Rhetorische Ethik 9783787338931, 9783787338924

Wenn Rhetorik die Theorie der Wirkung einer Äußerung ist, dann ist rhetorische Ethik die Theorie des moralischen Umgangs

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German Pages 228 [229] Year 2020

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Rhetorische Ethik
 9783787338931, 9783787338924

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Rhetorische Ethik Franz Hubert Robling

Meiner

Franz-Hubert Robling

Rhetorische Ethik

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3892-4 ISBN eBook 978-3-7873-3893-1

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­druck­­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung: Wozu heute (noch) rhetorische Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . 11  I. Rhetorik, Ethik und die Beherrschung s­ prachlicher Gewalt . 19

1. Rhetorische Persuasion und sprachliche Gewalt . . . . . . . . . . . 19 2. Kultivierung durch die Rede als Überwindung physischer Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Redewirkung als Mittel der Vermeidung physischer Gewalt 29 4. Redewirkung als Quelle neuer psychischer Gewalt . . . . . . . . . 31 5. Die ethische Beherrschung psychischer Gewalt in der Rede . 34 6. Rhetorik, Ethik, Gewalt und Kultur: ein Resümee . . . . . . . . . 40 II . Ethische Aspekte rhetorischen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

1. Technisch-instrumentelle und praktische Vernunft . . . . . . . 45 2. Rhetorisches Handeln zwischen poíesis und práxis . . . . . . . . 52 3. Ethische Urteilsbildung bei Redner und Hörer . . . . . . . . . . . . 55 4. Ethikaffine rhetorische Darstellungstechniken . . . . . . . . . . . . a) Darstellen als rhetorisch-poietische Handlung . . . . . . . . . b) Beispielgebung als Argumentationsergänzung und ­ Nachahmungsanreiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ethisch-ästhetische Modellierung des Redegegenstandes

58 58 59 63

III . Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik . . . . . . . . 67

1. Kritik der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Rhetorische Ethik als Integrationstypus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Ethische Ansätze der rhetorischen Tradition . . . . . . . . . . . 85 b) Streben, Sollen und Nützlichkeit als Elemente rhetorischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

IV. Güter und moralische Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

1. Die strebens- und nutzensethische Perspektive: rhetorische Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Die sollensethische Perspektive: rhetorische Gebote und Verbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zwischen Wirkungsabsicht und Instrumentalisierungs­-. verbot: die moralische Grundnorm der Rhetorik . . . . . . b) Die populäre Redemoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Einheit von Reden und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Wahrheitsgebot und Lügenverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Mäßigung der Gefühlserregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Angemessenheit zwischen Anbiederung und moralischer Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101 101 107 109 113 116 120

V. Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

1. Tugend in Ethik und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Klugheit als Haupttugend des Redners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3. Weitere Rednertugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4. Das Ideal des vir bonus dicendi peritus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 a) Rückblick: Antike Tugendethik als Grundlage . . . . . . . . 134 b) Ausblick: Klugheit und Verantwortungsbereitschaft als ethische Kennzeichen eines zeitgemäßen Rednerideals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 VI . Rhetorisch-ethische Interpretation eines ­Beispiels

Die Reden von Brutus und Antonius in Shakespeares »Julius Caesar« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

1. Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Rhetorische Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Ethische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 VII . Fazit und medienethischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

6 | Inhalt

Abkürzungen und Notationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

 Inhalt | 7

»Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt.« Gotthold Ephraim Lessing: »Emilia Galotti«

Vorwort Wenn Rhetorik die Theorie der Wirkung einer Äußerung ist, dann ist rhetorische Ethik die Theorie des moralischen Umgangs mit dieser Wirkung. Auf diese kurze Formel lässt sich die These des vorliegenden Buches bringen. Die Legitimation dafür liegt in der Ambivalenz rhetorischer Wirkungsmacht, denn was dem Redner nützt, kann den Zuhörern schaden, wenn er sie nur überredet, ohne sie auch zu respektieren und überzeugen zu wollen. Gegenstand dieser rhetorischen Ethik – will sagen: dieser Ethik der Rhetorik – sind die Normen rhetorischen Handelns, die den Redner gegenüber den Zuhörern bei aller persuasiven Beeinflussung auch moralisch glaubwürdig machen. Das hier vorgelegte Buch will aber nicht nach Art rhetorischer Ratgeber Rezepte für richtiges Verhalten geben. Stattdessen will es die ethischen Begriffe und Prinzipien präsentieren, die der Redner genauso wie die Vorschriften der rhetorischen Technik kennen und berücksichtigen sollte, wenn er verantwortlich mit der Rhetorik umgehen will. Es beschränkt sich auf das Verhältnis von Redner und Rede als Kernthema der Rhetorik und vernachlässigt daher – mit Ausnahme einiger Überlegungen zur Medienethik am Schluss – alle disziplinären Weiterungen auf diesem Feld. Die Arbeit ist eine systematische Fortsetzung meiner geschichtlichen Untersuchung des Rednerideals1 und versteht sich als eine auf die Rhetorik konzentrierte Bereichsethik, die mit ihren Vorstellungen zum Entwurf eines modernen Leitbilds für rednerisches Handeln beitragen will. Herzlich danken möchte ich Simon Drescher, Jessica Heesen, Olaf Kramer, Hans Krämer (†), Manfred Kraus, Dietmar Till und Niels Weidtmann, die mit mir oft über Fragen einer rhetorischen Ethik gesprochen und meinen Text kritisch gelesen haben. Ebenso möchte ich mich bei Lukas Beck bedanken, der die Register erstellt hat. Gewidmet ist das Buch Walter Jens, der mir zuerst die Rhetorik nahegebracht hat.

  9

Einleitung Wozu heute (noch) rhetorische Ethik? Eine Frage wie die in der Überschrift gestellte hat auf den ersten Blick etwas Altmodisches, Rückwärtsgewandtes und provoziert beinahe die weiterführende Frage: »Wozu heute noch Rhetorik?« Gibt es nicht anstelle von »Rhetorik« inzwischen »strategische« oder »persuasive Kommunikation«, Begriffe und Konzepte, die das Beste der alten Rhetorik in sich aufgesogen haben und den angeblich unbrauchbaren Rest von dem, was die rhetorische Tradition ausgemacht hat, fachgerecht entsorgten? Eine ähnliche Bewandtnis scheint es auch mit der rhetorischen Ethik zu haben. Ist denn ihre Erbmasse nicht in den verschiedenen Spielarten der modernen Kommunikationsethiken aufgegangen bzw. weiterentwickelt worden, als da sind: journalistische Ethik, Publikumsethik, Diskurs­ ethik, Medienethik, Informationsethik, Internetethik? Sicher, all diese Konzepte haben etwas von der Ethik rhetorischer Wirkung übernommen. Aber nur einzelne Aspekte werden jeweils berücksichtigt, so dass die Idee einer eigenen, auf Beeinflussung und Wirkung setzenden rhetorischen Ethik darin eher vorausgesetzt als wirklich entwickelt wird. Die Gründe dafür liegen allerdings nicht im Unvermögen der genannten Disziplinen, sondern darin, dass die moderne Rhetorikforschung zwar ethische Ansätze, aber keine systematisch fundierte eigene Ethik mehr anzubieten hat. Denn mit dem Untergang der Rhetorik als Produktionstheorie von Texten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verschwand auch das ehemals den rhetorischen Unterricht bestimmende und auf der antiken bzw. humanistischen Tugendethik gründende Ideal des vir bonus dicendi peritus, des »Ehrenmanns, der reden kann«. Außerdem wurde das mit der Tugendethik verbundene Modell der Strebens- und Klugheitsethik von der Prinzipien- und Pflichtenethik des 18. Jahrhunderts verdrängt, die in ihrem Handlungsverständnis auf hohe methodische Standards und universale Regelhaftigkeit setzte. »Die Konzepte der phronesis und prudentia, der Topik und rhetorischen Plausibilität,   11

