feucht und warm ist die Luft, trocken und kalt ist die Erde, feucht und kalt ist das Wasser. Damit ist jede natürliche Bewegung ein Zustandswechsel, mithin strikt teleologisch gedacht: Weiter, die Bewegungen der natürlichen einfachen Körper, wie Feuer, Erde und dergleichen, zeigen nicht nur an, daß „Ort“ wirklich etwas bedeutet, sondern daß er sogar eine gewisse Kraft besitzt. Es bewegt sich nämlich ein jeder an seinen eigenen Ort, wenn man ihn nicht daran hindert, der eine nach oben, der andere nach unten.9 Die Eigenschaften der Elemente bestimmt die Form der Bewegung. Feuer und Luft sind leicht und bewegen sich nach oben. Wasser und Erde sind schwer und bewegen sich nach unten.10 Dies wäre jedoch die moderne Reformulierung, die das teleologische Moment vernachlässigt. Präziser ausgedrückt bestimmt sich die Form einer Bewegung von der Eigenschaft des Bewegungszieles her: Denn „oben“ ist nicht eine beliebige Stelle, sondern (liegt) dort, wohin Feuer und das Leichte sich bewegt; ebenso ist auch „unten“ nicht eine beliebige Stelle, sondern dort, wohin das, was Schwere besitzt, und das Erdhafte (fällt), – so daß sich dies nicht der bloßen Anordnung nach unterscheidet, sondern auch nach der Kraftausübung.11 6 Aristoteles: Physik, S. 50f. 7 Ebd. S. 63. 8 Ebd. S. 76. 9 Ebd. S. 74. 10 Es sollten tatsächlich noch beinahe 2000 Jahre vergehen, bis Evangelista Torricelli entdecken konnte, dass auch die Luft ein spezifisches Gewicht besitzt. 11 Aristoteles: Physik, S. 74.

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Dies ist im Grunde nur unter der Voraussetzung nachvollziehbar, dass jeder Körper einen natürlichen Ort besitzt, zu dem er strebt. Aber: „Es kann auch etwas irgendwo auf Grund äußeren Zwanges sein, und (so) nicht dort, wo es von Natur aus sein sollte.“12 Dann greift die Kraft des Ortes und sorgt dafür, dass der ,verlorene Sohn‘ schnellstmöglich heimkehrt. Die Bewegung ist vollendet, sobald die Dinge ihren Ort (wieder-)gefunden haben.13 Diese Konzeption weist eine entscheidende, phänomenale Schwachstelle auf: Man sieht, dass es auch Bewegungen gibt, die nicht zum Stillstand kommen. Zwar finden diese unendlichen Bewegungen grundsätzlich nur im Weltall und nicht auf der Erde statt, wobei die Unterscheidung zwischen beiden nicht nur für die Griechen grundlegend ist. Doch eine Physik im Sinne Aristoteles’ muss auch diese, scheinbar nicht teleologische Bewegungsform konzeptionalisieren. Dieses Problem führt zum horror vacui und damit zur Medialität des Äthers zurück. Wenn es nichts nicht gibt, dann muss dies auch für die Himmelssphären gelten, sonst hätten wir es mit einer speziellen und nicht mit einer allgemeinen Philosophie der Natur zu tun. Was aber kann der Ort des Himmelsgewölbes sein? Doch ein leeres Gefäß für die Planeten und Sterne? Wir setzen also für richtig an, (1) Ort sei das unmittelbar Umfassende für das, dessen Ort er ist, und (2) er sei kein Stück des (umfaßten) Gegenstandes (selbst); weiter (3), der unmittelbare (Ort) sei weder kleiner noch größer (als das von ihm umfaßte Ding); weiter (4), er lasse ein jedes (Ding) hinter sich und sei von ihm ablösbar; außerdem (5), jeder Ort enthalte das „oben und unten“ (als seine Arten); und (6), es bewege sich jeder Körper von Natur aus zu seinem angestammten Ort und bleibe (dort), das tue er entweder oben oder unten.14 Ganz zentral ist für Aristoteles der Befund, „daß man nach einem Ortsbegriff überhaupt nicht suchen würde, gäbe es nicht die Ortsbewegung.“15 Sehr pointiert ausgedrückt: Im Gegensatz zu Newton, aber genau wie Einstein, traut Aristoteles seiner eigenen Wahrnehmung von Bewegung:16 „This development, after all, led to an emergence of a theory whose understanding of how gravity affects motion in terms of space-time is closer to Aristotle’s concept of natural motion than to

12 Aristoteles: Physik, S. 65. 13 Die erzwungenen Bewegungen lassen wir an dieser Stelle außen vor, da sie für das Konzept des Äthers nicht wesentlich sind. 14 Aristoteles: Physik, S. 81. 15 Ebd. S. 82. 16 Dabei stellen seine Überlegungen eine direkte Reaktion auf Parmenides und Zenon dar, die beide Bewegungen schlicht geleugnet haben.

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Newton’s explanation in terms of an anthropomorphic force.“17 Dieselbe epistemische Konfiguration macht die Ätherhypothese notwendig – für Einstein wie für Aristoteles. Wie genau kommt es nun aber zum Äther bei Aristoteles? Ausgehend von den konkret wahrnehmbaren Bewegungsformen spannen die Orte „oben“ und „unten“ wenn nicht ein Feld, so doch einen Raum auf, in welchem die Veränderungen geschehen. Die naheliegendste Folgerung aus diesem Raumkonzept wäre sicherlich, dass jede Bewegung in einem Raum stattfinden muss, der deutlich größer als die sich darin bewegenden Körper ist und also zumindest in Teilen leer. Insofern ist, wie gleich zu zeigen sein wird, zumindest für die Newtonsche Mechanik der leere Raum die Bedingung der Möglichkeit für Bewegung. Für Aristoteles dagegen ist diese Folgerung schlichtweg undenkbar: Körper und Ort müssen exakt aufeinander passen:18 Es gibt aber gar keine Notwendigkeit dazu, daß, wenn es Bewegung gibt, auch Leeres sein müßte. […] Gleichzeitig einander ausweichen können ja die bewegten Körper, wobei es gar keine von ihnen geschiedene Ausdehnung neben ihnen geben muß. Das wird klar an den Wirbeln von zusammenhängenden Stoffen, z.B. besonders an denen von Flüssigkeiten.19 Wenn also der leere Raum nicht die unendliche Bewegung der Himmelskörper erklärt, so muss dies ein Stoff tun, der das Himmelsgewölbe exakt ausfüllt – ein Stoff, der nichts als der Ort des Himmels und die darin stattfindenden unendlichen Kreisbewegungen ist.20 Dass hierfür ein neuer Stoff her muss, versteht sich fast von selbst und ist nur allzu konsequent. Dieser neue Stoff ist zwar hypothetisch, aber epistemologisch besehen denknotwendig. Der neue Stoff wird zum Medium für eine Bewegungsform, die anders nicht konzipierbar ist. Freilich muss er ganz besonders leicht und durchsichtig sein. Die vier irdischen Elemente fallen aus. Also wird ein fünftes Element eingeführt, die quinta essentia oder eben der Äther. Ganz analog zur teleogisch gedachten linearen Bewegung auf der Erde entspricht dem Äther die planetare Kreisbewegung. Das mag aus heutiger Sicht plausibel oder skurril anmuten. Doch die systemische Vollständigkeit des aristotelischen Weltbildes verleiht ihm eine ungeheure Stabilität; wollte man nur ein Detail ändern, so würde das ganze System zerfallen. Der Äther fungiert zwar als Platzhalter, hält aber alles da, wo es sein soll. Er ist im besten naturphilosophischen Sinne zugleich diejenige Substanz und derjenige Ort, aufgrund dessen sich Materie im Kreis bewegt. 17 Renn: Relativistic Revolution, S. 643. 18 Vgl. auch Aristoteles: Physik, S. 64. 19 Ebd. S. 91. 20 Vgl. hierzu Aristoteles: Physik, S. 92.

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Seinen zweiten mediologischen Schub erhält das Ätherkonzept im Zuge des mechanistischen Weltbildes seit dem 17. Jahrhundert. Zwischenzeitlich waren leerer Raum und Äther den Alchemisten anheim gefallen, was weder René Descartes noch Isaac Newton auf sich beruhen lassen konnten. Beide suchten nach einer mechanisch-kausalen Lösung für die Bewegung von Körpern unter dem Einfluss der Schwerkraft, doch die Resultate hätten bekanntlich kaum unterschiedlicher ausfallen können. Wenn der Äther dasjenige ist, worin sich Bewegungs- oder Kommunikationsprozesse ereignen, muss dessen Mechanik genauer erklärt werden, womit er die mediale Unschuld seiner naturphilosophischen Herkunft verliert. Um mit Descartes zu beginnen. Seine Mechanik lässt ausschließlich direkte Wirkungen zwischen Körpern zu. Fernkräfte werden in bester Tradition des horror vacui strikt abgelehnt und stattdessen ein Konzept entwickelt, das eine kausale (Stoß-)Wechselwirkung zwischen den Körpern erlaubt. Dies setzt aber voraus, dass der Raum durchaus körperlich attributiert wird. Beide sind im Rahmen des Descartesschen Abstraktionsprogramms durch ihre Ausdehnung bestimmt: Da man schon aus der Ausdehnung des Körpers in die Länge, Breite und Tiefe richtig folgert, daß er eine Substanz ist, weil es widersprechend ist, daß das Nichts eine Ausdehnung habe, so muß dasselbe auch von dem Raume gelten, der als leer angenommen wird, nämlich daß, da eine Ausdehnung in ihm ist, notwendig auch eine Substanz in ihm sein muß.21 Nur: Was für eine Substanz soll diese „res extensa“ zwischen den Dingen denn genau sein? Diese Substanz wird von Descartes als ein Stoff beschrieben, der alle möglichen Räume ausfüllen muss, dessen Natur alleine darin besteht, eine ausgedehnte Substanz zu sein.22 Die gesuchte Substanz ist raumgreifend in Länge, Breite und Höhe, und sie ist überall. Eine Welt voller ausgedehnter Körper bringt aber gewisse Erklärungsschwierigkeiten hinsichtlich von Bewegungskonzepten mit sich. Wenn es leere Flecken gäbe, so könnte sich ein Körper dort hin bewegen und würde somit wiederum seinen ursprünglichen Platz für einen anderen räumen. Leere ist jedoch ausgeschlossen. Es muss also eine andere Erklärung geben: Da, wie erwähnt, alle Orte von Körpern erfüllt sind, und dieselben materiellen Teile immer gleiche Orte ausfüllen, so folgt, daß jeder Körper sich im Kreise bewegen muß, so nämlich, daß er aus dem Ort, in den er eintritt, einen anderen verdrängt, und dieser wieder einen anderen, und dieser wieder bis zu dem letzten, der in den von dem ersten verlassenen Ort in demselben Augenblick, wo er verlassen wird, eintritt.23 21 Descartes: Prinzipien der Philosophie, S. 16. 22 Vgl. ebd. S. 22. 23 Ebd. S. 33.

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Bevor das Wort Äther gefallen ist, wird eine deutliche Strukturparallele zu Aristoteles sichtbar: die Zeitlichkeit. Der Kreis ist geschlossen und dreht sich konstant. Es werden keine Lücken gerissen, die es wieder aufzufüllen gelte. Vielmehr ist alles in ständiger Berührung und bewegt sich im direkten Kontakt.24 Während England mit dem großen Newton eine wissenschaftliche Revolution feiert, denkt sich Frankreich mit Descartes ein Weltall, das mit kleinen Partikelchen gefüllt ist, die Kraft nur im direkten Kontakt übertragen können. Neben der einen Materie – der Ausdehnung – unterscheidet Descartes drei verschiedene Elemente und führt damit eine qualitative Unterscheidung zwischen der Sonne, dem Himmel und der Erde ein. Diese Trennung ist funktional begründet und erinnert insofern nicht von ungefähr an die Aristotelische Naturphilosophie: Denn da die Sonne und die Fixsterne Licht von sich aussenden, die Himmel es weitersenden, die Erde, die Planeten und Kometen es aber zurücksenden, so wird dieser dreifache dem Anblick sich darbietende Unterschied nicht mit Unrecht auf drei Elemente zurückzuführen sein.25 Der Äther als dasjenige ‚Medium‘, das für die Ausbreitung d. h. Weitersendung des Lichtes verantwortlich sein soll, müsste eigentlich dem zweiten Element zugeordnet werden. Wenn er von Descartes jedoch zum dritten Element gerechnetwird, da diese Teilchen scheinbar nicht über eine ausreichende Eigenbewegung verfügen, um als Himmelspartikel fungieren zu können, so bleibt buchstäblich im Dunkeln, wie das Licht durch den Äther hindurch kommen soll.26 Oder anders ausgedrückt: Hat der wirbelnde, flüssige Äther möglicherweise gar nicht so viel mit der Lichtausbreitung zu tun? Von einer direkten Kausalität zwischen Äther und Lichtausbreitung jedenfalls fehlt so gut wie jede Spur. Das Licht ist „die Tätigkeit (actio)“ der Sonne.27 Der Äther garantiert alleine, dass es in den Wirbeln um die Sonne keine Löcher gibt. Aus Kreisen sind Wirbel geworden. Der Himmel aber ist nach wie vor das Eine und die Erde das Andere. Derweil geht Newton all solchen Problemen mit einem einfachen Kunstgriff aus dem Weg. In seinen „Principia“ von 1687 quantifiziert er zwar erstmals den Kraftbegriff als die eigentliche Ursache aller Bewegung, jedoch erklärt er ihn selbst nicht. Newton interessiert sich allein für die Wirkung der Naturkräfte:

24 Neben der räumlichen wird damit zugleich eine Kontinuität des Materiellen impliziert, womit zwangsläufig das Problem der unendlichen Teilbarkeit einhergeht. 25 Ebd. S. 52. 26 Vgl. dazu ebd. S. 100. 27 Ebd. S. 64.

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Daher hüte sich der Leser zu denken, ich wollte irgend durch derartige Begriffe die Art und Weise von Einwirkungen oder ihre physikalische Ursache oder Seinsweise definieren.28

Abbildung 4: Wirbel aus Descartes’ „Principia“.

Das Ergebnis dieses Ansatzes ist bekanntermaßen das Gravitationsgesetz, in dem die Kraft zwischen zwei Körpern von deren beider Masse und dem Abstandsquadrat abhängt, aber die Zeit als Größe nicht vorkommt. Da der Raum, in dem diese Kraft wirkt, vollkommen leer ist, kann sich die unbekannte causa auch völlig ungehindert ausbreiten, womit der Mythos von der instantanen Fernwirkung, der actio in distans geboren war. Über diese Theorie sollten sich die Naturphilosophen in den kommenden Jahrhunderten voller Verzweiflung die Köpfe zerbrechen, „weil sie mit dem aus der sonstigen Erfahrung fließenden Prinzip in Widerspruch zu treten schien, daß es nur Wechselwirkung durch Berührung, nicht 28 Newton: Mathematische Grundlagen, S. 43.

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aber durch unvermittelte Fernwirkung gebe.“29 Aufgrund welcher Form von Vermittlung soll eine Wirkung auch zeitgleich mit ihrer Ursache erfolgen können? Die nächstliegende Lösung bestand selbstverständlich in der Einführung eines Übertragungsmediums oder Äthers, wie vom späteren Newton selbst vorgeschlagen, denn Kausalität ohne Vermittlung war buchstäblich undenkbar.30 Allein eine kontinuierliche Übertragung der Wirkung durch ein als Äther apostrophiertes Medium war mit der actio in distans vereinbar und mündete schließlich im Feld- und Ätherkonzept Michael Faradays, James Clerk Maxwells und schließlich Hendrik A. Lorentz’.31 Einstein resümiert in seinem Leiden-Vortrag: Es schien unzweifelhaft, daß das Licht als Schwingungsvorgang eines den Weltraum erfüllenden, elastischen, trägen Mediums gedeutet werden müsse.32 Je mehr Naturphänomene mithilfe des Äthers erklärt werden mussten, umso stärker wurde die Tendenz, ihn als materielle Substanz zu betrachten, was jedoch nicht zwingend ponderabel – bei Lorentz – meint: I cannot but regard the aether, which can be the seat of an electromagnetic field with its energy and its vibrations, as endowed with a certain degree of substantiality, however different it may be from all ordinary matter. Das ist die Konfiguration, bei der Einstein einsetzt, und die James Clerk Maxwell für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wie folgt zusammenfasst: Aether, or Ether a material substance of a more subtle kind than visible bodies, supposed to exist in those parts of space which are apparently empty. Aethers were invented for the planets to swim in, to constitute electric atmospheres and magnetic effluvia, to convey sensations from one part of our bodies to another, and so on, till all space had been filled three or four times over with aethers.33

29 Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 4. 30 Vgl. hierzu Chung: Entwicklung des Kraftbegriffs im 18. und 19. Jahrhundert, S. 9–13. Einstein weist darauf hin, dass man schon Newtons absoluten Raum selbst als Äther bezeichnen könne, insofern er die Bedingung der Möglichkeit dafür darstellt, dass Bewegungen relativ zu ihm als reale erkannt werden. Vgl. Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 11. 31 Vgl. hierzu Nercessian: „Aether“, S. 180–194. 32 Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 5. 33 Encyclopaedia Britannica, Bd. 1, S. 292.

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Es handelt sich bei diesem Zitat um den Anfang des berühmten Äther-Artikels von Joseph Larmor aus der 11. Ausgabe der „Encyclopaedia Britannica“ (1910–1911), der sich insofern selbst historisiert, als er den Artikel Maxwells aus der 9. Ausgabe (1875–1889) zitiert. Egal also, wie man es auch drehte, der Äther „erscheint der ponderablen Materie als durchaus gleichartig und nebengeordnet.“34 Was konnte damit näher liegen, als diesen Äther des elektromagnetischen Feldes auch empirisch dingfest zu machen? Wenn das elektromagnetische Feld ein Zustand des Äthers ist – egal ob in ponderabler Masse oder im leeren Raum –, dann muss sich das Licht als eine Wellenerscheinung dieses Feldes relativ zum Äther bewegen. Und da sich ein Planet wie die Erde ihrerseits relativ zum Äther bewegen müsste, sollte sich ein Lichtstrahl senkrecht und parallel zur Erdrevolution um die Sonne auch anders ausbreiten.35 So kommt es, dass der Experimentalphysiker Albert A. Michelson dem Äther während seines Berliner Studienaufenthaltes 1880/81 zumindest ein erstes empirisches Ende bereitet. Intendiert war freilich das genaue Gegenteil. Angeregt durch den Altmeister des elektromagnetischen Feldes, James Clerk Maxwell, wollte Michelson die Relativgeschwindigkeit der Erde gegenüber dem ruhenden Äther mithilfe einer Messung der Lichtgeschwindigkeit bestimmen.36 Michelson beschäftigte sich bereits seit längerem mit Präzisionsmessungen der Lichtgeschwindigkeit, und so bricht er im September 1880 nach kurzem Studienaufenthalt in Paris weiter nach Berlin auf, wo er sich am 16. Oktober an der Königlichen Friedrich Wilhelm Universität immatrikuliert, um direkten Kontakt zu Hermann von Helmholtz aufnehmen zu können.37 Als Leiter des Physikalischen Instituts muss Helmholtz ohne weitere Umschweife zugestimmt haben, so dass sich Michelson hochmotiviert an den Bau seines – ersten – Interferometers macht. Doch im Keller des Instituts mitten in der Reichshauptstadt zeigte sich erneut, was die Astronomen längst erfahren hatten: Die Erschütterungen waren zu stark. Weder bei Tag noch unter Nacht ließ sich das Experiment ausreichend gegen den Berliner Verkehr isolieren. Also zieht auch Michelson auf den Telegraphenberg nach Potsdam hinaus. Im Keller, unter der Ostkuppel des Hauptgebäudes, steht das Interferometer so ruhig auf einem Steinsockel, dass „the fringes under ordinary circumstances were sufficiently quiet to measure, but so extraordinary sensitive was the instrument that the stamping of the pavement, about 100 meters from the observatory, made the fringes disappear entirely!“38 Anfang April 1881 kann Michelson sein Interfe34 Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 6. 35 Die Möglichkeit, dass die Erde einen Teil des Äthermeeres mitführt, kann an dieser Stelle außer Betracht gelassen werden. 36 Vgl. hierzu Michelson: „The Relative Motion of the Earth“, S. 249f. 37 Vgl. hierzu Haubold/John: „Albert A. Michelsons Ätherdrift-Experiment“. 38 Michelson: „The Relative Motion of the Earth“, S. 253.

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renzexperiment erstmals durchführen. Doch egal, ob die Lichtgeschwindigkeit in Richtung der Erdbewegung oder senkrecht dazu gemessen wird: Sie bleibt stets gleich. Einen ruhenden Äther, so muss Michelson aus dem negativen Ausgang seines Experimentes schließen, kann es demzufolge nicht geben:39 The interpretation of these results is that there is no displacement of the interference bands. The result of the hypotheses of a stationary ether is thus shown to be incorrect, and the necessary conclusion follows that the hypothesis is erroneous.40 Das Experiment Michelsons von 1881 – auch wenn es zunächst kaum beachtet wurde – legte den ersten empirischen Grundstein für das, was Einstein dann 1905 im Rahmen seiner Speziellen Relativitätstheorie ausformuliert: Im feldfreien Raum breitet sich das Licht in alle Richtungen mit der gleichen Geschwindigkeit aus – und zwar vollkommen unabhängig davon, ob sich der Beobachter mit seiner Lichtquelle selbst bewegt oder nicht.41 Diese Form der Kommunikation widerspricht aller Logik, denn sie erfordert eine Übertragung ohne Medium. Das, was übertragen wird, und das, was Übertragbarkeit ermöglicht – Schall und Luft oder Auto und Straße – sind nicht mehr unterscheidbar, bzw. schlimmer noch: Der Raum selbst ist der Mechanismus, durch den Informationen an unterschiedlichen Orten den Raum erzeugen. Es gibt keinen Raum vor dem Medium und kein Medium vor dem Raum. Wie also soll eine Welt ohne Äther überhaupt funktionieren? Diese Frage stellt sich die Spezielle Relativitätstheorie schlichtweg nicht, sie ist eine rein deskriptive Theorie genau wie die Keplerschen Gesetze, die lediglich die Bewegung der Planeten beschreiben. Insofern ist es nicht hinreichend korrekt zu behaupten, Einstein hätte 1905 den Äther aus der physikalischen Theoriebildung verbannt. Genauer sollte man sagen, dass die Spezielle Relativitätstheorie die Realität ohne Äther zu formalisieren vermag. Die Einführung eines „Lichtäthers“ wird sich insofern als überflüssig erweisen, als nach der zu entwickelnden Auffassung weder ein mit besonderen Eigenschaften ausgestatteter „absolut ruhender Raum“ eingeführt, noch einem Punkte des leeren Raumes, in welchem 39 Michelson war Zeit seines Lebens der Überzeugung, den Äther trotzdem noch experimentell dingfest machen zu können. Der niederländische Physiker Hendrik A. Lorentz erklärt das Negativresultat des Michelson-Experiments durch eine Längenkontraktion des Spiegelarmes in Bewegungsrichtung – um den Äther zu retten. Ironischerweise wird die Längenkontraktion bei Einstein dann zentral, allerdings eben ohne Äther. Vgl. Melcher: „Ätherdrift und Relativität“, S. 51f. 40 Michelson: „The Relative Motion of the Earth“, S. 257. 41 Über die Verlässlichkeit der Daten aus diesem ersten Versuch Michelsons gibt es unterschiedliche Auffassungen, was für hier jedoch von untergeordneter Wichtigkeit ist. Vgl. hierzu beispielsweise Melcher: „Ätherdrift und Relativität“.

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elektromagnetische Prozesse stattfinden, ein Geschwindigkeitsvektor zugeordnet wird.42 Konzeptionell basiert die Spezielle Relativitätstheorie auf einem elektromagnetischen Feld, das einen Zustand des Raumes darstellt. Der Raum verliert somit seinen vorgängig-absoluten Charakter, für den bis dato der Äther zuständig war.43 Für sein Theoriegebäude streng relativer Koordinatensysteme braucht Einstein den Äther nicht, er wird in seinen eigenen Worten „überflüssig“ – jedoch eben nur in Bezug auf diejenigen Fragen, auf die die Spezielle Relativitätstheorie Antworten gibt. Und der Äther war zu guter Letzt nur noch für die Auszeichnung eines besonderen Koordinatensystems zuständig – alle anderen Eigenschaften hatten ihm bereits Maxwell und Lorentz entzogen.44 The removal of the aether concept from the description of electromagnetic processes is not required by the special theory. It is simply „superfluous“. Thus, in the special theory the aether hypothesis is „empty“ since there are no physical properties associated with empty space itself.45 Insofern waren 1905 mehr Fragen offen geblieben als geklärt. Wenn man sehr genau hinhört, schleicht sich diese Unsicherheit in die Eskamotierung des Äthers durch die Spezielle Relativitätstheorie von Anfang an mit hinein – jedenfalls prägt sie die Rhetorik des Leiden-Vortrages: „Der nächstliegende Standpunkt, den man dieser Sachlage gegenüber einnehmen konnte, schien der folgende zu sein: Der Äther existiert überhaupt nicht.“46 Warum hat es lediglich den Anschein, dass der Äther überflüssig sei? Bevor wir auf diesen Fragekomplex zurückkommen, sei erneut der Faden der Empirie oder besser der Wissenschaftsarchitektur aufgegriffen.

„Auf theoretischem Wege lässt sich da nichts machen“ Zurück also zum Telegraphenberg bei Potsdam, auf dem es seit der Installation eines Spektrographen am 30-Zentimeter-Refraktor der Hauptkuppel 1888 wissenschaftlich ruhiger geworden war. Das ändert sich abrupt und wohlinszeniert am 4. September 1921: Die „Berliner Illustrierte Zeitung“ titelt unter einer großformatigen Photographie eines merkwürdig organisch-modernistischen Turmbaus: 42 Einstein: „Elektrodynamik bewegter Systeme“, S. 892. 43 Vgl. hierzu Nercessian: „Aether“, S. 201-207. 44 Vgl. Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 7f. 45 Nercessian: „Aether“, S. 206f., Fußnote 73. 46 Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 8. Hervorhebung von uns.

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Der neue Einstein-Turm auf dem Telegraphenberg bei Potsdam, der zur experimentellen Prüfung der Relativitätstheorie aus Mitteln der Einstein-Spende errichtet worden ist.47 Der Name Einstein musste zu diesem Zeitpunkt niemandem mehr erklärt werden, zum Denkmal seiner Physiognomie gesellte sich nun das Denkmal eines stiefelförmigen Laborgebäudes.48 Seit dem krisengeprägten, kalten und durchhungerten Nachkriegswinter 1919 war Einstein aus der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr wegzudenken. Er war vielleicht zur einzigen wirklichen Ikone der neuen Physik geworden, nachdem er fünf Jahre zuvor nach Berlin berufen worden war.

Abbildung 5: Erwin Finlay Freundlichs Brief an Erich Mendelsohn vom 2.7.1918.

Die Rückseite dieser Popkultur ist die Privatheit des Wissenschaftsfunktionärs Einstein.49 Im Oktober 1917 wurde Einstein zum Direktor des eigens für ihn ge47 Berliner Illustrierte Zeitung, 4. September 1921. 48 Vgl. Clark: „Einsteins Haar“. 49 Vgl. Breymayer: Symbole der „Kulturstellung Deutschlands“.

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gründeten „Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Forschung“ berufen, mit Firmensitz in der privaten Schöneberger Wohnung, einem aus der Wirtschaft finanzierten Direktorenlohn und einem einzigen wissenschaftlichen Mitarbeiter: dem schottisch-deutschen Mathematiker und Astronomen Erwin Finlay Freundlich. Dieser stellte sich Zeit seines Lebens ganz in den Dienst einer experimentellen Überprüfung der Gravitationstheorie.50 Und 1918 sind seine Pläne ausgereift: Über einen Beobachtungsturm solle das Sternenlicht in ein unterirdisches Laboratorium gelenkt werden, um dort die Rotverschiebung des Lichtes durch die Gravitation nachzuweisen. Dies wäre die erste empirische Verifikation der Allgemeinen Relativitätstheorie auf heimischnationalem Boden. Freundlich war über seine Frau mit dem Architekten Erich Mendelsohn befreundet, dem er am 2. Juli 1918 eine detaillierte Projektskizze schickt. Ab dann geht alles sehr schnell. Im Januar 1920 ruft Freundlich zur „Albert-Einstein-Spende“ auf, um den Turm privat finanzieren zu können. So kann bereits im Sommer mit dem Bau begonnen werden, nicht zuletzt aufgrund des äußeren Drucks durch die drohende Geldentwertung. Das Kuratorium nimmt den Bau dann am 6. Dezember 1924 in vollen Betrieb. Die beginnenden 1920er Jahre sind durch eine äußerst zwiespältige Situation gekennzeichnet. Einerseits wird die Relativitätstheorie in breiter Öffentlichkeit diskutiert, andererseits gewinnen nationalsozialistische und damit zugleich antimodernistische wie antisemitische Kampagnen gegen Einstein immer mehr Boden. Gleichzeitig stand eine empirische Verifikation der Vorhersage Einsteins bis 1919 aus. In diesem sehr widersprüchlichen Klima reifen zwischen Mai und September 1920 die Pläne Erich Mendelsohns. Der 1887 in Ostpreußen geborene Architekt war kein Freund der Statik und des technischen Zeichnens. Dafür war er ein Meister der schnellen, genialischen Skizzen, die dann von einer großen Zahl von Mitarbeitern ausgearbeitet werden mussten. Die Formwandlung seiner Entwürfe zum Einsteinturm lässt sich nur sehr unvollständig rekonstruieren, da sich lediglich 20 undatierte Zeichnungen erhalten haben.51 Dabei gewinnt der Turm sukzessive an Masse und Form, bis er sich in seiner wirbelartigen Struktur sehr organisch aus dem Unterbau heraus entwickelt. Die zoomorphe Gestalt weckt Assoziationen mit einem Walfisch, die bei den begutachtenden Baubeamten nur zu zwangsläufig spontane Widerstände weckte. Man sollte an dieser Stelle nicht vergessen, dass der Bau architekturgeschichtlich einmalig geblieben ist: The Einstein Tower was, in fact, the one Mendelsohn building that was not copied in other countries. Nor did the architect do anything like it again. It was his most extreme example of „intuitive“ design.52 50 Vgl. Wilderotter: „Erwin Freundlich und der Einsteinturm“. 51 Vgl. Bernhard: „Merkwürdig fremde und doch überzeugende Schönheit“, S. 100-106. 52 Robinson: „The Heart and the Forelock“.

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So ist es vielleicht in erster Linie der Inflation zu verdanken, dass dieses und andere Bedenken wie eine noch nicht vorliegende Baugenehmigung den Beginn der Bauarbeiten nicht verzögern konnten. Genau wie alle anderen Gebäude auf dem Telegraphenberg, wurde der Einsteinturm schlicht mit Ziegelsteinen hochgemauert, dann aber mit einem Zementspritzputz so überzogen, dass man ihn von außen für eine Stahlbetonkonstruktion hält: „Tatsächlich steckt der Bau technisch gesehen noch tief im 19. Jahrhundert, er ist weitgehend ein Handwerksprodukt.“53 Der moderne, stilbildende Stahlbeton kam lediglich für die Treppe im Turm sowie am Turmabschluss zum Einsatz. Eisen und Glas vermisst man als Gestaltungselemente vollständig. Damit ist der Turm von seiner – freilich von außen virtuos kaschierten – Materialität her mit vollkommen traditionellen Mitteln errichtet.

Abbildung 6: Erich Mendelsohn, Farbskizze zum Einsteinturm von 1920.

Die gestalterisch-optische Rhetorik des Einsteinturms steht so in einem deutlich gebrochenen Verhältnis zu seiner bautechnischen Materialität. Real ist der Bau eher klein, geradezu beschaulich. Trotzdem erzeugt er optisch eine grandiose Monumentalität. Seine Materialität erscheint modern, tatsächlich hat man es mit einem traditionellen Klinkerbau zu tun. Und trotzdem folgt die organische, auf Effektsteigerung hin angelegte Form der strikten Funktionalität eines physikalischen Experiments: Kein Gebäudeteil ist überflüssig, alle Wege folgen den konkreten Abläufen in einem Experimentalraum. Man mag die Rhetorik dieser Wissenschaftsarchitektur bewerten wie man möchte. In jedem Fall stehen Form und Funktion in diesem Bau nicht in einem naiv-vormodernen Bedingungsverhältnis, sondern wir haben es hier mit komplexen Beziehungsstrukturen zu tun. Vor diesem Hintergrund werden Wissenschafts- und Wissensarchitektur vergleichbar, worauf wir im Folgenden näher eingehen möchten. So theoretisch-elegant die Relativitätstheorie – besonders die Spezielle Relativitätstheorie mit ihrem scheinbar sehr einfachen mathematischen Apparat – auch daherkommt: Naturgesetze fallen nicht vom Himmel eines pythagoräischen Kos53 Bernhard: „Rettung eines Klassikers“, S. 126.

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mos’. Theorie und Experiment sind zwei Seiten derselben Wissensordnung. Sie werden mit Hilfe ganz konkreter Kulturtechniken erzeugt. Es handelt sich vordergründig um eine Trivialität, dass Einstein erst im Herbst 1919, nach Eddingtons erster experimenteller Bestätigung seiner Allgemeinen Relativitätstheorie, zum Physikerstar wurde. Die Ergebnisse der Expedition wurden am 6. November auf einer feierlichen Sitzung der „Royal Society“ und der „Royal Astronomical Society“ bekanntgegeben – tags darauf war Einstein weltberühmt. Diese ,Verzögerung‘ bedeutet zugleich, dass gut 8 Jahre eine signifikante Schieflage zwischen Theorie und Empirie das physikalische Wissenssystem prägte. Vielleicht wird man in diesem Sinne die Aussage Bruno Latours verstehen können, dass „no distinction has to be made, either, between ,abstract‘ thinking and ,practical‘ activities“ 54. Viel genauer aber ist das schon bei Einstein selbst nachzulesen: Jetzt kann mit Recht nach der „Wahrheit“ so interpretierter geometrischer Sätze gefragt werden, denn es kann gefragt werden, ob jene Sätze zutreffen für diejenigen realen Dinge, welche wir den geometrischen Begriffen zugeordnet haben. Etwas ungenau können wir also sagen, daß wir unter der „Wahrheit“ eines geometrischen Satzes in diesem Sinne sein Zutreffen bei einer Konstruktion mit Zirkel und Lineal verstehen.55 Einstein schrieb diese Sätze 1917, also zwei Jahre vor dem ersten „Zutreffen“ seiner Allgemeinen Relativitätstheorie mit der Empirie. Einerseits bestehen wesentliche Unterschiede „between ,abstract‘ thinking and ,practical‘ activities“, doch gibt es andererseits keine abstrakt-formale Symbolordnung ohne kulturtechnische Fundierung.56 Wenn sich die Substantive stets aus den Verben heraus entwickelt haben – womit die Eigendynamik von Theoriesystemen keineswegs in Frage gestellt werden soll –, dann sind Symbolordnungen ihre kulturtechnische Fundierung stets eingeschrieben. Der Einsteinturm ist in diesem Sinne nicht bloß ein Gebäude zur Durchführung eines physikalischen Experimentes. Der Einsteinturm ist Relativitätstheorie, nur eben nicht aufgeschriebene Theorie, sondern ,zutreffende‘ Theorie. Damit sind wir dem Verhältnis von Wissens- und Wissenschaftsarchitektur einen entscheidenden Schritt näher gekommen. Um es sehr provokativ zu formulieren: Wissenschaftsarchitektur ist immer Wissensarchitektur, weil jedes Wissen konstruiert ist. Die Konstruktivität von Wissen wird in seiner architektonischen Formwerdung ablesbar, weil jedes Wissen des gebauten Experiments 54 Latour: „A Relativistic Account of Einstein’s Relativity“, S. 21. Siehe dazu den Beitrag von Jens Schröter in diesem Band. 55 Einstein: Über die pezielle und allgemeine Relativitätstheorie, S. 3. 56 Vgl. hierzu beispielsweise Macho: „Zeit und Zahl“.

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bedarf. Und anhand der Rhetorik von Wissenschaftsarchitekturen lässt sich rekonstruieren, wie stark Wissenssysteme von ihrem „Zutreffen“ mit dem Realen abhängen bzw. wie deutlich Freundlich und Mendelsohn im Falle des Einsteinturms diese Konstruktivität oder kulturtechnische Fundiertheit der Allgemeinen Relativitätstheorie nach außen hin dokumentieren wollten.57 Je stärker sich die expressionistische Architektursprache von der formalen Schlichtheit der Relativitätstheorie zu entfernen scheint, umso deutlicher wird dieser Anspruch nach außen hin dokumentiert. Wo ein scheinbarer und heute immer noch so gesehener oder so gedeuteter Widerspruch zwischen Innen und Außen herrscht, geht es tatsächlich nur um eines: um das Gebautsein von Wissen.

Abbildung 7: Längsschnitt mit Raumaufteilung und wissenschaftlicher Nutzung 1920.

Es macht deshalb nur wenig Sinn, den Architekturbegriff allein auf prominente Wissenschaftsgebäude wie den Eiffelturm, das CERN oder das Anatomische Theater in Padua zu beziehen. Auch die Experimentalsysteme im Sinne Hans57 Insofern unterscheidet sich der von uns gebrauchte Begriff der Wissensarchitektur deutlich von der „architecture of knowledge“ im Sinne Jürgen Renns. Vgl. hierzu Renn: „The Relativistic Revolution“, S. 645f.

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Jörg Rheinbergers und besonders jeder einzelne Apparat zur Messung oder Demonstration eines physikalischen Wissensstrangs stellen eine Wissenschaftsarchitektur im Kleinen dar. Der Rhetorik dieser Systeme und Apparate ist bis heute nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet worden – zu stark lenken Gebäude wie eben auch der Einsteinturm hiervon ab. Dies sollte Anlass genug sein, die wissensgeschichtliche Form des Einsteinturms im Detail zu untersuchen. In seinem Brief an Erich Mendelsohn vom Juli 1918 skizziert Erwin Freundlich ein Sonnenobservatorium, das sich an den Turmteleskopen auf dem Mount Wilson in Kalifornien orientiert. Auf einem fest installierten Turm wird ein System aus zwei Spiegeln, Coelostat genannt, so montiert, dass das Sonnenlicht durch den Turm hindurch in den Sockelbereich des Turms umgelenkt wird: Der drehbare Hauptspiegel wird dem Lauf der Sonne nachgeführt und wirft sein Licht auf den Nebenspiegel, der es dann senkrecht durch den Turm hindurch nach unten umlenkt. Hier befindet sich unterirdisch ein Labor zur spektralanalytischen Untersuchung des eingespiegelten Sonnenlichts. Der Coelostat befindet sich in einer Höhe von etwa 15 Metern über dem Erdboden, weil hier die Luft staubfreier und das Licht ruhiger ist. Damit erklärt sich der Turm des Sonnenobservatoriums aus der klaren Anforderung an jedes physikalische Experimentalsystem, die Messdaten möglichst gut gegen die Umwelt zu isolieren. Der Turm ist eine Art Sonde und ein isolierter Datenleiter zugleich.

Abbildung 8: Untergeschoss im Zustand von 1927.

Am Fuß des Turms wird das Licht in horizontale Richtung umgelenkt, tritt zuerst durch den Arbeitsraum und dann auf einen Spalt in der Wand, die den Arbeitsraum vom sogenannten Spektrographenraum trennt. Dort wird das Licht mithilfe eines Gitterspektrographen in seine einzelnen Wellenlängenanteile auf-

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gespaltet und zur Spaltwand zurückgelenkt. So kann das Spektralbild des Sonnenlichtes auf einer photographischen Platte festgehalten werden und mit den Spektren verglichen werden, die direkt in diesem Arbeitsraum erzeugt werden. Im Labor findet ein Vergleich statt zwischen einem Lichtstrahl, der einer starken Gravitationswirkung ausgesetzt wurde, und einem quasi jungfräulichen Emissionsspektrum. Als Gebäude leistet der Einsteinturm zunächst schlicht eine Verbindung zwischen der Architektur des Wissens und der Apparate: Relativistische Physik und Coelostat, Rotverschiebung und Sonnenobservatorium, Einstein und Mendelsohn treffen in einem Bauwerk aufeinander. Es ist wiederholt die Behauptung aufgestellt worden, dass Theorie und Architektur im Einsteinturm eine Symbiose eingegangen seien, doch fehlt hierfür bislang jede plausible Begründung. Ganz im Gegenteil schreibt etwa der englische Architekturtheoretiker Manning Robertson, dass der Turm ein „Denkmal der Kompliziertheit und der Verwirrung“ geworden sei.58 Einleuchtender hingegen erscheint die Steinwerdung eines Paradigmenwechsels als solchem: Die Architektur der älteren Gebäude des „Astrophysikalischen Observatoriums“ unterscheidet sich ähnlich dramatisch von dem Bau Mendelsohns wie die klassische von der relativistischen Physik. Auf dieser Ebene argumentiert noch jüngst der schweizer Architekturhistoriker Philip Ursprung: „Eine nie dagewesene architektonische Form verband sich mit einer nie dagewesenen Theorie.“59 Dem ist zweierlei entgegenzuhalten. Erstens ist der Einsteinturm keineswegs ein Prototyp des modernen Bauens – hier bewegte sich die Architektur bereits seit etwa 1910 auf relativ gesichertem Terrain. So wird Mendelsohns Turm bereits im Oktober 1920 in der Architekturzeitschrift „Wendingen“ eindeutig dem Expressionismus zugeordnet: Die Dynamik der ganzen Anlage wird vor allem im Längsprofil offenbar, der Bau ist als eine anschwellende, hochsteigende, stufenförmig abwärtsfallende, rund schwingende und ausfließende Bewegung gefaßt. Der Grundriß zeigt einen reifen Komplex von Raumformen, die allen geraden Flächen, allen scharfen Ecken aus dem Wege gehen.60 Zweitens steht der Einsteinturm bei aller Modernität seiner äußeren Gestalt auf völlig traditionellen Füßen: „In Wirklichkeit ist der Oberbau ein konventioneller Ziegelbau wie die daneben stehenden älteren Observatorien.“61 Auch von diesem Punkt aus wurde eine Brücke zwischen Wissens- und Wissenschaftsarchi58 Zit. n. Wilderotter: „Einleitung“, S. 9. 59 Ursprung: „Unendliche Oberfläche“, S. 185. 60 Zit. n. Bernhard: Die Architektur des Einsteinturms, S. 100. 61 Ursprung: „Unendliche Oberfläche“, S. 186.

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tektur gespannt, denn die Relativitätstheorie ist in ihrem mathematischen Kern ein Konzept des 19. Jahrhunderts – im Gegensatz zur Quantenmechanik, mit der Einstein ja bekanntermaßen Zeit seines Lebens Probleme hatte.62 Vergegenwärtigt man sich noch einmal die Grundgeste der Mendelsohnschen Skizzen, so drängt sich eine andere, sehr viel einfachere weil konkretere Deutung auf. In allen diesen Zeichnungen herrscht eine runde, gebrochene Linienführung vor. Wenn man dies mit den späteren Grundrissen vergleicht, tritt eine eigenwillige Diskrepanz zu Tage. Die Grundrisse erscheinen bieder und konventionell. Der rechte Winkel dominiert v. a. den Querschnitt. Die Raumwirkung des fertigen Gebäudekörpers lässt sich aus den Architekturzeichnungen nicht herauslesen, wohingegen sie alle Skizzen Mendelsohns absolut dominiert: Angesichts des Baus meint man, buchstäblich um die Ecken sehen und damit die Einsteinsche Idee des gekrümmten Raumes nachvollziehen zu können.63 Damit ist klar, worum es Mendelsohns Bau geht: um das Wissen der Relativitätstheorie und um die Visualisierung dieses Wissens.

Abbildung 9: Mischzeichnung aus Ansichten und Schnitten.

62 Ganz in diesem Sinne interpretiert Jürgen Renn die „Relativity Revolution“ als einen Prozess, in dem „a deductive framework of an old theory is largely preserved while its physical semantics changes“. Renn: „The Relativistic Revolution“, S. 640. 63 Ursprung: „Unendliche Oberfläche“, S. 185.

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Und zurück zum Äther Die Situation war zwischenzeitlich jedoch nicht einfacher geworden; wir fassen noch einmal kurz zusammen. Experimentell hatte sich der Äther nach Michelson und Moreley erledigt. Theoretisch eskamotiert wurde er 1905 im Rahmen der Speziellen Relativitätstheorie, aber eben nur für überflüssig erklärt: „Die Ätherhypothese an sich widerstreitet der speziellen Relativitätstheorie nicht.“64 Die Erklärung dafür, wie sich das Licht in einem physikalischen Raum, der der Äther selbst ist, ausbreitet, lieferte Einstein im November 1915 mit der Allgemeinen Relativitätstheorie, die ex post experimentell 1919 in Brasilien und Südafrika und nochmals später eben auf dem Telegraphenberg in Potsdam verifiziert werden konnte. Epistemologisch jedoch fingen die Probleme damit allererst an. Bedeutet eine Verifikation der Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie nun einen Beweis für die Existenz oder für die Nicht-Existenz eines vom Raum unterscheidbaren Äthers? Die Antwort auf diese Frage kann nur die Wissensgeschichte der Allgemeinen Relativitätstheorie liefern bzw. das epistemologische Verhältnis der beiden Theoriegebäude von 1905 und 1915. In dieser Hinsicht äußert sich Einstein 1920 in Leiden völlig unmissverständlich: Indessen lehrt ein genaueres Nachdenken, daß diese Leugnung des Äthers nicht notwendig durch die spezielle Relativitätstheorie gefordert wird. Man kann die Existenz eines Äthers annehmen […, was] durch die Ergebnisse der allgemeinen Relativitätstheorie gerechtfertigt wird.65 Es muss also zunächst die wissensgeschichtliche Notwendigkeit dafür erläutert werden, das Konzept der Speziellen Relativitätstheorie einer weitergehenden Abstraktion zu unterziehen. Welcher ,Spezialfall‘ eines leeren Raumes musste revidiert werden? Innerhalb der Speziellen Relativitätstheorie stellt der feldfreie Raum eine Idealisierung dar. Das Licht breitet sich faktisch niemals so aus, wie von der Speziellen Relativitätstheorie vorhergesagt, einfach weil es stets Felder gibt, die – wenn man so möchte – ein Medium darstellen. Denn im Gegensatz zum elektromagnetischen Feld der Speziellen Relativitätstheorie kann sich dem Einfluss der Gravitation kein Lichtstrahl entziehen. Ein Faraday-Käfig schirmt das elektromagnetische Feld vollständig ab, doch bei der Gravitation handelt es sich um eine universell weitreichende Wechselwirkung, die sich von keiner Mauer aufhalten lässt.66

64 Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 10. 65 Ebd. S. 9. 66 Vgl. Haubold/John: „Albert A. Michelsons Ätherdrift-Experiment“, S. 42f.

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Aus diesem Grunde ist der leere Raum der Allgemeinen Relativitätstheorie ein prinzipiell anderer als 1905. Die Gravitation konnte nicht länger eine ominöse actio in distans bleiben, sondern wurde ebenfalls zu einem Feld. Der 16-dimensionale Tensor, der dabei für das Gravitationsfeld herauskam, überforderte sogar Einsteins eigene mathematische Fähigkeiten, weshalb er mehrere Anläufe für die Ausformulierung seiner Theorie benötigte. Im Ergebnis war der leere Raum immer ein Gravitationsfeld, mithin im strengen Sinne niemals leer. Fast möchte man für die zehn Jahre zwischen 1905 und 1915 von einer Rückkehr des „horror vacui“ sprechen. Oder anders formuliert: Im Zuge der Allgemeinen Relativitätstheorie musste Einstein erklären, wie die Welt ohne den Äther funktioniert, den er mit der Speziellen Relativitätstheorie noch rücksichtslos hatte eskamotieren können. Dass ihm dies nicht gelingt, dass jeder Raumbegriff ein Feld voraussetzt, ist die Ironie dieser Geschichte in Gestalt eines Wiedergängers, dem man wohl oder übel den Namen Äther geben muss. Zwar hat dieser neue-alte Äther keinerlei mechanische oder elektrodynamische Eigenschaften mehr, doch die epistemologische Funktion ist die gleiche geblieben:67 Bewegungsprozesse, ja Metrisierungen schlechthin setzen mehr als einen reinen Raumbegriff voraus.68 Den Schlüsseltext für die Schwierigkeiten einer physikalischen Wissensarchitektur ohne Medien- bzw. Ätherbegriff markiert der Leidener Vortrag von 1920. Doch schauen wir zunächst noch einmal aus den engeren Zirkeln der Wissenschaftsgeschichte heraus, auf die Ebene der Debatten. Am 28. Dezember 1911 gibt der Präsident der „American Physical Society“, William F. Magie zu bedenken: The principle of relativity accounts for the negative result of the experiment of Michelson and Morley, but without an ether how do we account for the interference phenomena which made that experiment possible? 69 Die Sehnsucht nach einem Medium, das Lichtausbreitung ermöglicht, ist hier genauso ungebrochen spürbar wie der Glaube daran, dass physikalisches Wissen das Reale erklären könne. So verwundert es kaum, dass in den Jahren bis 1920 die Liste der Ätherretter lang ist, und diese ein enorm breites Argumentationsspektrum bemühen. Dem französischen Physiker Georges Sagnac ge67 Deshalb ist es auch nicht korrekt, wenn Nancy J. Nercessian lediglich von einer „semantischen“ Wiederkehr des Äthers spricht. Vgl. Nercessian: „Aether“, S. 207, Fußnote 73. 68 Damit war dieses Konzept dem Aristotelischen Verhältnis von Raum-Zeit sehr viel näher als der klassischen Physik Newtons: Die Bewegungsgleichungen sind abhängig von den Feldgleichungen. Vgl. hierzu Renn: „The Relativistic Revolution“, S. 643 und 647. 69 Zit. n. Swenson: The Ethereal Aether, S. 177.

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lingt 1913 ein experimenteller Nachweis des Lichtäthers, der erst 1932 entkräftet werden konnte. By the middle of the decade, confusion was rampant regarding the precise meaning of statements pro and con in the relativity controversy. The tenuous line between physical and metaphysical statements was often breached.70 Und der englische Physiker Sir Oliver J. Lodge, immerhin Träger der RumfordMedaille der „Royal Society“, plädiert schon einmal vor der Rückkehr der Eddington-Expeditionen präventiv dafür, dass der Äther vollkommen unabhängig vom Relativitätsprinzip weiterhin existieren müsse:71 The aether is […] the medium out of which matter is probably made, and in which matter ist perpetually moving by reason of its fundamental property called inertia.72 Doch im November des Jahres 1921 kann sich eben dieser Oliver J. Lodge sehr entspannt zurücklehnen, als er von dem Leiden-Vortrag Einsteins erfährt. Offensichtlich hatte sich Einstein in der Universitätsstadt seines Mitstreiters Hendrik A. Lorentz selbst alle Mühe gegeben, die Ätherhypothese in Einklang mit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie zu bringen. Lodge ist darüber hoch erfreut und verleiht seiner Freude sogar in der „Times“ öffentlichkeitswirksamen Ausdruck: „With all this – I perhaps need hardly say – I heartly concur.“73 Einsteins leerer Raum also war seit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie wieder in bester aristotelisch-descartesscher Tradition mit Eigenschaften ausgestattet, die alle Bewegung in ihm determinierten. In Leiden sagt Einstein: „Die elektromagnetischen Felder sind nicht Zustände eines Mediums“, aber das Gravitationsfeld ist ein Medium, da es keinen leeren Raum ohne Gravitationswechselwirkung gibt.74 Ein leerer Raum ohne Äther oder Medium würde über „keinerlei physikalische Eigenschaften“ verfügen, und genau dies widerspricht der Allgemeinen Relativitätstheorie: Jeder Raum ist irgendwie krumm – genauso krumm wie die Linienführung des Einsteinturms, mit dessen Coelostaten man die krummen bzw. farbverschobenen Linien des Weltraums beobachtete. Der leere Raum der Allgemeinen Relativitätstheorie ist weder homogen noch isotrop und also auch nicht physikalisch leer. 70 Ebd. S. 183. 71 Vgl. ebd. S. 185f. 72 Lodge: „Aether and Matter“, S. 186, Hervorhebung durch uns. 73 Lodge: „Einstein and Ether“. 74 Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 8.

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Kein Raum und auch kein Teil des Raumes ohne Gravitationspotentiale; denn diese verleihen ihm seine metrischen Eigenschaften, ohne welche er überhaupt nicht gedacht werden kann.75 Damit aber ist der ,neue‘ Äther nicht nur das Medium, das die Bewegung träger Massen bedingt, sondern er ist zugleich selbst durch die Gravitation bedingt. Diese Figur, sowohl Ursache als auch Wirkung eines realen Phänomens zu sein, macht den im starken Sinne modernen Gehalt des Ätherkonzepts nach 1915 aus. Der Äther der Allgemeinen Relativitätstheorie ist zu einem modernen, denknotwendigen Medium geworden, was im Grunde heißt: Er ist epistemologisch notwendiger als jemals zuvor.

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75 Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 13f.

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Robinson, Kenneth: „The Heart and the Forelock. Eric Mendelsohn: Letters of an Architect. Edited by Oskar Beyer“, in: The Times Saturday Review, 6. Januar 1968, S. 18. Schinkel, Karl Friedrich: Sammlung architektonischer Entwürfe. Sämtliche Texte und Tafeln der Ausgabe Potsdam 1841–1845, hrsg. v. Alfons Uhl, 2. Auflage, Nördlingen 2006. Swenson, Loyd S.: The Ethereal Aether. A History of the Michelson-MorleyMiller Aether-Drift-Experiments, 1880-1930, Austin/London 1972. Ursprung, Philip: „Unendliche Oberfläche. Einsteins Abwesenheit in der Architektur“, in: Michael Hagner (Hrsg.): Einstein on the Beach. Der Physiker als Phänomen, Frankfurt a.M. 2005, S. 183-198. Wilderotter, Hans: „ ,Auf theoretischem Wege läßt sich da nichts machen‘. Erwin Freundlich, der Einsteinturm und der empirische Nachweis der Allgemeinen Relativitätstheorie“, in: ders. (Hrsg.): Ein Turm für Albert Einstein. Potsdam, das Licht und die Erforschung des Himmels, Hamburg 2005, S. 135-145. Wilderotter, Hans: „Auf welcher Höhe liegt der Olymp? Astronomie, Politik und die Geschichte der Observatorien in Berlin und Potsdam“, in: ders. (Hrsg.): Ein Turm für Albert Einstein. Potsdam, das Licht und die Erforschung des Himmels, Hamburg 2005, S. 11-56. Wilderotter, Hans: „Einleitung“, in: ders. (Hrsg.): Ein Turm für Albert Einstein. Potsdam, das Licht und die Erforschung des Himmels, Hamburg 2005, S. 8-10.

Abbildungen Abbildung 1: Einsteinturm, 23.6.2005. Photo: R. Arlt, Astrophysikalisches Observatorium Potsdam. (http://www.aip.de/) Abbildung 2: Karl Fr. Schinkel, Entwurf der Sternwarte, in: ders.: Sammlung architektonischer Entwürfe. Zweite, erweiterte Auflage, Nördlingen 2006 [1841-45], S. 204, Taf. 132. Abbildung 3: Erster Spektrograph von 1888 am Refraktor in der Hauptkuppel des Astrophysikalischen Observatoriums in Potsdam. Astrophysikalische Institut Potsdam, Archiv und Bibliothek. (http://www.aip.de/) Abbildung 4: Wirbel aus Descartes „Principia“, in: René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, Hamburg 1992 [1644], S. 96.

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Abbildung 5: Erwin Finlay Freundlichs Brief an Erich Mendelsohn vom 2.7.1918 mit Turmskizze, in: Klaus Hentschel: Der Einstein-Turm, Heidelberg 1992, S. 75, Abb. 15. Abbildung 6: Erich Mendelsohn, Farbskizze zum Einsteinturm von 1920, in: Hans Wilderotter (Hrsg.): Ein Turm für Albert Einstein. Potsdam, das Licht und die Erforschung des Himmels, Hamburg 2005, S. 103. Abbildung 7: Längsschnitt mit Raumaufteilung und wissenschaftlicher Nutzung 1920er Jahre, in: Erwin Freundlich: Das Turmteleskop der Einstein-Stiftung, Berlin 1927, S. 8-9, Abb. 2. Abbildung 8: Untergeschoss im Zustand von 1927, in: Erwin Freundlich: Das Turmteleskop der Einstein-Stiftung, Berlin 1927, S. 17, Abb. 7. Abbildung 9: Mischzeichnung aus Ansichten und Schnitten, in: Astrophysikalisches Institut Potsdam (Hrsg.): Der Einsteinturm in Potsdam. Architektur und Astrophysik, Berlin 1995, S. 88, Abb. 72.

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Elektrolytische Empfangs- und Sendedetektoren im Gehirn

Antje Pfannkuchen | Ezra Pounds Vortex im Äther der Kunst

Antje Pfannkuchen

Ezra Pounds Vortex im Äther der Kunst Am 3. Dezember 1924 schrieb Ezra Pound aus dem italienischen Rapallo an Percy Wyndham Lewis in London: I have just, ten years an a bit after its appearance, and in this far distant locus, taken out a copy of the great MAGENTA cover’d opusculus. We were hefty guys in them days; and of what has come after us, we seem to have survived without a great mass of successors.1 Der Dichter Pound entsinnt sich des Jahres 1914. The great MAGENTA cover’d opusculus war die erste Nummer der Zeitschrift Blast vom Juni 1914; ihr Herausgeber, der Maler Wyndham Lewis, erinnert Blast als das „hugest and pinkest of all magazines“2. Dieses Opus hatte offenkundig eine besondere Bedeutung im Leben beider Männer, die Erinnerung daran durchzieht ihre gesamte 43 Jahre andauernde Korrespondenz. Vor allem Pound kommt immer wieder darauf zurück. In der Tat bleibt das Thema vom ersten bis zum letzten Schreiben des im Jahre 1985 edierten Briefwechsels aktuell und kein anderer in dieser Ausgabe indizierter Begriff wiederholt sich im Laufe der Jahre so oft wie Blast3. Während Pound 1914 im ersten veröffentlichten Brief noch Blast-Korrekturfahnen von Lewis forderte, schrieb er 1957, nur einen Monat vor Lewis‘ Tod, der ihre nicht immer ungetrübte, aber fast ein halbes Jahrhundert währende Freundschaft beendete, über eine Radiosendung, welche in noticing the disease of modern awt listed all movements save the VORT/ AND as the listed movements were precisely those criticized in BLAST of holy memOry, and as by chance the main VORTS opposed pinkismo from the beginning the coINcidence shd/ be USED.4 In diesem letzten Zitat taucht jener Begriff auf, der im Zusammenhang mit Blast auf die Welt kam, im Untertitel der Zeitschrift: „Review of the Great English Vortex“. Pound schreibt VORT und referiert damit auf seine vom Vortex abgeleitete Wortschöpfung Vortizismus, bzw. die an der so benannten Kunstbewe1 Pound: „Brief an Lewis, 3 Dec. 1924“, in: Lewis/Pound: Letters, S. 138. Die Rechtschreibung in den Zitaten Pounds entspricht – auch und vor allem, wenn sie seltsam erscheint – der Originalschreibweise Pounds. 2

Lewis: Rude Assignment, S. 135.

3

Vgl. Lewis/Pound: The Letters, passim.

4

Pound, in: ebd. S. 302.

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gung beteiligten Vortizisten, die – wie in besagter Radiosendung – weder zum ersten noch zum letzten Mal in einer Auflistung avantgardistischer Künstlergruppen vergessen wurden. Der Grund für diese Auslassung mag darin zu suchen sein, dass der Vortizismus nur einen Monat vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges aus der Taufe gehoben wurde und deshalb von den weltpolitischen Ereignissen so schnell überschattet wurde, dass er nie die Bekanntheit erreichte, die andere kontinentale Künstlergruppen genossen, die sich entweder lange vor oder nach dem Krieg zusammen fanden.

Abbildung 1: Blast 1, Titel, Juli 1914.

Der Pound-Lewis Briefwechsel ist insofern bemerkenswert, dass er zeigt, wie stark Pound in das Projekt Vortizismus investiert hat. Selbst noch über vierzig Jahre, nachdem das kurze Leben der Künstlergruppe geendet und als Pound die Siebzig überschritten hatte, identifizierte er sich mit seinen damaligen Zielen und sähe den Vortizismus gern reaktualisiert. Es ging dabei um mehr als Nostalgie. Wie wir im Folgenden sehen werden, hatte der Vortex eine ganz besondere und hochkomplexe Bedeutung für Pounds künstlerische Entwicklung, der er in seinen Briefen bis ins hohe Alter Reverenz erwies. Obgleich Lewis und Pound zusammen als Taufpaten des Vortizismus gelten, hatten sie von Beginn an recht unterschiedliche Vorstellungen davon. Pound interessierte vor allem Dichtung und was der Vortex da hineinwirbeln könnte, Lewis dagegen schrieb zwar auch Romane, war aber zuallererst ein Maler und bezog

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seinen Vortex auf die bildende Kunst. In einem Brief an den Herausgeber der Partisan Review, den er zwar nie abschickte, bestand er darauf, dass die Künstlergruppe seine Erfindung war und dass es sich um „purely a painters affair“ handelte, wogegen er den Imagismus – Pounds vorangegangene Theorie und Gruppe – als „a purely literary movement“ klassifiziert, „having no relation whatever to vorticism, nor anything in common with it“ 5. Lewis’ Bemühungen, den Vortizismus als eine rein visuelle Unternehmung zu klassifizieren, waren insgesamt recht erfolgreich. Wenn Vortizismus heute überhaupt bekannt ist, dann fast immer als Projekt der bildenden Kunst. Das wird ihm jedoch nicht gerecht. Es war immerhin Pound, der den Namen erfand und der mehr als jeder der beteiligten bildenden Künstler, inklusive Lewis, mit dieser Namenswahl verband.

Die Geburt des Vortizismus Schon im Jahre 1913 plante Lewis die Herausgabe einer Kunstzeitschrift, machte aber nur langsame Fortschritte. Der Arbeitstitel „BLAST“ mit unklarer Herkunft schien umstritten. Am 17. Dezember 1913 schrieb sein Malerkollege Edward Wadsworth an Lewis: „I have not been able to think of another name for Blast and I am not convinced yet really that Blast is bad [...] In any case I don’t think we ought to change the name unless for something better.“6 Aber das war genau das Problem: etwas Besseres zu finden. Im März 1914 berichtete Ezra Pound in einem Brief an seine Verlobte Dorothy Shakespear, dass Lewis ihn besucht habe und „has gone off with eleven nice blasty poems of mine“ für seine „revue cubiste“. Noch im April 1914 meldet er James Joyce „Lewis is starting a new Futurist, Cubist, Imagiste Quarterly. [...] I cant tell, it is mostly a painters magazine with me to do the poems“7. Noch ist keine Rede von Vortex oder Vortizismus. Der konkrete Anlass für diese Zeitschrift war das Ziel, eine genuin britische Kunstbewegung zu begründen. Nachdem Pound, Lewis und andere Londoner Künstler anfangs vom italienischen Futurismus begeistert waren, gingen ihnen die arroganten Auftritte Filippo Tommaso Marinettis in der Londoner Kunstszene zunehmend auf die Nerven. In einem Artikel vom Juni 1914 empörte sich Lewis: „England practically invented this civilisation that Signor Marinetti has come to preach to us about.“8 Als Marinetti dann auch noch ein englisches Futuristisches Manifest veröffentlichte und ungefragt nicht nur die Adresse des von Lewis gegründeten Rebel Art Centres sondern auch die Namen diverser Künstler, die mit dem Zentrum assoziiert waren, als Absender daruntersetzte, versam5

Lewis: Letters, S. 492.

6

Zit. nach Cork: Vorticism and Abstract Art in the First Machine Age, Bd. 1, S. 230.

7

Joyce/Pound: The Letters of Ezra Pound to James Joyce, S. 26.

8

Cork: Vorticism and Abstract Art in the First Machine Age, Bd. 1, S. 234.

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melte sich um Lewis „a determined band of miscellaneous anti-futurists“9. Sie sprengten die Veranstaltung, auf der Marinetti den englischen Futurismus proklamierte, in einer Art Gegenputsch. Bei dieser Gelegenheit gaben sich die Störer zum ersten Mal den Namen „Vortizisten“ und die englische Presse war fast noch schneller als die Vortizisten selbst, ihre Existenz zu verkünden. Am 15. Juni schrieb der Yorkshire Observer: „Futurism in this country has hardly been born before it has budded of into Vorticism.“10 Da war plötzlich der lange gesuchte Name – erschienen scheinbar aus dem Nichts. Vortizismus sollte die propagandistische Lücke der Selbstbehauptung der englischen Kunst füllen, nachdem sie durch Marinettis Aktion umso deutlicher aufgezeigt worden war. Die Künstlergruppe wollte und musste sich eindeutig von den Futuristen abgrenzen und dies war nur möglich mit einem Namen, der individueller war, als sich einfach nur Rebellen oder gar Anti-Futuristen zu nennen. Der Erfinder des Namens war, wie von verschiedenen Vortizisten bestätigt, niemand anders als Ezra Pound. – Aber warum Vortizismus? Der Neologismus war eine Ableitung von Vortex, dem Wirbel, aber was machte diesen Wirbel so besonders englisch? War es die Metapher der Stadt London als wirbelnder Vortex, die Pound in einem Brief an seinen Freund William Carlos Williams gebrauchte?11 Oder war es ein anderer Wirbel, den Pound in einem Brief an seine Verlobte Dorothy Shakespear als zentral für jedes künstlerische Schaffen bezeichnet hatte: „Energy depends on ones ability to make a vortex – genius même“12? Für die anderen Vortizisten, Lewis eingeschlossen, schien der Name eine fast arbiträre Wahl zu sein. Zum Anlass einer Vortizismus Retrospektive in der Londoner Tate Gallery im Jahre 1956 schrieb Lewis: „Vorticism. This name is an invention of Ezra Pound. [...] What does this word mean? I do not know. How anyone can get angry about it, I cannot imagine, but let me say I did not ask for this meaningless word to be revived at the Tate“13. 1956 scheint der Vortizismus für Lewis – im Gegensatz zu Pounds zeitgleichen Wiederbelebungsphantasien – bedeutungslos geworden, der Vortex war es möglicherweise schon immer. Wie für die meisten anderen Vortizisten war für Lewis das Wort Vortex vor allem deshalb interessant, weil es als Propagandawort Assoziationen und Bilder zuließ, mehr nicht. Damals im Jahre 1914 nahmen die Vortizisten ihren Namen freudig an und gaben ihm ihre jeweils eigene Bedeutung. An den drei kurzen Aufsätzen in Blast 1: Our Vortex von Lewis, Vortex, Pound und Vortex Gaudier-Brzeska, sieht man die 9 Lewis: Blasting and Bombardiering, S. 36. 10 Zit. nach Cork: Vorticism and Abstract Art in the First Machine Age, S. 234. 11 Siehe: Pound/Williams: Selected Letters, S. 23. 12 Pound/Shakespear: Their Letters, S. 251. 13 Lewis: The Letters of Wyndham Lewis, S. 567.

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unterschiedlichen Auffassungen über den Vortex deutlich. Walter Michel hat die Differenz in einem Satz sehr klar umrissen: „Pound links the symbol of the Vortex to his ideas of primary form; Gaudier uses it as the starting point for his magnificent survey of the art of sculpture; Lewis, in ‘Our Vortex’, makes much use of the name, but barely acknowledges the possibilities of the symbol.“14 Lewis und der Bildhauer Henri Gaudier-Brzeska benutzen den Vortex als eine ebenso willkommene wie überladene Wortfigur. Der Vortex ist für sie ein Wirbelwind, der fast alles einschließt und dessen gesamte Energien in seinem Zentrum konzentriert sind, genau da, wo sich der Vortizist lokalisiert sieht. Pounds Vortex-Beschreibung15 unterscheidet sich von all dem sehr deutlich und grundsätzlich. Wohl enthält sie ebenfalls die Pointe, dass „the vortex is the point of maximum energy“ und dass „all experience rushes into this vortex“. Es scheint aber, als habe bei Pound der Vortex-Begriff von Beginn an mehr Struktur und Form, jenseits einer rein willkürlichen Wortwahl. Wenn Pound von seinem Vortex spricht, referenziert er, der vortizistische Finder des Wortes, auf solch nüchterne Mechanismen und naturwissenschaftliche Termini wie „efficiency“, „mechanics“ oder „fluid force“. Pounds Andeutungen beziehen sich auf Kräfte, Effizienz und Mechanik, also auf Physik. Parallel dazu benennt er das „primary pigment“ als dasjenige, wovon ein Künstler in seinem wahren Künstlertum abhängt. In der damals zeitgenössischen englischen Physik existierte ebenfalls der Begriff des Vortex und zwar an zentraler Stelle der physikalischen Atom-Konzeption. Ließe sich also ein Zusammenhang finden zwischen dem ‚Wirbel‘ und dem ‚primary pigment‘, welches, in die Physik rückübersetzt, nichts anderes denn das Atom wäre? Die naturwissenschaftliche Metaphorik in Pounds Blast/Vortex-Manifest gibt Anlass genug, dieser Frage im Folgenden nachzugehen.

Das perfekte Symbol Anders als seinen Kollegen war Ezra Pound der Name nicht zufällig begegnet und er wusste ganz augenscheinlich, woher er ihn nahm und warum. Nur verbirgt er seinen Lesern, wie so oft, die Quelle. Diese Unklarheit führt dazu, dass fast alle Autoren, die über die Vortizisten schreiben, beginnen, entweder einsilbig oder phantasievoll zu werden, wenn es darum geht, die Herkunft des Vortex zu bestimmen. Viele halten auch die metaphorischen Bedeutungen des Wirbels für eine ausreichende Begründung der Namenswahl. Dass aber zumindest in Pounds Fall mehr dahinter steckte, soll hier gezeigt werden.

14 Michel: Wyndham Lewis, S. 63. 15 Pound: „Vortex. Pound“, S. 153-4.

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Abbildung 2: Erste Seite von: Ezra Pound, Vortex. Pound.

Es ist sicher nicht falsch anzunehmen, dass Pounds Prägung der Zukunftsmetapher Vortizismus vor allem seinen eigenen literarischen Intentionen geschuldet war. Aber doch betrieb Pound in seinem Vortizismus-Text in Blast und bereits vorher in Zeitschriftenartikeln die Programmatik einer Verbindung aller Künste, selbst wenn dies ein hauptsächlich theoretisches Projekt blieb. Aber es war diese Idee eines umfassenden Kunstbegriffs, die ihn bewogen hat, sich in die Bewegung, die eine vortizistische werden sollte, einzuschmuggeln. Bevor Pound jene Künstlergruppe Vortizisten taufte, war sie tatsächlich ein Freundeskreis von Malern gewesen, während Pounds unzweideutiger Fokus auf Literatur, insbesondere auf Lyrik lag. Dies stellte für Pound kein Hindernis dar – im Gegenteil. Für Pound erlangte nicht allein die Literatur, sondern gleichsam die ganze Welt Bedeutung nur durch ihre Relevanz für seine poetischen Theorien. Schon früh hatte er für sich beschlossen, mit Dreißig ein exorbitantes Expertenwissen über Dichtung16, aber nicht nur über sie zu besitzen, und er ist diesem Projekt auch im Vortizismus nicht untreu geworden. Mit dem Vortex bringt Pound eine neue Welt in seine Ästhetik, die ihm erlaubt eine Poetik zu entwickeln, die alle Künste verbindet, möglicherweise mehr als nur die Künste. In den Avantgarde Künstlergrup16 Pound: „How I Began“, S. 147.

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pen wie den Vortizisten trafen Maler auf Schriftsteller und Bildhauer auf Poeten. In Pounds Schriften treffen diese auf weitere Inspirationen, selbst wenn diese oft nur für Pound selbst und wenige Eingeweihte entschlüsselbar sind. Der Vortex bildete für ihn, was er ein ‚perfektes Symbol‘ nannte: es funktioniert (irgendwie) für jeden Leser, einfach durch seine vordergründige Metaphorik, während sich der gesamte Bedeutungsrahmen nur dem ‚Eingeweihten‘ erschließt. Ganz so, wie Pound die Art der Gesänge des von ihm so sehr verehrten Dante beschrieb: „They make their revelations to those who are already expert.“ 17 In einem Artikel für Poetry Review im Jahre 1912 präzisierte Pound seine Definition des perfekten Symbols: I believe that the proper and perfect symbol is the natural object, that if a man use ‚symbols‘ he must so use them that their symbolic function does not obtrude; so that a sense, and the poetic quality of the passage, is not lost to those who do not understand the symbol as such, to whom, for instance, a hawk is a hawk.18 Mit der scheinbar so harmlosen Wahl des Falken als Beispiel für seine radikale Symboltheorie deutet Pound bereits an, wie viel ein naiver Leser verpasst, wenn er die umfängliche Bedeutung eines Symbols nicht kennt, sondern nur ‚a sense‘, also einen Eindruck, und keine Gesamtimpression erhält. Den Falken einfach als einen Raubvogel zu betrachten, mit allen Implikationen, die das bedeuten mag, wird diesem Symboltier in keiner Weise gerecht. Der Liebhaber und Wissenschaftler mittelalterlicher Minnelyrik, Ezra Pound, wird die beträchtliche Bedeutung des Falken vor allem im Mittelalter als Status- und Herrschaftssymbol schlechthin,19 wohl gekannt haben. Wenn er genau dieses Bild als Muster für seine Verwendung von Symbolen anbietet, klingt es, als lege er buchstäblich eine Falle aus für jeden weniger (als er) gebildeten Leser. Mit dem Vortex versucht Pound genau dasselbe. Um die Geheimnisse des Vortex zu entschlüsseln, müssen wir Experten des Vortex werden. Zu diesem Zweck werden wir das engere Feld von Kunst und Literatur verlassen und uns auf das Gebiet der Physik begeben, wohin uns Pounds Vortex-Artikel zu verweisen scheint. Pound selbst hatte einen jungen Dichter angehalten: „One should always find a few things which ‚no other living person‘ has done, a few vast territories of print that you can have to yourself and a few friends.“20 Eines dieser ‚vast territories‘, auf das sich bisher nur we17 Pound: The Spirit of Romance, S. 89. 18 Pound: „Prologomena“, S. 60. 19 Vgl. dazu Carroll: „Ancient & Medieval Falconry“, darin über mittelalterliche Falknerei: „For the nobility, falconry practiced on a magnificent scale became an essential element in establishing and maintaining personal and national prestige.“ 20 Pound: The Letters, S. 140.

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nige Literaturwissenschaftler und noch weniger Pound-Forscher gewagt haben,21 ist das Terrain der Naturwissenschaft, oder konkreter: das Gebiet der englischen viktorianischen Physik in ihrer Bedeutung für Pound. Pounds Metaphern zeigen darauf, auch wenn er die Verweise zu verstecken sucht. Um die Andeutungen zu verstehen, müssen wir uns einen Kontext schaffen, wie Pound selbst einmal anmerkte: „Your first job is to get the tools for your work.“ 22 Diese Werkzeuge liegen in der Wissenschaft.

Vortex–Physik Der Vortex oder Wirbel wurde in die Physik des 19. Jahrhunderts von keinem Geringeren als Hermann von Helmholtz (1821-1894) eingeführt. Helmholtz muss auf Ezra Pound einen großen Eindruck gemacht haben, auch wenn Pound nirgendwo eine seiner Arbeiten explizit zitierte. Im Jahre 1914 aber, dem Jahr der Namensgebung der Vortizisten, veröffentlichte Pound mehrere Aufsätze unter dem Pseudonym der beiden ununterscheidbaren Brüder ‚Bastien und Baptiste von Helmholtz‘. Soweit ich sehe und wie auch in der Pound-Literatur bestätigt wird, sind es die einzigen (von vielen) Pseudonymen Pounds, die ein reales Vorbild hatten. Es erstaunt nicht, dass ein Wissenschaftler wie Helmholtz für Pound ein Rollenvorbild abgeben konnte, sowohl „for the interdisciplinary, polymathic approach […] that Pound admired in all branches of learning“, wie auch „for the figure of a man isolated from his contemporaries by his distance from the mainstream of current thought.“23 1858 veröffentlichte Helmholtz einen Artikel „Über Wirbelbewegungen“, über den sich der britische Physiker und Radiopionier Oliver Lodge noch 1925 begeisterte. Er nennt es ein „epoch-making paper on Vortex theory, which may be said to have initiated modern hydrodynamics“24. Jene Helmholtzsche Schrift Über Wirbelbewegungen25 von 1858 war allerdings nicht nur der Ausgangspunkt für eine moderne Hydrodynamik, sondern auch für neue Theorien über den Äther, und daran anschließend die Qualität und die Eigenschaften des Atoms. Ohne Helmholtz, ob Pound das nun wusste, oder nicht, hätte der Vortex-Begriff jedenfalls niemals den zentralen Platz in der englischen Physik der Jahrhundertwende einnehmen können, von dem Pound ihn abholte. In seinem Artikel studierte Helmholtz Teilchenbewegung in idealen Flüssigkeiten – zu seiner Zeit ein 21 Ausnahmen bilden: Bell (Critic as Scientist); Clarke (From Energy to Information); Hagen („Okkultismus der Avantgarde“); Henderson (The Fourth Dimension). 22 Pound: The Letters, S. 140. 23 Bell: Critic as Scientist, S. 160. 24 Oliver Lodge, zit. nach ebd. S. 161. 25 Helmholtz: Über Wirbelbewegungen, S. 3-37.

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rein mathematisches Konzept, heute (fast) experimentelle Wirklichkeit.26 Diese idealen Flüssigkeiten sind (theoretisch) reibungsfrei ohne Geschwindigkeitspotential. Letzteres heißt mehr oder minder, dass die Flüssigkeit insgesamt nicht in Bewegung ist27. Diese Bedingung macht Helmholtz’ Untersuchung so bahnbrechend. Bis dahin waren praktisch ausschließlich Verwirbelungen bewegter Flüssigkeiten untersucht worden. Das fehlende Geschwindigkeitspotential heißt nun aber keineswegs, dass es gar keine Bewegung gibt, ganz im Gegenteil: „Die Existenz eines Geschwindigkeitspotentials schliesst die Existenz von Rotationsbewegungen der Wassertheilchen aus,“28 schreibt Helmholtz. „Nur in dem Falle, wo kein Geschwindigkeitspotential existirt, können Drehungen der Wassertheilchen, und in sich zurücklaufende Bewegungen“ vorkommen. D.h. nur unter der von Helmholtz neu eingeführten Bedingung, dass eine Flüssigkeit kein Geschwindigkeitspotential hat, rotieren ihre kleinsten Teilchen ‚frei‘. Und er leitet daraus die Definition einer wirbelförmigen Bewegung ab: „Wir können daher die Bewegungen, denen ein Geschwindigkeitspotential nicht zukommt, im Allgemeinen als W i r b e l b e w e g u n g e n charakterisieren.“29 Die Wirbelbewegung der einzelnen Teilchen in einer entsprechenden Flüssigkeit ohne Reibung bleibt darüber hinaus konstant: „Diejenigen Wassertheilchen also, welche nicht schon Rotationsbewegungen haben, bekommen auch im Verlaufe der Zeit keine Rotationsbewegungen.“30 Die rotierenden Teilchen dagegen werden endlos weiter rotieren. Sie bilden dabei sogenannte ‚Wirbellinien‘, die sich wiederum zu Wirbelfäden zusammenschließen. Diese Wirbellinien und -fäden ändern ihre Zusammensetzung nie und ein Wirbelfaden kann nirgends innerhalb der Flüssigkeit aufhören, „sondern [muss] entweder ringförmig innerhalb der Flüssigkeit in sich zurücklaufen, oder bis an die Grenzen der Flüssigkeit reichen“31. Die in sich zurücklaufenden Fäden nannte Helmholtz Wirbelringe.32 Sein britischer Kollege James Clerk Maxwell drückte es poetisch aus: „If the fluid is infinite the vortex tube must be infinite, or else it must return into itself.“33 Infinit waren die Helmholtzschen Wirbel sowohl räumlich wie auch zeitlich, sie existierten somit unzerstörbar und waren in der ganzen liquiden Instabilität einer Flüssigkeit so unverwüstlich, wie es der härteste Festkörper kaum sein könnte. 26 Ein Beispiel für eine solche Flüssigkeit ist das superfluide Helium. 27 Eine Ausnahme bildet nach Helmholtz „die Drehung einer Flüssigkeit um eine Axe mit gleicher Winkelgeschwindigkeit aller Teilchen“ (Helmholtz: Über Wirbelbewegungen, S. 3-4), bei der trotz Bewegung kein Geschwindigkeitspotential auftritt. 28 Ebd. S. 10. 29 Ebd. S. 11-12. 30 Ebd. S. 13. 31 Ebd. S. 16. 32 Ebd. S. 31ff. 33 Maxwell: „Atom“, S. 470.

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Damit war in einer idealen Flüssigkeit ein Element definiert, dem das physikalische Verhalten eines Festkörpers zu attestieren war, und das machte diese Theorie so besonders interessant für William Thomson (Lord Kelvin), den der Widerspruch beschäftigte, wie sich im Äther, einer idealen Flüssigkeit, transversale Stoßwellen sollten fortbewegen können – wie die elektromagnetischen und die des Lichts –, die mathematisch und physikalisch extrem feste Körper voraussetzen. Die ideale ‚Festigkeit‘ von Wirbelringen in idealer Flüssigkeit, wie Helmholtz sie definierte, schaffte hierfür jetzt die mathematischen Lösungsbedingungen. Ausgehend von Helmholtz‘ Wirbeltext entwickelte William Thomson sein Äther-Vortex-Atommodell. Helmholtz und Kelvin hatten sich kennengelernt, als sie Anfang 30 waren. „Engste Freundschaft und grösste gegenseitige Verehrung verband nahezu 40 Jahre hindurch die grossen Forscher, bis der Tod sie trennte“34, schreibt Helmholtz-Biograph Leo Koenigsberger. Sie tauschten sich regelmäßig über wissenschaftliche, wie auch persönliche Dinge aus. Nichtsdestotrotz kam Kelvin erst im Jahre 1867, fast 10 Jahre nach ihrem Erscheinen, dazu, Helmholtz’ WirbelSchrift zu lesen. Die Verlegung der englischen Seekabel, bzw. die Enträtselung der dabei auftretenden gravierenden physikalischen Probleme hatten ihn bis dahin voll beschäftigt. Das nächste Interesse Kelvins war nicht mehr nur darauf gerichtet, ein Medium – das Meer und seinen Einfluss auf stromdurchflossene Leiter – zu beherrschen, sondern es ging ihm um das Medium aller Materien schlechthin, den Äther. Kelvin entwickelte – im Anschluss an Helmholtz – Gleichungen, mit Hilfe derer er das unsichtbarste, ungreifbarste, unfühlbarste, unwägbarste Gespinst der Physikgeschichte zur Grundlage des gesamten Universums erklären konnte. Er schrieb begeistert von den Wirbeln an Helmholtz: The absolute permanence of the rotation and the unchangeable relation you have proved between it and the portion of the fluid once acquiring such motion, in a perfect fluid, shows that if there is a perfect fluid all through space, constituting the substance of all matter, a vortex ring would be as permanent as the solid hard atoms assumed by Lucretius and his followers.35 Kelvins Artikel On Vortex Atoms erschien im Band VI (1867) der Proceedings of the Royal Society of Edinburgh und wurde noch im selben Jahr im Philosophical Magazine36 (Band XXXIV) erneut abgedruckt. Thomson eröffnet mit den hypothe34 Koenigsberger zit. nach Hörz: H. Helmholtz und W. Thomson, Bd. 1, S. 12. 35 Ebd. Band 2, S. 31. 36 The London, Edinburgh, and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science war damals die wichtigste englischsprachige Wissenschaftszeitschrift, vor allem auf dem Gebiet

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tischen Behauptungen, „that Helmholtz’s rings are the only true atoms“ und „all bodies are composed of vortex atoms in a perfect homogeneous liquid“37, als das der Äther vorgestellt wurde. Das Atom galt damals selbstredend als kleinste Einheit der Materie. Maxwell begann seinen Artikel zum Atom für die 9. Auflage der Encyclopædia Britannica mit dem fraglosen Satz: „Atom […] is a body which cannot be cut in two.“38 Nach allen zu dieser Zeit bekannten Experimenten der Physik musste das Atom unzerstörbar sein, eine definierte Masse haben und sich auf eine festgelegte Weise in Schwingung befinden – also genau die Eigenschaften haben, die Helmholtz für einen Vortexring beschrieben hatte. Was lag also näher als anzunehmen, dass dies kein Zufall war.