die Vico noch gegen die Methodik der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu verteidigen suchte, fallen daher seit Kant aus der Architektonik Praktischer Philosophie heraus.« (Krämer)2 Als um die Mitte des 20. Jahrhunderts die rhetorische Forschung wieder auflebte, existierte für sie kein glaubwürdiges ethisches Theorieangebot mehr. Es gab zwar nach wie vor ethische Interpretationen von Reden aufgrund von Maximen der populären Moral oder anhand von Begriffen aus dem Grenzbereich zwischen Rhetorik und praktischer Philosophie wie »Überredung« und »Überzeugung«. Aber es fehlte ein ethisches Modell, das die moralischen Forderungen der rhetorischen Tradition mit den Erkenntnissen der zeitgenössischen Ethik verbunden hätte.3 Die neue Rhetorikforschung konzentrierte sich stattdessen auf Fragen der persuasiven Adressatenlenkung und verfolgte dieses Ziel bei ihren Untersuchungen über Argumentation und Topik, über die Beziehungen der Rhetorik zu Linguistik und Pragmatik, zu Psychologie, Soziologie, Sprachphilosophie und Anthropologie4 sowie ihre Rolle in Literatur- und Kulturwissenschaft. Dazu kam die Erforschung der antiken Rhetorik in der klassischen Philologie.5 Die hier genannten Forschungsrichtungen analysierten die Rhetorik vor allem als Technik der Persuasion, weshalb eine Beschäftigung mit ethischen Fragen meist unterblieb. Heute ist die Entwicklung einer rhetorischen Ethik also allein deshalb schon ein Desiderat, weil das Spektrum kommunikativer Ethiken auch mit normativen Überlegungen zur Moral der persuasiven Einwirkung komplettiert werden sollte. Zu diesen innerdisziplinären Gründen kommen noch externe Gründe hinzu. Da die modernen Gesellschaften in ihrem Handeln immer mehr durch Informationsaustausch und symbolvermittelte Interaktionen bestimmt sind, wird die Kommunikation allgemein und insbesondere die persuasive Kommunikation für den gesellschaftlichen Verkehr immer wichtiger. Wer hier den größten Einfluss entfalten kann, gewinnt bei der Realisierung seiner Ziele am meisten. Die Folge ist, dass deshalb gerade die manipulativen Potentiale der Rhetorik gefragt sind, wie sich an der persuasiven Strategie vieler Politiker und Parteien, aber ebenfalls an den Werbekampagnen großer Unternehmen und Institutionen zeigen lässt. Auch heute bestätigt sich für viele Menschen daher der schon seit der Antike bestehende schlechte Ruf der Rhetorik, nicht viel mehr als eine 12 | Wozu heute (noch) rhetorische Ethik? 

raffi­nierte Kunst der Verführung zu sein. Unsere Gesellschaft wie alle Gesellschaften früher kann jedoch nicht auf den Einsatz von Rhetorik im öffentlichen und privaten Sektor verzichten, will sie ihren Bestand erhalten, und darin zeigt sich der positive Wert der Redekunst – d. h.: ihr »Gutes« – und ihres Gebrauchs. Schon Aris­ toteles wendet sich gegen eine einseitige Verurteilung der Rhetorik und ihrer Wirkung, wenn er eine kenntnisreiche Beherrschung dieser Kunst fordert, damit man z. B. Argumente, die jemand nicht nach Recht und Gesetz gebraucht, auch entkräften kann.6 Doch die Aufdeckung von Fehlschlüssen und Täuschungen in der Argumentation ist zwar eine wichtige Aufgabe der Kritik rhetorischer Texte, begründet aber noch keine rhetorische Ethik. Denn Ethik beschäftigt sich mit der Theorie moralischen Handelns und rhetorische Ethik entsprechend mit den moralischen Grundsätzen persuasiven Handelns. Die Frage ist allerdings, wie man eine rhetorische Ethik ansetzen soll. Von der rhetorischen Technik, die als Instrumentarium der Persuasion fungiert und deshalb moralisch neutral ist, führt kein Weg zu einer Ethik der Rhetorik. Aber der Redner7 als Akteursrolle wirkungsbezogener Kommunikation, ein Konzept, das seit der Entstehung der Rhetorik im 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland auch zur Theorie der Redekunst gehört8, bietet eine Projektionsfläche für die Reflexion ethischer Fragen rhetorischen Handelns. Diese Reflexion muss von der »unvertretbaren Eigenperspektive des Handelnden« (Krämer)9 ausgehen, von Entscheidungsdruck und Konflikterfahrung, dem damit verbundenen Orientierungs- und Beratungsbedarf, die in die Frage münden: »Was soll ich tun?« und dann zum Entschluss führen. Der Rückgang auf die subjektive Sicht des Redners also ermöglicht erst die ethische Reflexion des Handelns, und auf diese Sicht muss sich der Entwurf einer dieses Handeln anleitenden Ethik beziehen. Der Redner erscheint in der Öffentlichkeit allerdings nicht nur als Sprecher von mündlichen, sondern auch als Verfasser von schriftlichen Texten, also als Autor und dann in verschiedenen politischen, juristischen, sozialen oder kulturellen Rollen, und zwar in monologischer Rede oder im Dialog mit anderen Personen und Institutionen. Er tritt als einzelne Person auf oder fungiert als institutionelle Instanz, weshalb Unternehmen und Behörden ebenfalls unpersönlich als ›Redner‹ erscheinen können, wenn sie sich öffentlich äu Wozu heute (noch) rhetorische Ethik? | 13

ßern. Doch Entpersönlichung ist nicht mit Entsubjektivierung zu verwechseln, denn zu jeder Erscheinungsform der Rednerinstanz gehört die interessenbestimmte Handlungsperspektive und damit die ethische Verantwortung für Mittel und Ziele der Persuasion. Der im Folgenden präsentierte Entwurf einer rhetorischen Ethik geht von Kultur, Geschichte und Philosophie als leitenden Gesichtspunkten der Untersuchung aus. Kultur ist als Ausgangspunkt deshalb wichtig, weil die Kultivierung des Menschen durch Sprachentstehung und rhetorischen Sprachgebrauch nach Auffassung der rhetorischen Tradition Bedingung für die Humanisierung des Lebens ist. Erst mit der Entwicklung der Sprache hat der Mensch die wirklich entscheidenden Schritte aus der Abhängigkeit von der Natur gemacht. Die Kulturgenese durch Sprachgebrauch führte aber nicht nur zur Versittlichung des menschlichen Handelns, sondern ermöglichte auch die Entstehung des moralischen Bewusstseins und damit ebenfalls die ethische Beurteilung des persuasiven Handelns. Alle hier aufgeführten ethischen Aspekte der Rhetorik haben daher eine kulturelle Dimension, womit der Kulturaspekt10 in den normativen Vorgaben dieser Ethik immer präsent ist.11 Doch nicht nur der Einsatz mit der Kultivierung des Menschen macht die Geschichte zum konstitutiven Moment dieses Entwurfs, sondern auch die Orientierung an den ethischen Vorgaben der rhetorischen Tradition. Geschichtliche Rückbesinnung begründet den rekonstruktiven Zug dieser Ethik, die zunächst die tradierten Vorgaben aufsucht, um sie dann mit dem Ziel der Konzeption einer modernen rhetorischen Ethik weiterzuentwickeln. Das Gegensatzpaar »überreden« und »überzeugen« etwa, das die moralische Qualität der Persuasion bewertet, wird zur Formulierung einer moralischen Grundnorm für die Rhetorik benutzt; die éthos-Lehre, welche die tugendhafte Selbstdarstellung des Redners in der Rede als persuasives Mittel beschreibt, dient zur kritischen Erörterung der Beziehung zwischen Reden und Handeln; und die vir-bonusFormel, welche die Rechtschaffenheit des Redners einfordert, wird zum Ausgangspunkt für die Konzeption einer zeitgemäßen rhetorischen Tugendlehre und eines ethischen Leitbilds für den Redner heute. Dieser geschichtliche Zugang zur ethischen Thematik der Rhetorik soll zeigen, dass es in unserer Disziplin nicht nur den beschriebenen Bruch, sondern auch eine mögliche Kontinuität der 14 | Wozu heute (noch) rhetorische Ethik? 

ethischen Reflexion zwischen Vergangenheit und Gegenwart geben kann. Die Gültigkeit der alten Konzepte soll für unsere Zeit geprüft und die Frage gestellt werden, wo und wie man heute an sie anschließen kann. Unter diesem rekonstruktiven Gesichtspunkt ist der hier vorgelegte Entwurf eine deskriptive Ethik. Schließlich bezieht diese sich als eine spezielle auch auf die philosophische als die allgemeine Ethik. Philosophie und Rhetorik haben in allen Epochen der europäischen Kulturtradition bis heute ein enges Verhältnis gehabt. Dabei ging es für die Philosophie um die Mittel für eine wirksame Verbreitung ihrer Gedanken und für die Rhetorik um eine kritische Durchleuchtung ihrer persuasiven Grundannahmen.12 Allerdings hat sich die Philosophie von der Antike bis heute nur partiell dazu durchgerungen, die Rhetorik als integralen Bestandteil ihrer selbst anzuerkennen13, und die Rhetorik ihrerseits wies allzu oft die philosophische Kritik an ihrem Treiben als praxisferne Einmischung zurück.14 Die Philosophie war und ist auch heute noch das ›kritische Gewissen‹ der Redekunst, das die Bedeutung grundlegender rhetorischer Begriffe wie Meinung, Überzeugung oder Wahrscheinlichkeit klären will. Im vorliegenden Entwurf einer rhetorischen Ethik werden die Philosophie und ihre Prinzipien außerdem als Maßstab herangezogen, um die in der Tradition formulierten ethischen Normen der Rhetorik zu prüfen, nach modernen Standards zu präzisieren und weiterzuent­ wickeln. Die hier vorgelegte Ethik ist eine spezielle oder Bereichsethik, die versucht, philosophische Prinzipien zur Klärung von moralischen Fragen in einem Fachgebiet, und zwar der Redekunst, heranzuziehen. Man bezeichnet Bereichsethiken15, die zwischen der allgemeinen Ethik und der Erörterung konkreter Fälle eines Fachs vermitteln, auch als »angewandte Ethiken«, wie sie als medizinische oder technische Ethik, als Natur- und Umweltethik, Medien­ ethik, Rechts- oder Wirtschaftsethik vorkommen.16 Deren Ziel ist die Untersuchung wichtiger Handlungsfelder einer bestimmten Disziplin, um dafür jeweils bereichsspezifische Normen zu formulieren und zu begründen. Im Unterschied zu Modellen der allgemeinen Ethik, die moralische Probleme meist abstrakt erörtern, haben Bereichsethiken den Vorteil, Leitlinien anzugeben, wie man sich in bestimmten Situationen richtig verhält, wenn Unklarheit  Wozu heute (noch) rhetorische Ethik? | 15

oder Unsicherheit darüber herrschen, was man jetzt tun soll.17 In diesem Sinne ist die rhetorische Ethik eine Bereichsethik, die normative Prinzipien anbietet, mit denen man rhetorische Handlungen bewerten kann. – Das hier vorgelegte Buch umfasst sieben Kapitel. Das erste enthält eine Grundlegung der rhetorischen Ethik und sieht deren Aufgabe in der Beherrschung der Redegewalt. Es beschreibt die Rolle der Rhetorik bei der Kulturentstehung in der Sicht der Tradition. Die Kultivierung durch den persuasiven Einsatz der Sprache bescherte dem Menschen die Institutionen zur Organisation seines gesellschaftlichen und politischen Lebens sowie die Möglichkeit zur Ausbildung seiner individuellen Fähigkeiten. Doch dieser Prozess hatte auch ambivalente Folgen. Einerseits lernte der Mensch in der Auseinandersetzung mit seinesgleichen die Redekunst als Mittel der physischen Gewaltvermeidung einzusetzen; andererseits entdeckte er, dass der persuasive Gebrauch der Rede ein neues Mittel zur psychischen Gewaltausübung bereitstellt. So führt die Entstehung der Rhetorik zwar zum Ausgang aus dem Naturverhältnis wechselseitiger Gewaltanwendung und damit zur kulturellen Versittlichung des menschlichen Lebens. Darüber hinaus erfordert sie aber auch die Entwicklung von moralischen Normen in Gestalt einer Ethik, die dem Redner bewusst macht, wo der persuasive Gebrauch der Sprache erneute Gewalt, und zwar diesmal in psychischer Gestalt, freisetzt. Das zweite Kapitel untersucht rhetorisches Handeln als ethisches Handeln. Es versteht die Rhetorik als persuasive Praxis und nicht nur als persuasive Produktionstechnik, um so auch den Redner als handelnde Person mit einzubeziehen. Die rhetorische Technik wird mit Ernst Cassirer als kulturbegründende »symbolische Form« aufgefasst, die dem Redner eine bestimmte Weise des Weltzugangs ermöglicht und damit sein Handeln der ethischen Bewertung zugänglich macht. Dabei kommen Redner und Hörer aufgrund ihrer unterschiedlichen Bewertungsperspektiven zu je spezifischen Formen der Urteilsbildung. Aus dem Arsenal der rhetorischen Technik werden die Beispielgebung und die Modellierung des Redegegenstandes durch Amplifikation näher beschrieben, um zu demonstrieren, wie der Redner auch in der Art der Darstellung rhetorische mit ethischen Zielen verbinden kann. 16 | Wozu heute (noch) rhetorische Ethik? 