Abbildung 3: Verschiedene mögliche Vortex-Knoten nach Kelvin.

Die Vorstellung des Vortex-Atommodells basierte also auf der Existenz des Äthers und implizierte die geradezu phantastische Pointe, dass Materie und Äther prinzipiell aus dem gleichen Stoff bestanden, welcher sich nur dadurch unterschied, in welchem Bewegungszustand er sich befand. Das hieß, allein die Wirbelbewegung machte aus einem imponderablen Äther ponderable Materieteilchen, die der Gravitation unterlagen; und auch der Grad der Härte oder Elastizität fester Körper würde allein durch „the very rapid motion of something which is infinitely soft and yielding“39 bestimmt. Vortex-Bewegung wäre somit der Anfang aller (materiellen) Dinge. der Physik. Die Fortsetzung, The Philosophical Magazine, ermöglicht seit 1949 mit ihrem Untertitel eine genauere inhaltliche Zuordnung: A Journal of Theoretical, Experimental and Applied physics. 37 Thomson: „On Vortex Atoms“, S. 1-2. 38 Maxwell: „Atom“, S. 445. 39 Clifford: „Review of The Unseen Universe“, S. 784.

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Diese Vereinigung von Äther und Atom, die gleichsam zwei Fliegen mit einer Klappe schlug, nämlich das Allergrößte und Allerkleinste zugleich zu erklären, symbolisiert den wahrhaft imperialen Anspruch der viktorianischen Physik. Es war ihr nicht zuvorderst um eine neue Atomtheorie zu tun, sondern es sollten in ihr und mit ihr ihre universelle Bedeutung und Geltung zugleich mit erklärt werden. Das große Ansehen, das die englischen Naturwissenschaften und ganz speziell die viktorianische Physik am Ende des 19. Jahrhunderts genossen, hing nicht zuletzt an dieser Behauptung, die innersten und endgültigen Zusammenhänge der Welt und des Lebens erklären zu können, ganz parallel zum Machtanspruch des englischen Empire, die Zusammenhänge der Welt unter seine politische Leitung zu stellen, oder wie wenig später Ezra Pounds Anspruch mit seiner ambitionierten Kunsttheorie die Gesamtheit der Kunst, vergangen und zukünftig, zu repräsentieren.

Populäre Wirbel Die Vortex-Atomtheorie wurde schon bald nicht nur in den verborgenen Zirkeln einiger Physiker diskutiert, sondern schwappte über in einen mehr oder minder populären Wissensdiskurs. Die Themen wurden allgemein-philosophisch aufgeladen, populärwissenschaftlich aufbereitet und erreichten so interessierte Laien. Zum Beispiel erschien 1905 in Harper’s Magazine ein Artikel unter der Überschrift „Gravitation and the Ether“, der dem Publikum einen Abriss zum Thema Vortex in der englischen Physik gab. Der Eröffnungsparagraph könnte einen angehenden Dichter wie Pound sofort interessiert haben: „Until Newton, who taught us, as [Herbert] Spencer says, ‚how the universe is balanced,‘ it was only the poet or seer that had divined this truth“40. Pound, dessen erklärtes Interesse es war, den Dichter wieder zum Auguren zu machen, wäre diesem Fingerzeig wohl gefolgt. Insgesamt überwog die populäre Bedeutung der Vortex-Theorie die wissenschaftliche bei weitem, denn das Vortex-Atom löste kein einziges bestehendes physikalisches Problem. Vielmehr lieferte der Vortex ein Modell für eine Hypothese (nämlich die von der Existenz eines Äthers), die ihrerseits niemals bewiesen werden konnte.41 Dies tat ihrer Popularität aber lange keinen Abbruch. Bis 40 Saleeby: „Gravitation and the Ether“, S. 237. 41 Ganz im Gegenteil: Einer der wichtigsten, aber ebenso erfolglosen Versuche, den Äther nachzuweisen, führte schließlich zu seiner vollständigen Abschaffung. Um das fehlgeschlagene Michelson-Morley-Experiment zum Nachweis einer Ätherdrift so zu interpretieren, dass trotz des Negativ-Ergebnisses die Existenz eines Äthers angenommen werden konnte, entwarf der holländische Physiker Hendrik Lorentz 1904 die nach ihm benannte Lorentz-Transformation. Die dabei entwickelten Gleichungen verwendete Einstein für sein Konzept der speziellen Relativitätstheorie im Jahre 1905.

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mindestens in die Jahre der Taufe des Vortizismus bildete der physikalische ÄtherVortex (nicht nur) für Laien den neuesten Stand. Eine der erfolgreichsten Veröffentlichungen, deren wissenschaftliche Grundlage die Vortextheorie ist, war The Unseen Universe, ein populärwissenschaftliches Buch zweier hochangesehener britischer Wissenschaftler. Die Autoren, Balfour Stewart and Peter Guthrie Tait, waren Professoren für Mathematik bzw. Physik sowie Freunde und Kollegen von James Clerk Maxwell and Lord Kelvin. Ihr Buch ist im Kontext des Vortizismus interessant, da in ihm (unter anderem) eine ganz eigene Wirbeltheorie zum zentralen Argument wurde und es vorführte, wie die Vortex-Atomtheorie auf einen Bereich appliziert werden konnte, der von der wissenschaftlichen Physik ähnlich weit entfernt war wie die Kunst der Vortizisten. Stewart und Tait begannen The Unseen Universe, or, Physical Speculations on a Future State, wie der vollständige Titel lautete, mit einer Erläuterung der neusten Entdeckungen und Erfindungen der physikalischen Wissenschaften, gingen dann über zu tiefgehenden Fragen von allgemein-philosophischem Charakter und kulminierten, aus heutiger Sicht betrachtet, in einer Art wissenschaftlichem Spiritismus. Mit The Unseen Universe wollten Stewart und Tait eine Debatte auf den Punkt bringen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wissenschaftliche Community spaltete. Nicht unwesentlich beeinflusst von Charles Darwins Schriften drehte sich der Streit um die Frage, ob die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft mit einem Glauben an Gott vereinbar seien. Analog zu William Thomson, der mit seinem Vortex-Atommodell Atomisten und Anhänger des Kontinuität-garantierenden Äthers gleichermaßen befriedigen konnte, wollten nun Stewart und Tait Gottgläubige und Wissenschaftsverfechter auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Denn: „the presumed incompatibility of Science and Religion does not exist“42, wie die Autoren bereits im Vorwort erklären, vermutlich zur deutlichen Erleichterung vieler damaliger Leser, denen die von Nietzsche wenig später konstatierte Vorstellung, dass Gott tot sei, schlicht unheimlich war. Wie schon in Kelvins Äther-Konzeption, nahm auch in Stewarts und Taits Unseen Universe der Vortex eine Schlüsselrolle ein. Die beiden Autoren zogen aus der Wirbeltheorie der Atome, bei der durch Verwirbelung von Äther Materie entstehen sollte, den Schluss, dass nichts dagegen spräche, dass im gleichen Verhältnis, wie Äther zur Materie existierte, noch ein zweiter Äther, der noch viel feiner als der erste sei, existieren könnte. Die Wirbel dieses zweiten Äthers würden dann nicht Materie, sondern einen sogenannten ‚spiritual body‘ formen, der ein Organismus des ‚unseen universe‘ sei, und, wie es ein Rezensent formulierte, „with whose motions our consciousness is as much connected as it is with our material bodies“43. Die Begründung für diese Behauptung war raffiniert und operierte auf dem höchsten Niveau der Naturwissenschaften der Zeit. Stewart und 42 Stewart/Tait: The Unseen Universe, S. XI. 43 Clifford: „Review of the Unseen Universe“, S. 790.

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Tait veranschaulichten ihre These mit der Analogie von Rauchringen, die schon Kelvin für seine Vortex-Atome verwendet hatte. „Let us begin by supposing an intelligent agent in the present visible universe, – that is to say a man – to be developing vortex rings – smoke-rings, let us imagine. […] Just as the smoke-ring was developed out of ordinary molecules, so let us imagine ordinary molecules to be developed as vortex rings out of something much finer and more subtle than themselves.“44 Nach Stewart und Tait – und hier verließen sie die streng wissenschaftliche Bahn – existierte der Äther weiter, nachdem ein Molekül (oder Atom) verschwunden war, ganz so wie Rauchmoleküle das Verschwinden des Rauchringes überlebten. Sie gingen sogar noch weiter und behaupteten, dass Äther selbst aus Wirbelringen einer noch viel feineren Substanz bestand, etc. ad infinitum. Jede feinere Substanz gab es schon vor der nächst gröberen und wird es auch länger als diese geben. Alles was kleiner war als Moleküle bzw. Atome, zwischen denen damals noch nicht immer streng unterschieden wurde, gehörte nicht mehr zum visible, sondern zum invisible oder eben unseen universe. So wie ein aus Atomen, die eine Vortexstruktur haben, bestehender Mensch Rauchringe produzieren konnte, so konnte ein intelligent agent, der aus einer feineren, für Menschen nicht wahrnehmbaren Substanz bestand, Vortexringe im Äther produzieren. Stewart und Tait: „In fine, our conclusion is, that the visible universe has been developed by an intelligence resident in the Unseen“45 und zwar durch einen „creative act“46, oder wie sie an anderer Stelle schreiben: „an act of creation in time“47 – damit Kelvin zitierend, der schon in seiner allerersten Veröffentlichung zu Vortex Atoms geschrieben hatte (ohne allerdings in irgendeiner Weise weiter darauf einzugehen): „To generate or to destroy ‚Wirbelbewegung‘ in a perfect fluid can only be an act of creative power.“48 Nach einer eingehenden Bibellektüre kommen die beiden Autoren des Unseen Universe zu dem Schluss, dass ihre durch wissenschaftliche Deduktion erlangte Vorstellung eines intelligent agents mit dem Bild des christlichen Schöpfergottes korrespondiert: Das biblische Gottesbild „represents that conditioned, yet infinitely powerful developing agent, to which the universe, objectively considered, appears to lead up“49. „A Divine Agency“50 bzw. Gott soll also die für uns sichtbare Welt dadurch geschaffen haben, dass sie bzw. er Wirbel produzierte. 44 Stewart/Tait: The Unseen Universe, S. 218-219. 45 Ebd. S. 223. 46 Ebd. S. 140. 47 Ebd. S. 155. 48 Thomson: On Vortex Atoms, S. 1. 49 Stewart/Tait: The Unseen Universe, S. 226. 50 Ebd. S. 245.

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Pounds Vortex

Abbildung 4: Alvin Langdon Coburn, Vortographs of Ezra Pound, 1917.

Dieser göttliche Schaffensprozess, dargestellt in einem der populärsten Bücher aus dem ‚Allgemeinwissen‘ ihrer Zeit, führt uns zurück zu den Vortizisten. Wie hatte Ezra Pound an seine Verlobte Dorothy geschrieben? Künstlerische Energie „depends on ones ability to make a vortex“51. Auch bei Pound ist die entscheidende Frage: Wer produziert den Wirbel? Für ihn jedoch hat dabei die Frage nach Gott keine Relevanz; statt dessen erklärt er die Fähigkeit, einen Vortex zu produzieren, propagandistisch und programmatisch zugleich zum Zeichen wahren Künstlertums. Aus der Perspektive des Unseen Universe gesehen, erklärt Pound die Kunst zu seiner Religion und setzt den Künstler an Gottes Statt. Etwas weniger überspitzt könnte man sagen, dass Pound den Vortex aus seiner Schlüsselrolle in The Unseen Universe herausholte, wo Vortex dafür stand, dass Gott als ursprünglicher Schöpfer existiert, und ihn statt dessen zu seiner sehr weltlichen Proklamation umdeutete: der Künstler existiert als ursprünglicher Schöpfer und die Kunst, die er kreiert, ist Vortizismus.

Pounds Wirbel Vortizismus bedeutete mehr für Pound und seine künstlerische Entwicklung als für irgendeinen der anderen Vortizisten. In den Jahren, die er in London lebte, zwischen 1908 und 1920, war er damit beschäftigt, sich eine Poetik zu erarbeiten, auf deren Grundlage er sein Hauptwerk würde schreiben können – die Cantos. Diese am Vorbild von Dantes Divina Commedia orientierten Gesänge beschrieb er selbst als „poem including history“. Pound betrachtete die theoretisch-kritische Arbeit als eine Art Pflichtübung vor der ‚Kür‘ des eigentlichen Schreibens: „I consider 51 Pound/Shakespear: Their Letters, S. 251.

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criticism merely a preliminary excitement, a statement of things a writer has to clear up in his own head sometime or other, probably antecedent to writing.“52 Obgleich er bis zu seinem Lebensende noch viele kritische Texte schrieb, scheint er tatsächlich die Grundlagen seiner literaturwissenschaftlichen Selbstverständigung vor dem ersten Weltkrieg etabliert zu haben. Diese frühen theoretischen Texte waren entscheidend, und er hatte grundlegende Aspekte seiner Poetik bereits in ihnen für sich geklärt. Samuel Hynes schätzte in den 1960er Jahren ein: There is nothing in his later work which contradicts, or even alters significantly, those early statements; Pound’s poetic theory was fixed by the time he was thirty […]. His most important statements date from the years 1913-16 – the years immediately preceding the first Cantos. In the prose writings of this period we can see the process by which Pound formulated the aesthetic which underlies his epic; and it seems reasonable to say that the aesthetic had to be defined before the major work could proceed.53 Pound selbst hat die Grenze nicht ganz so strikt gezogen. In einem Interview mit der Paris Review datiert er den Beginn seiner Arbeit an den Cantos auf einen früheren Zeitpunkt und erläutert die Startschwierigkeiten: „I began the Cantos about 1904 [. . .] or 1905. The problem is to get a form – something elastic enough to take the necessary material. It had to be a form that wouldn’t exclude something merely because it didn’t fit.“ 54 Pound sucht nach einer Form, einem Stoff, einem Medium, in dem alles aufgehoben ist, das jeden künstlerischen Ausdruck ermöglicht, jedes Experiment erlaubt (so wie es die Cantos – literarisch – realisieren werden), nach einem Urstoff also wie dem Äther, haltbar und dehnbar zugleich, jede nur denkbare künstlerische Äußerung aufzunehmen. Die naturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten des elastic solids, dieses universalen Äthermediums, schienen ihm geläufig zu sein und er benutzte sie, um auszudrücken, worauf es ihm in der Poesie ankam.

52 Pound: „Criticism“, S. 266. 53 Hynes: Whitman, Pound and the Prose Tradition, S. 113. Der 1885 geborene Pound veröffentlichte 1917 in „Poetry“ die drei „opening cantons of an exceeding long poem“ (Vgl. Pound: „Note on ‚Three Cantos‘ Poetry“, S. 220). 54 Hall: „Interview with Ezra Pound“, S. 36. Tatsächlich schrieb Pound 1904/05 das Gedicht „Scriptor Ignotus”, in dem es u.a. heisst: „And I see my greatersoul-self bending/ Sibylwise with that forty-year epic/That you know of, yet unwrit/“ etc. (Pound: A Lume Spento and Other Early Poems, S. 38).

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Der Künstler als Wissenschaftler 1913, im Jahr vor der Taufe des Vortizismus, beschäftigte Pound der Vergleich der Arbeit des Naturwissenschaftlers mit der des Künstlers besonders. In mehreren Texten aus jenem Jahr zog er diese Gegenüberstellung heran, um sich ganz klar von einer Genie-Ästhetik zu distanzieren, nach welcher „a lyric poet might as well die at thirty“; dagegen setzte er, dass „most important poetry has been written by men over thirty“55. Denn die Arbeit eines „serious artist“ – das wollte Pound klarmachen – hat nichts mit spontaner Erleuchtung zu tun, sondern ist ein nachhaltiger, experimenteller Schaffensprozess und insofern wiederum vollkommen vergleichbar mit naturwissenschaftlicher Arbeit: „[The serious artist] is like a chemist experimenting, forty results are useless, his time is spent without payment, the forty-first or the four hundredth and first combination of elements produces the marvel.“56 Zur Begabung und Tugend des ernsthaften Künstlers gehörte somit auch, zu erkennen, welche Versuche missglückt waren und wann er das ‚Wunderbare‘ gefunden hatte. Für Pound war es, wie er selbst rückblickend erklärte, schon sehr früh klar, dass es vieler Anstrengungen bedurfte, ein guter Dichter zu werden. Unter der Überschrift How I Began schrieb er 1913 in einem Zeitungsartikel: „I knew at fifteen pretty much what I wanted to do. I believed that the ‚Impulse‘57 is with the gods; that technique is a man’s own responsibility.“ Und er beschloss aus genau diesem Grund – um sich eine Technik zu erarbeiten, die den ‚göttlichen Impuls‘ umsetzen könnte – „that at thirty I would know more about poetry than any man living“. Pound wollte, wie er immer wieder betonte, wissen, was geschrieben war – wie jeder Wissenschaftler, der als Student die bisherigen Erkenntnisse seines Faches studiert. Diesen Ehrgeiz, ‚alles‘ über Dichtung zu wissen, verteidigte Pound, auch wenn er einsah, dass ihm all seine Studien nicht wirklich beim Dichten selbst helfen würden, da „no amount of scholarship will help a man to write poetry“. Jedoch wird ihn sein Wissen daran hindern, vermeintlich Neues zu erfinden, das schon längst existiert und er wird ein Bewusstsein für Qualität erlangen, welches „does help him to destroy a certain percentage of his failures“58. Tatsächlich muss Pound in seinen frühen Jahren Unmengen von Gedichten vernichtet haben, die einer Relektüre nicht standhielten. Was Pound an der Arbeit der Wissenschaftler besonders schätzte, ist ihre Exaktheit, oder, wie er es nannte und gern auf die Literatur übertragen sähe: „a pas55 Pound: „The Serious Artist“, S. 52. 56 Pound: Patria Mia, S. 38. 57 Auch hier wieder die Referenz auf die Naturwissenschaften, denn Impuls ist zu allererst ein physikalischer Terminus technicus. 58 Alle Zitate aus Pound: „How I Began“, S. 147.

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sionate desire for accuracy“59. Pound beklagt, dass „it is nearly impossible to write with scientific preciseness about ‚prose and verse‘ unless one writes a complete treatise on the ‚art of writing‘, defining each work as one would define the terms in a treatise on chemistry“60. Die meisten Literaturtheoretiker gehen nach Pounds Eindruck viel zu wenig genau mit den Objekten ihrer Studien um. In einer Rezension des Buches The Science of Poetry von Hudson Maxim61 übte Pound bereits 1910 harsche Kritik: „His [Maxim’s] first scientific definition of poetry depends on a word equally undefined, i.e., ‚artistic.‘ “ Insgesamt gebe es in diesem Buch zwar einige gute Ansätze, die der Autor aber in keiner Weise ausfülle: „If he begins by saying that six is more than four, he ends by saying that green is a prettier color than pink.“ Pound war es unverständlich, wie Maxim als Wissenschaftler – er war Chemiker – die nach Pounds Auffassung naheliegendsten Verwandtschaften übersehen konnte: „The equations of analytical geometry […] are, however, much nearer to poetry in their essential nature than anything Mr. Maxim succeeds in defining […] I suspect that the noted chemist is as little a mathematician as he is master of English.”62 Pound hatte deshalb für Maxims Buch nicht mehr übrig als einen kompletten Verriss, da es nach seinem Dafürhalten in keiner Weise dem ambitionierten Titel einer ‚Wissenschaft der Poesie‘ gerecht wurde. Pound lehnte die vorgeblich wissenschaftlichen Methoden des Chemikers Hudson Maxim ab und zwar nicht, weil er die Gebiete Dichtung und Wissenschaft für inkompatibel hielt, sondern im Gegenteil: „poetry does admit of scientific analysis and discussion; it is subject to law and laws. […] Poetry admits new and profounder explanations in the light of modern science, but Mr. Maxim has not contributed to the advance of this critical science.“63 In anderen Worten: im Lichte der modernen Wissenschaft erlangt auch die Poesie neue und tiefere Inhalte und Erklärungen, allerdings nur für jenen, der sich in den Regeln der Dichtkunst genauso gut auskennt, wie in den Gesetzen der Naturwissenschaft. Woran es Maxims Buch fehlt ist schlicht und einfach Sachkenntnis – für Pound ein unverzeihlicher Fauxpas. Die Vermittlung fachlicher Kompetenz war für Pound das A und O bei der Beurteilung eines jeglichen Werkes, sei es künstlerisch oder wissenschaftlich. In jener Forderung, die Pound für sich und andere aufstellte, dass man nur über Dinge schreiben soll, von denen man tatsächlich etwas versteht, ist der Grund dafür zu suchen, dass Pound damals selbst immer und überall ‚nur‘ über Literatur schrieb. Die Dichtung war sein Fach. Er zog jeden Vergleich heran, 59 Pound: „Patria Mia I“, S. 77. 60 Pound: „The Serious Artist III“, S. 199. 61 Pound: „The Science of Poetry“, S. 41. 62 Ebd. S. 41. 63 Ebd. S. 41.

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der ihm half, sich klarer zu artikulieren, aber er hätte niemals eine im eigentlichen Sinne naturwissenschaftliche Abhandlung geschrieben. Ähnlich wie Kelvin mit dem Vortex-Atom in der Physik ging es Pound mit seinem Vortizismus Projekt in der Literatur nicht einfach darum, eine neue Theorie zu erfinden. Vielmehr sollte mit den von ihm explizierten Thesen endlich eine grundlegende Frage über den Status der Dichtung geklärt und damit inhärente Mechanismen klargelegt werden, die schon immer implizit in jedem Meisterwerk vorhanden waren.64 Pounds Ziel war es to clear up a certain messy place in the history of literature […] to make our sentiment of it more accurate. […] For it is certain that we have had no ‚greatest poet‘ and no ‚great period‘ save at, or after, a time when many people were busy examining the media and the traditions of the art.65 Für diese Aufräumarbeiten griff er direkt auf den Wissensstand der Physik seiner Zeit zurück, wenn er schrieb: „We have about us the universe of fluid force“ und „in the realm of fluid force, one sort of vibration produces at different intensities, heat and light.“66 Der fluidale Äther als Medium von elektromagnetischen Wellen war ihm bekannt und in einem solchen Universum, das die kontemporären Naturwissenschaften so exakt zu beschreiben vermochten, sollte Pounds Dichtung nun die Formel für die Essenz des menschlichen Lebens verankern. Denn „Art is a fluid moving above or over the minds of men“67, also in etwa so, wie jener zweite feinere Äther Stewarts und Taits nicht mehr nur die Materie umgab und bildete, sondern einen ‚spiritual body‘ formen sollte, der über den menschlichen Körper hinaus eine Verbindung zum Geist, zur Seele bzw. zum Bewusstsein hatte68. Pound nahm Kunst radikal ernst, sie war für ihn niemals Zeitvertreib. William Carlos Williams erinnerte sich noch in den 1960er Jahren, dass „Ezra never explained or joked about his writing […] He joked, crudely, about anything but that.“69 Die ‚immorality of bad art‘ brachte ihn auf die Barrikaden:

64 Diese Suche nach einer ‚ganzheitlichen‘ Erklärung der Welt ist in der Vortex-Atomtheorie genauso präsent wie in heutigen String- oder Urknall-Theorien. 65 Pound: „I Gather the Limbs of Osiris“, S. 45. 66 Pound: The Spirit of Romance, S. 92-94. 67 Ebd. S. 7. 68 Vgl. Stewart/Tait: The Unseen Universe, S. XVI, 208. 69 Williams, zit. nach Ackroyd: Ezra Pound and his world, S. 10.

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Bad art is inaccurate art. It is art that makes false reports. If a scientist falsifies a report either deliberately or through negligence we consider him as either a criminal or a bad scientist […] and he is punished or despised accordingly. […] If an artist falsifies his report as to the nature of man, as to his own nature, as to the nature of his ideal of the perfect, […] in order that he may conform to the taste of his time, to the proprieties of a sovereign, to the conveniences of a preconceived code of ethics, then that artist lies. If he lies out of deliberate will to lie, if he lies out of carelessness, out of laziness, out of cowardice […] he should be punished or despised in proportion to the seriousness of his offence.70 1912 beschwor Pound die Verlegerin Harriet Monroe: „Can you teach the American poet that poetry is an art, an art with a technique, with media […] I’m sick to loathing of people who don’t care for the master-work, who set out as artists with no intention of producing it, who make no effort toward the best […] I’ve got a right to be severe.“71 An diesem strengen Maß kann und muss somit auch Pounds eigene Arbeit gemessen werden. Bei einem solch hohen Selbstanspruch, den Pound mit der Kunst und der Sprache, also mit dem Medium seiner Kunst verband, kann und muss man davon ausgehen, dass er weder in seiner Dichtung noch in seiner Poetik beliebige oder einfach nur wohllautende Metaphern verwendete. In solch einem Kunstverständnis gibt es keine zufälligen Vergleiche, sondern nur eine bewusste Entscheidung für den Vortex. Der Poundsche Vortex kann gar als eine Art Schibboleth seiner bis 1914 entwickelten Kunst- und Literaturtheorien gelesen werden, entzifferbar nur für diejenigen, die vom Vortex wissen. Pound selbst kannte den Vortex allem Anschein nach schon lange. Er benutzte ihn zum ersten Mal öffentlich in seinem Gedicht „Plotinus“ von 1905. Ein close-reading dieses Gedichts zeigt, dass Pound schon damals zumindest einige Implikationen des naturwissenschaftlichen Wirbels bekannt waren. Aber er brauchte mehr Zeit, er war noch nicht reif. In den 1930er Jahren erinnerte er sich: „I hadn’t in 1910 made a language, I don’t mean a language to use, but even a language to think in.“72 Erst als er sich seinem Ziel, alles über Dichtung zu wissen etwas näher fühlte und möglicherweise auch gedrängt von der Suche der rebellischen Künstlergruppe nach einem Namen, riskierte er, seinen Wirbel-Vortex einem größeren Publikum vorzustellen. Aber selbst da gelang es ihm noch, das Symbol für Laien vollkommen zu verschleiern. Nur Experten können es entschlüsseln: „For the in-

70 Williams: Serious Artist, S. 162. 71 Pound an Harriet Monroe, S. 43ff. 72 Pound: Cavalcanti, S. 194.

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itiated the signs are a door into eternity and into the boundless ether.“73 Der Vortex weist auf den Äther, vereinigt auf diese Weise das Größte und das entscheidende Kleinste, Medium und Luminous Detail, die beiden Dinge, auf die es Pound schon seit langem ankam. Pounds Vortex-Artikel in der Zeitschrift Blast referierte nahezu überdeutlich auf den ekstatisch-physikalischen Vortex-Diskurs. Der Mensch und Künstler sei mit dem „DIRECTING“ einer „certain fluid force“ beschäftigt; seine Tat sei das „CONCEIVING instead of merely observing and reflecting“74. ‚To conceive‘ reicht in seiner Wortbedeutung von ‚eine Idee oder ein Konzept entwickeln‘ bis zu ‚ein Kind empfangen‘; es ist also ein Schöpfungsakt schlechthin, eine Schöpfung, die darin beruhte, eine fluidale Kraft so zu lenken, dass ein ‚PRIMARY PIGMENT‘ dabei entstand, welches sich auf eine künstlerische Weise äußerte. Hier wurde nun Pounds Künstler wahrlich zu dem, wofür bei Stewart und Tait die ‚Divine Agency‘75 stand, der Schöpfer des Vortex. Pounds Suche nach dem ‚primary pigment‘, dem Urstoff, erinnert an ähnliche Unternehmungen in der Physik: gesucht wurde eine ‚grand unified theory‘76, die endlich alles erklärte. In diesem Zusammenhang konnte auch die New York Times im August 1914 schreiben77: „What is Vorticism? Well, like Futurism, and Imagisme, and Cubism, essentially it is nonsense. But it is more important than these other fantastic, artistic, and literary movements because it is their sure conclusion.“78 Den unsachlichen ‚nonsense‘ überhörend, wäre das der Wunsch der Vortizisten gewesen, das Ideal-Ziel Pounds: der Gipfel und das Fazit zugleich der modernen Kunstbewegungen zu sein.

73 Pound: „The Wisdom of Poetry“, S. 76. 74 Pound: „Vortex. Pound“, S. 153-154. 75 Stewart/Tait: The Unseen Universe, S. 245 76 So werden die bis heute vergeblichen Versuche der Physik genannt, alle ihre Phänomene auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, d.h. mit einer Theorie alle physikalischen Erscheinungen zu erklären. (Vgl. Heilbron: „Two Previous Standard Models“, S. 50). 77 Möglicherweise von Pound souffliert, der unter Pseudonymen Rezensionen seiner eigenen Bücher veröffentlichte... (Vgl. Carpenter: A Serious Character, S. 93: Brief Pounds an seine Eltern über die Publikation von A Lume Spento in Amerika und dessen Rezensionen: „I shall write a few myself & get some one to sign ‘em ... these remarks are strictly en famille – I am to figure always as the modest violet.“). 78 New York Times, 9. August 1914, section 5, S. 10, zit. nach: Wees: Vorticism and the English Avant-garde, S. 3.

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Abbildungen Abbildung 1: Blast 1, Titel, Juli 1914, in: Percy Wyndham Lewis (Hrsg.): Blast: Review of the Great English Vortex. Bd. 1, Santa Barbara 1981. Abbildung 2: Blast 1, S. 1, in: Percy Wyndham Lewis (Hrsg.): Blast: Review of the Great English Vortex. Bd. 1, Santa Barbara 1981. Abbildung 3: William Thomson: On Vortex Motion (1867), in: ders.: Mathematical and Physical Papers, Bd. IV, Cambridge 1910, S. 46. Abbildung 4: Richard Fraser Cork: Vorticism and Abstract Art in the First Machine Age, 2 Bde., London 1976.

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Der Erfinder der Zukunft im blechgepanzerten Laboratorium

Jürgen Stöhr | „Äther“ und „Sinn“

Jürgen Stöhr

„Äther“ und „Sinn“ – Ein Sprung als Präzedenzfall Doch die Frage, welcher Art die Möglichkeiten sind, die unsere wirkliche Welt durchziehen und welches Gewicht ihnen zukommt […] stellt sich angesichts des Überhandnehmens künstlicher Wirklichkeiten mit neuer Dringlichkeit. (Bernhard Waldenfels1)

Am Anfang: Die Allgegenwart des „Sinns“ Was für die Physik „Äther“ war, ist für die Kunstgeschichte „Sinn“. In beiden Fällen geht es um unsichtbare, geheime Kraftzusammenhänge und um einen lang anhaltenden Erklärungsnotstand. „Äther“ war wie „Sinn“ denknotwendig. Mit dem Namen „Äther“ verband sich am ehesten die Vorstellung von einem hypothetischen, tragfähigen Stoff, der alle Materie durchdringen würde und mediale, kraftübertragende Fähigkeiten hätte. Letztlich diente der Begriff dazu, sich selbst zu widerlegen. An ihm orientiert, bewies die Physik die Nichtexistenz dessen, was er bezeichnete. Insofern steht „Äther“ für eine Fiktion. Bevor der Begriff „gegenstandslos“ wurde, verhalf er denjenigen, die ihn gebrauchten und an ihn glaubten dazu, den Abgrund zwischen Wissen und Nichtwissen zu überspringen. Man musste scheinbar immer dann von „Äther“ oder einem unsichtbaren Fluidum sprechen, wenn man das Gesehene oder Gemessene nicht ganz mit dem Gewussten zur Deckung bringen konnte. „Äther“ war ein leitender Begriff, mit dem sich unerklärliche Phänomene kurzschließen ließen. Die Kunstgeschichte ist eine Forschungsdisziplin mit einer ähnlichen Erklärungssucht. Das Elixier, mit dem sie ihr Universum der Bilder durchtränkt sieht, heißt „Sinn“. Da offenbar kein Bild alleine im luftleeren Raum schweben kann, denkt sie sich einen Kosmos der Bilder, der sich durch Anziehungskräfte und Abstoßungen aufrechterhält. Dazwischen herrsche ein Gespinst an „Ariadnefäden“ oder ein „fluidales Gewölk über einer Person, einer Gruppe oder einer Epoche“2. Macht man diese Verbindungslinien und Kraftfelder sichtbar, erhellt 1 Waldenfels: „Experimente mit der Wirklichkeit“, S. 213. 2

Wyss: „Ikonographie des Unsichtbaren“, S. 361ff.

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sich der „Sinn“ der Bilder. Wie „Äther“ ist „Sinn“ ein Signifikant, der etwas Immaterielles – beim „Äther“ etwas Inexistentes – bezeichnet.

Die „immaterielle Allgegenwart der Energie“? Es gibt nun ein Experiment, bei dem sich Physik und Kunstgeschichte, die Frage nach „Äther“ und „Sinn“, mischen. Der Experimentator ist in diesem Fall ein Künstler und der Gegenstand des Versuchsaufbaus ist zunächst die Schwerkraft. Für die Physik ist das Experiment weniger epochal bedeutend wie offenbar für die Kunstgeschichte. Ein Grund dafür scheint zu sein, dass misslungene Experimente nicht den Weg in physikalische Lehrbücher finden. Kunstgeschichtliche Ereignisse größerer Spektakularität dagegen werden gerne immer wieder in Katalogen abgedruckt. Im übrigen war es einfacher, in einem Bild „Sinn“ zu finden, als in der Wirklichkeit die Existenz von „Äther“ nachzuweisen. Zudem ging man auf kunstgeschichtlicher Seite davon aus, dass der Proband des Versuchs selbst schon „Sinn“ ausstrahlte. Man beschrieb dies zum Beispiel so: Er, nur er allein, hatte die furchterregende Ehre über das Unendliche über dem eigentlich Unendlichen vorzudringen und nach der Rückkehr von seiner Seelenreise, von seiner integralen Wahrnehmung der absoluten Realität – der immateriellen Allgegenwart der Energie – Zeugnis abzulegen.3 Mit „er“ ist Yves Klein gemeint. Yves Klein gehörte zu den Künstlern des sogenannten „Nouveau Réalisme“, der zu Beginn der 60er Jahre eine Neuwahrnehmung der „Wirklichkeit“ anstrebte. Während sich die anderen Vertreter dieses „Neuen Realismus“ dabei den Phänomenen der Dingwelt zuwandten, richtete Klein seine ganze Aufmerksamkeit auf das, was er auch „immaterielle Zonen“ nannte. Im Großen und Ganzen war dieses Projekt der Erforschung des „Raums“ und der „Leere“ ambitionierter als das seiner Künstlerfreude. Einer davon, Arman etwa, begnügte sich damit, zum Beispiel in „Accumulations Poubelle“ von Neuem zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dazu versammelte er verbrauchte Dinge an einem Ort, zumeist in einem durchsichtigen Glaskasten, wie in einem Reagenzglas, um zu sehen, ob bei intensiver Betrachtung der angehäuften Gegenstände, quasi von selbst, ein Mehrwert an Information entstünde.

3

Restany: Klein, S. 46.

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Abbildung 1: Arman: Accumulation.

Arman konnte so vor seinen Realitätsaquarien darauf warten, dass sich ihm das unentfremdete Wesen der eingesperrten Dinge irgendwann entblößte. Yves Klein dagegen ging es um einen komplizierteren Nachweis. Die „absolute Realität“ oder, anders zitiert, die „immaterielle Allgegenwart der Energie“ unter Beweis zu stellen, erforderte ein höheres Maß an Engagement und andere Techniken ihrer Visualisierung. Als Yves Klein sich auf den Weg ins Unendliche machte, schrieb man schon das Jahr 1960. Wohin er wirklich gehen wollte, ist wohl bis heute trotz oder wegen all der Texte und all dem „Sinn“, der über den Ereignissen liegt, nebulös geblieben. Auf jeden Fall hinkte er seiner Zeit weit hinterher als er den ultimativen Beweis seiner „Theorie“ des Raums endlich anzutreten bereit war. Wäre das „Experiment“ deutlich früher erfolgt, hätte man wahrscheinlich sehr schnell sagen können, Klein wäre es um den „Äther“, oder das „Pneuma“ gegangen. „Pneuma“ ist der pantheistische und vitalistische Zwilling des physikalischen „Äther“. Als „Weltgeist“, „spiritus mundi“ oder „materia prima“ durchdringe das feinstofflichbelebte Pneuma die Welt. Pneuma durchzieht alles Seiende als warmer Hauch.

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Pneuma vermittelt zwischen Geist und Materie, wie der Äther zwischen Organischem und Anorganischem. Pierre Restany und Yves Klein nannten dies in ihrem Vokabular der referenzlosen Worte auch: die „immaterielle Sensibilität“.

Abbildung 2: Äther. Geisterfotografie.

Einige Vertreter, die das Wort „Äther“ benutzten, glaubten, der Inhalt ihres Signifikanten ließe sich bei günstigen Bedingungen sichtbar machen. Die Referenz des Begriffs sollte sich unter bestimmten Bedingungen „verdichten“ und in diesem sensitiven Zustand sichtbar werden können. Zum Zweck der Referenzerzeugung sollte eine vorbereitete und sensibel gemachte Platte zum Einsatz kommen. „Äther“ und „Pneuma“ sollten sich buchstäblich ablichten. Der Inhalt des Begriffs sollte dadurch konkret werden, dass er Bild werden würde. Als Yves Klein schließlich euphorisch seine „pneumatische Epoche“ ausrief und zu seinem „Experiment“ einlud, war die Episode der spiritistischen und der „Geisterfotografie“ lange vorbei. Aber irgendwie muss sich Klein daran erinnert haben. Auch er benutzte das Medium der Fotografie, um ein letztes Mal von der „erfüllten Leere“ des Raums „Zeugnis abzulegen“. Gemeinhin liest man, dass der

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entscheidende Selbstversuch Mitte Oktober des Jahres 1960 stattgefunden hat. An einem günstigen Tag in diesem Oktober sprang Yves Klein von einer Mauer oder Dachkante. Von diesem Ereignis gibt es ein berühmtes Foto. Um dieses Foto wird es im Folgenden gehen.

Abbildung 3: Tillmanns: Äther.

Der „Sprung“ Wohin er springt, kann man an dieser Stelle noch nicht wissen. Manche schreiben von einer „Leere“ angefüllt mit „konzentriertem Pneuma“4. Vielleicht springt Klein in den unsichtbaren „Äther“, jenen alles durchdringenden, unendlich dichten und unendlich feinen Stoff, den Träger der Wellen des Lichts und des Elektromagnetismus. Klein jedenfalls beabsichtige zu „schweben“ und das Gesetz der Schwerkraft zu widerlegen. – Vielleicht springt Klein in eine Fiktion. Vielleicht erweist es sich als Fiktion, das Foto, das so entstanden ist, mit Sinn erfüllt zu sehen. Vielleicht gibt es keinen „Äther“, kein „Pneuma“ und keinen „Sinn“. Vielleicht fällt Klein tatsächlich in die kalte „Leere“ des Nichts und kein kunsthistorischer Sinn kann ihn in der Schwebe halten. 4

Seegers: Transformatio energetica, S. 147.

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Abbildung 4: Sprung in die Leere.

Es gibt also ein Bild für den alles entscheidenden Moment der Widerlegung der sichtbaren Wirklichkeit. Der Sprung und das Bild sollten der endgültige Beweis sein, „dass der Mensch in der Lage ist zu fliegen“5 – in einer Art „kosmischer Energie“, so der Neue Realist. Aus vielerlei Gründen ist der Versuch der Sichtbarmachung des Unsichtbaren, dieser omnipräsenten „kosmischen Sensibilität“, ohne das Foto undenkbar. Yves Klein benötigte unbedingt ein „reales“ Bild, um den naiven Wirklichkeitssinn zu untergraben. Das Bild zeigt Yves Klein Bruchteile von Sekunden vor dem Sturz. Klein „schwebt“. Für den Experimentalkünstler aus Nizza konnte man sich durch Übung vorsichtig vom Boden der Tatsachen lösen. Die Referenz, der Tatsachenglaube, ließ sich förmlich überspringen. Was das Bild zeigen sollte, erklärte Klein persönlich in einer von ihm herausgegebenen und einmalig erschienenen „Sonntagszeitung“: „Dimanche“, „27, Novembre“6. Dort heißt es: „Der Monochrome, der auch ein Judomeister und Inhaber des Schwarzen Gürtels, Vierter Dan, ist, übt sich regelmäßig in dynamischer Levitation […].“7 Aber unbeobachtet zu schweben, machte keinen 5

Stich: Yves Klein, S. 221.

6

Man kann sich genauso fragen, ob die Zeitung in den Augen Kleins ein Fake war oder nicht. Vielleicht war sie nur für die Käufer, die eine „reguläre“ Tageszeitung erwarteten, eine Täuschung.

7

Stich: Yves Klein, S. 217.

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Sinn. Eine vorhergehende „private Vorführung“8, für die es nur eine Augenzeugin gab, wurde von Klein wiederholt. Klein „realisier[te]“ „eine öffentliche Vorführung der Levitation“.9

Abbildung 5: Dimanche/Tageszeitung.

Angeblich fand Kleins erster „Sprung in die Leere“ – ohne Fotoapparat – am 12. Januar 1960 aus dem zweiten Stock von Colette Allendys Haus statt. Das scheint verbürgt. Leider bezeugte eine anwesende Freundin, Bernadette Allain, aber nur, dass der Künstler „ohne Netz und sonstige Hilfsmittel tatsächlich gesprungen“ sei. Eine „praktische[…] Demonstration der Levitation“10 wollte sie dagegen nicht eindeutig bestätigen. Sie hatte offenbar weder die Auswirkungen des „Äther“ noch einen wirklichen „Sinn“ in dem Sprung sehen können. Davon aber, dass Klein sich beim Aufprall auf den Boden „lediglich den Fuß verstauchte“11, konnte sie berichten. Das reichte zur Widerlegung der Grundgesetze der Gravitation so nicht aus. Allerdings belegt diese erste „private“ Lektion, dass es dem „Dozenten“ ernst war. Man springt nicht aus bodenlosem Leichtsinn aus dem 8

Ebd. S. 219.

9

Ebd. S. 217.

10 Ebd. S. 219. 11 Ebd. S. 219.

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zweiten Stock, wenn man nicht von der Tragfähigkeit der Leere und der Sinnhaftigkeit seines Tuns überzeugt ist. Ein weiterer Versuch ist dann fotografisch dokumentiert: „[…] in der Rue Gentil Bernard 3 im Pariser Vorwort Fontenay-aux-Roses“ sprang der Künstler von einer 4,50 Meter hohen Dachkante in ein Sprungtuch, das bekanntlich von seinen Judo-Freunden gehalten wurde.12 Nach wie vor ging es um die „Manipulation des Raums“, indem der zum Sprung Bereite behauptet, „bald in den Raum“, „die Leere, jene ätherische Sphäre“, „aufsteigen zu können“.13 Der Proband notierte, „Levitation“ sei „eine Operation, durch die einige Menschen sich selbst in einem Zustand der Trance und Ekstase in eine gewisse Höhe über dem Boden erheben können.“14 „Kurz, er [der Künstler, js.] muss in der Lage sein, in die Luft aufzusteigen.“ … „[…] aber er muss dies ohne Tricks, ohne Betrug tun […]“15 – das war Klein wichtig. Klein wollte sein Abheben als ein fortdauerndes Schweben dokumentiert wissen – weder sein Mut zum freien Fall noch sein Absturz sollten zu sehen sein. Zu diesem Zweck und zur Verewigung seines Geschwebtseins bestellte er die Fotografie als unbestechliche Zeugin ein. Allerdings verkomplizierte dies die Angelegenheit. Klein war zwar sein eigenes körperliches Medium, brauchte aber die neutralen chemischen Prozesse der Bildentstehung und das Medium der Fotografie, um die Erweiterung der materiellen Welt um eine „immaterielle“ Dimension beweisen zu können. Um etwas zu demonstrieren, was es nicht gibt, bedurfte es paradoxer Weise des Mediums, das nur aufzeichnet, was auch „da gewesen“ ist. An dieser Stelle verabschieden sich in der Regel die kunstgeschichtlichen Sinnsucher mit einem undeutlichen Nuscheln. In ihren Texten befinden sich die leisen Töne in den Endnoten der Artikel, wo man nicht immer so genau nachliest, was ein Autor außerdem noch sagen wollte. Dort hinten gestehen sie die Konstruiertheit des Bildes. Mit der nötigen Distanz zum abgedruckten Bild, die sich durch das meist mühsame Umschlagen des Katalogs zum Anhang einstellt, wird das „Making-of“ und das Setting der Fotografie erklärt. Die Katalogtexte zu Yves Klein handeln dabei geschlossen gegen den Künstler. Mit dem Geständnis des „gefakten“ Gemachtsein glauben sie, gerettet zu haben, was an einer unrealistischen Ausgangsstellung zu retten ist. Sie lassen Yves Klein öffentlich fallen.

12 Stich: Yves Klein, S. 220. 13 Ebd. S. 217. 14 Ebd. S. 217. 15 Ebd. S. 217.

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Das Geständnis: Sie, die Fotografen, „machten Aufnahmen von der Straße und vom Sprung. Dann fügten sie in der Dunkelkammer Figur und Hintergrund zu einem Bild zusammen.“16 Und: Der Radfahrer war John Kender. Harry Shunk machte eine Aufnahme von ihm, als er die Straße hinunterfuhr, während sie darauf warteten, dass in einiger Entfernung ein Zug am Bahnhof zum Stehen kam. Shunk wollte den Zug unbedingt in das Bild aufnehmen, da er glaubte, es werde dadurch bereichert.17 „Ursprünglich“, in Kleins selbstgemachter „Sonntagszeitung“, konnte man nichts von einem schlechten Gewissen lesen. Die Bildmanipulation wurde in ihr Gegenteil gekehrt: Die Fotografie und das, was sie zu sehen gab, fungierte auf der Titelseite des Blattes als eindeutiges Nachrichtenbild. Damit sollte es ausdrücklich der Bereitstellung von Information über die „Realität“ dienen. Dass „Pressebilder“ genau diese „Wirklichkeit“ im gleichen Moment auch verdecken, in dem sie sich an die Stelle des Gewesenen setzen, gehört zum Allgemeinwissen eines „Zeitungsmachers“. – Aber egal. Man erfährt auch nicht, dass zumindest die letzte Maßnahme des Fotografen damals umstritten war. Klein störte sich an diesen überflüssigen Details, die Harry Shunk in das Foto einführen wollte. Klein brauchte keine Zusatzzeichen. Für ihn war er allein es, der mit seiner Bildpräsenz die Authentizität des Gezeigten sicherstellen konnte. Gegenüber seinen Fotografen muss er ein sehr klassisches Verständnis von Fotografie vorausgesetzt haben: Um den „Äther“ Gestalt werden zu lassen, musste man im Gegenteil die störenden Elemente der Gegenstandswelt unsichtbar machen. Störende Einflüsse lenkten vom eigentlichen Experiment nur ab. Im naiven Vertrauen, das Foto zeige, wie es gewesen ist, würden alle Betrachter glauben, was sie sahen. Klein konnte damit leben, den unteren Bildteil mit Sprungtuch und Assistenten unsichtbar gemacht zu haben. Schließlich sahen die Leute immer noch, wie es gewesen war. Im oberen Bildteil hatte Yves Klein sich tatsächlich genau so befunden, wie man es sieht. Das macht das Verhältnis von Klein zur Fotografie so unglaublich paradox: Im oberen Teil sieht er sich schweben. Also ist er geschwebt. Das ist der Mythos von der Wahrheit der Fotografie: Sie zeigt, was der Fall ist. Sie soll das Unsichtbare – für Klein „kosmische Energie“ – sichtbar machen. Dass gleichzeitig das Sichtbare unsichtbar gemacht wurde, war nur die Kehrseite des gleichen Prozesses. Deswegen ist es kein Widerspruch, wenn Klein in seinem eigenen Text zum Foto einfordert, alles 16 Stich: Yves Klein, S. 275. 17 Ebd. S. 275.

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müsse ohne Tricks und Betrug sein. Den unteren Bildteil fototechnisch leer räumen zu lassen, ohne auf die künstliche Gemachtheit des Bildes einzugehen, war keine nennenswerte Korrektur, weil dies nichts an der „Wahrheit“ des oben gezeigten änderte. Man konnte, was unten gewesen ist, beruhigt löschen, ohne die ontologische Basis des Fotos als Spur und Index zu untergraben. Solange man einen Großteil der im Bild mit eingefangenen Referenzen für bloß redundantes Beiwerk hielt, konnte man diese Störfaktoren auch eliminieren. Der „Objektivität“ des Fotos schadete dies nicht. Es handelte sich nur um die Leerung des Bildes vom Signifikantendreck. Klein räumt nur das Bild genauso leer wie schon zuvor die Räume der Galerie Iris Clert. Auch dort hatte sich auf diese Weise der Raum „manipulieren“ lassen.

Abbildung 6: Yves Klein beim Abhängen der Bilder für „Le Vide“.

Der engagierte Fotograf „malte“ andererseits gegen Kleins Willen wieder eine kleine Figur auf dem Rad in den Hintergrund. Er wollte seine Bildtäuschung durch noch mehr professionelle Listigkeit noch unsichtbarer machen. Die Zufälligkeit der Details, der Schein ungefilterter Beobachtung, die scheinbare Spontanität des Geschehens, das scheinbar unperfekte Mitaufzeichnen des Unwesentlichen, alles das sollte heimlich das Wesentliche als tatsächlich geschehen wahr machen – der Künstler in der Schwebe, die „Umqualifizierung des Raumes“, den „Äther“, den „Sinn“ der Aktion. Zur Beschreibung ihrer Strategie taugen bereits die „postmodernen“ Vokabeln der Authentizitätserzeugung. Das Foto ist seiner Zeit voraus, das Dargestellte gerade nicht. Der Abgelichtete selbst sieht diese Formen der „Signaturen des Realen“ noch skeptisch. Shunk setzte sich am Set durch. Klein schwebt seit dem in einer teils „postmodernen“ Fotografie – in einem auf Glaubhaftigkeit hin inszenierten Bild mit einer Rhetorik der Kontingenz. Wäre es nach dem Willen des Mediums „kosmischer Sensibilität“ gegangen, wäre die Straße lediglich von der störenden Redundanz gesäubert worden, die

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nötig war, um sich nicht übel zu verletzen. Nur die Retter mit Sprungtuch hatten weg gemusst. Er wollte die Straße einfach menschenleer machen. Seine Assistenten, die den Fall mittels rettendem Netz abfangen sollten, wurden wie politisch unerwünschtes Personal mit der falschen Ideologie aus historischen Aufnahmen ausradiert und durchsichtig gemacht. Sein Fotograf Harry Shunk dagegen platziert gleichzeitig und überdies in der entstehenden Leere des Asphalts seine zusätzlichen Signifikanten der Kontingenz: die Rückenfigur des Radfahrers fungiert so. Der Zug im Hintergrund ebenfalls. Der Beweis, dass der Mensch als „Resonanzkörper für die Manifestation der einen kosmischen Grundkraft“18 fungieren konnte, sollte eher beiläufig erfolgen. So ist es gewesen; und insofern ist das Foto in sich ein fototheoretisches Zwitter. Das Gesims unterhalb des Dachansatzes im linken Bildrand bietet formal an, die Fotografie waagerecht zu teilen. Im oberen Drittel hat Kleins ontologische Fotografie-Auffassung die Lufthoheit. Die unteren zwei Drittel üben sich in freier Kontingenzerzeugung eines sogenannten „effect du reel“. Der untere Teil des Bildes wäre also quasi protopostmodern während der obere noch vom frühen Mythos der Fotografie profitieren will.

Eine „Unfallszene“ Man kann das gleiche Bild aber auch ganz anders sehen. Mit gleichem Recht könnte man auch behaupten, Kleins Einstellung wäre zukunftsweisend gewesen. Sie hätte in diesem Sinne die „postmodernen“ Authentisierungskonzepte einfach übersprungen und würde sich wieder auf das Zeigen des Wesentlichen konzentrieren. Dieses Wesentliche zeigt sich aber nur in der Simulation: „Nichts ist wirklicher als die Simulation“19. Mit diesem Ausruf könnte sich nämlich auch Klein in die „erfüllte Leere“ gestürzt haben. Ein Text von Beat Wyss enthält, ohne freilich an das Ereignis in Paris adressiert zu sein, eine alternative Erläuterung, warum Klein den Kontingenzfloskeln seines Fotografen ablehnend gegenüber gestanden haben könnte. Wyss erwähnt eine „Unfallszene“ und stellt sich dabei vor, dass diese „wirklicher als eine Reportage“ wirke, wenn sie „mit Schauspielern“ nur vorgetäuscht werde.20 Und zwar wirke die reine Simulation in einem „dramatischen Moment […]“, wie auch der Mauersturz sicher einen solchen darstellt, deshalb „glaubhafter“, weil man nicht durch Unpassendes abgelenkt sei. Die Meinung, die hier vertreten wird, beinhaltet genau das Gegenteil von Shunks Fototheorie: Nicht zusätzliche Statisten des Gewöhnlichen sollen als Schauspieler das Bild wie eine Reportage erscheinen lassen. Stattdessen sollte der Künst18 Vgl. Wyss: „Kunsttheorie als Wortbesitz“. 19 Vgl. Wyss: „Ceci n’est pas un texte“, S. 66. 20 Ebd. S. 66.

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ler ganz alleine schauspielern. Die reine Simulation des „Ungewöhnlichen“ wirke am glaubhaftesten, weil sich der Betrachter auf die richtig gemachten Details des „Unfalls“ konzentrieren könne. Komme zusätzlich das „Gewöhnliche“ und Kontingente mit ins Bild, handele es sich um störende „Pannen im Wirklichsein“. Durch diese „diffusen Signale […] der Alltagswelt“, wie sie der Radfahrer auch darstellt, „zerbröselt“ „die Einheit des dramatischen Moments“ nur wieder. Für seine „Unfallszene“ stellt sich Wyss „im Hintergrund [des Hauptereignisses, js.] vielleicht einen Mann beim Rasenmähen“ vor. Dieser würde nur von der Tragödie ablenken.21 Es hätte demnach auch im „Fall Yves Klein“ völlig ausgereicht, ein ekstatisches Schweben in Reinform zu simulieren, statt den schönen Schein durch einmontierte Alltagssplitter absichtlich wieder anzukratzen. Dass Wyss ausgerechnet einen Rasenmähermann assoziiert, wenn das Stichwort „Kontingenz“ fällt, ist indes kein Zufall. Es handelt sich um eine unbewusste Bildübertragung. 1988 hatte Beat Wyss eine Analyse von Pieter Bruegels Landschaft mit Ikarussturz vorgelegt.22

Abbildung 7: Bruegel: Landschaft mit Ikarussturz.

In diesem manieristischen Ölgemälde besteht das Irritierende ja gerade in der Größe und Teilnahmslosigkeit der kontingenzerzeugenden Nebenfiguren wie der des pflügenden Bauern. Der Mann mit einem Rasenmäher, der mit seinem Auf-dem-Bild-Sein eine Unfalldarstellung stören würde, ist nur die Übertragung des Bruegelschen Bauern mit seinem Pflug in die Vorgartenidylle der „Postmoderne“. Das Bruegel-Bild führt vor, wie das Teilnahmslos-Alltägliche das eigentliche Drama des stürzenden Ikarus in den Hintergrund drängt. Die Unfallszene wird hier zum Suchbild, so dass sich Vorder- und Hintergrundereignisse geradezu umkehren. Wyss hatte damals zu erklären versucht, warum in dem Bild alles so sein muss, wie es ist. Am Ende versteht man vielleicht das geheimnisvolle Bild besser. Aber man denkt sich doch, dass die reine Simulation des Unglücks 21 Wyss: „Ceci n’ est pas un texte“, S. 66. 22 Wyss: Pieter Bruegel, Landschaft mit Ikarussturz.

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des Ikarus eigentlich „wirklich“ besser gewesen wäre. Interessanter Weise ist bezeugt, dass auch Harry Shunk eine Reproduktion von Bruegles Bild in der Manteltasche gehabt hat, als er auf der Rue Gentil Bernard mit seiner Fotoausrüstung erschien. Shunk behauptet, Klein sei „sehr nervös gewesen“23 und er habe dem Franzosen die Abbildung gezeigt – wahrscheinlich um ihn zu beruhigen, dass die Aufnahme zum Schluss gelingen würde, wenn man nur genug Kontingenzsignale einbauen würde. Für Shunk dient das Werk von Bruegel dazu, den unsicheren Hauptakteur von der Notwendigkeit zu überzeugen, eine Assistenzfigur einzusetzen. Der Fotograf war also der Meinung, der Radfahrer sei eine gute Ergänzung, da er die Rolle spiele, die der der Menschen in Bruegels Landschaft mit dem Sturz des Ikarus gleiche. Diese gehen ebenfalls ihrer täglichen Routine nach, ohne zu bemerken, welch außergewöhnlicher Vorfall sich mitten unter ihnen ereignet.24 Yves Klein kannte sich mit gegenständlichen Bildern nicht gut aus. Aber er hätte wiedererkennen können, welche Rolle Harry Shunk ihm im Bild einräumte. Der ungarische Profifotograf wollte ein berühmtes Gemälde in ein kongeniales Foto übersetzen. Dass er einen Neuen Realisten im energetischen Kraftfeld kosmischer Hintergrundstrahlung aufnehmen sollte, war für ihn vielleicht ganz zweitrangig. Für ihn behandelte das Bruegel-Bild das Verhältnis von Kontingenz und Ereignis. In diesem Sinne war es selbstreflexiv. Nur deshalb durfte Ikarus im Bild abstürzen. Shunk sieht Yves Klein und denkt an Ikarus und seinen Bruegel in der Manteltasche. Das Foto, das er anfertigen wird, wird das Verhältnis von Kontingenz und Ereignis behandeln. An diesem Oktobertag sollte nicht das Gesetz der Schwerkraft umgeschrieben werden. Statt dessen sollten Zufall und „Sinn“ im Medium der Fotografie neureflektiert und belichtet werden. An Yves Klein ist das Foto nur insoweit interessiert, wie er im Bild in die Rolle des „Ikarus“ springt. Wenn man später nach dem Bild fragte, hätte man genauso gut fragen können: „Was macht der Ikarus von Shunk?“

Giotto! Harry Shunk dachte also von Anfang an malerisch und nach dem Vorbild und in Konkurrenz zur Malerei. Er schuf aus der Fotografie ein „Kunstbild mit Ikarus“, als er seine beiden Aufnahmen von Klein und Kender übereinander schob. Malerisch zu denken, verbindet ihn wiederum mit seinem Auftrageber. Man war sich 23 Stich: Klein, S. 275. 24 Ebd. S. 275.

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zwar über den Fahrradfahrer nicht unbedingt einig. Als bildimmanentes Authentizitätszertifikat vorgesehen, war er für Yves Klein, den „Maler der Leere“, nur eine unnötige Trickserei. Klein dachte vielleicht an ein anderes Bild – an einen Giotto in Assisi. Schließlich hatte Giotto dem Heiligen Franz auch keine unnötigen Redundanzfiguren hinzugemalt. Seine Mönche im Bild waren nur die unvermeidlichen Stellvertreter für das Bezeugtsein, dass der Ordensgründer wirklich in Ekstase geschwebt habe.

Abbildung 8: Giotto: Hl. Franziskus in Ekstase.

Yves Klein war im April 1958, zwei Jahre vor seinem eigenen Abheben, in Assisi gewesen und hatte dort in der Basilika des Heiligen Franziskus Giottos Malerei gesehen. Die Aufgabe der Zeugenschaft, die dort die Ordensbrüder verkörperten, übernahm 1960 in Paris die Fotografie durch ihre kausale und neutrale Verbindung zum Motiv. Unzuverlässige Zeuginnen wie Bernadette Allain, die sich nachher nicht mehr sicher war, ob der Künstler geschwebt sei, konnte man sich so sparen. Giottos Bildrhetorik der Ähnlichkeit und Wahrscheinlichkeit bezog ihre Glaubwürdigkeit letztendlich auch nicht durch die dargestellten Augenzeugen und Identifikationsfiguren für den Betrachter. Ihr Verismus resultiert aus der Realistik der Darstellungsweise. Max Imdahl hätte jeder Zeit darauf verwiesen, dass man sich als Betrachter gerade nicht miterlebend im Bild verorten sollte. Stattdessen erlange das Bild seine Glaubwürdigkeit erst dann, wenn man diszipliniert vor dem Bild stehen bleibt und konzentriert nach oben schaut.

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Dabei gewinnt der aktuelle, als ein erlebbares Eben-Jetzt gegenwärtige Augenblick selbst ikonische Notwendigkeit und auch Dauer [...] durch die Schräge, indem diese als formaler Kompositi­onswert die Position und auch die Handlungsmomente der Figuren invariabel aufeinander bezieht. Alles ist notwendig und sinnvoll so, wie es ist, es sei denn alles wäre anders.25 Es ist die formale Strenge des Bildaufbaus, die in diesem Fall garantiert, dass die Bedeutung nicht in der Schwebe bleibt. Nicht die Anhäufung akzidenteller Details, wie es Shunk vorhatte, bekräftigte die Botschaft. Stattdessen ist ihre „endgültige Verortung“26 des Heiligen in der finiten Form des Bildes ausschlaggebend für die Richtigkeit des Bildes. Der Heilige war in seinem Schweben von der Bildkomposition getragen und so in Imdahls Flächennetz des sehenden Sehens verstrickt, dass er weder aufsteigen noch wieder fallen konnte. Die von Imdahl sogenannte „Notwendigkeitsstruktur“ des Bildes macht das abgebildete Ereignis unveränderbar. Nicht das Ereignis selbst garantiert von sich aus seine Geschehenheit. Wenn man „malerisch“ denkt, muss man sich daran erinnern. Giotto vermeidet das Zeigen der Füße des Heiligen und er versteckt sie in einer nach oben ziehenden „Wolke“, weil die Darstellung der Füße den Eindruck des Schwebens irritiert hätte. Später, im Verlauf der Kunstgeschichte, wird man das Schweben in einer gekonnteren Ausdrucksbewegung einzufangen suchen. Aber der ikonografische Grundtypus des Schwebenden wird sicherlich hier fundiert. Auch Shunk hält sich in seinem Bild noch daran.

Abbildung 9: Anthropometrie-Performance. Abbildung 10: „Sprung in die Leere“.

25 Imdahl: Giotto, S. 93, 95. 26 Imdahl: „Überlegungen zur Identität des Bildes“, S. 390.

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Dass man sich also nicht wirklich über die Anwesenheit Kenders einigen konnte, heißt nicht, dass man sich prinzipiell uneinig war. Klein engagierte mit Vorliebe den Ungarn Harry Shunk. Dass der Dokumentator dabei in Kategorien der Malerei dachte, war kein Hindernis. Im Gegenteil: Der Produzent der monochromen IKBs und der Anthropometrien machte nämlich ausdrücklich keinen Unterschied zwischen Fotografie und Malerei. Ausgerechnet die Fähigkeit einen „Abdruck“ zu hinterlassen, sei das tertium comparationis, das die vorhandenen medialen Unterschiede unerheblich mache. „Das Bild ist nur Zeuge, die Fotoplatte, die gesehen hat, was geschehen ist. Die Farbe im chemischen Zustand, die alle Maler benutzen, ist das beste Medium, um den Abdruck des Ereignisses aufzunehmen“, notiert Klein.27 Sein „nur“ – „nur Zeuge“ – betrifft dabei sowohl die Neutralität des Mediums Fotografie als auch deren Vergleichbarkeit gegenüber den Eigenschaften der Farbmaterie. Klein denkt Malerei nicht von ihrem sichtbaren Resultat her, sondern genauso prozessual und fast alchemistisch wie den Fotovorgang. Im Verlauf vom nassen Auftrag von Farbpigmenten und Bindemittel bis zum Aushärten der Substanz protokolliert sich auf der Bildoberfläche unweigerlich jede Ausdrucksbewegung. Zwischen Shunks Fotografie und Kleins Anthropometrien besteht so gesehen kein Unterschied. Allerdings hätte Klein nie im Leben aus und mit sich selbst eine Anthropometrie gemacht. „Kosmische[…] Sensibilität […] ist wie die Feuchtigkeit in der Luft“28, sagte er. Den Eingeweihten „imprägniert“ sie ohne weiteres. Aber dieser immaterielle Dunst klebt nicht wie die Farbe am Körper, mit der sich die Modelle für die Abdrücke einfärben mussten.

Abbildung 11: Yves Klein, Anthropometrie (gedreht). 27 Klein : „L’aventure monochrome“, zitiert nach Banai/Berggruen: Yves Klein, S. 230. 28 Yves Klein: Tagebuch, zitert nach Stich: Yves Klein, S. 275.

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Insolvenzverwalter am Werk. All das „Malerische“ wird bis heute in der Fotografie nicht gesehen. Die Autoren der Katalogtexte lassen ihren „Yves“ in dem Moment fallen, in dem es wirklich ernst wird. Sie lassen sich irrtümlich so ein: „Nicht die Montage ist hier von Belang […]“29 Außerdem beschneiden sie zu allem Unglück auch noch die Fotografie vollkommen willkürlich auf das Katalogformat. Sie agieren wie Konkursverwalter am Œuvre, aber nicht wie die Anwälte des Bildes. Klein hatte ihnen mit dieser Aufnahme eine nicht zu entsorgende Altlast hinterlassen. Sie strahlt bis heute aus und macht eine „Horizontverschmelzung“ mit der Nachwelt unmöglich. Wie gesagt, Klein hinkte seiner Zeit bedrohlich hinterher. Die Frage nach dem „Äther“ und die Suche nach einer verborgenen Ursubstanz hatten sich zwischenzeitlich erledigt. Als Yves zum Sprung ansetzte, war nichts mehr da, auf das man hätte spekulieren können. Bei aller sympathetischen Identifikation mit Yves le monochrom besaßen die Verfasser nicht mehr die gezielte Blauäugigkeit, mit welcher der alte Pierre Restany in seinen Texten in die spirituelle Atmosphäre der Kleinschen Welt einzutauchen vermochte. Den Nachbetern fehlt es weniger an missionarischem Willen als an zeitgeistigem Elan. Gegenüber Quantensprüngen ins Immaterielle ist man mit der Zeit steif geworden. Bei aller Spektakularität, die sich mit der Performance in der Rue Gentil Bernard verband, stellte die Fotografie eine Hürde dar. Ignorieren konnte man sie nicht. Dazu war sie viel zu prominent. Man konnte aber auch nicht einfach Restany zitieren und wiederholen, der charismatische Experimentator, Judoka und Rosenkreuzer sei geschwebt. Wenn es je einen Nährboden für die Glaubwürdigkeit dieser Aussage gegeben hatte, dann war diese metaphysische Substanz in der Zwischenzeit mit Sicherheit „verdampft“. Beat Wyss hatte diesen Vorgang genau so als Schicksal der klassischen Avantgarde zu beschreiben versucht. Er gab der rationalen, konkretisierenden Kunstanschauung die Mitschuld an diesem „Verdampfen der spirituellen Energie“ aus den gegenstandslosen Bildern der frühen ästhetischen Moderne. 30 Genau dies setzte nun mit einiger Verspätung bei dem Nouveau Realisten durch den neuen Realismus der Katalogtexter ein. Diese setzen sich in ihren Bildbeiträgen ins Imperfekt ab – in eine Zeitform ihrer Verben, wie die Distanz zum Geschehen und zum gerade Gesagten ausdrückt. Allen Vergangenheitsformen wie „wollte“, „glaubte“ „fasste“ usw. kann man an ihren Endungen schon ansehen, wie die Texte versuchen, sich abzustoßen. Sie stochern verlegen in der Vergangenheit. Den „narrative[n] Untergrund der Moderne“31 nachzulegen, federt den harten Asphaltbelag nicht ab, auf dem der Spätstarter Yves Klein aufschlug. 29 Banai/Berggruen: Yves Klein, S. 114. 30 Wyss: Mythologien der Aufklärung. 31 Wyss: „Ikonographie des Unsichtbaren“, S. 368.

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Der historische Sinn verdunstet genauso schnell, wie sich schon der Glaube an den „Äther“ verflüchtigt hatte. Wenn „die Bedeutung aus [den Bildern] geflohen ist“ und „man [nur noch] sieht, was man weiß“32, hält man den Sinn auch nur noch künstlich aufrecht. Die Fotografie landet so im Mülleimer der Geschichte, weil man sie zwar überall publiziert sieht, aber es zugleich niemanden mehr gibt, der sie beschreibt. Das Geständnis der Konstruiertheit der Fotografie geht irriger Weise einher mit der gleichzeitigen Ignorierung dieser Aussage: Das Bild sei montiert, aber „[n]icht die Montage ist hier von Belang […]“.33 Die „Gemachtheit“ der Fotografie einfach zu erklären, ist risikolos. Aber genau damit wird man der Riskantheit der Aufnahme nicht gerecht: Von der Realität einer Dach- oder Fensterkante in die Fiktion zu springen, ist ein Risiko, sowohl was den Sprung als auch was die Fotografie betrifft. Man stelle sich vor, Klein hätte sich etwa genauso gut von oben mit dem Gürtel seiner Anzughose an ein Seil binden lassen können. Dann wäre er im Stil einer frühren Kino-Spezialeffekt-Konstruktion am Drahtseil in der Luft geschwebt. Harry Shunk hätte dann nur den Lügenfaden wegretuschieren müssen. Die Überblendung der beiden Aufnahmen in der Postproduktionsphase war aufwändiger als es die Retuschierung des Lügenfadens gewesen wäre. Die Szene mit Klein am Haken in der Luft paddelnd wäre für niemanden skurriler gewesen als das, was man heute auf dem Foto sehen kann. Nur für Klein hätte es einen Unterschied gemacht: Sein „Schweben“ wäre schon vorfotografisch Fiktion gewesen – nur ein Trick. Es hätte von Anfang an keinen „Äther“ und keine Chance gegeben, den Raum und die Erdanziehung zu manipulieren. So aber war das Foto nicht fiktional im Sinne der Darstellung: Klein sieht auf der fertigen Abbildung „[u]n homme dans l’espace!“34 Dass das Foto fiktional im Sinne des Dargestellten sein könnte, machte für den „Conquistador“ des Raums am Ende keinen Unterschied. Diese marginalisierte Differenz lässt sich so erläutern: Das Bild wäre nicht Fiktion im Sinne dessen, was es zeigt: die Realität Yves Kleins ohne festen Boden unter den Füßen. Es wäre Fiktion im Sinne dessen, was es bedeuten soll: „die Überwindung der Schwerkraft“, sagt Wyss.35 So aber gilt vielleicht doch: Für die obere Hälfte des Bildes gilt nach wie vor Max Imdahls allgemeiner Grundsatz: „Es gibt in diesem Foto nichts, was nicht faktisch so gewesen ist.“36 Für den unteren Teil und den dort betriebenen Aufwand interessierte Klein sich einfach nicht. Es gibt ein weiteres Bild, das Klein 32 Wyss: „Ikonographie des Unsichtbaren“, S. 361. 33 Stich: Yves Klein, S. 114. 34 Ebd. S. 217. 35 Wyss: „Ikonographie des Unsichtbaren“, S. 368. 36 Imdahl: „Relationen zwischen Portrait und Individuum“, S. 593.

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besser gefiel und das dies gut belegt. Es zeigt quasi nur die obere Hälfte und hat mehr von den Zeitspuren des Gewesenen. Ob es unten so gewesen ist (und wann) spielte keine Rolle für den Wahrhaftigkeitsanspruch, oben einen entscheidenden, wenn auch flüchtigen und aus dem Leben entrissenen Moment in der Rue Gentil Bernard registriert zu haben. Auch Max Imdahl war ausgewiesener Experte für „Straßenszene[n] in Paris“37 So hatte er etwa einen Aufsatz zur Momentfotografie des späten 19. Jahrhunderts geschrieben, mit dem man sehr genau die widersprüchlichen Figurationen im fertig bearbeiteten Sprung-Bild rekonstruieren kann. Bezeichnender Weise jongliert Imdahl vor der „Momentfotografie“ immer noch mit den gleichen Begriffen von Kontingenz, Komposition und Notwendigkeit – wie schon bei seinen bekannten Analysen zum komponierten Tafelbild bei Giotto.

„Was macht der Ikarus von Shunk“ Noch einmal: Klein wollte einen Moment fotografiert und damit dokumentiert wissen, wie ihn nur die Fotografie festhalten konnte. Sie kann wie selbstverständlich „transitorische Vorgänge, zum Beispiel in Bewegung befindliche Personen […] aus dem Bewegungsfluss heraus augenblicklich und zu jedem beliebigen Zeitpunkt und in jedem beliebigen Ausschnitt […] arretieren.“38 Aus diesem Grund ließ der neue Realist sich fotografieren. Was er dagegen auf keinen Fall gewollt haben kann, war aber eine wirkliche „Momentfotografie“ (hier in Anführungszeichen gesetzt, weil der Begriff für eine Bildgattung steht). Eine solche „Momentfotografie“ machte erst Shunk nachträglich aus der Aufnahme vom Sprung, indem er Kender und den gerade anhaltenden Zug wie zufällig im Bild eingefangen mitzeigte. Der Wagon im Hintergrund ist als dunkler Flächenwert sehr wichtig. Nicht für Kleins Beweisaufnahme, aber für die Fotografie, weil er den unruhigen Tiefenraum abblockt und einen wichtigen Horizontalwert in die Bildplanimetrie einführt. Quasi per definitionem besitzt die „Momentfotografie“ die „mechanische Möglichkeit“ der „Sichtbarmachung einer Wirklichkeit, die dem ‚unbewaffneten Auge’ nicht sichtbar wird“39. Als Medium der Sichtbarmachung des Unsichtbaren hatte die Fotografie eine eigene Geschichte. Imdahl doziert hier ein Allgemeinwissen der frühen Fototheorie, was aber nicht unwichtig ist. Es ist ja gerade einer der Mythen der Fotografie, dass sich in ihr die flüchtigen Details wie von selbst mitaufzeichnen und so überhaupt erst in die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung aufsteigen. Mit der Kamera bewaffnet, kann Harry Shunk nun selbstverständlich jeden Augenblick zum studierbaren Standbild gefrieren lassen 37 Imdahl: „Die Momentfotografie und ‚Le Comte Lepic‘ von Edgar Degas“, S. 185. 38 Ebd. S. 181. 39 Ebd. S. 181.

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– aber eben jeden beliebigen. Max Imdahl legte Wert auf die Feststellung, dass es das Selbstverständnis der „Momentfotografie“ sei, pure Kontingenz einzufangen: Die „Willkür ihres zeitlichen Augenblicks“ und die szenische Zusammenhanglosigkeit, schreibt er der „Momentfotografie“ sogar als Bestimmungsmerkmal zu.40 Und: insbesondere „Straßenszenen sind genuin kontingente Szenen.“41 Yves Kleins Szene ist eine solche Straßenszene und zwischen dem zufällig vorbeifahrenden Kender in der Rückenansicht und dem gerade eben „schwebenden“ Esoteriker des Immateriellen besteht kategorial kein Unterschied. Die „Ausdrucksbewegung“ des Künstlers leidet nun sogar unter der Präsenz der radfahrenden Assistenzfigur. Sie verzeitlicht nämlich den Moment im Bild. Sie macht aus einem Augenblick und einem fixierten Zeitpunkt eine Abfolge oder Geschichte. Die Figur des Radfahrers induziert eine Bewegungsrichtung und eine Bewegung in der Zeit: von schräg vorne nach hinten. Der helle ausgebesserte Asphalt markiert den Richtungsvektor deutlich. Wenn man sich also den Radfahrer in einer Aufwärtsbewegung im Bild vorstellen muss, dann muss man sich unweigerlich in der gleichen Zeit Yves Klein als in einer Fallbewegung begriffen denken. Die Fahrt Kenders macht aus dem Dauervorgang des Schwebens einen fruchtbaren Moment eines Noch-Nicht-Gefallen-Seins. Für die Intention Kleins würde dies einen echten Unglücksfall darstellen. Es würde die Vorführung der „Sensibilität des Raums“ – eine Kleinsche Formulierung für das, was auch die Physiker vergeblich gesucht hatten – widerlegen. Das Mittel, das die Authentizität des Gezeigten garantieren soll – die zufällige Fahrradfahrt – würde zugleich die Funktion implizieren, die den Künstler nach unten auf den Boden der Realität zieht. Aber es gibt eine innerbildliche Reaktion auf dieses Problem. Wiederum war in Bochum, am Institut Imdahls, genauestens untersucht worden, wie man sich das Verhältnis von Narration und Zeit im Bild vorzustellen hat. Man fragte etwa danach, wie ein „Eben Jetzt“ sich zu einem „Vorher“ und einem „Nachher“ oder einem „Woher“ oder „Wohin“ in der Malerei verhalten kann. Für das Kunstbild hatte man dort den Begriff der „ikonischen Zeitstruktur“42 geprägt. Man brauchte den (bildeigenen) Begriff, um eine nur „bildmögliche Besonderheit“ des Zeigens von Zeit in der Tafelmalerei beschreiben zu können. Diese malerische Zeitstruktur passt nun aber auch auf Shunks Außenaufnahme: Gezeigt werden zwei Ereignisse, die nur schwerlich gleichzeitig oder phasenlogisch so hätten stattfinden oder sich entwickeln können. Wie soll man sich die realzeitliche, vorfotografische Beziehung zwischen dem zum Sprung bereiten Mystiker des Raums nervös auf der Mauerkante und einem nichtsahnenden Radfahrer „wirklich“ vorstellen? Hatte der Judomeister so lange gewartet und meditiert, bis der Radfahrer an ihm 40 Ebd. S. 182, 187: „Die Momentfotografie ist definierbar als eine […] Repräsentationsform kontingenter Szenen […]“ 41 Ebd. S. 181. 42 Imdahl: „Die Zeitstruktur in Poussins ‚Mannalese‘ “, S. 491.

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vorbei gefahren war, um ihn nicht zu erschrecken oder gar anzuspringen? Hatte andererseits der Passant den Leviator gar nicht gesehen, so wie den Bauern in Bruegels Bild das Drama des Ikarussturzes scheinbar entgangen war? Klein und der Passant hätten sich im Bild nie auf Augenhöhe begegnen können. Dazu ist das Bild nicht breit genug. Der Zeitpunkt, zu dem sich Klein und die Assistenzfigur gegenseitig hätten sehen können, liegt außerhalb des Bildes. Stellt man sich beide auf der gleichen Ebene vor, wäre der Mann mit Fahrrad im Off der rechten Bildkante. Das Bild verhindert so, dass man sich diese Situation im Bild rekonstruieren könnte. Weil sich die beiden Figuren nicht zusammenführen lassen, sind der Radfahrer und Klein in ihrer Zeitstruktur im Bild inkompatibel: Während der eine seine „Levitation“ fototechnisch auf Dauer erhalten will, beschleunigt die fahrende Figur den Fall Kleins. Zusammen finden sie nur in einer „ikonischen“ Bildzeit, „in der sukzedierende Ereignismomente durch eine szenische Augenblicksrelation übergriffen sind, ohne empirisches oder auch narrationsfähiges Korrelat“43. Und Max Imdahl fügt hinzu: „[…] und zweifellos auch ist sie eine Fiktion“. Diese Augenblicksrelation ist eine Fiktion, weil zwei Ereignisse, die nicht simultan stattgefunden haben, als gleichzeitige im Bild zu sehen sind. Klein und der in den Bildhintergrund fahrende Passant bilden keine szenische Einheit. Die beiden Figuren und die gegensätzlichen Ereignisse von Sukzession einerseits und dem Angehaltensein der Bewegung andererseits werden nicht durch ein gemeinsames, „Woher-Wohin“ oder „Vorher-Nachher“ zusammengehalten. Das war schon bei Shunks Vorbild Bruegel so. Und das weiß natürlich auch Wyss über den Ikarussturz: Dem Bild eignet eine schillernde Ungleichzeitigkeit zwischen avancierter Raumkonstruktion und traditionell simultaner Erzählweise. Während der perspektivisch geschaffene Raum die Einheit von Zeit, Ort und Handlung suggeriert, springen die Figuren […] im Zeit-Raum vor und zurück.44 Stattdessen sind die Figuren im selben Maße ästhetisch verbunden wie sie zugleich durch dieselben ästhetischen Maßnahmen auch voneinander separiert sind: Für die „fliegende“ Figur ist nicht der Radfahrer das Bezugszeichen im Bild, sondern die Baumkrone und der ausgebesserte Asphalt der Strasse im unteren rechten Bildfeld. Diese gegenständlichen Bezeichnungswerte bilden die formalästhetisch wirksamen Bogenformen, mit denen die Bogenbewegung der Ausdrucksgebärde der Hauptfigur kongruiert. Um das Stillstehen der Zeit zu sehen, muss der Betrachter zuerst die Aufgefangenheit der Figur in einem kalkulierten Spiel von angeschnittenen, flächigen Kreisformen erkennen. 43 Imdahl: „Die Zeitstruktur in Poussins ‚Mannalese‘ “, S. 490. 44 Wyss: Landschaft mit Ikarussturz, S. 47.

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Abbildung 12: „Sprung in die Leere“ mit Kompositionszeichnung.

Klein existiert in seiner Welt der Schwebe, solange er ein Flächenwert ist, der sich durch andere Flächenwerte legitimiert. Was den Bildraum zusammenhält, ist nicht ein imaginäres „Äther“-Feld, sondern das Feldliniensystem ästhetisch konstruierter Notwendigkeit, das sich auf der Oberfläche des Bildes entwickelt. Das unterscheidet ihn von Kenders Welt der Bewegung. Dieser ist Teil einer anderen Flächensystematik. Über seine Schultern verläuft waagerecht, an der unteren Schildkante entlang und einigermaßen parallel zur Querstrasse im Hintergrund, der horizontale goldene Schnitt. Die Kugel seines Hinterkopfes liegt auf dieser Linie auf. Der Bordstein am untern Bildrand markiert dagegen den goldenen Schnitt in der Vertikalen des Bildformats. Die gegenüberliegende Bordsteinlinie, die zugleich die Zeitachse für die Bewegung der Rückenfigur abgibt, schneidet den vertikalen goldenen Schnitt genau in Höhe der Bordsteinkante der Querstraße. Den goldenden Schnitt in der Horizontalen trifft sie genau am Ende der Hausmauer in Höhe der Oberkante des Lattenzauns. Dass beide Figuren Teil zweier in ein und demselben Bild vorhandener planimetrischen Ordnungen sind, verbindet sie miteinander. Dass sie beide jeweils Teil zweier konkurrierender Ordnungen sind, trennt sie im gleichen Zug wieder voneinander. Zusammen bilden sie den unsichtbaren Stoff, der sich durch das Universum der Tafelbilder in der Kunstgeschichte zieht. Ein formalästhetisches Gesetz strukturiert unsichtbar den Raum. Insofern verdankt sich das Bild tatsächlich unsichtba-

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ren Kräften – aber ästhetischen Energien. Nur Physiker, die den „Äther“ suchen, würden das Bild an den Rändern beschneiden, ohne zu merken, dass sie dabei eine Bildformel verletzten. Dass sie in ein und demselben Bild miteinander vermittelt erscheinen, verdankt sich, wie gesagt, der Fiktion des Bildes.

Abbildung 13: Sprung aus anderer Aufnahmeperspektive.

Max Imdahl hätte dem wohl mit einer gewissen Genugtuung gegenüber seiner Methode zugestimmt. In seinem eigenen Aufsatz zitiert er ziemlich am Ende Wolfgang Iser. Demzufolge „[sei] [d]ie Fiktion die Verletzung der Referenz schlechthin“45. Da es Yves Klein um die Widerlegung der Wirklichkeit ging, müsste das Foto auf dieser Ebene als geglückt bezeichnet werden. Es lässt erkennen, was die Bilddinge im Innersten zusammenhält: Es ist ihr formaler Magnetismus. Sie richten sich aneinander aus. Shunks Klein-Foto zeigt die Gesetze des Kunstraums. Der Verletzung der Referenz entspricht die Überwindung der Schwerkraft und die Tragkraft einer „erfüllten Leere“46.