Das dritte Kapitel legt das systematische Konzept für die hier anvisierte rhetorische Ethik vor. Einleitend unterzieht es die bereits existierende Forschung zum Verhältnis von Rhetorik und Ethik einer kritischen Sichtung. Dann präsentiert es das in dieser Untersuchung favorisierte Bewertungsmodell als Synthese aus Strebens-, Sollens- und Nutzenethik, die es ermöglichen soll, die persuasiven Mittel und Ziele einer Rede ethisch zu beurteilen. Das vierte Kapitel stellt die Güter und Normen einer rhetorischen Ethik vor. Die Güter umfassen die verschiedenen rhetorischethischen Bereiche der Individualbildung und die das rhetorische Handeln ermöglichenden soziokulturellen Institutionen. Die Normen dieses Handelns beziehen sich auf die moralischen Grenzen persuasiver Instrumentalisierung, das Verhältnis von Reden und Handeln und auf den Umgang mit der Wahrheit, dann auf die Grenzen der Erregung von Gefühlen zwecks Mobilisierung der Hörer und zuletzt auf ethische Kriterien, die bei der persuasiven Indienstnahme des Angemessenen im Adressatenbezug der Rede zu beachten sind. Das fünfte Kapitel entwirft ein Konzept der rednerischen Tugenden. Da die Rhetorik außer den moralischen auch stilistische Tugenden kennt, soll hier das Zusammenspiel dieser beiden Komponenten rednerischen Handelns dargestellt werden. Der letzte Abschnitt untersucht das in der rhetorischen Tradition vorherrschende und bestimmte Tugenden bevorzugende Leitbild des vir bonus dicendi peritus und fragt, welche von ihnen unter den veränderten Umständen heute für den Redner noch verbindlich sein können. Das sechste Kapitel verwendet abschließend das hier entworfene Ethikmodell für die rhetorisch-ethische Interpretation zweier fiktiver Reden, die auf historischen Vorbildern beruhen, und zwar derjenigen von Brutus und Antonius in Shakespeares Drama »Julius Caesar«. Es sind zwei gegensätzliche politische Reden, die als Reaktion auf Cäsars Ermordung im Jahre 44 v. Chr. gehalten und von dem englischen Dramatiker nach den überlieferten Zeugnissen literarisch gestaltet wurden. Als Theaterreden auf der Bühne führen sie den Zuschauern die Mechanismen der Beeinflussung eines Publikums vor Augen und zeigen so gewissermaßen idealtypisch, welche persuasiven Gestaltungsmöglichkeiten der Redner beim  Wozu heute (noch) rhetorische Ethik? | 17

Entwerfen seiner Rede hat und wie diese nicht nur nach ihrem Wirkungspotential, sondern auch nach ihren moralischen Folgen einzuschätzen sind. Das Fazit am Schluss bietet neben einer Zusammenfassung der Gedanken des ganzen Buches noch einige Überlegungen zur Frage, inwiefern rhetorische Ethiknormen auch für die Berichterstattung von Presse und Fernsehen wichtig sein könnten.

18 | Wozu heute (noch) rhetorische Ethik? 

I. Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 1. Rhetorische Persuasion und sprachliche Gewalt

Die Legitimierung und Begründung einer rhetorischen Ethik muss an der Frage ansetzen, wie die von der Rhetorik ausgehende sprachliche Gewalt beherrscht werden kann. Zwar gibt es einen alten rhetorischen Topos, der besagt, die persuasive Rede18 könne den Gebrauch von körperlicher Gewalt ersetzen, wenn es darum geht, Menschen zu irgendwelchen Handlungen zu bewegen. Es stimmt: Durch ihr Wirkungspotential kann die Rede den Einsatz physischer Zwangsmethoden überflüssig machen. Aber stellt sie nicht selbst oft eine subtile Form von Gewaltanwendung dar, die auf der Wahl bestimmter Argumentationsmethoden oder der von bestimmten Interessen gelenkten Ordnung von »Redefeldern« beruht, wie Bernhard Waldenfels meint?19 Ganz zu schweigen von Situationen, in denen Scheinargumente vorgebracht werden oder es um Emotionen statt um Rationalität, um Beschönigung und Täuschung bis hin zu Manipulation und Propaganda geht. Man kann sich zwar damit herausreden, dass all dies zur »Überredung« der Zuhörer zähle, neben der es ja auch die unverdächtige, nur transparente Argumentation und Vernunft gebrauchende »Überzeugung« gebe. Dennoch gehört in einer auf Wirkung setzenden Rede beides zusammen, weshalb für Habermas »das Moment der Gewalt« in der Rhetorik aufgrund der »Ambivalenz zwischen Überzeugung und Überredung […] bis auf den heutigen Tag […] nicht getilgt worden ist«.20 Dieses Faktum kann man nicht negieren, doch es stellt sich die Frage, wie man damit umgehen kann und soll. In der rhetorischen Forschung wird das Problem kontrovers diskutiert. Josef Kopperschmidt etwa transformiert die Gewaltfrage in eine Machtfrage. Er konzentriert sich auf den Aspekt der »Rede mit Gewalt« als Waffe im Kampf um die Durchsetzung individueller Interessen, die als Instrumentalisierung der »Macht des Wortes« eine besonders raffinierte Form von Gewalt sei, wogegen die Rede  19

doch historisch auch als eine Alternative zur Gewalt verstanden werde.21 Denn in der Ersetzung der Gewalt22 durch die Rede sieht er »den evolutionären Gewinn eines Mediums […], das die Koordinierung handelnder Subjekte nicht nur effektiver macht, sondern zugleich qualitativ in einer Weise verändert, die ein politisch organisiertes Zusammenleben zwischen freien und gleichen Menschen überhaupt erst möglich macht«. Voraussetzung ist für ihn ein auf den Theorien von Habermas und Arendt gegründetes Verständnis von gesellschaftlicher Macht, das aus dem Zusammenschluss und Einverständnis von Menschen entstanden ist, die sich gegenseitig als zurechnungsfähige Subjekte anerkennen.23 Wenn Gewalt sozial geächtet ist, werden Reden zur einzig legitimen Form möglicher Beeinflussung und »zur wichtigsten Ressource sozialer ›Macht‹«, weil sie die Meinungen von vielen zu einem handlungsfähigen Willen verbinden.24 Der rhetorisch erzielte Konsens ist also das Mittel zur sozialverträglichen Transformation von Gewalt in Handlungsmacht. Diese Auffassung von Kopperschmidt hat viel für sich, doch bleibt die Frage, ob nicht auch in den Beiträgen der einzelnen Diskursteilnehmer eine Form rhetorischer Strategie am Werk sein kann, die gewaltsam ist und als psychische Gewalt eingestuft werden muss. Joachim Knape geht in seinen Überlegungen zur Gewaltfrage von der »Beeinflussung« in Form von »kommunikative[n] Handlungen« aus, »die auf Änderungen irgendwelcher Art gerichtet sind und deren Interaktionsformen, Kommunikationsmittel und -techniken von der Mehrheit aller Gruppenmitglieder akzeptiert werden. Akte kommunikativer Beeinflussung unterliegen mithin den von […] Herbert P. Grice aufgestellten Kommunikations­ maximen, die ihrerseits unter dem Kooperationsprinzip stehen.«25 Knape trennt die Manipulation als nicht erlaubte Beeinflussung des Publikums mit unlauteren Mitteln, wie z. B. dem Betrug, vom erlaubten »rhetorischen Handlungsmodell des Überzeugens«.26 Die Frage, ob auch bei der rhetorischen Überzeugung eine Gewalttätigkeit vorliege, beantwortet er mit dem Hinweis, die Rhetorik setze nun mal auf Beeinflussung und sei von daher zwar keine »irenische Kunst«27, aber auch kein Zwang. Andere Menschen von der eigenen Meinung zu überzeugen sei in den meisten Kulturen unproblematisch. Auch der Einsatz von Emotionen sei erlaubt, die Hassrede 20 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

zur Herabwürdigung anderer Menschen wie in der Nazizeit aber nicht. Das zeige, die Spielräume der Einschätzung, ob Gewalt vorliege oder nicht, seien von sozialen und juristischen Maßstäben einer Gruppe oder Gesellschaft abhängig.28 Es ist nach seiner Meinung realitätsfern, rhetorisches Handeln auf reinrationale Mittel zu beschränken, denn auch »emotional stimulierende Mittel« seien »üblich und gestattet«.29 Knape konstatiert am Schluss, rhetorische Mittel »im technischen Sinn« könnten sowohl für verantwortbare wie für unverantwortliche Kommunikationsvorgänge eingesetzt werden. Die Entscheidung darüber liege bei dem jeweils verantwortlichen Menschen.30 Diesem Urteil ist sicher zuzustimmen. Allerdings schwächt Knape die Gewaltproblematik der Rhetorik ab. Er macht es sich zu einfach mit der Feststellung, die Rhetorik arbeite mit sozial akzeptierter Beeinflussung, wobei die Einschätzung des Gewaltcharakters von sozialen und rechtlichen Maßstäben abhängen würde. Doch nicht alles rechtlich Erlaubte ist auch moralisch akzeptabel. Gerade wenn wir meinen, manipuliert zu werden, haben wir das Gefühl, hier sei eine juristisch zwar nicht fassbare, aber moralisch doch sehr relevante Grenze überschritten worden. Knape scheint mit der Erwähnung der Grice’schen Kooperationsmaximen übrigens so etwas wie einen ethischen Rahmen für die rhetorische Beeinflussung vorgeben zu wollen. Doch diese Maximen können solch eine Anforderung nicht erfüllen. Grice unterscheidet vier Kooperationsprinzipien, und zwar nach den (kantischen) Kategorien der Qualität, Quantität, Relation und Modalität. Diesen ordnet er vier kommunikative Maximen zu, nämlich Informativität, Wahrheit, Relevanz und Klarheit. Informativität, Relevanz und Klarheit sind bloß technische Kommunikationsmaximen, nur die Aufforderung: »Versuche deinen Beitrag so zu machen, dass er wahr ist«, formuliert eine moralische Maxime.31 In der Rhetorik sollte es darüber hinaus aber noch weitere moralische Maximen geben, etwa das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.32 Thomas Zinsmaier kritisiert den überlieferten Topos von der friedensstiftenden Macht der Rhetorik durch Kultivierung des Menschen, auf den sich Kopperschmidt beruft. Er referiert dazu den von Cicero in »De inventione« erzählten Mythos, nach dem ein weiser Mann in der Urzeit die Menschen durch die Macht sei Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 21

ner Beredsamkeit aus ihrem von Gier und Gewalt bestimmten Naturzustand in ein geordnetes Staatswesen geführt und sie von wilden zu sanftmütigen Wesen gemacht habe. Wenig später berichtet Cicero, irgendwann hätten sich jedoch eigennützige und unvernünftige Männer der Beredsamkeit bemächtigt, mit ihr die Menschen verführt und gegeneinander aufgehetzt, so dass sie dadurch in Verruf geraten sei.33 Zinsmaier hält fest, dass die Rhetorik also keineswegs gewaltlos verfahre, und erläutert nun die verschiedenen Aspekte rhetorischer Gewaltausübung. »Manipulation« oder »schwarze Rhetorik« sei per se schon gewalttätig, aber auch »rhetorische Überzeugung« oder »weiße Rhetorik« arbeite mit Gewalt z. B. in der Erregung von Hoffnung und Furcht durch Versprechen und Warnen.34 Die von Kopperschmidt propagierte Gewaltsubstitutionshypothese übertrage eigentlich das Modell der Dialektik auf die Rhetorik, womit der Unterschied zwischen beiden eingeebnet werde. Denn die Dialektik sei verständigungsorientiert, der Rhetorik aber gehe es um »Meinungsführerschaft«.35 Die Rhetorik werde außerdem bei Kopperschmidt als Akteur personifiziert. Doch sie bewirke für sich allein nichts und sei eine neutrale Technik. »Rhetorik steht also insofern in keinerlei alternativer oder konträrer Beziehung zur Gewalt; sie ist an sich völlig gewaltindifferent und als Technik nicht zugänglich für die Zuschreibung ethischer Prädikate oder Wirkungen.«36 Zinsmaiers Kritik an Kopperschmidts Gewaltsubstitutionshypothese verfährt sicher zu rigoros, wenn er das gewaltvermeidende Potential der Rhetorik gar nicht würdigt. Kulturell gesehen ist der Ersatz von physischer Gewalt durch rhetorisches Handeln zweifellos ein ethischer Fortschritt. Außerdem gibt es in Zinsmaiers Argumentation einen Widerspruch. Am Ende seines Aufsatzes stellt er fest, die rhetorische Technik sei gewaltindifferent, doch am Anfang spricht er von der »Macht der Rhetorik (oder genauer der Beredsamkeit)«37, die er dann anhand von »schwarzer« und »weißer« Rhetorik illustriert. Vielleicht lässt sich dieser Widerspruch handlungstheoretisch auflösen. Technik und Beredsamkeit stehen demnach nicht auf gleicher Ebene. Die Technik bzw. das technische System als Mittel der Beredsamkeit ist neutral; die Beredsamkeit selbst als eine ausgeübte Kunst, als Können und performance des Redners, aber enthält aufgrund ihrer persuasiven Intention ein 22 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

Überwältigungspotential, das dem Redner die »Meinungsführerschaft« in der Debatte bringen soll.38 Damit wäre die Beredsamkeit das Organ der rhetorischen Gewaltausübung. Wenn Zinsmaiers These vom Gewaltpotential der Beredsamkeit stimmt, stellt sich die Frage, ob der rhetorische Gewaltbegriff nicht noch genauer differenziert werden könnte. Aufschlussreich dazu sind einige der Gesichtspunkte, die Sybille Krämer in ihrer Analyse der Dimensionen sprachlicher Gewalt anführt. Zunächst stellt sie fest, dass das deutsche Wort »Gewalt« – anders als etwa engl. »violence« – in seiner Bedeutung die gegensätzlichen Elemente einer »rechtmäßigen, ordnungsstiftenden« und einer »unrechtmäßigen, zerstörerischen« Gewalt umfasst. Dieser Unterschied zeigt sich auch in der historischen Entwicklung des Begriffs. Im europäischen Mittelalter und in der frühen Neuzeit überwog die positive Bedeutung; seit dem 18. Jahrhundert aber ist ein Umschwung zu verzeichnen. Im Rahmen der Verrechtlichung des staatlichen Gewaltmonopols erscheint die Gewalt jetzt in doppelter Perspektive: einmal positiv als legitimes Mittel zur Durchsetzung des Rechts und einmal negativ als ein Verhalten, das die Rechte anderer verletzt.39 Eine weitere Bedeutungsverschiebung vollzieht sich im ausgehenden 20. Jahrhundert, und zwar durch die Entgrenzung des Begriffs: Nicht nur physische, auch psychische, strukturelle und moralische Formen der Zwangsausübung gelten jetzt als Manifestationen von Gewalt. Normative und evaluative Merkmale ersetzen damit die deskriptiven Gehalte des Gewaltbegriffs, was zu einem Verlust an Klarheit führt. Zugleich entsteht eine neue Aporie im Umgang mit Gewalthandlungen: Alle Mittel zu ihrer Einschränkung oder Bekämpfung führen letztlich zu mehr Kontrolle bzw. zur Begrenzung von persönlicher Freiheit und damit wiederum zu einem verstärkten Einsatz von Gewalt. Als Fazit aus der Janusköpfigkeit dieses Phänomens ergibt sich: Gewalt ist nicht mehr als das Gegenteil von Kultur, vielmehr als ihr unabdingbares Pendant zu verstehen, unhintergehbar verwoben mit unserer menschlichen Existenz und Lebensform, wobei symbolische Gewalt sogar als kulturelles Potential gelten kann.40 Sprache und Sprachgebrauch können physische Gewalt zwar beherrschbar machen oder ersetzen, sind dabei aber nicht einfach nur Mittel der Friedfertigkeit. Denn in der Sprachlichkeit jeder Mit Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 23