Kleinigkeiten – Die Konkurrenz der Kontingenz. Hat also alles ein Happy End? Endet der Sprung in das „befreite Nichts“47 glücklich, weil zwischen Schauspieler und Statist ein Graben der szenisch-zeitlichen Inkompatibilität klafft, der nicht übersprungen werden muss? Ist im Bild alles im Lot, weil die Gesimskante, von der Klein abspringt ziemlich genau den goldenen Schnitt im Bild einzieht, der Kleins Bildzeit von der Transitorik des Radfahrers trennt? So würde das Bild zwar nicht den „Äther“ zeigen, aber stattdessen die Kraftfelder, die den Bildraum aufbauen. 45 Imdahl: „Die Zeitstruktur in Poussins ‚Mannalese‘ “, S. 490. 46 Inboden: Venedig oder das Gesetz von Form, Mass und Licht. 47 Wyss: „Ceci n’ est pas un texte“, S. 43.

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Aber: Dass in der Momentfotografie alles beliebig ist, zerrt dennoch an der künstlerischen „Ausdrucksbewegung“ des Schwebens und zieht sie nach unten ins Triviale. Klein springt in ein kontingentes Bild von zufällig und unabhängig voneinander sich bewegenden Personen. Das Fotografierte bestätigt die „Momentfotografie“ und nicht das zufällig Aufgefangene. Man kann sich sogar darüber echauffieren, dass die „Momentfotografie“ immer schon nur ihr eigenes Wesen ausdrücken wolle. Imdahl zitiert eine solche namenlose Kritik: Gehende, laufende und fallende Figuren […] sind in ihren Handlungen eingefangen ohne den geringsten Anschein von Bewegung. […] Hier ist ein Junge im Fallen fixiert, er fliegt vorwärts, als hätte ihm jemand ein Bein gestellt; und er verharrt in der Schwebe, dazu verdammt, weder richtig zu fallen noch wieder sich aufrichten zu dürfen.48 Die Fotografie tut so, als sei es ein „Glücksfall“ gewesen, im Hintergrundrauschen des Kontinuums des Alltäglichen den Künstler der „obsession de la lévitation“ eingefangen zu haben. Das Foto selbst springt dem Betrachter als Foto ins Auge. Das stellt aber die Leistung des Abgelichteten in den Schatten. Kleins eigene „Leistung“ dient als Beleg für die Leistung des Mediums. Dafür darf der „Leviator“ als Effekt der Fotografie im Bildraum schweben. Ob die Kamera zugleich auch den Künstler im „Äther“ unsichtbarer kosmischer Energie aufgezeichnet hat, wird in dem Maße gleichgültig, wie es jetzt um reine Augenblicklichkeit geht. Das heißt: genau die bildnerischen und fotografischen Mittel, die das Bild authentischer und glaubwürdiger machen, der „Effect du reel“ der „Momentfotografie“, sind zugleich genau die Mittel, die das inhaltlich Gezeigte genauso auch wieder in die Kontingenz reißen. Yves Kleins „Sprung in die Leere“ ist nun genauso gut ein „Glücksfall“ für die „Momentfotografie“. Bisher war das gelungene Foto ein „Glücksfall“ für den Künstler, dem so die Wiederholung des schmerzhaften Vorgangs erspart blieb. Die „Momentfotografie“ nimmt alles wörtlich, es gibt keine Bedeutung außer der Wörtlichkeit und Direktheit des zufällig Gezeigten selbst. Der Schnappschuss ist primär seine eigene Botschaft. Klein kollidiert mit dem Gesetz der Gattung „Momentfotografie“, weil er zu sehr seine exemplarisch gemeinte Geste mit dem Charakter des Zufälligen verbindet. Das Gesetz der Gattung widerstrebt nun dem individuellen Bildsinn Kleins. Und das Ikarushafte besteht nun darin, dass die „Momentfotografie“ die eminente Bedeutung eines privilegierten und singulären Augenblicks der Vorführung der „neuen Realität“ der Levitation gnadenlos abstürzen lässt. Die Sensation ist der pure Augenblick selbst – mechanisch gebannt. 48 Imdahl: „Die Momentfotografie und ‚Le Conte Lepic‘ von Edgar Degas“, S. 182.

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Abbildung 14: Südkurier: Schnappschuss auf einem Golfplatz. Kopfsprung ins Wasserhindernis.

Stattdessen: „Vollkommene Signifikanten“ In den Texten der Yves Klein Retrospektiven wird die Fotografie unbewusst vielleicht aus diesen Gründen nicht eigens thematisiert. In der Kunstszene haben die Autoren offensichtlich kein Mandat, über das eigenständige Bild zu sprechen. Auf dem Kunstmarkt dagegen wird sie als selbständige „Kunstfotografie“ gehandelt. Das Bild braucht anscheinend keine eigene Ekphrasis. Es ist kein echtes Kunstbild und kein echtes „Dokument“. Es existiert in einem Zwischenraum. Es schwebt selbst in einer Leere. Es ist nur einfach immer da, wenn man einen Katalog aufschlägt. In diesen Katalogen unterscheidet man dann aber doch noch Kleins Vorführung und das davon zeugende Bild. Man tut dies folgender Maßen: „Der Sprung in die Leere und die Herstellung eines beweisführenden Dokuments wurden als vollkommene Signifikanten seiner Verbindung mit dem Mystischen und Spirituellen betrachtet.“49 Wie soll man „vollkommene Signifikanten“ wohl verstehen? Wann ist ein Signifikant „vollkommen“? Vermutlich dann, wenn er vollkommen verständlich ist; wenn er eins mit seiner Bedeutung ist. Also zuerst der „Sprung“ (selbst) als Zeichen: Einerseits soll der „Sprung in die Leere“ den Künstler eindeutig mit dem Bezeichneten – einer für das bloße Auge unsichtbaren energetischen Wirklichkeit – „verbunden“ haben. Eine Verbindung, die den Abgrund zwischen Zeichen und Bedeutung einfach überspringt. In diesem Satz wird der semiotische Vorgang in einem intuitiven Bedeutungsgeschehen unmittelbar überwunden – transsemantisch. Repräsentationismus ohne 49 Stich: Yves Klein, S. 218.

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semiotisches Fundament. Für den „Sprung in die Leere“ wird also scheinbar angenommen, er sei die Verbindung selbst gewesen. Man soll den Sprung als Vereinigung und Gleichzeitigkeit von Kontakt und Bezeichnung mit dem ätherhaften Numinosen zugleich verstehen. In der Sprechakttheorie gibt es eine Sprachhandlung, die dem nahe kommt: der „deklarative Akt“. Er schließt den Abgrund zwischen Zeichen und Bedeutung, indem er tut, was er sagt. In dem Moment, in dem er ausgesprochen wird, realisiert sich zugleich sein Inhalt: „Ich verurteile Sie wegen Fälschung“, wäre so ein Satz. Auf der anderen Seite sei auch das Bild des Sprungs in die Leere als ebenso „vollkommenes“ Zeichen betrachtet worden, heißt es. Die „Vollkommenheit“ eines Bildes liegt in seiner „Notwendigkeit“. Von Max Imdahl konnte man erfahren, dass ein Bild dann „vollkommen“ sei, wenn es sich um einen „notwendigen, vollkommenen und insofern allem Kontingenten entgegengesetzten formalen Zusammenhang“50 handle. Es muss sich um „ein Ganzes [handeln], welches bestimmt ist durch schlüssige Verhältnisse seiner Elemente sowohl zu ihm selbst [dem Bildganzen, js.] als auch zueinander“.51 Die Zitate stammen aus dem „Momentfotografie“-Aufsatz. Imdahl wiederholt diese Bestimmung des Kunstbildes als stimmigen, „formimmanente[n] Organismus“52 in seiner Abhandlung zur Fotografie also explizit noch einmal. Er tut dies, um sodann die Malerei von der technischen Bilderzeugung trennen zu können. Der Unterschied sei folgender: Für das fotografierte Bild gelte: „Man abstrahiert vom Foto und setzt das Abbild [hier: den fliegenden Yves Klein, js.] mit diesem [dem Bild, js.] gleich.“53 – Was einfach heißen soll: Man übersieht das Foto als Foto. Man achtet nicht auf eine etwaige Bildordnung wie sie gerade oben beschrieben wurde. Denn: „[v]ergleichbare Erfahrungen planimetrischer Ordnung vermittelt das Foto nicht“ 54– vor allem nicht das Foto der „Momentfotografie“. Gerade die „Momentfotografie“ unterscheide sich ja dadurch von einer notwendigen, das heißt unverrückbar „organisierte[n]“ Bildstruktur55, dass sie schon dann als gelungen angesehen wird, wenn sie auf der Ereignis- oder Gegenstandsebene einen „glücklichen“ Moment erwischt. Es reicht schon aus, den richtigen Augenblick zu treffen. Es wäre darüber hinaus ein besonderer „Glücksfall“56 der Momentfotografie, wenn der Schnappschuss auch noch als komponiertes Tafelbild erschiene. Dass sich zum Glück beim Motiv auch noch das Bildglück gesellt, sei nicht „prin50 Imdahl: „Die Momentfotografie und ‚Le Conte Lepic‘ von Edgar Degas“, S. 183. 51 Ebd. S. 188. 52 Ebd. S. 188. 53 Imdahl: „Relationen zwischen Portrait und Individuum“, S. 593. 54 Ebd. S. 595. 55 Imdahl: „Die Momentfotografie und ‚Le Conte Lepic‘ von Edgar Degas“, S. 188. 56 Ebd. S. 185.

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zipiell unwahrscheinlich“57, also nicht prinzipiell auszuschließen, aber so gut wie unmöglich. Träte aber ein solch unwahrscheinlicher Fall ein, zum Beispiel sowohl einen leibhaftigen „Leviator“ in einer Straßenszene in Paris eingefangen zu haben als auch zugleich eine planimetrische Notwendigkeitsstruktur produziert zu haben, läge wohl ein Fall von „vollkommenen Signifikanten“ vor. Man muss sich schon wundern, dass es keine „ikonische“ Analyse vom Sprung in die Leere gibt.58 Man hat diese Spur offenbar nie verfolgt. Man überlässt die Rede von „vollkommenen Signifikanten“ der Vergangenheit. Sie „wurden“ früher einmal so betrachtet, sagt die Textstelle. Auf der Suche nach dem verlorenen historischen Kontext kann Beat Wyss sie dann als „Bodensatz“ einer zu bergenden mentalen Grundhaltung wieder aufgreifen. Für das Gegenwartsbewusstsein sind diese „vollkommenen Signifikanten“ vor einiger Zeit vom Sockel der Verständlichkeit heruntergefallen. Die Mentalitätsgeschichte liftet sie wieder in den Raum ihrer Zeit zurück: In das Fluidum des Spiritualismus und in den schwerelosen, leeren Raum der ersten russischen Kosmonauten.59 „Vollkommen“ sind diese Bildzeichen für eine Mentalitätsgeschichte allerdings nie gewesen. Sie brauchen stets den „unsichtbaren Diskurs“ 60, um quasi–hermeneutisch aufgefangen zu werden. Daher hat Wyss auch nicht die Reichweite des Sprungs und die Entfernungen im Bild nachgemessen. Er hat nie eine „ikonische“ Bildanalyse versucht. Kleins Bilder konnten nicht „vollkommen“ sein, solange man ihnen ihren „Sinn“ noch nachtragen musste: Weil der Franzose den Sputnik in der Zeitung gesehen hatte, sei er auf die Idee gekommen, schweben zu können. Ob das Bild es noch bis in die „Vollkommenheit“ geschafft hat, ist indes keine Frage historischer Restitution eines verlorenen „Sinns“. Imdahls Vorstellung „vollkommener“ Zeichen ist auch angesichts der Erfindung der Fotografie vollkommen unhistorisch: Für ihn war ein Bild nie einfach Vergangenheit. Auch wenn das Dargestellte gewesen ist, bleibt das präsente Bild immer gegenwärtig. Ein Bild wäre immer Kunst/„vollkommen“ oder nie. Das ist kompromisslos, aber erst einmal eindeutig: Der Bochumer schaut sich dazu seine Signifikanten im Bild genauer an als andere. Man sollte also fragen: „Was macht der Ikarus von Shunk?“. Man sollte eine „ikonische“ Analyse wagen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es dem Macher der Momentfotografie um jenen unwahrscheinlichen „Glücksfall“ gegangen war, den Imdahl nicht vollkommen ausschließen wollte. Es ist hilfreich, den Aufsatz über die „Momentfotografie“ ein wenig weiter zu lesen. Imdahl macht darauf aufmerksam, dass man diesem Fall einer erfreulichen Bildmutation – von einer kompositionsfreien Momentaufnahme zu einem 57 Ebd. S. 185. 58 „Ikonisch“ wäre eine Analyse, die ein Bild sowohl „wiedererkennend“ als auch „sehend“ sehend betrachtet, d.h. die motivisch und flächig zugleich sieht. 59 Wyss: Ikonographie des Unsichtbaren, S. 361ff. 60 Ebd. S. 362.

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respektablen Tafelbild-Werk – durchaus auf die Sprünge helfen kann. Es sei geradezu ungemein erhellend für die „Momentfotografie“, wenn man diese in die Bedingungen des komponierten Bildes „überführen“ würde. Die ersten Eindrücke zur Zeitgestalt des Bildes und zu seinem formalen Aufbau geben Anlass zu der Vermutung, Harry Shunk habe genau eine solche Überführung versucht. Aber was ist das Ergebnis einer solchen „Interferenz“61 von „Momentfotografie“ und Tafelbild? Was sich dann abzeichnet, ist für den Analytiker ästhetischer Erfahrung ganz eindeutig: Wenn die Symptome der „Momentfotografie“ in die Bedingungen des komponierten Tafelbildes überführt werden, tritt der folgende Fall ein: Die Komposition überführt dann das szenisch kontingente, transitorische Augenblickliche formalästhetisch in „eine permanente Erscheinung“62. Dabei bleibt aber die „Suggestion der Authentizität“ „aufrechterhalten“63.

Giotto und Klein Es ist fast so, als gäbe es keinen Unterschied zwischen dem Foto und etwa einem Giotto. Offenbar kann die Beschreibung des einen auf den Sachverhalt des anderen Falls ohne Hindernis herübergleiten. Zu Giottos Mariä Tempelgang heißt es: So sehr, vermöge der szenischen Choreografie, der Konnex zwischen der agierenden Anna und den reagierenden Rückenfiguren […] als ein transitorischer, aktueller und insofern auf andere Situationen und Verhaltensweisen offener Handlungszusammenhang verbildlicht ist, so sehr ist er anschauungsgleich mit der Invariabilität und Ganzheitsstruktur der planimetrischen Komposition.64 Der Sprung in die Leere erfüllt genau diese Bildbeschreibung perfekt. Die Überführung eines Moments in eine „permanente Erscheinung“ erfüllt sich auch bei Shunks Bild. Hat man einmal damit begonnen, die Fotooberfläche abzuscannen, erkennt man schnell die Signifikantenkonstellationen, die das Gezeigte unverrückbar machen. Sowohl bei Giotto als auch im Falle Shunks handelt es sich um Zeichensysteme, die die „dramatische Aktualität“ der szenischen Bildhandlung65 in eine Endgültigkeitsstruktur fassen. Es handelt sich beim „Sprung“ um „malerische“ Fotografie und um „vollkommene Signifikanten“.66 61 Imdahl: „Die Momentfotografie und ‚Le Conte Lepic‘ von Edgar Degas“, S. 185. 62 Ebd. S. 186. 63 Ebd. S. 186. 64 Imdahl: „Kontingenz – Komposition – Providenz“, S. 480. 65 Imdahl: Giotto, S. 199. 66 Vgl. Abbildung 12.

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Mit einem Unterschied: Bei Giotto hieß eine immanent geregelte Notwenigkeitsstruktur, die das „auf Kontingenz hin offene“67 Ereignis in ein unabänderliches Geschehen verwandelt: „Providenz“. Giotto verankerte seine christlich-religiösen Akteure in seinem Bildaufbau so, dass die gezeigten Ereignisse alternativlos wurden. Auf diese Weise vollstreckte die formalästhetische Bildarchitektur an den Figuren den Willen Gottes – so unabänderlich, wie sie sich selbst zeigt. Wird nun auch „Providenz“ in einer Straßenszene in Paris auffällig? Max Imdahl hat ganz konkret im Fall einer konstruierten „Momentfotografie“ erneut die gleichen Fragen nach dem Verhältnis „von Kontingenz und Komposition“ gestellt wie schon vor den Bildern in Padua. Wie in den Fresken der Oberkirche gebe es auch in der quasi in „Malerei“ überführten „Momentfotografie“ noch eine „Versöhnung“ oder einen „Ausgleich [...] von Kontingenz und Komposition“68. Dabei kommt es dieser konstruierten Fotografie darauf an, Fälle zu schaffen, „in denen die Momentfotografie kategorial sich erfüllt“69: Kategorial „erfüllt“ heißt hier: Die „Extremformulierung des einen [maximaler Flüchtigkeit, js.] unter der Bedingung des anderen [maximaler bildimmanenter Notwendigkeit, js.]“70. Die malerisch manipulierte Konstitution kommt „dem Ausdruck der Kontingenz selbst [zugute]. Gerade dies ist die entscheidende Leistung des Bildes“71. Die Steigerung von „Momentfotografie“ ist die zum Tafelbild gewordene Momentfotografie. „Es gelingt mittels manipulierender Malerei [Fotografie, js.] die durch die Momentfotografie eröffneten Repräsentationsmöglichkeiten von Kontingenz auszuschöpfen“72. Es wird „Kontingenz in deren maximaler Möglichkeit“ „vergegenwärtigt“. Das Bild vom Sprung in die Leere ist also eine „vollkommene“ Signifikantenkonstellation. (Gibt es geringfügige Abweichungen, so sollen sie genau davon ablenken.) Aber diese finite Form führt nicht die Unausweichlichkeit von Kleins Handeln vor Augen. Nicht Kleins Handeln erhält so „providentiellen Rang“73. Was stattdessen vorgeführt wird, ist Kontingenz als notwendige Kontingenz. Das Sprung-Bild ist eine Notwendigkeitsstruktur von Kontingenz!

67 Imdahl: „Kontingenz – Komposition – Providenz“, S. 475. 68 Imdahl: „Die Momentfotografie und ‚Le Conte Lepic‘ von Edgar Degas“, S. 185. 69 Ebd. S. 192. 70 Ebd. S. 187. 71 Ebd. S. 192. 72 Ebd. S. 192. 73 Imdahl: „Kontingenz – Komposition – Providenz“, S. 465.

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Max Imdahl. Das gleiche System einer autonomen, eigengesetzlichen Notwendigkeitsstruktur kann also sowohl als Verbürgung von Providenz gelesen werden wie auch als „erfüllt[e]“74 Kontingenz. In beiden Fällen „versöhnen“ sich Kontingenz und Komposition. Einmal, in Paris, um die Kontingenz als solche als eine absolut notwendige Zufälligkeit zu steigern. Ein anderes Mal, in Padua, um der Kontingenz der Ereignisse eine in der Vorsehung vorhergewusste Unabänderlichkeit zu garantieren.

Abbildung 15: Erweckung des Lazarus. Abbildung 16: Ebd. als Kompsitionszeichnung von Imdahl/„Notwendigkeitsstruktur“.

Was bedeutet es aber für das eine und das andere Bild, wenn mit dem gleichen „Satzbau“, der gleichen „Grammatik“, der gleichen formalen Notwendigkeit, zwei völlig verschiedene „Sinne“ ausgesagt werden können? Egal was das „bildlich Gegebene“ auch ist, es „kommt zur Erscheinung ohne Erscheinungsalternative – alles ist so, wie es ist, es sei denn alles wäre anders.“75 – Mit „alles“ meinte Imdahl alles, was auf den Bildern zu sehen ist. Aber Imdahls „alles“ kann auch heißen: jede beliebige Bildaussage kann über die Art ihrer formalen Formulierung absolut gesetzt werden. So wird ein Giotto von der Kontingenz infiziert und ein Shunk kann von dem Providenzcharakter der Bildstruktur profitieren. Das heißt nicht, dass die Bilder beliebig oder unbeliebig würden. Aber ihr Inhalt kann ebenso gut unausweichlich festgelegt wie notwendiger Weise kontingent sein. Die Bilder machen nur das Versprechen „alles“, das heißt: was auch immer, in ein innerlich Notwendiges zu verwandeln. Der Bildgrammatik als eine „in sich notwendiges und ganzheitsstiftendes Relationsgefüge“76 ist ihr Inhalt relativ gleichgültig. Sie realisiert sich nur selbst durch ihn hindurch. Es sieht so aus, 74 Imdahl: „Die Momentfotografie und ‚Le Conte Lepic‘ von Edgar Degas“, S. 192. 75 Imdahl: „Die Zeitstruktur in Poussins ‚Malannese‘ “, S. 492. 76 Imdahl: „Bildbegriff und Epochenbewusstsein“, S.520..

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als nähme das „Tafelbild“ wenig Rücksicht auf seinen Inhalt, obwohl es ihn mit „vollkommener“ Sorgfalt zu behandeln scheint. Dabei ist es wenigstens im gleichen Maße an seiner eigenen „Vollkommenheit“ interessiert, wie an seiner jeweiligen Aussage: In beiden Fällen gilt „die Anschauungsgleichheit eines aktuellen Augenblicks und eines zeitliche Abfolgen übergreifendes Immerdar“77 – Das System bestätigt ebenso Metaphysik wie auch Kontingenz. Das System ist teilnahmslos gegenüber seinem Inhalt. Man darf eines nicht vergessen: Imdahl hatte sich damals gegen die ikonographischen Vorgaben mit Absicht blind gestellt, um die bildeigene Notwendigkeitsstruktur überhaupt sehen zu können. Der Bochumer hatte „sehend gesehen“, um so erst die Flächenlogik zu erkennen. Erst nachträglich band der Professor seine bedeutungsblinde planimetrische Bildordnung einsichtig wieder an das Thema zurück. Die Form war nun zur Bestätigung des inhaltlich Dargestellten geworden. Man wollte die Einheit von Bild und Text nicht zerreißen, sondern nur die Hierarchien zugunsten der Bildleistung umkehren. Die bildliche Umsetzung sollte jede Textreferenz auf unvordenkliche Weise transzendieren und überbieten. Es war ein großer Schritt, mit dieser Taktik aus dem Schatten der klassischen Kunstgeschichtsschreibung herauszutreten. Das Bild steigerte nun seinen Inhalt mit bildeigenen formalen Mitteln ins sprachlich nicht mehr Einholbare. Nur aus der Entfernung verkleinert sich die „methodische“ Vorwärtsbewegung zusehends. Wenn man zum Beispiel aus dem amerikanischen Exil die Fortschritte der europäischen Kunstwissenschaft beobachtet, liest sich ein Satz von de Man wie ein milder Vorwurf. Wenn „die Bedeutung so ängstlich bemüht ist, das Hindernis der Form zu tilgen, dann ist es kein Wunder, dass die Versöhnung von Form und Bedeutung derart attraktiv erscheint“, schrieb der gebürtige Belgier aus der Ferne.78 Imdahl hatte die Form unmittelbar funktionalisiert und so der Ausdruckssteigerung des Inhalts zugeschlagen – man kann sich nach wie vor fragen, ob dies noch ein Beitrag zu ihrer Tilgung war oder schon zu ihrer Befreiung.

Aber! Man kann nun sagen, alles wäre „in Wirklichkeit“ tatsächlich anders. Man kann sagen, in Shunks Bildwerk sei der Inhalt des Bildes Kontingenz, egal wer nun gerade aus dem Fenster oder von der Mauer springt. In Giottos Fall dagegen sei der Inhalt von Anfang an nicht kontingent. Schließlich hatte auch schon Imdahl an dieser Stelle vorsichtiger von „relativer Kontingenz“ geredet, um der „Referenz“, der Finalität des biblischen Textverlaufs, gerecht zu werden. Aber dass ein 77 Imdahl: Giotto, S. 105. 78 De Man: Allegorien des Lesens, S. 38.

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Ereignis von „providentielle[m] Rang“ ist, sieht man dam Bild nicht an. Man sieht ihm nur seine eigene endgültige Struktur an. Gerade das zeigt ein Vergleich. Von der Gottgewolltheit des Dargestellten muss man wissen. Dieses Wissen aber ist „Außenpolitik“ – der Absprung ins Jenseits der Bilder. „Erneut wird das Werk selbst und die dem Werk zugewandte ästhetische Erfahrung übersprungen.“79

Am Ende: Ironie Wir tun so als ob wir, nachdem […] die Techniken der strukturalen Analyse fast bis zur Vollkommenheit verfeinert worden sind, nun‚ jenseits des Formalismus’ auf diejenigen Fragen uns zubewegen könnten, die […] die Früchte der asketischen Konzentration auf Techniken ernten könnten, die uns auf diesen entscheidenden Schritt vorbereitet haben. Wohlinformiert über das innere Gesetz und die Ordnung der Literatur [der Kunst, js.] können wir uns nun voll Vertrauen den äußeren Angelegenheiten, der Außenpolitik der Literatur [Kunst] widmen.80 In Falle Kleins „bedeutet“ dies: den Rosenkreuzern, dem Spiritismus und dem „Äther“, Gott und der Welt. Äußere Angelegenheiten sind eben „relativ“.

Abbildung 17: Hl. Franziskus mit Kompositionslinien. Abbildung 18: „Sprung in die Leere“ mit Kompositionsstruktur.

Das de Man Zitat ist nicht nur kompliziert zu lesen, sondern auch ironisch. De Man gibt damit die Haltung vor, die man von nun an einzunehmen habe. Um sich werk-innenpolitisch einen Handlungsspielraum aufrechtzuerhalten, anstatt ins Bildexterne wegzuspringen, sollte man ironisch werden. Durch Ironie 79 Stierle: Ästhetische Rationalität, S. 32. 80 De Man: Allegorien des Lesens, S. 31.

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gewinnt das immanente Lesen und Sehen seine Souveränität zurück. Der Ironiker erklärt sich nicht von außen selbst. Seine „Sätze“ bleiben in der Schwebe. Der Satz „Wohlinformiert über das innere Gesetz und die Ordnung…“ soll in jedem Fall ironisch gelesen werden. Das „innere Gesetz“ der Bilder lässt nämlich „in Wirklichkeit“ keine „Wohlinformiertheit“ zu. Die „Notwendigkeitsstruktur“ weiß nur von sich selbst, dass sie notwendig ist. Wofür die Anordnung steht, das weiß sie nicht. Sie ist aber in sich endgültig. „Nun – eigentlich wollte ich einen methodischen Grundsatz vorführen und kam dabei ins Räsonnieren.“ 81

Abbildung 19: Mann, „tot“ auf der Straße liegend.

Es ist reine „Ironie“, wenn sich das autonome und endgültige Notwendigkeitssystem, sowohl als Äquivalenz für Providenz wie gleichzeitig als Ausdrucksfigur für Kontingenz ansetzen lässt. Im Falle einer „Innenpolitik“ der Bilder bleiben die inneren Beziehungen unbeeindruckt von allen Außenumständen der Ikonographie. Man muss „sehend sehen“, „wiedererkennend sehen“ und dann „ironisch“ sehen. Wenn de Man „wohlinformiert über das innere Gesetz“ sagt, weiß er, dass das Gegenteil der Fall sein könnte. Max Imdahl konnte zwar meisterlich die planimetische Ordnung eines Bildes erkennen. Aber er wollte die Kontexte um die Werke herum nicht suspendieren. Deswegen hatte er auf eine „Versöhnung“ und ein „Interferieren“ von Inhalt und Form gesetzt. Das Dargestellte im Bild und dessen Form würden sich schon einig werden. Sie würden schon einen Konsens über den Sinn des Bildes finden. Aber er hatte noch eine andere geheime Hoffnung. Eine reine „Innergesetzlichkeit“ der Bilder würde sich langfristig in der Zukunft finden: In der gegenstandslosen Konkreten Kunst sah er „die Bestimmung“ und „sozusagen das 81 Wyss: „Ikonographie des Unsichtbaren“, S. 378.

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Schicksal“, dass sie ohne den Kontext einer Metaphysik, „also aus dem Nichts heraus, Informationen mit Metaphysiktönung zu schaffen“ in der Lage sein könnte!82 Falls nicht, falls das Bild dann immer noch nicht „ohne Ideologie“, das „heißt, ohne vorgegebene Kontexte auskommen“ sollte, rät der Bochumer ebenfalls dazu, „diese Tatsache [zu] ironisieren […]“.83 Im Übrigen liefert Paul de Man auch noch einen Hinweis auf die Urszene, die am besten die vorherrschenden Züge des ironischen Bewusstseins enthüllt: ‚der Anblick eines stolpernden und fallenden Mannes. […] Der Mensch, der stürzt, lacht niemals über seinen eigenen Sturz, er wäre denn ein Philosoph, einer, der sich durch Gewöhnung die Fähigkeit erworben hätte, sich alsbald zu verdoppeln und den Phänomenen seines Selbst als interessenloser Beobachter beizuwohnen.‘ 84 In der Zwischenzeit wird Klein schon in das unsichtbare Fangnetz seiner Helfer gefallen sein. Für De Man bringt [d]as Fallen […] das komische und letztlich ironische Element ins Spiel. Lacht der künstlerisch oder philosophisch ausgerichtete […] Mensch über sich selbst, wenn er fällt, dann lacht er in diesem Augenblick über eine irrtümliche, mystifizierte Vorstellung, die er von sich selbst hatte.85 Dieser Augenblick des Falls ist im „Sprung in die Leere“ natürlich als Vorstellung im Bewusstsein des Betrachters impliziert, auch wenn man den Sturz nicht sehen kann. Der Betrachter vollendet die Szene im Geiste: Er denkt den Sprung zum Sturz zu Ende. Es gibt in diesem Zusammenhang ein weiteres „Dokument“, das von einer leicht versetzten Perspektive das Ganze einen Moment später zeigt. Kleins Oberkörper hat sich jetzt schon in die Horizontale geneigt und die Ausdrucksbewegung verliert zusehends an Akkuratheit.

82 Imdahl: „Konkrete Plastik“, S. 315. 83 Ebd. S. 315, „wie Duchamp“ endet der zitierte Satz. 84 De Man: Die Ideologie des Ästhetischen, S. 108f. 85 Ebd. S. 111.

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Abbildung 20: Yves Klein waagerecht „schwebend“.

Das Bild kommt nun ohne immanente Manipulation aus, weil ihm einfach die untere Hälfte weggeschnitten wurde. Diesmal wäre es die starke Bildhorizontale des Dachansatzes, die den Leviator optisch gerade noch waagerecht und damit in der Schwebe hält. Der Nouveau Realist würde sich in diesem Fall noch immer nicht stürzen sehen. Er konnte sich auch auf die Darstellungstradition stützen. Die kunstgeschichtliche Ikonographie des Fallens sieht ein eher unbeherrschtes, rücklinks Stürzen vor.

Abbildung 21: Ikarus rücklinks stürzend.

Aber so oder so war Kleins Wirklichkeitsexperiment zu missionarisch und zu prophetisch, als dass es auch nur ein Schmunzeln vorgesehen hätte. Es war ihm Ernst. Dem Künstler fehlte das Bewusstsein für seinen metaphysischen Irr-

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tum. Zum ironischen Bewusstsein konnte der Judomeister Zeit seines Lebens nicht aufsteigen. Er konnte sich zwar vorstellen, dereinst körperlos im „Äther“ zu schweben: [a]nders ausgedrückt, durch die formvollendete Bewegung erreichen wir in uns den Zustand der Leere, nur sie versetzt uns in die Lage, aus uns selbst herauszutreten und Zeuge unseres eigenen Handelns zu werden.86 Die Selbstbeobachtung, die der „Äther“-Spiritist im Auge hat, ähnelt nur der Disposition nach der ironischen Verdopplung. Klein träumte scheinbar wie alle Okkultisten von einem auratischen, qualitativen Aufstieg, nicht von einer missverständlichen Verdopplung.87 Das heißt aber nicht, dass es keine Verdopplung gäbe. – Die Kamera ist Kleins alter ego. Klein wollte sich selbst sehen und konnte sich auf seinem Abbild nachträglich betrachten. Das Foto verfolgt und verdoppelt Klein. Ironie heißt Verdopplung, Distanz und Selbstbeobachtung. Als Shunk Klein stellvertretend mit der Kamera beobachtete, schuf er an Kleins Stelle ein ironisches Bild. Es lässt Klein ikarusgleich in ein Mischklima von Kontingenz und Providenz springen. Die Innenpolitik des Bildes ist zwar kompositorisch berechenbar. Aber was das Bild „eigentlich“ sagt, ist genauso existent wie „Äther“.

Äther als Alibi „Nur Halluzinationen unterstehen nicht der Schwerkraft“88, sagt Beat Wyss. „Äther“ ist so ein fiktiver Begriff ohne materielle Referenz. Kleins „kosmische Sensibilität“ hatte dieselbe Qualität. Es gibt (im Sprung in die Leere) keinen „Äther“ und keinen „Sinn“, sondern reine Ironie. Der „Äther“ der Kunstgeschichtsschreibung ist ein feinmaschiger Stoff aus Textspuren. Sie sollen um die Bilder herum existieren und bilden – so Wyss‘ Fazit – den Sauerstoff für „den Atem unseres Sinnbedürfnisses“.89 Meine Beschreibung von Kleins Fotografie war auch so eine Rahmengeschichte über den „Sinn“ einer Fotografie. Sie hatte den Begriff „Äther“ als Alibi, um einen Zwischenraum auf diesen Seiten zu füllen. Man musste über etwas schreiben, was es nicht gibt: Den Sinn des Bildes. „Äther“ war 86 Banai/Berggruen: Yves Klein, S. 115. 87

„[…] dem hybriden und turbulenten Schicksal des Ikarus“. (Imdahl: Giotto, S. 153f.)

88 Wyss : „Ceci n’ est pas un texte“, S. 64. 89 Ebd. S. 378. Im Original heißt es: „Überliefert sind sie nur in Form kultureller Zeugnisse […] Kunst ‚Höhlräume‘ denen wir den Atem unseres Sinnbedürfnisses einhauchen“.

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immer ein Alibibegriff. Er wurde genutzt, um etwas anderes Denken zu können: Die Erklärbarkeit der physikalischen Welt, die sinnhafte Ordnung des Kosmos, Gottes unentdeckten Bauplan der Welt. Der Begriff wurde missbraucht, um das sinnhaft zu machen, was eigentlich im Widerspruch zum Sichtbaren stand. Um eine Leerstelle zu füllen und um eine Erklärung zu haben, musste es „Äther“ geben. In der Physik ersetzte schließlich das „Vakuum“ die Vorstellung von „Äther“. Man brauchte ihn irgendwann nicht mehr. Shunks Bild-Werk ersetzt „Sinn“ durch reine „Ironie“. Ein „Sinn“ lässt sich nicht aufrechterhalten in einem durch Ironie erzeugten Vakuum.

Abbildung 22: AETHER-Flaschen.

Kleins „International Klein-Blue“ enthielt übrigens „Aether“ als Lösungs- bzw. Bindemittel. Der chemische „Aether“ ist genauso flüchtig wie der physikalische. Klein benutzte „Aether“ und Petroleumextrakte als Bindemittel für seine monochromen blauen Bilder. Insofern operierte der Nouveau Realist tatsächlich doch noch mit „Aether“, wenn auch mit dem falschen. Aber das sieht man dem Wort „Aether“ fast nicht an. Shunk hatte auch Kleins IKBs fotografiert. Vielleicht konnte er diesen „Aether“ auf der Leinwandoberfläche sichtbar machen und so einfangen. Pierro Manzoni – auch in etwa ein Neuer Realist – mit mehr Sinn für eine bescheidenere Form der Ironie – hatte es sich da einfacher gemacht. Es erinnert ein wenig an Armans „Accumulationen“. Er fing einfach seine eigene Scheiße ein.

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Abbildung 23: Manzonie: Dose mit „Artist’s Shit“.

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Imdahl, Max: „Kontingenz – Komposition – Providenz. Zur Anschauung eines Bildes von Giotto“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III, München 1999, S. 464-500. Imdahl, Max: „Bildbegriff und Epochenbewusstsein“, in: ders: Gesammelte Schriften, Bd. III, München 1999, S. 518-557. Inboden, Gudrun: Venedig oder das Gesetz von Form, Mass und Licht, Biennale Venedig 1997. Restany, Pierre: Klein, München 1984. Seegers, Ulrike: Transformatio energetica. Hermetische Kunst im 20. Jh., Stuttgart 2003. Stich, Sidra (Hrsg.): Yves Klein, Köln/Düsseldorf/London/Madrid 1995. Stierle, Karlheinz: Ästhetische Rationalität, München 1997. Waldenfels, Bernhard: „Experimente mit der Wirklichkeit“, in: Sybille Krämer (Hrsg.): Medium Computer Realität. Veränderungen unserer Wirklichkeitsvorstellungen durch die Neuen Medien, Frankfurt a.M. 1988, S. 213-243. Wyss, Beat: „Kunsttheorie als Wortbesitz“, in: Stefan Majetschak (Hrsg.): Auge und Hand, München 1997, S. 41-54. Wyss, Beat: „Ikonographie des Unsichtbaren“, in Jürgen Stöhr (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1993, S. 360-380. Wyss, Beat: Mythologien der Aufklärung – Geheimlehren der Mo­derne, München 1993. Wyss, Beat: „Ceci n’ est pas un texte“, in: du, Zeitschrift der Kultur, Heft Nr. 11, 1991, S. 64-66, 103-105. Wyss, Beat: Pieter Bruegel, Landschaft mit Ikarussturz. Vexierbild des humanistischen Pessimismus, Frankfurt a.M. 1990.

Abbildungen Abbildung 1: Arman: Accumulation Poubelle, 1960. (http://prometheus.uni-koeln.de/prometheus-cgi/kleioc 15.11.07). Abbildung 2: John Beattie, Geisterfotografie (1872), in: Alexsandr N. Aksàkov: Animismus und Spiritismus, Leipzig 1890, Tafel III, Nr. 12. Abbildung 3: W. Tillmans: Äther, 2001. DILPS, Kunstgeschichtliches Institut, Frankfurt a.M. (http://prometheus.uni-koeln.de/prometheus-cgi/kleioc 15.11.07). Abbildung 4: Yves Klein: Sprung in die Leere, in: S. Stich: Yves Klein, S. 216.

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Jürgen Stöhr | „Äther“ und „Sinn“

Abbildung 5: „Tageszeitung“ Dimanche, in: S. Stich: Yves Klein, S. 210. Abbildung 6: Yves Klein: Vorbereitung zur Ausstellung Le Vide. Abbildung 7: Bruegel: Landschaft mit Ikarussturz, in: B. Wyss: Bruegels Landschaftsbild mit Ikarussturz – Vexierbild des humanistischen Pessimismus, 1990. Farbtafel. Abbildung 8: Giotto: Hl. Franziskus, Assisi (http://viaggidialex.altervitsta.org/ images/sanfr.jpg 15.11.07). Abbildung 9: Kompositionslinien, J. Stöhr. Abbildung 10: Yves Klein: Anthropometrie- Performance, 1960. (http://prometheus.uni-koeln.de/prometheus-cgi/kleioc 15.11.07). Abbildung 11: wie Abbildung 4. Abbildung 12: Yves Klein: Anthropometrie, 1960, in: S. Stich: Yves Klein, S. 182. Abbildung 13: wie Abbildung 4. Kompositionszeichnung, J. Stöhr. Abbildung 14: Yves Klein: Sprung in die Leere, andere Version, in: S. Stich: Yves Klein, S. 218. Abbildung: 15: Südkurier, Pressefoto: Schnappschuss auf einem Golfplatz. Abbildung 16: wie Abbildung 13. Abbildung 17: Giotto: Erweckung des Lazarus, 1305, in: M. Imdahl: Giotto, Abbildung: 34. Abbildung 18: Giotto: Erweckung des Lazarus mit Kompositionszeichnung, in: M. Imdahl: Giotto, Abbildung 37. Abbildung 19: Paul de Man, tot auf der Straße liegend. Abbildung 20: wie Abbildung 14. Abbildung 21: H. Goltzius: Ikarus, 1588, Hamburger Kunsthalle, (http://prometheus.uni-koeln.de/prometheus-cgi/kleioc 15.11.07) Abbildung 22: Aether-Fläschchen: www.anaesthesia.de/museum_neu/images/ aether.gif, 15.11.07. Abbildung 23: Manzoni: Künstlerscheisse, http://static.twoday.net/txtnws/images/manzoni.jpg 15.11.07.

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Physiologische Ätherwellen werden vom Kristall reflektiert

Alexandra Lembert | Nebulöse Gefilde

Alexandra Lembert

Nebulöse Gefilde Äther in der britischen Literatur um 1900 Poor ether, it’s been hard worked in its time. (William Hope Hodgson)

Eine allgemeingültige, Epochen übergreifende Definition von Äther zu finden, ist unmöglich. Seit der Antike wurden verschiedene Äthermodelle gebildet, um grundsätzliche Fragen über Mensch, Erde und Kosmos – zum Beispiel über den Aufbau von Raum und Materie, die Übertragung des Lichts oder die Wirkung von Elektrizität – zu erklären. Die postulierten Eigenschaften sowie Annahmen über Struktur und Wirkungsweise des Äthers divergieren sehr stark.1 Über Äthervorstellungen in der Epoche des 18. und 19. Jahrhunderts heißt es dort: […] some ethers […] have been supposed material, others immaterial; some fluid, others solid; some continuous; others particulate; some conforming to various laws of mechanics, others not. Some, moreover, have been interpreted literally, as truly existing in rerum natura; others agnostically, as possible representations of real physical processes; yet others strictly as fictions useful in the correlating of sensible phenomena.2 Wie man dem Zitat entnehmen kann, ist die Bandbreite der Äthercharakteristika groß und birgt in sich Widersprüche. Die Ursache für konträre Äthervorstellungen liegt darin begründet, dass der Äther (bis auf den Äther der Medizin) bisher nur theoretisch existiert, denn „[g]esehen, befühlt, gerochen, geschmeckt, gemessen oder bewiesen hat ihn noch niemand.“3 Doch obwohl Äther nicht experimentell nachgewiesen werden konnte, fanden Äthertheorien nach der Etablierung der modernen Naturwissenschaft Ende des 17. Jahrhunderts, durch welche beispielsweise alchemistische Denk- und Arbeitsweisen als unwissenschaftlich abquali1

Siehe dazu den von Cantor und Hodge herausgegebenen Band Conceptions of Ether. Der Großteil der darin versammelten Aufsätze befasst sich mit Äthertheorien aus der Zeit von 1740 bis 1900. In Cantor/Hodges ausführlicher „Introduction“ (S. 1-60) sowie Steins Artikel‚ „ ,Subtler Forms of Matter‘ in the Period Following Maxwell“ (S. 309-340) werden zudem Äthermodelle aus vorhergehenden bzw. nachfolgenden Epochen vorgestellt.

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Cantor/Hodge: „Introduction“, S. 2.

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Hagen: „Medienäther – Äthermedien“.

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fiziert und fast gänzlich aus den Naturwissenschaften verdrängt worden waren, bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Physik und Chemie breite Anwendung. Insbesondere die Vorstellung eines Lichtäthers, wie sie von dem niederländischen Physiker Christiaan Huygens propagiert wurde, der Lichtwellen durch den kosmischen Raum transportiert, sowie Isaac Newtons Äthertheorien wurden für nachfolgende Wissenschaftsgenerationen richtungweisend.4 Newton lehnte zwar die Existenz eines Äthers in seinen mathematischen Arbeiten ab, hielt aber am Äther als Übertragungsmedium von Licht und Wärme fest.5 Erst mit der Einsteinschen Relativitätstheorie 1905 verlor der Äther in den Naturwissenschaften nach und nach an Bedeutung. Im 19. Jahrhundert spielte der Äther in zwei naturwissenschaftlichen Disziplinen eine bedeutende Rolle: Physik und Medizin. Beim Äther in der Medizin handelt es sich um Gase (Schwefel- und Chloräther6), die seit Ende des 18. Jahrhunderts zu therapeutischen Zwecken eingesetzt wurden. Anders als in der Physik ist der medizinische Äther ein Name für eine konkrete Substanz. Außer in den Naturwissenschaften tauchten Ätherspekulationen auch in philosophisch-theologischen und okkulten Schriften auf, beispielsweise bei Vertretern der Theosophie und Anhängern des Spiritismus. Diese Ätherspekulationen Ende des 19. Jahrhunderts sind Teil eines kulturellen Prozesses in der westlichen Welt, in Laufe dessen unsichtbare Kräfte der Natur verstärkt erforscht wurden. Wichtige Entdeckungen und Erfindungen aus dieser Zeit, wie etwa Wilhelm Conrad Röntgens Nachweis der später nach ihm benannten X-Strahlung oder Heinrich Hertz’ Beleg elektromagnetischer Wellen, sowie die zahlreichen Erfindungen im Bereich der Kommunikationsmedien (Telegraphie, Phonograph, Grammophon und Radio), stießen auf großes Interesse. Diese Neuerungen aus Naturwissenschaft und Technik nährten bei vielen Zeitgenossen die Hoffnung, nun auch bisher nicht nachgewiesene spirituell-psychische Kräfte sowie deren Wirkung beweisen und erklären zu können. In diesem Diskurs spielt auch der Äther eine wichtige Rolle. Das Oszillieren der Ätherdiskurse zwischen verschiedenen wissenschaftlichen und parawissenschaftlichen Vorstellungen spiegelt sich nicht zuletzt in der englischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts wider. Die heute vielleicht bekanntesten Äther-Erzählungen stammen von dem Amerikaner Edgar Allan Poe. In The Power of Words (1845) beispielsweise wird Äther als ein kosmisches Medium beschrieben, mit dessen Hilfe durch Gedanken oder Taten ausgelöste Im4

Buchwald: „The Quantitative Ether in the First Half of the Nineteenth Century“, S. 215-216.

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Hagen: „Medienäther – Äthermedien“.

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Schon Paracelsus hatte Schwefeläther zur Linderung von Schmerzen empfohlen, bevor Schwefeläther Ende des 18. Jahrhunderts zu medizinischen Zwecken eingesetzt wurde. Chloräther (heute besser bekannt als Chloroform) wurde um 1830 erstmalig u.a. von Justus von Liebig hergestellt. Sebastian: „Ether“, S. 295.

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pulse übertragen werden. In der Erzählung Mesmeric Revelation (1844) ist der Äther Dreh- und Angelpunkt physikalisch-metaphysischer Spekulationen des in mesmeristischen Schlaf versetzten Mr. Vankirk. Bemerkenswert ist, dass auch nach Einsteins Formulierung der Relativitätstheorie Künstler und Schriftsteller das Interesse am Äther nicht verloren.7 So findet der Äther beispielsweise Eingang in das Denken der anglo-amerikanischen Lyriker T.S. Eliot und Ezra Pound, deren modernistische Ästhetik stark von physikalischen Ideen beeinflusst war.8 Wie die amerikanische Kunsthistorikerin Linda Dalrymple Henderson aufzeigt, verliehen zudem die modernistischen Künstler Umberto Boccioni und František Kupka ihren konträren Raum- und Materievorstellungen mit Bezug auf den Äther bildlichen Ausdruck.9 Doch nicht nur in der Avantgardekunst sondern auch in der Populärliteratur fand Äther Verarbeitung. In diesem Beitrag soll an Hand von ausgewählten Beispielen britischer Populärliteratur um 1900, die eine gewichtige Rolle bei der Verbreitung wissenschaftlicher Ideen innehatte, verschiedene Vorstellungen und Funktionen des Äthers aufgezeigt werden. Es handelt sich dabei um Sax Rohmers okkulte Detektivgeschichten The Dream-Detective (1920), William Hope Hodgsons okkulte (Detektiv-)Erzählungen The Hog und Eloi, Eloi Lama Sabachthani (1912), Arthur Conan Doyles frühen Science-Fiction Roman The Poison Belt (1913) und seine spiritistische Abhandlung The Vital Message (1919) sowie Rudyard Kiplings Erzählung Wireless (1902).

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Parapsychologie, Äther in den okkulten (Detektiv-) Erzählungen von Sax Rohmer und William Hope Hodgson

Der Glaube an Geister ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit und verschwand auch nach der Aufklärung, deren Kritik sich ja bekanntlich gegen althergebrachte, irrationale Denkmuster richtete, nicht aus dem kulturellen Bewusstsein. So übten beispielsweise die Lehren des schwedischen Gelehrten Emanuel Swedenborg (1688-1772), die sich unter anderem auf der Behauptung gründeten, mit Geistern Kontakt aufgenommen und Nachrichten aus dem Jenseits erhalten zu haben, auch auf die englischen Romantiker Einfluss aus.10 Geistervorstellun7

Allerdings weist Linda Dalrymple Henderson darauf hin, dass Einsteins Theorien nur schwer Eingang in den Naturwissenschaften fanden und diese erst nach 1919 einem großen Publikum vorgestellt wurden (Henderson: „Vibratory Modernism“, S. 126). Ein Jahr später griff Einstein die Idee des Äthers wieder auf. Siehe dazu Christian Kassung und Marius Hug in diesem Band.

8

Vgl. dazu Bell: „The Real and the Ethereal“, S. 114-125 und Antje Pfannkuchen in diesem Band.

9

Henderson: „Vibratory Modernism“, S. 126-149.

10 Katz: „The Occult Tradition“, S. 91-95.

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gen fanden außerdem Ausdruck in der britischen und deutschen Schauerliteratur (gothic fiction), die in der Romantik entstand. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhält der Geisterglaube durch das Aufkommen des modernen Spiritismus eine neue Qualität, denn durch ihn avancierte die Geisterkommunikation zu einem kommerzialisierten Massenphänomen. Als Geburtsstunde des Spiritismus gilt gemeinhin das Jahr 1848. Die Schwestern Fox behaupteten, in ihrem Haus in Hydesville (USA) durch Klopfzeichen Kontakt mit Geistern aufgenommen zu haben.11 Die Möglichkeit, die Grenzen von Raum und Zeit zu transzendieren und die Barriere zwischen Leben und Tod zu überbrücken, erfüllte die Sehnsüchte vieler Zeitgenossen. So erklärt sich, dass sich die verschiedenen spiritistischen Praktiken rasend schnell in Amerika aber auch in Europa ausbreiteten. Das Interesse an paranormalen Phänomenen wuchs stetig, so dass sich schließlich verschiedene Wissenschaftler und Gelehrte dazu entschlossen, diese Phänomene in wissenschaftlichen Experimenten zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurde 1882 die Society for Psychical Research (SPR) von bekannten Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen in London gegründet. Ein Blick auf einige Namen früher Präsidenten der Gesellschaft – der Philosoph Henry Sidgwick, der Physiker Balfour Stewart, der amerikanische Psychologe William James, der Physiker und Chemiker William Crookes, der Philologe Frederic William Henry Myers und schließlich der Physiker Oliver Lodge – verdeutlichen, dass sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaftler bei der Erforschung (para)psychischer Phänomene zusammenarbeiteten. Aus dem Kreis der SPR waren es vor allem Balfour Stewart und Peter Guthrie Tait, William Crookes sowie Oliver Lodge, die sich mit einem möglichen Zusammenhang zwischen Äther und parapsychischen Phänomenen (insbesondere Telepathie) intensiv beschäftigten.12 Die Verbindung, die dabei zwischen Physik und (Para)psychologie geknüpft wurde, ist ein typisches Merkmal des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In beiden Bereichen strebte man gleichermaßen eine Art Grundlagenforschung an, durch die man physikalische als auch psychologische Rätsel zu lösen suchte. Das Interesse an paranormalen Phänomenen zog auch Schriftsteller in ihren Bann, und so florierten Geistergeschichten in der spätviktorianischen britischen Literatur. Direkt beeinflusst von der Arbeit der Society for Psychical Research ist die Entstehung des Genres der psychic detective story (auch occult detective story genannt), das Ende des 19. Jahrhunderts in Großbritannien entstand. In den dazu zählenden Texten sind Detektive bzw. Geisterjäger mit der Aufklärung mysteriöser und 11 Katz: The Occult Tradition, S. 119. 12 Oppenheim: The Other World, S. 349-350; 373-390. Siehe auch The Unseen Universe (1875) der schottischen Physiker Stewart und Tait sowie Lodges The Ether of Space (1909) und Ether and Reality (1925), deren Werke auf großes Interesse ihrer Zeitgenossen stießen.

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zumeist übernatürlicher Fälle beschäftigt. Bekannte Vertreter dieses Genres waren Sax Rohmer (Pseudonym für Arthur Henry Ward) und William Hope Hodgson, in deren Erzählungen sich die Protagonisten, wie ich im Folgenden zeigen möchte, auf Äthervorstellungen beziehen, um Erklärungen für ihre eigene okkulte Arbeit sowie übernatürliche Phänomenen zu geben. Auf Sax Rohmers Erzählungen, die 1920 in einem Band unter dem Titel The Dream-Detective erschienen, will ich hier nur kurz eingehen.13 Festzuhalten ist, dass in Rohmers Erzählungen Äther (auch odic force genannt) als eine Art Speichermedium fungiert, in dem die letzten, emotional geladenen Gedanken eines Kriminellen bzw. Opfers für eine gewisse Zeit aufbewahrt werden. Da der medial begabte Detektiv Moris Klaw die Technik der Gedankenphotographie beherrscht, bei der er mit seinem inneren Auge die letzten, im Äther gespeicherten Gedanken verbildlicht und gleichsam abfotografiert, vermag er, Fälle zu lösen, an denen die Polizei gescheitert ist. Rohmers Einsatz der Gedankenphotographie knüpfte an zeitgenössische Ideen von unsichtbaren, universalen Kräften an. Vorstellungen von einem magnetischen Fluidum, das durch Mensch und Kosmos fließt und durch den Menschen beeinflusst werden kann, waren schon von Franz Anton Mesmer (1734-1815) propagiert worden.14 Der deutsche Chemiker Karl Ludwig Freiherr von Reichenbach (1788-1869) entwickelte die Theorie einer ähnlichen Lebenskraft, die er Od nannte.15 Doch nicht nur die Vorstellung von unsichtbar wirkenden Kräften bzw. Strahlen, sondern auch Rohmers Verwendung der Gedankenphotographie selbst hat historische Vorbilder, denn die Franzosen Louis Darget (1847-1921) und Hyppolite Baraduc (1850-1909) hatten mit dieser Technik Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts experimentiert.16 Dargets und Baraducs Veröffentlichungen zu diesem Themengebiet erhielten keine wissenschaftliche Anerkennung. Baraducs Arbeit stieß jedoch bei den Theosophen Annie Besant und C. W. Leadbeater auf großes Interesse, deren Schriften wiederum mit hoher Wahrscheinlichkeit von Sax Rohmer rezipiert wurden.17 Wie Baraduc vertraten die beiden Theosophen die Meinung, dass sich Gedanken im Äther manifestieren können. Im Unterschied zu ihm waren jedoch Besant und Leadbeater davon überzeugt, dass, wie in ih13 Für eine ausführliche Diskussion der Gedankenphotographie in Rohmers Erzählungen siehe Lembert: „Gedanken sehen“, S. 209-224 14 Krauss: Beyond Light and Shadow, S. 21. 15 Reichenbach: Odisch-Magnetische Briefe, S. 98. Siehe dazu den Beitrag von Stefan Rieger in diesem Band. 16 Lembert: Gedanken sehen, S. 214-223. 17 In ihrer Biographie über Sax Rohmer erwähnt seine Frau mehrfach, dass dieser an paranormalen und okkulten Phänomenen interessiert war und selbst Experimente auf diesem Gebiet durchgeführt hatte. Rohmer/van Ash: Master of Villainy, S. 229.

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rem Buch Thought-Forms (1901) nachzulesen ist, die Wiedergabe von Gedankenformen nur durch menschliche und nicht technische Medien möglich sei.18 Während in Rohmers Erzählungen Äther als Übertragungs- und Speichermedium fungiert, das Grundlage für die vom Detektiv Moris Klaw angewendete Technik der Gedankenphotographie ist, hat Äther in den Erzählungen von William Hope Hodgson eine andere, noch gewichtigere Funktion. Denn in Hodgsons Texten werden Bezüge zum Äther hergestellt, um die Existenz übernatürlicher Manifestationen zu erklären. Der Held der Carnacki-Erzählungen, deren Entstehung in die Zeit zwischen 1909 und 1913 fällt, und die unter dem Titel Carnacki the Ghost-Finder in einem Band versammelt sind, ist der occult detective Carnacki – ein Mann für übernatürliche Phänomene. Wie sein fiktiver Zeitgenosse Sherlock Holmes lebt er in London, wo er von Klienten kontaktiert wird, wenn es um die Lösung rätselhafter Vorkommnisse geht. Obwohl Carnacki als schroff und verschwiegen gilt, berichtet er regelmäßig nach erfolgreichem Abschluss eines Falles seinen Freunden Jessop, Arkright, Taylor sowie dem namenlosen Erzähler von seinen Taten. Auch wenn Carnacki ein Spezialist für übernatürliche Phänomene ist, begegnet er Berichten über diese mit einer gehörigen Portion Skepsis, wie die folgende Aussage belegt: And, indeed, as you are all aware, I am as big a sceptic concerning the truth of ghost-tales as any man you are likely to meet; only I am what I might term an unprejudiced sceptic. I am not given to either believing or disbelieving things ‚on principle,‘ as I have found many idiots prone to be, and what is more, some of them not ashamed to boast of the insane fact. I view all reported ‚hauntings‘ as un-proven until I have examined into them, and I am bound to admit that ninety-nine cases in a hundred turn out to be sheer bosh and fancy. But the hundredth! Well, if it were not for the hundredth, I should have few stories to tell you – eh?19 Wie das Zitat verdeutlicht, ist Carnackis Einstellung gegenüber den zu untersuchenden Phänomenen grundsätzlich als wissenschaftlich anzuerkennen, da er bemüht ist, möglichst unvoreingenommen den Dingen auf den Grund zu gehen. Seine Methoden und Hilfsmittel jedoch zeichnen sich durch eine Mischung von Wissenschaft, Technik und Magie aus.20 So benutzt er bei seiner Detektivarbeit einerseits gewöhnliche Utensilien wie etwa Sonde, Hammer, Lupe sowie Kamera mit Blitzlicht. Andererseits verwendet er okkulte Hilfsmittel wie etwa ein elektri18 Besant/Leadbeater: Thought-Forms, S. 4 19 Hodgson: „The Thing Invisible“, S. 13. 20 Die Mischung aus wissenschaftlichen und okkult-magischen Ideen ist ein typisches Merkmal des spiritistischen Diskurses der Zeit.

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sches Pentagramm sowie eine Reihe von magischen Zeichen und Formeln.21 Zudem spielen auch das Vertrauen auf die eigene Intuition bzw. die Hilfe übernatürlicher Kräfte bei der Untersuchung eines Falls eine wichtige Rolle. Die Vermischung von rationalen und irrationalen Vorstellungen spiegelt sich auch in den neun Erzählungen wider, in denen sowohl natürliche als auch übernatürliche Erklärungen für bestimmte Phänomene und Vorkommnisse gegeben werden. In drei Fällen kann Carnacki eindeutig Menschen als Ursache vermeintlich übernatürlicher Phänomene dingfest machen, wohingegen er in vier Fällen übernatürliche Kräfte am Werk sieht. In zwei Erzählungen überwiegen zwar rationale Erklärungsmuster, jedoch fällt in ihnen das Wirken paranormaler Kräfte auch in den Bereich des Möglichen. Die Erzählung The Hog ist der letzte und längste Text des Bandes und enthält die ausführlichste Beschreibung eines übernatürlichen Phänomens. Carnacki wird hier von einem Mann namens Bains konsultiert, der ein ungewöhnliches, existenzgefährdendes Problem hat. Bains gibt an, dass seit längerem eine übermächtige, nichtmenschliche Kraft im Halbschlaf von ihm Besitz ergreift, deren totaler Vereinnahmung er sich nur mit äußerster Not erwehren kann. Diese Kraft manifestiert sich hörbar als Schweinegrunzen und hat so großen Einfluss auf ihn, dass Bains – da er ja nicht mehr Herr seiner selbst ist – zu grunzen beginnt. Aus Angst, sowohl seine Seele, auf die es jene Kraft nämlich abgesehen zu haben scheint, als auch seinen Verstand zu verlieren, bittet er Carnacki um Hilfe. Letzterer führt daraufhin eine Untersuchung mit verschiedenen Hilfsmitteln durch, etwa mit einer Art Kamera sowie einem speziell präparierten Phonograph. Um Bains Erfahrungen für Carnacki nachvollziehbar zu machen, soll sich dieser auf das Durchlebte konzentrieren. Tatsächlich vermag es Carnacki mit Hilfe des Phonographen Bains Gedanken aufzuzeichnen und das Grunzen hörbar zu machen. Hodgson entwickelt hier eine interessante, wenn auch nicht weiter thematisierte Alternative zur Gedankenphotographie der Sax-Rohmer-Erzählungen. Das Experiment gerät jedoch außer Kontrolle, als Bains auf Grund des vorangegangenen eklatanten Schlafmangels in einen komatösen Schlaf fällt und dadurch sich selbst wie auch Carnacki dem Zugriff übernatürlicher Kräfte ausliefert. Carnacki vermag jedoch, sämtliche Gefahren abzuwehren, bevor er schließlich mit der Ursache allen Übels konfrontiert wird: es handelt sich dabei um ein im Äther manifestiertes Schweinegesicht. Dieses kosmische Schwein, wie Carnacki aus einem okkulten Manuskript weiß, ist ein Monster, das einst Teile der Welt beherrschte. Es trachtet nun

21 Wiederholt bezieht sich Carnacki an verschiedener Stelle auf das so genannte Saaamaaa Ritual und den damit im Zusammenhang stehenden magischen Praktiken. Weiterhin benutzt Carnacki bei seiner Arbeit mit Kreide gezeichnete Pentagramme, dessen Wirkung meist durch ein elektrisches Pentagramm verstärkt wird, um sich vor übernatürlichen Kräften zu schützen.

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danach, die verlorene Herrschaft wiederzuerlangen.22 Auch wenn es dem Monster offensichtlich gelungen war, sich Bains’ Ego zeitweise zu bemächtigten, nimmt die Erzählung einen glücklichen Ausgang, denn Carnacki gelingt es – jedoch nur durch die Hilfe unerwarteter, übernatürlicher Unterstützung – , Bains endgültig der Macht des Schweins zu entziehen.23 Der Text The Hog bietet verschiedene Anhaltspunkte für eine Analyse (para)wissenschaftlicher Ideen, insbesondere in Bezug auf Elektrizität und Licht. Im Folgenden möchte ich mich jedoch auf Aussagen zum Äther konzentrieren. Carnackis Äthervorstellungen stehen in engem Zusammenhang mit einer Kosmologie, die an Sphärenmodelle erinnert. Nach dieser Theorie ist die Erde von verschiedenen Gasgürteln umgeben, die ringförmig um die Erde angeordnet sind. Den Abschluss bildet ein Gasring, der von Carnacki als „Outer Ring“ oder „circle of emanations“24 bezeichnet wird. An anderer Stelle charakterisiert er diese „emanations“ als „an extremely light gas, or shall I say ether“25. Laut Carnacki ist dieser äußere Ring mindestens hunderttausend Meilen von der Erde entfernt und hat eine Ausdehnung von fünf bis zehn Millionen Meilen. Aller Wahrscheinlichkeit nach bewegt sich der Ring entgegengesetzt zur Drehung der Erde. Carnackis Modell gewinnt an Komplexität, indem er diesen Gasring nicht nur chemisch-physikalisch, sondern zudem als Hort übernatürlicher Kräfte beschreibt: Now, the Outer Circle is the psychic circle, yet it is also physical. To illustrate what I mean I must again instance electricity, and say that just as electricity discovered itself to us as something quite different from any of our previous conceptions of matter, so is the Psychic or Outer Circle different from any of our previous conceptions of matter. Yet it is none the less physical in its origin, and in the sense that electricity is physical, the Outer or Psychic Circle is physical in its constituents.26 Wie das Zitat belegt, fungiert der Äther als Urmaterie, aus welcher sich, wie Carnacki weiter erläutert, kosmische Monstrositäten wie etwa das Schwein entwickeln können: This enormous psychic world of the Outer Circle ‚breeds‘ if I may use the term, its own psychic forces and intelligences, monstrous and 22 Hodgson: „The Hog“, S. 220. 23 In Philip K. Dicks Kurzgeschichte „Beyond lies the Wobb“ taucht ebenfalls eine Art außerirdisches, intelligentes Schwein auf. 24 Hodgson: „The Hog“, S. 237. 25 Ebd. S. 236. 26 Ebd. S. 237.

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otherwise, just as this world produces its own physical forces and intelligences – beings, animals, insects, etc. monstrous and otherwise.27 Auslöser für das Eingreifen dieser kosmischen Kräfte in die menschliche Welt werden von Carnacki nicht näher erläutert. Recht unspezifisch spricht er von Psychic Doorways, über die die Kräfte aktiv werden können. Es scheint sich dabei um Menschen zu handeln, die, modern ausgedrückt, psychisch labil sind, wie eine Aussage Carnackis zum Fall Bains belegt: „It was one of those cases of a gap or flaw in a man’s protection barrier; I call it. A failure to be what I might term efficiently insulated – spiritually – from the outer monstrosities.“28 Die Folgen eines Angriffs können für den Menschen katastrophal sein, denn laut Carnacki verhalten sich diese Monstrositäten gegenüber Menschen wie Raubtiere, und haben es letztendlich darauf abgesehen, die Seele des Menschen zu vernichten.29 In Hodgsons Darstellung des Äthers vermischen sich physikalische Vorstellungen, insbesondere von Licht, Elektrizität, Materie und Äther, mit okkulten Ideen seiner Zeit. Seine Ausführungen über den Zusammenhang von Äther und Geisterwelt weisen insbesondere Parallelen auf zu Helena Petrovna Blavatskys eigenwilliger Darstellung der Rolle des universellen Äthers in der antiken Philosophie, wie sie diese in ihrem Buch Isis Unveiled (1877) formuliert hat. Dort schreibt Blavatsky, dass für die antiken Philosophen der Äther dem Meer glich, das verschiedenen Geistern Heimat bietet, die dem Menschen wohl oder übel gesonnen sind.30 Es scheint also möglich, dass Hodgson hier direkt von Blavatsky beeinflusst ist. Als Urstoff psychischer wie chemisch-physikalischer Phänomene fungiert der Äther auch in der 1912 entstandenen, aber erst 1919 posthum erschienenen Erzählung Eloi, Eloi Lama Sabachthani von Hodgson. In dieser Erzählung, die nicht Teil der Carnacki-Serie ist, unternimmt ein deutscher Chemiker und religiös-fanatischer Christ namens Baumoff ein Experiment, durch welches der Bericht der Evangelisten über die Dunkelheit, die sich beim Sterben Christi am Kreuz einstellte, belegt und damit die herausragende Persöhnlichkeit Christi nachgewiesen werden soll.31 Baumoff ist davon überzeugt, dass die von den Evangelisten erwähnte Dunkelheit nicht symbolisch, sondern wörtlich zu verstehen ist. Seiner Überzeugung liegt die Idee zu Grunde, dass der Äther für die Übertragung des Lichts verantwortlich ist. Wie Baumoff erklärt, kann durch emotionalen Stress, insbesondere im Fall von herausragenden Persönlichkeiten, der Äther derart verän27 Ebd. S. 238-239. 28 Ebd. S. 193. 29 Ebd. S. 239. 30 Blavatsky: Isis entschleiert, S. 134-135. 31 Im Markus-Evangelium es heißt etwa: „Als die sechste Stunde kam, brach über das ganze Land eine Finsternis herein. Sie dauerte bis zur neunten Stunde.“ Markus, 15,33.

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dert werden, dass die Lichtübertragung gestört ist und sich eine temporäre Phase der Dunkelheit einstellt. Ein Freund Baumoffs, John Stafford, der dem Experiment beiwohnt, fasst dessen Theorie wie folgt zusammen: You – you mean that if the agony of a person of ordinary personality can produce a faint disturbance of the Aether, with a consequent faint darkening, then the Agony of Christ, possessed of the Enormous Personality of the Christ, would produce a terrific disturbance of the Aether, and therefore, it might chance, of the Vibration of Light, and that this is the true explanation of the Darkness of the Cross […]32 Die von Hodgson hier verarbeiteten Vorstellungen eines lichtübertragenden Äthers gehen auf Christiaan Huygens zurück, der als erster die These formuliert hatte, dass der Äther Licht (als Welle gedacht) überträgt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Lichtwellen- und Lichtäthertheorie in Großbritannien breite Akzeptanz unter Wissenschaftlern gefunden.33 Baumoffs Experiment beginnt damit, dass dieser ein selbst hergestelltes Mittel einnimmt (das sich gleichzeitig auch als sehr wirksamer Sprengstoff erweist), das seinen Stoffwechsel verändert und emotionale Stresswellen künstlich evoziert. Es folgt eine sehr eigenwillige Form der imitatio Christi, bei der er die erlittenen Qualen Christi am Kreuz versucht, geistig-emotional (durch Konzentration auf das Leiden) wie körperlich (durch Zufügung der Wundmale) zu durchleben. Das Experiment scheint, zumindest in Bezug auf seine Äther-Licht-These, erfolgreich, da sich nach einer Weile eine völlige Dunkelheit einstellt. Doch Baumoffs Experiment scheitert, als dieser nicht aus seiner Trance erwacht und stirbt. Seine letzten Worte gleichen denen Jesus’, wie sie beispielsweise der Evangelist Markus überliefert hat, und die der Kurzgeschichte ihren Titel gaben: Eloi, Eloi lama sabachthani? (Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?). Baumoffs Worte gewinnen an Brisanz, da Stafford glaubt, dass diese nicht von Baumoff, sondern von einer fremden, unmenschlichen Stimme gesprochen wurden, die Christus zu verhöhnen scheint. Stafford versucht dieses Phänomen, wie auch ein kleines Erdbeben, das sich eingestellt hat, mithilfe von Baumoffs Auffassungen über den Äther zu erklären. Demzufolge ist der Äther, wie schon in The Hog, eine Art Urmaterie aus der die Welt geschaffen werden kann: He had formulated the suggestion that, in embryo, Matter was, from a primary aspect, a localised vibration, traversing a closed orbit. These primary localised vibrations were inconceivably minute. But were capable, under certain conditions, of combining under the action of keynote-vibrations into secondary vibrations of a size and shape to 32 Hodgson: „Eloi, Eloi“, S. 196. 33 Siegel: „Thomson, Maxwell, and the Universal Ether in Victorian Physics“, S. 239.

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be determined by a multitude of only guessable factors. These would sustain their new form, so long as nothing occurred to disorganise their combination or depreciate or divert their energy – their unity being partially determined by the inertia of the still Aether outside of the closed path which their area of activities covered. And such combinations of the primary localised vibrations was neither more nor less than matter. Men and worlds, aye! and universes.34 Die in diesem Zitat von dem Protagonisten Stafford geäußerte Äther-MaterieTheorie spiegelt physikalische Ideen des 19. Jahrhunderts wider, nach denen, wie beispielsweise von Lord Kelvin diskutiert, „Äther der Ursprung der Materie sei“35. In der Erzählung besteht laut Baumoff die Gefahr einer universalen Katastrophe, wenn es dem Menschen etwa durch eine Maschine gelingt, Ätherschwingungen von großer Energie zu erzeugen, da dadurch Materie verändert und in Folge dessen das Universum samt Himmel und Hölle (wenn diese eine materielle Form haben) vernichtetet werden könnten.36 Stafford glaubt, dass das erwähnte Erdbeben ein Beleg für Baumoffs Äther-Materie-Theorie ist. Doch noch eine weitere Gefahr resultiert aus dieser Theorie, die Baumoff nicht vorhergesehen hat. Denn durch Veränderungen im Äther wurden anscheinend übernatürlichen, vielleicht sogar teuflischen Kräften Tür und Tor geöffnet, die nun in die menschliche Welt eingreifen können.

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Ätherdarstellungen in Texten von Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling

Als Gefahr für das Leben auf der Erde wird der Äther auch in Arthur Conan Doyles frühem Science-Fiction-Roman The Poison Belt (1913) dargestellt. Zu Beginn des Romans prophezeit Professor Challenger, ein exzentrischer, aber genialer Naturwissenschaftler, der erstmalig in dem Roman The Lost World (1912) in Erscheinung getreten war, in einem öffentlichen Brief, dass von ihm festgestellte Modifikationen im Sonnen- und Sternenspektrum (Fraunhoferlinien) Zeichen für Veränderungen des kosmischen Äthers seien: The general blurring and shifting of Frauenhofer’s [sic] lines of the spectrum point, in my opinion, to a widespread cosmic change of a subtle and singular character. Light from a planet is the reflected light of the sun. Light from a star is a self-produced light. But the spectra both from planets and stars have, in this instance, all undergone the same 34 Hodgson: „Eloi, Eloi“, S. 212-213. 35 Henderson: „Die moderne Kunst und das Unsichtbare“, S. 16. 36 Hodgson: „Eloi, Eloi“, S. 213.

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change. Is it, then, a change in those planets and stars? To me such an idea is inconceivable. What common change could simultaneously come upon them all? Is it a change in our own atmosphere? It is possible, but in the highest degree improbable, since we see no signs of it around us, and chemical analysis has failed to reveal it. What, then, is the third possibility? That it may be a change in the conducting medium, in that infinitely fine ether which extends from star to star and pervades the whole universe. Deep in that ocean we are floating upon a slow current. Might that current not drift us into belts of ether which are novel and have properties of which we have never conceived?37 Challenger vertritt hier die schon von Hodgson aufgegriffene und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitete These, dass der Äther Teil des kosmischen Raums und für die Lichtübertragung verantwortlich ist. Überraschend ist allerdings Challengers Vermutung, dass sich eine neuartige Form des Äthers gebildet haben könnte, die, wie er später ausführt, als Gift wirken und zu einer globalen Katastrophe führen kann. In Challangers Vorstellung vom Äther sind somit der Äther der Physik als auch der reale Äther der Chemie und Medizin vermischt. Challengers Prophezeiungen scheinen sich bald erschreckend auf lokaler und globaler Ebene zu bestätigen, denn aus London wie aus allen übrigen Teilen der Welt treffen Nachrichten von Krankheit und Aufruhr ein. Auch seine Weggefährten aus dem Roman The Lost World, der Aristokrat Lord John Roxton, Professor Summerlee und der Journalist Edward Malone, die er mit jeweils einer Flasche Sauerstoff im Gepäck in sein Haus nach Rotherfield beordert hat, sowie Challenger selbst zeigen veränderte Verhaltensweisen: Sie reagieren emotionaler und enthemmter als gewöhnlich; bei Challenger äußert sich dies beispielsweise darin, dass er einer Bediensteten in die Wade beißt. Doch damit nicht genug: der Äther scheint sich tatsächlich als tödliches Gift zu erweisen, durch dessen Allgegenwart das Leben auf der Welt vernichtet wird. Nur Challenger, seine Frau und die drei Gäste können für mehr als einen Tag der vermeintlich tödlichen Gefahr entkommen, da sie sich in einem isolierten Raum einschließen und durch Sauerstoffzufuhr die tödliche Wirkung des Äthers aufheben. Die Wirksamkeit des Sauerstoffs lässt erkennen, dass es sich beim Äther in The Poison Belt um ein Gas handeln muss. Als der Sauerstoffvorrat zu Ende geht und sich die Gruppe entschließt, sich durch das Öffnen des Fensters dem Tod anheim zu geben, stellen sie fest, dass der Ätherstrom vorüber gezogen und die Gefahr gebannt ist. Warum und wohin sich der giftige Äther verflüchtig hat, wird nicht thematisiert. Der Roman schließt, indem sich herausstellt, dass durch den Ätherstrom Mensch und Tier nicht vernichtet, sondern nur zeitweise in ein Koma versetzt wurden. In Doyles Darstellung des Äthers sind somit nicht nur Ideen eines kosmischen Ga37 Doyle: „The Poison Belt“, S. 220-221.

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ses verarbeitet, sondern er greift auch auf den Äther der Medizin zurück, der als Narkosemittel seit Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt wurde. Auf Geheiß des amerikanischen Zahnarztes William Morton war am 16. Oktober 1846 erstmalig ein Patient nach der Inhalation von Schwefeläther am Bostoner Massachussetts General Hospital bewusstlos und schmerzfrei operiert worden.38 Noch im selben Jahr wurde das Verfahren in England angewandt und breitete sich rasch auf dem gesamten europäischen Kontinent aus.39 Doch noch aus einem weiteren, nämlich militärhistorischen Blickwinkel sind Doyles Ätherbezüge interessant. In The Poison Belt nimmt Doyle auf bedrückende Art und Weise den Einsatz chemischer Kampfstoffe wie etwa Senfgas und Phosgen vorweg, durch die im Ersten Weltkrieg Soldaten einen qualvollen Tod erlitten. Der Äther hat bei Doyle nicht nur Eingang in sein literarisches Werk gefunden. Er taucht auch in einer Abhandlung zum Spiritismus auf, The Vital Message (1919), dessen Aussagen zum Äther sich jedoch grundlegend von seiner Verarbeitung im Roman unterscheiden. Bekanntlich hat Doyle nicht nur ein reiches literarisches Oeuvre hinterlassen, aus dem die wohl populärste Detektivfigur aller Zeiten, Sherlock Holmes, hervorgegangen ist, sondern zudem eine Vielzahl von historischen Romanen, Geistergeschichten, früher Science-Fiction sowie verschiedene spiritistische Schriften. The Vital Message ist ein Text, der der Verteidigung des Spiritismus dient. In ihm preist er einerseits die Vorzüge spiritistischer Lehren gegenüber denen der christlichen Kirchen und des Materialismus, und versucht andererseits, die Authentizität spiritistischer Phänomene zu belegen. Doyle ist davon überzeugt, dass Seele und Persönlichkeit den Tod überleben, es den Toten im Jenseits gut geht und dies durch den Spiritismus bewiesen werden kann.40 Laut Doyle ist die Grundlage für das Leben nach dem Tod, dass die Seele des Menschen eine materielle Entität ist: The physical basis of all psychic belief is that the soul is a complete duplicate of the body, resembling it in the smallest particular, although constructed in some far more tenuous material. In ordinary conditions these two bodies are intermingled so that the identity of the finer one is entirely obscured.41

38 Magner: A History of Medicine, S. 472. Allerdings war Mortons Anspruch Entdecker des Schwefeläthers für Narkosezwecke zu sein von Anfang an umstritten. Als dieser sich nämlich um das Patent bemühte, folgte ein erbitterter öffentlich ausgetragener Streit darüber, wer der wahre Entdecker des Narkosemittels sei. 39 Nach Experimenten mit Chloroform und Lachgas setzte sich zu Beginn der 1870er Jahre in Großbritannien Äther als Anästhetikum durch. Magner: A History of Medicine, S. 476. 40 Doyle: The Vital Message, S. 46. 41 Ebd. S. 48.

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Für Doyle ist die Seele somit ein Duplikat des menschlichen Körpers, der aus feingeistiger Materie, eine Art Körperäther gebildet wird. Dieser Körperäther ist jedoch nicht mit dem kosmischen Äther zu verwechseln: „if all that is visible of that body were removed, there would still remain a complete and absolute mould of the body, formed in bound ether which would be different from the ether around it.“42 Vorstellungen vom Ätherkörper, auch Ätherleib genannt, sind zu dieser Zeit gängig und finden sich u.a. bei den Theosophen Blavatsky, Besant und Leadbeater aber auch in der Theosophie Rudolf Steiners wieder. Wie Doyle in seinem Buch weiter erklärt, trennt sich nach dem Tod der feingeistige Ätherleib vom Körper aus Fleisch und Blut; doch gleicht ersterer dem Menschen in Geist, Emotionen und physischem Aussehen.43 Auch wenn dieser Geist der Toten für den Normalsterblichen unsichtbar bleibt, können Medien (menschlicher aber auch technischer Natur, insbesondere die Photographie) den Geist wahrnehmen. Doyles Glauben an die Authentizität von Geisterbotschaften und ihre Mittler, die Medien, ist nahezu unerschütterlich.44 Er scheint, auch wenn er an anderer Stelle des Buches einräumt, dass Medien auch Fehler unterlaufen sind, davon überzeugt, dass diese von einer anderen Kraft in Besitz genommen werden und wie eine Maschine funktionieren: „The medium is in truth a mere passive machine, clerk and telegraph in one. Nothing comes FROM him. Every message is THROUGH him.“45 Die hier zitierte Aussage Doyles ist auch insofern interessant, weil eine Verbindung zwischen Telegraphie und Telepathie hergestellt wird, die, wie schon erwähnt, auch Mitglieder der Society for Psychical Research beschäftigten und auch in Kiplings Erzählung Wireless, dem letzten hier behandelten Text, eine entscheidende Rolle spielt. Der Titel von Kiplings Erzählung Wireless, die 1902 erschein, wird im Englischen als Abkürzung für wireless telegraphy bzw. als Synonym für Radio gebraucht und verweist auf einen zentralen Aspekt der Erzählung: die drahtlose Telegraphie.46 Als einer der Erfinder der drahtlosen Telegraphie gilt der Italiener Guglielmo Marconi, der erstmalig 1899 über den Ärmelkanal und 1901 über den transatlantischen Ozean mit Hilfe eines Funksenders kommunizierte. Kiplings Erzählung ist insoweit bemerkenswert, als dass sie Einblick in die Pionierwelt des Funkverkehrs gibt und zahlreiche physikalisch-technische Fragen aufgreift, in dem sie etwa Elektrizität und drahtlose Telegraphie zu erklären sucht. In Wireless wird Informationsübertragung jedoch nicht nur durch das „Marconi 42 Doyle: The Vital Message, S. 54. 43 Ebd. S. 56. 44 Doyles Verteidigung der Cottingley Photographien, die sich heute als wenig überzeugende Fälschung leicht erkennen lassen, sind ein weiterer Beweis für dessen große Überzeugung. 45 Doyle: The Vital Message, S. 73. 46 Vgl. Beer: „Wireless“, S. 152.

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business“, wie die drahtlose Telegraphie im Text genannt wird, thematisiert, sondern auch durch Telepathie. Zu Beginn der Handlung besucht der Erzähler den Amateurfunker Cashell im Hinterraum eines Apothekerladens, um einer Funkübertragung beizuwohnen. Cashell will den Funkverkehr von Schiffen, die vor der südenglischen Küste liegen, abhören und funken. Im Laden befindet sich auch der schwindsüchtige, verliebte Apotheker Shaynor, der, nachdem er ein vom Erzähler zubereitetes flüssiges Äthergemisch zu sich genommen hat, in Trance fällt. Bei dem selbstgebrauten Getränk, „a new and wildish drink“47, handelt es sich um Chloräther, der mit Alkohol und anderen Substanzen versetzt wurde. Wie bereits erwähnt, wurde Äther in der Medizin seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Narkosemittel verwendet. Doch schon seit Ende des 18. Jahrhunderts waren Äther und andere Gase, z.B. Stickoxydul (besser bekannt als Lachgas) einem größeren Publikum wohlbekannt, da es zu medizinischen Zwecken, unter anderem zur Therapie von Lungenkrankheiten, Kopfschmerzen, Rheuma, eingesetzt wurde. Zudem hatte die halluzinogene Wirkung der Substanzen bald eine große Anhängerschar unter Medizinstudenten gefunden, die „laughing gas parties“ und „ether frolics“48 veranstalteten. Weiterhin diente der Genuss von Äther zur Publikumsbelustigung auf Jahrmärkten und Volksfesten. In Wireless greift Kipling somit die populäre Verwendung des Äthers als Rauschmittel auf. Die Einnahme des Äthergetränks durch den Apotheker führt jedoch zu unerwarteten Ergebnissen. Während Cashell im Nebenraum zunächst keinen großen Erfolg beim Empfang von Nachrichten aus dem Äther verzeichnen kann, scheint Shaynors Äthergenuss ihm mediale Kräfte zu verleihen. Zum Erstaunen des Erzählers beginnt dieser nämlich Zeilen aus Keats’ Gedicht The Eve of St Agnes aufzusagen und diese im Akt des automatischen Schreibens aufs Papier zu bringen. Die Wahl des Gedichts wirkt nicht zufällig, denn eine indirekte Verbindung besteht zwischen Shaynor und Keats darin, dass beide an Tuberkulose erkrankt sind und beim Verfassen des Gedichts in eine Frau mit ähnlich klingendem Namen verliebt sind.49 Doch geht Shaynors Rolle in der Erzählung über die eines menschlich-technischen Mediums hinaus, wie dieses beispielsweise in The Vital Message von Doyle beschrieben wurde. Im Gegensatz zu einer Maschine ist Shaynor nämlich nicht bloß ein passiver Empfänger, sondern aktiv am Entstehensprozess des Gedichts beteiligt, indem er einzelne Zeilen immer wieder umformuliert und verändert. Wie der englische Literaturwissenschafter Luckhurst festgestellt hat, ist in Wireless Kiplings Auffassung vom Wesen künstlerischer Inspiration wiedergegeben: „The tale also expresses Kipling’s view of artistic inspiration. Everyone in the tale, the oper47 Kipling: „Wireless“, S. 558. 48 Magner: A History of Medicine, S. 468. 49 Shaynor ist in eine Frau namens Fanny Brand verliebt, während Keats Geliebte Fanny Brawne hieß.