teilung selbst findet sich nach Krämer schon eine Form von Gewaltsamkeit, und zwar in der Struktur von Prädikation, wie vor allem Benjamin, Adorno und Derrida herausgestellt haben. Sprache, die das Einzelne unter allgemeine Begriffe subsumiert und es einem Urteil unterwirft, verfährt gewaltsam, wogegen das Singuläre als Phänomen in seiner Einzigartigkeit doch unaussprechbar ist und bleibt. Trotz dieser Gewalt der Prädikation bleibt die begrifflich operierende und Urteile bildende Sprache jedoch das grundlegende und kulturstiftende Mittel der Kommunikation für den Menschen.41 Wichtig an Krämers Erörterung des Verhältnisses von Sprache und Gewalt ist schließlich noch die Abgrenzung von sprachlicher und körperlicher Gewaltanwendung. Während diese physisch in einer Richtung vorgeht und der Täter sein Opfer zum Gegenstand der Aggression macht, beruht jene auf einer psychischen Interaktion zwischen Täter und Opfer. Dessen Mitwirkung am Geschehen hat daher keine natürliche und kausale, sondern eine menschliche, und zwar soziale Dimension, wie sich am Effekt der verletzenden Rede zeigt. Wirkungskraft hat diese Rede nicht per se, als sprachliche Äußerung gegenüber jemand anderem, sondern ihr Verletzungspotential entsteht erst daraus, dass der andere und ob er auf sie reagiert, sie gewissermaßen aufgreift. Der verletzende, z. B. beleidigende Sinn solcher Äußerungen entsteht aus den konkreten Bezügen der Interaktionspartner zur menschlichen Lebenswelt, aus geschichtlichen Praktiken im Umgang mit der Sprache, kulturellen Gewohnheiten, individuellen Absichten des Sprechenden und subjektiven Dispositionen des oder der Angesprochenen. Außerdem sind Beleidigungen an Gefühle gebunden, weshalb nicht nur das Verstehen, sondern auch die Empfindung einer verletzenden Äußerung die Kränkung hervorbringt.42 Krämers Unterscheidung von rechtmäßiger und unrechtmäßi­ ger Gewalt hat auch Bedeutung für die Rhetorik, weil man sie zum Ausgangspunkt der näheren Analyse von legitimer und illegitimer Wirkung einer Rede machen kann. Auch der Hinweis auf die grundlegende Bedeutung der Sprache für die Beherrschung von Gewalt ist wertvoll. Denn trotz des Gewaltpotentials der Prädikation bleibt die menschliche Kommunikation an den Gebrauch von Sprache gebunden und findet damit erst zur Möglichkeit ethischen 24 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

Handelns. Fragwürdig ist allerdings, dass Krämer ihre Untersuchung des Gewaltcharakters der Sprache nicht wirklich auf die Rhetorik als die eigentlich in Frage kommende Sprachhandlungstheorie erweitert. Sie erwähnt zwar Beispiele einer »Rhetorik verletzenden Sprechens«43, aber untersucht nicht rhetorische Wirkung als Ursprung von Gewalt und Aggressivität. Auch manifestiert sich der Gewaltcharakter der Sprache nicht nur in der Verletzung, sondern ebenso in der Verführung des Adressaten, die ihn zu unfreiwilligen Handlungen veranlaßt, womit der Gegenstandsbereich der Untersuchung eigentlich noch viel weiter ausgedehnt werden müsste. Wichtig ist aber ihre Feststellung, dass sprachliche Verletzung sehr oft das Resultat einer Interaktion von Sprecher und Hörer ist. Diese Interaktion ist auch unter rhetorischen Gesichtspunkten relevant, etwa wenn es um die oft unberechenbare Dynamik von Grenzverletzungen zwischen Überzeugung und Überredung geht. Zentral für die Rhetorik ist darüber hinaus Krämers Feststellung, dass sprachliche Gewalt zur Kultur gehört. Damit wird der von Zinsmaier erwähnte und anhand von Ciceros Mythos illustrierte rhetorische Topos der Ersetzung von physischer Gewalt durch menschliche Kultivierung und persuasiven Sprachgebrauch erneut interessant. 2. Kultivierung durch die Rede als Überwindung physischer Gewalt

Grundsätzlich ist zunächst festzustellen, dass die Kultivierung, d. h. der Ausgang des Menschen aus dem Naturzustand, sein Verhältnis zur Gewalt verändert. Diese Erfahrung prägt auch die rhetorische Kulturentstehungslehre44 zu Beginn von Ciceros Schrift »De inventione«. Um das zu verdeutlichen, seien zunächst die Konsequenzen des Übergangs von der natürlichen zur kulturellen Lebensform in der Sicht des Isokrates beschrieben. »[W]eil wir von Natur aus die Gabe besitzen, einander überreden und uns unsere jeweiligen Wünsche mitteilen zu können«, erklärt er in der »Rede des Niko­ kles«, »haben wir uns nicht nur davon entfernt, ein Leben wie Tiere zu führen, sondern wir haben uns zusammengetan, Poleis gegründet, uns Gesetze gegeben, die Künste erfunden, ja bei fast allen un Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 25