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ator, the consumptive, the narrator, experiences psychic splitting and a condition of hypersensitive passivity to receiving messages, and this was precisely how Kipling wrote of his own personal ‚Daemon‘ of inspiration in his autobiography.“50 Über die Erzählung sind aber noch weitere autobiographische Bezüge bekannt. Auslöser für die Entstehung der Erzählung war eine Begegnung mit Marconi, den Kipling 1899 in Rottingdean traf: „‚During the talk I consciously or unconsciously was gathering much material for my story ,Wireless,‘ in which I carried the idea of etheric vibrations into the possibility of thought transference.‘“51 Sein Interesse an Gedankenübertragung und menschlichen Medien wurde durch seine Schwester Alice verstärkt, die etwa zur Entstehungszeit der Erzählung als Medium anscheinend automatische Botschaften von dem bekannten Mitglied der Society for Psychical Research Frederic William Henry Myers erhielt.52 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kipling in Wireless die Frage nach Übertragungsmöglichkeiten von Informationen mit Hilfe des Äthers aus technischer wie (para)psychologischer Sicht thematisiert. Telegraphie und Telepathie werden in der Erzählung als Möglichkeiten einer drahtlosen, direkten Kommunikation, bei der Informationen über Wellen durch Zeit und Raum transportiert werden, dargestellt. Die hier diskutierten Texte aus der britischen Literatur um 1900 zeigen, dass Schriftsteller auf Äthertheorien aus Physik, Chemie, Medizin und Okkultismus zurückgriffen, um mögliches Potential aber auch Gefahren des Äthers für Mensch und Welt auszuloten sowie Erklärungen für (para)wissenschaftliche Phänomene zu geben. Wie bei Milutis (2006) nachzulesen ist, thematisieren Künstler aus nachfolgenden Generationen den Äther, und auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts zieht der Äther Wissenschaftler, wie neueste Äthertheorien aus der astrophysikalischen Kosmologie53 belegen, und Schriftsteller in seinem Bann. Beispiele aus der britischen Literatur sind die Fantasytrilogie His Dark Materials (1995-2000) von Philip Pullman sowie der Science-Fiction Roman The Light Ages (2003) von Ian R. Macleod, in deren Parallelwelten Äther wichtiger Bestandteil ist und in Bezug auf okkulte und naturwissenschaftliche Phänomene erklärt wird.

Literatur Bell, Ian F.A.: „The Real and the Ethereal: Modernist Energies in Eliot and Pound“, in: Bruce Clarke/Linda Dalrymple Henderson (Hrsg.): From Energy to Information. Representations of Science and Technology, Art and Literature, Stanford 2002, S. 114-125. 50 Luckhurst: The Invention of Telepathy, S. 178. 51 Kipling zitiert in: Luckhurst: The Invention of Telepathy, S. 178 Fn. 152. 52 Luckhurst: The Invention of Telepathy, 264. 53 Vgl. Hagen: „Medienäther – Äthermedien“.

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Verstärkung der suggestiven Kräfte durch dem Gehirn zugeführte elektrische Schwingungswellen

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Holger Steinmann

„Der Pfad ist keinem bezeichnet“ Zur Umschreibung des Äthers bei Hölderlin und Poe Sollte es nicht ein Vermögen in uns geben, was dieselbe Rolle hier spielte, wie die Veste außer uns – der Aether – jene unsichtbar sichtbare Materie, der Stein der Weisen – der überall und nirgends, alles und nichts ist – Instinkt oder Genie heißen wir sie – Sie ist überall v o r h e r . Sie ist die Fülle der Zukunft – die Zeitenfülle überhaupt – in der Zeit, was der Stein der Weisen im Raum ist – Vernunft – Fantasie – Verstand und Sinn (Bedeutung 3-5 Sinne) sind nur ihre einzelnen Funktionen. (Novalis)1

1 Die Texte, die gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts vom Äther – sei es als Gegenstand, Tropus oder Beispiel – sprechen, sind vielfältig und widersprüchlich. Dies kann kaum verwundern, da die Geschichte des Worts ‚Äther‘ selbst auf unterschiedliche Überlieferungen zurückgeht, die erinnert, vergessen, bestärkt oder verneint werden. Um diese unterschiedlichen Einordnungen des Äthers – zumindest in einigen Aspekten – darzustellen, werde ich hier zwei Texte mit gegensätzlichen Ätherkonzeptionen diskutieren. Der eine ist die Elegie An den Aether von Friedrich Hölderlin, der andere das große kosmologische Essay-Gedicht Eureka von Edgar Allan Poe. Beide Autoren beziehen sich – mehr oder weniger explizit – sowohl auf die naturphilosophische Ätherdiskussion um 1800 als auch auf die ältesten Quellen der abendländischen Philosophie, namentlich auf Pythagoras und vor allem Empedokles. An den Texten Hölderlins und Poes lässt sich zeigen, dass der Begriff des Äthers im Spannungsfeld von radikaler Kontinuität und Diskontinuität angesiedelt ist. Doch auch da, wo der Aspekt der Kontinuität forciert wird, wie bei Hölderlin, ist der Aspekt der Trennung und des Getrennten mitgedacht; dies ergibt sich einerseits aus der Trivialität, dass nur dort, wo Getrenntes vorliegt, Verbindung (sowohl als Akt wie als Status) überhaupt erst gedacht werden kann, andererseits aus der – sowohl 1 Hardenberg (Novalis): „Das allgemeine Brouillon“, S. 704 (IV, 1036).

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das Wort als auch den Begriff betreffenden – Disparität von ‚Äther‘ selbst. So fußen die naturphilosophischen Diskussionen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in erster Linie auf dem „elementum primum Cartesii“.2 Descartes geht in seinen Principia Philosophiae von drei Elementen aus,3 wobei er das primum elementum4 als „aliis materiae ramentis minutissimis“5 bezeichnet. Diese zersplitterte Materie kann zum einen aufgrund ihrer Kleinheit eine hohe Geschwindigkeit entwickeln, zum anderen „impleat omnes angulos“: sie füllt noch die kleinsten Ecken und Winkel aus. Der Begriff des Äthers, der weder wahrnehmbar noch unmittelbar nachweisbar ist, konstituiert sich gleichsam aus diesem Entzug. Zwar hat Descartes mit seiner Beschreibung des primum elementum als eine Materie, die überall vorhanden ist, den Grundstein für einen Ätherbegriff gelegt, der in seiner Ubiquität potentiell alles mit allem verbindet, doch bewahrt die Dichtung auch gerade der Autoren, die bereits mit den neueren Äthertheorien vertraut waren, noch ein Bewusstsein für das Moment der Zerrissenheit und der Getrenntheit in Hinsicht auf ein Element (bzw. ein elektromagnetisches Feld), das zwar buchstäblich überall sein soll (und im Konzept dieses Felds gar alles und jedes durchdringt und von allem und jedem durchdrungen wird), aber nirgendwo und nirgends wahrgenommen werden kann. Denn Äther ist, nach den kosmologischen Fragmenten des Empedokles, das allererste Symptom von Trennung und Distinktion. Hölderlin, der sich dieses trennenden Moments nur allzu bewusst ist, beruft sich in An den Aether gleichermaßen auf Empedokles und Pythagoras – in deren Entwürfen sich Trennung und Durchmischung zyklisch ablösen – wie auf Vergil, der die Trennung von Äther und Erde durch das Frühjahr im jahreszeitlichen Zyklus temporär aufgehoben sieht (s. u.). Radikaler noch argumentiert Poe, der – ebenfalls in Referenz auf Empedokles – seinen Ätherbegriff noch wesentlich akzentuierter mit dem Moment der Trennung zusammenführt: Während bei Empedokles ein Aspekt des Äthers ist, daß er das erste Symptom der Trennung darstellt, betont Poe dessen – ebenfalls bei Empedokles angelegte – aktive Rolle als Erhalter der Welt. Nach Poe werden alle Dinge auf der Erde durch den Äther auseinandergehalten. Poe begreift 2 Gehler: Physikalisches Wörterbuch, S. 82. 3 Vgl. Descartes: Prinzipien der Philosophie, S. 229f. (III, 52) u. passim. Aus dem ersten Element bestehen nach Descartes die Sonne und die Fixsterne, die aber ihre Materie in immensen vortices in den Raum schleudern, das zweite Element füllt den interstellaren Raum aus, die Erde besteht aus dem dritten und gröbsten Element, das im Gegensatz zu den ersten beiden äußerst träge ist. 4 Das Wort ‚Äther‘ verwendet Descartes zum einen in Hinsicht auf die Diskussion der Sonnenflecken (ebd. S. 315f. (III, 112 und 113)) wie auf die des Magnetfelds der Erde (ebd. S. 527f. (IV, 133, 134)); auf eine ausführliche Diskussion dieses Ätherbegriffs muss hier verzichtet werden. 5 Ebd. S. 226f. (III, 49).

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den Äther dabei nicht als Materie, sondern vielmehr als eine Kraft, indem er expliziert, dass der Äther der Gravitation entgegenstehe – und nicht nur dies: Indem er der Gravitation widersteht und die Dispersion der Dinge aufrechterhält, verhindert er, dass die Welt wieder zum homogenen sphairos wird, d. h. er verhindert die apokatastasis absoluter Einheit. In den Diskussionen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts weist die Rede über den Äther so viele Brüche und Widersprüche auf, dass man vor der Annahme eines auch nur halbwegs gesicherten Begriffs von Äther nur zurückschrecken kann. Es empfiehlt sich dagegen, ihn von vorne herein heuristisch mit dem – wenn auch problematischen – Terminus der ‚Unbegrifflichkeit‘ zu versehen;6 oder genauer: ‚Äther‘ agglomeriert eine ganze Reihe von Unbegrifflichkeiten, deren jede für sich – beruhe sie auf den Vorsokratikern, beruhe sie auf Descartes oder Euler – Ambiguitäten einschließt, die ihrerseits Garant einer a limine unendlichen translatio sind. Pythagaros versteht, laut Diogenes Laertios,7 den Äther als feineres Element in einer über der Luft situierten Schicht; der Äther aber ist auch im Menschen nicht nur einfach vorhanden, sondern konstituiert – in Mischung mit der Luft – überhaupt erst dessen Seele. Da der Äther in den antiken Argumentationen noch mit dem klaren Himmelsblau identifiziert wird, in den Traktaten der Naturphilosophie seit Descartes aber gemeinhin als unsichtbar (und somit farblos) sowie unendlich fein bzw. unendlich elastisch beschrieben wird, so dass er von den menschlichen Sinnen gar nicht wahrgenommen werden kann, ist auch die Möglichkeit der Übertragung sozusagen unendlich elastisch – er kann aufgrund seiner Unwahrnehmbarkeit zwar nicht mit (positiven) Vergleichswerten ausgestattet werden, die für die klassische Analogiebildung Voraussetzung wären; auf der anderen Seite ist es aber gerade diese rhetorische Elastizität, die ihn in unterschiedlichen Kontexten als Tropus fungieren lässt. Dieser rhetorischen korrespondiert seine semantische Elastizität, die in den Reden der Philosophie und Literatur als Doppelbewegung seiner A-Phänomenalität und A-Morphizität vor-, her- und dargestellt wird; im gleichen Zug sind es aber genau diese Traditionen, die hinsichtlich des Äthers so etwas wie Kontur, (Wieder-)Erkennbarkeit und überhaupt Diskutierbarkeit ermöglichen. Diese Versuche können als begriffliche Begrenzung des Entgrenzten verstanden werden, doch ist an vielen Beispielen ablesbar, dass sie einer exakten begrifflichen Bestimmung entgegenstehen und ihrerseits ohne semantische Entgrenzungen überhaupt nicht auskommen; sie multiplizieren sich noch durch die explizite und implizite Bezugnahme auf oder Abwendung von je früheren Diskussionen. Wenn es sich die Naturphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts als eine ihrer vornehmsten Aufgaben gesetzt hat, ihr Wissen einerseits auf abstraktestem Niveau – seit Newton hieß dies unter anderem: in der Sprache der Mathematik 6 Vgl. Blumenberg: „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“, S. 87. 7 Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen, S. 380 (VIII, 28).

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– zu diskutieren, andererseits aber Autoren wie Addison und Brockes oder wie Hebel und Humboldt bemüht waren, dieses Wissen einer breiteren literaten Öffentlichkeit zu vermitteln, liegen die Schwierigkeiten hinsichtlich des Äthers auf der Hand. Zu den Bereichen dieses Wissens zählte auch die Kosmologie, besonders in Hinsicht auf die Beschreibung des kopernikanischen und postkopernikanischen Weltbilds, und – in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung – die Gravitationstheorie Newtons. Nun kann man sich schon kaum einen Begriff davon machen, welches didaktischen Aufwands es bedarf, eine Theorie begreiflich und plausibel zu machen, die gleichermaßen die Bewegung der Gestirne wie auch die Erdenschwere jedweden Subjekts erklärt;8 aber zumindest liegen im Falle der Gravitation noch evidente optische und haptische Erfahrungen vor, auf die sich diese Theorie beziehen ließe, was auf den Äther eben nicht zutrifft. Gehler – dessen Artikel zum Äther einen der wenigen Versuche darstellt, den Wissensstand zu dokumentieren – schreibt in seinem Physikalischen Wörterbuch: Alles, was sich von diesem Gegenstande sagen läßt, ist hypothetisch, und blos zur Erklärung gewisser Erscheinungen angenommen; unmittelbare und klare Erfahrungen über das Daseyn und die Eigenschaften des Aethers fehlen gänzlich.9 und: Daß die Himmelsräume nicht leer sind, und daß selbst in luftleeren Räumen noch etwas weit feineres, als Luft, vorhanden sey, läßt sich gar nicht läugnen: daß man dieses Etwas Aether nenne, dawider ist nichts einzuwenden, wenn man nur zugleich gestehet, daß wir nicht viel von diesem Etwas wissen.10 Dass es sich ‚nicht leugnen lässt‘, geht von der theologischen Prämisse der plenitudo aus, die sich zum einen auf die im späten 17. und 18. Jahrhundert reformulierte Theorie der Kette der Wesen rückbeziehen lässt, nach der die Einzelelemente aller Naturreiche, Klassen, Gattungen, Arten und Unterarten sich als in unverbrüchlichem und kontinuierlichem Bezug darstellen; zum anderen ist damit aber auch gemeint, dass es keine Stelle im Raum geben kann, die leer ist. Mit den Vakuumexperimenten des 17. Jahrhunderts und dem Wissen um den in Höhenlagen abnehmenden Luftdruck, ergab sich nun aber zumindest die theoretische Möglichkeit eines absoluten Vakuums, das nicht nur experimentell hergestellt werden konnte, sondern auch für die Räume zwischen den Himmelskörpern angenommen werden durfte. Das hieße dann auch, dass die Vorstellung der 8 Zu den Details vgl. das dritte Kapitel von Steinmann: Absehen – Wissen – Glauben. 9 Gehler: Physikalisches Wörterbuch, S. 82. 10 Ebd. S. 86.

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plenitudo hinfällig werden konnte, dass es also einen absoluten leeren Raum gäbe, der strictu sensu nicht mehr zur Schöpfung Gottes gehörte. Der Äther war nun ein geeignetes Element, genau diese Lücke zu füllen und somit die unterstellte plenitudo aufrechtzuerhalten. Gleichwohl gab es immer wieder Versuche, den Äther über seine Effekte nachzuweisen; dies gilt für das 17. und 18. Jahrhundert vor allem in der Diskussion des Lichts in Zusammenhang mit Kraft und Bewegung. Bereits Descartes ging davon aus, dass Licht tatsächlich in nichts anderem besteht als in der Fliehkraft, mit der sich die Splitter des ersten (und die globuli des zweiten) Elements von den Zentren ihrer vortices entfernen.11 In der Folge wird in den unterschiedlichsten Konstellation das Verhältnis von Licht, Bewegung, Kraft und Äther diskutiert. Robert Hooke und Huygens waren die ersten, die die Idee formulierten, dass das Licht sich durch wellenförmige Schwingungen des Äthers verbreite. Newton, obgleich er die Idee des Äthers nicht generell verwarf, ging davon aus, dass das Licht ein Partikelstrom sei – dies wiederum wurde von Euler zurückgewiesen, der die Idee des Äthers als eines schwingenden Mediums des Lichts reformulierte.12 Eine Synthese der Theorien von Euler und Newton versucht Schelling, der davon ausgeht, dass der leichte, von der Sonne ausgehende, flüchtige Äther durch den Sauerstoff auf der Erde gebunden wird und diese Verbindung das Licht sei.13 Dass der Äther in seiner Bedeutung äußerst ungesichert ist, zeigt eine Bemerkung Lichtenbergs, in der er dem Äther jegliches Moment von Ubiquität und Allverbindung abspricht: Es könnte seyn, daß innerhalb des Gehirns noch andere Werckzeuge wären, die den Nahmen der Augen, der Ohren und so weiter verdienten. Bewegter Aether theilt seine Bewegungen den Nerven der Netzhaut mit. Nun ist es nicht mehr bewegter Aether, sondern bewegter Nervensaft, und der leztere ist in der Welt, die ich bin. Das erstere geschah in einer Welt, die ich nicht bin.14

11 Descartes: Prinzipen der Philosophie, S. 232ff. (III, 55). 12 Zu den wissenschaftshistorischen Details vgl. Whittaker: A History of the Theories of Aether and Electricity, Bd. I, S. 9-22. Eine genaue und umfassende Darstellung der epistemologischen Implikationen in Hinsicht auf das Verhältnis zwischen den Begriffen Äther, Kraft, Licht und Bewegung ist m. W. noch Desiderat. Einige Hinweise liefern Böhme/Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 143-163. 13 „Das Licht […] verdankt seine Expansivkraft einem positiven Princip, dieses werden wir Aether nennen; seine Ponderabilität (Materialität) einem negativen Princip [, dem] Oxygene […]. | Das Licht ist uns also keineswegs einfach, sondern ein Product des Aethers und des Oxygene’s.“ (Schelling: Von der Weltseele, S. 94). 14 Lichtenberg: Die Aphorismenbücher, E 448 [E 425 in der Ausgabe von Promies].

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Der Äther tangiert nach Lichtenberg also in keiner Weise das menschliche Subjekt, da seine Bewegung in eine – vollkommen andere – Bewegung umgesetzt wird, deren Alterität dem Wechsel des Mediums, in dem sie sich vollzieht, geschuldet ist. Zwar dürfte dies nach Lichtenberg auch für andere Bewegungen, akustische und optische Eindrücke usw. gelten, doch scheint der Äther hier den Aspekt der Unfasslichkeit zu betonen. Folgerichtig führt Kant den Äther in der Kritik der Urteilskraft als Beispiel für die Meinungssache, die opinabile, an. Diese Meinungssachen seien „jederzeit Objekte einer wenigstens an sich möglichen Erfahrungskenntnis (Gegenstände der Sinnenwelt), die aber nach dem bloßen Grade dieses Vermögens, den wir besitzen, f ü r u n s unmöglich ist.“15 Weitere Beispiele für die opinabile sind die Bewohner ferner Planeten und die Existenz von denkenden Geistern ohne Körper. Das Beispiel des Äthers passt in diese Reihe, da er, aufgrund der unscharfen Sinne des Menschen, weder erfahrbar noch auf andere Weise nachweisbar ist.16

2 Im Jahre 1797 sandte Schiller Hölderlins hexametrischen Hymnus An den Aether sowie dessen Elegie Der Wanderer an Goethe; er wollte einen Rat hinsichtlich der Publikation der beiden Texte im Musenalmanach auf das kommende Jahr, wo An den Aether schließlich erschien. Goethe antwortet: „So sieht auch das andere Gedicht [gemeint ist An den Aether] mehr naturhistorisch als poetisch aus, und erinnert an die Gemählde wo sich die Thiere alle um Adam im Paradiese versammeln.“17 ‚Naturhistorisch‘ verweist gegen Ende des 18. Jahrhunderts in erster Linie auf den Begriff der historia naturalis, die eine versammelnde, im besten Falle erschöpfende Aufzählung und Beschreibung der einzelnen Arten innerhalb der natura naturans meint;18 Goethe erkennt – mit einigem Recht – diese in den genannten Paradiesdarstellungen der niederländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts wieder. In dieser Beschreibung ist eine Kritik verborgen, die Goethe so ausführt: 15 Kant: Kritik der Urteilskraft, B 455. 16 „So ist der Äther der neueren Physiker, eine elastische, alle anderen Materien durchdringende (mit ihnen innigst vermischte Flüssigkeit), eine bloße Meinungssache, immer doch noch von der Art, daß, wenn die äußeren Sinne im höchsten Grade geschärft wären, er wahrgenommen werden könnte; der aber nie in irgendeiner Beobachtung oder Experimente dargestellt werden kann.“ (edb.) 17 Brief vom 28. Juni 1797, zit. nach der Hölderlin-Ausgabe von Knaupp, Bd. III, S. 593. 18 Zum anderen aber wird mit Naturgeschichte auch gerade das bezeichnet, was diese dynamis, das Moment der Entwicklung in Zeit und Raum sowie des Bezugs der Gegenstände der Natur untereinander meint; an diese Bedeutung denkt Goethe hier aber nicht. Vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. XIII, Sp. 450.

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„Der Dichter hat einen heitern Blick über die Natur, mit der er doch nur durch Überlieferung bekannt zu seyn scheint.“ Mit anderen Worten: Hölderlin schreibt im Stil der beschreibenden, statischen Naturgeschichte des 15. bis 17. Jahrhunderts, die, nach der hier applizierten Aufklärungstopik, ihre Gegenstände allein aus der schriftlichen Tradition bezieht und diese unverbunden nebeneinander setzt statt sie in ein dynamisches Beziehungsgeflecht einzubinden. Diese Einordnung verwundert ein wenig, da es Hölderlin gerade um den Äther als ein unwandelbares, gleichwohl vermischbares und immer wieder ‚freimachbares‘ Element geht, das seine potentielle Dynamik immer wieder ausspielt. In Hölderlins Versuch der Darstellung des Äthers liegt es auf der Hand, dass es bei ihm nicht um die Applikation der in ihrer Bedeutung gesicherten Topik des Äthers als Himmelsblau bzw. als Sitz der Götter geht, die die Lyrik vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert ubiquitär durchzieht. Die philosophischen, theologischen und literarischen Referenzen in Hinsicht auf den Äther sind bei Hölderlin äußerst disparat; diese Disparität der Darstellung ist aber die einzig mögliche, die ihm überhaupt gerecht werden kann. Die Apostrophe des doppelten Trochäus an den „Vater Aether“, die auch in Hölderlins Elegie Brod und Wein wiederaufgenommen wird,19 signalisiert eine innige Verbundenheit der Begriffe des Vaters und des Äthers. Diese Verbindung kann hier nicht in extenso diskutiert werden, sie sei hier heuristisch auf das dem Äther zugeschriebene Moment der Fürsorge und Neigung, der Erzeugung und Erhaltung beschränkt. Eine Quelle für Hölderlin ist in diesem Kontext mit großer Wahrscheinlichkeit Wilhem Heinse (der mit Hölderlin bekannt war und dem Brod und Wein gewidmet ist); in Ardinghello und die glückseligen Inseln kompiliert Heinse Zitate aus antiken Quellen, deren Wendungen sich in An den Aether wiederfinden: Und Euripides sagt geradezu: ‚Siehst du über und um uns den unermeßlichen Äther, der die Erde mit frischen Armen rund umfängt? Das ist Gott!‘ Und Aristophanes, sein Antagonist, ruft ebenso aus: ‚Unser Vater Äther, heiligster, aller Lebengeber!‘20 Hölderlins Text zeigt, dass er sich über die mit der Begriffsfindung des Äthers einhergehenden Probleme, die die naturphilosophischen Diskussionen des 17. und 18. Jahrhunderts durchziehen, grundsätzlich im Klaren war, wenn auch nicht als 19 In der griechischen Mythologie wird der Äther zudem als die „Personification der höheren und und reineren, über dem [aér] liegenden Luftschicht, die auch als Wohnsitz der Götter gedacht“ (Paulys Realencyclopädie, Bd. I, Sp. 1093); „[i]n der Allegorese wird Aither (als Gott oder Element) mit Zeus gleichgesetzt“ (Der neue Pauly, Bd. I, Sp. 367). 20 Heinse: Ardinghello, S. 267.

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gesichert gelten kann, wie konkret der Eindruck dieser Diskussionen ist.21 Hölderlin akzentuiert die sinnliche Unfasslichkeit des Äthers einerseits, seine absolute Vorgängigkeit und die Abhängigkeit aller Phänomene von ihm andererseits und versucht diesen Aspekten eine Kontur zu geben durch die Bezugnahme auf die antike Philosophie und Literatur sowie auf christologische und pneumatologische Begrifflichkeiten. Bereits die erste Notiz zu An den Aether zeugt hiervon, wenngleich der primäre Gedanke dieses Fragments auf Pythagoras zurückgeht: und überall noch geleitest Hoher Gespiele des Gottes in uns, des mächtigen Geistes Stolz und Freude der fröhlichen Welt, unsterblicher Aether ..22 Die zentrale Wendung ist hier ‚in uns‘: Die universale Teilhabe am Äther ist nicht nur Zeichen des Menschen, sondern gehört unveräußerlich zu seinem Wesen, da sich laut Pythagoras seine Seele aus dem Äther und dem ‚kalten Äther‘ der Luft zusammenfügt.23 Die Offenheit dieses kurzen Textes, die mehr seiner Grammatik als seiner Semantik geschuldet ist, korrespondiert mit den widersprüchlichen Beschreibungen des Äthers: Ubiquitär – zumindest in Bezug auf das seelische Innenleben des Menschen – einerseits, verortet in der unerreichbaren Sphäre des Göttlichen andererseits. Offen bleibt, ob sich ‚in uns‘ auf ‚Gespiele‘ oder auf ‚Gott‘ bezieht, offen bleibt auch – setzt man zur Verdeutlichung nach dem Schluss des zweiten Verses ein Komma – ob der ‚mächtige Geist‘ eine Explikation oder Umschreibung von ‚Gespiele‘ bzw. ‚Gott‘ ist oder etwas von dem einen oder anderen je Geschiedenes. 21 Hierzu hat Jürgen Link in Bezug auf die späteren Griechenland-Handschriften einen Aufsatz vorgelegt, vgl. Link: „ ‚Lauter Besinnung aber oben lebt der Äther‘ “. Als problematisch schätze ich seine generelle Behauptung ein, dass Soemmerrings Schrift Ueber das Organ der Seele (1796), in dem die Hirnflüssigkeit als Sitz der Seele beschrieben wird, wesentlich zur Formulierung des Ätherbegriffs bei Hölderlin beigetragen habe. Zwar ist die zeitliche Koinzidenz gegeben und die Kenntnis Hölderlins dieser Schrift durch zwei Epigramme belegt, doch kommt in Soemmerrings Text das Verhältnis von Äther und Seele gar nicht zur Sprache; der Äther wird vielmehr nur an einer Stelle erwähnt, wo es um die Spekulation einer ‚animierten Flüssigkeit‘ geht (vgl. Soemmerring: Ueber das Organ der Seele, S. 41 [Originalpaginierung]). Die vom Herausgeber Soemmerrings behauptete Koinzidenz (oder zumindest Korrespondenz) von (Welt) seele, Äther und der Ventrikelflüssigkeit des Hirns (vgl. ebd. S. 92 [Paginierung der Edition]) ist sehr spekulativ und wird an keiner Stelle über den Textbefund erhärtet. 22 Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. III: Jambische und hexametrische Formen, S. 33. 23 Vgl. Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen, S. 380 (VIII, 27f.). Hier spielt aber auch schon die für Hölderlin typische Synthetisierung von antik-heidnischem und christlichem Gedankengut hinein: der ‚mächtige Geist‘ kann auch als pneuma im christlichen Sinne interpretiert werden.

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Im Text des ersten Entwurfs begegnet abermals das Moment des Ubiquitären, das sowohl in den Ätherdiskussion des 18. Jahrhunderts wie in den antiken Konzepten eine wesentliche Rolle spielt: „Der du mich auferzogst und überall noch geleitest/Element der lebendigen Welt, unsterblicher Aether“.24 Das pädagogische Moment des Äthers als Vater/Erzieher begegnet zwar noch in der Druckversion,25 erfährt aber nicht die gleiche Akzentierung wie in der Entwurfsfassung; zudem wird der Aspekt der Ubiquität des Äthers durch den seiner absoluten Vorgängigkeit ersetzt oder zumindest suspendiert; diese assoziiert die ontogenetische Kindheit mit dem Goldenen Zeitalter: Treu und freundlich, wie du, erzog der Götter und Menschen Keiner, o Vater Aether! mich auf; noch ehe die Mutter In die Arme mich nahm, und ihre Brüste mich tränkten, Faßtest du zärtlich mich an und gossest himmlischen Trank mir, Mir den heiligen Othem zuerst in den keimenden Busen. Nicht von irrdischer Kost gedeihen einzig die Wesen, Aber du nährst sie all’ mit deinem Nektar, o Vater! Wenn nun aber, nach Pythagoras, die Seele des Menschen zusammengesetzt ist aus dem ‚kalten Äther‘ der Luft und dem warmen himmlischen Äther, der hier als ‚heiliger Othem‘, dann als ambrosischer ‚Nektar‘ erscheint, so ist hier abermals die Radikalität hervorzuheben, mit der Hölderlin Begriffe der heidnischen römisch-griechischen Tradition mit jenen der christlichen zusammenführt und diese dann in eine begründende Poetologie weiterleitet; so heißt es am Ende des ersten Entwurfs: [du] tränkest mich mit verjüngendem Othem Und der Othem erwarmt in mir und ward zum Gesange.26 Es ist bemerkenswert, wie in beiden Zitaten die Figur des Kreises, des Zirkels, des Zurückfließens gewahrt bleibt. Im ersten ist es die Identität von Gabe und Geber: Vater Äther gibt, aber er gibt sich selbst, der Hauch, der er ist, ist das, was in absoluter Vorgängigkeit, noch vor den Göttern und vor der Sozialisation unter Menschen, gegeben wird und das Subjekt in seinem Wesen begründet, indem es dessen Seele stiftet. Der Dichter nun wiederholt diesen Zirkel, indem er ihn besingt, aber dieser Gesang wiederum ist in nichts anderem begründet als abermals im Äther, der Gesang ist eine Metamorphose des Äthers selbst – wie auch 24 Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. III: Jambische und hexametrische Formen, S. 36. 25 Diese wird hier und im folgenden zitiert nach der Edition Sämtliche Werke und Briefe von Knaupp, Bd. 1, S. 176-178. 26 Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. III: Jambische und hexametrische Formen, S. 37.

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die Seele nichts anderes ist als eine Metamorphose des Äthers selbst ist. Auffällig bleibt in diesem Zusammenhang die Amorphizität des Äthers, dessen wechselnde Aggregatszustände in der Abfolge himmlischer Trank, heiliger Othem und Nektar dargestellt werden. Wenn auch das Konzept des Lebenshauchs schon bei den Vorsokratikern verbreitet war, ist hier auch an die neutestamentlichen Begriffe von pneuma und spiritus zu denken, an den lebendigen Geist Gottes, der hier freilich entgrenzt ist, nicht nur in der Seele des Gläubigen wirkt, sondern in der gesamten natura naturata.27 Dies wird in der Druckfassung an den folgenden Versen deutlich: Und es dringt und rinnt aus deiner ewigen Fülle Die beseelende Luft durch alle Röhren des Lebens. Darum lieben die Wesen dich auch und bliken und streben Unaufhörlich hinauf nach dir im freudigen Wachstum. Nicht nur der Dichter wird durch den Äther, die beseelende Luft, überhaupt erst animiert, sondern vielmehr alle Wesen; der Äther muss also in irgendeiner Weise in der physis und der psyche der Wesen präsent sein. Dennoch ist dieser Anwesenheit zugleich ein Mangel inhärent, der dieses Anwesende als Abwesendes empfinden lässt. Im Text folgt nun das von Goethe als ‚naturgeschichtlich‘ benannte Moment, das von der Pflanze zu den „edelen Thieren der Erde“ und schließlich zu den Vögeln führt, die allesamt aus der Entfernung die Nähe zu dem suchen, was sie letztenendes bestimmt. Sie als Seiende streben dem zu, was in ihnen wohnt, dieses in ihnen Wohnende strebt nach der Vereinigung mit dem undurchmischten, lauteren Äther über der Luft. Dieses Verhältnis wird als Anziehungskraft geschildert; die Rhetorik dieser Passage entspricht dem genau, handelt es sich doch, um in den Begriffen der antiken Rhetorik zu sprechen, um evidentia, die hier sowohl den Aspekt der enargeia – also der detaillierten Schilderung – als auch der energeia – also der Affekterregung, die durch diese, hier amplifizierende, Schilderung, hervorgerufen werden soll – umfasst. Tatsächlich ist einer dieser Affekte die Liebe, die hier als die empedokleische harmonia/philia konkretisiert wird: „auch den edelsten Thieren der Erde | Wird zum Fluge der Schritt, wenn oft das gewaltige Sehnen | Die geheime Liebe zu dir sie ergreift, sie hinaufzieht.“ Die Vögel sind in dieser Hinsicht das im doppelten Wortsinn höchste Anschauungsobjekt, da sie diesem Ziel der Vereinigung am nächsten kommen. Die fünfte Strophe nun handelt von der Hiesigkeit des Menschen. Dem vertikalen Schwung und dem Aufwärtsstreben der dritten und vierten Strophe – 27 So auch Jochen Schmidt, der den Ausdruck ,heiliger Othem‘ folgendermaßen kommentiert: „Diese Wendung zeigt wie diejenige von der ,beseelenden Luft‘ in v. 9, daß Hölderlin den Äther als Pneuma auffaßt.“ (in: Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Jochen Schmidt, Bd. I, S. 601).

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hierin vor allem dargestellt durch „des Aether Lieblinge“, die Vögel – wird nun das Horizontale entgegengesetzt. Es fehlt der Stab, an dem die Rebe emporranken könnte, der Entzug des Äthers wird deutlich: Es gibt nichts, an dem man sich aufrichten und anhand dessen man die vertikale Vereinigungsbewegung mit dem Äther ausüben könnte. Wir breiten „wie die irrende Rebe […] über dem Boden uns aus, und suchen und wandern | Durch die Zonen der Erd’, o Vater Aether! vergebens“. Hierbei kommt der Rebe gleich eine dreifache Bedeutung zu. In der Tradition der Emblematik des 17. Jahrhunderts bezeichnet das Emblem der Rebe, deren Stützpfahl umgesunken ist, die betrogene Hoffnung,28 Darüber hinaus wird die Eigenheit der Weinrebe, sich auf dem Boden horizontal auszubreiten, metaphorisch als amplificatio dieser betrogenen Hoffnung, die gleichsam die conditio humana ist, beschrieben; zudem steht der Weinstock in einem wesentlichen symbolischen Bezug zu Christus und einem metonymischen zu Dionysos. Dies sind zwei wesentliche Erzählungen, die Hölderlin immer wieder, vor allem aber in seiner Elegie Brod und Wein, zusammenzudenken versucht hat, wobei in diesem Zusammenhang der christologische Aspekt – und dies ex negativo – betont wird. So ist – nach Joh 15, 1-8 – Gott der Weingärtner, Jesus der Weinstock, die Reben die Jünger bzw. die Gläubigen überhaupt. Nun betont Jesus im vierten Vers: „Bleibt in mir/vnd ich in euch. Gleich wie der Rebe kan keine Frucht bringen von jm selber/er bleibe denn am Weinstock/Also auch jr nicht/jr bleibet denn an mir.“ Das ‚ich‘ bei Hölderlin befindet sich also im Zustand absoluter Gottverlassheit, die durch nichts mehr kompensierbar scheint. Die Horizontalität wird nun bekräftigt durch den, nach Pythagoras, ‚dichten Äther‘ des Meers: „In die Meeresfluth werfen wir uns, in den freieren Ebnen | Uns zu sättigen, und es umspielt die unendliche Woge | Unsern Kiel und es freut sich das Herz an den Kräften des Meergotts.“ Diese Horizontalität aber schließt jegliche Tiefe und Höhe aus, sie ist nur ein unzulänglicher Ersatz für den Äther, gleichwohl dessen tertium comparationis: „Dennoch genügt uns nie, denn der tiefere Ocean reizt uns | Wo die leichtere Woge sich reget – o wer an die goldnen | Küsten dort oben das wandernde Schiff zu treiben vermöchte!“ Dieses Schiff wäre im Äthermeer, während jenes allein auf dem Meer ist: „es umspielt die unendliche Wooge | Unsern Kiel“. Das Moment des Umgebenseins wird also auf der See nicht erfüllt. Die letzten fünf Verse verdienen besondere Aufmerksamkeit: Aber indeß ich hinauf in die dämmernde Ferne mich sehne, Wo du die fremden Ufer umfängst mit der bläulichen Wooge Kömmst du säuselnd herab von des Fruchtbaums blühenden Wipfeln, Vater Aether! und sänftigest selbst das strebende Herz mir, Und ich lebe nun gerne, wie sonst, mit den Blumen der Erde. 28 Vgl. Emblemata, Sp. 262f.

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Dies sind die Verse der Druckfassung; in dem ersten Entwurf lautet diese Passage, an der Hölderlin fast keine Korrekturen mehr vorgenommen hat, so: Aber indeß ich hinauf in die dämmernde Ferne mich sehnte Wo du die fremden Ufer umfängst mit der bläulichen Wooge Kamst du säuselnd herab von des Fruchtbaums blühenden Wipfeln Vater Aether und tränktest mich mit verjüngendem Othem Und der Othem erwarmt in mir und ward zum Gesange. Blumendüfte bringt die Erd, und Stralen die Sonne, Aber die Lerche des Morgens und ich, wir brachten ein Lied dir.29 Während der Äther im ersten Entwurf also noch explizit poetologisch situiert wird, scheint diese Akzentuierung in der Endfassung auf den ersten Blick komplett getilgt. Bevor wir zu diesem Problem kommen, sei zunächst auf die radikale Umkehrung der aufstrebenden Bewegung in den Strophen 2, 3 und 4 hingewiesen, die allerdings die in der ersten Strophe beschriebene ‚Gießrichtung‘ des Äthers wiederaufnimmt. Die Quelle hierfür ist Vergils Georgica. In der allegorischen Beschreibung des Frühjahrs heißt es dort: Ver adeo frondi nemorum, ver utile silvis; vere tument terrae et genitalia semina proscunt. tum pater omnipotens fecundis imbribus Aether conuigis in gremium laetae descendit et omnes magnus alit magno commixtus corpore fetus.30 Der Äther wird also als das die Erde befruchtende Element gedacht; dieser ebenfalls auf Pythagoras zurückgehende Gedanke, nach dem alles Lebendige überhaupt erst durch den Äther lebendig wird, verdankt sich der Paarung von Äther und Erde, die hier als ein Zeugungsakt dargestellt wird, bei dem sich die Elemente durchmischen; der Äther neigt sich also herab (descendit), und indem er sich herabneigt, verliert er sogleich seine Lauterkeit und damit eine seiner wesentlichen Eigenschaften. Bei Hölderlin nun behält er gewissermaßen diese Eigenschaften, indem er sie verliert. Der Äther vermischt sich nicht, sondern wird in und mit dem Dichter „zum Gesange“ transformiert, wobei abermals dem Äther die Zweiheit von Gabe und Geber zukommt: „du tränkest mich mit verjüngendem Othem | Und der Othem erwarmt in mir und ward zum Gesange.“ Dieser Ge29 Hölderlin: Jambische und hexametrische Formen, S. 37. 30 Vergil: Georgica, II, S. 58f: „Besonders gedeihlich ist der Frühling dem Laub der Baumgärten und den Wäldern; im Lenz strotzt der Boden und lechzt nach dem zeugenden Samen. Nun senkt sich der allmächtige Vater Äther mit fruchtbaren Schauern in den Schoß der fruchtbaren Gattin, und er, der Gewaltige, beseelt, mit dem mächtigen Körper vermischt jedweden Trieb.“

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sang wird nun in einem kunstvollen Chiasmus, der zugleich das Gegeneinander der im Text dargestellten Auf- und Abbewegungen noch einmal akzentuiert, mit Naturphänomenen verschränkt: [a’] [b’] Blumendüfte bringt die Erd, und Stralen die Sonne, ✕ [b’’] [a’’] Aber die Lerche des Morgens und ich, wir brachten ein Lied dir. Der vorletzte Vers spricht das Olfaktorische, Haptische, Optische an, das eindeutig auf Seiten der natura naturata liegt, der letzte Vers das Auditiv-Literarische, wobei zwischen der Lerche und dem ‚ich‘ des Textes abermals eine Scheidung von Kultur und Natur zu liegen scheint oder deren letztendliche Identität, da sowohl der Gesang der Lerche als auch der des Dichters einer Quelle entstammt. Gemäß der Anordnung der Worte scheint der Dichter zunächst mit der Lerche gleichgesetzt zu werden; nimmt man aber die chiastische Anordnung der vier Elemente Blumen, Sonne, Lerche, Dichter ernst, so ist die Lerche der Sonne zugeordnet, was plausibel ist, da der Gesang der Lerche wie auch die Strahlen der Sonne von oben kommen, während der an den Äther adressierte Dichtergesang und die ‚Blumendüfte‘ gemein haben, dass sie der Erde entspringen und nach oben steigen. Erst aus dieser Konstellation erklärt sich der letzte Vers der Druckfassung, der vom Zusammenhang zwischen Blumen und Dichter spricht: Und ich lebe nun gerne, wie sonst, mit den Blumen der Erde. Bemerkenswert ist genau in diesem Zusammenhang auch der Wechsel vom erzählenden Präteritum zum Präsens. Während die Vorfassung von einem einmaligen, abgeschlossenen Ereignis berichtet, das in den Gesang an den Äther mündet, bezeichnet das Präsens – vor allem im letzten Vers – Dauer. Die Blumen ersetzen den Äther oder das Sehnen nach dem Äther. Schon in der Vorfassung etabliert sich eine gewisse Zirkularität hinsichtlich des Gefüges von Gebendem, Gabe und Nehmendem. Das Lied ist der Gesang, der ja der Äther ist. Der Äther gibt sich also selbst zurück. Er gibt sich dem Dichter, dieser verwandelt den Äther in einen panegyrischen Gesang, der an den Äther zurückfließt – dieser Gesang hat gleichwohl keine Konstanz. Erst die Blumen – angedeutet in der ersten Fassung als simile von Blumenduft und Dichter, ausgeführt im letzten Vers der Druckfassung – scheinen die Erfahrung des Äthers, ja diesen selbst, zu bewahren und aufzuheben und dies in einer Weise, dass der Gesang in jener Fassung gar nicht mehr erwähnt wird. Die Blumen der Erde – das Leben mit ihnen – führt dazu, dass das ‚ich‘ gerne lebt, dass das Sehnen und das bisweilen schmerzvolle Streben nach der Vereinigung mit dem Äther zu einem Ende kommt. Es ist das Ende eines

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kontinuierlichen Transformationsprozesses der vom Äther über den Gesang zu den Blumen der Erde führt. In anagrammatischer Verkehrung findet sich in den ‚Blumen der Erde‘ noch der metonymische Bezug zum Gesang als ‚Blumen der Rede‘. Die adjektivische Wendung ‚wie sonst‘ akzentuiert,31 dass die jahreszeitlich-zyklische Neigung des Äthers zur Erde im Frühjahr in einer Permanenz endet, die der des reinen Äthers in der Schicht über der Luft entspricht. Diese Entsprechung wird über die Verwandlung des Äthers in Gesang und Sprache sowie durch Transformationen innerhalb der Sprache – seien diese textgenetisch oder anagrammatisch – etabliert. Erst diese Verwandlungen führen zu einem befriedigenden, den Text schließenden, Ende: ‚Und ich lebe nun gerne, wie sonst, mit den Blumen der Erde‘.32

3 Edgar Allan Poe hat den Äther in seinen Texten wiederholt – und zum Teil äußerst widersprüchlich – diskutiert; diese Diskussion findet immer in Zusammenhang mit kosmologischen Spekulationen statt. Zum einen in dem großen essayistischen Entwurf Eureka (1848) – auf den ich mich hier konzentrieren werde – zum anderen in dem Jenseitsdialog The Power of Words (1845) sowie in der Erzählung Mesmeric Revelation (1844). Die ausführlichste Darstellung des Äthers bei Poe findet sich in seinem ‚Prose Poem‘ Eureka, An Essay on the Material and Spiritual Universe, in dem er nicht weniger diskutiert als dessen „Essence, its Origin, its Creation, its Present Condition and its Destiny“; zu Beginn macht er das Programm seines Textes deutlich: „My general proposition, then, is this: – In the Original Unity of the First Thing lies the Secondary Cause of All Things, with the Germ of their Inevitable Annihilation.“ In diesem Essay, der zwischen naturphilosophischer Betrachtung und Analyse einerseits und der Parodie naturphilosophischer Diskussionen andererseits schwankt – ohne dass 31 Sonst weist sie „gewöhnlich auf regelmäsziges geschehen zu anderer zeit oder einen andern dauernden zustand“ (Deutsches Wörterbuch, Bd. XVI, Sp. 1744). 32 Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang, ob die mehr als rätselhafte Stelle aus dem schwierigsten Blatt des Homburger Foliohefts, die Knaupp in seiner Edition folgendermaßen liest: „Ursprünglich aus Korn, nun aber zu gestehen, bevestigter | Gesang von Blumen als | Neue Bildung aus der Stadt“ nicht so interpretiert werden kann, dass „bevestigter | Gesang von Blumen“ einen Terminus darstellt, der sowohl behauptet, dass von den Blumen ein oder der ‚bevestigte Gesang‘ ausgeht oder sie schließlich dieser Gesang sind. (Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Michael Knaupp, Bd. I, S. 423). Angesichts des Faksimiles der Handschrift scheint mir diese Lesart auch am plausibelsten. In der Edition Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente (Bd. XI, S. 85) zieht Sattler das ‚als‘ vor und liest die Stelle folgendermaßen: „bevestigter | Gesang als von Blumen“. Zu diesem Zusammenhang – auch in Bezug auf die Gabe – vgl. Schestag: „Worte, wie Blumen“, S. 269-275.

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nun jedem Passus jeweils eindeutig eines dieser Genera zugeschrieben werden könnte – findet eine extensive Diskussion des Äthers an dessen Schluss statt. Einer der Hauptgegenstände der Rede ist die ursprüngliche Einheit aller Dinge; die ungenannte Autorität, die gleich zu Beginn des Essays metonymisch evoziert wird, ist Empedokles: He who from the top of Ætna casts his eyes leisurely around, is affected chiefly by the extent and diversity of the landscape. Only by a rapid whirling on his heel could he hope to comprehend the panorama in the sublimity of its oneness. But as, on the summit of Ætna, no man has thought of whirling on his heel, so no man has ever taken into his brain the full uniqueness of the prospect; and so, again, whatever considerations lie involved in this uniqueness, have as yet no practical existence for mankind.33 Mit dieser vorgestellten Drehbewegung nimmt Poe die unity, die am Ende des Essays eine wesentliche Rolle spielt, vorweg.34 Diese Idee der Einheit aller Materie aber – die Anfang wie Ende der Welt wäre – wird bei Empedokles formuliert, der sich der Sage nach in das Feuer des Ätna gestürzt hat. In seiner Kosmogonie geht Empedokles zunächst von einer ewigen, vollkommenen und harmonischen Mischung aller Elemente aus, von denen keines vernichtet werden kann; in der Welt, in der wir uns befinden, zeigen sich diese Elemente aber in unterschiedlichen Ver- und Entmischungen. Die vollkommene, kugelförmige, einheitliche Materieansammlung nennt Empedokles den sphairos. Der Anfang der Welt – der kein Anfang der Materie ist (diese ist ewig und ungeworden), sondern allein eine differentielle Spaltung der Einheit, die Empedokles als Einbruch des Streits35 beschreibt – besteht zunächst in der Abspaltung des Äthers. Der Streit ist hierbei zunächst als eine Kraft zu denken, die, ähnlich der Fliehkraft, zusammenhängende Elemente auseinanderreißt. Das Gefühl des Hasses und der Streit zwischen Menschen ist lediglich die anthropomorphe Variante dieser Kraft. Nach Aetios lehrt Empedokles folgendes: Empedokles sagt, daß (aus der totalen Mischung des Sphairos) zuerst der Äther [aithéra] (Luft) abgeschieden [diakrithénai] wurde, sodann das 33 Poe: Poetry, Tales, and Selected Essays, S. 1261. 34 Wohingegen die Landschaft um den Ätna für den Moment erhaben, auf Dauer aber nur ermüdend und deprimierend wirkt – so zumindest die Einschätzung Ellisons aus The Domain of Arnheim, der seine ‚domain‘ dort nicht zu errichten gedenkt, denn: „In looking from the summit of a mountain we cannot help feeling abroad in the world.“ (Ebd. S. 865) Sie ruft also gerade das Gefühl der Un-Einheit hervor. 35 Bei Diels/Krantz Die Fragmente der Vorsokratiker wird neikos mit ‚Streit‘, bei Mansfeld Die Vorsokratiker mit ‚Hass‘ übersetzt.

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Feuer, darauf die Erde, aus welcher, als sie durch die Geschwindigkeit des Umlaufes ringsum zusammengepreßt wurde, das Wasser emporgetrieben wurde. Aus diesem Wasser sei die Luft in Dampfform [aera] aufgestiegen, und der Himmel sei aus dem Äther entstanden, die Sonne aus dem Feuer, während die Dinge um die Erde aus den anderen (Elementen) komponiert wurden.36 Am Ende der Zeit bzw. eines Zyklus’ dieser Zeit wird das Entmischte wieder in seine totale Einheit zurückversetzt: „Einmal wachsen sie zusammen, um ein alleiniges Eines zu sein aus mehreren, das andere Mal entwickeln sie sich zu Verschiedenem, daß sie Mehreres sind aus Einem.“37 Die Kraft aber, die die Dinge wieder zusammenführt, ist bei Empedokles die harmonia/philia, die Liebe, die als Gegenkraft zum Streit, die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen sucht – insofern besetzt jene eine ähnliche Stelle wie der Äther bei Pythagoras und Hölderlin, indem sie ein Band zwischen Himmel und Erde, aber auch zwischen den Menschen knüpft. Genau dieses Prinzip zweier entgegenwirkender Kräfte findet Empedokles nun sowohl in der Natur als auch in der Psyche des Menschen. Kraft und Gegenkraft sind hier so wesentlich aufeinander bezogen wie die Mischung der Seele aus Äther und der Luft (dem ‚kalten Äther‘) bei Pythagoras, nur ist die Antithetik deutlicher hervorgehoben als bei diesem. Hervorzuheben ist, dass in der Naturphilosophie des Empedokles harmonia/philia und Äther keineswegs identisch sind.38 Das Erscheinen 36 Die Vorsokratiker, Bd. II, S. 91, Frgm. 43. Im zitierten Passus stammen die Zusätze in eckigen Klammern von mir, die in runden Klammern von Mansfeld. Seine Wiedergabe von aithéra mit ‚Luft‘, aera mit ‚Luft in Dampfform‘ beruft sich auf Fragment 56 (bei Wright 27), in dem zwischen der feuchten, meerentsprungenen Luft und der oberen Luft, ‚Titan Äther‘, „der sich um den ganzen Kreis herumpreßt {oder: alles im Kreise zusammenhält}“ unterschieden wird (ebd. S. 99). Wright kommentiert in seiner Ausgabe: „The terms are used here in a cosmogonical context for the two obvious divisions of air – the mist close to the earth’s surface, and the bright sky above, seen as the encircling [oupanós], containing and confining the world within itself.“ (Wright, Empedocles, S. 197). 37 Die Vorsokratiker, Bd. II, S. 79, Frgm. 25. 38 So will es Milutis in der Einleitung zu seiner Studie, deren historischer Abriss leider nur als impressionistisch bezeichnet werden kann: „A love supreme is the ether, too, and for this insight we have Empedocles to thank. In addition to formulating Love as nature’s fifth element (with Strife as antithesis), Empedocles began to ally the universe to intellect, a theory that remains operative from Newton all the way to Buckminster Fuller.“ (Milutis, Ether, S. xvi, vgl. auch xiv). Ein Hauptproblem in der Studie von Milutis liegt darin, dass er den Begriff des Äthers und das Wort ‚Äther‘ sowohl in ihren jeweiligen Konstellationen als auch im Bezug aufeinander als kontinuierlich annimmt. Eine Studie, die sich dem Begriff und der Semantik von ‚Äther‘ zu nähern sucht, müsste aber von Transformationen, Disparitäten und Widersprüchen ausgehen.

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des Äthers ist vielmehr das erste Symptom des Streits, ihm wohnt aber gleichzeitig in Hinsicht auf die Welt eine bindende Kraft inne; so spricht er vom ‚Titan Äther‘, „whose circle binds all things fast.“39 Das heißt, er umgreift sowohl den Streit als auch die Liebe. Diese Idee transformiert Poe, wenn er dem Äther eine aktive Rolle zuschreibt, was zudem einen Bezug zu der Ponderabilitätstheorie des Lichts bei Schelling erkennen lässt; allerdings steht hier nicht das Licht, sondern die Gravitation im Mittelpunkt. Der Äther wird von Poe nicht länger als Element, sondern als Kraft situiert, die der Gravitation entgegensteht. Es ist zu betonen, dass dem Äther diese Kraft nicht zugeschrieben wird, sondern dass er diese Kraft ist. Äther und Gravitation sind laut Poe die reinsten Erscheinungsformen von Anziehung und Abstoßung, von „Attraction and Repulsion“. Poe schlägt nun einen Begriff von Materie vor, der davon ausgeht, dass diese ausschließlich als das Produkt dieser Kräfteverhätnisse denkbar ist: „[W]e are fully justified in assuming that Matter exists only as Attraction and Repulsion – that Attraction and Repulsion are matter.“40 In diesem Zusammenhang muss Poe zunächst ausschließen, dass der Äther als retardierender Äther begriffen wird, d. h. dass er als die Ursache für die Verminderung der Geschwindigkeit der Gestirne und schließlich für den Kollaps der Sonnensysteme bzw. des Kosmos angesehen wird. Unter Berufung auf Lagrange erklärt Poe, dass die Unregelmäßigkeiten in den Bahnen der Himmelskörper auf nichts anderem beruhen würden als auf der Transformation von elliptischen Bahnen in kreisförmige und vice versa: „In the case of the Earth, the orbit is passing from ellipse to circle. The facts thus demonstrated do away, of course, with all necessity for supposing an ether, and with all apprehension of the system’s instability – on the ether’s account.“41 Warum dies so wichtig ist und der Äther explizit als Grund für die Kollabierung ausgeschlossen werden muss, wird weiter unten deutlich. Poe fährt zunächst fort: It will be remembered that I have myself assumed what we may term an ether. I have spoken of a subtle influence which we know to be ever in attendance on matter, although becoming manifest only through matter’s heterogeneity. To this influence – without daring to touch it at all in any effort at explaining its awful nature – I have referred the various 39 So übersetzt Wright das oben erwähnte Fragment 27 (56 in der Ausgabe von Mansfeld: Die Vorsokratiker) (Wright: Empedocles, S. 196). 40 Poe: Poetry, Tales, and Selected Essays, S. 1283. Dieser Gedanke, den Poe am Ende seines Textes noch einmal expliziert, führt einen Satz aus der Einleitung zu Schellings Weltseele weiter (der sich seinerseits auf Kants Metaphysische Anfangsgründe bezieht): „Es ist sehr wahr, daß ein Körper nur da wirkt, wo er ist, aber es ist ebenso wahr, daß er nur da ist, wo er wirkt, und mit diesem Einen Satz ist die letzte Brustwehr der atomistischen Philosophie überstiegen.“ (Schelling: „Von der Weltseele“, S. 71). 41 Ebd. S. 1351.

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phenomena of electricity, heat, light, magnetism; and more – of vitality, consciousness, and thought – in a word, of spirituality. It will be seen, at once, then, that the ether thus conceived is radically distinct from the ether of the astronomers; inasmuch as theirs is matter and mine not.42 Der Äther ist diese ‚subtle influence‘, die Kraft, die die Dinge dieser Welt in buchstäblich allen möglichen Weisen auseinanderdifferenziert und auseinanderhält und deren Zusammenfall aufhält. Die theologische Dimension dieses Arguments liegt auf der Hand: Der Äther verhindert, dass die gesamte Materie dieser Welt – und zu dieser zählen auch Bewusstsein und Gedanken – kollabiert und in den, nach Poe, paradiesischen Zustand absoluter Einheit zurückfällt; dabei zerfällt zugleich der Begriff der Materie, da diese allein in den Kräften von Anziehung und Abstoßung besteht (s. o.): When, on fulfilment on its purposes, then, Matter shall have returned into its original condition of One – a condition which presupposes the expulsion of the seperative Ether, whose province and whose capacity are limited to keeping the atoms apart until that great day when, this Ether being no longer needed, the overwhelming pressure of the finally collective Attraction shall at length just sufficiently predominate and expell it: – when, I say, Matter, finally expelling the Ether, shall have returned into absolute Unity, – it will then (to speak paradoxically for the moment) be Matter without Attraction and without Repulsion – in other words, Matter without Matter – in other words, again, Matter no more.43 Zwei Kategorisierungen des Äthers fallen hier auf: Zum einen, dass Poe den Äther nicht als – auch noch so feinstoffliche – Materie denkt und sich somit explizit von einer herrschenden Lehrmeinung des 17. bis 19. Jahrhunderts absetzt, zum anderen, dass sein Wesen als ‚awful‘ – das hier dezidiert mit ‚schrecklich‘ wiedergegeben werden muss – beschrieben wird. Diese Passage aus Eureka ist, soweit ich sehe, der einzige Text überhaupt, der den Äther so ausgesprochen negativ wertet; sie widerspricht sowohl der vorsokratischen als auch der stoischen Auffassung und steht diametral gegen Hölderlin. Die entschieden antiidealistische Konzeption Poes besteht auf diesem antagonistischen Zug des Äthers. Dieser ist unaufhebbar, es sei denn mit dem Ende der Welt selbst, wenn die Materie des Universums ihrer „spiritual passion for oneness“44 nachkomme und zu ei42 Poe: Poetry, Tales, and Selected Essays, S. 1351f. Diese Definition ist freilich prekär, da Poe in Eureka konstatiert, dass die Materialität der Materie ohnehin allein aus den Kräften der Anziehung und Abstoßung besteht, s. u. 43 Ebd. S. 1355. 44 Ebd. S. 1352. In der Fußnote zum letzten Absatz macht Poe noch einmal deutlich,

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ner immensen Sphäre (re-)kollabiere; diese ‚passion‘ äußert sich in der Schwerkraft, die, nach Poe, „the strongest of forces“ überhaupt sei.45 Der Äther ist also das Individuationsprinzip in se, er verbindet nicht, er ist kein con und kein syn, sondern ein dis. Der Äther fungiert als Demiurg, der die individuellen Erscheinungen schafft und auseinanderhält. Er hält schließlich noch das (ersehnte) Weltende auf, indem er gegen die zur Vereinigung strebende Gravitationskraft wirkt. Dieser Zustand des Auseinandergehaltenseins kann nur durch die restlose Tilgung des Äthers abgeschafft werden. Ähnlich wie Empedokles geht Poe von einem zyklischen Verlauf zwischen der Einheit des sphairos und ausgestreuter Materie aus. D. h., wenn alles in die Einheit zurückgekehrt ist, macht sich bald wieder die Entzweiung durch die Kraft des Äthers bemerkbar. Das Universum ist in Poes pantheistischem Entwurf ein „Divine Being, who thus passes his Eternity in perpetual variation of Concentrated Self and almost Infinite Self-Diffusion. What you call The Universe of Stars is but his present expansive existence.“46 Innerhalb der Schriften Pose ist dieser Ätherbegriff keineswegs konstant. In der Erzählung „The Power of Words“47 entfaltet Poe eine lineare Kosmolowarum die Erfüllung dieser passion den Verlust der Indivudualität mehr als nur kompensiert: „The pain of the consideration that we shall lose our individual identity, ceases at once when we further reflect that the process, as above described, is, neither more nor less than that of the absorption, by each individual intelligence, of all other intelligences (that is, of the Universe) into its own. That God may be all in all, each must become God.“ (Ebd. S. 1359, Fn.). 45 Poe: Poetry, Tales, and Selected Essays, S. 1298. 46 Ebd. S. 1358. 47 Die andere Erzählung Poes, in der er vom Äther spricht, „Mesmeric Revelation“, gehört nicht zu den, im strengen Sinne, kosmologischen Überlegungen, die Poe in Eureka an den Äther knüpft. Auch die Behauptung des Zusammenhangs von Mesmerismus und Äther, wie ihn Milutis in seiner Studie konstatiert (vgl. Milutis: Ether, S. 16-21, vgl. auch passim), kann nicht aufrecht erhalten werden, da dieser Zusammenhang in Mesmeric Revelation überhaupt nicht hergestellt wird. Die Szene des Mesmerismus ist hier – ganz ähnlich den Dialogen der englischen Protagonisten in den genannten Jenseitsdialogen – vielmehr ein Darstellungsmittel, bei dem der Mesmerismus selbst fast gänzlich außer Betracht bleibt. Es geht hierbei um den Status des Menschen bzw. seiner Seele nach dem Eintritt des Todes. Diese Szene lässt sich keineswegs mit dem Thema des Äthers – und erst recht nicht mit dem Ätherbegriff, den Poe in dieser Erzählung entwickelt – in Verbindung bringen; Poe zieht den ‚luminiferous ether‘ lediglich als provisorischen Vergleich heran: „We have, for example, a metal, a piece of wood, a drop of water, the atmosphere, a gas, caloric, electricity, the luminiferous ether.“ Wie sich also nun der lichtleitende Äther zum Metall verhält, so verhalte sich das ‚Medium‘, in dem sich die Seele des Verstorbenen dann befinde – eine „unique mass – an unparticled matter“ (Poe: Poetry, Tales, & Selected Essays, S. 721) – zum lichtleitenden Äther. In dieser ungeteilten Materie ist die Wahrnehmung nun nicht mehr durch die Sinne beschränkt und entstellt, sondern nimmt das gesamte Universum instantan so wahr, wie es ist. Diese ungeteilte Materie nennt Poe hier Spirit.

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gie, innerhalb derer das Ende der Welt nur ein Ereignis in einer buchstäblich unabsehbaren Unendlichkeit ist. Diese steht nicht nur der in Eureka entwickelten zyklischen Kosmologie entgegen, auch der Äther wird anders bewertet: Er ist nicht länger ‚awful‘, sondern bekommt einen höchst ambivalenten Status zugeschrieben. In diesem Dialog diskutieren die zu Engeln gewordenen Seelen zweier Verstorbener – von denen sich der eine, Agathos, bereits länger in diesem Seinszustand befindet, während der Neuankömmling, Oinos, gerade erst den „final overthrow of the earth“48 erlebt hat – die Begriffe Gott, Welt, Gedanke, Sprache und Schöpfung. Die Welt selbst wird hierbei, verkürzt gesagt, als permanenter Schöpfungsprozess beschrieben, wobei jeder einzelnen Schöpfung – und sei es auch ‚nur‘ (vergleiche den Titel der Erzählung) ein ausgesprochener Gedanke – unendliche Konsequenzen zugesprochen werden. Die komplexen naturphilosophisch-mathematischen Diskussionen, die sich um den Begriff des schöpferischen Impulses, seine Unkontrollierbarkeit und seine Folgen ranken sowie um die mögliche Vorausberechenbarkeit seiner Effekte und die Ableitbarkeit der jeweiligen schöpferischen Impulse zu einem gegebenen Zeitpunkt, können hier nicht ausführlich diskutiert werden.49 Diese Schöpfungen werden in den letzten Absätzen mit der Sprache in Zusammenhang gebracht: Um Oinos, der mit der neuen Umgebung nicht vertraut ist, die Kraft der Sprache verständlich zu machen, spricht Agathos zunächst nur in irdischen Begriffen von Impulsen auf die Luft und ihren Konsequenzen. Ein Wort hat laut Agathos auch einen physischen, wirkenden Aspekt: „And while I thus spoke, did there not cross your mind some thought of the physical power of words? Is not every word an impulse on the air?“ Diese Wirkung wird auch sogleich vorgeführt, indem die beiden englischen Seelen einen Planeten überfliegen, der in der Beschreibung von Oinos „the greenest and yet most terrible of all we have encountered in our flight“ sei. „Its brilliant flowers look like a fairy dream – but its fierce volcanoes like the passions of a turbulent heart.“ Agathos 48 Poe: Poetry, Tales, and Selected Essays, S. 823. 49 Einen ersten Versuch hierzu habe ich im Schlusskapitel von Absehen - Wissen - Glauben unternommen. Die Rede ist in Poes Text von ‚Angelic Intelligences‘, die die Fähigkeit haben, sich „all epochs, all effects to all causes“ qua Berechnung vorzustellen (wenngleich „short of the absolute perfection“, da diese allein Gott vorbehalten bliebe) (Ebd. S. 824f.). Im Prinzip handelt es sich dabei um nichts anderes als um eine mathematische Simulation sämtlicher Schöpfungsprozesse, die zugleich absolute Kontingenz, absoluten Determinismus und absolute Providenz impliziert – wenn Providenz hier nicht im Sinne eines ausgelegten und durchgeführten Plans verstanden wird, sondern als die Möglichkeit absoluten Vor- und Nachvollzugs. Es scheint aber so, dass Gott – angesichts der Tatsache, dass er „The Most Happy“ sei – darauf verzichtet hat, seine Fähigkeit zu dieser Berechnung tatsächlich auszuspielen, denn, so sagt Agathos, eine der engelgewordenen Seelen: „Ah, not in knowledge is happiness, but in the acquisition of knowledge! In for ever knowing, we are for ever blessed; but to know all would be the curse of a fiend.“ (Ebd. S. 822).

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bestätigt diese Interpretation: „I spoke it – with a few passionate sentences into birth. Its brilliant flowers are the dearest of all unfulfilled dreams, and its raging volcanoes are the passions of the most turbulent and unhallowed of hearts.“50 Die Gefühle Agathos’ werden so zum Audruck gebracht, dass Oinos sogleich in der Lage ist, diese richtig zu entziffern; gleichwohl bleibt diese Darstellung ‚terrible‘, da sie das Schöne mit dem Furchterregenden kontrastiert und eine höchst ambivalente Schöpfung vorstellt, die in ihrer Gesamtheit nicht bewusst intendiert war. Aber das vollständige Bewusstsein aller Aspekte wäre (s. o.) ‚the curse of a fiend‘; die Schöpfungsprozesse mögen vollständig determiniert sein, doch für das jeweilige Subjekt bleiben sie kontingent, solange es nicht in die Versuchung gerät die Determinanten und Determinationen vor- und nachzurechen, also zu simulieren. Was hat dies nun mit dem Äther zu tun? Die Luft, die von Agathos für Oinos als Synekdoche des Mediums der Schöpfungsimpulse genannt wird, ist nichts anderes als eine Synekdoche – also ein pars pro toto – der Totalität des Äthers:51 In speaking of the air, I referred only to the earth: – but the general proposition has reference to impulses upon the ether – which, since it pervades, and alone pervades all space, is thus the great medium of creation.52 In Hölderlins An den Aether wird der Äther als etwas verstanden, das durch die Sprache – also durch den Gesang, der seinerseits anderes als eine Transformation des Äthers gedeutet wird – transformiert und in den Blumen der Erde/Rede ‚bevestigt‘ und aufgehoben wird. Auch in Poes The Power of Words wird ein Zusammenhang zwischen Sprache und Äther etabliert, indem dieser als ein medium begriffen wird, innerhalb dessen die Sprache als die schöpfende Instanz wirkt. Obgleich die Situierung des Äthers in Eureka sich in wesentlichen Punkten von derjenigen in The Power of Words unterscheidet – da diese ein in die Zukunft gerichtetes, offenes Verständnis des Kosmos impliziert, jene aber den Verlust der unity als Mangel begreift, der durch die trennende Kraft des Äthers in die Welt 50 Poe: Poetry, Tales, and Selected Essays, S. 825. Die genaue Motivation für diese ‚passionate sentences‘ bleibt undeutlich. Agathos sagt lediglich, dass er sie „with clasped hands, and with streaming eyes, at the feet of my beloved“ aussprach. Es bleibt dunkel, weil unklar ist, ob die ‚beloved person‘ tot ist oder er von ihr zurückgewiesen wurde. Wäre sie aber damals tot gewesen, wäre Agathos hier im Jenseits wieder mit ihr vereint (wie im Dialog The Colloquy of Monos and Una) und er müsste nicht beim Anblick des Planeten weinen – es sei denn, dass die Transformation seiner eigenen Gefühle ihn derart affiziert. Unklar bleibt, setzt man eine Zurückweisung voraus, ob diese Szene schon hier – im ‚Jenseits‘ – oder noch dort – im ‚Diesseits‘ – stattfand. 51 Dies fügt sich natürlich auch zu der semantischen Diskussion von aér und aither bei Empedokles (s. o.). 52 Poe: Poetry, Tales, and Selected Essays, S. 825.

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gebracht wurde – so ist es die diakritische Disponierung des Äthers die beiden Konzepten gemein ist und die sowohl in der Differenzierung der Phänomene wie in der Differenz der Sprache deutlich wird.

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... und den ganzen Menschen zum Spielball elektronervöser Vibrationen machen

Laurence A. Rickels | Dem Schleier gleich

Laurence A. Rickels

Dem Schleier gleich Ich werde Dir besser erklären was Du bist […] Du bist ein Gespenst […] Naja, Du hast bekommen, was Paulus verspricht […] Du bist nicht mehr in einem vergänglichen fleischlichen Körper – Du hast stattdessen einen Ätherleib angenommen. (Philip K. Dick)

Es ist viel einfacher, sich selbst gehen zu lassen, als den anderen gehen zu lassen. In den frühen sechziger Jahren las (und fürchtete) Philip K. Dick Ludwig Binswangers Fallstudie der Ellen West1, deren wahnhafte Vorstellungen – die sich im Dickwerden äußerten – Binswanger dazu inspirierten, ihrer Unterwelt eine ätherische Welt gegenüberzustellen, auf deren Seite er sich selbst sah: somit auf Seiten seiner Patientin, als Beihilfe zu ihrer selbstmörderischen Flucht aus der Unterwelt.2 In seiner fiktiven Welt übertrug Dick die Ätherwelt auf den Horizont oder die Grenzlinie des Fantastischen und begrub die Unterwelt ein weiteres Mal unter der endlos uneingelösten Schließung des psychotischen oder metaphysischen Systems seiner Welt.3 Zu dem Zeitpunkt, als er sich die Binswanger-Studie einverleibte, war Carl Jung bereits Dicks Führer durch die Unterwelt, wie sie das Tibetanische Totenbuch kartografiert, das Dick zur gleichen Zeit in seinen Psy-Fi Diskurs einführte wie das I Ging, das er ebenfalls mitsamt einer Jungschen Einführung verschlang.4 Das Orakel vom Berge, der Roman, der beide Jungschen Inserate kombiniert, signalisiert auch den Beginn von Dicks typischer Umwertung alternativer Geschichten, Realitäten, und Welten. Seine Science Fiction-Erzählung aus dem Jahre 1962 besteht in der Injektion von zeitreisenden Verwerfungen in die Phase der Genesung von unserem schwersten Symptom, dem Nationalsozialismus. Die Handlung spielt in der Gegenwart – sagen wir 1961 – ,doch es ist noch nicht so lang 1

Sutin: Divine Invasions, S. 300.

2

Binswanger: „Der Fall Ellen West“.

3

Als „fantastisch“ bezeichne ich das Buchladen-Genre für Tolkiens Herr der Ringe und ähnliches, wo die Beziehung zu „anderen Welten“ durch Schleier und Nebel charakterisiert ist. Dieses Genre war Dicks erste Begegnung mit Literatur, eine erste Wahl, die er nicht verfolgte. In seinem Werk steht das Fantastische für eine schicksalsvolle Verführung.

4

Jung: „Psychologisches Geleitwort“.

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her, dass die Achsenmächte den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Kalifornier leben unter japanischer Besatzung. Durch diese ostasiatische Assoziation neigt der Alltag in Großjapan oder Kalifornien dazu, von Ratschlägen des I Ging organisiert zu werden. Zu eben dieser Zeit organisiert das chinesische Orakelbuch, das in Dicks Kalifornien ein Renner war, auch Dicks eigene Arbeit am Orakel vom Berge, das sein innerdiegetisches Simulakrum in einem Kultbuch, Die Plage der Heuschrecke, findet, in dem eine alternative Version der Geschichte konstruiert oder kontempliert wird, der zufolge die Alliierten den Krieg gewonnen haben. Sein Autor, Abendsen, schrieb seine Version ‚unserer‘ Geschichte ebenfalls in Kollaboration mit dem I Ging. Der ultimative Trendsetter, der all diese auseinanderdriftenden Trajektorien, einschließlich derjenigen eines Nazideutschlands, das an die Seite der kalifornischen Zukunft geschoben wird, zusammenspannt, ist Jung selbst, der Guru ostasiatischer Interessen sowohl vor Nazideutschland als auch nach dem zweiten Weltkrieg. Die verdrängte Nahtstelle dieser populären Rezeption Jungs ist der genaue Ort der geschichtsverdrehenden Fantasy. Schließlich erweist sich diese Fantasie als besonders wirkmächtig, weil ein Nebeneffekt der alliierten Propaganda, die bis heute den Sieg über die Nazi-Todessterne durch eine vereinte Front von Opfern und Verlierern inszeniert, darin besteht, dass wir uns von dem historischen Ergebnis des Konflikts dissoziieren: wir sind nicht wirklich sicher, dass die Nazis verloren haben, oder? Wie er selbst zugibt, klammert sich Herr Tagomi, ein hochrangiges Mitglied der japanischen Verwaltung in San Francisco, an einen Strohhalm, wenn er „Den Weg“ in einem Schmuckstück sucht, das, einem Händler von Geschichte und Authentizität (auf dem von der herrschenden japanischen Klasse hoch geschätzten Sammelgebiet vornehmlich amerikanischer Artefakte der Vorkriegszeit), zufolge einen „Keim der Zukunft“ beinhaltet. Zunächst muss er in seine „Gruftwelt“ hinabsteigen: Metall stammt aus der Erde, dachte er. Aus der Tiefe; aus dem niedersten, dichtesten aller Reiche. […] Die Welt des Yin in ihrer trostlosesten Form. Die Welt der Leichen, der Verwesung und des Zerfalls. […] Und dennoch funkelte das Silberdreieck im Sonnenschein. Es reflekierte Licht. Feuer, dachte Mr. Tagomi. Überhaupt kein feuchter oder dunkler Gegenstand. […] Das hohe Reich, eine Erscheinungsform des Yang: empyreisch, ätherisch. […] Ja, das ist die Aufgabe des Künstlers: Er holt ein Mineral aus dem finsteren, stummen Erdreich und transformiert es in die schimmernde, reflektierende Gestalt des Himmels. Das Tote zum Leben erweckt. Ein Leichnam, der auf einmal Feuer sprüht; die Vergangenheit hat der Zukunft Platz gemacht.5

5 Dick: Das Orakel vom Berge, S. 283-284.

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Die zitatgenauen Verweise auf Binswanger sind hier vermengt mit der Wegbeschreibung des Tibetanischen Totenbuchs bzw. Bardo Thödol, das Tagomi zusammenfasst, wenn er, den Empfehlungen der Einleitung Jungs folgend, die Route umkehrt, um an ihrem Ende, das der erlösende Anfang ist, das befreiende Licht am Ende der Welten im Rahmen der Welten der Wiedergeburt, gleichzeitig zu beginnen und zu enden: Und jetzt sprich mit mir, dachte er. Jetzt, da du mich gefangen hast. Ich will deine Stimme aus dem blendend hellen weißen Licht vernehmen, wie wir es nur in dem Leben nach dem Tod zu sehen erwarten, wie es im Bardo Thödol, dem Tibetanischen Totenbuch, geschildert wird. Ich aber brauche nicht auf den Tod zu warten, auf die Auflösung meiner Seele, die auf der Suche ist nach einem neuen Schoß. All die furchteinflößenden und wohlwollenden Gottheiten; denen gehen wir ebenso aus dem Weg wie den qualmenden Lichtern. Auch den in Vereinigung begriffenen Leibern. Allem, bloß nicht dem Licht. Ich bin bereit, ihm unerschrocken entgegen zu treten. […] Meine Ausbildung war richtig: Ich darf vor dem klaren, weißen Licht nicht zurückschrecken, sonst trete ich erneut in den Kreislauf von Geburt und Tod ein, ohne jemals Freiheit und Erlösung zu erfahren. Der Schleier der Maya wird wieder fallen, wenn ich… Das Licht verschwand.6 Doch jetzt, da der Vorhang fällt oder aufgeht, bemerkt Tagomi eine Veränderung des Bühnenbilds: er sieht zum ersten Mal, was ein Passant, irgendein Unterklassentyp, der ihm weder Respekt noch Aufmerksamkeit zollt, als Embarcadero Freeway identifiziert: Ein Alptraum, dachte Mr. Tagomi. Ich muss aufwachen. […] Alles wirkte düster und verräuchert. […] Eine Bardo Thödol-Existenz, dachte Mr. Tagomi. Der heiße Wind hat mich weiß Gott wohin geweht. Das ist doch eine Vision – aber welcher Art? Vermag der Geist so etwas zu ertragen? Ja, das Totenbuch bereitet uns darauf vor: Nach dem Tod erhaschen wir einen Blick auf andere Wesen, die uns ausnahmslos feindselig erscheinen. Man ist auf sich allein gestellt. Niemand steht einem bei. Die furchtbare Reise – und immer die Reiche des Leidens, der Wiedergeburt, bereit, den flüchtenden, demoralisierten Geist aufzunehmen. Wahnvorstellungen. […] Ein hypnotischer Zustand. Ein herabgesetztes Wahrnehmungsvermögen, so dass man in eine Art Dämmerzustand verfällt und nur mehr den symbolischen, archetypischen Aspekt der Welt wahrnimmt, vermischt mit unbewussten Vorstellungen.7 6 Ebd. S. 284-285. 7 Ebd. S. 286-288.

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Endlich beginnt er, sich über die Projektion zu beschweren – er wendet sich an den Schmuck und schreit, „erwache“8. Doch die Diffusion hört nicht auf, bis er seine eigene „gottverdammte Torheit“ widerruft. Tagomis Begegnung mit unserer Parallelwelt passt besser zum Projektionsmedium der Wahnvorstellung als zur Flucht ins Licht. Sobald eine alternative Geschichte der Wirklichtkeit existiert, ist Wirklichkeit alternativ oder alterniert. In dem Moment, in dem unsere Geschichte beginnt, sich aus dem Buch in Dicks Roman zu entfalten, bemerken wir, dass die wiederhergestellte Geschichte von eben demselben Veränderungsprozess gezeichnet ist. So fällt beispielsweise Berlin – jedoch an die Briten. Ein Nazi wirft einen Blick in das verbotene Buch und schaudert angesichts des Effekts solcher Fiktion: „ Ja, der Mann kann schreiben, dachte er. Hat mich vollkommen gefesselt. Der Fall von Berlin, so real als hätte er sich tatsächlich ereignet. Brrr. Er schauderte.“9 Dick verkehrt die von Jung in der Einleitung zum tibetanischen Totenbuch empfohlene Umkehrung und lässt Binswangers ätherische Welt als unrettbar in oder hinter die Unterwelt fallen. Dick abonniert die wesentlichen Überlegungen von Jung und Binswanger, indem er die negative Übertragung ausklammert, die diese dazu brachte, den Bezugsrahmen, den sie mit Freuds Wissenschaft teilten, zu christianisieren. So kann das einfache Redigieren von Einflüssen Gedanken über die Durchschnittlichkleit ihres Empfangs erheben. Losgelöst von Jungs Ressentiment und holistischem Humanismus ist z.B. der folgende Satz aus seinem Kommentar zum Tibetanischen Totenbuch durchaus Dicks oder Freuds würdig: Unähnlich dem Ägyptischen Totenbuch, über das man nur allzu wenig, oder allzu viel sagen kann, enthält der Bardo Thödol eine menschlich begreifbare Philosophie und spricht zum Menschen und nicht zu Göttern oder zu Primitiven. Seine Philosophie ist die Quintessenz buddhistischer, psychologischer Kritik und als solche – man kann wohl sagen – von unerhörter Überlegenheit. Nicht nur die „zornigen“, auch die „friedlichen“ Gottheiten sind sangsärische Projektionen der menschlichen Seele; ein Gedanke, der dem aufgeklärten Europäer nur allzu selbstverständlich vorkommen […] Derselbe Europäer aber wäre nicht imstande, diese wegen Projektion als ungültig erklärten Götter doch zugleich als real zu setzen.10 Um Jungs herausragende Formulierung freizuhalten von der unvermeidbaren Klebrigkeit seiner negativen Übertragung, muss selbst hier eine Klausel arroganten Zorns über europäische Banalität ausgelassen werden. Jung ist verärgert, weil das Tibetanische Totenbuch größtenteils mit elementarer freudscher Lehre überein8 Dick: Das Orakel vom Berge, S. 288. Auf Deutsch im Original. 9 Ebd. S. 166. 10 Jung: „Psychologisches Geleitwort“, S. 57.