seren Erfindungen und Einrichtungen hat uns unsere Fähigkeit zu sprechen geholfen.«45 Diese Worte enthalten seine Kernthese, dass es die Sprache als Medium der wechselseitigen Äußerung von Bedürfnissen war, die den Menschen aus dem natürlichen, den Tieren ähnlichen Zustand herausgeführt und zu einem Kulturwesen gemacht hat. Isokrates nennt zwar neben der Gründung von Städten, dem Erlass von Gesetzen und der Entwicklung der Künste (d. h. der Techniken zur Herstellung des Lebensnotwendigen) noch weitere Kultivierungsmerkmale wie etwa den Ackerbau.46 Doch die dem gegenseitigen Nutzen dienende Sprach- bzw. Redefähigkeit des Menschen, d. h. genauer die Fähigkeit zur »vernünftigen Rede« (­lógos), die das Zusammenleben rational gestaltet47, sind für ihn die wichtigsten Kennzeichen der Kulturentstehung. Dass er den Akzent speziell auf den wechselseitigen Gebrauch der Rede und nicht auf die Sprache im Allgemeinen legt, erhellt aus einem Vergleich mit Demokrit. Auch dieser versteht die menschliche Kultivierung als Überwindung eines den Tieren ähnlichen Lebens, wobei die Sprachgenese die entscheidende Rolle spielt. Die Menschen hätten zunächst aus undeutlichen Lauten Worte geformt, dann miteinander Bezeichnungen für jedes Ding festgesetzt und so schließlich eine Verständigung erreicht, die ein kulturelles Zusammenleben ermöglichte.48 Der Hintergrund von Demokrits Theorie ist die Spekulation über den Ursprung der Sprache als Konvention, wogegen der Aspekt des konkreten sozialen Sprachgebrauchs in der Rede für ihn nebensächlich bleibt. Dieser ist aber für die rhetorische Kulturentstehungslehre zentral. Deshalb fragt Isokrates auch nicht nach der Sprachentstehung und deren Folgen für die Kultivierung, sondern setzt gleich bei der Sprachverwendung an. Charakteristisch für Rhetorik und Sophistik ist dabei das Faktum, dass sie die Entwicklung der Kultur als einen aufstrebenden Prozess, als eine Bewegung des Fortschritts und nicht als einen Vorgang des Verfalls nach dem Untergang eines »goldenen Zeit­ alters« wie etwa die Stoiker verstehen.49 Die bei Isokrates angenommene, den Tieren ähnliche Lebensweise der Menschen in der Urzeit muss nach Ansicht Ciceros ein Zustand permanenter Gewaltanwendung gewesen sein. In »De inventione« heißt es vom Naturzustand: Damals gab es eine Zeit, »in der die Menschen auf den Feldern weit zerstreut nach Art der 26 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

wilden Tiere umherschweiften und mit roher Nahrung ihr Leben fristeten und nichts durch geistige Tätigkeit, vielmehr das meiste durch ihre Körperkräfte besorgten«. Man beachtete noch nicht »die religiöse Scheu vor den Göttern, nicht die Pflichterfüllung gegenüber den Menschen, niemand hatte gesetzmäßige Eheschließungen gesehen, keiner seine Kinder mit Sicherheit als seine eigenen betrachtet, keiner hatte wahrgenommen, welchen Nutzen gleiches Recht bringt. So missbrauchte aus Wahn und Unwissenheit die Leidenschaft, die blinde und zügellose Herrin über die Seele, zu ihrer eigenen Befriedigung die Kräfte des Körpers […].«50 Die Anwendung von Gewalt ergibt sich also aus primitiven Lebensverhältnissen, die vor allem den Einsatz der Körperkraft erfordern, von Unwissenheit gekennzeichnet sind, den Ausbruch heftiger Leidenschaft begünstigen und noch keine das Leben zivilisierenden Institutionen wie Religion und Eheschließung oder die Kodifizierung von Moral und Recht kennen. Die Situation änderte sich nach Cicero erst, als »ein offenbar bedeutender und weiser Mann« die schlummernden Talente der Menschen erkannte. Dieser trieb sie »nach einem bestimmten Plan an einem bestimmten Ort zusammen und vereinigte sie zu einer Gemeinschaft und [leitete sie] zu jeder einzelnen nützlichen und ehrenhaften Tätigkeit [an]«. Dagegen erhoben sie zuerst, »weil sie nicht daran gewöhnt waren, lautes Geschrei […], wobei sie dann aber, weil der Mann Vernunftgründe vorbrachte und gewandt sprach, aufmerksamer zuhörten […]«. So machte er sie »aus wilden und schrecklichen zu sanften und zugänglichen Wesen«.51 Ciceros Spekulation über die Kulturgenese will nicht nur erklären, wie es angeblich gewesen ist, sondern sie hat darüber hinaus auch eine apologetische Tendenz. Denn jede frühe Kulturtheorie ist eine Erzählung, die von einem Paradox gekennzeichnet ist: Der »Ursprung« ist die Rekonstruktion eines Zustands, der diesem Konstrukt nicht real vorausliegt, sondern immer erst nachträglich fingiert wurde. »Über den Ursprung reden heißt, ihm schon entsprungen sein.« (Hegener)52 Deshalb ist ein Ursprungsmythos kein Tatsachenbericht, sondern eine mit bestimmten Deutungen versehene Geschichte, deren Tendenz und Gehalt man interpretativ herausarbeiten muss. Das gilt auch von der rhetorischen Kulturentstehungslehre Ciceros. Er will, wie die gesamte Einleitung von »De  Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 27

inventione« zeigt, die von ihm so hochgeschätzte Beredsamkeit (eloquentia) gegen Kritik und Diffamierung verteidigen, indem er sie mit der Weisheit (sapientia) in Verbindung bringt.53 Cicero fragt daher nicht nach der Herkunft des weisen Mannes, den er unvermittelt als Kulturstifter auftreten lässt54, sondern beschreibt allein die segensreichen kulturellen Folgen der von diesem praktizierten Beredsamkeit. Offenbar soll der weise Mann nur als Beispiel dafür dienen, wie man mithilfe von Weisheit und Beredsamkeit auf körperliche Gewalt als Mittel des Umgangs verzichten und zu gemeinschaftlichem anstelle von egoistischem Handeln finden kann. Cicero will damit den Wert der Redekunst für das menschliche Zusammenleben hervorheben. Wichtig ist in seiner Beschreibung der Kulturgenese die Rolle, die die aus der Weisheit hervorgehende Vernunft dabei von Anfang an spielt, denn sie ist wie schon in Isokrates’ lógos-Begriff mit der Sprachlichkeit der Rede untrennbar verbunden. In »De officiis« beantwortet Cicero später die Frage nach den natürlichen Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft mit dem Hinweis, deren »Band [sei] das Denk- und Redevermögen [ ratio et oratio ], das durch Lehren und Lernen, durch das Gespräch miteinander und gegeneinander und durch Urteilen die Menschen untereinander versöhnt und verbindet […]«.55 Der Gebrauch der Sprache als Rede hat also im Kulturzustand die soziale Kooperation hervorgebracht und so körperliche Gewaltsamkeit ersetzt, die während der wilden und tierischen Anfänge der Menschheitsgeschichte herrschte. Cicero betrachtet diesen Prozess vom Aspekt des einzelnen, des großen Redners her, während Isokrates die Kultivierung als kollektives Ereignis deutet56. Der Gebrauch der vernünftigen Rede ist aber nicht nur ein Mittel, um die Menschen als Gattungswesen zu kultivieren, sondern sie erfordert, wie beide Autoren später an anderer Stelle ausführen, auch die Selbstkultivierung des sprechenden Individuums, die Bildung von dessen eigener Natur zum Redner. Während nach rhetorischem Verständnis bei der gattungsmäßigen Kultivierung die Natur als überwundene Größe verschwindet, bleibt sie im individuellen Bildungsprozess erhalten: als natürliche Anlage des Schülers. Sie stellt das Talent zur Rede mit den körperlichen Voraussetzungen zum Vortrag wie Stimme oder Statur bereit und wird ihrerseits im Vorgang der Bildung verändert: eben kultiviert. Isokrates sieht in 28 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

einer geeigneten Physis die wichtigste Bedingung für den werdenden Redner57; Cicero fordert sogar die herausragende Bildung der eigenen Naturanlagen, um in dem »Punkt, in dem die Menschen einen wesentlichen Vorzug vor den Tieren haben, die Menschen selbst zu übertreffen«.58 In diesen Passagen aus den einleitenden Paragraphen von »De oratore« skizziert er schon sein Ideal des orator perfectus: Die Beherrschung der Redekunst ist jetzt nicht mehr nur ein Mittel, um die Mitmenschen zu kultivieren, sondern auch, um selbst kultiviert zu werden. Individuelle Kultur ist unter dem Einfluss des agonalen, auf die Griechen zurückgehenden Bildungsideals sogar zum Unterscheidungsmerkmal des Einzelnen gegenüber den anderen geworden. Doch das führt nicht zur Isolierung von der Gemeinschaft, im Gegenteil: Die rhetorische Kultiviertheit des Individuums zeigt sich gerade beim geselligen Umgang mit anderen Menschen, und zwar in der passenden Ausdrucksweise und im zivilisierten Verhalten, also in all dem, was »Urbanität« heißt.59 3. Redewirkung als Mittel der Vermeidung physischer Gewalt