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stimmt. Jung ist schlau genug, nicht zuzugeben, dass nur die christlich-nihilistische Umgehung ‚des Buchs‘ in all seinen Phasen mit Freuds System unvereinbar ist. Selbst dieser Aspekt jedoch bleibt zutiefst vereinbar mit Freud, sobald er als Selbstzerstörungsimpuls diagnostiziert ist, den das Buch zu überleben oder zurückdrängen sucht. Jung versucht, die Freudsche Psychoanalyse auf eine Phase zu beschränken, die direkt zur Wiedergeburt führt. Die Psychoanalyse in einem weiteren Sinn, die insbesondere Jungs Innovationen beinhaltet, bleibt „als Analyse des Unbewußten für therapeutische Zwecke die einzige Initiation, die heute im Westen gepflegt wird“.11 Bevor er Freud ausmustert, versucht Jung mit einem Mal die Psychoanalyse loszuwerden, zu verlieren in einer Überdehnung ihrer uralten Einflüsse und gibt ihre Substanz zugunsten einer christlichen oder psychotischen Zukunft auf. Im nächsten Satz entfährt Jung ein anderer Ursprung, doch einer, der mit der zu überwindenden Periode enden muss: Die ursprüngliche Form dieser Therapie ist, wie bekannt, die Freudsche Psychoanalyse, welche sich hauptsächlich mit sexuellen Phantasien beschäftigt. Dieses Gebiet entspricht dem letzten Abschnitt des Sidpa Bardo, wo der Abgeschiedene, unfähig die Lehren des Tschikhai und des Tschönyid Bardo aufzunehmen, anfängt, sexuellen Phantasien zu verfallen und dadurch von kohabitierenden Paaren angezogen wird, wo er alsdann in einem Uterus gefangen und wieder in die Erdenwelt geboren wird. Dabei tritt auch, wie es sich gehört, der „Ödipuskomplex“ in Funktion. […] Dieses spezifisch Freudsche Gebiet durchläuft der Europäer beim analytischen Prozess der Bewusstmachung unbewusster Inhalte in umgekehrtem Sinne. Er kehrt gewissermaßen zurück in die infantil-sexuelle Phantasiewelt usque ad uterum.12 Was von Tagomis expliziten Wünschen an der Schwelle zu einer anderen Welt bleibt, ist genau das, was Jung zu sichern versucht, in dem er die Umkehrung verschreibt: Es ist nun für den Osten schlechthin charakteristisch, dass die Belehrung immer mit dem Hauptstück, d. h. mit den letzten und höchsten Prinzipien beginnt, mit all dem, was bei uns zuletzt käme […] Dementsprechend verläuft die Initiation im Bardo Thödol als seine climax a majori ad minus und endet mit der Wiedergeburt in utero.13

11 Ebd. S. 65. 12 Ebd. S. 61f. 13 Ebd. S. 61.

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Rückwärts gelesen also, kann der Chikhai-Zustand, der im Original vor der Reise erscheint, nämlich im Moment des Todes, erreicht werden – und alles Übrige weggelassen: „Mit dieser Schlussvision löst sich das Karma und seine Illusion auf; das Bewusstsein wird von aller Form und aller Objektverhaftung gelöst und kehrt zurück in den zeitlosen Anfangszustand des Dharmakaya“.14 Doch Jungs eigene, kaum verhüllte Faszination verbleibt bei der ‚psychotischen‘ Phase der Totenreise, die er ebenfalls sorgfältig als unvereinbar mit Freuds Analyse charakterisiert. Jung liest noch immer rückwärts: Der Übergang vom Sidpa- zum Tschönyizustand ist also eine gefährliche Umkehrung der Strebungen und Absichten des bewußten Zustandes, eine Opferung der Sicherheit der bewußten Ichhaftigkeit und ein Sichhingeben an die äußerste Unsicherheit eines chaotisch erscheinenden Spiels phantastischer Figuren. […] es ist erst die Erschaffung eines Subjektes, dem zur Erfüllung noch das Objekt gegenüber treten muß. Dies scheint zunächst die Welt zu sein, die auch zu diesem Zwecke durch Projektionen aufgebauscht wird. Man sucht und findet seine Schwierigkeiten, man sucht und findet seinen Feind, man sucht und findet das Geliebte und Kostbare, […] Die Wirklichkeit, welche im Tschönyizustand erfahren wird, […] die Wirklichkeit der Gedanken. Die „Gedankenformen“ erscheinen als Wirklichkeiten, Phantasie nimmt reale Gestalt an und der durch das Karma, die unbewußten Dominanten, gespielte, schreckenerregende Traum hebt an.11 Die totale Wortherrschaft der Archetypen erlaubt Jung dort fortzusetzen, wo Freud angeblich anhält – etwa bei der farbkodierten Revue blutdürstiger Göttinen. Man darf es wohl als eine Tatsache feststellen, dass der abendländische, rationalistische Geist mit der Psychoanalyse bis in den sozusagen neurotischen Sidpazustand vorgedrungen und dort an der unkritischen Vorraussetzung, dass alle Psychologie eine subjektive und persönliche Angelegenheit sei, zum unvermeidlichen Stillstand gekommen ist. Immerhin haben wir mit diesem Vorstoß so viel gewonnen, dass wir wenigstens einen Schritt weit hinter unsere Bewusstseinsexistenz gekommen sind. Diese Erkenntnis gibt uns zugleich auch einen Wink, wie wir den Thödol zu lesen haben, nämlich von hinten. Wenn es uns gelungen ist, mit Hilfe abendländischer Wissenschaft den psychologischen Charakter des Sidpa Bardo einigermaßen zu verstehen, so liegt uns jetzt die eigentliche Aufgabe ob, auch den vorausgehenden Tschönyid Bardo dem Verständnis zu erschließen.15 14 Jung: „Psychologisches Geleitwort“, S. 69 15 Ebd. S. 67f.

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Da Jung die „Ganzheit des Selbst“ nicht aufgeben kann – noch die symbolische Natur der Welt und ihrer Erfahrungen, die „etwas widerspiegeln was im Subjekt verborgen liegt, in seiner transsubjektiven Realität“16 – folgen wir Dick und spulen (am Vorwort vorbei) vor zum Buch selbst.17 Der Reiseführer für die Toten beschreibt größtenteils einen Festmarsch der Projektionen, der viel attraktiver ist als das Nichts, in das die Gebrauchsanweisungen des Buches die Toten hineinführen sollen (ins Licht). Da sind z.B. hungrige Gespenster, die an anderen Stationen der Prozession Tieren, Menschen, und eifersüchtigen Göttern weichen, als eine von vielen Variationen auf das Thema der Versuchung durch den eigenen Geist in der Zeit, – der Versuchung, im Leben steckenzubleiben. Wenn man so von Angesicht-zu-Angesicht gesetzt wird, erreicht man, wie schwach auch die geistigen Fähigkeiten sein mögen, sicherlich Befreiung. Dennoch gibt es Klassen von Menschen, die, obgleich oft von Angesicht-zu-Angesicht gesetzt […] trotzdem nicht erkennen können: Ihre Verdunkelungen und ihr schlechtes Karma aus Begehren und Geiz erzeugen Schauer von Klängen und Strahlungen, so daß sie fliehen. (Wenn man zu diesen Klassen gehört), werden dann am vierten Tag der Amitaba und seine begleitenden Gottheiten zusammen mit dem Lichtpfad […], der aus Geiz und Anhänglichkeit kommt, ebenfalls einen empfangen. Wieder geschieht das Von-Angesicht-zuAngesicht setzen, indem man den Verstorbenen beim Namen ruft folgendermaßen: […] Am vierten Tag scheint das rote Licht, das die Urform des Elements Feuer ist. […] Zugleich damit scheint auf dich ein trübes rotes Licht […], das Seite an Seite mit dem Licht der Weisheit kommt. Handle so, dass du es nicht lieb gewinnst. Gib Anhänglichkeit (und) Schwäche (für es) auf. Zu dieser Zeit wirst du durch den Einfluß starker Anhänglichkeit von dem blendenden roten Licht erschreckt und vor ihm fliehen (wollen). Und du wirst eine Liebe für jenes trübe rote Licht des Preta-Loka gewinnen. Fürchte dich dann nicht vor herrlichen, blendenden, durchsichtigen, strahlenden roten Licht. Wenn du es als Weisheit erkennst […], fürchte es nicht. Laß Dich nicht von dem trüben Licht des Preta-Loka anziehen. Das ist der Lichtpfad, der aus den Ansammlungen deiner starken Anhänglichkeit (an sangrische Existenz) herrührt, der gekommen ist, dich zu empfangen. Wenn du dich daran klammerst, wirst du in die Welt unglücklicher Geister fallen und unerträgliches Elend von Hunger und Durst erreichen. Jenes trübe rote Licht ist eine Unterbrechung, um dich vom Pfad der Befreiung abzuziehen. Klammere dich nicht daran und gibt gewohnte Neigungen auf.18 16 Ebd. S. 63. 17 Ebd. S. 71. 18 Das Tibetanische Totenbuch, S. 118-120.

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Wie einfach ist es, die „Friedfertigen und Rachsüchtigen“ als ureigene Projektionen zu erkennen?19 Was sich hier lautstark als Ablehnung bemerkbar macht, ist, dass man zwar die Attraktivität dieser Grenzregion unbewusster Einbettung ins Leben verwünschen mag, es jedoch schwerlich loslassen kann, sondern es vielmehr immer weiter und weiter gehen lassen muss. Diesen Weg geht Dick jedoch, wenn er auf der Suche nach (und dem Versteckspiel mit) unseren Toten gegen die Empfehlungen seines Reiseführers alternative Wirklichkeiten entwirft. Es ist so viel einfacher, sich selbst gehen zu lassen, als den anderen gehen zu lassen. Während ihres Nervenzusammenbruchs – sie unterzieht sich gerade ihrer zweiten Analyse – registriert Ellen West einen Neuanfang: „Ich lese Faust wieder. Jetzt beginne ich ihn zum ersten Mal zu verstehen. Ich fange an; […]“20 Eine andere Patientin Binswangers bemerkt, wenn Goethe seinen Faust nicht geschrieben hätte, dann hätte sie es tun müssen. Es ist manisch deprimierend, dass er sie im Voraus plagiiert hat.21 In der Tat sind Ellens jugendliche Ausdrucksformen der Verzweiflung im Faust  lesbar: die graue Allegorie der Not sitzt an ihrem Grab. Der Tod erscheint ihr jetzt nicht als schreckliches sensenschwingendes Skelett, sondern als schöne Frau.22 In Faust II wird der Tod als Reim angekündigt, Not und Tod verknüpfend. Zu Beginn von Faust I erscheint der Erdgeist, der, wie Goethes eigene Illustration zeigt, platzhaltend den Tod bringt, aber in einer anderen Lesart auch das ewig Weibliche als Trauer als wunderschöner (gleichgeschlechtlicher) Doppelgänger, und dennoch oder eben deshalb Faust, dem ausdrücklich sein Spiegelbild versagt wird, endlos entzogen ist. Ellens Identifizierung wird bestimmt durch die Metathesis, die Fausts Streben ans Sterben bindet. Sie verzehrt die Welt, woraufhin diese sie als Unterwelt in den Arsch beisst. Das Verhältnis zum Essen erscheint ihr der Beziehung eines Mörders zum Schauplatz des Mordes vergleichbar. Dorthin drängt es den Mörder, der das Bild seines Opfers mit seinem inneren Auge sehen muss, obwohl er weiß, dass dies ihn verdächtig macht. Schlimmer noch, dieser Schauplatz, diese Szene sucht ihn heim, aber er kann es nicht ändern. Dennoch ist die Situation des Kriminellen nichts gegen Ellens Dilemma. Verbrecher können sich der Polizei ausliefern, sich um Wiedergutmachung bemühren. Ellens Rettung liegt allein im Tod.23 Während Kraepelin sie als Me19 Das Tibetanische Totenbuch, S. 112. 20 Binswanger: „Der Fall Ellen West“, S. 92. 21 „In einer mittelstarken manischen Phase vom Arzt bei der Lektüre des ‚Faust I‘ getroffen, erklärt die Kranke, sehr glücklich zu sein, daß Goethe vor ihr gelebt hat, sonst hätte sie das alles schreiben müssen! “ (Binswanger: „Melancholie und Manie“, S. 406). 22 Binswanger: „Der Fall Ellen West“, S. 78. 23 Vgl. ebd. S. 92-93.

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lancholikerin diagnostiziert, liest sie Faust II erneut.24 Ellen beschreibt ihre jetzige Situation so: Ein böser Geist begleitet mich und vergällt mir Freude an allem. Er verdreht alles schöne, alles natürliche, alles einfache, und machet eine Grimasse daraus. Er macht aus dem ganzen Leben ein Zerrbild.25 Es ist, als sei sie „verhext“.26 Jedes Mahl ist in der Tat ein „inneres Theater“27. „Ich fühle mich ganz passiv als der Schauplatz, auf dem sich zwei feindliche Mächte zerfleischen“.28 Träume von Schizophrenen setzen in der Regel ihre Realität im Wachzustand fort: sie träumt vom Tod oder Essen oder vom Essen und  Tod. Als sie in psychiatrische Behandlung kommt (ihr zweiter Analytiker wurde gefeuert), fürchtet sie sich vor den anderen Patienten; sie kommt sich vor wie eine tote Frau, die unter den Lebenden wandelt.29 Und sie kann nicht in der Öffentlichkeit essen: sie ist überzeugt, dass sie nicht eigentlich isst, sondern dass sie sich auf das Essen stürzt, dass sie es „wie ein Tier“ herunterschlingt, eine Behauptung, die sie sehr überzeugend für ihre Pfleger ausagiert.30 Der zweite Analytiker hatte sie als Zwangsneurotikerin mit starkem Hang zu manisch-depressiven und analen Fixierungen diagnostiziert. (Binswanger unterschätzt diese analytische Anschauung keineswegs in ihren Details, verwirft sie jedoch trotzdem im Ganzen, weil sie sich nicht auf die „Welt“, das eigentliche Zentrum der Daseinsanalyse bezieht.) Die Nähe zum Rattenmann in der psychoanalytischen Diagnose würde das Glitzern in Ellens Augen als auf andere gerichtet erfassen. Binswanger fordert ihren Cousin und Ehemann (ihre zweite Wahl nach ihrer wahren Liebe, dem ‚Studenten’, für den sie, wie sie fand, zu dick geworden war) dazu auf, seine Frau im Auge zu behalten und über sie Bericht zu erstatten. Er notiert für Binswanger, dass sie vor Neid erblasst, als sie vom Tod einer Freundin erfährt; sie „hat bei der Todesnachricht leuchtende Augen“.31 Binswanger sieht in diesem Leuchten das ätherische Licht der Flucht. Doch die problematische Verkuppelung von Essen und Tod kann nur an oder über den Anderen adressiert werden. Obwohl er ihr zu folgen behauptet, teilt Binswanger diese 24 Binswanger: „Der Fall Ellen West“, S. 94. 25 Ebd. S. 96. 26 Ebd. S. 92-93. 27 Ebd. S. 98. 28 Ebd. S. 101. 29 Vgl. ebd. S. 100. 30 Vgl. ebd. S. 100. 31 Vgl. ebd. S. 102.

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Ansicht nicht: auf ihr eigenes Ende kann „Ellen nicht warten!“ 32 „Ellens Todessehnsucht ist demnach Sehnsucht nach einem andern Tod als dem des Verendens und Moderns, ja noch Sehnsucht nach etwas anderem als dem unsterblichen Namen“.33 Zunehmend bedrücken sie bedrohliche Tiere. Gespenster bedrohen ihr Gewissen: Die hochfliegenden Pläne und Gedanken nehmen die Gestalt böser […] Geister oder Gespenster an […].34 Neu ist, daß die Todessehnsucht hier auch aus der ätherischen Welt selbst aufleuchtet. […] Wohl baut das Dasein sich hier ein Luftschloß in der ätherischen Welt, aber wir können genau verfolgen, wie dieser luftige Bau immer mehr von der Begierde herabgezogen wird auf, ja in die Erde, d.h. umgewandelt wird in eine Gruft oder ein Grab […].35 Die Schwerkraft und der Druck des verfallenden Lebens erweisen sich als stärker als der Schwung des aufstrebenden Lebens. Wenn die Ätherwelt zunehmend in die Defensive gezwungen wird, so ist die Lust bzw. der Hunger bereits Ellens Beschreibung ihrer besonderen Welt als „märchenhafte[s], süße[s] Land des Lebens“36 inherent. Hunger, der vorrangige Faktor in ihren Obsessionen, wie Ellen in der Analyse lernt, fällt sie an „wie ein Tier“.37 Das tierische Herunterschlingen der Nahrung knüpft die Schlinge, die sich genau deshalb zuzieht, weil sie dort bleibt, wo sie is(s)t: Dabei ist es nur scheinbar paradox, daß gerade der volle Magen das Gefühl der Leere verstärkt: Das leibliche Vollsein und Rundsein […] ist ja, von der ätherischen Welt her gesehen, (erlebter) Inbegriff der (geistigen) Leere. Die hungrige Gier nach dem Essen […], die Angst vor dem Dickwerden […] werden zur Schlinge, aus der das Dasein sich nicht mehr herauszuwinden vermag.38 Um Ellens Welt zu betreten, muss Binswanger deren Zeitlichkeit anerkennen. Zu diesem Zweck wird Temporalität als Heideggersche Ekstase aufgefasst, außer sich in der Konjunktion auf die Phänomene der Zukunft, des Gewesenen, und der Gegenwart. Das primär existentielle Phänomen der eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft, aber nicht eine Zukunft, die erhofft oder arrangiert ist. 32 Binswanger: „Der Fall Ellen West“, S. 120. 33 Ebd. S. 115. 34 Ebd. S. 121. 35 Ebd. S. 123-124. 36 Ebd. S. 126. 37 Ebd. S. 126. 38 Ebd. S. 127.

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Im Fall von Ellen West impliziert das fantastische Selbst eine unbestimmte und unbeschränkte Zukunft – einen Horizont leerer Möglichkeiten. Seine Räumlichkeit ist „die unbegrenzte, helle, leuchtende, farbenglänzende Weite, ihr kosmischer Aspekt sind Landschaft, Himmel, Meer, ihr materialles Gewand die Luft, der Äther.“39 Als Welt ‚uneigentlicher‘ Zukunft, als Welt eines phantastischen Sichvorweg und eines phantastischen Selbst, als Welt, in der es keinen Schatten und keine Grenze gibt, ist diese Welt als solche dauernd vom Schatten und der Grenze, das aber heißt von der Gewesenheit, bedroht; denn die zeitlich-geschichtliche Struktur des Daseins lässt sich zwar in Trotz, Eigensinn, Ehrgeiz modifizieren, aber nicht durchbrechen oder gar umkehren.40 Das Wunschselbst verkünstelt die Welt in ihrer Bedeutung. „In eine solche Welt vermag sich zwar ein jeder vorübergehend ‚aufzuschwingen‘, aber mit dem Wissen um ihren Phantasiecharakter, d.h. darum, daß kein Bleiben in ihr ist.“ 41 Aus der Ersetzung der gegenwärtigen Welt der Praxis durch die künstliche Welt resultiert ein „blindes, unheimliches Bedrohtsein vom Schatten, als Angst!“ 42 Dem gegenüber reflektiert die Zeitlichkeit der Gruftwelt die „Übermacht der uneigentlichen, weil unzukünftigen, stets gegenwärtigen Vergangenheit.“43 „Diese Höllenangst ist die Angst des Daseins vor dem Verschlungenwerden von seinem Grunde, von dem es um so tiefer verschlungen wird, je höher es ihm zu entspringen, zu entfliehen sucht.“ 44 „Überall finden wir die Zeitlichkeit im Falle Ellen West mehr oder weniger in ihre einzelnen Ekstasen auseinanderfallend, d.h. einer eigentlichen, reifenden oder existenziellen Zeitigung ermangelnd.“45 Die Zukunft entzieht sich immer mehr, während die Gegenwart „zum bloßen Jetzt oder bestenfalls zur bloßen Zeitspanne“ 46 wird. Binswanger zufolge spricht Ellen von Geistern nur im Modus der Analogie; nur wenn sie schrecklich aufgeregt ist, schreibt sie anderen, die ein Interesse an ihrem Leiden tragen, eine sadistische Genugtuung zu.47 Sie gleicht hierin manchen

39 Ebd. S. 143. 40 Ebd. S. 143. 41 Ebd. S. 143. 42 Ebd. S. 143. 43 Ebd. S. 143. 44 Ebd. S. 144. 45 Ebd. S. 148. 46 Ebd. S. 150. 47 Ebd. S. 196.

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Süchtigen und Perversen.48 Doch selbst wenn wir Science Fiction schreiben und Ellen in eine Reihe mit Kandidaten für chirurgische Geschlechtsumwandelung stellen, ergeht es letzteren immer noch besser als Ellen, die nicht vom Fett runterkommt. Binswanger zufolge ist sie „nicht von der Zukunft abgeschnitten, sondern von der Zukunft bedroht !“ 49 Schizophrenie ist fundamental (formal und zeitlich) schleichend 50 oder, mit einem Fremdkörper-Synonym ausgedrückt, schleppend. Und die Schizophrene wird sich an alle Chancen klammern, die Paralyse zu brechen. Abwegige Taten, als letzte Versuche des Daseins zu sich selbst zu kommen, nehmen die Form der körperlichen Erkrankung, einer Attacke, eines Schocks, eines plötzlichen Todes in der Familie an – und zugleich finden wir auf der Seite des Ausagierens Mord und Gewalttaten, Brandstiftung und Selbstverstümmelung, etwa das langsame Verbrennen der eigenen Hand im Ofen, um die Aufmerksamkeit seiner Lieben zu erregen. In Ellens Fall, der so weit nicht fortgeschritten war, ist die Untat schlicht der Selbstmord. Auf der Suche nach einer historischen Analogie zeigt Binswanger seine Karten, dieselben, die er zuletzt Ellen West las: Ebenso, wie es in der Geschichte der Menschheit lange gedauert hat, bevor man den Durchbruch zur Religion der Liebe, zum Christentum, erreicht hat […], so steht das größte Hindernis des einzelnen Daseins vor diesem Durchbruch. Einmal durchbrochen, ist es von Grund auf verändert.51 Dass Binswanger so mehr zugesteht, als er anderenfalls gewillt war (er wollte nicht ein zweiter Jung sein), ist selbst durch alles Hintergrundrauschen hindurch zwischen den Zeilen lesbar. In ihrer Privilegierung von Fantasie und Traum ist es die Psychoanalyse selbst, deren bessere Hälfte allzu christlich ist: sie schaut nur auf die Ätherwelt. Daseinsanalyse ist weniger einseitig: sie nimmt nur an, dass die Menschen in der Welt sind, Welt haben und über diese Welt hinausstreben. Freud nimmt an, dass Menschen Teil der Natur sind, und, in seinem Sinne, triebgesteuert. Freuds Argument zerstört Menschlichkeit, um sie auf einer wissenschaftlichbiologischen Basis wiederaufzubauen, als Triebgetier, in dessen individueller Lebensgeschichte die Sexualität der Motor ist. Doch die psychische Repräsentation dieser Triebmacht ist erneut bloß Wunsch. So fokussiert die Psychoanalyse nur die Geworfenheit (den Zwang), eine der drei Modalitäten der Daseinsanalyse.52 Freuds Todeswunsch, wie immer an den Anderen gewendet, reicht nicht für beide 48 Binswanger: „Der Fall Ellen West“, S. 190. 49 Ebd. S. 196. 50 Vgl. ebd. S. 150. 51 Vgl. ebd. S. 152. 52 Die beiden anderen sind ‚Seinkönnen‘ oder Existenz, und ‚Seindürfen‘ oder Liebe.

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aus: Psychoanalyse und Daseinsanalyse. Binswanger ist nicht der einzige, der den Wunsch auf eine selbstmörderische Unlogik hin liest. Der Todeswunsch ist – im Binswangerschen Lexikon – der Wunsch, selber zu sterben. Marsianischer Zeitsturz war Philip K. Dicks erste umfassende Versenkung in die Schizophrenie als Bardo-Zwischenwelt der Untoten oder der Projektion und somit der Parallelwirklichkeit und Zeitlichkeit der Unterwelt. Dicks berühmteste Science Fiction-Texte, die diesem Buch folgten, entwickelten sich aus dem Magazin jener Gegen- oder Unterwelten, die dieser Roman öffnete. Im Folgenden stellt sich auch heraus, dass Goethes Faust  in diesem Speicher verborgen war. Der Platzhalter bzw. die Injektionsstelle in Marsianischer Zeitsturz (später wieder zitiert in Der galaktische Topfheiler und Der dunkle Schirm – sowie in der Inspiration für den Roman, den Dick 1982, kurz vor seinem Tod, zu schreiben hoffte)53 ist die den Text eröffnende Verstörung durch den Selbstmord eines Marskolonisten, den der Roman irgendwo zwischen Leben und Tod, Psychose und Gesundheit in der Schwebe zu halten versucht. Schweizer Forschung, nur dem Namen nach mit Jung assoziiert, suggeriert eine Anwendung oder Lektüre von Binswangers Konzept der Zeitigung (im Sinne Heideggers). Die Hypothese ist, dass Schizophrenie im Wesentlichen eine „Störung des inneren Zeitgefühls“54 ist. Zu Spekulationszwecken wird geplant, das Wissen des Schizo auf dem Wege dieses anderen Zeitsinns denjenigen zugänglich zu machen, die in einer geteilten Welt leben. Da ihr Versuchsobjekt von Geburt an autistisch war, ist Jungs vorgebliches Dekodieren schizophrener Sprache nutzlos. Stattdessen müsste man eine Zeitlupen-Dekodier-Kammer bauen, um einen mediatisierten Kontakt herzustellen. „Könnte der Schizophrene, verglichen mit uns, so schnell die Zeit durchlaufen, dass er sich faktisch an einem Ort befindet, der für uns die Zukunft ist?“55 Doch vorgespulte Zeit schlingt die Gruftwelt um das Leben. Der Unterschied zu Binswangers Analyse des Falls Ellen West, den Dick bemerkt oder markiert, ist, dass die traumatische Erfahrung, mit der die Schizophrenie verbunden bleibt, eben in der Zukunft liegt – wo sie mit der Zeit, vor der Zeit, ankommen mag, um eine Art Erleichterung zu finden. Der dunkle Schirm borgt den Dolch zur Trennung von der Verdoppelung bei Faust I, der in der Einführung des Abspaltthemas vermehrt zitiert wird. Der zweite Pfeiler, auf dem Dicks Faustreferenz steht, ist sein Roman Der galaktische Topfheiler, den er an einer Stelle in Exegesis, seinem monumentalen Korpus von Reflektionen über die mystische und psychotische Erfahrung eines rosafarbenen, heilenden Lichtes im Jahre 1974, als sein einziges im vollen Wortsinn psychoti53 Dick diskutiert seinen neuen Faustroman The Owl in Daylight in Interviews 1982. Lee/ Sauter (Hrsg.): What if Our World is Their Heaven? 54 Dick: Marsianischer Zeitsturz, S. 142. 55 Ebd. S. 142.

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sches Werk charakterisiert.56 Dies scheint Dick besonders evident in den Szenen der Manifestation Glimmungs (‚die Theophanie‘): „Und über den beiden Ringen hing ein wallender Paisley-Vorhang!“57 Zugleich bedeutet diese Manifestation von Glimmung ein letztes Verständnis der ätherischen Welt, mitsamt ihrem Schleier oder Schal. Lässt Dick hier den trojanischen Schleier der Helena erkennen, der in Faust II zurückbleibt, wenn die trauernde Mutter dem selbstzerstörerischen Sohn zurück in den Hades folgt? (Schließlich verwandelt sich der Schleier in Wolken). Dass das Glimmung-Fantasma auch das Gesicht eines jungen Mädchens zeigt (ein anderes Mal teilweise verschleiert58), „ein Allerweltsgesicht, das man leicht wieder vergaß, aber ständig irgendwo sah“59 führt uns direkt zum Ewig-Weiblichen, wo sich der bescheidene Charme der Margarethe mit Helenas Weltruhm vermischt: „Es war, dachte er, eine zusammengesetzte Maske.“60 Die Handwerker, die Glimmung aus dem gesamten Universum beruft, um ihm bei der Bergung der Kathedrale Heldscalla aus ihrer wässrigen Gruftwelt behilflich zu sein, kennen sich mit Faust II genügend aus (obwohl es in einer mittlerweile ausgestorbenen Sprache geschrieben ist), um Glimmungs Streben mit dem von Faust zu vergleichen, der dem Meer Land für sein utopisches Wohnungsbauprojekt abgewinnen will. ‚Ein paradiesisch Land, da mag die Flut noch so rasen.‘ Die Flut symbolisiert die Kraft, die alles zerstört, was Menschen errichtet haben. Das Wasser, das Heldscalla vor Jahrhunderten unter sich begrub. Und ‚die Menschen eilen‘ – das sind wir, ausgeschickt von Glimmung. Vielleicht hatte Goethe ja präkognitive Fähigkeiten, vielleicht hat er die Hebung Heldscallas vorhergesehen.61 Der mythische Showdown zwischen der ätherischen Welt und der Gruftwelt lenkt die Handwerker von ihren Suizidgedanken ab (sie alle haben kurz zuvor Selbstmord versucht oder vorbereitet). Wie der Topfheiler Joe Fernwright sagt, als er Glimmungs Einladung erhält: „Nein, freiwillig werde ich nicht sterben! Ich will leben! Und ich werde warten, ich werde warten! Und er wartete.“62 Glimmung erfüllt die Kriterien für eine Gottheit nicht; darin gleicht er Christus. Doch wenn Christus nicht als Gott gesehen werden kann, wie kommt es dann zum Christentum? 56 Dick: Die Valis-Trilogie. 57 Dick: Der galaktische Topfheiler, S. 52. 58 Ebd. S. 52. 59 Ebd. S. 41. 60 Ebd. S. 41. 61 Ebd. S. 113. 62 Ebd. S. 19.

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Es entstand, weil Christus folgendes tat: Er sorgte sich um andere. ‚Sorge‘ ist die Übersetzung des griechischen Wortes ‚Agape‘ und des lateinischen Wortes ‚Caritas‘. Christus stand mit leeren Händen da. Er konnte niemanden erretten, nicht einmal sich selbst […] Es gab eine ähnliche Gottheit auf Beta 12. Jedes Mal, wenn ein Wesen auf ihrem Planeten starb, starb sie ebenfalls. Sie konnte nicht an seiner Stelle sterben, aber sie starb mit ihm.63 So kreuzen Suizidgedanken Joes Gemüt – Synchronisierung des Todes, deines mit dem eines anderen, intrapsychische Struktur des Selbstmords, die unmittelbar zu einem Pakt im Paar-, Gruppen-, oder Massenformat werden kann –, während er auf das Ende von Glimmungs Kampf gegen seinen tödlichen Doppelgänger wartet, und sich schuldig fühlt für dieses Warten: Vielleicht wäre es wirklich besser, zusammen mit Glimmung in den Tod zu gehen, dachte er. Auf diese Weise könnten wir ihm wenigstens zeigen, wie wir uns fühlen. Aber wer würde schon Notiz davon nehmen? Wer würde überhaupt übrig bleiben, um Notiz davon zu nehmen?64 Auf Plowmans Planeten nimmt Glimmungs Gegenüber die Form einer fatalen Zukunftschronik an – das Buch der Kalenden: Es wird von einer Gruppe von Wesen oder Kreaturen gemacht, die alles niederschreiben, was auf Plowman geschieht […] Die Kalenden denken sich die Geschichte aus, tragen sie in das Buch ein – und dann findet es statt.65 Doch diese Zeile oder dieser Faden führt in eine Zukunft, die mit der Zeit wahr werden wird. „Wenn genügend Zeit vergeht, wird alles irgendwann einmal passieren […] In gewissem Sinne war das die Basis, auf der das Buch funktionierte. Funktionierte – und doch nicht funktionierte. Wahrscheinlichkeit […]“66 Bei ihnen, dachte Joe, gibt es kein Leben – nur eine Synopsis des Lebens. Wir sind wie ein Faden, der durch die Hände läuft. Immer in Bewegung, niemals ganz gegriffen, fließen wir vorbei, immer weiter, bis ins Grab.67

63 Ebd. S. 130f. 64 Ebd. S. 186. 65 Ebd. S. 71. 66 Ebd. S. 152. 67 Ebd. S. 121.

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In diesem Stellen der Sterblichkeitsuhr, wenn jedes Individuum und jedes Artefakt seinem Doppelgänger begegnen muss, muss auch Joe in der wässrigen Gruftwelt seiner Leiche gegenübertreten: „Eine verfallene, bucklige Gestalt, um deren Glieder Fetzen von Kleidung schlotterten, kam auf sie zu, von der Strömung des Wassers vorwärts getrieben […] ‚Ja, es ist deine Leiche.‘ “68 Joe und sein Doppelgänger sind nicht klar unterschieden: „Etwas von ihr ist mit dir verschmolzen. Und etwas von dir ist in ihr […] Das Kind ist der Vater des Mannes – Erinnerst du dich? Und der Mann ist der Vater der Leiche“.69 Doch hinter diesem nihilistischen Kampf mythischer Kräfte befördert Glimmung die christliche Tradition des Mitsterbens als Antwort auf die Einsamkeit der Begegnung mit der Endlichkeit ans Tageslicht. „Wie Christus“70 blutet Glimmung von seinem endlosen Ringen mit seinem Doppelgänger. Jetzt kann er Heldscalla nur bergen, wenn seine berufenen Handwerker ihm ihre Lebenskraft geben, indem sie mit ihm eins werden. Für eine begrenzte Zeitspanne stimmen sie dem zu: Glimmung umschließt sie. „Wir sind ein Teil von ihm, schoss es Joe durch den Kopf. Er versuchte, etwas zu erkennen, doch alles war verschwommen, wirbelte herum, wie in einem Film, der die Wirklichkeit mehr verzerrte als enthüllte.“71 Das Ewig-Weibliche ist in Schreber-Manier inszeniert: indem er eine weibliche Kreatur wird, birgt Glimmung die Kathedrale, die in seinen Armen zu einem „Fötus, einem kleinen, schlafenden, ungeborenen Kind, das geborgen im Mutterleib lag“72, wird. Nach einer zweiten Runde der Vereinigungsversuche mit Glimmung als dem ‚Gruppenwillen‘ wird den Individuen eine beständigere Beziehung als Teil Glimmungs angeboten, die für tausend Jahre Bestand haben soll und keinen von ihnen wieder allein lassen wird. Joe und ein anderes Koalitionsmitglied stimmen gegen die Verschmelzung. Doch Joe verliert seine besondere Freundin Mali, die sich entschließt, mit den anderen in Glimmung zu bleiben. Was ist der Unterschied zwischen ihrem gemeinsamen Abschied und Massenselbstmord? In Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie schreibt Carl Jung dem Schleiersymbol zu, was auch der mythische Schleier bietet: Unsichtbarkeit.73 Was der unsichtbare Mann demonstriert – in dieser Hinsicht kommt er im Kabinett der Horrorfiguren dem Werwolf am nächsten – ist, dass die Metamorphose ins Unsichtbare immer auch eine Bedeckung von Nacktheit ist. Die sexuellen Mysterien der Jungfernhaut und die Schleiertänze, die dennoch alles enthüllen, warten beide mit jeder metaphysischen Wissbegierde auf. Doch Röntgenbild wie Pornographie können die Kleider nicht vom Körper unterscheiden, 68 Dick: Der galaktische Topfheiler, S. 138. 69 Ebd. S. 140. 70 Ebd. S. 130. 71 Ebd. S. 187. 72 Ebd. S. 202. 73 Jung: Symbole der Wandlung, S. 440.

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und müssen sich an Knochen aufgeilen. Jungs nächstes Beispiel der Schleiersymbolik deutet auf die andere Unsichtbarkeit, die von Gespenstern. In der Tat gehörten Schleier zu den ersten ektoplastischen Indikatoren gespenstischer Lebensabwesenheit in spiritistischen Sitzungen. Kann der Schleier der Helena von Troja gehoben und restlos verwandelt werden in ätherische Wolken? Selbst nachdem er allegorisch wird? Im Passagenwerk bestimmt Walter Benjamin, dass die Allegorie Rätsel betrifft, nicht die verschleierten Geheimnisse oder Mysterien,74 doch gibt es einen haltbareren Schleier als die ätherischen Beigaben von Geheimnis und Initiation, denjenigen nämlich, der – in der Vielzahl der etymologischen Ableitungen, die alle Arten von Kleidung mit dem Leib verbinden – austauschbare Orte mit der Leiche besetzt. Dieser Schleier wird in Benjamins Lektüre der Mode, in seiner Archäologie der modernen Allegorie, zur „Parodie“ der farbig verwesenden Leiche.75 „An dem Lebenden nimmt die Mode die Rechte der Leiche wahr.“76 Fredric Jameson bezeichnet Der galaktische Topfheiler  als einen von Dicks ‚ Jungschen‘ Romanen.77 Doch gerade angesichts der Tatsache, dass Dick die Geschichte als Kinderbuch ausprobiert hat,78 scheint es mir eher eine (Wagnerianische) Fantasy – kompromittiert durch die Unfähigkeit des Protagonisten, daran teilzunehmen. Zwar ist Glimmung in der ersten Version für Kinder furchterregend, doch in der Umwertung für Erwachsene sind alle Figuren albern. Natürlich ist der reine Tor Fantasystoff. Im Galaktischen Topfheiler bleiben wir bei Joe, dem Verlierer und Sonderling, der nicht viel übrig hat für das Happy End der vereinten Verschollenheit, alles oder nichts. Die anderen Mitglieder des HeldscallaTeams waren auch Sonderlinge – aber sie kamen zu Plowmans Planeten, um abgelenkt zu werden von ihrem absonderlichen Leben und ihren selbstmörderischen Depressionen. Als Überlebender hat Joe erst recht verloren und spürt „das Gewicht von Jahrhunderten auf seinen Schultern.“ 79 Glimmungs Plan für Gruppentaten, -sein, und -ewigkeit repräsentiert für immer den abgeschlossenen Fall der Ätherwelt. Joe bleibt zurück als Shlep, von der gleichen sprachlichen Wurzel wie Schleier oder Schleppe. Er begegnet dem Gewicht der Zeit und entgegnet ihm mit dem Warten, dem langweiligen Warten bis der andere kommt oder geht – wunschlos und teilnahmslos. (Übersetzung: Peter Krapp, Überarbeitung der Übersetzung: Albert KümmelSchnur) 74 Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 461. 75 Ebd. S. 111. 76 Ebd. S. 130. 77 Vgl. Jameson: „After Armageddon“. 78 Dick: Nick und der Glimmung. 79 Dick: Der galaktische Topfheiler, S. 174.

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Literatur Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. I, Frankfurt a.M. 1982. Binswanger, Ludwig: „Der Fall Ellen West“, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. 4 (Der Mensch in der Psychatrie), Heidelberg 1994, S. 73-209. Binswanger, Ludwig: „Melancholie und Manie“, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. 4 (Der Mensch in der Psychatrie), Heidelberg 1994, S. 351-428. Dick, Philip K.: Das Orakel vom Berge, München 2000. Dick, Philip K.: Nick und der Glimmung, Bellheim 2000. Dick, Philip K.: Die Valis-Triologie, München 2002. Dick, Philip K.: Marsianischer Zeitsturz, München 2002. Dick, Philip K.: Der galaktische Topfheiler, München 2004. Jameson, Frederic: „After Armageddon: Character Systems in Dr. Bloodmoney“, in: Science Fiction Studies 5, Ausg. 2, Teil 1, März 1975, S. 31-42. Jung, Carl Gustav: Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie (= Gesammelte Werke 5), Zürich 1996. Jung, Carl Gustav: „Psychologischer Kommentar“ in: Das Tibetanische Totenbuch oder die Nach-Tod-Erfahrungen auf der Bardo-Stufe, Zürich 1953, S. 550-567. Lee, Gwen/Sauter, Doris Elaine (Hrsg.): What if Our World is Their Heaven? The Final Conversations of Philip K. Dick, Woodstock 2003. Sutin, Lawrence: Philip K. Dick. Göttliche Überfälle. Eine Biografie, Frankfurt a.M. 1994. Das Tibetanische Totenbuch oder Die Nach-Tod-Erfahrungen auf der BardoStufe: Nach der englischen Fassung des Lama Kazi Dawa Samdup, hrsg. v. W. Y. Evans-Wentz, übers. u. eingeleitet v. Louise Göpfert-March. Mit einer Einführung und einem psychologischen Kommentar von Carl-Gustav Jung und einem Vorwort von John Woodroffe, Zürich 1953.

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Der Zukunftsmensch wird seine Kenntnisse nur noch im Schlaf erweitern

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Wolfgang Hagen

Veronica on TV Ikonographien im Äther – Baraduc… Beckett Es geht um die letzte Fernseharbeit, mit der Samuel Beckett sein Werk – auf eine gewisse Weise – zum Abschluss bringt: „Nacht und Träume“ aus dem Jahr 1983. In diesem Stück gibt es nahezu unverstellte Anspielungen auf Figurationen der spiritistischen Äther-Ikonographie, die der folgende Text zu ergründen sucht. Ätherikonographien (und der ihnen zugehörige Diskurs) haben einen ebenso tiefen wie weitgehend verdrängten Einfluss auf die künstlerischen Avantgarde-Bewegungen von 1910 genommen, denen auch Becketts Arbeit sich verdankt.

1

Nacht und Träume

Wenn zutrifft, was Gilles Deleuze über die „dritte Sprache“ des späten Beckett sagt („nicht mehr die der Nomen oder der Stimmen, sondern die der Bilder, der klingenden, farbigen Bilder“1), dann wäre ohnehin jedwede verbale Beschreibung seines letzten Fernsehspiels „Nacht und Träume“ (1983) vergeblich. Was sehen wir? Eine Geisterfotografie? Ein Abbild-Abbild, ein „Vera Icon“? Veronica? Was geschieht? „Was, Wo“ ? 1.1

A, B, R, L

Wir sitzen vor einem Fernseh-Bildschirm in den alten, klassischen Maßen des fotografischen Rahmens: 4:3. „Nacht und Träume“ (NuT) läuft in Schwarzweiß, mit wenig Licht und leisem Ton. Alles erscheint wie in ein blau-grünliches Grau getaucht. Vom ersten Bild bis zum letzten Abspanntitel („Süddeutscher Rundfunk 1983“) ist das Stück genau 10:47 min lang. Aufgeteilt (Beckett nummeriert, wie man Spielzüge im Schach nummeriert) in 30 Bilder. 0:36 min: „1. Fade up on a dark empty room lit only by evening light from a window set high in back wall. Left foreground, faintly lit, a man seated at a table (‚A‘). Right profile, head bowed, grey hair, hands resting on table. Clearly visible only head and hands and section of table on which they rest.“2 Kein Text. Zwischen 0:52 und 1:29: „softly hummed, male voice, last 7 bars of Schubert’s ‚Lied, Nacht und Träume‘.“ Bei Schubert finden wir den Text: „Heil’ge Nacht / Holde Träume, kehret wieder“. Deren 1

Deleuze: „Erschöpft“, S. 67.

2

Beckett: Collected Shorter Plays, S. 305.

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Melodie summt ein Mann im Off. Dann singt er:, „beginning ‚Holde Träume‘ “. A’s Kopf sinkt auf die Hände. – 2:02 min: In einer Wolke aus (Bildschirm-)Licht erscheint oben rechts „B“, das spiegelverkehrte Profil des am Tisch sitzenden „A“. Eine Hand „L“ (aus dem Nichts/Dunkel kommend) streicht „B“ über den Kopf. „8. B raises his head, L withdraws and disappears.“ Von rechts (aus dem Nichts/Dunkel kommend) erscheint eine weitere Hand „R“, die „B“ einen Pokal („a cup“) reicht, „B“ an die Lippen setzt, und verschwindet. „R“ erscheint wieder, diesmal mit einem Tuch, „wipes gently B’s brow, disappears with cloth.“ 11. B raises his head further to gaze up at invisible face. 12. B raises his right hand, still gazing up, and holds it raised palm upward. 13. R reappears and rests gently on B’s right hand, B still gazing up. 14. B transfers gaze to joined hands. 15. B raises his left hand and rests it on joined hands. 16. Together hands sink to table and on them B’s head. 17. L reappears and rests gently on B’s head.3 In der Lichtwolke („faintly lit by kinder light“) im oberen rechten Bildschirmgeviert liegen nunmehr vier Hände übereinander gefaltet (zwei vom Mann B und zwei levitierte). Darüber B’s Kopf. Alle Bewegungen sind so langsam, als würden sie im Moment ersterben. „18. Fade out dream.“ Es folgt eine Reprise mit Koordinaten-Verschiebungen. 4:40 min: A (links unten) hebt seinen Kopf und die Männerstimme im Off summt und singt noch einmal. „26. Move in slowly to close-up of B, losing A . 27.” Nun haben wir die Lichtwolke bildschirmfüllend und sehen das Gleiche wie eben: „Dream as before (7 - 16) in close-up and slower motion.“ Nach dem nämlichen Geschehen mit ein- und aus schwebenden Händen entschwindet die Szene wieder in der oberen rechten Hälfte des Schirms. „28. Withdraw slowly to opening viewpoint, recovering A.“ 09:15 min: Unten links liegt der Kopf von A auf seinen zwei, oben rechts der Kopf von B auf seinen zwei und zwei weiteren levitierten Händen. „29. Fade out dream. 30. Fade out A.“ 9:40 min: Abspann auf Schwarzbild. 1.1.1

Palimpsest und Eucharistie

NuT ist ein seltsam entrücktes Stück und hat entsprechend entrückte Interpretationen hervorgerufen. Angefangen beim Fernsehspielchef des Süddeutschen Rundfunks Ende 1982: „Bei der Lektüre war ich von diesem Manuskript etwas überrascht. Nicht, weil es wieder ohne gesprochenen Text war und Beckett nur einige Takte Musik verwendete, sondern weil es Gebärden des Mitleids, des Erbarmens und des Trostes zeigte, die es so in Becketts Stücken bisher nie gegeben hatte. [Zuvor hatte Beckett mit Mueller-Freienfels „Quadrat I“ und „Qua3 Beckett: Collected Shorter Plays, S. 306.

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drat II“ realisiert.] Gab es für ihn jetzt doch eine mildtätige Macht im Dunkel, einen gnädigen Gott?“4 Das nächste Interpretament stammt von Beckett selbst, überliefert von Jim Lewis, dem Kameramann der Produktion: Quand on essuie les gouttes de transpiration sur le front du personnage, Beckett a simplement dit que le tissu fait allusion au voile qu’utilise Véronique pour essuyer le front de Jésus pendant le chemin de Croix. L’empreinte du visage du Christ reste sur le tissu.5 Therese Fischer-Seidel hat hier weiter gedeutet: Es ist die Erlösungsthematik, aber auch das Verfahren der Parodie im Sinne des Palimpsests, das sakrosankte Muster aufruft, ohne sie zu erfüllen. Nacht und Träume ruft ikonographische Traditionen der bildenden Kunst auf und kann zugleich in der irischen Tradition des Eigenepitaphs gedeutet werden, wie Swift sie begründete und W. B. Yeats sie aufgriff. […] Die heilige Nacht alludiert auf die Geburt Christi und damit typologisch auf die Erlösung. Wie in Warten auf Godot geht es jedoch nicht um Erlösung als Faktum, sondern um die Erlösung als immerwährende Sehnsucht des Menschen. Es geht um den Heilserwartungsmythos als Menschheitstraum schlechthin.6 James Knowlson, einflußreicher Biograph, schließt an: „Deutlicher vielleicht als in jedem anderen Beckettstück tritt hier jene ‚purity of the spirit‘ (Reinheit des Geistes) hervor, die vom Autor im Leben sowohl wie im Werk seit langem erstrebt wurde.“7 Auch Michael Lommel, dem es ansonsten mehr um Synästhesien und Intermedialitäten bei Beckett geht, kann sich dem Sog der erhabenen Ikonografie nicht entziehen. Beckett zitiert in seinem Fernsehspiel die christlich-emblematische Malerei des 17. Jahrhunderts: Zu Beginn sehen wir ein Stillleben mit Kelch (den auch Luk. 22, 39-46 erwähnt) in der Manier der niederländischen Malerei; das Chiaroscuro des Traumtableau erinnert an das berühmte ,Rembrandt-Licht‘. Der Trost, den der geträumte Träumer erfährt, verweist auf den christlichen Erlösungsmythos: auf das Schweißtuch, mit dem Christi Stirn getrocknet wurde, und auf die alte Tradition der manus dei.8 4

Mueller-Freienfels: „Erinnerungen an Samuel Beckett beim SDR“, S. 419.

5

Lewis: „Beckett et la camera“, S. 381.

6

Fischer-Seidel: Der unbekannte Beckett. Samuel Beckett und die deutsche Kultur, S. 321-331.

7

Knowlson: Samuel Beckett: eine Biographie, S. 853.

8

Lommel: Samuel Beckett: Synästhesie als Medienspiel, S. 192.

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Martin Esslin schließlich, BBC-Redakteur und großer Förderer Becketts, findet zwar die Bilder im Stück „extremely powerful“, aber insgesamt „for my taste, somewhat too sentimental.“9 – Sollte Beckett auf seine alten Tage religiös geworden sein? 1.1.2

The Neatness of Identifications

Man sollte allen derart auf Emblematik und Allusion rekurrierenden BeckettHermeneutiken zunächst den Satz entgegen halten, mit dem Becketts erste Veröffenlichung wie mit einem Hammerschlag beginnt: „The danger is in the neatness of identifications.“10 Der Joyce-Text (1929) und die kurz darauf folgende Proust-Analyse (1931) sind die (fundamentalen und einzigen) Programmschriften des Literaturkritikers Beckett. Methodisch hinter sie zurückzufallen und der Gefahr einer „neatness of identification“ noch einmal zu erliegen, ist schon deshalb wenig ratsam, weil sich das Schreiben des Schriftstellers Becketts konsekutiv aus ihnen ergibt. Beckett wusste genau, wie gewaltsam philologische Hermeneutik primäre Texte exekutiert und blieb daher skeptisch. Nachdem er seine bravourösen Arbeiten zu Joyce und Proust geschrieben hatte, entscheidet er sich gegen den ,Stil‘ dieser seiner Arbeiten, entschließt sich für ein eigenes Schriftsteller-Dasein und gegen eine Karriere als Professor für Sprachen. Diese literarische Entscheidung gegen die Philologie als Wissenschaft war gewiss keine unphilologische. Beckett bleibt der gelehrte Autor auch dann, wenn er nur schreibt, vielleicht, im Sinne Paul de Mans, sogar der gelehrigere. Eine Probe auf ’s Exempel macht noch jeder Beckett-Leser, der sich mit seiner frühen Lyrik zu beschäftigen hat, die ohne bestes philologisches Rüstzeug ohnehin nicht zu entziffern ist. Zu seinen lebenslangen Tricks im Umgang mit interessierten Gesprächspartnern gehörte: Nichts erwähnen, was nicht schon erwähnt wurde. Beckett hätte dem Kameramann von NuT den Hinweis auf die Veronika nicht gegeben, hätte er nicht in seinem Werk davon schon geschrieben. In einem frühen Gedicht nämlich, wo der Text gleichermaßen auf eine Epoche, einen Moment des Übergangs, verweist; genau wie NuT selbst, ganz augenscheinlich, einen Übergang markiert (Wachen/Schlaf, Dunkel/Hell, Tod/Leben, Ende der Arbeit). Die Beckettsche Veronica findet sich im (schon 1931 entstandenen) Gedicht „Enueg II“.11 Die Zeilen „veronica mundi/veronica munda/give us a wipe for the love of Jesus/sweating like Judas“12 verbinden uns gleich mehrfach mit unserem Thema. Erstens: „Enueg II“ ist ein ‚Abschiedsgedicht‘ von der Do9

Esslin: „Towards the Zero of Language“, S. 46.

10 Beckett, Samuel: „Dante... Bruno. Vico.. Joyce”, S. 3. 11 Vgl. Joyce: Finnegans Wake, S. 204. 12 Beckett: „Enueg II“, S. 13f.

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zenten-Existenz am Trinity-College. Beckett entscheidet sich (als hinge er am Kreuz der Kunst, um die Menschheit zu erlösen) für ein ‚freies‘ SchriftstellerDasein, aber für eines, das nicht in Dublin sein wird („Judas“) (Zudem geht es noch um die Trennung von seiner langjährigen Geliebten Peggy).13 Zweitens: „Veronica mundi – veronica munda“, dieses Wortspiel kann nur einer machen, der wiederum weiß, was eine Veronika ist, nämlich keine Frau. „Veronika der Welt“, „Veronica, Du reine (pure, saubere)“ verweist auf den Namen des Tuches, auf dem das Gesicht Christi abgebildet ist. Veronika ist die Welt und die reine zugleich, weil auf ihr – und nur auf ihr – das wahre, das pure Gesicht erscheint – der Literatur? Die Alliteration verweist auf eine weitere Veronica, die nicht im Gedicht steht, nämlich auf die „veronica nostra“ bei Dante: ‚La Divina Commedia‘ di Dante Alighieri war Becketts stete, lebenslange Begleiterin.14 Qual è colui che forse di Croazia/viene a veder la Veronica nostra,/che per l’antica fame non sen sazia,/ma dice nel pensier, fin che si mostra:/ ‚Segnor mio Iesù Cristo, Dio verace,/or fu sì fatta la sembianza vostra?‘ 15 In der Legendenforschung in Sachen ‚Schweißtuch der Veronika‘ ist Dante eine wichtige Quelle aus dem frühen 14. Jahrhundert, die von der Real-Existenz des Tuches berichtet. Wenn es denn überhaupt je existiert hat. 1.2

Das Tuch der Fero-Nika

Dante berichtet von einem ‚Vera Icon‘, einem Tuch, das ein (angeblich) wahres Bild des Herrn enthält. Ob freilich die ‚sembianza‘, das Gesicht des „Dio verace“, ‚wirklich‘ auf der „Veronica Nostra“ zu sehen war, bleibt auch in Dantes Fragezeichen für immer verschlossen. Beckett wird dieses Fragezeichen in allen „sudaria“ und sonstigen blut- und schweißdurchsetzten Tüchern seines Werks mitnehmen (Watt trägt immer ein Bluttuch bei sich, Ham wird am Anfang und am Ende von „Endplay“ ein Tuch über sein Gesicht breiten etc.). Was verdeckt das Tuch, was zeigt es? Ist das Tuch ‚weiblich‘ ? Wer ist Veronika?

13 Vgl. Ackerley/Gontarski: The Grove Companion to Samuel Beckett, S. 180. 14 Knowlson: Samuel Beckett, S. 81. 15 Dante: Divina Comedia, Paradiso XXXI (S. 35-36), Übersetzung Karl Streckfuss: „Wie der, der von Kroatien hergekommen,/Um unser Schweißtuch zu betrachten,/ nicht satt wird, zu sehn, wovon er längst vernommen,/Und, wenn man’s zeigt, zu sich im Innern spricht:/‚Herr Jesus Christus, wahrer Gott, hienieden/War wirklich so geformt dein Angesicht?‘ “

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1.2.1

Berenice

Eine mythologie-kritische Aufklärung ist deshalb mehr als angezeigt. Gab es eine Veronika, die Jesus am Kreuz (oder auf dem Kreuzgang) den Blutschweiß von der Stirn nahm? War das „Vera Icon“ nur ein Tuch oder trug es eine Frau? Weitere Aufklärung hätte Beckett bei seinem irischem Dichter-Freund W. B. Yeats finden können. Dessen kryptisches Poem „Veronica’s Napkin“ beginnt nämlich mit der Nennung des Namens der Frau, um die es geht. Berenice (φερονικη: „die den Sieg trägt“) ist der griechische Name jener Frau mit unaufhörlichen Blutungen, die in den offiziellen Evangelien keinen Namen hat. Berenice ist die Frau, die Matthäus 9,19ff nur die „Blutflüssige“ nennt. Sie tritt auf Jesus zu und wird augenblicklich geheilt.16 Namenlos bleibt sie, weil sie menstruiert – ein jüdisches Emblem der Verderbnis. Den Namen, „Berenice“ eben, den Yeats kennt, bekommt die unablässig menstruierende Frau erst im Nicodemus-Evangelium, das auch „Akte Pilatus“ genannt wird. Die „Akte“ (sie gehört zum Textkorpus der „Apokryphen“) ist eine offensichtliche Propagandaschrift aus den Anfängen der römischen Staatskirche (in der Pilatus besser wegkommt). In der lateinischen Übersetzung der „Akte Pilatus“ (Luther nannte sie lesenswert, aber überflüssig) wird aus Berenice – φερονικη – Feronika. Der Filmemacherin Colin Duckworth hat Beckett einmal gestanden: „Christianity is a mythology with which I am perfectly familiar, so I naturally use it“17 Hätten wir nicht das großartigste, das beste je geschriebene Buch zur Mythologiegeschichte der Frau(en) (Maria, Magdalena, Berenice, Veronika etc.) im Christentum, Veronica and her Cloth von Ewa Kuryluk, wir wüssten nicht, wie das Blut, das Tuch, das Gewand Jesu, die Menstruation, die Empfängnis und alle damit zusammenhängenden verdeckten und verdrehten Spiegelungen mythologiehistorisch zusammenhängen. Und wir würden Beckett vermutlich weniger verstehen. Die Erklärung fasse ich hier in stärkster Verkürzung zusammen: Die von den (offiziellen) Evangelisten namenlos gehaltene „Blutflüssige“ menstruiert seit zwölf mythologischen Jahren, als sie auf Jesus trifft. Durch die Berührung seines Tuches (Gewandes) – empfängt sie. Nichts anderes als eine Empfängnis beendet die Menstruation. Von Jesus kann aber nicht empfangen werden, wiewohl er von einer Frau, selbst unbefleckt gezeugt und jungfräulich geblieben, geboren wurde. So wird aus Berenice, nach einigen Jahrhunderten, eine um die Achse des Blutes gedrehtes Spiegelbild der Maria, der Mutter Gottes. Denn nur in der ChristReligion – und das ist ihr stärkstes Alleinstellungsmerkmal – hat Gott als Gottes Sohn eine Mutter. Mythengenealogisch geht es daher auch bei Veronika um die Stärke der Frau im Christentum – und ihre Schwäche zugleich.

16 Vgl. Matthäus 9. 17 Beckett, zitiert nach Duckworth: Angels of Darkness, S. 18.

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In Christianity, a religion of incarnation, i.e. of material reproduction, menstruation is needed, and so it is rehabilitated in the Hemorrhissa [dtsch. „Blutflüssige“, W. H.] episode. As physical femininity is added to spiritual masculinity, language is joined by vision.18 Nur mit den Frauen kann das frühe Christentum sich durchsetzen, gegen die Legionen der um die Macht konkurrierenden Regionssekten der ersten Jahrhunderte n. Chr. Man muss sie, die Frauen, gewinnen, wiewohl ihnen zugleich jegliche Macht versagt bleiben muss. 1.2.2

Inkarnation und Repräsentation

In der „Akte Pilatus“ trägt die blutflüssige Berenice/Veronika ihren Sieg davon, indem sie das Gewand Christi berührt. Jahrhunderte später wird daraus Empfängnis, aber keines Kindes, sondern des Gesichts Christi auf dem Tuch, gezeichnet mit seinem Blut. Im Kampf um die Macht muss die katholische Kirche seit dem Konzil von Ephesus (431) die Repräsentation der Inkarnation zulassen: Endorsing the concreteness of the incarnation, the theologians made an indirect decision about representation. They embraced the notion of material reproduction and thus opened the door for replication – from the miraculous multiplication of relics and acheiropoietoi to the production of artefacts.19 Eine patriarchale Kirche, die die Inkarnation proklamiert, muss zu ihrer Machtentfaltung Repräsentation und Visualität des Inkarnierten zulassen. Incarnation implied representation. […] In order to establish Christ, masses of potential converts had to be convinced of the actual existence of a unique Man-God. Material proofs of his presence on earth were highly desirable; photographs would have been extremely helpful. Thus were achieropoietoi invented - traces, relics, and likenesses of the one and only ‚true‘ God.20 Will sie erfolgreich herrschen, so muss die Christuskirche Bildbeweise beibringen, und kann dabei, weil es um Geburt und Zeugung geht, die Frau nicht aussparen. Will die Kirche Inkarnation repräsentieren, kommt sie um Blut und Empfängnis, um Sexualität und ihre Folgen, um die Differenz der Geschlechter und um deren sofortige Verwischungen nicht mehr herum. 18 Kuryluk: Veronica and her Cloth, S. 8. 19 Ebd. S. 67. 20 Ebd. S. 143.

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1.2.3

Das Acheiropoieton

Inkarnation bebildern: Welche komplexe, nämlich dreifache Differenz in diesem simplen medialen Theologoumenon steckt, wird deutlich, wenn man das Tuch der Veronika noch einmal sorgfältig entfaltet. Zunächst: Es geht um ein „Acheiropoieton“, wörtlich übersetzt, „Ein-Nicht-Von-Der-Hand-Gemachtes“; für welches gilt, wie der legendäre Christusbildforscher Doschütz sagt: „menschliche Vermittlung bei der Herstellung des Bildes ist ausgeschlossen“21. Peter Geimer, der seinerseits die Erforschung der fotografischen Reproduktion des „Turiner Grabtuches“ (dessen Existenz, im Unterschied zum Veronikatuch, nachweislich ist) zu seiner Leidenschaft gemacht hat, schreibt beispielsweise: Andere acheiropoietoi entstanden nach dem Muster der griechischen diepetes (vom Himmel gefallen): Eine Heidin, die nur glauben will, was sie sieht, findet in einem Wasserbassin ein Bildnis Christi. Das Bild ist nicht nur trocken, als sie es aus dem Wasser zieht, sondern druckt sich später von selbst in das Kleid der Frau. Nach seiner Überführung nach Konstantinopel 574 erstellt das Bild selbsttätig eine weitere Replik.22 Das Tuch der Veronika ist entstanden durch Metonymien und Spiegelungen, durch nominale Metaphern, Drehungen, Verdichtungen und Projektionen. Eine Insignie wie geschaffen für einen Stoff Becketts: Die Akte Pilatus stellt die Geschichte von der namenlos Blutflüssigen der alten Evangelien von der Seite der Blutflüssigen aus dar. Das ist der erste Perspektivenwechsel. Pheronikä berührt das Tuch, und ihre Blutung stoppt. Was trägt (fero) sie davon? Η νικη – Nike heißt der Sieg und die Frucht. Nike ist die Siegesgöttin, die die Früchte der Siege trägt. Im Blutflusswunder empfängt Fero-Nika etwas, was ihre Blutung leiblich stoppt, soviel steht auch bei Matthäus. Die (erlaubten) Mythologien nach dem Ephesus-Konzil deuten den Blutflussstopp als tatsächliche Inkarnation um, nämlich als acheiropoietische Schwängerung. Aber inkarnieren in Form einer Schwangerschaft kann die Fero-Nika nicht. Jesus ist nur be-zeugungsfähig. Diese Drehung, die mythologisch zugleich die unmöglich mögliche Geburt Jesu spiegelt, lässt das Blut der Frau auf das Tuch des Mannes geraten, der am Kreuz stirbt, welches sie, die Frau, fortan tragen darf als das acheiropoeitische Antlitz seines Gesichts. The presence of the Hemorrhissa episode in three gospels and the early metamorphosis of the anonymous woman with the issue of 21 Dobschütz: Christusbilder, S. 132. 22 Geimer: Die fotografische Entbergung des Grabtuchs von Turin (1898).

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blood into a ‚victory-bearer‘ exemplifies the abolishment of the Jewish menstruation taboo and the rehabilitation of women’s flow, which in the Jewish Bible had been identified with the ills of nature and humanity. The evangelists decided to tackle the delicate issue of female bleeding not in connection with God’s mother. But they modelled the healing of the Hemorrhissa after Mary’s infusion with divinity as well as after the Old Testament scenes linking menstruation to reproduction. Sealed off by God Father, Mary became the Holy Mother of God Son. Sealed off by God Son, the Hemorrhissa turned into St. Veronica – the Holy Bearer of his Vera Icon.23

1.3

A-cheiro-poetische Inkarnationen

Das Tuch, der (Blut-)Kelch, die Inkarnation: In der letzten originären Fernseharbeit von Beckett haben wir es offenbar in mehrfacher Hinsicht mit ersten und letzten Dingen zu tun. Das Veronikatuch ist in der Tat einer der Schlüssel zu ihrem Verständnis, aber nicht als Tuch in einem emblematischen Sinn. Beckett ist kein Emblematiker. In keinem seiner Stücke zeigt er Insignien, in denen sich eine Botschaft oder eine Moral ikonologisch symbolisiert. Das ist auch in seinem letzten Fernsehstück nicht anders. Den Kelch und das Veronikatuch als eucharistisch erträumte Erlösungsfeier zu überhöhen, gerät schnell in die Nähe der Beckettschen „neatness of identification“. Einzig zählt das Tuch als eine Figuration im Bild, in dem sich Inkarnation und Repräsentation, das Gesicht und die Sichtbarmachung von Unsichtbarkeit verdichten. Viel mehr als andere verweist das Veronikatuch im Fernsehen auf Becketts Inszenierung der acheiropoietischen Medialität und Materialität des Fernsehbildes. Denn auch ein Fernsehbild ist nicht ‚von menschlicher Hand gemacht‘. Das ist es, womit Becketts Bildersprache in NuT spielt. Nach Poemen, Essays, Romanen, Short Fictions, Theaterstücken, Hörspielen, einem „Film“-Film und einer Tonbandarbeit ist das Fernsehen das letzte Medium, das der späte Beckett für sein Werk erschließt. Aber was ist ein ‚Medium‘ und was heißt ‚erschließt‘? Beckett erschließt keine Medien, wie etwa zur gleicher Zeit Bill Viola oder Nam June Paik. Beckett ist kein Analytiker von Darstellungsweisen oder von Medien als solchen, sondern ihr genauester Synthetiker. Kein Experimentalist, sondern konkreter Expressivist. Was sich in seinem Werk in Sprache, Stimmen oder Bildern repräsentiert, kann immer auch als Inkarnation verstanden werden, nämlich als ein menschliches Gebrechen an Sprache, Stimmen und Bildern. Deshalb bleibt alles Analytische dabei implizit. Auf eine ganz wörtliche Weise gleicht Becketts Schreiben einer radikal säkularisierten 23 Kuryluk: Veronica and her Cloth, S. 146.

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Arbeit der Inkarnation, bei der gleichsam jedes Wort ‚zu Fleisch werden muss‘.24 Beckett schreibt in einem literarischen, an Dante orientierten Furor, allerdings ohne jede religiöse Konnotation. 1.3.1

„The Savage Eye“

William Gruber und Martin Esslin haben darauf verwiesen, dass Beckett in NuT den Bildschirm zur einer Art Leinwand macht;25 „a kind of painting [...] except that the image moves and has sound.“26 Allerdings wäre zu ergänzen, dass es sich dabei um einen besonderen Typ von Gemälde handelt, in dem das Nicht-VonDer-Hand-Gemachte Thema ist. NuT ist visualisiert nichts anderes als eine Bildbetrachtung: A erhebt sein Gesicht und betrachtet eine Vision, in der B ein Gesicht erblickt. Auf dem Bildschirm sieht Z (der Zuschauer) A – Bild im Bild – B betrachten. Becketts Fernseh-Thema, nicht nur in NuT, ist der Blick des Blicks, den Theater und Kino so radikal, so präzise auf die Einsamkeit des Betrachters abgestellt, nicht thematisieren können. Beckett designs his miniature television pieces with an ideal spectator in mind who is alone in a room, staring resolutely out of the darkness toward the lighted screen. In fact, this same condition is often replicated by Beckett’s figures on screen.27 Dieser Fernsehblick war schon in Becketts erster TV-Arbeit von 1976 zentral. Ich würde deshalb, anders als Deleuze es will, „Eh Joe“ doch zu den originären Fernsehspielen Becketts zählen. In „Eh Joe“, das durch die Off-Stimme einer (anklagend erinnernden) Frau skandiert wird (und Deleuze deshalb zur „Sprache II“ rechnet), rückt die Kamera, in mathematisch genau vordefinierten Zentimeter-Sprüngen, von der Totalen ausgehend, immer weiter auf das Gesicht von Joe vor. Es endet im Super-Close-Up der oberen Gesichtspartien. Joe, à la fin de la pièce, fait un grand sourire. Pour la première fois, il regarde la caméra; il regarde dans la caméra. Alors, Beckett voulait – c’est, je crois, un exemple de la façon dont il travaille – qu’on voit le sourire mais pas la bouche, il voulait qu’on voit seulement les coins des lèvres.28 24 Zum Inkarnations-Motiv vgl. u.a. Baldwin: Samuel Beckett’s Real Silence, S. 148ff. 25 Gruber: Empire of Light, S. 216-17. 26 Esslin: „Towards the Zero of Language“, S. 47. 27 Herren: „Nacht und Träume as Samuel Beckett’s Agony in the Garden“, S. 55. 28 Lewis: „Beckett et la camera“, S. 372.

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„Eh Joe“ – Becketts erstes Fernsehstück – schließt mit einem direkten Blick auf den (unseren) Blick auf den Schirm, lächelnd. In seinen TV-Stücken reduziert Beckett Fernsehen immer auf diese simple und rohe (vielleicht sogar ‚grausame‘) Eins-Zu-Eins-Situation des Blicks. „It’s the savage eye“29, erklärt er seinem Kameramann. Ob damit das Kameraauge oder das Auge des Betrachters gemeint war, hat er offenlassen. Grausame Frage: Wohin das Auge richten, wenn der Fernseher läuft? Beckett, der Nicht-Analytiker, fragt nicht: Was ist ein acheiropoietisches Bild? sondern: Wie kann man es betrachten? Jedes von Becketts Fernsehstücken nimmt etwas von der Fremdheit mit, die einen ungebetenen Gast in einem leeren Theatersaal überkommt, der einen Schauspieler auf der Bühne spielen sieht. Zuschauen als Gefühl des Deplatziertseins, am falschen Ort, zur falschen Stunde. Beckett spiegelt genau diese Konfiguration auf seine Bildschirme: Wir sehen Deplatzierte, die nicht da sein möchten, wo sie sind, irgendwie eingefangen in diesen Kasten, am falschen Ort zu falschen Zeit; Erschöpfte, die ihre Möglichkeiten längst aufgegeben haben. 1.3.2

Der einsame Fernsehblick

„We are alone. We cannot know and we cannot be known.“ „There is no communication because there are no vehicles of communication.“30, schreibt Beckett schon im Proust-Aufsatz. Wenn es für diese These nicht zuvor schon bei Beckett Bilder en masse gegeben hätte, die späten Fernseharbeiten bestätigten sie noch einmal neu. Neben ihrer synthetischen Seite, die Beckett einzig interessiert, ist zumindest eine analytische Anmerkung angezeigt. Denn, was das Fernsehen der 1970er und 80er Jahre angeht, trifft Beckett hier auch medientheoretisch den Punkt. Seine Diagnose vom isoliert-einsamen Zuschauer war immerhin auch die der zeitgenössischen Fernsehforschung. Wer lange vor dem Fernseher saß, galt tendenziell als „socially and psychologically isolated“31. Bis in die späten 1950er Jahre hinein wurde deshalb das Fernsehen (im Wissensdiskurs der ‚Macher‘) bestenfalls reflexologisch bewertet, nämlich nach dem Muster von Stimulanz und Reaktion, so als würden durch den Bildschirm aufrüttelnde (oder manipulierende) Stromstöße übermittelt, die den dahinter Einsamen zu dieser oder jener Reaktion (Meinung, Handlung etc.) bewegen könnten. Den tatsächlichen Akt der Rezeption allerdings musste dann erst noch die nachfolgende Aktivität der „opinion leader“ in der „two-step-flow communication“(Lazarsfeld) erledigen. Dieses Stimulus/Response-Modell (Adornos und Horkheimers empi29 Ebd. S. 371. 30 Beckett: Proust, S. 49 und S. 47. 31 Horton/Wohl: „Mass Communication and Para-social Interaction“, S. 222.

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rische Studien gründen gleichermaßen darauf) kam erst im Kontext des symbolischen Interaktionismus der Chicagoer Schule der 1960er und 70er Jahre außer Kurs. In seiner Nachfolge geht der „Uses and Gratification“-Ansatz der heutigen Fernsehforschung grundsätzlich von einem (immer schon) „aktiven“ Zuschauertyp aus, der auf nicht-lineare Weise auf das Programmgeschehen am Bildschirm reagiert. Becketts Arbeit kommt zur Sendung, als Fernsehen schon nicht mehr nur als Stimulanz, aber auch noch nicht tatsächlich als ZuschauerNutzungs-Akt verstanden wurde. Genauer besehen, verdankt sich dieser forschungsstrategische Paradigmawechsel der 1970er Jahre ganz wesentlich einer inzwischen legendären Studie von Donald Horten und Richard Wolf aus dem Jahr 1956, die den Begriff der „parasozialen Interaktion“ in die Welt setzte. Der Zuschauer, so die These, reagiert vor dem fiktiven Bild fremder Menschen auf dem Fernsehschirm nicht „orthosozial“ (wie in der U-Bahn z.B.), sondern gleichsam selbst noch einmal fiktional, also in einer Art „Para“-Zustand. Parallelzustände solcher Art lassen sich durch Fragebögen gut indizieren, vindizieren und deshalb auch empirisch messen; daher gilt die „parasoziale“ Hypothese des Fernsehkonsums inzwischen weitgehend unbestritten. Umso mehr lohnt ein Blick auf die ursprüngliche Definition bei Horten/Wolf: In television, […] sometimes the ‚actor‘ – whether he is playing himself or performing in a fictional role – is seen engaged with others; but often he faces the spectator, uses the mode of direct address, talks as if he were conversing personally and privately. The audience, for its part, responds with something more than mere running observation; it is, as it were, subtly insinuated into the programme’s action […]. The more the performer seems to adjust his performance to the supposed response of the audience, the more the audience tends to make the response anticipated. This simulacrum of conversational give and take may be called para-social interaction.32 Insinuation, Justierung, Antizipation und das „Simulacrum“, – auch Horton und Wolf müssen Anleihen machen bei der Beschreibung eines Rituals (oder Ritornells), um den Zentralbegriff der modernen Fernsehforschung zur Geltung zu bringen. Sind die empirischen Indikationen und tausendfachen Messungen (Befragungen) seither nicht auch nur Ritornelle? Die „parasocial relationship“ erklärt sich durch nichts anderes als durch das Ritornell, das sie ist.

32 Horton/Wohl: „Mass Communication and Para-social Interaction“, S. 215.

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1.3.3

Das Ritornell des Entzugs

Was Adjustierung und Antizipation betrifft, so ist es eine ebensolche ritornelle Struktur, die den Blick auf „Nacht und Träume“ leitet. Indem wir den Plot noch einmal sehen, werden wir mit ihm vertraut. Beim zweiten Mal kennen wir das Bild des ‚Kelch-und-Tuch-Gebens‘ und das vom ,Hand-und-Hände-Nehmen‘ schon, das Beckett da malt. Filmanalytisch gesehen handelt es sich um eine einzige Einstellung ohne Schnitt. Narratologisch wird damit nichts wirklich klarer, außer dass die schnittlose Verdoppelung jeder Sequenz die Wirkung einer eindringlichen Bestätigung hat. Die Tempoanweisung lautet zudem: „slower motion“, langsamer, also deutlicher werden; die Wiederholung der Szene in verdoppelter Zeit. Die Zufahrt (oder der Zoom) auf die Traumszene in bildfüllender Wiederholung schreibt sie noch einmal nachdrücklicher auf den Schirm ein. Je deutlicher das Geschehen, umso weiter geraten wir selbst von ihm weg. Nichts schaut uns an, nichts gewahrt uns, den blickenden Zuschauer, je langsamer, je weniger. Das Ritornell in „Nacht und Träume“ ist ein Ritornell des Entzugs. Gegeben und genommen wird jetzt, noch einmal deutlicher, nur auf dem Schirm. Graley Herren, dem wohl genauesten Beobachter des Stücks, ist die verborgene Rivalität, die in diesem Szenario, gerade durch seine Verlangsamung, aufkommt, nicht entgangen. Was B bekommt, wird A nicht bekommen/sehen. „Nacht und Träume“ eröffnet den Blick auf einen Blick, der nur auf seinen (Traum-)Blick blickt. Die TV-Seher bleiben, wie am Ende A, blickverloren vor dem Bild zurück. Auf eine eigentümliche Weise inszeniert Beckett eine Präsenz des Verschwindens. Nur damit, also nur aus der Grammatik seiner Blickkonstruktion heraus, macht Beckett sein letztes Fernsehstück zum Still-Bild. Parasoziale Interaktion? Vor dieser Fernsehtextur sind wir tatsächlich im Zustand eines ‚bloßen Auges‘ – nämlich ganz und gar allein. Beckett legt damit das platte Simulacrum des Fernsehens bloß, deckt das auf, was übrig bleibt, wenn eine parasoziale Interaktion mit dem Gezeigten nicht gelingt; wenn sie, in gewisser Weise, ausgeschlossen ist; wenn ein Traum-Ritornell das fiktionale „conversational give and take” des Fernsehakts außer Kraft setzt; wenn Television einfach das bleibt, was sie ist: nämlich eine nicht von Menschenhand, sondern von Elektronen ausgelöste Wechselwirkungen auf einem Kathodenstrahlschirm. Das wäre die ‚moderne‘, die technologisch gültige Variante der Definition. Die gegenmoderne Variante hieße: Television ist „Geisterfotografie“.

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Geisterfotografie

Mit der Geisterfotografie betreten wir (was Beckett betrifft, mit Vorsicht) das Gebiet des „modern spiritism“, in dessen Tradition die „spirit photography“ von etwa 1860 an bis weit in die 1920er Jahre hinein ihren ambiguitiven und dissidenten Ort einnimmt. Was immer Beckett von der medial/mediumistischen Geschichte dieses „modern spiritism“ und ihren einschlägigen Manifestationen gewusst haben mag, – seltsamerweise referenziert sein Fernsehstück „Nacht und Träume“ schon ganz äußerlich ziemlich direkt auf sie. Ich rede von den levitierenden Händen, die B ‚aus dem Nichts heraus‘ Kelch und Tuch reichen. Es gibt hunderte von „spirit photographies“, in denen solche Hände, von links, von rechts, oben und unten, ja selbst aus dem Schoss einer mediumistisch verzückten Person ihr zu- oder gar aus ihr heraus wachsen. Aber wiederum: Es sind nicht die Embleme, sondern es ist ihr Diskurs, der Becketts Arbeit strukturiert. 2.1

Das „okkulte Getue“

Dass aber überhaupt geisterfotografische Ikonen in einem Stück von Beckett wiederkehren, ist schon deshalb seltsam, weil wir von Beckett ziemlich genau wissen, wie wenig er „das ganze okkulte Getue“ mochte; dass er sich, um nur ein Beispiel zu nennen, in einem Brief an seinen engsten Freund Tom McGreevy fragte, was das Ganze „mit der Seele zu tun hat, wie ich das alte Biest erlebe“33. Beckett spielt hier auf einen der vielen Entwicklungszweige des „modern spiritism“ an, nämlich die Psychoanalyse in ihrer speziellen und spiritualisierten Variante der Theorie C.G. Jungs. Verbrieft ist, dass Beckett Jung kannte (durch einen Besuch seiner ‚Travistock Lectures‘ in London), er dessen schalenförmiges Hirnmodell (vom äußeren „Ego“ zum inneren „Unbewußten“) interessant fand, aber Jungs Archetypenlehre bei ihm auf Ablehnung stieß.34 Wie ‚nah‘ indessen okkulte Praktiken des „modern spiritism“ Beckett dennoch waren, zeigt die zitierte Briefstelle indirekt auch. Sie bezieht sich nämlich auf Hester Travers-Smith Dowden (1868-1949), bei der Becketts Freund McGreevy zur Untermiete wohnte. Mit dessen Landlady (und ihrem „ganzen okkulten Getue“) pflegte Beckett 1934/35 ziemlich regen Kontakt, spielte vielfach mit ihr vierhändig Klavier und war häufiger Gast bei ihren Hauskonzerten. Dass Madame Hester Dowden, geschiedene Dr. Travers-Smith, ein in London auch noch zu dieser Zeit hochberühmtes „Ouija-Board“-Medium war, kann ihm nicht entgangen sein. 33 Beckett an McGreevy vom 8. Februar 1935, zit. nach Knowlson: Samuel Beckett, S. 251. 34 Einzelheiten in Ackerley/Gantarski: The Grove Companion to Samuel Beckett, S. 290ff.

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2.1.1

Oscar Wildes „Ouijas“ in Finnigans Wake

Ein „Ouija”, auch „Hexenbrett“ oder „planchette“ genannt, ist ein Brett mit aufgemalten Buchstaben und Zahlen, auf das ein Medium (in Trance) „tippen“ kann (oder irgendwie sonst signiert wird), um Botschaften zu übermitteln. Die Hand des Mediums wird sozusagen spirituell geführt und schreibt automatisch (zum Beispiel mit verbundenen Augen). Vorgreifend sei vorausgeschickt: In einigen Ouija-Board-Seancen mag es sich bestenfalls um Selbsttäuschungen gehandelt haben, in ihrer Mehrheit aber sicherlich um schlichten Betrug. In Trance versetzt schrieb Madame Hester Dowden (oder ließ schreiben), McGreevys Wirtin, im Auftrage von Geistern und toten Berühmtheiten. Ihre Bücher zeigen, wie ernst und ‚wissenschaftlich‘ sie ihre Praktiken nahm. Zur wissenschaftlichen Erforschung und Experimentation solcher Praktiken bestand seit 1882 in London die hoch angesehene „Society for Psychical Research“, in der namhafteste Naturwissenschaftler vertreten waren. 1892 zeigt die Mitgliederliste solche Namen wie William Crookes, Alfred Russel Wallace, William James, Hippolyte Bernheim, Pierre Janet, Edward Charles Pickering, Heinrich Hertz, Max Dessoir, Oliver Lodge u.v.a., also eine gute Auswahl der Crème de la Crème der europäischen Wissenschaften um die Jahrhundertwende. Seit Beginn der 1920er Jahre war wohl auch Madame Dowden noch unter ihrem Ehename Travers-Smith assoziiertes Mitglied in dieser angesehenen Gesellschaft. Ihre Bücher wurden von dessen Mitbegründer William Barett mit positiv begutachtenden Vorworten versehen. „I am absolutely certain that the sitters’ condition is abnormal once the control or communicator takes possession of the arm”35 heißt es in Hester Dowdens 1919 erschienenen Buch Voices from The Void. Mittels solcher „Ouija“-Praktiken, behauptet Madame Dowdon vier Jahre später, kam das Medium „Mr. V“ (unter ihrer Aufsicht) nun auch mit Oscar Wilde in Kontakt. Die Ergebnisse finden sich im erfolgreichsten Buch von Hester Dowdon, den Psychic Messages from Oscar Wilde, London 1924. Neben dem persönlichen Kontakt muss Beckett auch diese Schrift schon deshalb gekannt haben, weil James Joyce, dessen Ulysses Oscar Wildes Dowden-Geist tief verabscheut, (so der Wortlaut: „ ‚What is your opinion of Ulysses by James Joyce?‘ The response was ‚Yes, I have smeared my fingers with that vast work. […] It is a singular matter that a countryman of mine should have produced this great bulk of filth. […] It gives me the impression of having been written in a severe fit of nausea.‘ ‚Shame upon Joyce, shame on his work, shame on his lying soul.‘ “ 36) in Finnigans Wake gleich zweimal darauf Bezug nimmt. Überdies finden sich Exzerpte aus Dowdons Buch in den „Holograph Workbooks“ von Joyce, die etwa in die Zeit der Beckett-Assistenz fal-

35 Smith: Voices from The Void. 36 Hester Travers Smith: Psychic Messages from Oscar Wilde, S. 38ff.

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len.37 Sam Slote hat im Detail gezeigt, wie sich Joyce in Finnigans Wake nicht im mindesten scheut, mit den ,spirituellen Tiraden‘ des Wilde-Geistes der Madame Dowdon respondierend und seinerseits literarisch produktiv umzugehen.38 An keiner Stelle geht er auf Distanz zu dem ganz offensichtlich durch Betrug und Täuschung entstandenen Text. Joyce analysiert nicht, sondern synthetisiert lieber. Er verleibte seinem eigenen Text die mediumistisch von Downdon erzeugten Wahngebilde eines Pseudo-Wilde umstandslos ein und erzeugt so „a figural constellation that disturbs the surface of textual referencing. These figures serve to destabilize identifications by imposing referential divagations away from statements of individuality“39. Den Joyce-Mix aus mediumistischen und literarisierenden Digressionen kann Slote am Ende nur mit einem bekannten Wilde-Aphorismus quittieren: „Nothing succeeds like excess.“ Die tatsächlich hier praktizierte Synthese aus Diskursen des „modern spirism“ mit einem der wichtigsten Werke der literarischen Avantgarde gerät dabei ein wenig aus dem Blick. Dass Beckett also gut bekannt war mit einem Medium, das seinerseits in einem gleichsam doppelten ‚Verkehr‘ mit dem Hauptwerk seines Meisters gestanden hatte, darf somit als gesichert angenommen werden. Die okkulten Praktiken der Dame waren ihm unangenehm; aber den exzessiven Katholizismus seines Freundes McGreevy teilte er ebenso wenig. Wie am Veronika-Fall zu sehen war, erweist sich Beckett einerseits als ein genauer Kenner der christlich-apokryphen Mythologie; aber zugleich würde er niemals Teilhaber oder Anhänger ihrer liturgischen Exerzitien werden. Was den „modern spiritism“ betrifft, so liegt der Fall ähnlich. Wie bei Joyce (aber auch z.B. bei W. B. Yeats, Kandinsky oder Duchamp), so stellt sich auch im Kontext der Ikonologie der Beckettschen Fernsehspiele die Frage: Wie ist das Verhältnis von „modern spiritism“ des späten 19. Jahrhunderts und der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts? Ohne einen Blick auf Historie und Genealogie dieser ‚Bewegung‘ des „Modernen Spiritismus“ wird die Antwort nicht gelingen. Schon deshalb nicht, weil auch im ‚modern spiritism‘ eine acheiropoietische Frage im Zentrum steht. Allerdings nicht, wie das Bild Christi auf ein Tuch gerät, sondern wie Bilder der Seele auf eine photographische Platte und über sie auf den elektronischen Schirm gelangen. In dieser Verschiebung gerät ein Begriff in den Blick, der heute vergessen ist, damals aber für die Wissenschaft der Physik und die Kunst der Avantgarde um 1910 gleichermaßen im Mittelpunkt stand: der Äther.

37 Slote: „Wilde Thing“, S. 101-121. 38 Vgl. ebd. S. 115. 39 Ebd. S. 122.

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2.2

Zur Geschichte der Geisterfotografie

In den literarischen Kosmogonien des späten Edgar Allen Poe findet man den Kontext gut beschrieben, in dem die erste für die Medien der Moderne und den „Modern Spiritism“ gleichermaßen entscheidende Patentschrift erschien: „A new and usefull machine and systems of signs for transmitting intelligence between distant points […] any signs thus produced and representing intelligence, transmitted as before named between distant points.“40 Diese Patentschrift des Samuel B. Morse konnte den Kongressmitgliedern, die 1838 über die Versuchstrecke zu entscheiden hatten, nur suspekt erscheinen. Zwar hatte sich Präsident van Buren persönlich Morses Apparate zur Übertragung von Strichen und Punkten über galvanische Leitungen vorführen lassen. Aber erklären konnte Morse nichts. So versagte der amerikanische Kongress dem Historienmaler und Gründer der amerikanischen Kunstakademie die öffentliche Förderung, weil man, so hieß es, „ebensogut eine Eisenbahn auf dem Mond bauen könnte“41. Den Segen und das Geld für die Washington-Baltimore Strecke gab der Kongresses erst fünf Jahre später, 1843, und immer noch forderten 20 Kongressmitglieder, dass die bewilligten Mittel besser für die Erforschung des Mesmerismus verwendet werden sollten. Ebenso wenig wie die Physik seiner Zeit hatte Morse die Frage beantworten konnte, was Elektrizität sei. Die erste offiziell von Washington nach Baltimore übermittelte Telegrafendepesche drückte im besten säkular verdrehten Bibelenglisch nur Ratlosigkeit aus: „What hath God Wrought?“. Auf diese – auch für die zeitgenössische Physik unbeantwortbare – Frage: „Was“ ist Elektrizität? gaben die „Fox Rappings“ von 1848 die spiritistische Antwort, hochgebauscht von der Presse auf den Titelseiten im März, mit der eidesstattlichen Versicherung von Margret Fox, dass der ‚Geist‘ eines im Hausfundament verscharrten Toten durch Morseklopfzeichen geantwortet habe. „Zweimal Klopfen, ja, keinmal Klopfen: Nein.“ Der ‚Spirit‘ antwortet, indem er telegrafiert und hämmernd die Jahre der Kindesalter hoch zählt, eine reproduzierbare Geister-Zwei-Wege-Kommunikation. Die schnelle und intensive Verbreitung der Fox-Mär innerhalb Amerikas besorgte die Telegrafie (physikalisch) selbst, indem sie in die telegrafisch angeschlossenen Zeitungsredaktionen zugleich einen Spiritismus der Telegrafie transportierte. 1848 durchkreuzten bereits 6000 Meilen Überlanddraht die amerikanischen (Nord-)Staaten. Im Fox-Haus, am Ort des ersten großen Kreuzungsknotens telegrafischer Überlandleitungen in Hydesville, klappt das historisch erste Medium der Elektrizität spiritistisch und psychotisch um. Von hier aus spaltet sich die Geschichte des Okkultismus in eine „ältere“ (geistesoffenbarende) und „neuere“ (geister40 Morse: Improvement In the Mode Of Communicating Information By Signals. Das 1838 eingereichte Patent wurde erst 1840 angenommen. 41 Oliver: Geschichte der amerikanischen Technik, S. 121.

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kommunizierende) Epoche. Es gibt keine Chronik des Okkultismus, die diesen Epochenwechsel nicht mit den „Fox-Raps“ datiert. Binnen weniger Jahre wird ab jetzt nahezu überall in Amerika um tanzende, schwebende Tische herumgesessen, und es wird „geklopft“, „gedonnert“ und „geknallt“. Alphabetisch oder numerisch, je nach Belieben, antworten die „Geister“.42 Und da mit Telegrafie, wie Morse definiert, Intelligenz von Beginn an „schreibt“, wird auf der Gegenseite „psychografiert“. Die Geschichte des schon beschriebenen „automatic writing“ setzt genau hier ein, zunächst auf „planchettes“, „ouija-boards“, und „slates“ aller Art. Eine Praktik, die über den Leipziger Astronomen Friedrich Zöllner, der mit dem „Medium“ Henry Slade experimentierte, wissenschaftliche Reputation erlangte, und über Pierre Janets Buch L’Automatisme Psychologique sowie die Studien von Frederick Myers, William James und Gertrude Stein am Ende des Jahrhunderts direkt in die surrealistische Kunst des „ecriture automatique“ münden wird. Was den Surrealismus betrifft, Breton und Soupault haben daran nie einen Zweifel gelassen, fängt mit ihren Champs Magnetiques von 1919 alles an. Der Titel verweist unverkennbar auf das Paradigma der Elektrizität. 2.2.1

Der „Moderne Spiritismus“ und die Fotografie

An die Experimentationen mit „Ouijas“ und „Planchetes“ schließt sich, schon um 1850 in Amerika, wie aus einer Regieanweisung des imaginären Effekts franklinscher Elektrizität, an, was sonst nur Blitze bewirken können. Es entstehen massen- und gruppenpsychologische Effekte, die zunächst völlig unerklärlich bleiben. Zum Beispiel die „Materialisierungen“: Tische werden verrückt, Hausgegenstände fliegen umher, Hollywoods Poltergeisterfilme werden diese Tradition bewahren. Und schließlich: die in den Seancen erblickten leuchtenden und schwebenden „Hände“. Kontiguitiv und metonymisch lagert das Fantasma der Telegrafie im spiritistischen Diskurs seine psychotischen Elemente ab: - - - - -

Das Klopfen, das vom „Hämmern“ der Relais herkommt; „Materialisieren“ („Telekinesen“), was die Wirkung der franklinschen Elektrizität, also des Blitzes reaktualisiert; Automatisch Schreiben („Skriptoskopie“), das sich dem unaufhörlichen Zeichenfluss des Telegrafenstreifens verdankt; „In Trance Sprechen“, das die mesmeristische Vorgeschichte des „modernen Spiritismus“ aktualisiert; Die „Schwebende Hand“, die die Eingabeschnittstelle der Telegrafie imaginiert, die Hand mit dem ganzen Arm an der Morsetaste, oder im Schoß.

42 Vgl. u.a. Fuller.: Mesmerism and the American Cure of Souls.

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Viel mehr wird die Geschichte des „modernen Spiritismus“ an „Fakten“ nicht zu bieten haben. Bereits zehn Jahre nach Fox reisen in Amerika tausende von SeanceOrganisatoren herum, publizieren in wenigstens vier dutzend Zeitschriften, verankert in hunderten von spiritistischen Zirkeln und Bünden. Es handelt sich um „Schnellfingerer“ (wie Helmholtz sagen wird), Betrüger ungeahnter Klasse und ihre hysterisierte und psychotisierte Gefolgschaft. Durch den Bürgerkrieg wird der Spuk in den USA abrupt gestoppt, so dass die kurzfristig unbeschäftigten mediumistischen Trance-Medien nunmehr England und Frankreich überschwemmen, nach 1870 auch in Italien und Deutschland einfallen und hier vor allem die spiritistische Hauptstadt des Kaiserreichs besetzen, nämlich Leipzig. Zehn Jahre nach Kriegsende gründet das ukrainische Klopfgeister-Medium Helena Petrovna Blavatsky 1875 in New York die Theosophical Society unter Anwesenheit einiger MIT-Professoren und Thomas Alva Edison. Ihr über tausend Seiten starkes erstes Buch, Isis Unveiled, natürlich in Trance geschrieben, erschien 1877. Es waren in zwei Tagen in New York tausend Exemplare verkauft. Neben der unerklärlichen Elektrizität der Telegraphie von 1848 ist es die nur unwesentlich früher (1839) entstandene, aber ebenso unverstandene physikalische Chemie der Fotografie, die als ein weiteres Medium des 19ten Jahrhunderts eine Art Überforderung der Kultur bewirkt. Für beide Medien gilt, dass ihre Technologien zwar in der späten Neuzeit entstehen, technologische Apparaturen und Systeme möglich machen, sowie kulturelle und wissenschaftliche Praktiken erzeugen, ihre Theorie aber mit keiner Epistemologie der Neuzeit hinreichend formalisierbar ist. Diesen Abstand könnte man die epistemologische Differenz der elektrischen Medien nennen. Diese unaufgelöste Differenz findet ganz zweifellos in den weit ausgreifenden Spekulationen und Praktiken des „Modern Spiritism“ ihr erstes Ventil. Zugleich aber generieren die spiritistischen Praktiken und ihre spekulativ-spiritistischen Narrationsfiguren einen weiteren Kontext, nämlich bislang unerforschte, von der neuzeitlichen Psychologie weitgehend unerkannte Effekte der menschlichen Psyche: Hypnose, Hysterie, Neurosen und Psychosen. Wie schwer sich ein durchschnittlich gebildeten Anhänger der romantischen Kontinuumsphysik damit tat zu erklären, wie das Körperbild eines Menschen auf die Photoplatte gelangt, lesen wir in den Memoiren von Nadar: Jeder Körper in seinem natürlichen Zustand [besteht] aus einer Folge von geisterhaft-unkörperlichen Bildern […] , die in unendlicher Zahl in unendlich dünnen Schichten übereinandergelagert sind. [...] Da nun der Mensch niemals in der Lage war, etwas zu erschaffen, das heißt, aus einer bloßen Erscheinung etwas Materielles zu machen, aus dem Ungreifbaren oder aus dem Nichts einen Gegenstand – deshalb musste jeder Daguerresche Prozess eine der Schichten des Körpers, auf den er gerichtet war, ablösen und verbrauchen.43 43 Zitiert nach Sontag: „Die Bilderwelt“, S. 247.

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Die Geisterfotografie entstand in den 1860er Jahren genau zu dem Zeitpunkt, als Kameras mit Belichtungszeiten im Zehntelsekunden-Bereich und Platten mit einer preiswerten Gelatine-Emulsion herauskamen. Simple Doppelbelichtungen, aber auch eine spezifische Klasse von chemischen Zufallsrückständen bei der Entwicklung der Gläser wurden spiritistisch umgedeutet (und immer wieder als simple Betrügereien entlarvt). Technische Manipulationen an Fotografien erweitern etwa von 1860 an das psychotisierte Medienapriori des telegrafischen Okkultismus um eine weitere Dimensionalität, nämlich um den Äther und die Vierte Dimension. 2.2.2

Äther im Vierten Aggregatzustand

Viele zeitgenössische Wissenschaftler haben sich den spiritistischen Seancen und den zugehörigen Gruppenpsychosen schlicht verweigert; Helmholtz gehörte dazu, Virchow wohl auch. Ebenso viele andere aber, wie der bedeutende Physiker Wilhelm Weber oder der Psychologe Wilhelm Wundt waren mit von der Partie. Allen voran William Crookes, Chemiker und Entdecker des Elements Thallium, zeitweise auch Präsident der Royal Academy. Er veröffentlichte seine Experimentationen 1878 und blieb mit seinem jungen Medium „Florence King“ eine Zeit lang auch persönlich liiert. Ohne die Vakuum-Röhren von William Crookes und ohne seine entsprechend paraokkulte Theorie vom Vierten Aggregatzustand der Materie, hätten Heinrich Hertz, sein Assistent Philipp Lenard und schließlich auch Conrad Röntgen Experimente in luftentleerten Kathodenstrahlröhren („Crookes’sche Röhren“ genannt) nicht machen können. Mit einer Crookes’schen Röhre hat Conrad Röntgen 1895, unter bis heute nicht aufgeklärten Umständen, jene X-Strahlung gefunden, die für den Spiritismus und die Physik des ausgehenden Jahrhunderts gleichermaßen wirksam wurden. Röntgen fand die unerklärliche Strahlenwirkung auf einer zufällig herumliegenden photographischen Platte. Für diese Technik, die Unsichtbares sichtbar macht, meldet er kein Patent an. Da seine Apparaturen vergleichsweise einfach sind, wird ab 1896 ohne weitere Kenntnis von den physikalischen Eigenschaften weltweit geröntgt. Röntgen belichtet seine Ergebnisse ohne Linsen und Kamera direkt auf photographische Medien; so dürfen nun auch in keinem physikalischen Labor Europas, aber auch in kaum einem Künstleratelier fotografisch belichtbare Platten fehlen. 1896 erklärt sich August Strindberg zum „Zola des Okkulten“, beginnt leidenschaftlich zu fotografieren und schreibt unter Bezug auf durch Röntgen erwiesenen Strahlen sein okkultes Tagebuch. Ein Sammelsurium von Zufallsfolgen von Erlebnissen, Träumen, Beobachtungen, notiert, als seien es Daten einer den Strahlen exponierten Fläche.44 Vor diesem Horizont 44 Greenway: Penetrating Surfacies: X-Rays, S. 39ff.

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schreibt Strindberg nur wenig später seine Geistersonate, ein Stück, dessen wahlverwandte Inszenierung Becketts Erstaufführung von Warten auf Godot im Theater von Roger Blin vorausging. Wie Strindberg von Röntgens mysteriösem Fund angeregt, findet auf der Seite der Schulphysik Antoine Henri Becquerel die radioaktive Strahlung des Urans (er lässt eine belichtbare Platte unabsichtlich über Nacht neben Uranstaub liegen, so wie Strindberg seine Cellostographien absichtlich vom Mondlicht belichten ließ). 1897 entdeckte Joseph John Thomson das Elektron, auch wiederum mithilfe der Crookes’scher Röhren, und zwar bereits durch die Messung des Massegewichts dieser negativen Ladungseinheit. Die Resultate dieser Untersuchung unterstützen die Ansicht, schreibt Thomson, „that the carriers of negative electricity are bodies, which I have called corpuscles, having a mass very much smaller than that of the atom of any known element“45. Das erste Atomteilchen ist gefunden, mittels dessen Ernest Rutherford, ein Schüler Thomsons, das vorhandene Wirbel-Äther-Modell der viktorianischen Physik umbaut. Rutherford bewies die Existenz des Protons um die Jahreswende 1910/11. Dass die Röntgenstrahlung, physikalisch gesehen, überhaupt zum elektromagnetischen Spektrum gehört, konnte erst 1912 durch die Interferenzexperimente Max von Laues bewiesen werden. So boten Röntgenstrahlen fast zwanzig Jahre lang das Schauspiel des Okkulten und das produktive Rätsel einer Schulphysik gleichermaßen; ein Stoff, wie geschaffen für den Technologismus in den frühen Bildern der Futuristen Romolo Romani und Umberto Boccioni. Röntgen selbst hatte weder Brechung noch Reflexion der Wellen nachweisen können, sondern von einem Agens X gesprochen. Seine Vermutung war, er habe endlich die Longitudinalwellen des Äthers gefunden. Crookes, der auch zeitweise Präsident der 1882 gegründeten Londoner Society for Psychical Research war, mutmaßte in seiner 1897er Präsidialadresse, das Phänomen der Gedankenübertragung sei der Effekt von Röntgenstrahlung. Telepathie und Telekinese, also das Spielen von Musikinstrumenten, ohne sie zu berühren, das Crookes beim Medium Slade bewiesen fand, das Lösen von Knoten wie von selbst, das Tische-anheben und -schweben-lassen, all dies sei möglicherweise die Wirkung besonders sensitiver Menschen, die ihre Gedanken, die in nichts anderem als dieser elektromagneto-ähnlichen X-Strahlung bestünden, entsprechend bündeln könnten.

45 Thomson: Carriers of Negative Electricity, S. 134.

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2.2.3

Baraduc

Erstaunlich genug, der spiritistische Okkultismus der Geisterfotografie korrespondierte nicht mit christianischer Mythologie, sondern mit der Epistemologie der Wissenschaftsfotografie in der Tradition John Herschels. Dass man mittels Fotografie sowohl die Geheimnisse des Lichts als auch die Geheimnisse leuchtender Sterne besser aufklären konnte, war Herschels Motiv gewesen, der Fotografie ihren Namen – Schrift des Lichts – zu geben.46 Nach den ikonographischen Serien des Physiologen Duchenne de Boulogne und der Polizeifotografiegründer Cesare Lombroso und Alphonese Bertillon, sowie nach Albert Londes systematischer Serie der Hysteriefotografie in Charcots Salpêtrière sollte es Hippolyte Baraduc vorbehalten bleiben, eine Kartographie der Physiognomien der menschlichen Seele zu erstellen. Hippolyte Baraduc (1850-1909) war Gynäkologe und Internist in der Salpêtrière, in jener großen Klinik für Geisteskranke, in der ausschließlich Frauen interniert waren. Baraduc hat seine Arbeiten in einem guten Dutzend Bücher veröffentlicht, in vielen Vortragsreisen quer durch Europa vorgestellt, u.a. 1906 mit Vorträgen und einer Ausstellung von 400 seiner Bilder in München. Seine „ikonographische“ Photographie hat die abstrakte Malerei Vassily Kandinskys wesentlich stimuliert. Aber auch hier finden wir den Kreuzungspunkt zur ‚regulären‘ Wissenschaft. Baraducs biometrische Theorie der Nervenfunktionen hat nicht nur der Avantgarde von 1910, sondern ebenso der Entwicklung des ersten Radio-Empfangsgerätes, also dem „Kohärer“ den Weg bereitet. Man machte es sich zu einfach, würde man annehmen, Baraduc sei in seinen fotografischen Abbildungen von „Lebenskräften“ auf fotografischen Platten getäuscht worden durch die Flecken und Streifen, die bei der Entwicklung seiner Fotoplatten übrig geblieben waren; oder gar durch die vielen feinen weißen Schatten, die durch Überbelichtung entstanden war. Das ist zweifellos das, was wir heute sehen, aber nicht, was Baraduc darin repräsentiert sah. Er wollte in diesen Mustern, Streifen, Wolken und Schatten „Vibrationen der menschlichen Vitalität“47 abgebildet sehen, Abdrücke eines vitalen Fluidums namens „Od“ oder „Psychod“, das in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts von einem obskuren Autor namens Theodor von Reichenbach in umfänglichen Forschungen ‚entdeckt‘, so benannt und von Theodor Fechner in Leipzig bestätigt worden war. Die Schulphysik hat die Existenz eines „Od“-Fluidums selbstredend nie akzeptiert. Aber wo verlaufen die Grenzen zwischen Wissenschaft und Okkultismus um 1890?

46 Vgl. Hagen: „Die Entropie der Fotografie“. 47 Baraduc: Les Vibrations de la Vitalité Humaine.

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Ab Mitte der achtziger Jahre war Hippolyte Baraduc im elektrophysiologischen Labor der Salpêtrière tätig, setzte menschliche Mägen unter elektrischen Strom, oder wusch sie aus, wie er es nannte, mit Hilfe von elektrischen Entladungen, um Magen-Vergrößerungen zu verhindern.48 Er konstruierte auch Instrumente zur sogenannten De-Elektrisierung des Gehirns, zum Beispiel einen „Décondensateur Celebrale“ zur „désélectrisation de la tête dans l’obsession psychique et de la rate dans la vésanie imaginative“49. Genauer besehen, handelt es sich wohl um einen Elektroschockapparat. In einer Zeit, in der das Elektrokardiogramm erfunden wurde, unser gewöhnliches EKG, das nichts anderes als eine Ableitung von Herzströmen aufschreibt, behauptete Baraduc, dass es verschiedene elektrische Ströme gibt, die durch verschiedene Teile des Körpers strömen und sowohl exakt messbar als auch exakt bilanzierbar seien. Während das EKG sich bis heute erfolgreich auf „Herzströme“ beschränkt, hielt Baraduc für sicher, dass die messbaren „psychikalen Fluida“ den Körper insgesamt durchströmen. Diesen Äther inhalieren wir, so Baraduc, mit der rechten Seite unseres Körpers und atmen ihn mit der linken Seite wieder aus (nichts, was heutigen Yoga-Atmungstechniken gänzlich fremd wäre). Physisches Leben erklärt er für eine Art körperliches Flottieren im Äther, welcher dem Körper erst die Seele gibt. Eine Pointe in seiner Theorie ist eine Art newtoniansches Gleichgewichtstheorem. Aus- und Einatmen des Fluidaläthers schafft (wie Repulsion und Attraktion bei Newton) Gleichgewichtszustände oder eben deren Störung. In tausenden von Messungen macht Baraduc die Bilanz auf. Indem er die messbaren Quantitäten der „Aspiration“ und „Expiration“, also der Ein- und Ausatmung des Fluidums, wohlgemerkt mit dem Körper, nicht mit dem Mund oder sonstigen Öffnungen, verglich, meinte er herausgefunden zu haben, dass ein normaler Verbrauch an „vitaler Kraft“ von, angenommen zehn Einheiten, uns eine bestimmte Menge an psychischer Energie zuführt. Seiner Vorstellung nach sind wir auf diese vibrierende und pulsierende Weise stets mit unserer Umgebung verbunden, aus der wir unsere psychischen Energien ziehen. Da auch Baraduc zahlreiche Referenzen an fernöstliche und indische Praktiken macht, könnte man das Ganze, um es verständlich zu machen, für einen positivistisch-pseudowissenschaftlichen Ontologisierungsversuch gängiger Yogapraktiken halten. Anders liegt die Sache bei seinen „Radiografien“ und psychischen Ikonografien, die ihn (seine komplizierte Theorie verstand offenbar ohnehin kaum jemand) in spiritistischen und später auch in avantgardistischen Kreisen populär gemacht haben. Baraduc will mit seinen Fotografien seine Theorie visuell bestätigt sehen, dass nämlich psychische Emotionalzustände (Trauer, Wut, Hysterie, Cholerik etc.) nichts anderes seien als spezifische Störungen im körperlichen Aus48 Zu seinen gynäkologischen Praktiken vgl. Didi-Huberman: Die Erfindung der Hysterie, S. 106ff. 49 Baraduc: Les Vibrations de la Vitalité Humaine, S. 188.

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tausch und der Einatmung/Ausatmung von psychischen Fluida um uns herum. Sie seien von lichtähnlichem Stoff und aus Ätherwirbeln und -korpuskeln zusammengesetzt. Nach Röntgens Vermutung (X = Longitudinalwellen des Äthers) sollten sie also auch fotografierbar sein, wenn unser normales Auge sie nicht sieht. Wie bei Röntgen, auf den mehrfach referenziert, und wie bei Strindberg, belichtet Baraduc seine Platten der Äther selbst. Seine psychikonische Fotografie zeigt, vom Äther selbst erzeugte, Äther-Abdrücke, „voile éthérique, ruban, formes, poussière, globes en boule“50, die er in großen ikonologischen Kartierungen mit allen möglichen ägyptischen, kabbalistischen und alt-indischen Ornamentalstrukturen vergleicht. Der abgebildete Äther zeigt den Geist der Seele, dessen gleichsam anthropische Inkarnierung die menschliche Existenz repräsentiert: „L‘âme vitale incarnée, le corps fluidique animique soudé au corps matériel, c‘est l’existence; séparée de son corps, c‘est la mort, la cessation de notre existence, mais non celle de notre être.“51 Die Fotografie ist die vollendete Inkarnation: Das menschliche Sein ist im ewigen Äther verbürgt, der für die Zeit der materiellen Körperlichkeit als Inkarnation der Seele an ihn gefesselt bleibt. Woraus logisch folgt: Gefühle haben auch noch die Toten, Empfindungen existieren jenseits ihrer Inkarnation. Das Fortleben nach dem Tode ist garantiert inklusive aller Wiedergeburten. Baraducs Fotografien ‚zeigen‘ dies alles, schwarz auf weiß, oder besser in weißen Punkten, seltsamen Globen, verwischten Wolken und geisterhaften Schatten. In seiner Fotografie einer Zwangsvorstellung spielen die weißen Ätherwolken gleichsam verrückt – eine Zwangsvorstellung. 2.2.4

Nervenradio oder „Les neurones jouant le rôle des grains métalliques“

Baraducs Psychikonen zeigen Zwangsvorstellungen, die nur im Modus einer Zwangsvorstellung (z.B. von der Gültigkeit seiner Theorie) zu verstehen sind. Dennoch verdankt die Mediengeschichte dem biometrischen Kontext des Baraducschen Wahnsystems eine ihrer wichtigsten Apparaturen. In seiner abschließender Darstellung der „Méthode biométrique appliquée aux sensitifis et aux névrosés“ (1904) finden wir bei Baraduc eine Danksagung an „Professeur Branly“. Baraduc dankt Branly, dass er als Gutachter zur Verfügung gestanden habe, um die etwa 5000 Messungen, die Baraduc in 15 Jahren durchzuführen hatte, auf wissenschaftliche Korrektheit zu prüfen.52 Edouard Branly muss also Baraducs Theorien gut gekannt haben. Branly seinerseits jedoch ist der Erfinder des ersten Empfangsgerätes für das Radios, der sogenannte „Branly Tube“, in England 50 Baraduc: La force curatric à Lourdes et la psychologie du miracle, S. 2. 51 Baraduc: La force vitale, S. VI. 52 Baraduc: Les vibrations de la vitalité humaine, S. 5.

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„Kohärer“, in Deutschland „Fritter“ genannt. Ohne dieses Gerät hätte Marconi keine Radioübertragungen über Kontinente und Meere machen können. Beides, Baraducs biometrische Apparate und Branlys „Flasche“ stammen aus dem gleichen elektrophysiologischen Labor der Salpêtrière.53 Die Voraussetzungen für sein Gerät sind schnell zu verstehen. Wenn es nämlich psychische Ätherfluida sind, deren Ein- und Ausatmung unsere psychischen Zustände bestimmen, dann bleibt nur noch das Rätsel aufzuklären, wie unser Körper diese Fluida = Ätherwellen aufnimmt und wie er sie gegebenenfalls auch wieder an die Umgebung abgibt. Dafür hatte nun nicht Baraduc das Modell und die Apparatur entworfen, sondern Branly. Die Branly-Flasche, in welcher „les neurones jouant le rôle des grains métalliques“54 : ein recht simples Ding, so groß wie ein zu beiden Seiten geschlossenes Reagenzglas, das mit losen Feilspänen aus leitendem Material (grains métalliques) gefüllt ist. Dieses Material aus Eisen-, Zinkund Kupferspänen, war im Normalzustand nicht leitend für elektrischen Strom. Als Unterbrecher in einen Stromkreis geschaltet, wurden die Metallspäne in der Branly-Flasche erst dann zum leitfähigen Material, wenn von außen elektromagnetische Wellen auftrafen. Keine Metaphysik, sondern praktizierte Technologie. Der Kohärer war mehr als zehn Jahre lang, von 1894 bis mindestens 1906, das Standardgerät für Radioempfang. Entstanden ist der Kohärer als ein physio-mechanisches Nervenmodell, das aus der Theorie Baraducs sich folgerichtig ergibt. Fluida treffen auf die Nerven, die dann Nervenströme zünden. Wieweit der Physiker Branly selbst im technisch-physikalischen Sinn je genau verstanden hat, was er ‚entdeckte‘, ist in der Forschung bis heute umstritten.55 Sicher ist nur, dass Branly auch später noch ein begeisterter Teilhaber an spiritistischen Seancen blieb, wie sie z.B. am „Institut Général psychologique“ zwischen 1905 und 1908 unternommen wurden. Da war er in guter Gesellschaft, unter anderem in der von Marie und Pierre Curie.56 Bis heute wird Branly in Frankreich als Vater des Radios (mit eigenem Museum) geehrt. Aber eben nur in Frankreich. 2.2.5

Kandinsky als Leser Baraducs

Die Theorie und die Fotografien Baraducs geben uns einen Begriff davon, was der „modern spiritism“ am Ende des 19. Jahrhundert vor allem epistemologisch bedeutet. Baraducs Fotografien zeigen eine mediale Störung (Zufallsbelichtun53 Monod-Broca: Branly, S. 171ff. 54 Ebd. S. 204. 55 Vgl. Blondel: „Branly face à l‘innovation technique: un cas d‘espèce?“; Cazenobe: „Branly est-il l‘inventeur du tube de Branly?“. 56 Monod-Broca: Branly, S. 217.

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gen, fehlerhafte Emulsionen und Expositionen), deren medialer Anteil durch eine positive spiritistische Ontologie eines allheitlichen Seelenäthers verworfen wird. Der Äther, der die Beschaffenheit von Seelenzuständen repräsentiert, tritt damit an eine Stelle, wo nicht mehr verschwiegen werden kann, was schon ausgesprochen wurde; und nicht mehr gesagt, was verschwiegen wurde, wo ein Diskurs den anderen so passgenau ersetzt; wo ein System das andere so restlos überlagert, dass keine Lücke, keine Differenz mehr bleibt. Nicht nur von der Struktur her zeigt sich hier eine Nähe zur Psychose, wie Lacan sie definiert. Man kann Baraduc und seine Psychikonen entweder nur für ein Wahngebilde oder nur für die reine Ontologie halten. Letzteres taten Annie Besant und Madame Helena Blavatsky aus guten strategischen Gründen. Die spiritistische Theosophie erklärt Materialität für schlechthin psychogen, anders denn ihre betrügerischen Praktiken jeder Glaubwürdigkeit entbehrt hätten. Bewundernswert bleibt gleichwohl, mit welchem Geschick und welcher Energie die Theosophische Gesellschaft den Spiritismus der 1850er Jahre aus Amerika herausgetragen und bis zur Jahrhundertwende in eine einflussreiche, von Indien aus gesteuerte lukrative Bewegung verwandelt hat. Bis zu seiner Abspaltung 1908 als „Anthroposoph“ war Rudolf Steiner der Chef ihrer deutschen Abteilung. Steiners Vorlesungen in München waren das beliebte Ziel jener sich bildenden Künstlergruppe um Warianne von Werefkin, Gabriele Münter, Alexei von Jawlenski und Wassily Kandinsky, die mit Franz Marc, Arnold Schönberg und dem jungen Paul Klee später die Gruppe „Der Blaue Reiter“ begründen sollten. Noch mehr aber hat, wie Sixten Ringboms gründliche Lektüre der Kandinsky-Notate erweisen konnte, ein anderer Theosoph auf Wassily Kandinsky gewirkt, Charles W. Leadbeater.57 Leadbeater galt schon zu Lebzeiten als zwielichtige und wegen sexueller Übergriffe an Kindern später sogar verurteilte theosophische Gestalt. Was aber Kandinsky nicht hinderte, die beiden auf deutsch erschienenen Veröffentlichungen Annie Besants und C.W. Leadbeaters von 1908, Gedankenformen und Der sichtbare und unsichtbare Mensch, einer folgenreichen Lektüre zu unterziehen. Vor allem die Gedankenformen sind eine (fast schon grausam) schlichte Popularisierung der Baraducschen Arbeit. Leadbeater macht aus den verschwommenen schwarz-weiß Fotografien Baraducs bunte, sauber gemalte Bildchen. Besant und Leadbeater kolorieren die Ätherfotografie von Hand. „Der Äther beginnt jetzt“, schreibt Leadbeater, im Reiche der Wissenschaft festen Fuß zu fassen und wird allmählich mehr als nur eine Hypothese sein. […] Dr. Baraduc hat die Grenzen, die uns von der übersinnlichen Welt trennen, überschritten und beginnt jetzt, astral-mentale Gebilde zu fotografieren, um Bilder von dem zu 57 Ringbom: The Sounding Cosmos.

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gewinnen, was man vom materialistischen Standpunkte aus die Resultate der Schwingungen der grauen Gehirnmasse nennen würde.58 Man sieht, wie wenig es Leadbeater um die Theorie Baraducs ging; Baraduc hat nie behauptet, dass die ikonografischen Gefühlsauren, die er fotografiert, von Strahlungen des Gehirns erzeugt werden. Aber was macht das, im psychotischen Wahnsinnsmuster, für einen Unterschied? Leadbeater belässt es, theoretisch und ikonographisch, bei einem „Baraduc Light“. „Die Projektion eines inbrünstigen Gebetes ist eine besonders lehrreiche Illustration einer nach außen strahlenden Kraft“, „Ein kleiner Knabe, der einen toten Vogel betrauert, ist von einer Lichtflut umgeben, wie sie Gemütsaufregungen eigentümlich sind“, „Das Gefühl einer tiefen Traurigkeit erzeugte einen starken Wirbel“. Leadbeater repetiert Baraducs Seelenzustands-Ikonographie, indem er die Fotografien aus Baraducs Büchern hübsch zurechtmacht. So werden sie wieder Gegenstände der „clairvoyance“ und bilden ein „Band zwischen den Wahrnehmungen der Hellseher und den Wissenschaftlern“59. Kandinsky (dieser „sympathische alte Sibirer“, wie Beckett ihn nannte, der ihn 1939 persönlich kennengelernt hatte und für ihn ein wichtiger künstlerischer Bezugspunkt blieb)60 hat, wie Ringbom zeigt, von diesen Mustern, Farben, Konfigurationen Leadbeaters ausgehend, seine eigene, sehnsüchtig verschrobene Malerei der geistigen Formen entwickelt, also das, was wir heute verkürzt abstrakte oder ungegenständliche Malerei nennen. Von 1908 an datieren diese Versuche. Die meisten von Leadbeater alias Baraduc ikonographierten Gedankenformen lassen sich in Kandinsky Improvisationen, Kompositionen wiederfinden; und schon in dem ersten, 1910 entstanden abstrakten Aquarell ohne Titel kann man ohne Mühe die „vague pure affection“ (ein hellroter Farbfleck), die „vague intellectual pleasure“ (in Gelb) oder die „Vague selfish affection“61 als Leadbeater/ Baraducsche Psychoikone wiederfinden. In seinen zeitgleich geschriebenen Notizen zur Farbsynästhesie bemerkt Kandinsky: „Das helle (warme) Rot erweckt das Gefühl der Kraft, Energie, Streben, Entschlossenheit, Freude, Triumpf (lauter) usw. Es erinnert musikalisch an den Klang der Fanfaren, wobei man auch die Tuba hört – hartnäckiger, aufdringlicher, starker Ton.“62 In der „Studie zur Improvisation 28“ (1912) verdichten sich diese Leadbeater/Baraduc-Anleihen: Neben der „Vague intellectual pleasure“, „Sudden fright“, „Vague sympathy“, „Vague religious feeling“ und „The gamblers“ finden sich zahlreiche weitere „Thought Forms“, die Kandinsky in seine abstrakten Kompositionen eingebettet hat, so 58 Leadbeater/Besant: Gedankenformen, S. 1. 59 Ebd. S. 4f. 60 Vgl. Knowlson: Samuel Beckett, S. 289. 61 Leadbeater/Besant: Gedankenformen, Farbtafeln 8, 18 und 9. 62 Kandinsky: Gesammelte Schriften, S. 299.

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als ginge es ihm darum, mit einer geheimen Ikonologie verschwiegener Leadbeaterscher Provenienz zu operieren. Orange wirkt deswegen freudig, aber sehr ernst, ist wie ein in seinen Kräften überzeugter Mensch, ruft ein besonders gesundes Gefühl hervor. Violett ist das abgekühlte Rot, abgekühlt im physischen und psychischen Sinne. Deswegen hat das Violette etwas leicht Krankhaftes.63 Die Beobachtung ist, dass Kandinsky die so genannte „abstrakte“ Malerei, die angeblich nur aus einer freien, idealen Geometrie von Form und Fläche entstanden sein soll, in Wahrheit den astral-theosophischen Figurationen Leadbeaters ganz wesentlich verdankt, in denen ihrerseits ein halbes Jahrhundert Okkultismusgeschichte des „modern spiritism“ auf eine mediengenealogische Weise verdichtet. Umso mehr muss Kandinsky diese seine Quellen verbrämen und verbergen. Die Pointe seiner Arbeit, so schreibt Kandinsky 1912, liege darin, dass wir der Zeit des bewussten, vernünftigen Kompositionellen immer näher rücken, […] und endlich, dass dieser Geist in der Malerei im organischen direkten Zusammenhang mit dem schon begonnenen Neubau des neues geistigen Reiches steht, da dieser Geist die Seele ist der Epoche des großen Geistigen.64 Im Hintergrund dieses romantischen Welt/Materie/Seele-Parallelismus, auf dem seine Theorie der Farbsynästhesie gründet, steht bei Kandinsky ein Baraducsches Argument: „Es ist klar, dass alle diese Charakterisierungen der Farben nur sehr grob sind, da die Gefühle selbst (wie Freude, Trauer etc.) auch nur materielle Zustände der Seele sind.“ Deutlicher kann eine Ontologie der Psyche nicht ausgesprochen werden, die sich ganz explizit gegen den „Materialismus“ der Moderne richtet: Die materialistischen Anschauungen, in welcher wir aufgewachsen sind, welche der Hauptbestandteil unserer geistigen Atmosphäre bildet, verlieren plötzlich den festen Halt […]. Die gegenwärtige Chemie z.B. zweifelt, ob es überhaupt eine Materie gibt. Die Atome werden geteilt. […] Die materielle Wissenschaft, welche noch gestern unerschütterlich fest stand, muss unbedingt verschiedene Tatsachen anerkennen, die im Widerspruch mit ihren Theorien stehen. Verschiedene Gelehrte, unter welchen sich reinste Materialisten befinden, widmen ihre Kräfte der Untersuchung rätselhafter Tatsachen, die nicht zu leugnen, nicht zu verschweigen sind. (Ch. Richet, Flammarion, Lombroso, der Schöpfer der anthropologischen Methode im Verbrecherreich).65 63 Kandinsky: Gesammelte Schriften, S. 299. 64 Kandinsky: Ueber das Geistige in der Kunst, S. 142f. 65 Kandinsky: Gesammelte Schriften, S. 300.

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„Oh all to end“

Am Beispiel Kandinsky wird deutlich: Der gegenmoderne mediumistische Spiritismus des 19. Jahrhunderts und die Ätherfotografie der Jahrhundertwende haben die Avantgarde von 1910 wesentlich beeinflusst. Dabei ist nicht so sehr entscheidend, welche Chiffren, welche Bilder oder Motive sich in den Kunstwerken der Futuristen, Expressionisten, Kubisten oder Vortizisten selbst wieder finden. Entscheidend vielmehr ist die ihnen gemeinsame epistemologische Wendung des Kunstbegriffs. Die Künste: Malerei, Bildende Kunst, Musik vor allem, sind im Sinne Kandinskys (aber auch Schönbergs, Skriabins, Duchamps u.v.a.) nicht länger dazu da, akzidentielle Leistungen oder Ornamentalitäten zu gestalten. Ihr neues Programm zielt aufs Wesentliche, nämlich auf Welterklärung und den direkten Zugang zu seelischen Wahrheiten. Sobald der Zuschauer sich im Märchenlande glaubt, [schreibt Kandinsky 1908/09 in seinem Manuskriptfragment „Farbensprache“] kann man ihn nicht mehr in starke seelische Vibrationen versetzen und so wird das Ziel des Werkes zu nichts. Deswegen muss eine Form gefunden werden, die erstens die Märchenwirkung ausschließt und zweitens die reine Farbenwirkung in keiner Weise hemmt. Zu diesem Zweck müssen Form, Bewegung, Farbe, die aus der Natur (realen oder nicht realen) geliehenen Gegenstände keine äußerliche und äußerlich verbundene erzählerische Wirkung hervorrufen. Und je äußerlich z. B. die Bewegung unmotivierter ist, desto wirkt sie reiner, tiefer innerlich.66 Dieser Zugriff der Neuen Kunst auf reine Innerlichkeit, Seelenwahrheit und Weltgestaltung verdankt sich gleichermaßen der romantischen Naturphilosophie und den medialen Experimentationen des „modernen Spiritismus“. Indem letztere zugleich mediale Effekt der Modernität zu realisieren behaupten, nämlich – wie Baraducs Psychikonenfotografie – mit Röntgenaugen Ätherseelen abzubilden, kann sich die Avantgarde von 1910 zugleich gegenmodern und epistemologisch progressiv entwerfen, und, mit Kandinsky, zum Vorreiter einer neuen Epoche eines „Großen Geistigen“ erklären. Die technischen Medien des „modernen Spiritismus“ verschaffen ihr hierzu den Anspruch und die nötige provozierende und irisierende Intermedialität. Sie wird kunsttheoretisch als neue Synästhesie propagiert und gleichzeitig der Wissenschaft auf Augenhöhe gegenüber gestellt. Sehen und hören die „Augen“ und „Ohren“ der Kunst (des synthetischer Kubismus, der futuristischen „Intonarumori“, Kandinskys gegenstandsloser Farbenexpressionismus, Duchamps „Ready Mades“, der „Vortographien“ des Vortizismus, der Zwölftonserien Schönbergs und Bergs) nicht sogar mehr als die Röntgens? Die Avantgarde vollzieht hierin unvermerkt einen zentralen Gestus des „modernen 66 Ebd. S. 305.

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Spiritismus“ nach, nämlich die ‚wahre‘ Wissenschaft zu sein, das wahre Wissen zu bieten – als Kunst. Ein vom Apriori der neuen Medien verdeckter, zutiefst romantischer, gegenmoderner Plot. Dieser ihrer Herkunft nach bleibt die Avantgarde von 1910 also immer auch zutiefst ‚retrogard‘. Schon als junger Mann, nämlich in der Zusammenarbeit mit Joyce, nimmt auch Beckett die Spur der Avantgarde von 1910 auf seine Weise auf. Im „Work in Progress“ von Finnigans Wake, bei dem Beckett assistiert, realisiert Joyces Spracharbeit an der Sprache ihrerseits ein intermediales Projekt der Avantgarde, ohne allerdings die Spur der (geschriebenen) Sprache zu verlassen, sondern vielmehr, indem er sie in ihrer Selbstreferentialität zerreißt und darin wieder neu zusammensetzt. Becketts eigene literarische Arbeit geht diesen Weg nicht, weil Joyce ihn schon gegangen wäre. Statt sich selbst einer avantgardistischen Praktik seiner Epoche anzuschließen, wie etwa den Surrealisten oder dem inneren Monologismus eines Joyce, thematisiert Beckett etwas zutiefst Eigenes, das er dennoch nicht abkoppelt von der Entwicklung und vom Gestus der Avantgarde von 1910. Beckett thematisiert die Erschöpfung, die darin liegt, ihre Praktiken allererst zu vollziehen. Er baut in ihren Vollzug das Thema und die Figur der Inkarnation wieder ein, die in der spiritistischen Genesis dieser Kunstbewegung, nämlich in deren pseudo-wissenschaftlichen Intermedialitätspraktiken Anathema war. Gilles Deleuze hat diesen Punkt klargemacht: Becketts Literatur ist von Anfang an die eines Erschöpften, der davon erschöpft ist, alle seine Möglichkeiten auszuschöpfen. Wenn Inkarnation zur wahren Darstellung kommen soll, ergibt sich eine ähnliche, in ihren Verschiebungen und Verdichtungen erschöpfende Struktur. Becketts Figuren sind gleichsam getrieben von Inkarnationslust, und genau dabei umstellt von einer Unzahl an Möglichkeiten, die zu erschöpfen sie erschöpft. Damit thematisiert Beckett auf eine faszinierende Weise das avantgardistische Programm noch einmal, aber so, als halte er in dessen unaufhörlichen Vollzug stets ebenso unaufhörlich inne. Daraus ergibt sich, in seinen Romanen, „diese atomhafte, disjunkte, zerschnittene, zerhackte Sprache [der] Sprache I, bei der die Aufzählung die Sätze ersetzt und die kombinatorischen Relationen die syntaktischen: eine Sprache der Nomen.“ In der Sprache II, Becketts Theater, arbeitet nicht mehr die Kombinatorik der Nomen, „sondern die der Stimmen“ „mit vermischbaren Strömen. Die Stimmen sind die Wellen oder Ströme, die die linguistischen Korpuskeln steuern und verteilen.“67 Stimmen in ihren Möglichkeiten auszuschöpfen, ist ohnehin unmöglich, wie Krapp in Krapp’s Last Tape unaufhörlich versucht. Die Sprache III ist die Fernsehsprache Becketts. Sie lässt die Nomen versiegen und die Stimmen verstummen, buchstäblich von Stück zu Stück mehr. In Ghost Trio (1976) („Guten Abend. Meine Stimme ist eine leise Stimme. Gefälligst entsprechend einstellen. Pause. Sie wird weder lauter noch leiser werden, was 67 Deleuze: „Erschöpft“, S. 60f.

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auch immer geschehen mag. Pause.“68) und But the Clouds (1977) („ … nur noch Gewölk in den Höh’n … bald kein Horizont mehr … müdes Vogelgestöhn … dunkelnde Schatten umher.“69) wird noch gesprochen, aber nur aus dem Off. Wir hören entkörperlichte Stimmen, die auf die Figuren auf dem Schirm nur noch verweisen. In Quadrat (1981) und NuT (1983) spricht niemand mehr, Schlurfgeräusche, leises Summen und eine halbe Zeile Summen und Gesang sind das einzig Hörbare. In Quadrat geht es „um die Erschöpfung, die Ausschöpfung des Raums“70; NuT erschöpft seine Bilder im Ritornell ihrer Wiederholung. Was die Bildebene betrifft, so zeigt Beckett das Veronika-Tuch gewiss nicht ohne Absicht. Es steht, nicht nur an dieser Stelle in seinem Werk, für die mögliche Unmöglichkeit eines „wahren Bildes“; für die niemals gelingende, und dennoch nie aufgebbare Möglichkeit der Inkarnation eines „vera icon“, selbst auf einem blickverlorenen Fernsehschirm. Dass er dazu, im Traumbild, Hände levitieren lässt, wie auf einem Geisterbild aus der Tradition der Ätherfotografie, gibt dem Ganzen ein weitere Wendung. Mit ihnen reaktualisiert Beckett einen verworfenen, verdrängten, aber vielleicht gerade deshalb umso wirksameren Kontext der Moderne im zwanzigsten Jahrhundert. Es ist, wie ich zeigen wollte, der weitgehend verschwiegene Kontext auch jener Avantgarde, in deren Tradition Beckett schreibt, oder besser, seinen erschöpfenden Inkarnationsprozess des Schreibens organisiert. Diesen verworfenen Kontext auf der Ebene der Videokunst eines Fernsehschirms bloß zu legen, zeigt deren schon von Beginn an erschöpfte Möglichkeiten besser als alles andere – „oh all to end“71.

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Durch kleine Scheinwerfersender werden die Hör- und Gedächtniszentren abgetastet

Stefan Rieger | Im Äther der Intuition

Stefan Rieger

Im Äther der Intuition Reichenbachs Lehre vom Od und die Kulturtheorie Aber wir könnten die Zeitverkürzung des eigenen Lebens in Gedanken noch weiter treiben, bis diese Aetherschwingungen, die wir jetzt als Licht und Farben empfinden, wirklich hörbar würden, vorausgesetzt, daß ein Organ da wäre, empfindlich genug, um diese Schwingungen wahrzunehmen. Und könnte es in der Natur nicht noch ganz andere Schwingungen geben, die zu schnell sind, um von uns als Schall empfunden zu werden, und zu langsam, um uns als Licht zu erscheinen? Die Wärme, wenigstens die strahlende, scheint nach den neuesten Untersuchungen in Schwingungen zu bestehen, die weniger rasch sind als die Lichtwellen. Und sollte es nicht noch andere Schwingungen geben, von denen wir nichts wahrnehmen? Es scheint keineswegs widersinnig, so etwas zu glauben. (Karl Ernst von Baer)1

1 So umstritten der Äther in den Grundlagendiskussionen der Physik war, so einfach gelang seine Verwendung auf Seiten der Wissenschaften von Kultur und Geist. Jene Leere, die so schwer vorzustellen, die für manche so überhaupt nicht auszuhalten war und deren Nachweis selbst noch mit den zum Teil aufwendig veranstalteten Versuchen eines künstlich erzeugten Vakuums als umstritten galt, war für den Kulturtheoretiker Aby Warburg (1866-1929) als Option ebenso undenkbar wie für den Philosophen Blaise Pascal, nach dessen Einschätzung die Natur eher ihren Untergang als auch nur den kleinsten leeren Raum ertragen würde. Der barocke Vakuumspezialist Otto von Guericke erteilt darüber hinaus noch dem horror vor dem leeren Raum, in dem zwar die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen, nicht aber die des Schalls möglich ist, eine kategoriale Absage. „Ein Abscheu vor der Leere“, so dekretiert er anlässlich seiner Magdeburgischen 1 Baer: „Abhängigkeit unseres Weltbilds von der Länge des Moments“, S. 263f.

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Versuche über den leeren Raum von 1672, „kann hierbei nicht in Betracht kommen, da es in der Natur etwas derartiges nicht giebt.“2

Abbildung 1: Experimente mit den Magdeburger Halb-Kugeln nach Otto von Guericke. Warburg redet daher auch nicht dem Untergang und der Leere, sondern der allgegenwärtigen Fülle eines allumfassenden Gedächtnisses das Wort. Dazu votiert er unbeschadet aller Physik für einen hypertrophen Raum kultureller Überlieferung, deren Trägermedium sogenannte mnemische Wellen und ein radiophonisches Dispositiv sein sollte, das diese ihrerseits trägt. Um den Preis einer epistemischen Katachrese schließt Warburgs Kulturtheorie kurz, was in der Physik Verhältnisse des Ausschlusses und die Latenz von Hypothesen begründen sollte.3 Fernwirkungen und ihr im Wortsinn anderes, jene Nahwirkungen also, die wie Stoß und Druck auf dem Prinzip der Berührung beruhen, stehen im Aussagesystem der gewählten Analogien und Bezüge widerspruchsfrei, weil eben ohne die Gefahr (und auch ohne die Sanktion) logischer Blessuren nebeneinander: Ob Stempel oder Energie, ob mnemische Wellen, Engramme oder die Effekte eines Nachhalles, sie alle und damit auch ihre Träger, von der Stimme bis zur Schrift, vom Magnetismus bis zur Elektrizität, begründen Warburgs nicht leer zu bekommenden Raum der Überlieferung. Für die Physik ist ein solches Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Wirkweisen ungleich schwieriger. In einem Vortrag mit dem Titel Äther und Relativitäts-Theorie rekonstruiert Albert Einstein im Jahr 1920 die Friktion zweier physikalischer Erklärungsansätze, die Strategien, mit denen man innerhalb der Physik diesem Dilemma zu entgehen suchte, und nicht zuletzt die Funktion, die der Behauptung des Äthers bei der Lösung zukommen sollte. Wie nebenher zeichnet der Relativitätstheoretiker dabei ein Bild des Menschen und einer Psychologie des Alltagsverstandes, die mit den Obliegenheiten physikalischer Theoriebildung wenig deckungsgleich sind. Die Idee von der Existenz des Äthers liegt in innerdisziplinären Erklärungsnöten, von denen sich das nichtphysikalische Denken im Wortsinn keine Vorstellung macht und zu machen braucht. 2

Guericke: Neue ‚Magdeburgische Versuche‘ über den leeren Raum, S. 26.

3

Zur Figur der Katachrese Rieger: „Richard Semon und/oder Aby Warburg“.

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Wie kommen die Physiker dazu, neben der der Abstraktion des Alltagslebens entstammenden Idee, der ponderablen Materie, die Idee von der Existenz einer anderen Materie, des Äthers, zu setzen? Der Grund dafür liegt wohl in denjenigen Erscheinungen, welche zur Theorie der Fernkräfte Veranlassung gegeben haben, und in den Eigenschaften des Lichtes, welche zur Undulationstheorie geführt haben.4 Dem außerphysikalischen Denken dürften solche Fernwirkungen fremd bleiben, bewegt es sich doch in einem Raum unmittelbarer Berührung, der Fernkräfte wie das Prinzip der Schwerkraft nicht erfassen kann. Dem Alltagssachverstand ist sein Charakter verstellt oder nicht bewusst, weil die Schwere als konstant wahrgenommen wird und nicht als an räumlich oder zeitlich veränderliche Ursachen gebunden. Die alltäglichen Erfahrungen mit den Körpern der umgebenden Welt sind im Wortsinne geprägt durch unmittelbare Berührung wie Stoß, Druck oder Zug. „Erst durch Newtons Gravitations-Theorie wurde eine Ursache für die Schwere gesetzt, indem letztere als Fernkraft gedeutet wurde, die von Massen herrührt.“5 Newtons Zeitgenossen, so Einstein weiter, reagierten auf dessen Theorie mit lebhaften Unbehagen, „weil sie mit dem aus der sonstigen Erfahrung fließenden Prinzip in Widerspruch zu treten schien, daß es nur Wechselwirkung durch Berührung, nicht aber durch unvermittelte Fernwirkung gebe.“6 Weil der menschliche Erkenntnistrieb diese Lage nur mit Widerstreben zu ertragen vermag, reagiert er mit der Ätherhypothese. Wie konnte man die Einheitlichkeit der Auffassung von den Naturkräften retten? Entweder man konnte versuchen, die Kräfte, welche uns als Berührungskräfte entgegentreten, ebenfalls als Fernkräfte aufzufassen, welche sich allerdings nur bei sehr geringer Entfernung bemerkbar machen; dies war der Weg, welcher von Newtons Nachfolgern, die ganz unter dem Banne seiner Lehre standen, zumeist bevorzugt wurde. Oder aber man konnte annehmen, daß die Newtonschen Fernkräfte nur scheinbar unvermittelte Fernkräfte seien, daß sie aber in Wahrheit durch ein den Raum durchdringendes Medium übertragen würden, sei es durch Bewegungen, sei es durch elastische Deformation dieses Mediums. So führt das Streben nach Vereinheitlichung unserer Auffassung von der Natur der Kräfte zur Ätherhypothese. Allerdings brachte letztere der Gravitationstheorie und der Physik überhaupt zunächst keinen Fortschritt, so daß man sich daran gewöhnte, Newtons Kraftgesetz als nicht mehr weiter zu reduzierendes Axiom zu behandeln. Die 4

Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 1.

5

Ebd. S. 1.

6

Ebd. S. 2.

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Ätherhypothese mußte aber stets im Denken der Physiker eine Rolle spielen, wenn auch zunächst meist nur eine latente Rolle.7 An anderer Stelle, im Aufsatz „Raum, Äther und Feld in der Physik“ von 1930, leitet Einstein, über das psychologisierende Argument hinausgehend, die Notwendigkeit des Äthers aus den physikalischen Erklärungsnotständen ab. Die Einführung eines Ätherraums wurde durch die Arbeiten der Physiker Thomas Young (1773 – 1829) und Augustin Jean Fresnel (1788 – 1827) über das Beugungsverhalten und schlussendlich über den undulatorischen Charakter des Lichtes notwendig. Obwohl dieser der klassischen Raumvorstellung bei Newton konzeptuell angenähert wurde, entzieht er sich dennoch jeder Gleichartigkeit. Aber seine Allgegenwart, seine Untastbarkeit, die Tatsache der Abwesenheit von Reibung gegenüber den wägbaren Körpern, gaben ihm etwas Fremdartiges, ich möchte fast sagen, Gespensterhaftes; er schien unbezweifelbar und unheimlich unfassbar zugleich. Auch blieben – was noch schlimmer war – die ihm zugeschriebenen mechanischen Eigenschaften widerspruchsvoll.8 Auf derlei semantische Steilvorlagen kann ein Diskurs nicht nicht reagieren. Derjenige, der sich um den Äther entspinnt, wird darauf in vielfältiger Weise und dabei zugleich so reagieren, dass statt auf vermeintlich biographische Einzelbefunde auf eine Struktur zwischen Berührung und Nicht-Berührung rückzuschließen ist.9

2 Widersprüche, wie die so beschriebenen, brauchen für die Kulturtheorie Warburgs kaum eine Rolle zu spielen – sehr wohl aber die daraus resultierende Wucht der Semantik. Unbeschwert von solchen Grundlagenauseinandersetzungen wird dort ein Raum abgezirkelt, in dem Überlieferung durch die Zeit und über die Zeit stattfindet. Dabei wird zwischen Manifestation und Latenz ein Gedächtnis umgesetzt, das in seiner Unerbittlichkeit nichts vergisst und das eine vom mensch7

Einstein: Äther und Relativitäts-Theorie, S. 2.

8

Einstein: „Raum, Äther und Feld in der Physik“, S. 96f. Vgl. auch Spiller: Das Phantom der Imponderabilien in der Physik.

9

Für die weniger semantisch als vielmehr theologisch prekäre Lage des Raumes ist die Diskussion zwischen Newton-Anhänger Samuel Clarke und Gottfied W. Leibniz vom Raum als dem Sensorium Gottes einschlägig – und der Diskussion um die Bedürftigkeit und die auf Vermittlung angewiesene Natur des Allgegenwärtigen. Dazu Dünne/Günzel: Raum-Theorie, S. 58ff. Als Variante entsprechender Überlegungen vgl. auch Oken: „Über das Universum als Fortsetzung des Sinnensystems“.

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lichen Unbewussten gelöste Eigendynamik zwischen dem Ganzen und seinen Teilen gewährleistet. Für das Überlieferungsgeschehen wird die Semantik der Physik beliehen, allerdings nicht kohärent, sondern auf dem Weg einer Akkumulierung von Vorstellungen, aus der sich ihrerseits Dilemmata ergeben – wie eben im Fall der Nah- und Fernwirkungen. Sortiert man das Spektrum der Erklärungsangebote, die Warburg dem Überlieferungsgeschehen zu Grunde legt, so scheint seine Offerte zu verdoppeln, was in der Physik der Fall ist: in einem diffusen Raum zwischen Berührung und ihrem Gegenteil, zwischen Nah- und Fernwirkung angesiedelt zu sein. Im Warenlager gängiger Gedächtniskonzepte – so jedenfalls rekonstruiert es Warburgs Biograph Ernst H. Gombrich – sind unterschiedliche Dinge on stock: Dynamogramme, Urprägewerke, Energiekonserven, Eindrucksstempel und nicht zuletzt jene mnemischen Wellen und Engramme, die Warburg der seiner Zeit einschlägigen Gedächtnistheorie Richard Semons entnimmt. Die Präferenz für Semon, und nicht etwa für den auf den ersten Blick nahe liegenden Ansatz von Carl Gustav Jung mit den Archetypen eines kollektiven Unbewussten, begründet Gombrich theoretisch mit einer intellektuellen Tendenz Warburgs und pragmatisch mit einem aktuellen Bücherkauf: „Getreu seiner ‚monistischen Tendenz‘ hielt er sich mehr an Richard Semon, einen begeisterten Anhänger von Hering, dessen Buch über Die Mneme als erhaltendes Princip im Wechsel des organischen Geschehens (2. Aufl., Leipzig, 1908) Warburg 1908 erworben hatte.“10 Der Mediziner und Monist Semon (1859-1918) unternimmt zu Beginn des 20. Jahrhundert den Versuch, im Anschluss an die Theorie Ewald Herings Über das Gedächtnis als eine allgemeine Theorie der organisierten Materie eine eigene Organik der Mneme zu entwerfen.11 Damit etabliert Semon ein Gedächtniskonzept, das ob seiner Hypertrophie keine Wünsche offen, dafür zahlreiche Bezugnahmen zulässt.12 Seine Theorie, die in zum Teil sehr eigenwilliger Diktion ausgearbeitet und neben Fachwissenschaften wie der Botanik und Zoologie, der Medizin und Psychologie auch im Umfeld von Spiritismus und Theosophie rezipiert wird, unterscheidet sich von gängigen Gedächtniskonzepten durch ein starkes Zurückdrängen anthropologischer Faktoren.13 Statt auf Subjekte und deren individuellen Merklebensgeschichten zu setzen, setzt Semon eine hochgradige Formalisierung in Szene, deren Schemata veranschaulichen sollen, wie etwa Gedächtnisinhalte aus dem Zustand der Latenz in den der Manifestation gelangen – ohne dazu ein 10 Gombrich: Aby Warburg, S. 326. 11 Hering: Über das Gedächtnis als eine allgemeine Theorie der organisierten Materie. 12 Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Zu den Bezugnahmen vgl. Otto Lubarschs Einleitung zu Semon: Bewusstseinsvorgang und Gehirnprozess. 13 Zu Semons Performanz vgl. Lipmanns Rezension zu Semon: Die mnemischen Empfindungen in ihren Beziehungen zu den Originalempfindungen.

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menschliches Unbewusstes als intentional agierenden Merkwart bemühen zu müssen. Stattdessen ist ein physikalischer Automatismus im Gang, der nach den strengen Vorgaben der Reizsummation und einer Mathematik von Schwellwerten verfährt.14 Dabei gewährt die Hypertrophie des organischen Modells seiner Mneme nicht zuletzt die Annahme einer weit reichenden Verlustfreiheit von Information, die Warburgs Theoriebildung hochgradig Vorschub leistet.

Abbildung 2: Richard Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens.

Semons Theorie besagt im Wesentlichen dies: das Gedächtnis gehört nicht zum Bewußtsein, es ist vielmehr die einzige Eigenschaft, die lebende von toter Materie unterscheidet. Es ist die Fähigkeit, eine ganze Zeitlang auf ein Ereignis zu reagieren, d.h. eine Form der Energiespeicherung und -übertragung, die die physikalische Welt nicht kennt. Jedes Ereignis, das auf lebende Materie einwirkt, hinterläßt eine Spur, die Semon ‚Engramm‘ nennt. Das in diesen ‚Engrammen‘ bewahrte Energiepotential kann unter günstigen Voraussetzungen reaktiviert und entladen werden – wir sagen dann, der Organismus verhält sich auf eine bestimmte Weise, weil er sich an das vorangegangene Ereignis erinnert. Dies gilt sowohl für das Individuum als auch für die Gattung. Es war diese Vorstellung einer Gedächtnisenergie, die in ‚Engrammen‘ bewahrt wird, aber nahezu physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die Warburg faszinierte, als er sich in seiner Jugend mit Theorien über das Wesen des Symbols und seine Rolle im sozialen Organismus beschäftigte.15 14 Zu einer ähnlichen Formalisierung unter Verwendung so genannter Markof-Ketten für die Wahrscheinlichkeit von Übergängen greift der Psychoanalytiker Jacques Lacan anlässlich einer Interpretation von Edgar Allan Poes Erzählung „The Purloined Letter“. Vgl. Lacan: Schriften I, S. 7-70. 15 Gombrich: Aby Warburg, S. 326f.

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Abbildung 3: Richard Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens.

Es sind neben den Engrammen mnemischen Wellen, die zum Universalträgerund Übertragungsmedium all dessen werden, was in dieser Welt je der Fall war und ist. Fernwirkungen, für die in der Physik der Äther als deren Voraussetzung herangezogen werden musste, waren so in der Lage, Menschen mit einem entsprechenden Sensorium zu erreichen.16 Zusammen mit einem ganzen Arsenal an anderen Verfahren und unbeschadet der Differenz zwischen Fern- und Nahwirkung, vielmehr sogar in deren Verschränkung, phantasiert Warburg den Kosmos eines höchsteigenen Überlieferungsgeschehens. Folgt man Gombrichs psychologisierender Einschätzung, so sollte Warburg gerade an diesem Spezifikum der Moderne scheitern – an der Vernichtung der Unmittelbarkeit und also im Umkehrschluss an der All-Erreichbarkeit in einem Raum unablässiger kultureller Überlieferung, der gleichzusetzen war mit dem realen Raum technischer Überlieferungszusammenhänge und seiner höchst eigenen Abscheu davor. „Telegramm und Telephon zerstören den Kosmos. Das mythische und das symbolische Denken schafft im Kampf um die vergeistigte Anknüpfung zwischen Mensch und Umwelt den Raum als Andachtsraum oder Denkraum, den die elektrische Augenblicksverknüpfung mordet.“17 Mit Blick auf Telephon und Telegraphie konzediert ihm Gombrich zeitweise eine vor-McLuhansche Scheu gegenüber solcher Raumvernichtung und damit eine veritable Medienparanoia: „Wir erinnern uns, mit welcher Mischung aus Furcht und Scheu Warburg in den Tagen seiner Krankheit die Wunder des Fernmeldewesens betrachtete.“18 16 Albert Einstein hat diese Annahme als Reaktion auf eine bestimmte Lage beschrieben: Nur mit der Annahme eines Äthers konnten die Fernwirkungen auf Nahwirkungen zurückgeführt werden und so die Stimmigkeit eines bestimmten physikalischen Weltbildes gewahrt bleiben. 17 Warburg: Schlangenritual, S. 59. 18 Gombrich: Aby Warburg, S. 344.

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3 Diese Vorstellung von der Affizierung und vom Aufgeriebenwerden in einem Kosmos wie auch immer veranschlagter Fernwirkungskräfte ist kein Spezifikum Warburgs – weder seiner Psychographie noch seiner Kulturtheorie. Was letztere bis in die Konsequenz ausbuchstabiert, ist ein Phantasma, dem der Übergang von der Berührung zur Nicht-Berührung konstitutiv anhaftet. Dieses Phantasma wird auf dem Feld des Wahnsinns mustergültig nachgezeichnet und obsessiv vorangetrieben von Spezialisten der Erreichbarkeit, von denen also, die der Kommunikation wenig abgewinnen konnten, weil sie ihr permanent ausgeliefert waren. Das nimmt Warburg seine Singularität – nicht um ihn zu entpathologisieren, sondern um eine bestimmte Struktur von Wahn als Auswuchs gespenstischer Berührung dingfest zu machen. Dies wird im Rahmen unterschiedlicher, aber in ihrer technischen Ausrichtung doch aufeinander bezogener Wahnsysteme immer wieder virulent: ob bei Friedrich Krauss oder bei Daniel Paul Schreber, um hier nur zwei ihrer vielleicht prominentesten (und wortgewandtesten) Opfer zu nennen. Das, was von den Seelenwissenschaften als ihre Paranoia entziffert und zum Symptom verfestigt werden wird, folgt eben diesem Phantasma allumfassender Erreichbarkeit.19 Sie selbst und ihr unsichtbares Trägermedium konstituieren einen Raum, in dem niemand keine Adresse hat und alle gleichermaßen an jedem Ort und zu jeder Zeit zu erreichen sind. Diese allochrone und allotope Verallgemeinerung war Voraussetzung für Beeinflussung und Manipulation, für Dramulette vollzogener Fremdbestimmung und verfehlter Selbsterfahrung. Der Handlungsreisende Friedrich Krauß hat das System der Moderne mit seinen geschwundenen Sichtbarkeiten durchexerziert: ob magnetisch oder durch concentrirten Lebensäther vergiftet, das fehlende Sensorium des Menschen für die so zum Einsatz gelangten Medien macht deren Wirkmacht umso unheimlicher.20 In der ebenso kristallklaren wie faktographisch untermauerten Prosa europäischer Kommissionäre oder sächsischer Senatsgerichtspräsidenten wird ein Kosmos von Affizierung sichtbar. Von aller Physik der Strahlen, Wellen und Schwingungen unbeschadet, sollten beide von ihrer Phantasmatik permanent betroffen sein.21 Der Äther als zumindest umgangssprachlich eingespielter Raum für das Wirken unsichtbarer Strahlen, Wellen oder Schwingungen fällt mit dem Operationsfeld feindlicher Agenten ineins: Fernab jener Nahkräfte entfaltet die Fernwirkung ihr Bedrohungsszenario.22 19 Wolfgang Hagen hat das für den Senatsgerichtspräsidenten auf die Formel vom Radio Schreber gebracht. Hagen: Radio Schreber. Siehe auch: Kahn/Whitehead: Wireless Imagination. 20 Krauß: Nothschrei eines Magnetisch=Vergifteten; sowie Krauß: Nothgedrungene Fortsetzung meines Nothschreis; vgl. dazu Rieger: „Psychopaths electrified“. 21 Vgl. dazu Asendorf: Ströme und Strahlen. 22 Danilewsky: Die physiologischen Fernwirkungen der Elektrizität.

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Was Warburgs temporäre Medienparanoia allerdings von diesen nachhaltigen Paranoikern unterscheidet, ist ihr kulturöffentlicher Auftrag. Im Gegensatz zu erwartbaren Egoismen und Wünschen nach Einschließung und Unerreichbarkeit, nach Abschottung und Unterbrechung tritt bei ihm eine ebenso eigentümliche wie altruistische Variante. Zu ihrem Recht gelangt dabei eine ausgewählte Gruppe von Kultur(Funk)Beflissenen, der selbstredend auch Warburg zugehört, und die diesen Menschen (selbst)auferlegte Pflicht auf Kulturvermittlung an andere Interessierte, denen ein entsprechendes Sensorium vorenthalten ist. Warburg jedenfalls lässt es sich nicht nehmen, zusammen mit Friedrich Nietzsche und Jakob Burckhardt als eine auf Dauerempfang gestellte Einheit für Kulturseismographie oder Kulturfunk zu dienen – beides auf der Grundlage von Richard Semon und dessen Mnemetheorie, die so Philosophen, Historiker und Kulturtheoretiker gleichermaßen behelligt. Es sind nämlich die Künstler und Historiker, die auf diese unsichtbaren Einflußkräfte am empfindlichsten reagieren. Tatsächlich spricht Warburg von dem Historiker – sich selbst eingeschlossen – in ähnlich mechanischen Metaphern, wie sie auch seine Gedanken über Kunst durchziehen. Er ist der ‚Seismograph‘, der die Erschütterungen ferner Erdbeben registriert, oder die Antenne, die die Welt entfernter Kulturen auffängt.23

4 Aber es wird auch anderweitig ausgestrahlt und empfangen. Nicht nur vermeintlich individuelle Wahnsysteme und vermeintlich universale Kulturtheorien setzen auf den Hiatus zwischen Berührung und Nicht-Berührung, auch individuelle Seelenlektüren machen sich die Macht entsprechender Empfangseinheiten, machen sich Sensitivität und Intuition zu Nutzen. Wie um Semons und Warburgs Gedächtnistheorie ebenso nachhaltig wie nachträglich zu bestätigen, kennen solche Zugriffsweisen ihre sehr eigenen Latenzen und Manifestationen. Zu einer ausgesprochen sonderbaren Karriere gelangte dabei die Od-Theorie des Freiherrn Karl von Reichenbach (1788-1869). Dessen umstrittene Lehre unterstellt den Dingen und Lebewesen dieser Welt besagtes Od, eine polare und dem Magnetismus angenäherte Energie, deren Nachweis allerdings besonders ausgezeichneten Individuen vorbehalten bleiben sollte. Nur die so genannten Od-Sensitiven, so weiß Reichenbach zu berichten, sind in der Lage, entsprechende Phänomene wahrzunehmen – etwa als subtile Lichterscheinungen, die in der Dunkelkammer den Auserwählten zur Ansicht gelangen.24

23 Gombrich: Aby Warburg, S. 344. 24 Vgl. Reichenbach: Die Pflanzenwelt und ihr Verhältnis zum Ode

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Derlei Übergriffe in die Hoheitsgebiete der Physik blieben nicht unwidersprochen und so tritt Reichenbachs namentlich ausgewiesener Zahl seiner Medien, in der Mehrheit aus Wien stammend, eine Reihe kritischer Stimmen entgegen. Diese monieren, dass die Ergebnisse auf dem freiherrlichen Schloss zu Wien, anderenorts nicht und nur unzureichend nachzustellen sind und unterstellen, dass die zu Protokoll gegebenen Wahrnehmungen der Sensitiven weniger einer besonderen und eben nur diesen eigenen Befähigung, sondern vielmehr suggestiven Faktoren des Versuchsaufbaus und der Einflussnahme durch den Versuchsleiter geschuldet sind.25 Wie in solchen Fällen üblich, entspinnt sich eine Auseinandersetzung zwischen Physik und Paraphysik, die der Verbreitung und Diffundierung in unterschiedliche Bereiche von Vorteil werden sollte.26 Auch die Logistik der Publikationen folgt einer einschlägigen Topik, bei der Erfahrungsberichte wie in den Odisch-magnetische Briefen von 1852 durch Theoretisierungs- und Rechtfertigungsbemühungen flankiert werden, denen es ihrerseits weder an Polemik noch an der obligatorischen Querulanz mangelt.27 Das freiherrliche Modell zur Welterklärung findet selbstredend auch außerhalb von Wien Beachtung, nimmt Reichenbach doch eine universale Geltung in Anspruch. Diese gipfelt in einer eindrucksvollen Auflistung möglicher Anwendungsbereiche, die Physik, Chemie, Mineralogie, Botanik, Physiologie, Heilkunde, gerichtliche Medizin, Rechtskunde, Kriegswesen, Erziehung, Psychologie, Theologie, Irrenwesen, Kunst, Gewerbe, häusliche Zustände, Menschenkenntnis und das gesellschaftliche Leben im weitesten Umfange gleichermaßen mühelos umfasst. In einem Text über die aktuelle Krise der Medizin aus dem Jahr 1926 stellt der Arzt und Schriftsteller Gottfried Benn den Verfahren der approbierten Ärzteschaft ein krauses Bündel Alternativen entgegen. Jeder hat gelesen, daß sich zurzeit [sic!] die Ärzteschaft in Kampfstellung befindet. Hundert Jahre alt, Ergebnis der Arbeit von drei Generationen, steht die moderne Medizin in einer Krise, deren allgemein bemerktes Zeichen der Terrainverlust gegen die nichtapprobierten Heilmethoden ist. Biochemie und Isopathie gewinnen ein Publikum, Odmagnetismus und Heliodastrahlen bauen Paläste. Mesmerismus, Komplexchemie, Psychophysiognomik, Gall redivivus, erneuern ihr System.28 Die Angriffe gegen die vermeintlich geschlossenen Reihen der Mediziner sind vielfältig, und sie erfolgen oftmals im Zeichen von Re-Lektüren, so dass Reichen25 Zu Vorwürfen und Rechtfertigung vgl. Reichenbach: Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Ode. 26 Vgl. Reichenbach: Physikalisch=physiologische Untersuchungen über die Dynamide des Magnetismus, der Electricität, der Wärme, des Lichtes, der Krystallisation, des Chemismus in ihren Beziehungen zur Lebenskraft. 27 Reichenbach: Odisch-magnetische Briefe. 28 Benn: „Medizinische Krise“, S. 58.

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bachs Lehre nur eine unter vielen ist. Bei einem dieser Rückverweise sind Mediumismus und Medizin im Zeichen einer okkulten Psychophysiologie der Energie und ihrer Transformationen verschränkt.29 Doch anders als bei Reichenbachs ausschließlich menschlichen Medien (um an dieser Stelle nicht einfach nur von Wienern zu sprechen), darf in den 20er Jahre des letzten Jahrhunderts das technischen Medium selbst Teil der Anordnung sein. Davon jedenfalls handelt ein Erfahrungsbericht von 1930, der die Geber- und Nehmerqualitäten des Menschen als Strahlenempfänger und Strahlensender beim Namen nennt. Die Wiederentdeckung dieser Strahlkräfte im 19. Jahrhundert geht auf Freiherrn Karl von Reichenbach (gestorben 1869) zurück, der in der Lehre vom Od ein System der okkulten Strahlungen schuf und die Polarität des menschlichen Körpers nachgewiesen zu haben glaubte. [...] Im Münchner ärztlichen Verein wurde am 20. Oktober 1920 von Dr. Aigner über einen Versuch berichtet, wo durch bloße Einwirkung der von der Hand eines Mediums ausgehenden Odstrahlen im total verdunkelten Raum ein negatives Bild der Hand auf der photographischen Platte entstanden ist. Es kann angenommen werden, wie das der Physiker Ostwald bereits vor Jahren getan hat, daß bei den okkulten, optischen, elektrischen, akustischen und sonstigen Vorgängen ein psychischer oder physiologischer Energievorrat des Menschen in eine uns bekannte Energieform transformiert wird (Wachtel).30 Aber jenseits technischer Überprüfbarkeit und abseits der durch den Physiker Wilhelm Ostwald autorisierten Hypothesenbildung erreicht Reichenbachs Erklärungsmodell die ärztliche Praxis auch noch auf ganz anderen Wegen – als Analogie, als semantischer Rest und damit weit weniger explizit, als es Benn mit seiner Rekonstruktion wiederentdeckter Irrationalismen im Sinne hatte. Die Rede ist von der odentlichen Transparenz, einer Formulierung aus einem Text mit dem Titel Die Ausdrucksbewegungen im Dienste der Psychotherapie. Vorläufige Mitteilungen über eine neue Behandlungsart der Psychoneurosen von 1926, die das ausdifferenzierte Geschehen um Reichenbachs Od-Magnetismus und seiner Manifestationen ganz unverhohlen innerhalb der Fachwissenschaft Medizin verortet. Damit gelangt das Od in der Beschreibungssprache der Medizin zur Geltung. Für die Richtigkeit einer solchen Bezugnahme – und gegen das durch einen Druckfehler verlustig gegangene r, das diese Episode auf eine ordentliche Transparenz verkürzen (und den Text seiner Pointe berauben) würde –, steht der Verfasser Pate. Es ist der österreichische Psychiater Hugo Schwerdtner (1875-1936), der unter dem Pseudonym Mevisteros auch als Schriftsteller reüssierte. Wenn man den Titeln seiner Elaborate Glauben schenken will, versteht sich seine Literatur nicht nur auf 29 Vgl. Giese: Die Lehre von den Gedankenwellen. 30 Aschner: „Der Mensch als Strahlenempfänger und Strahlensender“, S. 237f.

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die (besonderen) Besonderheiten der (weiblichen) Seele, sondern trägt auch einer ausdifferenzierten Medienlandschaft Rechnung – immerhin veröffentlicht er seine Unsterbliche Eva 1928 als Mimus mit Musik gleich für Bühne, Film und Radio.31 Schwerdtner, den die Vorläufige Mitteilung als Chefarzt des Wiener gymnastischen Zander-Instituts ausweist, gelingt es mühelos, Reichenbachs Grundlagenforschung auch für die Lektüre von täuschungsunanfälligen Ausdrucksbewegungen (und gegen die freie Analyse Freuds) produktiv zu machen. Die innerliche Wahrnehmung des fälschungssicheren Ausdrucks durch den beobachtenden Arzt legt für Schwerdtner die Rede vom Od nahe.32 Schwerdtner stellt das freie Ausdrucksgebaren in den Horizont einer Kulturgeschichte der Deformation und veranschlagt deren phylogenetischen Reste als Zielpunkt seiner Therapie. Auf diese Weise informiert sich der beobachtende Arzt besser über den Patienten, als durch den freien Einfall der Analyse. In der Gebärde kann sich niemand verstellen, denn wenn Gebärden unecht sind, werden sie sofort als unecht erkannt. Die modernste Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen, daß wir Andere innerlich wahrnehmen, durch wahrnehmungsmäßiges Ablesen der Ausdrucksphänomene, welche odentlich transparent werden, und uns Fremd-seelisches unmittelbar erkennen lassen. ‚Wir können auch andere innerlich wahrnehmen, insoferne wir ihren Leib als Ausdrucksfeld für ihre Erlebnisse erfassen.‘33 Der Zugriff auf einen unverstellten Körperausdruck und mithin auf phylogenetisch ältere Bedeutungsschichten hat und ist Methode. In Ausdrucksarrangements (und nach Möglichkeit im unwissentlichen Versuch) sollen bestimmte Bewegungen ausgelöst werden, die dann dem Arzt als Information dienen. Psychische Energien, die anderweitig gehemmt wären, werden so therapeutisch kanalisiert. Neben diesen spektakulären Zugriffen auf die Energien des Menschen stehen solche, die einfach nur Menschenkenntnis im Schilde führen: etwa in Karl Huters Menschenkenntnis durch Körper=, Lebens=, Seelen= und Gesichtsausdruckskunde unter dem Begriff des Hellfühlens oder bei Hermann Haupt, der unter dem Begriff der Heliodaüpathie und im Selbstverlag der Moderne gleich ein neues Heilverfahren beschert.34 Eine Karriere von Gebärde und Pantomime behauptet so ihr Recht, die dem nicht- oder vor-sprachlichen Ausdruck zeitweise regelrecht den Rang abläuft.35 31 Schwerdtner: Evas Seelenwanderung. 32 Plessner: Die Deutung des mimischen Ausdrucks. 33 Schwerdtner: Die Ausdrucksbewegungen im Dienste der Psychotherapie, S. 294. 34 Huter: Menschenkenntnis durch Körper-, Lebens-, Seelen- und Gesichtsausdruckskunde; sowie Haupt: Die Heliodaüpathie, ein neues Heilverfahren. 35 Zur Konjunktur des Ausdrucks Rieger: Die Ästhetik des Menschen.

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Aber die energetischen Verhältnisse finden auch noch auf eine andere Weise Eingang in die Aussagesysteme: in Gestalt von Phantasmen, die der Allerreichbarkeit sowie der Bewahrung und Überlieferung von irgendwelchen zivilisatorisch kaum belangten Ur-Segmenten. Diese Unschärfe in der Bezugnahme auf physikalische Konzepte, mithin die Figur der epistemischen Katachrese findet im Äther (der Intuition) ein ebenso unsinnliches wie wirkmächtiges Sinnbild und ist damit nicht der anderen Seite der Wissenschaften vom Menschen vorbehalten oder gar auf diese beschränkt. Das zeigt eine Verwendung, die ihren Ausgang von einem Kontext nimmt, der selbst technischer kaum sein könnte und die das technische Geschehen einmal mehr an die Gedächtnistheorie Semons und die Kulturtheorie Warburgs zurückbindet. Den Schauplatz dieser abschließenden Erdung einer Rede über den Äther bereitet eine Gerätschaft namens Telegraphon, eine Vorrichtung zur frühen Magnettonbandaufzeichnung, die der dänische Elektrotechniker Valdemar Poulsen kurz vor den Jahrhundertwende vorstellt und die, im Gegensatz zu den handelsüblichen Verfahren der Phonographie, nicht auf dem Einsatz mechanischer Kräfte beruht. Der Kontrakt mit gängigen Vorstellungen einer Nahkraft, die etwa im Druck besteht, wird aufgekündigt – selbst wenn er in der Beschreibungssprache weiterhin manifest bleibt. Der dänische Ing. Poulsen ersetzte die mechanische Tonschrift des Diktaphons auf der Wachsplatte durch das Aufmagnetisieren der Tonwellen auf Stahldrähte. Die Schwingungen der Geräusche, Gespräche, Klänge prägen sich dem ablaufenden Draht als Magnetisierung auf und lassen sich auch umgekehrt auch wieder von diesem auf einen Elektromagnetsprecher übertragen. […] Hoffentlich lässt der Verkaufsbeginn nicht mehr zu lange auf sich waren.36 Das Prinzip von Poulsens Telegraphon ist ebenso einfach wie effizient. Im Gegensatz zu den mechanischen Verhältnissen der Phonographie (und der Diktaphone) setzt die Apparatur auf die Kräfte des Elektromagnetismus. Für das Aufzeichnungsgeschehen genügt es, einen Elektromagneten auf dem Stahldraht gleiten zu lassen.

36 Jahrbuch der Technik – Technik und Industrie, o. Pag.

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Abbildung 4: Gustav Eichhorn, Das Telegraphon.

Abbildung 5: Guilio Panconcelli-Calzia, Quellenatlas zur Geschichte der Phonetik.

Abbildung 6: Giulio Panconcelli-Calzia, 3000 Jahre Stimmforschung.

Im Anschluss an das Telegraphon Poulsens zeichnet der Schweizer Physikprofessor Gustav Eichhorn in einem gleichnamigen Text von 1912 das technische Prinzip des Dänen nach, feiert dessen inhärent technische Möglichkeiten, von denen nicht zuletzt die Büro- und Sekretariatskünste einer diktierfreudigen amerikanischen Luftwaffe Gebrauch machen sollten, um dann abschließend auf den Welt-

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äther im allgemeinen und Semons Mneme im besonderen zu kommen.37 Während der Mechanik etwa eines funktions-äquivalenten Phonographen als dem Antipoden des Telegraphons das Schicksal kontinuierlicher Abnutzung anhaftet, garantiert das Telegraphon in seiner unterstellten oder phantasierten Immaterialität eine schier beliebige Reproduzierbarkeit – und das nicht zum Nachteil derjenigen Aura, die in der Reproduzierbarkeit ebenso gerne wie stereotyp kassiert wird. Eichhorns Text buchstabiert die Vorteile entsprechend aus, rühmt in Zahlen nicht nur die Anwendungen für einen möglichen Büroalltag, sondern darüber hinaus und in aller Grundsätzlichkeit die neue Unkaputtbarkeit des technischen Geräts: „Diese Lautschrift ist permanent; wie Herr Poulsen mir mitteilte, wurde bei einer Untersuchung nach 10.000 Reproduktionen noch keine Abschwächung konstatiert. Bedeutungsvoll ist auch die immaterielle Natur der Lautschrift, die nicht wie beim gewöhnlichen Phonographen der mechanischen Zerstörbarkeit ausgesetzt ist.“38 Es ist diese beliebig häufige Reproduzierbarkeit, die Eichhorn nachhaltig begeistert, und die bei Poulsen zu einer Vervielfältigung der möglichen Anschlüsse führt.

Abbildung 7: Valdemar Poulsen: Das Telegraphon.

Und es sind auch nicht nur die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, die dem Apparat Poulsens anhaften – noch ganz auf dem Boden dessen, was das Telegraphon real zu leisten vermag, wird nur ein Satz später der Welt-äther und mit ihm ein Raum der Spekulation sowie der Hypothesen-bildung erreicht: Schließlich möchte ich noch folgenden Gesichtspunkt andeuten. Das eigentliche Wesen des Magnetismus fassen wir als einen rotationell elastischen Zustand im Weltäther auf, wahrscheinlich hervorgerufen durch bewegte Elektronen in den Eisenatomen. Andrerseits erkennen wir nach der modernen elektrischen Theorie der Materie ihren Aufbau als ein kompliziertes Aggregat von Elektronen; letztere erscheinen und 37 Zu Poulsens Telegraphon vgl. Panconcelli-Calzia: Geschichtszahlen der Phonetik. 38 Eichhorn: „Das Telegraphon“.

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geradezu als Verknüpfungspunkte der Materie mit dem Weltäther. Wir können nur beide eng miteinander vergesellschaftet zusammen betrachten und müssen eine Wirkung auf den Weltäther erwarten, wenn Vorgänge in den Atomen sich abspielen. Solche Ätherphänomene dürften also auch auftreten bei den Gedächtnisengrammen der lebendigen Substanz. So dürfte es nahe liegen, die, durch direkte Beobachtung unwahrnehmbaren, aber nach Jahrzehnten noch zu reproduzierenden ‚Engramme‘ des Poulschen Telegraphons zu der ‚Mneme‘ der lebendigen Substanz in Parallele zu setzten bzw. in ihrem Wesen eine gemeinsame Beziehung zu vermuten.39 Und als ob es noch eines letzten Nachweises dahingehend bedürfte, welchem weiträumigen Umfeld Eichhorns Finale entstammt, darf eine abschließende Fußnote Ross und Reiter nennen (und die Rede vom Äther ebenso sachdienlich wie bibliographisch referentialisieren): „Ich bediene mich dieser Terminologie aus dem berühmten Werke ‚Die Mneme‘ von Richard Semon“.40 Das Gedankenspiel des Radio-Technikers, der so dankbar wie zügig auf Semon kommt, ist nicht nur gegenzulesen mit Phantasmen auf der Empfängerseite, die im Sinne odentlicher Transparenz den Äther der Intuition in den Dienst sowohl einer kulturellen Theorie als auch einer medizinischen Praxis stellen. Der Geist der Geisteswissenschaften, deren Traum nach Versenkung und Einfühlung, kann wie alles in dieser Welt nicht (oder jedenfalls nur schwerlich) nicht technischer Natur sein. Gustav Eichhorn, der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts von der ETH Zürich aus ein eigenes Radiosystem begründen wollte, blieb an dieser Stelle die Resonanz versagt. Der amtliche Bescheid auf seine Eingabe war ebenso abschlägig wie für die Lage bezeichnend. Gemäss [770000] ruft der Physikprofessor an der ETH Zürich, Gustav Eichhorn, ein Institut für Radiophonie ins Leben. Der ETH-Sender dient zu Rundfunkversuchen in Zürich. Auf das Gesuch zur Genehmigung erhält Eichhorn (gemäss [770000]) noch 1923 vom zuständigen Beamten die Antwort: ‚Nehmen Sie von mir die amtliche Erklärung entgegen, dass wir das Radio in der Schweiz nie aufkommen lassen werden. Ihr Institut ist also gänzlich zwecklos!‘41 Die Schweiz schien für die Radiophonie nicht (oder noch nicht) reif, obgleich sie mit Ludwig Binswangers Kreuzlinger Anstalt einen frühen Hort für Mediengeschädigte wie Warburg zur Verfügung stellte. Das alles aber hinderte den ETHProfessor Eichhorn nicht, den Weltäther und die Verwirrungen zwischen Nah39 Eichhorn: Das Telegraphon, S. 245. 40 Ebd. S. 245. 41 http://www.radiomuseum.ch, 11.05.2007.

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und Fernkräften auf seine Weise und das heißt in diesem Fall pragmatisch ins Vernehmen zu setzen. Eichhorn ersinnt dazu ein so genanntes Radiophon, das im Gegensatz zu den der Wortfügung nach ähnlich gebildeten Gerätschaften wie Psychophon und Neurophon nicht irgendwelchen Irrationalismen der Kommunikation den Raum bahnte, sondern ein ebenso pädagogisches wie handfestes Ziel verfolgte. Es sollte, wie ein Auskunftsbuch für Schwerhörige im Deutschen Reich berichtet, Rundfunk und Getast aneinander koppeln, Fern- und Nahkraft verschränken.42 Ausgerechnet Eichhorn, der mit dem Telegraphon ein nicht mechanisches Verfahren verklärte, schließt die Radiophonie und den Raum ihrer elektromagnetischen Wellen wieder mit dem vornehmsten Vertreter eines Nahsinns kurz: mit jener Taktilität, deren vermittelte Unvermitteltheit dann ihrerseits im Zuge einer Medienkopplung auch den Schwerhörigen die Radiophonie uneingeschränkt nahe bringen soll.43

Literatur Aschner, Bernhard: „Der Mensch als Strahlenempfänger und Strahlensender“, in: Süddeutsche Monatshefte, 27. Jg., Heft 4, 1930, S. 233-238. Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989. Baer, Karl Ernst von: „Die Abhängigkeit unseres Weltbilds von der Länge des Moments“, in: Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft, 3. Bd., 1962, Beiheft, S. 251-275. Benn, Gottfried: „Medizinische Krise“ (1926), in: ders: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. 4 Bde. Textkritisch durchgesehen und herausgegeben von Bruno Hillebrand, Bd. Essays und Reden, Frankfurt a.M. 1989, S. 55-62. Danilewsky, Basile: Die physiologischen Fernwirkungen der Elektrizität, Leipzig 1902. Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.): Raum-Theorie, Frankfurt a.M. 2006. Eichhorn, Gustav: „Das Telegraphon“, in: Emil Abderhalden (Hrsg.): Forschritte der naturwissenschaftlichen Forschung, V, Berlin/Wien 1912, S. 241-245. 42 Dazu auch Panconcelli-Calzia: Quellenatlas zur Geschichte der Phonetik. Vor allem folgende These: „Das Fernsehen wird das Telefon für Taubstumme werden“ (S. 54). 43 Zu einer Hypertrophie der Berührung vgl. Hirth: „Nachaussenspiegelung der Sinneseindrücke“, S. 261-276. Zu einer theoretischen Konzeptualisierung der Taktilität vgl. Pethes: „Die Ferne der Berührung“.

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Einstein, Albert: „Raum, Äther und Feld in der Physik“, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raum-Theorie, Frankfurt a.M. 2006, S. 94-101. Einstein, Albert: Äther und Relativitätstheorie. Rede, gehalten am 5. Mai 1920 an der Reichs-Universität zu Leiden, Berlin 1920. Giese, Fritz: Die Lehre von den Gedankenwellen. Eine parapsychologische Erörterung, Leipzig 1924 (2. u. 3. Aufl.) Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 1992. Guericke, Otto von: Neue ,Magdeburgische Versuche‘ über den leeren Raum (1672), Frankfurt a.M. 2002. Haupt, Hermann: Die Heliodaüpathie, ein neues Heilverfahren, Breslau 1920. Hering, Ewald: Über das Gedächtnis als eine allgemeine Theorie der organisierten Materie, Leipzig 1905. Hirth, Georg: „Nachaussenspiegelung der Sinneseindrücke (und als Anhang: Haben wir einen Ferntastsinn?)“, in: Dritter Internationaler Congress für Psychologie in München vom 4. bis 7. August 1896, München 1897, S. 261-276. Huter, Karl: Menschenkenntnis durch Körper=, Lebens=, Seelen= und Gesichtsausdruckskunde, o.O. 1904. Jahrbuch der Technik – Technik und Industrie, 15. Jahrgang, 1928/1929. Kahn, Douglas/Gregory Whitehead (Hrsg.): Wireless Imagination. Sound, Radio and the Avant-Garde, Cambridge/London 1994. Krauß, Friedrich: Nothschrei eines Magnetisch=Vergifteten; Thatbestand, erklärt durch ungeschminkte des 36jährigen Hergangs, belegt mit allen Beweisen und Zeugnissen. Zur Belehrung und Warnung besonders für Familienväter und Geschäftsleute, Stuttgart 1852. Krauß, Friedrich: Nothgedrungene Fortsetzung meines Nothschreis gegen meine Vergiftung mit concentrirtem Lebensäther und gründliche Erklärung der maskirten Einwirkungsweise desselben auf Geist und Körper zum Scheinleben, Stuttgart 1867. Lacan, Jacques: Schriften I, hrsg. von Norbert Haas, Olten/Freiburg 1973. Lipmann, Otto: „Rezension zu Semon, Richard: Die mnemischen Empfindungen in ihren Beziehungen zu den Originalempfindungen. Erste Fortsetzung der Mneme, Leipzig 1909“, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie, 4. Bd., 1911, S. 132. Oken, Lorenz: „Über das Universum als Fortsetzung des Sinnensystems. Ein pythagoreisches Fragment“, 1808, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von J. Schuster, Berlin 1939, S. 97-144.

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Panconcelli-Calzia, Giulio: Geschichtszahlen der Phonetik (1941), New edition with an English Introduction by Konrad Koerner, Amsterdam/Philadelphia 1994 (Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science; Series III - Studies in the History of the Language Sciences; Vol. 16). Panconcelli-Calzia, Giulio: Quellenatlas zur Geschichte der Phonetik, Hamburg 1940. Pethes, Nicolas: „Die Ferne der Berührung. Taktilität und mediale Repräsentation nach 1900: David Katz, Walter Benjamin“, in: LiLi, Jahrgang 30, Heft 117, 2000, S. 33-57. Plessner, Helmuth: „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ich“ (1925), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VII, Frankfurt a.M. 1982, S. 67-130. Reichenbach, Karl Freiherr von: Physikalisch=physiologische Untersuchungen über die Dynamide des Magnetismus, der Electricität, der Wärme, des Lichtes, der Krystallisation, des Chemismus in ihren Beziehungen zur Lebenskraft, 2 Bde., Braunschweig 1849 (zweite verbesserte Auflage). Reichenbach, Karl Freiherr von: Odisch-magnetische Briefe, Stuttgart/Tübingen 1852. Reichenbach, Karl Freiherr von: Die Pflanzenwelt und ihr Verhältnis zum Ode, Wien 1858. Reichenbach, Karl Freiherr von: Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Ode. Eine Reihe experimenteller Untersuchungen über ihre gegenseitigen Kräfte und Eigenschaften mit Rücksicht auf die praktische Bedeutung, welche sie für Physik, Chemie, Mineralogie, Botanik, Physiologie, Heilkunde, gerichtliche Medizin, Rechtskunde, Kriegswesen, Erziehung, Psychologie, Theologie, Irrenwesen, Kunst, Gewerbe, häusliche Zustände, Menschenkenntnis und das gesellschaftliche Leben im weitesten Umfange haben, Neue Ausgabe mit einer Einführung von G. W. Surya, Leipzig 1910. Richter, Georg: „Die erste Audiokassette - von Poulsen“, in: http://www.radiomuseum.org/forum/die_erste_audiokassette_von_poulsen.html, 12.10.2007. Rieger, Stefan: „Richard Semon und/oder Aby Warburg: Mneme und/oder Mnemosyne“, in: DVjs, 72. Jahrgang 1998, Sonderheft (Medien des Gedächtnisses), S. 245-263. Rieger, Stefan: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt a.M. 2002.

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Rieger, Stefan: „Psychopaths electrified – Die Wahnwege des Wissens im Nothschrei eines Magnetisch=Vergifteten“, in: Torsten Hahn, Jutta Person, Nico Pethes (Hrsg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1930, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 151-172. Schwerdtner, Hugo: „Die Ausdrucksbewegungen im Dienste der Psychotherapie. Vorläufige Mitteilungen über eine neue Behandlungsart der Psychoneurosen“, in: Medizinische Klinik. Wochenschrift für praktische Ärzte, 23. Jg. 1926, S. 293-329. Schwerdtner, Hugo: Evas Seelenwanderung. Fröhliches Mysterium in 2 Lustspielen und einem Zwischenspiel, Wien 1927. Schwerdtner, Hurgo: Die unsterbliche Eva. Mimus mit Musik für Bühne, Film und Radio. Vor dem Dom zu Salzburg. (Von Mevisteros pseud.), Wien 1928. Semon, Richard: Bewußtseinsvorgang und Gehirnprozeß. Eine Studie über die energetischen Korrelate der Eigenschaften der Empfindungen von Richard Semon. Nach dem Tode des Verfassers hrsg. von Otto Lubarsch, Wiesbaden 1920. Semon, Richard: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, 4. und 5. unveränderte Auflage, Leipzig 1920. Spiller, Philipp: Das Phantom der Imponderabilien in der Physik. Ein Versuch zu einer neuen Theorie des Magnetismus und der Elektrizität in ihren Beziehungen auf Schall, Licht und Wärme, Posen 1858. Warburg, Aby: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin 1992.

Abbildungen Abbildung 1: Experimente mit den Magdeburger Halb-Kugeln nach Otto von Guericke: Neue Magdeburgische Versuche über den leeren Raum (1672), Frankfurt a.M. 2002 (Ostwalds Klassiker der exakten Naturwissenschaften; Bd. 59). Abbildung 2: Richard Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, 4. und 5. unveränderte Auflage, Leipzig 1920, S. 171. Abbildung 3: Richard Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, 4. und 5. unveränderte Auflage, Leipzig 1920, S. 172.

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Abbildung 4: Gustav Eichhorn: „Das Telegraphon“, in: Emil Abderhalden (Hg.), Forschritte der naturwissenschaftlichen Forschung, V, Berlin, Wien 1912, S. 241. Abbildung 5: Giulio. Panconcelli-Calzia: Quellenatlas zur Geschichte der Phonetik, Hamburg 1940, S. 80. Abbildung 6: Giulio Panconcelli-Calzia: 3000 Jahre Stimmforschung. Die Wiederkehr des Gleichen, Marburg 1961, S. 28. Abbildung 7: Valdemar Poulsen: „Das Telegraphon“, in: Annalen der Physik, 4. Folge, 3. Bd., 1900, S. 754-759.

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Drahtliche Verbindung zweier Gehirne (Drahtwellentelephonie)

Albert Kümmel-Schnur | „Ein Körnlein war’s“ - Fechners Totengeister

Albert Kümmel-Schnur

„Ein Körnlein war’s“ – Fechners Totengeister (1836/1866) nur aus einem zusammenhängenden Dunste bestehend, etwa wie Seifenblasen (Gustav Theodor Fechner)

Im März 1797 erhält Friedrich Schiller die Urkunde seiner Aufnahme in die schwedische Akademie der Wissenschaften nebst eines Begleitschreibens des schwedischen Justizministers Joachim Wilhelm Liliestråle.1 Spöttisch berichtet er Goethe in einem Brief vom 4. April von dieser Ehrung: Dieser Tage bin ich mit einem großen prächtigen Pergamentbogen aus Stockholm überrascht worden. Ich glaubte, wie ich das Diplom mit dem großen wächsernen Siegel aufschlug, es müßte wenigstens eine Pension herausspringen, am Ende war’s aber bloß ein Diplom der Akademie der Wissenschaften. Indessen freut es immer, wenn man seine Wurzeln weiter ausdehnt und seine Existenz in andere eingreifen sieht.2 Was in prächtiger Ausstattung – Pergament mit großem Siegel – daherkommt, lässt sich nicht in Geld umtauschen, sondern bedeutet nur ein weiteres Lorbeerblatt im Ehrenkranze des Dichters. Geschmeichelt ist er, selbstredend, dennoch: Ruhm kauft zwar keine Brötchen, freut indessen immer. Schillers kurzer Bericht macht seine Enttäuschung durch eine sorgfältige stilistische Registratur unmittelbar nachvollziehbar. Die drei Sätze lesen sich wie ein kleines Drama: die Exposition des ersten Satzes setzt die Szene. Sie endet spannungsgeladen: „überrascht worden“. Der zweite Satz bringt Durchführung und Peripetie: Schiller steigert die Erwartung durch einen Einschub – „wie ich das Diplom...“ – und die Hoffnung auf Geldsegen („Pension“), deutet durch den Konjunktiv aber bereits an, dass sie sich wohl nicht erfüllen wird. Der Absturz, die dramatische Wende, erfolgt jäh: ein zweiter Hauptsatz wird mittels eines als Zäsur wirkenden, jedoch stärker als Semikolon oder Punkt die Sätze miteinander verbindenden Kommas unmittelbar angeschlossen, ohne jedoch ins Satzgefüge eingebunden zu werden. Der Satz, der die Enttäuschung über den Inhalt des Pergaments birgt, beginnt so schroff wie platt mit einer Formel der Schlussfolgerung, die so gewählt ist, dass in ihr die ganze Handlung nicht nur logisch, sondern auch zeitlich und emotional instantan, ohne Vorwarnung zum Abschluss kommt: „am Ende“. 1

Die Urkunde wird im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar aufbewahrt, http://oraweb.swkk.de/archiv_online/gsa.Vollanzeige?u_id=544731&id=73254, 8.9.2007.

2

Schiller: [Brief an Johann Wolfgang Goethe vom 4. April 1797], Brief Nr. 290.

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Auf diese Formel reagiert das konzessive „indessen“, in dem ebenfalls temporale Obertöne mitschwingen; es finalisiert das Dramolett kathartisch. Der Enttäuschung wird Freude gegenübergestellt, die sich jedoch durch den infolge des scharfen stilistischen Kontrasts zu den vorhergehenden Sätzen falsch klingenden, hohen Ton der existential gemeinten Wurzelmetaphorik ins Bittere verkehrt. 1835 macht der leipziger Physikprofessor Gustav Theodor Fechner aus diesem Nach- oder Zusatz den Epigraph seines im Jahr darauf erschienenen Büchleins vom Leben nach dem Tode: „ ,Indessen freut es immer, wenn man seine Wurzeln ausdehnt und seine Existenz in andere eingreifen sieht.‘ Schiller am 4. April 1797 an Goethe.“3 Fechners Zitationspraxis deutet den schillerschen Satz um: aus einer launigen Bemerkung wird ein pastoraler Sinnspruch, ist das Zitat doch bereits gerahmt und der Empfang seiner Botschaft beeinflusst von dem im Buchtitel genannten ernsten spirituellen Thema des Büchleins, dem „Leben nach dem Tode“. Ein klarer Fall von missbräuchlicher Zitation? Oder legt Fechners epigraphische Verwendung erst Dimensionen des schillerschen Satzes frei, die sich im ursprünglichen Kontext nur schwer erschließen – immerhin ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass die vermutete Bitterkeit doch eher im Sinne achselzuckender Enttäuschungsresistenz zu lesen ist? Es könnte aber auch gerade andersherum sein: Fechner zitiert Schiller mit List unvollständig und zusammenhanglos. Auf diese Weise verschleierte er mit minimalen Mitteln, aber äußerst effektiv die Intention des Textes. Wer den Zusammenhang kennt, könnte den unvollständigen Epigraph als Ironiesignal lesen. Dem vom Titel angeschlagenen und auch durch den Diminutiv, der das Buch zum „Büchlein“ verniedlicht, eher gesteigerten als gemäßigten hohen Predigtton würde auf diese Weise sofort jede Glaubwürdigkeit entzogen. Ein Indiz, das diese Lesart stützt, ist der konzessive Beginn des Zitats: Auf den Titel folgt der Epigraph. Folglich liest man „Das Büchlein vom Leben nach dem Tode [...] Indessen“4 Der Epigraph wirkt wie ein Einwand oder wenigstens ein halblaut geflüstertes Beiseite zum Titel, der dergestalt an die Stelle der ausgelassenen Sätze des schillerschen Briefes träte. Ein weiteres Indiz für oben vorgeschlagene Lektüre ist die Publikation des Büchleins unter Pseudonym. Fechner verwandte für seine literarischen Texte das Pseudonym ‚Dr. Mises‘. Dieses Pseudonym hat sich Fechner für alle jene Veröffentlichungen beigelegt, welche er nicht als wissenschaftliche Arbeiten mit seinem guten Gelehrtennamen vertreten wolle. Er zog auf diese Weise eine auch äußerlich erkennbare Schranke zwischen Phantasie und Verstand, deren Gebiete er in Dichtung und Wissenschaft gewissenhaft auseinanderhielt.5 3

Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 1.

4

Ebd. Titelblatt.

5

Lasswitz: Gustav Theodor Fechner, S. 26.

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Kurd Lasswitz, Autor dieser Zeilen, gibt zwei Gründe für die Verwendung des Pseudonyms an: die Ehre des Wissenschaftlers – der nicht zu befleckende ‚gute Gelehrtenname‘ und die disziplinäre Trennung von Fakten und Fiktionen, eine selbst fiktive Reinigungsarbeit,6 die die Geschichte der Wissenschaften, ihrer Professionalisierung und Industrialisierung im 19. Jahrhundert im Allgemeinen und das Bild Fechners als Urvater der empirisch arbeitenden Psychologie im Besonderen bestimmt. Nun funktionierte die Reinigungsarbeit, die Lasswitz Fechner unterstellt, nur unter der Bedingung, dass Fechner die Autorschaft der mit „Dr. Mises“ signierten Schriften tatsächlich zu leugnen versucht hätte, indem er „den ganzen paratextuellen Apparat, der bei den Autorenunterschiebungen üblicherweise dazu dient, die Existenz eines unterschobenen Autors (wie ernsthaft auch immer) als glaubwürdig hinzustellen“7, beifügt. Das scheint aber nicht der Fall gewesen zu sein. Mit Genette kann man hier vom „Pseudonymeffekt“8 sprechen: „Der Pseudonymeffekt [...] setzt voraus, daß dem Leser das Pseudonym als Faktum bekannt ist [...]“9. Das Pseudonym dient somit nicht primär der Verschleierung der Autoridentität, sondern soll einen assoziativen Raum öffnen – „im Kopf eines Lesers diese oder jene Wirkung erzeugen, eine glanzvolle, archaische, wagnerianische, exotische oder was weiß ich“10. So versieht Fechner sein Pseudonym mit einem akademischen Titel, tritt also keineswegs als ‚Dichter‘ auf, und formuliert seine Texte, wie Lasswitz ästhetisch bemängelt, „in der Form des akademischen Vortrags; es sind Abhandlungen, die er schreibt.“11 Mir scheint die Unsicherheit, das vage Unbehagen, das Lasswitz im Umgang mit den Schriften Dr. Mises’ befällt, ein präziser Ausdruck eines möglicherweise intendierten Effekts zu sein: nämlich nicht unterscheiden zu können, ob hier einer aus einer Laune heraus unernst oder ganz seriös und aufrichtig schreibt. Die Texte übersetzten, so gesehen, die Laboratoriumsarbeit des experimentierenden Naturwissenschaftlers in die schriftstellerische Arbeit am Text: Dr. Mises testet Gedanken, Ideen aus. Als ‚Dr. Mises‘ kann Fechner probehalber, kontrolliert unvorsichtig gewissermaßen schreiben. Im Unterschied zur emphatisch aufgeladenen literarischen Autorschaft unterzeichnet der Naturwissenschaftler nur ein Protokoll. Er tritt nicht als Akteur, sondern als Zeuge auf, der attestiert, dass alles, was berichtet wurde, tatsächlich so geschehen ist, und für die Sorgfalt der Versuchsanord6

Vgl. zur Reinigungsarbeit der ‚Moderne‘ grundsätzlich Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Für einen Einblick in die universitäre Institutionalisierung der Wissenschaften am deutschen Beispiel siehe den von Christoph König und Eberhard Lämmert herausgegebenen Sammelband Konkurrenten in der Fakultät.

7

Genette: Paratexte, S. 51.

8

Ebd. S. 52.

9

Ebd. S. 52.

10 Ebd. S. 52. 11 Lasswitz: Gustav Theodor Fechner, S. 38.

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nung sowie ihrer Dokumentation bürgt. Ich schlage also vor, in Fechners Pseudonym so etwas wie eine Schutzmaske zu sehen: die Maske bewahrt das Gesicht des Autors und verbirgt dessen Mimik vor denen, die seine Texte lesen. Zur Versuchsanordnung gehört ganz zentral der sehr bewusste Umgang mit den paratextuellen Elementen. In literature, an epigraph is a phrase, quotation, or poem that is set at the beginning of a document or component. The epigraph may serve as a preface, as a summary, as a counter-example, or to link the work to a wider literary canon, either to invite comparison or to enlist a conventional context.12 Vorwort, Zusammenfassung, Gegenbild, kanonische Kontextualisierung listet das anonyme englische Wikipedia-AutorInnenkollektiv als mögliche Funktionen von Epigraphen auf. Die letzte Funktion ist sicherlich die offensichtlichste: Schiller schreibt an Goethe – das ist kulturell beglaubigte Dioskurenrede, viel höher lässt sich kaum greifen, viel erwartbarer kann man Motto gebende Autoren im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts nicht wählen: eben aus diesem Grund brauchen diese Autoren auch nicht mit vollem Namen zitiert werden. Gleichzeitig ist das zitierte Genre ungewöhnlich. Fechner wählt einen Brief und betont die Bewusstheit seiner Entscheidung durch den für Epigraphen eher untypischen, korrekten, wenn auch unvollständigen Quellennachweis. Auch bei Autoren wie Schiller und Goethe werden die Briefe für gewöhnlich nicht als Teile ihrer literarischen Werke gewertet, sondern als (im Verhältnis zum Werk) marginale, private Textzeugnisse betrachtet – Freundschaftsadressen. In der ersten Auflage des Büchleins (1836) wird die Funktion dieser Entscheidung erst durch das Nachwort, das die Entstehungsgeschichte skizziert, transparent. Die erste Anregung zu der in dieser Schrift ausgeführten Idee [...] ward mir durch eine Unterredung mit meinem damals in Leipzig, jetzt in Halle lebenden, [sic!] Freunde, Professor Billroth.13 Die erste Auflage von Fechners Büchlein tritt also als Brief an einen entfernt lebenden Freund auf. Fechner selbst, der Schreiber, tritt in die Fußstapfen Schillers, dem Freund, Anreger und Urheber, wird auf diese Weise die Rolle Goethes zugewiesen. Der Text wird durch zwei Paratexte, Epigraph und Nachwort, gerahmt, wodurch das Schillerzitat auch an die Stelle des fehlenden Vorworts tritt: 12 Wikipedia-Kollektiv (englisch): „Epigraph (literature)“. 13 Fechner: Das unendliche Leben, S. 140. Ich zitiere das Nachwort zur ersten Auflage nach der Fechner-Anthologie des Matthes&Seitz-Verlags, da die Ausgabe des ReichlVerlags, die ich im übrigen verwende, sich nach der zweiten Auflage des Büchleins vom Leben nach dem Todes richtet und deshalb das ursprüngliche Nachwort nicht enthält.

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Epigraph und Nachwort sind funktional gleichgestellt, ein Strukturelement, das geeignet ist, die Parallelisierung der Autorenpaare Schiller/Goethe und Fechner/Billroth zu unterstützen. Gleichzeitig wahrt die räumlich weitest mögliche Trennung der aufeinander bezogenen Texte das Bescheidenheitsgebot, das die Gleichsetzung mit den weimarer Dichtergöttern verletzt.14 Jedoch ist der Fall noch etwas verwickelter, da Fechner ja nicht unter eigenem Namen, sondern unter dem Deckmantel der Autorfiktion ‚Dr. Mises‘ schreibt. Schiller wäre also nicht Fechner, sondern Mises, den es nicht gibt, eine Fiktion, die aber einen höchst realen Theologieprofessor, Gustav Billroth, zum Freund hat. Eine Position im Spiel der Übersetzung bliebe also leer, eine bloße Variable, was deshalb bedeutsam ist, da der große Unbekannte mit dem Namen Mises ausgerechnet der Spielleiter, der Regisseur dieser Inszenierung ist. Man könnte die Funktion dieses deus absconditus deshalb im musilschen Sinne katalysatorisch nennen: „[...] wissen Sie, was ein Enzym oder ein Katalysator ist? [...] Das trägt materiell nichts bei, aber es setzt die Geschehnisse in Gang.“15 Ich werde im Verlauf dieses Essays zeigen, dass Fechners gezielter Einsatz paratextueller Elemente, insbesondere deren Veränderung von der ersten zur zweiten Auflage des Büchleins, eine Anwendung und Demonstration der darin vertretenen Thesen darstellt. Dieser literarische Trick ermöglicht es Fechner, ein Modell von Massenkommunikation vorzustellen, das er begrifflich nicht fassen kann. Das Modell der Geisterkommunikation, das Fechner propagiert, ist in der Sprache der materiellen Fluida, wie es auch die Äther sind, formuliert, übersteigt den so gesetzten Rahmen jedoch konzeptuell. Auf diese Weise entsteht ein inkonsistenter Text, der ausschließlich literarisch einholen kann, was sich begrifflich – noch! – nicht auflösen lässt.16 Laut Hans-Jürgen Arendt ist das Büchlein Fechners Beitrag zu einer nach Hegels Tod einsetzenden intellektuellen Debatte über die Frage des Weiterlebens nach dem Tode.17 Arendt interpretiert Fechners auf einer gemeinsam mit 14 Gerard Genette verweist auf den Bescheidenheitsgestus, dem Motti jeglicher Art unterliegen. Autographe Motti sind völlig tabuisiert. (Paratexte, S. 148). 15 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 134. 16 Dem literarischen Diskurs wird durch diese These keine Sonderstellung gegenüber wissenschaftlichen Ausdrucksformen eingeräumt. Vielmehr zeigt sich an dieser Stelle, wie Gedanken im Verlauf ihrer Geschichte die Register wechseln können und wie durchlässig die unterschiedlichen Wissenstypen füreinander waren und sind. Bernhard Dotzler etwa zeigt am Beispiel der Rückkopplung, wie der deutsche Bildungsroman dieses Konzept zu einer Zeit weiterspinnt, die technisch nicht auf Rekursion und feedback loops setzt (siehe Bernhard Dotzler: Papiermaschinen). Christian Kassung (EntropieGeschichten) zeigt, wie Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften im Medium der Literatur den physikalischen Diskurs um das Ergodenproblem zu lösen versucht. Musils Text, so die Pointe, schreibt Physik-, nicht Literaturgeschichte. 17 Arendt: Gustav Theodor Fechner, S. 73.

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seiner Frau unternommenen Erholungsreise im österreichischen Bad Gastein formulierten Text als Reaktion auf die Position seines Freundes Christian Hermann Weiße, die er ablehnte.18 Fechners Text steht ganz im Zeichen romantischer Spekulation; die starke Beeinflussung seiner Philosophie durch die Schriften Lorenz Okens und Friedrich Wilhelm Schellings sind gut dokumentiert und hinreichend kommentiert. Diethard Sawicki lokalisiert in seinem Buch über den deutschen Geisterglauben im 19. Jahrhundert Fechners Philosophie geistesgeschichtlich folgendermaßen: Das Streben nach einer ganzheitlichen Weltsicht, in der sich die Differenzen zwischen Geist und Materie, Religion und Wissenschaft, mystischer Erfahrung und historischer Erkenntnis auflösen sollten, war ein zentrales Moment der deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Dies betrifft in besonderem Maße die Epoche der Romantik, gilt aber auch für die Philosophie Rudolf Hermann Lotzes oder Gustav Theodor Fechners in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts [...]19 Die Spekulationen um den Kollektivsingular Geist, die Heerscharen deutscher Philosophen beschäftigen sollte, rückt er zurecht in den größeren Kontext eines Glaubens an Geister im Plural: Der Geisterglauben des 19. Jahrhunderts muß ganz überwiegend als ein Glaube an Erscheinungen der Geister verstorbener Menschen aufgefaßt werden. [...] Auf der Grundlage des Quellenmaterials kann eine enge Definition der historisch faßbaren, handlungsleitend relevanten Varianten des Geisterglaubens im späten 18. und im 19. Jahrhundert formuliert werden: Geisterglauben wird von mir verstanden als die Überzeugung, es existierten Geister, die sich unter ganz bestimmten Bedingungen den Menschen mitteilen und Veränderungen in der materiellen Welt bewirken zu können.20 Fechner konnte seine Thesen also aus einem breiten Repertoire philosophischer Interpretamente und narrativer Versatzstücke deutscher Geisterfolklore heraus konstruieren. Träger des von ihm entwickelten Narrativs sind jedoch zwei Diskurse, die weder der Geistmetaphysik noch der Geistertheologie entspringen: Kraft und Organisation.21 Stark konventionelle Bildformeln und standardisierte Ver18 Arendt: Gustav Theodor Fechner, S. 73. 19 Sawicki: Leben mit den Toten. 20 Ebd. S. 132. 21 Da es sich um gleichermaßen breite wie schwierige Diskursfelder handelt, werde ich in diesem Text keinen der beiden Diskurse eigenständig und umfassend vorstellen können. Ich konzentriere mich auf ein close reading des Büchleins vom Leben nach dem Tode und skizziere Kontexte dort, wo sie zum Verständnis unabdingbar sind.

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gleiche – Geburt als Todesanalogie, Baum mit Wurzelwerk und Zweigen als organische Vernetzungsmetapher, Wohnung als Bild für die Innen/Außen-Differenz, fortwährender Geisterkampf als Personifikation der Polarität von Gut und Böse und schließlich wellenbewegte Wasser als Informationsmedien – versuchen in immergleichem Fehlschluss Erscheinungen des Diesseits’ die Existenz eines Jenseits’ unabweisbar abzuleiten.22 Fechner stärkt die Analogiebildungen rhetorisch durch parallele Satzbauten: „Die Pflanze denkt, sie sei bloß für sich da [...] Der Mensch denkt, er sei bloß für sich da [...]“23 Dieses Stilmittel setzt Fechner von der ersten Seite seines Textes an so konsequent ein, dass dieser die Qualitäten der seriellen Kompositionen Eric Saties gewinnt. Als Schreibverfahren ähnelt dieser massive Einsatz sich wiederholender Strukturen der Aufzählung und erreicht deren Effekt kumulativer Intensivierung.24 Ihre argumentative Potenz gewinnen die z.T. recht verbrauchten Metaphern aus ihrer Bindung an die Diskurse Kraft und Organisation sowie jene Technik des schleichenden Austausches von Bildern, die Jürgen Link mit der treffenden Formel des Katachresenmäanders bezeichnet hat. Die Einheit stiftenden Figuren dieser Anordnung sind sowohl botanischen wie physikalischen Ursprungs. Botanisches Bild ist der Baum mit Krone und Wurzel, die beide gleichermaßen verzweigt gedacht werden. Physikalisch verwendet Fechner das Bild der Ausbreitung von Wellen auf dem Wasser, wobei dieses auch als Muster der anders nicht visualisierbaren Feinstofflichkeit des Geistes – eine pneumatische bzw. ätherische Idee – dienen muss. Bei den Aktivitäten des Bewusstseins handelt es sich immer dann um eine Art pflanzliches Wachstum, wenn es gilt, seine Netzwerkqualitäten zu beschwören, um ein Wellengeschehen aber, sobald Fechner die physikalische Materialität des Bewusstseins als Argumentationsgrundlage benötigt. Dieses Wellengeschehen ist auf ein Trägermedium angewiesen, dessen Struktur physikalisch jedoch unbestimmt bleibt. Es trägt den Namen „Gott“25 oder „höchster Geist“26. Baummetaphorik, Ätherphysik und Geisterglaube amalgamieren zur Idee einer dreistufig organisierten Welt am Leitfaden fortschreitender moralischer Perfektion 22 „Nach allem ist das die große Kunst des Schlusses vom Diesseits auf das Jenseits, nicht von Gründen, die wir nicht kennen, noch von Voraussetzungen, die wir machen, sondern von Tatsachen, die wir kennen, auf die größeren und höheren Tatsachen des Jenseits zu schließen, und dadurch den praktisch geforderten, an höheren Gesichtspunkten hängenden Glauben von untenher zu festigen, zu stützen und mit dem Leben in lebendigen Bezug zu setzen.“ (Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 62). Eine ähnliche Technik der Analogiebildung setzen Peter Guthrie und Stewart Balfour in ihrem viel gelesenen Buch The Unseen Universe vor. Siehe dazu den Text von Antje Pfannkuchen in diesem Band. 23 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 21. 24 Vgl. zur Rhetorik der Liste Jullien: Die Kunst, Listen zu erstellen. 25 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 19. 26 Ebd. S. 9.

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und geistiger wie physischer Verfeinerung. Die erste Stufe erstreckt sich von der Zeugung bis zur Geburt, die zweite umfasst das diesseitige Leben bis zum Tod, die dritte ist das jenseitige Geisterleben. Jede dieser Stufen hat ein eigenes Entwicklungspotential, das auf die nächst höhere Stufe vorbereitet. Zunächst wird der physische Körper gebildet, der die Grundlage der Bildung jenes Geisterkörpers ist, als der man schließlich im Jenseits, das eigentlich nur ein feinstoffliches Diesseits darstellt,27 existiert. Das Entwicklungsideal der dritten und letzten Stufe ist die Ruhe in Gott bzw. die Teilhabe an seinen Gedanken (was immer das genau heißen mag).28 Gott ist gleichzeitig höchster Geist29 wie Geistmedium par excellence.30 Er ist das Ziel und das Medium aller geistigen Entwicklungen: „Gott [...] der in sich zugleich den Grund und Gipfel hat.“31 Gott erscheint nicht als dem menschlichen Bewusstsein transzendenter Weltenherrscher, sondern als Einheitsformel eben dieser Bewusstseins- oder Geisteswelt, als Name für das Ganze. Ja wie leicht wäre alles für den Glauben, könnte der Mensch sich nur gewöhnen, in dem Wort, womit er seit mehr als tausend Jahren spielt, daß er in Gott lebt und webt und ist, mehr als ein Wort zu sehen. Dann ist der Glaube an Gott und sein eigenes ewiges Leben zum ewigen Leben Gottes selbst gehörig, und in der Höhe seines künftigen über seinem jetzigen Leben nur einen höheren Aufbau über einen niederen in Gott, wie er selbst schon solchen in sich hat; er faßt am kleinen Beispiel das Höhere und im Zusammenhange beider das Ganze, wovon er nur der Teil.32 Andererseits weist Fechner ihm immer wieder auch die Rolle eines eigenständigen Geistes, der allen anderen Geistern als Ideal gegenüber steht, zu: „[...] so werden zuletzt alle Geister als Gliedmaßen mit dem größten Geiste, mit Gott, zusammenhängen.“33 27 Fechners Auffassungen sind beeinflusst von der durch Emmanuel Swedenborg mitgeprägten Veränderung der Jenseitsauffassung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das zuvor ausschließlich in Form von Himmel/Hölle/Fegefeuer gedachte Jenseits gewinnt neue Züge einer Parallelwelt zum Diesseits, in das sich die bekannte Welt mit ihren Leiden und Freuden nahtlos hinein verlängert. (Vgl. Sawicki: Leben mit den Toten, S. 41-55) „[…] es gibt keinen Himmel und keine Hölle im gewöhnlichen Sinne der Christen, Juden und Heiden, wohin die Seele nach dem Tode käme“ (Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 18) 28 Ebd. S. 19. 29 Ebd. S. 39. 30 Ebd. S. 57. 31 Ebd. S. 70. 32 Ebd. S. 70. 33 Ebd. S. 39.

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Dieses Paradox, dass Gott einerseits alles und andererseits doch nur einer unter vielen Geistern sein soll, stellt, meines Erachtens, das Zentrum der fechnerschen Überlegungen dar. Im dritten Kapitel bietet Fechner am Beispiel der menschlichen Seele ein Lösungsangebot in Form eines Diagramms aus sechs einander überschneidenden, mit Farbwerten benannten Kreisen an:

Fechner konstruiert einen Kreis, den er in sechs gleiche Segmente teilt. Um die Schnittpunkte der den Kreis teilenden Linien mit der Kreislinie schlägt er sechs gleich große Kreise. Die sich überschneidenden Kreissegmente bilden zwei regelmäßige, blütenartige Figuren. Am Beispiel der kleineren dieser Figuren, die man sich bunt vorstellen soll, betont Fechner die Eigenwertigkeit dieser Formen gegenüber den Kreisen, aus denen sie entstanden sind: „Gleichwie in dieser Figur, die kein Abbild, sondern nur ein Symbol oder Gleichnis sein soll, der in der Mitte stehende bunte (hier schwarz erscheinende) sechsstrahlige Stern als ein Selbständiges, seine innere Einheit in sich Tragendes, betrachtet werden kann [...]“34 Diese Eigenständigkeit begründet sich im Mittelpunkt der Figur, von dem aus tatsächlich das ganze Diagramm konstruiert ist. Man könnte umgekehrt die zentrale Sternfigur geometrisch gar nicht anders konstruieren. Bewusst lässt Fechner den für die Konstruktion entscheidenden Kreis weg, um den Eindruck der Entstehung der mittleren Sternfigur durch die Überschneidung der Kreise, deren Konstruktionsprinzip im Dunkeln bleibt, zu stärken. Der aufmerksame Leser hat aber bereits im vorhergehenden Kapitel die Konstruktionsanleitung des Diagramms im Bild eines in stehendes Wasser, aus dem andere Steine hervorragen, geworfenen Steins gefunden:

34 Ebd. S. 22.

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Ob der Wellenkreis, den ein versinkender Stein im Wasser hinterließ, um jeden Stein, der noch daraus hervorragt, durch seinen Anprall einen neuen Wellenkreis erregt, bleibt es doch ein in sich zusammenhängender Kreis, der alle erregt und in seinem Umfang trägt; die Steine aber wissen nur um die Zerstückelung der Umfangskreise. Wir sind solche unwissenden Steine, nur daß wir, ungleich festen Steinen, selbst jeder schon im Leben einen zusammenhängenden Kreis von Wirkungen um uns schlagen, der sich nicht bloß um andere, sondern in andere hinein verbreitet.35 Im Bild vom Wellen schlagenden Stein denkt Fechner das spätere Diagramm von seinem konstruktiven Mittelpunkt her, also genau in umgekehrter Richtung. Die an späterer Stelle eingefügte Zeichnung visualisiert also nicht einfach die frühere Erzählung, sondern beide stehen komplementär zueinander, deuten unterschiedliche Aspekte derselben Figur. In beiden Fällen soll das Verhältnis unseres individuellen Geistes zu den (Toten)geistern erläutert werden. Genauer gesagt, dient die Parabel vom Wellen schlagenden Stein dazu, das Fortwirken der Totengeister zu plausibilisieren, während das Diagramm zeigen soll, wie Totengeister und das individuelle Bewußtsein interagieren. Der „versinkende[.] Stein“36 gleicht dem sterbenden Menschen: sein physischer Körper geht unter, seine (geistigen) Wirkungen – die Wellen, die er schlug – bleiben ohne ihn auf der Wasseroberfläche zurück. Egal wie oft sich diese Wellen an Hindernissen – z.B. anderen Steinen – brechen, bleiben sie dennoch Teil einer Figur: „Ob der Wellenkreis [...] durch seinen Anprall einen neuen Wellenkreis erregt, bleibt es doch ein in sich zusammenhängender Kreis [...]“37 Über Fechners Verlebendigung der stehenden Steine hinaus wird man obendrein die Hilfsvorstellung einer pulsierenden Eigenaktivität jener zentralen Stelle, an der der die Wellenbewegung auslösende Stein gesunken ist, nach Sinken des Steins, bemühen müssen, um an der Idee der Unvergänglichkeit der Bewegung – Fechner bemüht in diesem Kontext das Gesetz der Erhaltung der Kraft38 - festhalten zu können. Sonst nämlich stünde es schlecht um Goethe, Schiller, Napoleon und Luther, die alle noch als handelnde Individuen unter uns weilen sollen.39 Die neuen Wellenkreise sind die Wirkungen des vom gesunkenen Stein/gestorbenen Menschen ausgehenden Ideen. Allerdings, so Fechner, sei das Bild 35 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 15. 36 Ebd. S. 15. 37 Ebd. S. 15. 38 „Schwingungen können nur scheinbar erlöschen, indem sie sich in die Umgebung ausbreiten, oder, wenn ja durch Übergang ihrer lebendigen Kraft in sogenannte Spannkraft zeitweise erlöschend, doch nach dem Gesetze der Erhaltung der Kraft einer Wiederbelebung in irgendwelcher Form harren.“ (ebd. S. 42-43) 39 Vgl. ebd. S. 16.

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schief, da die Lebenden nicht nur passive Empfänger von Botschaften aus dem Totenreich seien, sondern vielmehr auch aktiv Botschaften – Wellenkreise – aussendeten, mit denen wiederum andere Geister, lebende wie tote, beeinflusst werden könnten. Man muss sich also die Geistes- wie Geisterwelt als ein von vibrierenden Steinen im Wasser erzeugtes Muster interferierender Wellenkreise vorstellen. Es ist schwer zu sagen, wer in diesem Modell wen beeinflusst, wer voranging, wer untergeordnet ist. Genau das aber zeigt das Kreisdiagramm des dritten Kapitels: „So ist es mit der menschlichen Seele.“40 Sie ist gleichermaßen aus den Geisterbotschaften geformt, wie sie die Botschaft ist, die diese allererst an einem Ort zusammengeführt hat. Und schließlich ist die Gestalt, die auf diese Weise entstand – der sechsstrahlige Stern – eine Botschaft sui generis, etwas Neues, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Das zeigt schon die stern- bzw. blütenartige Figur, mehr noch deuten die Farben darauf hin. Bereits drei der sechs Kreise, aus denen sich das Diagramm zusammensetzt, sind Mischfarben: orange, violet und grün. Listig ordnet Fechner die Farben so an, dass sie einerseits zwischen den Grundfarben, aus denen sie gemischt werden, liegen, andererseits aber genau ihren Komplementärfarben gegenüber positioniert sind: rot-grün, gelb-violet, blau-orange. Was also schon für die Hälfte der Farben gilt, mit denen die konstitutiven Kreise gekennzeichnet sind, muss ebenfalls für die Mischfarben gelten, die aus der Überschneidung der Farbkreise hervorgehen: eigenständig wie abhängig gleichermaßen zu sein. Die menschliche Seele, die das Diagramm erläutern soll, ist also eine zusammengesetzte Einheit wie eine einheitliche Vielfalt. Genauso muss man sich wohl Gott, nach Fechner, vorstellen: er ist der Mittelpunkt, der das ganze Universum zusammenhält – „das gemeinsame göttliche Zentrum“41 –, die Einheitsfigur aller durch die Interaktion der lebenden und toten Geister entstandenen Interferenzmuster als auch jenes Musters, das sich – wie der sechsstrahlige Stern des Diagramms – aus dem Prozess des Interferierens ergibt: ein eigenständiger Geist und die Summe aller Geister. So gesehen stellt die Geisterwelt, Gott eingeschlossen, ein selbstabilisierendes Beziehungsgefüge aus Kräften dar. Jeder Geist ist ein in einem Punkt zusammengehaltenes Interferenzmuster, keine Substanz. Dessen ungeachtet stellt sich Fechner die jenseitige Existenz durchaus körperlich vor. Die Vorstellung eines „Leib[es] des Jenseits[’]“42 hilft Fechner, die Einheit der individuellen Existenz zu denken, die durch das Wellenbild nicht gedeckt ist. Zwar lässt sich nach dem Modell eines in das Wasser fallenden Steins ein Zentrum eines Interferenzmusters denken, aber es ist kaum möglich, in dem komplizierten Überschneidungsgefüge von Bewegungen eines flüssigen Mediums dieses Muster scharf gegen andere ab40 Ebd. S. 22. 41 Ebd. S. 29. 42 Ebd. S. 65.

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zugrenzen: „doch unterscheidest du sie leicht selbst äußerlich im ganzen“43, behauptet Fechner, postuliert dann fix ein Bewußtsein der Wellenkreise – „die Kreise, die innerlich selbst bewußt sind“44 -, um geschwind und aalglatt im nächsten Satz die Metapher zu wechseln und das flüssige Medium Wasser durch das durchaus starre Medium Handschrift zu ersetzen. „Vielleicht schon manchmal hast du aus einem fernen Weltteil einen Brief empfangen, gekreuzt beschrieben nach Länge und nach Quere. Was läßt dich beide Schriften unterscheiden?“45 An die Stelle einer echten Interferenz tritt die bloße Überlagerung. Fechner konzipiert das Bild einer Welt als Palimpsest, das später noch eine große Karriere in der Postmoderne machen sollte:46 „Nicht bloß zwei Schriften freilich, unzählige kreuzen sich in der Welt; [...]“47 Ganz geheuer ist Fechner jedoch diese allzu dreiste Mogelei nicht und so schließt er entschuldigend diesen Ausflug in die Welt der Schriftmetaphorik: „der Brief ist aber auch nur ein schwaches Bild der Welt“48. Nach dem Scheitern dieses Versuchs, die konzeptuelle Leerstelle, die eine Metapher geöffnet hatte, mit einer anderen zu schließen, kommt er auf das durch sie bezeichnete Problem zurück: „Wie aber kann das Bewußtsein seine Einheit in so großer Verbreitung seiner Unterlage [Wellenkreise! AKS] noch bewahren [...]?“49 Die Antwort, die wiederum in Frageform gegeben wird, verweist zurück auf das Farbkreisdiagramm und die ihm vorgeschaltete Wellenkreiserzählung: „Ist denn dein Leib [...] ein Punkt?“50 Hatte die konstruktive Logik beider Kreisnarrative – des sprachlichen und des graphischen – gerade den Mittelpunkt als Garant individueller Unverwechselbarkeit, den archimedischen Punkt, der aus ihr entstandenen Gestalt(en), gedeutet, wird hier – durchaus noch im Einklang mit dem Vorangegangenen – die Ausgedehntheit der Gestalt, nunmehr am Leitfaden des physischen Leibes, betont: der konstruktive Mittelpunkt wird nicht geleugnet, aber in seiner Bedeutung relativiert. Die zweite Frage, die sich unmittelbar anschließt, dekonstruiert das in Diagramm und zugehöriger Erzählung vertretene Modell vollends: „Oder gibt es einen Mittelpunkt darin [im Leib, AKS] als Sitz der Seele?“51 Die Seele ist kein Punkt, keine cartesianische res cogitans, auf die 43 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 54. 44 Ebd. S. 54. 45 Ebd. S. 54. 46 Im zweiten Band seiner Hermes-Reihe, den er dem Thema ‚Interferenz‘ widmet, folgt Michel Serres dem Verlauf desselben Katachresenmäanders. Interferenzmuster aus Wellen werden Palimpsesten gleichgesetzt oder Metaphern werden heimlich durch andere ersetzt. 47 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 55. 48 Ebd. S. 55. 49 Ebd. S. 55. 50 Ebd. S. 55. 51 Ebd. S. 55.

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alles Weitere zurückgeführt werden kann, sondern wird nun als Zusammenhang stiftendes Prinzip hüben wie drüben gedeutet. Fechners Argumentation entfernt sich immer weiter von einer Antwort auf die Frage der Einheit des Individuums, nicht aber, weil er sich nicht geben will, sondern weil er sie bereits implizit gegeben hat. Dort, wo das flüssige Medium das Argument nicht mehr tragen kann und auch Hilfsfiguren wie das Palimpsest keine Lösung bringen, setzt Fechner den Körper und das ganze Arsenal körperschaftlicher Bilder ein. „Frag erst, wie es seine Einheit in der kleinen Ausbreitung des Leibes bewahren kann [...]“52 Der physische Leib wird hier als Trägermedium der Seele gesehen; er entspricht dem Wasser, das – in Analogie – die Wellenbewegungen der Seele trägt. Der physische Leib aber ist eine klar begrenzte Einheit, die Fechner dann auch für die jenseitige Existenz der Seele akklamieren kann: „der neue Leib als Fortsetzung des alten“53. Da sich der neue Leib aber gänzlich der Vorstellungskraft entzieht und das Bild somit Gefahr läuft, seine Funktion nicht zu erfüllen, greift Fechner in den Fundus der Schauermärchen und lässt Gespenstererscheinungen in Gestalt ihres früheren irdischen Körpers zu, die nunmehr jedoch nicht mehr den Leib selber darstellen, sondern nur dessen „Seelenkleid [...] durchsichtig, leicht“54. Körpermetaphern setzt Fechner immer dann ein, wenn es um organisatorische Zusammenhänge geht: die gestaltlose Begrenzung des Ganzen oder aber das Verhältnis von Teil und Ganzem, Zentrum und Peripherie oder auch Form und Medium. Unser ganzes Handeln und Wollen in dieser Welt ist eben nur so berechnet, uns einen Organismus zu schaffen, den wir in der folgenden Welt als unser Selbst erblicken [...] sollen. Alle geistigen Wirkungen, alle Folgen der Kraftäußerungen [...] sind die geistigen Gliedmaßen des Menschen [...], verbunden zu einem geistigen Körper, zu einem Organismus [...]55 Einerseits sind die Organe bloße Peripherie, der ‚Seele‘, dem ‚Selbst‘ völlig äußerlich. Andererseits ist dem angehenden Psychophysiker56 klar, dass es eine trägerlose Seele, ein körperloses Bewusstsein nicht geben kann: Fechner ist kein Cartesianer. Denke ich den Leib weg, bleibt kein so unbezweifelbarer wie ausdehnungsloser Punkt des Zweifelns übrig, sondern gar nichts. So gibt es einerseits 52 Ebd. S. 55. 53 Ebd. S. 60. 54 Ebd. S. 66. 55 Ebd. S. 13. 56 Sein naturwissenschaftliches Hauptwerk, Elemente der Psychophysik, wird Fechner im Jahre 1860 veröffentlichen. Die zweite Auflage des Büchleins vom Leben nach dem Tode wird er mit Verweisen auf diesen Text versehen.

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eine treibende Kraft – ganz gleich, welchen Namen man ihr geben will –, und andererseits das von ihr Hervorgetriebene – z.B. eben einen Körper und seine Organe, wobei die Kraft ihrerseits ein Medium, einen Körper etwa, braucht, um überhaupt wirken zu können. Diese gegenseitige Bezugnahme und Bedingung fasst Fechner in Bildern der Embryonalentwicklung auf, die ihrerseits von floralen Metaphoriken – Keim oder Samen – abgelöst werden. Ein „Körpergeist“, „Bildungstrieb“ oder auch „schaffende[s] Prinzip“57 bildet den Menschen von der befruchteten Eizelle zum selbständig lebensfähigen Organismus. Von vornherein lässt Fechner das Kind – und nicht etwa den Trieb – als (unbewusstes) Subjekt dieser Entwicklung agieren. „Das Kind im Mutterleibe hat bloß einen Körpergeist, den Bildungstrieb. Die Schöpfung und Entwicklung der Gliedmaßen, womit es aus sich herauswächst, sind seine Handlungen.“58 Das Kind ist Handlungssubjekt „vermöge eines ihm selbst dunklen Triebes, der nur in der Organisation der Mutter klar begründet liegt.“59 Das Kind wird also als eigenständiger Akteur aufgefasst, obwohl diese Eigenständigkeit in einem ihm heteronomen Prinzip – der Organisation der Mutter – begründet liegt. Da die Mutter ihrerseits den Bildungstrieb nicht autochton entwickelt hat, kann sie selbst nur gewordenes, heteronomes Medium der kindlichen agency sein: alles andere widerspräche strikt dem Gesetz der Erhaltung der Kraft, das Fechner für bindend auch in metaphysischen Fragen hält. Hauptakteur – einziger Akteur im strikten Wortsinn – ist damit jenes Medium, jene Kraft, die Fechner ‚Gott‘ nennt. So wenig ein Mensch je sterben kann, der einmal gelebt, könnte er je zum Leben erwacht sein, hätte er nicht vorher gelebt; nur daß er vorher nicht für sich gelebt. Das Bewußtsein, womit das Kind bei der Geburt erwacht, ist nur ein Teil des ewig dagewesenen allgemeinen göttlichen Bewußtseins, das sich in der neuen Seele für sich zusammengenommen.60 Ist Gott somit die einzige perfekte Carnotmaschine, ein perpetuum mobile, das in der Lage ist, Energie so dissipationsfrei wie ewig zirkulieren zu lassen? Fechners Text könnte als eine theologische Interpretation des Satzes von der Erhaltung der Kraft, des späteren ersten Hauptsatzes der Thermodynamik gelten, der von Lord Kelvin im Jahre 1866, dem Jahr der zweiten Auflage des Büchleins, so erläutert wird: „The great principle of the conservation of energy teaches us that the material universe moves as a frictionless machine.“61 57 Alle drei Zitate: Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 12. 58 Ebd. S. 12. 59 Ebd. S. 12. 60 Ebd. S. 61. 61 William Thompson, zitiert in Kassung: „Friede: siehe Krieg, siehe Physik?“, S. 322.

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Die lebendige Kraft des Bewußtseins entsteht nie wahrhaft neu, geht niemals unter, sondern kann wie die des Körpers, worauf sie ruht, nur ihre Stelle, Form, Verbreitungsweise zeitlich und räumlich wechseln, heut oder hier nur sinken, um morgen oder anderwärts zu steigen, heut oder hier nur steigen, um morgen oder anderwärts zu sinken.62 Liest sich dieses Zitat so, als handele es sich einfach um einen ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens, muss diese Vorstellung doch korrigiert werden. Fechner denkt Weltgeschichte als gerichteten Prozess. Gott ist, wie mehrfach bereits betont, nicht nur Medium, sondern auch Ziel aller geistigen Aktivitäten. Für Fechner ist es nicht nur ausgemacht, dass jedes einmal erwachte Bewusstsein niemals wieder einschläft, sondern sich mit allem anderem bewussten Sein – allen anderen Geistern – verbinden wird. Verbindung ist in seiner Diktion aber kein neutraler, sondern ein moralischer Begriff: verbinden kann sich nur, was sich sympathisch ist, was gut ist. Schlechtes verbindet sich nicht einmal Schlechtem, sondern widerstreitet allem anderen. Das Böse ist für Fechner das antagonistische Prinzip schlechthin – eine Idee, die er von Kant übernommen haben könnte, der den Widerstreit, den sogenannten „Antagonism“, als Movens der Geschichte gegenüber einem bloß schafsartig guten Leben in Arkadien63 verteidigt. Aber neben der Harmonie der Geister, die sich freundlich begegnen und gatten, besteht auch ein Kampf der Geister, deren Wesen im Widerspruch ist, ein Kampf, in dem alles in endlichem Zwist Befangene sich zuletzt aufreiben wird, damit das Ewige in seiner Reinheit allein übrigbleibe.64 Es ist eine kosmologische Frage, die Fechner im Büchlein nicht beantwortet, warum „das Ewige in seiner Reinheit“ denn nicht bei sich geblieben ist, sondern erst den Weg durch die Materie nehmen musste: das Paradox eines fundierenden Mediums, das gleichermaßen finale Form der Weltgeschichte und ihre zentrale bewegende Kraft sein soll, Gott nämlich, bleibt erhalten. Gott ist in Fechners System eine selbstbewegte und andere bewegende Kraft, die in sich selbst zurückkehrt. Jedes menschliche Bewusstsein ist demnach bloße Artikulation eines Teilaspekts dieser göttlichen Kraft, die allerdings, so gesehen, auch das Gegenstrebige, das Böse, umfassen müsste, ein Gedanke, den Fechner nicht zulässt, sondern vielmehr gleich im ersten Kapitel seines Textes mit arkadischer Idyllik – „er wird Berg und Gras durchdringen“65 – so verstellt, dass er sich nicht mehr stellt. 62 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 59. 63 Eine solche Darstellung findet sich etwa in Kants Friedensschrift aus dem Jahre 1795. 64 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 30. 65 Ebd. S. 11.

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Jeder Versuch einer analytischen Rekonstruktion der Argumentation Fechners wird am Problem der paradoxalen Funktionen, die der Autor ‚Gott‘ zuweist, scheitern. Gott kann nicht gleichzeitig Carnotmaschine, die durch sie umgewandelte Kraft und überdies Ziel und Resultat der metabolischen Arbeit sein. Fechners Theologie scheitert genau dort, wo sie physikalisch beglaubigt und begründet werden soll. Gerade dieses Misslingen jedoch ist ein Gewinn für heutige Lesende. Lässt man einfach alle Ontologisierungen weg, an denen Fechner krampfhaft festhält, tritt an die Stelle einer ohnehin nur glaubbaren Gotteslehre eine ätherische Medien- oder Massenkommunikationstheorie, die jedem postmodernen Denker Ehre gemacht hätte. Diese zeichnet sich durch große Selbstgenügsamkeit aus: ein Interferenz- oder Echoraum, der immer neue Gestalten hervorbringt, selbst mit jeder neuen Botschaft an Komplexität gewinnt, ohne Autonomie und Authentizität der Botschaften anders als heteronom, fremdinduziert zu denken. Gott hat in diesem Raum keine Aufgabe mehr: „Am Ort der Interreferenzen fehlt mir eine globale Referenz: Es ist wesentlich, daß ich darüber nicht verfüge.“66 Frage doch erst, wie ist es möglich, daß unzählige Wellenkreise sich in demselben Teiche kreuzen, daß unzählige Schallwellen sich in derselben Luft kreuzen, daß unzählige Lichtwellen sich in demselben Äther kreuzen, daß unzählige Erinnerungswellen sich in demselben Haupte kreuzen, daß endlich die unzähligen Lebenskreise der Menschen, welche ihr Jenseits tragen, sich schon diesseits kreuzen, ohne sich zu stören, zu irren und zu verwirren. Vielmehr kommt nur dadurch ein höheres Leben und Weben der Wellen, der Erinnerungen, der diesseitig und endlich der jenseitig Lebenden zustande.67 Bewusstsein ist für Fechner ein feinstofflicher Wellenvorgang, dessen physikalische Natur im Büchlein nur durch bildhafte Vergleiche umschrieben wird: Welch unsagbar verwickeltes Spiel von Wellen hoher Ordnung, die in dem Spiele unserer Häupter den Ursprung haben, mag über dem groben niederen Spiel, was unserem Auge und Ohr draußen vernehmlich ist, sich verbreiten, vergleichbar feinsten Kräuselungen über den großen Wellen eines Teiches oder Zeichnungen ohne Dicke über der Fläche eines dickmaschigen Teppichs, der von ihnen die ganze Schönheit und höhere Bedeutung hat. Der Physiker aber erkennt und verfolgt nur das Spiel der Wellen niederer Ordnung draußen und kümmert sich nicht um das feinere, was er nicht erkennt.68 66 Serres: Interferenz, S. 84. 67 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 54. 68 Ebd. S. 42.

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Eine wissenschaftliche Erläuterung versucht Fechner nicht. Eben deshalb sollte man Fechners Bildern und rhetorischen Figuren, nicht seinen Begriffen oder Argumenten trauen. Wie immer das fluide Medium – Äthergott oder göttlicher Äther, gleichviel, 1835 gab es noch einige Wahlmöglichkeiten – physikalisch beschaffen sein mag, es wird als durchzogen von Wellen gedacht: nur das ist entscheidend. Mal werden sie „Kräfte“, mal „Wirkungen“ genannt: das spielt keine Rolle. Wichtiger ist, dass sie interferieren. Nur das zählt. Man wird sich dieses Wellengeschehen reichlich komplex – „unsagbar verwickelt“ – vorstellen müssen: nicht nur jeder Gedanke, jede Handlung, jeder kreative Akt – „geschaffen, gehandelt, gedacht“69 – ist eine Welle (bzw. wird als Welle transportiert), sondern alle von einer Stelle ausgehenden und sich an einer Stelle treffenden Wellen bilden miteinander ein Interferenzmuster, das eben eine Individualität, einen individuellen ‚Geist‘ ausmacht. Diese interferierenden Wellenmuster überlagern einander nun wiederum: Fechner kann nicht umhin, sich ein zunehmendes Zusammenwachsen vorzustellen (das Problem der antagonistischen Wellen, des Bösen, ist wohl im Wellenbild nur mühsam einholbar): „auf der dritten [Stufe, AKS] verflicht sich sein Leben mit dem von anderen Geistern zu einem höheren Leben in dem höchsten Geiste“70. Um dieses Zusammenwachsen jedoch noch irgendwie imaginierbar zu machen, nimmt er – wie schon bei der Einheit des individuellen Bewusstseins – seine Zuflucht zu körperschaftlicher Metaphorik: das klassische Leib-Christi-Bild (einschließlich Korintherbriefzitat71) wandelt die wild flottierenden, sich endlos weiter kreuzenden und überlagernden Interferenzmuster – „den Wellenschlag aller von allen Seiten zu empfangen“72 – in klar umgrenzte Organe eines einzigen jenseitigen Leibes. Dieser Leib jedoch hat keine andere Gestalt, keinen anderen Daseinsgrund, keine andere Substanz als eben die Interferenzmuster der Organe, aus denen er besteht: genau das hatte ja Fechners Farbkreisdiagramm gezeigt. Und genau in dieser Idee einer sich völlig selbst tragenden, kein äußeres Trägermedium bedürfenden Organisation – heute würden wir sagen: eines Systems – liegt die Zukunftsträchtigkeit der, wenn man so sagen darf, Medien- oder Massenkommunikationstheorie Fechners. Und genau gegen diese Auffassung einer rein immanenten73 Ordnung rebelliert die Geisterontologie Fechners immer wieder: „denn nur auf Grund des göttlichen Lebens vermag die Kreatur überhaupt zu leben.“74 Fechner will ja gerade eine transzen69 Ebd. S. 14. 70 Ebd. S. 9. 71 Ebd. S. 16/17. 72 Ebd. S. 50. 73 Siehe dazu auch den Beitrag von Stefan Kramer in diesem Band. 74 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 56. Besonders das zehnte Kapitel des Büchleins beschäftigt sich mit den Topoi des Glaubens an Totengeister sowie paranormalen Fähigkeiten – Hellsicht z.B.

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dente Ordnung erklären, verstrickt sich in unauflösbare Widersprüche und landet doch immer wieder bei immanenten Bildern oder Modellen. Eines der wichtigsten dieser Modelle stellt die Erinnerung dar. Fechner geht davon aus, dass Erinnerung den Ruf eines Geistes darstellt. Der Agent des Gedächtnisses ist damit nicht der Erinnernde, sondern der Erinnerte. „Ist doch unser Andenken an die Verstorbenen nur eine in uns bewußt gewordene, sich auf sie zurückwendende Folge ihres diesseitigen bewußten Lebens [...]“75 Im Jargon der Kybernetik würde man von einer To-Whom-It-May-Concern-Message sprechen. Wie Wiener in seiner Kybernetik schreibt, geht es um eine Nachricht, die aus einem Kombinationseffekt entsteht: aus einer Botschaft, die im Grunde pausenlos (vor allem in Form von Hormonen) zirkuliert, also der eigentlichen ‚To whom it may concern message‘ und einer momentanen (ebenso flüssigen) Zustandsänderung ‚vor Ort‘, die erst (durch Überschreiten ihres Schwellenwerts) zum Auslöser der Funktion der ‚To whom it may concern message‘ wird. [...] In einer etwas anderen Terminologie könnte man sagen: die momentane Zustandsänderung vor Ort in Kombination mit der pausenlos zirkulierenden ‚Für wen auch immer‘-Nachricht löst eine ‚Rückverschlüsselung‘ aus, und nur in dieser Rückverschlüsselung wird die Nachricht überhaupt empfangen und zugleich zum ersten Mal verschickt, denn ansonsten zirkuliert sie ohne einen solchen Empfang, bleibt im Zustand eines potentiellen, aber noch nicht geschehenen Empfangs. Der Empfang ist die Sendung.76 Genau diese Umkehrung von Sendung und Empfang, die Erhard Schüttpelz in seiner Wiener-Lektüre hervorhebt, zeichnet eben Fechners Erinnerungsmodell aus: nicht wir erinnern uns an etwas oder jemanden, sondern es erinnert sich (in uns). Das von Fechner stets herausgestellte Gesetz der Erhaltung der Kraft, demzufolge Schwingungen nie wirklich verlöschen könnten, darf getrost informationstheoretisch umformuliert und so die To Whom It May Concern-Message vom Sonder- zum Normalfall der Nachricht erklärt werden: Jede Erinnerung ist bereits der Empfang einer Nachricht, die nur darauf wartet, einen offenen Briefkasten zu erreichen. Mehr noch: Fechners Modell kennt ja keine originellen Nachrichten, nur Differenz und Wiederholung im Modus steter Interferenz: Sowie der Mensch in das Leben getreten ist, spüren es die fremden Geister und drängen sich von allen Seiten heran und suchen seine Kraft zu der ihrigen zu machen, und durch sie ein Moment ihrer selbst zu 75 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 32. 76 Schüttpelz: „To Whom It May Concern Messages“, S. 29/30 [Seitenangabe nach dem Manuskript des Aufsatzes].

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verstärken, aber indem ihnen dies gelingt, wird zugleich dieser Moment Eigentum des Menschengeistes selbst, wird ihm eingebildet und trägt zu seiner Entwicklung bei.77 Zwar ist für Fechner das Individuum kein völlig leerer, unbesetzter Raum: es ist ein Attraktions- und Repulsionszentrum – „mit dem Quell selbsttätiger Kraft im Mittelpunkte seines Wesens steht er zwischen den entgegenstrebenden Kräften inne, die ihn an sich ziehen wollen, und streitet mit für welchen Teil er will“78 –, aber auch diese Kraft, der „Mittelpunkt seines Wesens“, wurde ja auf Stufe eins, während der vorgeburtlichen Embryonalphase, ausgebildet aus der „Organisation der Mutter“, wenn auch nur als auf der zweiten Lebensstufen zu entwickelnde Anlage. Auch wenn Fechner an keiner Stelle seines Textes die Eigenständigkeit des Ichs explizit bezweifelt, sie sogar als Kraft betont, liegt es in der Logik seiner Argumentation, diese Kraft als abgeleitete zu deuten. Ich erinnere an das Farbkreisdiagramm: seine Konstruktion gab vor, wie sich die sechs Kreise um den zentralen (unsichtbaren) Kreis anzuordnen haben, die Gestalt der zentralen Sternfigur jedoch ergibt sich aus den Überlagerungen der Farbkreise, auch wenn man ihre Eigenständigkeit als Gestalt betont. Die Probe auf ’s Exempel gibt Fechners Text selbst. Fechner publiziert seinen Text unter dem Pseudonym ‚Dr. Mises‘ und ordnet den Text somit einer Gruppe anderer Texte, die er unter diesem Namen veröffentlicht hat, zu. MisesTexte unterscheiden sich in Ton, Anspruch und Zielgruppe von Fechner-Texten: gerade diese Zuordnung bringt ja die Schwierigkeit mit sich, das Büchlein als ernst gemeinten Text, nicht etwa wie andere Mises-Texte auch als Satire zu lesen. Sicher ist, dass ‚Dr. Mises‘ in deutlicherer Weise ein bloßes Label ist, als es der tatsächliche Name des Autors je sein könnte. Der Text hebt an, wie schon ausführlich besprochen, mit einem Schiller-Zitat. Das Zitat, dem Vorwortcharakter zukommt, nimmt die zentralen Thesen Fechners vorweg: Fremde Existenzen greifen in andere ein durch Ausdehnung ihrer Wurzeln. Diese Botschaft sandte Schiller an Goethe. Fechner betont den Botschaftscharakter des Zitats durch Nennung von Sender, Empfänger und Verschickungsdatum. Eine fremde Nachricht, die Fechner durch dauernde Paraphrase und paraphrasierende Ausdeutung nicht nur interpretiert, sondern zum zentralen Bestandteil seines eigenen Textes werden lässt. Gleich im ersten Kapitel greift Fechner die florale Metapher auf, indem er dreimal vom „Keim“79 spricht, aus dem sich etwas entwickelt. Am Ende des Kapitels – nach kaum zwei Seiten – hat sich dieser Keim zu einer gut verzweigten Pflanze, einem Rhizom, würde Deleuze sagen, ausgewachsen: „er wird

77 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 24. 78 Ebd. S. 25. 79 Ebd. S. 9.

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Berg und Gras durchdringen“80. Ebenso rhizomatisch wird Schillers Satz Fechners Text durchwachsen – in seiner Verwendung als Epigraph des Büchleins ist er zutiefst selbstreflexiv. Fechners Anordnung sorgt dafür, dass Schillers Text zu einer tragenden Stütze seines eigenen wird. Im zweiten Kapitel zitiert Fechner den Epigraph indirekt: „den Teil, mit dem sie in uns hineingewachsen sind“81. Auf derselben Seite wuchert der schillersche Text weiter: „in andere hinein verbreitet“, heißt es dort, und „wächst jeder Mensch mit seinen Wirkungen in andere hinein“. Am Fuß der von mir benutzten Ausgabe wechselt Fechner vom Wurzelwerk in die Baumkrone und variiert das schillersche Motiv: „starben diese Lebenszweige, die sie in die Mitwelt getrieben, nicht mit; bloß die Triebkraft neuer diesseitiger Zweige erlosch“. So gewendet kann die Metapher eine Seite später die Körperschaftsidee tragen – dem Baum müssen nur noch Früchte hinzugedichtet werden: „Äpfel eines Stammes“ werden christologisch und in einer heilsgeschichtlichen Miniatur vom Sündenfall zur Erlösung zu „Reben eines Weinstocks“. Das Korintherbriefzitat schließt sich an. Am Ende des Kapitels verbleibt Fechner im biblischen Register und knüpft an das seinen Text eröffnende Keim-Bild in Form des Gleichnisses vom „Senfkorn[s]“82 der Güte, die sich in jeder Menschenseele befände, an, um dieses dann „zum herrlichen Baume erwachsen“83 zu lassen: ein Hinweis darauf, dass keine Seele je verloren ist. Im dritten Kapitel muss sich Fechner dann gegen den Vorwurf bloßer Fremdbestimmtheit seines Seelenkonzeptes wehren: „Solange aber der menschliche Geist wach und gesund ist, ist der nicht das willenlose Spiel oder Produkt der Geister, die in ihn hineinwachsen oder aus denen er zusammengewachsen scheint [...]“84. Der schillersche Text denkt und handelt in den fechnerschen hinein, wächst mit ihm zusammen, so dass die Originalität der fechnerschen Gedanken bedroht scheint, ist er, Fechner oder besser Mises, doch „der unsichtbare [Pseudonym! AKS] urlebenskräftige Mittelpunkt voll geistiger Anziehungskraft“85. Das schreibende Ich tritt hier als Kompilator auf, dessen Tätigkeit jedoch durchaus Eigenes erzeugt: die Botschaft entsteht im Empfang. In langem Interlinearkommentar könnte man die Verästelungen des Schillerzitats, sein Hineinwachsen in den Text des Büchleins verfolgen und dokumentieren. Am Ende des Textes macht Fechner seine Schillerlektüre noch einmal als poetologisches Prinzip explizit und schafft es, sich vom Druck des großen Geistes zu emanzipieren: 80 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 11. 81 Ebd. S. 15, Hervorhebung AKS. 82 Ebd. S. 20. 83 Ebd. S. 20. 84 Ebd. S. 23, Hervorhebungen AKS. 85 Ebd. S. 23.

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Hier steht der Baum; manch einzeln Blatt davon mag fallen; doch sein Grund und sein Zusammenhang ist fest und gut. Er wird immer neue Zweige treiben, und immer neue Blätter werden fallen; er selbst wird nicht mehr fallen; wird Blüten der Schönheit treiben, und statt im Glauben zu wurzeln, Früchte des Glaubens tragen.86 Das Büchlein ist der Baum – „Ein Körnlein war’s, ein Baum ist d’raus geworden.“87 –, der nunmehr sich zu deutlich erkennbarer Gestalt ausgewachsen hat. Im letzten Satz ersetzt Fechner die Wurzelmetapher Schillers durch das Bild von den Früchten des Baums. Man könnte dieses abschließende Bild auch so deuten, dass das Wurzelgeflecht, das das Schiller-Zitat durch das Büchlein zieht, eben jenen Baum hervorgebracht hat, der das Büchlein ist. Das Verhältnis von unterirdischen Wurzeln zu überirdischem Baum mit Krone und Früchten ließe sich dergestalt als Variation auf die im Farbkreisdiagramm erläuterte Gestaltproblematik deuten. Und der Äther? Fechner verwendet den Begriff nur an sehr wenigen Stellen seines Textes, obwohl seine Argumentation sowohl dort, wo er Bewußtseinsaktivitäten als Wellenbewegungen in einem feinstofflichen Medium postuliert, als auch überall dort, wo er ‚Gott‘ eine das Ganze tragende mediale Position in seinem System zuweist, fest in die Ätherspekulationen des frühen 19. Jahrhunderts eingebunden ist. Als terminus technicus tritt der Äther bei Fechner ausschließlich als lichttragendes Medium auf; allerdings hängen diesem Licht alle metaphysischen Qualitäten an, die ein strahlend helles Jenseits benötigt. Wenn aber der Mensch sterben wird, so wird sich mit dem Verfaulen seines Leibes jener Knoten lösen, und der Geist, nicht mehr durch ihn gefesselt, wird sich nun mit völliger Freiheit durch die Natur ergießen. Er wird nicht mehr bloß die Licht- und Schallwellen empfinden, wie sie an sein Auge und Ohr schlagen, sondern wie sie im Äther- und Luftmeere selbst fortrollen, nicht mehr bloß das Anwehen des Windes und das Anwogen des Meeres gegen seinen darin gebadeten Leib fühlen, sondern in der Luft und dem Meere selbst rauschen; nicht mehr äußerlich im Waldes- und Wiesengrün wandeln, sondern Wald und Wiese mit den darin wandelnden Menschen fühlend durchdringen.88 Der jenseitige Mensch, der in Luft und Äther fortrollt und Wald, Wiese und alle Menschen fühlend durchdringt, ist nicht bloß Botschaft, Information bzw. Welle, Kraft und Wirkung, wie Fechner sagen würde, sondern selbst mit einem feinstofflichen Fluidalkörper versehen. Nur so lässt sich Fechners Massenkommunikationstheorie physikalisch begründen. Doch gerade diese Wendung, die Fech86 Ebd. S. 72. 87 Ebd. S. 7. 88 Ebd. S. 48/49.

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ners Text weit von uns weg in historische Ferne zu rücken scheint, erlaubt einen Schluss, den die scheinbar modernere Wellentheorie nicht erlaubte: Denken wir uns die Totengeister ganz physisch und stellen uns auch unsere Bewusstseinsaktivität – z.B. die Erinnerung – ganz materiell, als Emanation etwa, vor, tritt an die Stelle des allgemeinen, allumfassenden göttlichen Geistmediums die ganz konkrete Interaktion von Geistern. An die Stelle eines kontinuierlichen Trägermediums, das alles mit allem verbindet, tritt ein Netzwerk konkreter Handlungen. 89 Vielleicht war es ja diese Überlegung, die Fechner dazu bewegte, die paratextuelle Erscheinung seines Büchleins von der ersten zur zweiten Auflage zu verändern. Die zweite Auflage signiert er mit seinem eigenen Namen anstelle des Pseudonyms ‚Dr. Mises‘ und widmet sie den Töchtern eines Verstorbenen: Isidore und Elisabeth Grimmer, Töchter von Ch. F. Grimmer. Grimmer war der Verleger der ersten Auflage des Büchleins. Er verstarb 1850, sechzehn Jahre vor der zweiten Auflage des Textes, die nunmehr bei Leopold Voß, wie Grimmer in Leipzig, erscheint. Fechner weist in der zweiten Auflage Grimmer auch die eigentliche Initiative zur Entwicklung des zentralen Gedankens zu und schmälert die Leistung Gustav Billroths, der als Gesprächspartner im Nachwort zur ersten Auflage genannt wurde: „denn hauptsächlich auf Anlaß von Gesprächen mit ihm über eine von unserem gemeinschaftlichen Freunde Billroth flüchtig ausgesprochene und ebenso nur flüchtig festgehaltene, im Verfasser aber fest gewordene Idee“90. Auch die Bedeutung des Schiller-Epigraphen verändert sich in der zweiten Auflage: indem ihr ein eigenes Vorwort vorangestellt wird, bleibt dem Epigraph nur noch die Aufgabe eines Mottos. Dieses Vorwort erläutert die paratextuellen Veränderungen von der ersten zur zweiten Auflage. Besonders wichtig erscheint mir, dass Fechner darin betont, dass er das Büchlein nunmehr als Gespräch unter Totengeistern auffasst – zuvor war es eine Unterredung unter Lebenden im Austausch mit ebenfalls lebend befreundeten, wenn auch inzwischen verstorbenen Dichtern gewesen. Fechners Freund Grimmer ist tot, und Fechner selbst fasst sich als Wiedergeborenen auf, was in der Diktion seines Büchleins nur heißen kann, dass er eigentlich auch zu den Totengeistern zählt. Die zweite Auflage des Büchleins wird jedenfalls der zweiten Auflage des Lebens seines Verfassers gleichgesetzt: „Sie [die erste Auflage, AKS] hat still ihren Weg gemacht, wie die erste Auflage des Lebens des Verfassers, wovon das Büchlein selbst ein Stück war, indem es seine Aussicht auf die zweite wach hielt.“91 Fechner spielt hier auf seine dreijährige schwere Krankheit an, die er nur mit Mühe überlebte. So wäre 89 Bruno Latour verurteilt in diesem Sinne scharf die Verwendung des Adjektivs ‚sozial‘, das seiner Meinung nach in der Gesellschaftswissenschaft dieselbe Funktion hat wie sie der ‚Äther‘ in der Physik hatte. Vgl. dazu den Beitrag von Jens Schröter in diesem Band. 90 Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, S. 6. 91 Ebd. S. 6.

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Fechner vergönnt, was allen anderen erst nach dem physischen Tode möglich ist: die dritte Stufe des Daseins schon in der zweiten zu erleben. Sein Text spricht also nunmehr mit der Autorität eines Überlebenden, eines Sehers. Als solcher kann er mit eigenem Namen signieren. Einer Existenz auf der dritten Stufe ist jedoch nur ein anderer Totengeist gleichrangig: Grimmer tritt an die Stelle von Billroth und damit auch die tatsächliche Interaktion zweier Geister an die bloß vage Anregung oder Inspiration: „Ein Körnlein war’s, ein Baum ist d’raus geworden: er hat den Boden dafür lockern helfen.“92

Literatur Arendt, Hans-Jürgen: Gustav Theodor Fechner. Ein deutscher Naturwissenschaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. e.a. 1999. Dotzler, Bernhard: Papiermaschinen, Berlin 1996. Genette, Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (1987), Frankfurt a.M., New York 1992. Gustav-Theodor-Fechner-Gesellschaft: Fechners Leben – Fechners Werk – Fechnerehrung 2001, CD-ROM, Leipzig 2001. Fechner, Gustav Theodor: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode (18662), St. Goar 1995. Fechner, Gustav Theodor: Das unendliche Leben. Mit Zeichnungen von Leonardo da Vinci und einem Nachwort von Gert Mattenklott, Debatte 2, München 1984. Jullien, Francois: Die Kunst, Listen zu erstellen, Berlin 2004. Kassung, Christian: „Friede: siehe Krieg, siehe Physik?“, in: Thomas Kater/Albert Kümmel (Hrsg.), Der verweigerte Friede, Bremen 2002, S. 315-335. Kassung, Christian: EntropieGeschichten. Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ im Diskurs der modernen Physik, München 2001. König, Christoph/Lämmert, Eberhard (Hrsg.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a.M. 1999. Kuntze, Johannes: Gustav Theodor Fechner (Dr. Mises). Ein deutsches Gelehrtenleben, Leipzig 1892. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 1998. Lasswitz, Kurd: Gustav Theodor Fechner, Stuttgart 19103. 92 Ebd. S. 7.

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Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996. Oelze, Berthold: Gustav Theodor Fechner. Seele und Beseelung, Münster/New York 1989. Osis, Karlis: „The Little Book of Life After Death. - book reviews“, in: http:// findarticles.com/p/articles/mi_m2320/is_n1_v58/ai_16354576/print, 08.09.2007. Sawicki, Diethard: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn e.a. 2000. Schiller, Friedrich: [Brief an Johann Wolfgang Goethe vom 4. April 1797], in: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Stuttgart 18814, Brief Nr. 290. (online verfügbar unter: http://www.wissen-im-netz.info/literatur/goethe/ briefe/schiller/200/290.htm, 08.09.2007) Schüttpelz, Erhard: „To whom it may concern messages“, in: Claus Pias (Hrsg.): Cybernetics/Kybernetik. Die Macy-Konferenzen 1946-1953. Essays und Dokumente, Zürich/Berlin 2005, S. 183-198. Serres, Michel: Hermes II. Interferenz (1972), Berlin 1992. Wikipedia-Kollektiv (englisch): „Epigraph (literature)“, in: http://en.wikipedia. org/wiki/Epigraph_%28literature%29, 08.09.2007. Wundt, Wilhelm: Gustav Theodor Fechner. Rede zur Feier seines hundertjährigen Geburtstages, Leipzig 1901.

Abbildungen Fechner, Gustav Theodor: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode (18662), St. Goar 1995, S. 22.

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Der Mensch wird Maschine und in der Maschine regt sich pulsierendes Leben

Jens Schröter | Der Äther des Sozialen

Jens Schröter

Der Äther des Sozialen Anmerkungen zu Bruno Latours Einstein-Rezeption Metaphors borrowed […] from physics break down very fast […]. (Bruno Latour)1

1

Die unvermutete Wiederkehr des Äthers als Metapher

Im Jahre 2005 erscheint das Buch Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory des französischen Wissenschaftshistorikers Bruno Latour als eine Art Resümee seiner fast dreißigjährigen Forschung. In dieser hat Latour nicht nur intensive Feldforschung im Bereich der Naturwissenschaften betrieben, sondern daraus auch eine neue Theorie zu entwickeln gesucht – die ‚Actor-Network-Theory‘ (im Folgenden kurz ANT).2 Auffällig bei der Darstellung dieses Ansatzes in Reassembling the Social ist vor allem, dass sich Latour immer wieder auf den Äther beruft3 – ohne dass dieser im sonst so ausführlichen Index des Buches überhaupt erwähnt wird. Gerade dies legt nahe, dass der Äther eine Art implizite Strukturierungsleistung für Latours Diskurs leistet. Am Beginn des Buches stellt Latour seinem Ansatz, den er auch als ‚Soziologie der Assoziationen‘4 bezeichnet, die ‚Soziologie des Sozialen‘ – also alle traditionellen Soziologien5 – scharf gegenüber. Auf S. 12 taucht der Äther dann zum ersten Mal auf. Es sei gestattet diese signifikante Passage ausführlicher zu zitieren: 1

Latour: Reassembling the Social, S. 24.

2

Die Bezeichnung ANT hat Latour in seinem Aufsatz „Über den Rückruf der ANT“ verworfen, um sie in Reassembling the Social doch wieder einzuführen, vgl. Latour: Reassembling, S. 9, insb. FN 9.

3

Vgl. Latour: Reassembling, S. 12, 24, 40, 47, 87, 102, 104, 107, 122, 171 („ethereal“), 175 („ethereal“), 191, 240.

4

Vgl. Latour: Reassembling, S. 9. Vgl. auch Latour: Die Macht der Assoziation. Die ANT versteht sich zwar als Form von Soziologie, die aber keine ‚Theorie des Sozialen‘ sein will, vgl. Latour: „Über den Rückruf der ANT“, S. 568: „Die ANT ist genauso wenig eine Theorie des Sozialen, wie sie eine Theorie des Subjekts, eine Theorie Gottes oder eine Theorie der Natur ist.“

5

Mit der Ausnahme von Gabriel Tarde, vgl. Latour: Reassembling, S. 13/14. Zu Tarde siehe auch Balke: „Eine frühe Soziologie der Differenz: Gabriel Tarde“.

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A more extreme way of relating the two schools is to borrow a somewhat tricky parallel from the history of physics and to say that the sociology of the social remains ‚pre-relativist‘, while our sociology has to be fully ‚relativist‘. [...] Since relativity theory is a well-known example of a major shift in our mental apparatus triggered by very basic questions, it can be used as a nice parallel for the ways in which the sociology of associations reverses and generalizes the sociology of the social. In what follows I am not interested in refutation – proving that the other social theories are wrong – but in proposition. How far can one go by suspending the common sense hypothesis that the existence of a social realm offers a legitimate frame of reference for the social sciences? If physicists at the beginning of the previous century had been able to do away with the common sense solution of an absolutely rigid and indefinitely plastic ether, can sociologists discover new traveling possibilities by abandoning the notion of a social substance as a ‚superfluous hypothesis‘? Hier findet sich ein erster Hinweis, welche Funktion der Äther bei Latour innehat: Er soll für das ‚Soziale‘ stehen. Die Physik vor Einstein nahm den Äther als Medium der elektromagnetischen Strahlung an, welches mit der speziellen Relativitätstheorie überflüssig wurde: „Die elektromagnetischen Felder erscheinen als letzte, nicht weiter zurückführbare Realitäten, und es erscheint zunächst überflüssig, ein homogenes, intropes Äthermedium zu postulieren, als dessen Zustände jene Felder aufzufassen wären.“6 Latour führt über das Bild des Äthers also ein Medium ein, das die Welt komplett durchdringt und auf das sich alle intra-sozialen Phänomene irgendwie beziehen müssen: nämlich das ‚Soziale‘ oder ‚die Gesellschaft‘.7 Und damit soll in der ANT, der ‚Soziologie der Assoziationen‘ Schluss gemacht werden. Einsteins Verzicht auf den Äther in der Relativitätstheorie wird zum Vorbild für Latours Theorie. Hundert Jahre nach dem Einstein ihn – zunächst – totgesagt hat, wird der Äther, diesmal als ‚Äther-des-Sozialen‘, erneut verbannt. 6

Einstein: Äther und Relativitätstheorie, S. 10. Dieser Satz ist aus jenem Vortrag von 1920, in dem Einstein doch noch einmal positiv zum Konzept eines mit dem Raum (nahezu?) identischen Äthers zurückkehrt (daher das ‚zunächst‘ im Zitat.), vgl. dazu den Beitrag von Christian Kassung und Marius Hug in diesem Band. Zu den verschiedenen und komplexen Theorien des Äthers gibt es reichlich Literatur, vgl. die Darstellung in Born: Die Relativitätstheorie Einsteins, S. 63-193 und die Materialien in Whittaker: Theories of Ether. Zum langsamen Verschwinden der Äther-Hypothese nach 1905 vgl. auch Hirosige: „Theory of Relativity and the Ether“.

7

Latour (Reassembling, S. 87) spricht explizit (und abwertend) vom „ether of society“. Vgl. S. 5 und passim, insb. S. 88 wo er den traditionellen Soziologien vorwirft das Soziale als einen „kind of stuff“ verstanden zu haben. Diese Abneigung gegenüber dem Begriff der ‚Gesellschaft‘ teilt Latour mit Mann: Geschichte der Macht, insb. S. 15.

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Im Folgenden möchte ich die Herkunft und Funktion dieser unwahrscheinlichen und eigentümlichen Metaphorik in Latours ANT nachzeichnen. Dabei wird sich erweisen, dass die Berufung auf die Verabschiedung des Äthers nicht allein die Aufgabe besitzt, den eigenen Diskurs als ‚kopernikanische Revolution‘ gegenüber der „pre-Copernican sociology“8 erscheinen zu lassen – so wie Einsteins spezielle Relativitätstheorie heute zumeist als ‚Revolution‘ gegenüber der Mechanik Newtons tituliert wird. Vielmehr zeigt sich, wie Latours Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften ganz neue epistemologische und – wenn man so will – medientheoretische Fragestellungen ermöglicht.

2

Der Äther und das ‚Soziale‘ als absolute Bezugssysteme

Es handelt sich um eine äußerst heikle Problematik, denn der Ursprung von Latours Bezugnahme auf Einstein (und dessen Absage an den Äther) findet sich in einem längeren Aufsatz von 1988, den ein Kommentator als einen der „strangest and most notorious texts on the battlefield“9 der ‚Science Wars‘10 bezeichnet hat: „A Relativistic Account of Einstein’s Relativity“. Latour setzt sich darin mit einer von Einstein verfassten Darstellung der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie von 1920 auseinander.11 Latours Aufsatz wurde zur Zielscheibe der harschesten Kritik, insbesondere in dem bekannt gewordenen Buch Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen von Alan Sokal (einem Physiker aus New York) und Jean-Louis Bricmont. Darin heißt es, der Aufsatz illustriere, „vor welchen Problemen ein Soziologe steht, der den Inhalt einer naturwissenschaftlichen Theorie analysieren will, die er nicht besonders gut verstanden hat“.12 Latour beginnt seinen Text nämlich mit dem, ohne Zweifel gefährlichen, Anspruch: „[I]n what ways can we, by reformulating the concept of society, see Einstein’s work as explicitly social?“13 Für viele Naturwissenschaftler lauert in dieser Formulierung bereits das Problem: Verstünde man nämlich durch die Physik 8

Latour: Reassembling, S. 238. Vgl. auch S. 239, wo Latour bemerkt, dass das „simile of the Copernican revolution is but a meek understatement“.

9

Mermin: „What’s Wrong“, S. 11.

10 Die ,Science Wars‘ waren eine in den 1990ern ausgebrochene und nach der SokalAffäre 1996 eskalierte Debatte um den Erkenntnisstatus der Naturwissenschaften zwischen Naturwissenschaftlern und so genannten ‚postmodernen‘ Kulturwissenschaftlern. Einen Überblick inklusive aller Schlüsseltexte liefert http://www.math. tohoku.ac.jp/~kuroki/Sokal/, 14.11.06 11 Vgl. Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Latour bezieht sich natürlich auf die englische Übersetzung dieses Bändchens. 12 Vgl. Sokal/Bricmont: Eleganter Unsinn, S. 145. Eine ähnlich scharfe Kritik findet sich bei Huth: „Latour’s Relativity“. 13 Vgl. Latour: „A Relativistic Account“, S. 5.

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entdeckte Naturgesetze (wie z.B. die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum) als soziale Phänomene, so wären unter anderen sozialen Bedingungen die Naturgesetze anders. In einem sozialistischen Matriarchat hätte dann die Lichtgeschwindigkeit einen anderen Wert als in einem kapitalistischen Patriarchat. Mir erscheint eine solche Behauptung ebenfalls als absurd – wobei ich allerdings keineswegs sicher bin, ob Latour dies überhaupt annehmen würde (s.u.), denn immerhin betont er, dass man Einsteins Werk nur als sozial betrachten könne, wenn man dabei auch das Konzept von ‚Gesellschaft‘ veränderte. Dieser Strang seiner Argumentation sei zunächst aufgegriffen: „[H]ow can we learn from Einstein how to study society?“14 Diese Frage dominiert bereits eindeutig das Abstract auf der ersten Seite und führt schon dort zu der These: „A comparison is established between the notion of social context and that of the aether, and an argument is developed to lead us beyond ‚social‘ explanations.“15 Dieser Art von Frage widmen die Kritiker von Latour aber kaum16 Aufmerksamkeit: Der Kürze halber gehen wir nicht auf die soziologischen Schlussfolgerungen ein, die Latour aus seiner Beschäftigung mit der Relativitätstheorie zieht, sondern beschränken und darauf aufzuzeigen, daß seine Argumentation durch einige grundlegende Missverständnisse in bezug auf diese Theorie selbst entwertet wird.17 Wird also die soziologische Argumentation durch Latours mangelndes Verständnis der Relativitätstheorie entkräftet? Jedoch gehen Kritiker wie Sokal und Bricmont oder John Huth an keiner Stelle auf Latours Bezugnahme auf den Begriff des Äthers ein. Ihre Argumentation beweist also zumindest nicht, dass Latours Verwendung des Begriffs des Äthers durch eine falsche Benutzung desselben diskreditiert sei.

14 Latour: „A Relativistic Account“, S. 5 und vgl. S. 26. 15 Vgl. Latour: „A Relativistic Account“, S. 3. In diesem Aufsatz benutzt Latour die Schreibweise ‚aether‘, während er in Reassembling the Social ‚ether‘ schreibt. 16 Zu Anfang ihres Buches stellen Sokal/Bricmont: Eleganter Unsinn, S. 27 aber durchaus die Frage, ob es Sinn macht, naturwissenschaftliche Metaphern für kultur- oder geisteswissenschaftliche Gegenstände zu verwenden. Ob Latours Nutzung der Äther-Metapher Sinn macht, mag man am Ende des vorliegenden Aufsatzes beurteilen. 17 Sokal/Bricmont: Eleganter Unsinn, S. 145. Vgl. im selben Sinne Huth: „Latour’s Relativity“, S. 181: „I am not qualified to say whether the theory of relativity can provide inspiration to the social sciences.“

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Latours Text scheint eine Art rekursive Struktur zu entfalten: Erst lernt der Soziologe vom Physiker, wie man Gesellschaft anders denken kann18, um dann Einsteins Relativitätstheorie auf eine spezifische Art als gesellschaftlich bzw. sozial verstehen zu können. Am Ende des Textes bemerkt Latour: „To be sure, we learned a lot from Einstein for clarifying our own definition of society […].“19 Das was der ANT-Theoretiker am meisten von dem Physiker gelernt zu haben scheint, ist der Vergleich des Konzepts des ‚sozialen Kontextes‘ mit dem Äther: In other words, ‚social context‘ in current social studies of science plays the same sort of role as ‚aether‘ for turn-of-the-century physics. This vast social structure that would somehow surround networks and seems necessary to provide a firm foundation to sociologists’ explanations is no more provable and no more necessary than this subtle and indefinitely elastic milieu that physicists firmly defended for over a generation to establish the firm foundation of their explanations. Sociologists always want to add the social context, and they think that in a case study something is amiss if there is no larger-scale entity to explain the whole thing. […] We can gather that this ‚aether‘ is entirely unnecessary for sociologists […].20 Als Medium der elektromagnetischen Strahlungen stellte der Äther (zumindest seit Lorentz) die „Verkörperung eines absolut ruhendes Raumes“21 dar. Gerade dieses absolute Bezugssystem erwies die spezielle Relativitätstheorie als unnötig: „Die Einführung eines ‚Lichtäthers‘ wird sich insofern als überflüssig erweisen, als nach der zu entwickelnden Auffassung [kein] mit besonderen Eigenschaften ausgestatteter ‚absolut ruhender Raum‘ eingeführt“22 werden muss. In analoger Weise will Latour das ‚Soziale‘ oder den ‚sozialen Kontext‘ als absolut fixen Rahmen, innerhalb dessen alle sozialen Ereignisse stattfinden, zugunsten von ‚networks‘ verabschieden. Was heißt das?

18 Latour betont immer wieder, dass seine ‚Soziologie der Assoziationen‘ aus der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften hervorgegangen ist, vgl. Latour: Reassembling, S. 88. 19 Latour: „A Relativistic Account“, S. 35. Sokal/Bricmont (Eleganter Unsinn, S. 152) unterschlagen diesen Satz und werfen Latour – indem sie nur die zweite Satzhälfte zitieren, die, zugegeben merkwürdigerweise, fragt, ob Latour seinerseits Einstein etwas beigebracht habe – Unbescheidenheit vor. Ich werde im Verlaufe dieses Textes noch mehrfach auf diesen unbescheidenen Vorwurf zurückkommen. 20 Latour: „A Relativistic Account“, S. 30. 21 Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, S. 118. 22 Einstein: „Elektrodynamik“, S. 892. Vgl. Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, S. 16 und S. 44/45.

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Latour kritisiert an den Standarderklärungen der Soziologie, dass es zu selbstverständlich geworden sei, irgendwelche Phänomene durch einen vagen ‚sozialen Kontext‘, durch diffuse ‚soziale Faktoren‘ oder eine ominöse ‚Gesellschaft‘ zu ‚erklären‘.23 Gegenüber solchen ‚Erklärungen‘ präferiert Latour die minuziöse Beschreibung24 all jener Elemente, die zusammenkommen müssen, um ein konkretes Phänomen zu produzieren. Dies gelte ebenso für die Produktion eines ‚sozialen Kontextes‘. „The social has never explained anything; the social has to be explained instead.“25 Will ein traditioneller Soziologe ein Phänomen unter Rekurs auf den ‚sozialen Kontext‘ oder ‚soziale Faktoren‘ erklären, dann schreibt er oder sie in der Regel einen Text, in dem das Phänomen eben auf diese ‚sozialen Faktoren‘ bezogen wird. Latour wird hier ganz positivistisch26: Der ‚Kontext‘ ist zunächst nur eine weitere Inskription (in der Regel ein Text, es könnte aber auch ein Foto, ein Filmdokument etc. sein), der an die bislang vorliegenden Inskriptionen angeschlossen wird: „No matter how sociologists and historians love to put texts, ideas, and events in their context, this context is always made up of shifted characters inside another text. They can add one text to another, but not escape from it.“27 Ein Wissenschaftssoziologe, der z.B. ein Buch über Einstein schreiben will, um zu beweisen, dass diese oder jene ‚soziale Faktoren‘ auf Einsteins Konzeptionen eingewirkt hätten, behauptet, unter Berufung auf Dokumente (andere Texte, Fotos etc.), sich auf den ‚realen Einstein‘ zu beziehen, erzeugt aber eben zuerst einen ‚Einstein-im-Buch‘ (einen ‚shifted character inside another text‘28). Weitere Wissenschaftler könnten nun weitere Texte darüber schreiben, ob die vorliegenden Thesen richtig oder falsch sind. Sie würden mithin weitere Inskriptionen erzeugen, die wiederum jeweils einen Zugang zu einem so oder anders ‚realen‘ Einstein erzeugen würden – unter Berufung auf andere Dokumente. Dies bedeutet nicht, dass solche Biographen einfach einen beliebigen ‚Einstein‘ erfinden, sondern nur, dass es solcher Ketten von Texten bedarf, um sich dem ‚realen Einstein‘ – vielleicht unabschließbar – anzunähern. Wenn wir wissen wollten, ‚wer Einstein wirklich war‘, müssen wir uns durch solche Ketten aus Texten, Dokumenten etc. hin- und herbewegen. Dieses Beispiel29 bedeu23 Vgl. Latour: Reassembling, S. 3/4. 24 Vgl. Latour: Reassembling, S. 146, 147 und 150 zum Primat der Deskription über die Explanation. 25 Latour: Reassembling, S. 97. Vgl. Latour: „A Relativistic Account“, S. 26: „[W]e, sociologists do not know in advance what society is made of.“ 26 Vgl. Latour: Reassembling, S. 156: „As you said, I am, in the end, a naive realist, a positivist.“ 27 Latour: „A Relativistic Account“, S. 27. 28 Der erste Teil von Latours Aufsatz erläutert ausführlich die semiotischen Verfahren des ‚shifting-in‘ und des ‚shifting-out‘, vgl. Latour: „A Relativistic Account“, S. 5-9. 29 Vgl. Latour: „A Relativistic Account“, S. 29/30.

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tet mitnichten, für Latour gäbe es ‚kein außerhalb des Textes‘ (Derrida)30, sondern nur, dass Referenz – z.B. ‚der wirkliche, lebende Mann Einstein‘ – ein Prozess ist, bei dem (im hier gewählten Beispiel) Texte, die Handlungen von Forschern (die in Archiven herumsuchen), neue Texte etc. sich verketten. In anderen Fällen können aber auch Messgeräte, Umweltbedingungen etc. Teil solcher Ketten sein.31 „For ANT there is a continuity, a multiplicity of plugs between the circulating objects in the text, the claims outside the text in the ‚social‘, and what actants themselves really do in ‚nature‘.“32 Einsteins Überlegung, die Zeit- und Längenmessungen in relativ zueinander bewegten Bezugssystemen anstelle einer absoluten Zeit und eines absoluten Raumes zu setzen33, scheinen Latour dazu inspiriert zu haben, an die Stelle des einen ‚sozialen Kontextes‘, der einen ‚sozialen Struktur‘, der einen ‚Gesellschaft‘, des einen ‚Systems‘ vielmehr solche Ketten aus heterogenen Elementen zu setzen: „[T]here are three things we cannot escape from: discourses, inscription devices and networks.“34 ‚Netzwerke‘ ist der bekannt gewordene Ausdruck Latours für solche Ketten: „ANT claims that modern societies cannot be described without recognizing them as having a fibrous, thread-like, wiry, stringy, ropy, capillary character that is never captured by the notions of levels, layers, territories, spheres, categories, structures, systems.“35 Und: „Every network surrounds itself with its own frame of reference […].“36 Jedes Netzwerk erzeugt seinen ‚frame of reference‘, so wie es bei Einstein nur verschiedene Bezugssysteme gibt.37 Der Vergleich mag schief sein: Sokal und Bricmont konzentrieren sich in ihrer Kri-

30 Latour („A Relativistic Account“, S. 29) setzt sich scharf von der Dekonstruktion ab. Derrida (Grammatologie, S. 274) prägte 1967 das vielzitierte Aperçu: „Ein TextÄußeres gibt es nicht“ (im Original kursiv). 31 Dies ist, was Belliger/Krieger: „Einführung in die Akteur/Netzwerk-Theorie“, S. 24-30: „Zirkulierende Referenz: Das semiotische Modell“ nennen. 32 Latour: „On Actor-Network Theory“, S. 379. 33 Nach Einstein sind Raum und Zeit in Hinsicht auf die Bezugssysteme relativ. Was aber mitnichten heißt ‚alles sei relativ‘ – die Relativität von Raum und Zeit folgt vielmehr aus der beobachteten absoluten Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum bei gleichzeitiger Geltung des Relativitätsprinzip nach Galilei (die Formulierung von Naturgesetzen hängt nicht vom Bezugssystem ab), vgl. Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, § 5-8. Einstein selbst war lange Zeit mit dem Begriff ‚Relativitätstheorie‘ eher unglücklich und bevorzugte ‚Invarianztheorie‘. 34 Latour: „A Relativistic Account“, S. 30. ‚Discourses‘ kann man hier als menschliche Handlungsweisen; ‚inscription devices‘ als Texte bzw. andere ‚Aufschreibesysteme‘ und Networks schließlich als Verbindungen beider auffassen. 35 Latour: „On Actor-Network Theory“, S. 370. 36 Ebd. S. 376. 37 Vgl. Galison: „Minkowski’s Space-Time“, S. 113.

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tik gerade auf Latours Nutzung des Begriffs ‚Bezugssystem‘.38 Bei Latours ‚frames of reference‘ geht es – anders als in der Physik – eher um ‚Weisen der Welterzeugung‘ (Nelson Goodman).39 Dennoch wird deutlicher, wieso sich Latour hier auf Einstein bezieht: „Literally there is nothing but networks, there is nothing in between them, or, to use a metaphor from the history of physics, there is no aether in which networks should be immersed.“40

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Die Arbeit der Konstruktion 1: Der Äther wider den Sozialkonstruktivismus

Latour wird nicht müde, immer wieder den mühsamen Charakter der Herstellung solcher Netzwerke zu betonen. Das Soziale sei eben kein stabiler ‚Äther‘ – so wie z.B. ein hinter allen Phänomenen lauerndes ‚Kapital‘ oder eine alles wundersam ausbalancierende ‚unsichtbare Hand des Marktes‘41 –, sondern ein unaufhörlicher Prozess der Netzwerkbildung. Hörte dieser Prozess auf, drohten die Netzwerke – und damit die von ihnen hervorgebrachten Entitäten wie ‚das Soziale‘ – zu zerfallen.42 Zu Einstein bemerkt er: „Instead of frames of reference, we are presented with the practical work of setting up frames.“43 Den Soziologen fasziniert an dem Physiker, dass sich Einstein nicht mit vagen Allgemeinbegriffen abgeben möchte – „Zunächst lassen wir das dunkle Wort ‚Raum‘, unter dem wir uns bei ehrlichem Geständnis nicht das geringste [sic!] denken können, ganz beiseite.“44 Vielmehr beschreibt Einstein Verfahren45, durch die diesen Begriffen Sinn gegeben werden kann. Anhand eines Gedankenexperiments über den ‚gleichzeitigen‘ Einschlag zweier Blitze bemerkt er: 38 Sokal/Bricmont: Eleganter Unsinn, S. 146-148. 39 Latour: Reassembling, S. 24 bezieht sich explizit auf Goodman – unter erneutem, negativen Hinweis auf den „fixed frame of reference offered by ether“. 40 Latour: „On Actor-Network Theory“, S. 370. 41 Vgl. Latour: Reassembling, S. 47: „Inventing a hidden social drive, an unconscious, would be a sure way of reintroducing this ether of the social that we try to dispense with.“. 42 Vgl. Latour: Reassembling, S. 35 zu dieser performativen Definition des Sozialen. Anders als für andere Soziologien ist für die ANT Stabilität die wundersame Ausnahme, vgl. Law: „Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie“ und Latour: „Technik ist stabilisierte Gesellschaft“. 43 Latour: „A Relativistic Account“, S. 20. 44 Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, S. 12. Vgl. auch Latour: Reassembling, S. 184, wo er unter expliziter Bezugnahme auf „Einstein as a social theorist“ unterstreicht, dass die räumlichen Kategorien (Makro – Meso – Mikro) Effekte der Netzwerke sind. Daher kann Latour: „Über den Rückruf der ANT“, S. 568 die ANT als Theorie des Raumes bezeichnen. 45 Vgl. Galison: Einstein’s Uhren, S. 13.

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Der Begriff existiert für den Physiker erst dann, wenn die Möglichkeit gegeben ist, im konkreten Falle herauszufinden, ob der Begriff zutrifft oder nicht. Es bedarf einer solchen Definition der Gleichzeitigkeit, daß diese Definition die Methode an die Hand gibt, nach welcher im vorliegenden Falle aus Experimenten entschieden werden kann, ob beide Blitzschläge gleichzeitig erfolgt sind oder nicht. Solange diese Forderung nicht erfüllt ist, gebe ich mich als Physiker (allerdings auch als Nichtphysiker!) einer Täuschung hin, wenn ich glaube mit der Aussage der Gleichzeitigkeit einen Sinn verbinden zu können. (Bevor du mir dies mit Überzeugung zugegeben hast, lieber Leser, lies nicht weiter.)46 Erst durch den Einsatz von Uhren kann ein operationaler Begriff der Zeit erzeugt werden: Wir haben unter Zuhilfenahme gewisser (gedachter) physikalischer Erfahrungen festgelegt, was unter synchron laufenden, an verschiedenen Orten befindlichen, ruhenden Uhren zu verstehen ist und damit offenbar eine Definition von ‚gleichzeitig‘ und ‚Zeit‘ gewonnen. Die ‚Zeit‘ eines Ereignisses ist die mit dem Ereignis gleichzeitige Angabe einer am Ort des Ereignisses befindlichen, ruhenden Uhr, welche mit einer bestimmten, ruhenden Uhr, und zwar für alle Zeitbestimmungen mit der nämlichen Uhr, synchron läuft.47 In Latours Augen ersetzt Einstein den vagen Begriff ‚Zeit‘ durch ein Netzwerk aus Beobachtern und Uhren (vgl. Abb. 1). ‚Zeit‘ ist, was sich aus diesem Prozess des Ablesens und Vergleichens ergibt. Wieder scheint Latour die ANT in Analogie dazu zu denken. Vage Begriffe wie ‚Gesellschaft‘, ‚das Soziale‘, ‚sozialer Kontext‘ sind durch die präzise Beschreibung der prozessualen Aktant-Netzwerke zu ersetzen. „Einstein takes the instruments to be what generates space and time. […] Like any constructivist in sociology of science, Einstein’s first move in this text is to bring the abstractions back to the inscriptions and to the hard work of producing them.“48 46 Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, S. 21/22. Der letzte Satz in Klammern unterstreicht die Wichtigkeit, die dieses Argument für Einstein hat. 47 Einstein: „Elektrodynamik“, S. 894. 48 Latour: „A Relativistic Account“, S. 11. Vgl. Latour: Science in Action, S. 245. Vgl. Huth: „Latour’s Relativity“, S. 188-191, der Anstoß an Latours Formulierung ‚Einstein takes the instruments to be what generates space and time‘ nimmt. Doch Einstein („Elektrodynamik“, S. 894) schreibt ausdrücklich ‚Zeit‘ in Anführungszeichen – eine Feinheit, die Huth entgeht. Mit diesem Einstein betont Latour lediglich, dass Zeit als metaphysisches Absolutum keinen Sinn macht. Nur der ‚Zeit‘ als gemessene kann Wirklichkeit zugesprochen werden. Später hat Einstein diese, von Ernst Mach inspirierte, instrumentalistische Auffassung allerdings eingeschränkt. Es liest sich in die-

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Abbildung 1: Taylors und Wheelers Universaluhr. Galison kommentiert diese Abbildung wie folgt: „Die bei Diskussionen über das Relativitätsprinzip oft vergessenen maschinenartigen Verfahren der Koordination von Raum und Zeit werden in diesem Geflecht deutlich sichtbar.“

So kann man besser verstehen, was Latour damit meint, wenn er sagt „we can learn from the technical part of Einstein’s argument something about the way society is built“.49 Einstein benötigt Uhren – die „durchaus kein handgreifliches Instrument“50 sein müssen, wie z.B. seine Jahre später vorgeschlagene ‚Lichtuhr‘ –, um die ‚Zeit‘ zu bestimmen. Analog dazu benötigt Latour neben den menschlichen notwendig und gleichberechtigt die nicht-menschlichen, (oft) technischen Aktanten in den Ketten des Netzwerkes, damit das ‚Soziale‘ entstehen kann.51 „ANT has sem Licht übrigens wie ein Vorspiel zu den Science Wars, wenn 1927 Heidegger (Sein und Zeit, S. 420) gegen den ‚vulgären Zeitbegriff‘ wettert, bei dem „das Verhalten, in dem ‚man‘ sich ausdrücklich nach der Zeit richtet, im Uhrgebrauch“ liege (Kursivierung im Original). 49 Latour: „A Relativistic Account“, S. 20. 50 Galison: Einstein’s Uhren, S. 278. 51 Sokal/Bricmont (Eleganter Unsinn, S. 149/150) werfen Latour vor, sich zu sehr auf menschliche Beobachter zu kaprizieren, wohingegen die von „Einstein […] aus didaktischen Gründen eingeführten ‚Beobachter‘ jedoch nur fiktiv [sind]; sie lassen sich problemlos durch Geräte ersetzen, und es gibt absolut keine Notwendigkeit, sie zu ‚disziplinieren‘“. Natürlich weiß auch Latour dies – gerade er erkennt technologische Aktanten an. Sein Argument ist vielmehr: Menschliche Beobachter lassen sich durch Geräte ersetzen, aber verzichten kann man auf diese sorgfältig eingestellten und richtig funktionierenden (insofern sehr wohl ‚disziplinierten‘) Geräte-als-Beobachter, die ihre Messergebnisse wiederum menschlichen Beobachtern (z.B. Wissenschaftlern) zustellen sollen, freilich nicht, will man einen relativis-

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been developed by students of science and technology, and its claim is that it is utterly impossible to understand what holds society together without reinjecting in its fabric the facts manufactured by natural and social sciences and the artefacts designed by engineers.“52 Das zeigt aber, dass die Berufung auf Einstein mehr ist als bloß eine unbescheidene Zierde. Die Einbeziehung – und sei sie streng physikalisch noch so verdächtig – des exemplarischsten Naturwissenschaftlers des 20. Jahrhunderts53, vor allem anhand der Metapher des Äthers, dient auch dazu, die (nach Latour) irreduzible Untrennbarkeit von Naturwissenschaft, Technik und dem ‚Sozialen‘ in der Moderne54 zu betonen: „There exists no relation whatsoever between ‚the material‘ and ‚the social world‘, because it is this very distinction which is a complete artifact. [...] There is no empirical case where the existence of two coherent and homogeneous aggregates, for instance technology ‚and‘ society, could make any sense.“55 Die Verabschiedung des ‚Äther-des-Sozialen‘ ist also auch eine Strategie gegen den Sozialkonstruktivismus, gegen die Vorstellung, es gäbe ein ‚Soziales‘, das schlicht bedingender Faktor anderer Phänomene, z.B. der Naturwissenschaft, sei.

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Die Arbeit der Konstruktion 2: Nochmal ‚Science Wars‘

Vor diesem Hintergrund kann man nochmals zu der äußerst brisanten Frage zurückkommen, was eine ‚soziale‘ Analyse naturwissenschaftlicher Erkenntnis sein könnte. Wie bereits bemerkt, erscheint mir die Annahme, naturwissenschaftliche Erkenntnisse seien durch das ‚Soziale‘ irgendwie verursacht und könnten folglich unter anderen sozialen Bedingungen anders sein, als absurd. Ein besonders verärgerter Kommentator bemerkte zur ‚postmodernistischen Rhetorik‘ (neben anderen auch Latour erwähnend) völlig zu Recht: tischen Effekt wie z.B. die Zeitdilatation empirisch nachweisen. Ich komme nochmals darauf zurück. 52 Latour: „On Actor-Network Theory“, S. 370. 53 Laut der vielzitierten Wikipedia ist Einstein der „Inbegriff des Forschers und Genies“, http://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Einstein, 24.11.2006. 54 Vgl. dazu Schimank: „Die unmögliche Trennung“, S. 161-163. 55 Latour: Reassembling, S. 75/76. Dieses Problem gibt es übrigens auch in der Medientheorie: Winkler („Die prekäre Rolle der Technik“) diskutiert den problematischen Gegensatz zwischen technikzentrierten und soziozentrierten Medientheorien im deutschen Sprachraum und schlägt vor, die beiden Seiten in einem zyklischen Modell zu vermitteln. Er setzt dabei aber die Spaltung von ‚Technik‘ und ‚Gesellschaft‘ immer noch voraus. Aus Sicht der ANT müsste diese Spaltung jedoch aufgegeben werden, um zu untersuchen, aus welchen heterogenen Aktant-Netzwerken je und je erst solche Entitäten wie ‚die Gesellschaft‘, ‚die Technik‘ und damit auch ‚die Medien‘ hervorgehen. Vgl. Akrich/Latour: „Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie“.

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For example, consider the velocity of light: 299.792.458 meters per second. Scientists claim this is a ‚fact.‘ Is there really another truth about the reality of 299.792.458 meters per second being the velocity of light? In what sense is this a ‚happy delusion‘, or a fictive, subjective element in the contestable order of the world? In postmodernist writing, we find assertions that class, race, and gender all frame our understanding of the world. In her book, for example, Harding points out that ‚gender, race, and class interests shape laboratory life and the manufacture of scientific knowledge.‘ Just how such cultural factors affect truths in science is unclear. The numerical value cited for the velocity of light has been established by dead and living white male Europeans and Americans. Not one of the nine digits in that number would be changed if the velocity of light were approached from the perspective of American Indian, Asian, black, Hispanic, or Pacific Island geocultural groups; or from a feminist theory of knowledge.56 Ähnlich scheint es Latour zu sehen: What does it mean to offer a social and political explanation of Einstein’s definition of relativity? If, by political and social, we mean that the technical work of Einstein should be translated into another language in which words such as ‚groups‘, ‚classes‘, ‚interests‘, ‚cultures‘ are said to be what is really present beneath the words ‚trains‘, ‚embankment‘, ‚stars‘, ‚Gaussian coordinates‘, or ‚Minkowski four-dimensional space‘, a social explanation would be meaningless. Einstein’s work is not reducible to the work done, in other domains, by economists, historians, sociologists and ideologists.57 Ich kann nicht sehen, wie der zitierte Satz zu der – in den Science Wars oft vorgebrachten – Anschuldigung passt, Latour sei ‚Sozialkonstruktivist‘ oder Relativist. Ich verstehe diese Passage vielmehr so, dass auch Latour sich weigert, wissenschaftliche Erkenntnis als rückführbar auf – ‚übersetzbar in‘ – wandelbare ‚soziale Faktoren‘ anzusehen, die durch eine solche Übersetzung zu absoluten, gleichsam ‚ätherischen‘ Bezugssystemen würden. Außerdem glaubt Latour m.E. gerade von Einstein zu lernen, dass der ‚Äther des Sozialen‘ (‚Gruppen, Klassen, Interessen, Kulturen etc.‘) selbst Resultat der Aktant-Netzwerk-Prozesse ist. Was könnte dann der Punkt sein, auf den Latour hinauswill, wenn er Einsteins Theorie als ‚sozial‘ beschreibt? Einen Hinweis kann man aus einem Satz Latours entnehmen, nach dem „no distinction has to be made [...] between ‚abstract‘ thinking and ‚practical‘ 56 Klotz: „Postmodernist Rhetoric“, S. 9. Er bezieht sich auf Harding: Whose Science? Whose Knowledge? 57 Latour: „A Relativistic Account“, S. 20. Vgl. Latour: Science in Action, S. 246.

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activities“.58 Man könnte dies wie folgt interpretieren: Das Wissen z.B. um Naturgesetze wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum fällt nicht vom Himmel, wird nicht von der viel beschworenen ‚Natur‘ einfach von selbst offenbart. Vielmehr muss solches Wissen der ‚Natur‘ durch immer subtilere, institutionell wie technisch ständig komplexere Experimente abgerungen werden – das werden zweifelsohne auch und gerade die härtesten Naturwissenschaftler zugeben. Um es ganz knapp mit Popper zu sagen: Ohne Experiment ist keine physikalische Theorie prüfbar und alle passenden Ergebnisse bestätigen sie nur solange, bis ein zu ihren Vorhersagen unpassendes Experiment auftritt – welches die Theorie augenblicklich falsifiziert. Aber Experimentalsysteme (Rheinberger) wachsen nicht an Bäumen, sie müssen passend zur Fragestellung geschickt konstruiert werden. „When we say that a fact is constructed, we simply mean that we account for the solid objective reality by mobilizing various entities whose assemblage could fail.“59 In diesem Sinne sind Fakten – das Wort kommt von lat. facere machen – konstruiert. Eine Tatsache ist eben eine Tat-Sache.60 Das Labor stellt eine künstliche Situation bereit, in der Aussagen gezielt geprüft werden können. So gibt es Fälle wie die Schwerionenforschung, in denen Transurane, die in der Natur kaum oder gar nicht vorkommen, erzeugt werden, um Aufschlüsse z.B. über die Theorie der Atomkerne zu gewinnen. „Every scientist we studied was proud of this connection between the quality of its construction and the quality of its data.“61 Und mit dem Fortschreiten der Wissenschaft werden die Experimente immer komplexer und benötigen immer mehr Konstruktion, was immer mehr Geld und die Bereitschaft der entsprechenden Behörden erfordert, dies in Experimente zu investieren, die dem Gros der Öffentlichkeit völlig nutzlos erscheinen. Die Aktant-Netzwerke entscheiden nicht über das Was des naturwis58 Latour: „A Relativistic Account“, S. 21. 59 Latour: Reassembling, S. 91. Vgl. auch die skandalös ‚konstruktivistischen‘ Aussagen eines gewissen Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, S. 9: „Etwas ungenau können wir also sagen, daß wir unter der Wahrheit eines geometrischen Satzes in diesem Sinne sein Zutreffen bei einer Konstruktion mit Zirkel und Lineal verstehen.“ 60 Der Begriff Konstruktion hat in vielen Sprachen den schalen Beiklang des arbiträr Zusammengestellten, zumal wenn er noch zum Begriff der ‚sozialen Konstruktion‘ erweitert wird. Latour (Reassembling, S. 91) zieht daher eine scharfe Demarkationslinie zwischen dem von ihm bevorzugten ‚constructivism‘ gegenüber dem ‚social constructivism‘. Im Deutschen wird der Begriff ‚Konstruktivismus‘ aber wiederum durch die theoretische Tradition des ‚radikalen Konstruktivismus‘, mit dem Latour nichts gemein hat, bestimmt. Daher könnte man für Latours Ansatz – wenn es denn unbedingt einer Schublade bedarf – den Begriff ‚Konstruktionismus‘ oder – wie Degele/Simms – ‚Post-Konstruktivismus‘ vorschlagen. Eine andere Bezeichnung für seinen Ansatz, die ich gleich noch diskutieren werde, ist ‚realistischer Realismus‘. 61 Latour: Reassembling, S. 90.

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senschaftlichen Wissens, sondern über sein Dass.62 Latour sieht im Anschluss an Einsteins Betonung der Verfahren die Parallele zwischen ‚Natur‘ und ‚Gesellschaft‘, zwischen ‚Wissenschaft‘ und dem ‚Sozialen‘ also darin, dass beide die „Arbeit und Montage“63 in Aktant-Netzwerken erfordern, um erscheinen zu können. Der Soziologe bemerkt in einem etwas anderen Zusammenhang: „This is not to say that there is nothing like ‚macro‘ society or ‚outside‘ nature as ANT is often accused of, but that in order to obtain the effects of distance, proximity, hierarchies, connectedness, outsiderness and surfaces an enormous supplementary work has to be done.“64 Wie könnten die angesichts der unverschämten postmodernistischen Zumutungen entnervten Physiker die Richtigkeit dieser Aussage bezweifeln? Man muss nur die enormen Kosten, den enormen Aufwand für den Bau des neuen Large Hadron Colliders – diesem „huge array of costly scientific instruments“65 – am CERN in Genf betrachten. Dort sollen u.a. Hinweise auf die Existenz des Higgs-Bosons66 gesammelt werden, ohne welches das Standardmodell der Teilchenphysik67 nicht erklären kann, warum die verschiedenen Teilchen so verschiedene Massen haben. Die jeden Morgen auf der Waage im Badezimmer für jeden bekannte Tatsache, dass man eine Masse hat, erklärt sich nicht von selbst. Es ist eine enorme und schwierige Arbeit der Netzwerkbildung zwischen Menschen und Maschinen nötig68, um die Massen (vielleicht irgendwann) schlüssig zu erklären. Oder um noch mal Sokal/Bricmont zu zitieren: „Ein Bezugssystem lässt sich ohne Probleme aus Maschinen konstruieren (was bei den Experimenten in der Hochenergiephysik heute auch regelmäßig geschieht).“69 Da würde Latour so62 Zum Primat des ‚Dass‘ über das ‚Was‘ vgl. Latour: „Technik ist stabilisierte Gesellschaft“, S. 381: „Die einzige Essenz eines Projektes oder der Anspruch eines Wissens besteht in dessen gesamthafte[r] Existenz. Dieser (auf Dinge ausgeweitete!) Existentialismus füllt die Unterscheidung zwischen rhetorischen [...] und substantiellen Fragen mit einem präzisen Inhalt.“ Natürlich gibt es Fälle, in denen z.B. Gutachten im Dienste spezifischer, partikularer Interessen tendenziöses oder schlicht falsches Wissen bereitstellen, also das ‚Was‘ verzerren. Aber derartige ‚Manipulationen‘ sind hier nicht der springende Punkt. 63 Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 151, Kursivierung J.S. 64 Latour: „On Actor-Network Theory“, S. 372. 65 Latour: Reassembling, S. 89. Zur materialen Kultur der Teilchenphysik, vgl. Galison: Image and Logic. 66 Vgl. den grundlegenden Artikel von Peter Higgs: „Broken Symmetries and the Masses of Gauge Bosons“. 67 Zum Standardmodell vgl. Hagen: „Das atlantische Standardmodell“. 68 Vgl. Latour: Reassembling, S. 91: „Especially useful was the clear fashion in which ‚construction‘ focused on the scene in which humans and non-humans were fused together.“ 69 Sokal/Bricmont: Eleganter Unsinn, S. 147.

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fort zustimmen. Aber nicht mehr so ganz konform ginge er wohl mit dem nächsten Satz: „Tatsächlich muß ein ‚Bezugssystem‘ nicht einmal ‚konstruiert‘ werden: Es ist absolut sinnvoll, sich vorzustellen, daß sich das Bezugssystem eines in Bewegung befindlichen Protons bei einer energiereichen Kollision mit dem Proton mitbewegt“70. Denn dieser Satz steht in massiver Spannung zu einer ihm zugeordneten Fußnote: „In der Tat lässt sich Wichtiges über den inneren Aufbau von Protonen erfahren, wenn man den Zusammenstoß zweier Protonen im Hinblick auf das Bezugssystem des einen interpretiert.“71 Die Fußnote widerspricht der im Haupttext vorgenommenen Zurückweisung der Konstruktion: Um etwas über einen ‚Zusammenstoß zweier Protonen‘ zu erfahren, wäre doch sicher die aufwendige Konstruktion eines Beschleunigers und entsprechender Detektoren notwendig – zumindest, wenn man die ‚Vorstellungen‘ über kollidierende Protonen experimentell prüfen will. „Operations like thinking, abstracting, building pictures, are not above other practical operations like setting up instruments, arraying devices, laying rods, but are in between them.“72 Es wird deutlich: Latour ist weder ein ‚Relativist‘ oder ‚Sozialkonstruktivist‘73, der den Inhalt wissenschaftlicher Aussagen ‚sozial‘ oder ‚politisch‘ relativiert, noch ist er ein ‚positiver Realist‘, so wie manche gereizten Naturwissenschaftler, die suggerieren, sie hätten den direkten, unvermittelten Zugang zur Realität. Er ist vielmehr ein ‚realistischer Realist‘74, der hervorhebt, welche hochkomplexen realen Prozesse notwendig sind, um etwas über die Realität zu erfahren. Der Soziologe interessiert sich für das „striking phenomenon of artificiality and reality marching in step“.75 Wenn er seinen Text zu Einstein „A Relativistic Account“ 70 Ebd. S. 147. 71 Ebd. S. 147. 72 Latour: „A Relativistic Account“, S. 35. Vgl. Huth: „Latour’s Relativity“, S. 184 (auf den sich Sokal/Bricmont mit ihrem Protonen-Beispiel ohne Quellenangabe offenbar beziehen), der zunächst kritisch gegen Latour betont: „‚Observers‘ – either humans or other beings – are not a requirement für the theory“, um dann doch zu betonen, dass die experimentelle Prüfung der Theorie, ohne die sie als gültige Theorie gar nicht existieren würde, Beobachtung ist: „These consequences, predicted by Richard Feynman, have been observed in high-energy proton-proton collisions in many experiments“ (S. 186; Hervorhebung J.S.). 73 Schimank („Die unmögliche Trennung“, S. 158) bezeichnet Latour als Sozialkonstruktivisten. Übrigens ist jeder radikale ‚Sozialkonstruktivismus‘ auch radikal anthropozentrisch, weil er ja behaupten würde, die ‚Natur‘ sei irgendwie arbiträr vom Menschen gemacht – dies ist nicht nur unsinnig, sondern mit jeder Ökologie unverträglich. Dass Latour: Das Parlament der Dinge sich neuerdings auch einer (selbstverständlich ebenfalls umstrittenen) Art von Ökologie zuwendet, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass er nicht dem Sozialkonstruktivismus zugeschlagen werden kann. 74 Vgl. Stalder: „Realistic Realism“. Vgl. auch Degele/Simms: „Post-Konstruktivismus pur“. 75 Latour: Reassembling, S. 90.

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und nicht „A Relativist Account“ nennt, dann vor allem deswegen, weil er sich vom Relativismus absetzen will.76 Latours Position jenseits der sinn- und fruchtlosen Debatte zwischen ‚Relativisten‘ und ‚Realisten‘ kann noch erweitert werden zu der Frage, „what it is for a thing to emerge out of inexistence by adding to any existing entity its time dimension.“77 Man stelle sich nur vor, aufgrund religiöser Dogmen oder mangelnder ökonomischer Mittel oder Stockungen in der technischen Entwicklung wäre nach Ole Rømers Experimenten von ca. 1676, bei dem dieser einen Wert von ca. 214.000 km/s für die Lichtgeschwindigkeit ermittelt hatte, bis heute keine weitere Konstruktion immer subtilerer Experimente möglich gewesen – dann würde man heute eben 214.000 km/s als Geschwindigkeit des Lichts annehmen müssen. Auch das heißt selbstverständlich wieder nicht, dass die Lichtgeschwindigkeit je nach ‚sozialem Kontext‘ irgendwelche beliebigen Werte annehmen könnte – sondern nur, dass ‚die Natur‘, ebenso wie das ‚Soziale‘, nur durch historisch sich verändernde Aktant-Netzwerke aus Menschen und Nicht-Menschen darstellbar sind. Die notorische Frage nach der Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum bleibt virulent: So wird in einigen Formulierungen der – sich als Alternative zur Superstring-Theorie anbietenden – ‚Schleifenquantengravitation‘ postuliert, die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit könnte in sehr geringem Maße von der Energie des Lichtes abhängig sein. Erst wenn mit entsprechend aufwendig und genau (‚diszipliniert‘) konstruierten Apparaturen entsprechend aufwendige Tests an der Strahlung weit entfernter Gammastrahlen-Ausbrüche durchgeführt und deren Ergebnisse ausgewertet, diskutiert und publiziert werden, wird man sagen können, ob das bislang unbestreitbare Faktum der im Vakuum konstanten Lichtgeschwindigkeit, nicht leicht modifiziert, neu ‚konstruiert‘ werden muss oder nicht.78 Wieder hebt das Protestgeschrei an: Leugnet man so nicht, dass die ‚Natur‘ prinzipiell und eines schönen Tages vollständig erkennbar ist? Da kann die Gegenfrage nur 76 Latour („A Relativistic Account“, S. 14) betont explizit: „[R]elativity [...] is the exact opposite of relativism“. ‚Relativismus‘ wird von Sokal/Bricmont (Eleganter Unsinn, S. 69) so definiert: „Grob gesprochen, werden wir den Ausdruck Relativismus zur Bezeichnung jeder Theorie verwenden, die behauptet, die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage hänge von einer Person oder von einer gesellschaftlichen Gruppe ab.“ Ganz anders definiert Latour (Die Hoffnung der Pandora, S. 380) diesen Begriff: „Relativismus [...] meint nicht die Diskussion über die Inkommensurabilität von Gesichtspunkten [...], sondern nur den profanen Prozeß, mit dem durch die Vermittlung von Instrumenten Relationen zwischen Gesichtspunkten hergestellt werden.“ Um Miss-verständnisse zu vermeiden, könnte man den Begriff ‚Relativismus‘ vielleicht durch ‚Relationismus‘ ersetzen, vgl. Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 152. 77 Latour: Reassembling, S. 89. 78 Vgl. Scargle/Norris/Bonnell: „On the Problem of Detecting Quantum-Gravity Based Photon Dispersion in Gamma-Ray Bursts“.

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lauten: Wie kann jemals sichergestellt werden, dass ein erkanntes, tausendmal experimentell bestätigtes, vielleicht in Maschinen genutztes Naturgesetz nicht eines fernen Tages durch die Entdeckung bislang unbekannter Phänomene nur als Annäherung oder Spezialfall eines anderen, ‚richtigeren‘ Naturgesetzes erscheinen wird – so wie es Newtons Mechanik durch die Relativitätstheorie erging?79 Latour betont bescheiden unsere begrenzten Erkenntnisfähigkeiten, die wir im Lauf der Zeit durch Akkumulation von Wissen bzw. durch die Konstruktion immer komplexerer Aktant-Netzwerke (z.B. das CERN) auszuweiten suchen.

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Die Arbeit der Konstruktion 3: Der Enunziator, die Rechenzentren und das Mediale

An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf den Text Latours über Einstein zurückkommen und eine letzte Stelle diskutieren, die erheblichen Unmut bei den Kommentatoren auslöste. It is now clear that we no longer call ‚social‘ some translation that would replace the vocabulary of physicists by the vocabulary of sociologists, but rather one that forges a hybrid vocabulary, that makes the speed of light c, or the Lorentz transformation, part of the normal business of building a society, while it makes the rôle [sic!] of the enunciator and of centres of calculation part of the normal business of elaborating a scientific revolution in physics.80 Der erste Teil des Zitats sollte an dieser Stelle klar nachvollziehbar sein – es kann nicht darum gehen, physikalische durch soziale ‚Erklärungen‘ zu substituieren. Der zweite Teil ebenso: Die Geschwindigkeit des Lichts ist Teil des normalen Prozesses des Gesellschaft-Werdens, insofern z.B. die Signalgeschwindigkeit elektromagnetischer Signale in der Errichtung von Kommunikations-81 oder Ortungssy79 Und wie es Relativitätstheorie und Quantenmechanik eines Tages durch irgendeine Version der Superstring-Theorie oder M-Theorie oder Schleifenquantengravitation oder einer ganz anderen Theorie ergehen soll. Übrigens ist gerade die oftmals als potentiell endgültige Theorie aller Phänomene gehandelte Superstring-Theorie (in ihren diversen und vielleicht eines Tages in der M-Theorie aufgehenden Varianten) in letzter Zeit vermehrt in die Kritik geraten, gerade weil sie (bislang) keine AktantNetzwerke, sprich hier: Experimentalsysteme, zu mobilisieren vermag. 80 Latour: „A Relativistic Account“, S. 25/26. 81 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Begriff des ‚Netzwerks‘ in der ANT keineswegs mit dem technischer Netzwerke, wie z.B. dem Internet, gleichzusetzen ist (vgl. Latour: „On Actor-Network Theory“, S. 369). Ironischerweise gibt es seit Mitte der 1970er Jahre eine Netzwerktechnologie, die Ethernet heißt, vgl. Metcalfe/ Boggs: „Distributed Packet Switching for Local Computer Networks“.

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stemen82 alltäglich eine Rolle für Kommunikation und Verkehr spielt. Der dritte Teil des Satzes ist jedoch wieder höchst umstritten. Was hat es mit dem ‚enunciator‘ und mit den ‚centres of calculation‘ auf sich? Einstein beschreibt in dem, von Latour diskutierten, Text u.a. anhand von Gedankenexperimenten, wie in zwei relativ zueinander bewegten Bezugssystemen je andere Messergebnisse zu Zeit und Raum erzielt werden.

Abbildung 2: Einstein: Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie.

Beobachter auf dem Bahnsteig bei M nehmen die zwei Einschläge der Blitze bei A und B gleichzeitig wahr, wenn das Licht von A und B den Ort M zum selben Zeitpunkt erreicht. In einem Zug der mit der Geschwindigkeit v in Richtung von A nach B fährt, fahren die Beobachter bei M’ (gesetzt M’ befindet sich zum von Bahnsteig aus beobachteten Zeitpunkt der Blitzeinschläge auf der Höhe von M) aber B entgegen und von A weg, d.h. aufgrund der endlichen und konstanten Geschwindigkeit des Lichts c, nehmen sie das Ereignis bei B früher wahr als das bei A: „Ereignisse, welche in bezug auf den Bahndamm gleichzeitig sind, sind in bezug auf den Zug nicht gleichzeitig und umgekehrt (Relativität der Gleichzeitigkeit).“83 In seiner Auseinandersetzung damit schreibt Latour nun folgenden Satz: Einstein „consider[s] three actors: one in the train, one on the embankment and a third one, the author or one of its representants, who tries to superimpose the coded observations sent back by the two others“.84 Den Autor ‚Einstein‘ bezeichnet Latour öfters auch als den ‚enunciator‘ des Textes.85 Sokal und Bricmont kommentieren: [Latour] betont die angebliche Rolle des enunciator in der Relativitätstheorie. Dieser Gedanke entspringt jedoch einer grundlegenden Verwechslung zwischen Einsteins Lehrmethode und der Relativitätstheorie selbst. Einstein beschreibt, wie die Raum-Zeit-Koordinaten eines Ereignisses mit Hilfe der Lorentz-Transformationen von einem 82 Wie z.B. GPS, bei dem sowohl die speziell-relativistischen (geschwindigkeitsabhängigen) als auch allgemein-relativistischen (vom Gravitationsfeld der Erde abhängigen) Effekte der Zeitdilatation (vgl. Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, S. 31-33 und 63-66) tatsächlich berücksichtigt werden. Der gravitative Effekt überwiegt bei der üblichen Bahnhöhe der Satelliten die geschwindigkeitsbedingten Effekte um ca. das Sechsfache. 83 Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, S. 25. ‚bezug‘ im Original klein. 84 Latour: „A Relativistic Account“, S. 11. 85 Ebd. S. 6.

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beliebigen Bezugssystem zu einem anderen umgeformt werden können. Weder spielt ein Bezugssystem eine herausgehobene Rolle, noch existiert der Autor (Einstein) überhaupt innerhalb der physikalischen Situation, die er beschreibt – und schon gar nicht stellt er ein ‚Bezugssystem‘ dar. In gewissen Sinne ist Latours soziologische Befangenheit dafür verantwortlich, daß er eine der zentralen Aussagen der Relativitätstheorie missverstanden hat, nämlich daß kein Inertialsystem gegenüber einem anderen ausgezeichnet ist.86 In der Tat verstünde Latour, wenn der ‚enunciator‘ ein privilegiertes Bezugssystem ‚innerhalb der physikalischen Situation‘ wäre, die Pointe der Relativitätstheorie nicht. Ich bin mir an dieser Stelle nicht ganz sicher, ob die allzu starke Betonung des ‚enunciators‘ bzw. des ‚dritten Bezugssystems‘ – „Most of the difficulties related to the ancient history of the inertia principle are related to the existence of two frames only; the solution is always to add a third frame that collects the information sent by the two others“87 – nicht tatsächlich einfach falsch ist. Allerdings schreibt Latour, der ‚enunciator and centres of calculation‘ seien ‚part of the normal business of elaborating a scientific revolution in physics‘. Es geht also um den ‚normal business of elaborating a scientific revolution in physics‘. Zumindest in dieser Hinsicht ist der ‚enunciator‘ explizit nicht Teil der physikalischen Situation, sondern vielmehr derjenige, welcher die Situation beschreibt. Erst musste doch Einsteins Aufsatz von 1905 kommen, um der Idee einer ‚Relativität der Gleichzeitigkeit‘ zum Durchbruch zu verhelfen – was weder heißt, dass es keine Vorläufer gab, noch dass nicht irgendjemand anders die Entdeckung gemacht hätte, wäre Einstein nicht gewesen. Aber irgendjemand musste sie machen. In diesem Sinne ist die „relativity theory itself […] social“.88 Und so könnte auch die ‚grundlegende Verwechslung zwischen Einsteins Lehrmethode und der Relativitätstheorie selbst‘ gar keine Verwechslung sein. Sie ist vielmehr auf die eigentümliche methodische Entscheidung der ANT zurückzuführen, die „absolute distinction between representation and things“89 aufzugeben. Die Unterscheidung wird aufgegeben, weil man ohne die Vermittlung mehr oder weniger komplexerer Experimentalsysteme und letztlich auch der daraus resultierenden wissenschaftlichen Publikationen in Fachzeitschriften über die ‚Dinge‘ und die ‚Natur selbst‘ nichts oder jedenfalls nur sehr viel weniger wissen könnte. Man müsste Latours Thesen wieder so verstehen, dass es um die komplizierte, ausgeklügelte, durchdachte (alles Wortbedeutungen von ‚to elaborate‘) Ausarbeitung der

86 Sokal/Bricmont: Eleganter Unsinn, S. 149/150. 87 Latour: „A Relativistic Account“, S. 43. 88 Ebd. S. 5. 89 Latour: „On Actor-Network Theory“, S. 375.

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Ergebnisse geht – und dass ‚enunciator‘ eben das „enunciator’s lab“90 bezeichnet. So gesehen liegt zwischen Latour auf der einen und Sokal/Bricmont auf der anderen Seite einfach ein großes Missverständnis vor. Letztere verorten den Enunziator in der Situation (was übrigens schon dem Sinn des Begriffs widerspricht91), ersterer jedoch außerhalb dieser. Dasselbe gilt für die ‚Rechenzentren‘ (centres of calculation92). Sie werden von Latour an anderer Stelle wie folgt definiert: Jeder Ort, an dem Inskriptionen kombiniert werden und eine Form der Berechnung ermöglichen. Es kann sich um ein Laboratorium handeln oder um eine statistische Einrichtung, um die Dateien eines Geographen oder eine Datenbank usw. Mit diesem Ausdruck wird die allzuoft im Geist verortete Fähigkeit des Berechnens an spezifischen Orten lokalisiert.93 Diese materialistische Rückverweisung des Rechnens aus einem Geist an seine medialen Orte94 müsste strengen Naturwissenschaftlern doch eigentlich zusagen, zumal die Bedeutung von Laboratorien oder Datenbanken etc. für die Produktion von Wissen über die ‚Natur‘ offenkundig ist.95 Einstein als Enunziator ist also keine reale Person, sondern der Ort, an dem ein Wissen sich manifestiert. John Huth ist eigentlich schon ziemlich nah dran. Er schreibt zu Latours Rekurs auf den Enunziator: „The most charitable interpretation is that the scientist thinking about a calculation in special relativity is a ‚third‘ observer, but this is so trivial that it does not add anything useful to a discussion of special relativity and is certainly not a very deep insight.“96 Nochmal: Die spezielle Re90 Latour: „A Relativistic Account“, S. 16. 91 ‚Enunziator‘ bezeichnet in manchen Strömungen der Semiotik und der Narratologie die Instanz der Äußerung. In der Filmtheorie z.B. ist dieses Konzept detailliert von Christian Metz: Die anthropoide Enunziation oder der Ort des Films diskutiert worden. 92 ‚centres’ in Latour: „A Relativistic Account“; ‚centers‘ in Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 379. 93 Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 379. ‚Inskription‘ wird auf S. 375 definiert. Vgl. auch die ausführlichen Erläuterungen zu den ‚centres of calculation‘ in Latour: Science in Action, S. 215-257. 94 Was Latour, trotz seiner Skepsis gegenüber der Dekonstruktion, doch mit Derridas (u.a. Grammatologie, S. 11-170) Kritik des Logozentrismus (als Kritik der Verdrängung der Exteriorität des Signifikanten zugunsten einer Idealität des Sinns) verbindet. 95 Jedoch wird dieser Begriff von Sokal/Bricmont (Eleganter Unsinn, S. 151) anders als der angreifbarere des Enunziators, kaum erwähnt, abgesehen von der schwammigen Anspielung, dass der „enunciator [...] wiederum mit seiner Vorstellung von ‚Kalkulationszentren‘ zusammenhängt“. 96 Huth: „Latour’s Relativity“, S. 187.

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lativitätstheorie erscheint nicht einfach von selbst, sie muss erdacht, aufgeschrieben, ggf. didaktisch vermittelt, mit aufwendigen Experimentalsystemen getestet, deren Ergebnisse unter Spezialisten diskutiert, wieder publiziert und didaktisch vermittelt, ggf. bestätigt, ggf. mit Nobelpreisen ausgezeichnet97 und schließlich in Lehrbüchern kanonisiert werden. Huths Zurückweisung der Beobachtung der Bedingungen der wissenschaftlichen Erkenntnis ist symptomatisch für die oben schon erwähnte Position eines ‚positiven Realismus‘, der die notwendigen Vermittlungsketten ausblendet. In dieser Verdrängung der Vermittlung, des Medialen, ist der ‚positive Realismus‘ mit seinem Feindbild, dem ‚epistemischen‘ oder ‚kulturalistischen‘ Relativismus identisch: Behauptet der erste aufgrund dieser, wie man mit Derrida sagen könnte, „logozentrische[n] Unterdrückung“98 eine atemporale Transparenz der Erkenntnis gegenüber der Welt (was z.B. unerklärlich macht, warum es so etwas wie das CERN überhaupt gibt), behauptet letzterer eine ebenso atemporale Opazität der Erkenntnis gegenüber der Welt (was z.B. unerklärlich macht, warum z.B. Technologien manchmal funktionieren und manchmal auch nicht). Beide Positionen setzen die Spaltung von Erkenntnis und Welt bereits voraus, während Latours ‚realistischer Realismus‘ eben jene Vermittlungsketten zu studieren empfiehlt, die den angeblichen Graben zwischen Subjekt und Objekt immer schon überschreiten.99 So betrachtet ließe sich der Metapher des Äthers auch wieder etwas Gutes abgewinnen, nimmt man sie nach einer spöttischen Formulierung Max Borns von 1920 über die immer komplexer und seltsamer werdenden Theorien des Äthers: Wollte man sie wörtlich nehmen, so wäre der Äther eine fürchterliche Maschinerie von unsichtbaren Zahnrädern, Kreiseln und Getrieben, die in der verwickeltsten Weise ineinander greifen, und von all dem Wust wäre nichts zu merken als einige relativ einfachen Kräfte, die als elektromagnetisches Feld in Erscheinung treten.100 In diesem Bild ist der Äther eine sehr komplexe Vermittlung mit relativ einfachen Ergebnissen. Man könnte diese Beschreibung des Äthers als Metapher für die Irreduzibilität der Vermittlung stark machen. Zurück zu Huth: Die Ausblendung der konstruktiven Vermittlung mag für einen Physiker, der am Ende nur an dem in einem Artikel in einer Fachzeitschrift publi97 Einstein erhielt seinen Physik-Nobelpreis 1921 allerdings nicht für die Relativitätstheorie, sondern für seine ebenfalls vom 1905 stammende Erklärung des fotoelektrischen Effekts. 98 Derrida: Grammatologie, S. 89. Vgl. auch S. 60, wo Derrida die Exteriorität der Schrift mit der „Äußerlichkeit von Gerätschaften“ vergleicht. Vgl. Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 187, der von „Unterdrückung der Vermittlungsarbeit“ spricht. 99 Vgl. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 36-95, insb. S. 89. 100 Born: Die Relativitätstheorie Einsteins, S. 164.

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zierten Ergebnis interessiert ist, verständlich sein101 – aber mit welchem Recht verkündet Huth, dass Latours Insistenz auf dem Enunziator ‚does not add anything useful to a discussion of special relativity and is certainly not a very deep insight‘102? Für andere Wissenschaften, wie z.B. die Wissenschaftsgeschichte kann die Frage nach den ‚fürchterlichen Maschinerien‘ sehr wohl von Bedeutung sein. Sokal und Bricmonts Denunziation von Latours angeblicher Unbescheidenheit ist an Huth zurückzugeben.103 Es sei ja gar nicht in Abrede gestellt, dass Latour (wie jeder andere auch) Fehler macht. So wenn er beispielsweise in seinem umstrittenen Aufsatz behauptet, Einstein „gets rid of gravity“, oder wenn er den Zähler der letzten Gleichung der Lorentz-Transformation falsch abschreibt – statt v2/c2 muss es v/c2 heißen, oder wenn die Fußnote 23 ins Leere verweist.104 Jedoch machen es sich manche seiner Kritiker einfach zu leicht: Der bereits zitierte Irving Klotz bemerkt zu Latour: He also claims, ‚[Einstein’s] relativity reestablishes reality by giving up absolutism‘. In actual fact, the theory of relativity is anchored in absolutism – in the concrete of Einstein’s two postulates: The velocity of light is a universal constant and the laws of physics are constant. He described these postulates as principles of invariance.105 Herrn Klotz’ Bemerkungen zu Einstein ist völlig zuzustimmen, aber wieso sollten sie als Argument gegen Latours Aussage zutreffen? Latour schreibt doch, dass Einstein ‚die Realität rette, indem er den Absolutismus aufgebe‘. Wieso interpretiert Klotz diesen Satz nicht so, dass sich Latour auf Einsteins Zurückweisung des absoluten Raums bzw. der absoluten Zeit Newtons bezieht (die auch Herr Klotz zugeben dürfte), um damit eben gerade die ‚Realität zu retten‘?106 Nämlich exakt die Realität der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum und die 101 Man könnte dieses Desinteresse vielleicht soziologisch auf die Zerteilung der Physik in verschiedene Subkulturen (Theoretiker, Experimentatoren etc.), wie sie Galison (Image and Logic) beschrieben hat, zurückführen. 102 Meine Hervorhebungen. 103 Es verwundert schon, wie selbstsicher Huth („Latour’s Relativity“, S. 181 und 190/191) Latour vorwirft, den Begriff der ‚Abstraktion‘ über sein ‚common meaning‘ (Für wen? In welcher Sprache? In welchem Zusammenhang?) hinaus ausgedehnt zu haben. Wäre das nicht eine Frage zu der sich anstelle von Physikern besser Philosophen oder Sprachwissenschaftler äußern sollten? 104 Latour: „A Relativistic Account“, S. 24, 18 und 35. Zur richtigen Formulierung der Lorentz-Transformation vgl. Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, S. 29. 105 Klotz: „Postmodernist Rhetoric“, S. 9. Er bezieht sich auf Latour: „A Relativistic Account“, S. 26. 106 Latour schreibt keineswegs, dass es keine Realität gebe, vgl. „A Relativistic Account“, S. 28.

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Realität des Relativitätsprinzips, deren Vereinbarkeit vor der speziellen Relativitätstheorie ins Wanken geraten war.107 Die oft berechtigte, aber bisweilen etwas vorschnelle Kritik der Naturwissenschaftler könnte von den Kulturwissenschaften zumindest lernen, dass man ‚natürlichsprachliche‘ Sätze und Texte leider, leider sorgfältig lesen und behutsam interpretieren muss. Denn in den Kulturwissenschaften wird unabweisbar, was man in den Naturwissenschaften vielleicht logozentrisch verdrängen muss108, dass nämlich das Wissen – die ‚Idealität des Sinns‘, um es mit einem Wort Derridas zu sagen – nur in einem Medium zur Geltung kommen kann und dass dieses in seiner Eigendynamik und Kostspieligkeit nicht vollständig ignoriert werden kann. Latour verwirft den ‚Äther-des-Sozialen‘ als Makro-Medium, gerade um den Blick für die minuziösen Vermittlungsketten zurückzugewinnen. So gesehen schlägt er auch einen alternativen, nämlich mikrologischen Begriff des Mediums vor.

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Fazit

Am Ende habe ich mich, ausgehend von der Frage nach der Äthermetapher, in die Untiefen der ‚Science Wars‘ verstrickt. Diese diskursive Bewegung ist selbst symptomatisch. Sie verweist nämlich letztlich auf die Frage, ob das Ausborgen naturwissenschaftlicher Begriffe als Metaphern für einen soziologischen (oder allgemeiner kulturwissenschaftlichen) Diskurs legitim ist oder nicht.109 Sie verweist also auf die moderne Spaltung in die ‚zwei Kulturen‘. Wenn Latour den Äther als Metapher für ein makrologisches und a-technisches ‚Soziales‘ verabschieden will, dann zeigt sich nochmals, warum der Äther tatsächlich ein Medium der Moderne war und ist. In den Augen Latours spiegelt der Äther jene 107 Vgl. Einstein (Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, S. 20) und Latour („A Relativistic Account“, S. 25) darüber, dass Einstein „maintains two of the physicists’ most cherished beliefs“. 108 So schreibt Derrida: Grammatologie, S. 50: „Bis zu einem bestimmten Punkt ist diese [logozentrische, J.S.] Unterdrückung für den Fortschritt positiver Forschung sogar notwendig.“ 109 Wie bereits erwähnt stellen Sokal/Bricmont: Eleganter Unsinn, S. 27 dies in Frage. Aber auch die Naturwissenschaften borgen sich Termini aus den Kulturwissenschaften aus, so ist z.B. ausgerechnet der Terminus ‚Dekonstruktion‘ mittlerweile Teil des Wortschatzes der Teilchenphysik, vgl. Jejjala/Leigh/Minic: „Deconstruction and Holography“. Ein im Netz gefundener Kommentar bemerkt dazu: „[T]he paragraph above is everything we’re gonna say about deconstruction in philosophy which we’re gonna interpret as a generic example of flawed thinking from now on. We’re going to use the term ‚deconstruction‘ in the particle physics sense. ;-)“ (http://motls.blogspot.com/2005/03/ littlest-higgs-model-deconstruction.html, 04.12.06). Dieser Kommentator schlägt also (leicht ironisch) etwas vor, dass Sokal und Bricmont Kulturwissenschaftlern untersagen: Nämlich einen Terminus auszuborgen und einfach ad hoc umzudefinieren.

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Spaltung in ‚Natur‘ und ‚Gesellschaft‘/‚Kultur‘, die er für eine Selbsttäuschung der Moderne hält. Verabschieden wir den ‚Äther-des-Sozialen‘, so gewinnen ‚wir‘ den Blick auf die mühsame Arbeit mikrologischer Vermittlung zurück. Verstehen wir den Äther als Medium der Moderne, so könnten wir begreifen, dass ‚wir‘ nie modern gewesen sind.110∗

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110 Vgl. Latour: Wir sind nie modern gewesen. ∗

Ich danke Albert Kümmel-Schnur, der mich auf die Idee für diesen Aufsatz brachte.

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Abbildungen Abbildung 1: Galison: Einstein’s Uhren, S. 300. Abbildung 2: Einstein: Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, S. 24.

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Ausstrahlungen der Pflanze

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Furtwängler, Frank M.A., Studium der Physik und Anglistik an der Universität Konstanz. Promotionsprojekt zum Thema Video- und Computerspiele im Bereich der Kunst- und Medienwissenschaft. Zuletzt Stipendiat des Graduiertenkollegs „Bild – Körper – Medium. Eine anthropologische Perspektive“ (Hochschule für Gestaltung Karlsruhe). Forschungsschwerpunkte: Theorie (technischer) interaktiver Medien, games studies. Zuletzt erschienen: „Human Practice. How the problem of ergodicty provokes a re-animation of anthropological perspectives in game studies“, in: Peter Gendolla/Jörgen Schäfer [Hrsg.]: The Aesthetics of Net Literature: Writing, Reading and Playing in Programmable Media, Bielefeld 2007, S. 67-87. Hagen, Wolfgang PD Dr. phil., Privatdozent für Medienwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiter der Abteilungen Kultur und Musik im Deutschlandradio Kultur. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie des Computers, des Radios, der digitalen Bildlichkeit und der Medien. Zuletzt erschienen: Gegenwartsvergessenheit. Studien zu Lazarsfeld, Adorno, Innis und Luhmann, Berlin 2003; Das Radiobuch. Zur Theorie und Geschichte des Hörfunks Deutschland/USA, München 2005. Hug, Marius M.A., seit April 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt Geschichte der technischen Bildübertragung (1843–1923). Studium der Kulturwissenschaft und Philosophie an der Humboldt-Universität, Berlin. Kassung, Christian Prof. Dr., Professor für Kulturtechniken und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, davor Vertretungsprofessuren an der Universität Siegen sowie der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz/ Österreich. Arbeitsschwerpunkte sind die Wissens- und Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, v.a. der Physik, die Geschichte und Praxis technischer Medien

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sowie Literatur- und Kulturtheorie diskursanalytisch. Publikationsauswahl: Entropie Geschichten. Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ im Diskurs der modernen Physik, München 2001; gemeinsam mit Bernhard Dotzler (Hrsg.): Norbert Wiener. Futurum Exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Wien, New York 2001; gemeinsam mit Thomas Macho: „Imaging Processes in Nineteenth Century Medicine and Science“, in: Bruno Latour, Peter Weibel: iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art, Karlsruhe, Cambridge/Massachusetts, London 2002, S. 336-347. Kramer, Stefan PD Dr. phil., Hochschuldozent für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz und assoziierter Mitarbeiter an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Er forscht u.a. zu Kultur, Kulturgeschichte, Kulturtheorie und Diskursgeschichte der Medien, Medienkommunikation und Interkulturalität, kulturelle Identität, Kultur- und Literaturgeschichte Chinas und den Medien Ostasiens. Kümmel-Schnur, Albert Prof. Dr., seit Herbst 2003 Juniorprofessor für Digitale Medien/Digitale Kunst an der Universität Konstanz. Studium der Germanistik, Anglistik, Philosophie in Paderborn, Coleraine, Berlin. Promotion über Musils Mann ohne Eigenschaften (1999). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungskolleg „Medien und Kulturelle Kommunikation“ (1999-2002), Forschungsstipendium der Alexandervon-Humboldt-Stiftung für einen Aufenthalt an der University of California/ Santa Barbara (2003). Forschungsschwerpunkte: Wissensräume, Geschichte der Bildtelegraphie (1843-1923), Visuelle Navigationssysteme. Zuletzt erschienen: Technik Magie Medium. Geister, die erscheinen (Sonderheft Ästhetik & Kommunikation 4/2004, hg. gem. mit Dierk Spreen) Lembert, Alexandra Dr. phil., seit Herbst 2006 Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Englische Literatur an der Universität Leipzig. Lehramtsstudium Anglistik und Geschichte in Leipzig, Cork, Glasgow. Promotion über Alchemy in Contemporary British Literature (2004). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Englische Literatur (2004-2006), Reisekostenbeihilfe der Fritz-Thyssen-Stiftung für einen Forschungsaufenthalt am Wellcome Trust Centre for the History of Medicine,

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am University College London. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaft, Religion und Literatur, Garten und Literatur, (Para)psychologie und Detektivliteratur. Buchveröffentlichung: The Heritage of Hermes. Alchemy in Contemporary British Literature, Glienicke/Wisconsin 2004. Pfannkuchen, Antje M.A., schreibt derzeit in New York bei Avital Ronell an einer Dissertation zum Thema Frühromantik und Naturwissenschaft. Vorher Studium der Kulturwissenschaft, Komparatistik und Amerikanistik in Berlin, sowie der Medienkunst in New York. Der vorliegende Aufsatz begann mit den Forschungen zu einer Magisterarbeit, die von Friedrich Kittler und Gert Mattenklott betreut wurde. Rickels, Laurence A. Prof. Dr., anerkannter Theoretiker und geprüfter Psychotheorapeut, lebt in Los Angeles und Berlin. Er unterrichtet an der University of California, Santa Barbara, dem Art Center College of Design sowie der European Graduate School. Nazi Psychoanalysis, der dreibändige ‚Abschluss’ seiner Trilogie der Unbetrauerbarkeit, erschien 2002. Seine dekonstruktive Psychoanalyse beschäftigt sich nicht nur mit literarischen und medialen Artefakten und Genealogien, sondern ebenfalls mit Gegenwartskunst. Er veröffentlicht regelmäßig in den Zeitschriften artforum und Flash Art und ist Gründer der Zeitschrift artUS. Rieger, Stefan Prof. Dr., Professor für Medienwissenschaft an der Ruhruniversität Bochum, Studium der Germanistik und Philosophie. Stipendiat im Graduiertenkolleg Theorie der Literatur (Konstanz), im Anschluss daran Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich Literatur und Anthropologie. Promotion über barocke Datenverarbeitung und Mnemotechnik (Speichern/Merken. Die künstlichen Intelligenzen des Barock, München 1997); Habilitationsschrift zum Verhältnis von Medien und Anthropologie (Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M. 2001). Aktuelle Arbeits- und Publikationsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Medientheorie und Kulturtechniken. Jüngste Buchveröffentlichungen: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt a.M. 2002 und Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt/M. 2003. Zusammen mit Benjamin Bühler: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a.M. 2006.

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Schröter, Jens Dr. phil., Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Bochum, 1999-2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter, Stiftungsprofessur Theorie und Geschichte der Fotografie, Universität Essen, seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Virtualisierung von Skulptur. Rekonstruktion, Präsentation, Installation“ des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medien­umbrüche. Promotion: Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld 2004. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte digitaler Medien, Digitale Kunst, Theorie und Geschichte der Fotografie, Dreidimensionale Bilder, Intermedialität, Kritische Medientheorie. Zuletzt erschienen: Display I: Analog, Marburg 2006 (hrsg. zusammen mit Tristan Thielmann). Visit www.theorie-der-medien.de Steinmann, Holger M.A., seit Frühjahr 2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt am Main. Studium der Germanistik, Anglistik, AVL und Kunstwissenschaft an der Universität Essen. Stipendiat am Graduiertenkolleg „Repräsentation – Rhetorik – Wissen“ der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder (2001/2). Promotion 2004 zum Thema Absehen – Wissen – Glauben. Die Rhetorik der Physikotheologie von Boyle bis Brockes an der Ruhruniversität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Untersuchung der rhetorischen Fundierung von Texten der Theologie, der Naturwissenschaften, der Philosophie und der Literatur; Poetologische Gedichte in der europäischen und US-amerikanischen Literatur; Ästhetik, Imaginationstheorie, Geographie und Physik in den Literaturen und bildenden Künsten des 18. und 19. Jahrhunderts. Publikationen zur Mikroskopie im frühen 18. Jahrhundert, zur Analogie bei Georg Christoph Lichtenberg, zur Jurisprudenz bei Johann Peter Hebel, zu W. G. Sebald und Thomas Browne, zu Emily Dickinson und Paul Celan sowie zu Peter Handke. Stöhr, Jürgen Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter Kunstwissenschaft für den Studiengang Literatur, Kunst, Medien an der Universität Konstanz. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Literatur in Münster und Bochum. Dissertation zur „Ästhetischen Erfahrung“. U.a. Herausgeber des Sammelbandes: Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996. Forschungsschwerpunkte: Methodendiskussion in der Kunst- und Bildwissenschaft. Habilitationsprojekt zu Max Imdahl und Paul de Man.

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Thielmann, Tristan Dr. phil., seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter des SFB/FK 615 Medienumbrüche an der Universität Siegen. Studium der Medienwissenschaften, Kommunikationswissenschaft und experimentellen Mediengestaltung in Berlin, Siegen, Babelsberg, Bradford, Kassel, München. Promotion zur On-Air-Promotion (2004). Forschungsschwerpunkte: Mediengeographie, Techniksoziologie, Fernsehgeschichte. Zuletzt erschienen: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, hrsg. gem. mit Jörg Döring; Display I – Analog und Display II – Digital (Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften, Nr. 2/2006 und Nr. 2/2007), hrsg. gem. mit Jens Schröter.

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Medienumbrüche Stefan Eichhorn Die Vermessung der virtuellen Welt Von »Sacred« bis »GTA«: Karten im Computerspiel Mai 2008, ca. 120 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-755-4

Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hg.) Äther Ein Medium der Moderne April 2008, 404 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-610-6

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Volker Roloff (Hg.) Surrealismus und Film Von Fellini bis Lynch April 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-863-6

Michael Lommel, Volker Roloff (Hg.) Sartre und die Medien März 2008, 228 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-816-2

Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip, Annegret März, Johanna Niesyto (Hg.) Politik mit dem Einkaufswagen Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft 2007, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-648-9

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Dalís Medienspiele Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten 2007, 416 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN: 978-3-89942-629-8

Rainer Leschke, Jochen Venus (Hg.) Spielformen im Spielfilm Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne 2007, 422 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-667-0

Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (eds.) The Aesthetics of Net Literature Writing, Reading and Playing in Programmable Media 2007, 394 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-493-5

Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) (Post-)Gender Choreographien/Schnitte 2006, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-277-1

Ralf Schnell (Hrsg.) MedienRevolutionen Beiträge zur Mediengeschichte der Wahrnehmung 2006, 208 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-533-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Medienumbrüche Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Integration durch Massenmedien/Mass Media-Integration Medien und Migration im internationalen Vergleich Media and Migration: A Comparative Perspective

Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Problemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie

2006, 328 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-503-1

2005, 546 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-280-1

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Die grausamen Spiele des »Minotaure« Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift

Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit

2005, 206 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-345-7

Josef Fürnkäs, Masato Izumi, K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hg.) Medienanthropologie und Medienavantgarde Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen 2005, 292 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-380-8

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000 2005, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-278-8

2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-341-9

Ralf Schnell (Hg.) Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik Neurobiologie und Medienwissenschaften 2005, 264 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-347-1

Ralf Schnell, Georg Stanitzek (Hg.) Ephemeres Mediale Innovationen 1900/2000 2005, 242 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-346-4

Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft 2004, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-276-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Medienumbrüche Marijana Erstic, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) Avantgarde – Medien – Performativität Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts 2004, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-182-8

Uta Felten, Volker Roloff (Hg.) Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus

Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-183-5

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-181-1

2004, 364 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-184-2

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus 2004, 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-279-5

Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hg.) Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung 2004, 438 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-254-2

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de