Aus der Darstellung, die Cicero vom Übergang der Menschen aus dem Stadium der tierischen Wildheit in den Zustand der Zivilisation liefert, lassen sich einige bemerkenswerte Aspekte des rhetorischen Verhältnisses von Kultur und Ethik herleiten. Seine detaillierte Schilderung des Persuasionsaktes geht davon aus, dass der »bedeutende und weise Mann« die zerstreut lebenden Menschen »zusammentrieb«, wogegen sie zunächst »lautes Geschrei« erhoben, dann aber »aufmerksamer zuhörten« und zuletzt aufgrund der »gewandt« gesprochenen und vernünftigen Worte »aus wilden und schrecklichen zu sanften und zugänglichen Wesen« wurden. Körperliche Gewalt verwendet dieser Weise nur zu Anfang, als er die Menschen zusammentreibt; dann aber verzichtet er darauf und macht seinen Einfluss auf sie nur noch durch den »zwanglosen Zwang«60 seiner Worte geltend. Auch die Zuhörer verzichten auf die ihnen verfügbare Form von Gewalt: Sie geben ihren Widerstand auf und wandeln sich von widerspenstigen in sanftmütige Wesen, die der Wirkung von Beredsamkeit und Vernunft zugänglich geworden sind. Nach Cicero wird Gewalt durch die zivilisie Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 29

rende Macht der Worte also nicht nur überwunden, sondern jetzt auch bewusst vermieden, denn sowohl Redner wie Zuhörer hätten weiterhin die Option zur Anwendung von körperlichem Zwang bzw. von physischem Widerstand gehabt. Damit kommt ein ethischer Aspekt in Ciceros Schilderung des Kultivierungsvorgangs: Das Handeln der Menschen erscheint als Resultat einer bestimmten Wahlentscheidung zwischen mehreren Alternativen.61 Indiz dafür ist seine Charakterisierung der gewaltsamen Handlung als »Leidenschaft«, die »als blinde und zügellose Herrin über die Seele« aus »Wahn und Unwissenheit« die Kräfte des Körpers« missbrauche.62 Mit dieser zugespitzten, wertenden Formulierung fällt er ein moralisches Urteil über gewaltsames Handeln, wogegen er vorher nur neutral einen Vorgang zwischen verschiedenen Akteuren und dessen Resultate beschrieb. Gewalt vor und nach der Kultivierung stellt sich nach Cicero also in verschiedener Perspektive dar: Gewaltausübung im Naturkontext, die aus einem Zustand tierischer Wildheit entsteht, erscheint als unkontrolliert ablaufender Prozess und triebhaft; Gewalt im Kulturkontext, selbst wenn sich Wildheit und Triebhaftigkeit in ihr äußern, enthält aufgrund des veränderten Umfeldes, in dem sich das menschliche Leben jetzt abspielt, immer ein Element von bewusster und zu verantwortender Entscheidung, für die der Täter sich rechtfertigen muss.63 Nun könnte man einwenden, Überwindung und Vermeidung von Gewalt seien beinahe dasselbe und würden im konkreten Handlungsakt praktisch zusammenfallen. Und doch sind sie ethisch gesehen zu unterscheiden, denn »Überwindung« bedeutet hier nur »Ersetzung« von Gewalt, wogegen »Vermeidung« die moralische Entscheidung betrifft, auf Gewalt zu verzichten. Erst mit dieser Entscheidung wird die kulturelle zugleich zur ethischen Handlung. Auch der im obigen Isokrates-Zitat verwendete Ausdruck »ein Leben führen« enthält neben dem kulturellen einen ethischen Aspekt. Strenggenommen »führen« nur die Menschen, nicht aber die Tiere ihr Leben.64 Für diese ist das Leben allein ein vitaler Vorgang. Es stellt ihnen nicht die geistige Aufgabe, den Freiheitsspielraum ihrer Existenz zu gestalten, indem sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten, ihre Handlungen begründen und Verantwortung dafür übernehmen. Das Tier kennt keine Spannung in sich zwischen Höherem und Niederem, keinen Gegensatz von Geist und 30 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

Sinnlichkeit. Diesen Gegensatz vermag nur der Mensch nach der und durch die Kultivierung reflektierend in seinem Leben so oder so zu gestalten und eine ganze Skala von ethischen Realisierungen dieses Verhältnisses zu entwerfen. Voraussetzung dazu ist der Erwerb von Bildung in den verschiedenen Phasen seines Lebens, alles Möglichkeiten, die dem Tier fehlen.65 Isokrates beschreibt im »Nikokles« genauer, welche Konsequenzen Erziehung und Beredsamkeit für die menschliche Lebensführung haben: »Die Sprache (lógos, die vernünftige Rede) nämlich ist es, die Richtlinien gegeben hat für das Gerechte und Ungerechte, für das, was schändlich und ehrbar ist. Ohne diese Richtlinien könnten wir nicht miteinander leben. Mit unserer Sprache […] weisen wir die Schlechten zurecht und rühmen die Guten. Mit Hilfe der Sprache erziehen wir die Unvernünftigen und zeigen den Verständigen unsere Anerkennung. Denn reden zu können, wie es nötig ist, dies betrachten wir als größtes Zeichen für Vernunft, und ein aufrichtiges, gesetzestreues und gerechtes Wort ist Abbild einer guten und vertrauenswürdigen Seele.«66 Wieder werden kultureller und ethischer Aspekt zusammengeführt, und zwar diesmal bezogen auf die vernunftgeleitete und soziale Funktion rhetorisch geformter Sprache. 4. Redewirkung als Quelle neuer psychischer Gewalt

Cicero beschreibt am Anfang von »De inventione« gewissermaßen die ethische Urszene der Rhetorik, wenn er zeigt, wie der Einfluss der Beredsamkeit physische, also körperliche Gewalt vermeiden kann. Er weiß allerdings auch, dass die Rhetorik ihrerseits neue, und zwar psychische Gewalt hervorzurufen vermag, die das Denken und Fühlen der Menschen verändert. Diesen Fall behandelt er im weiteren Verlauf der Einleitung zu seiner Schrift. Jetzt wählt er das Beispiel nicht mehr aus der Kulturgenese der Menschheit, sondern aus der Geschichte Roms in der späten Republik, als »verwegene Männer« ohne Bildung und Weisheit die Redekunst für ihre eigenen Zwecke ohne Berücksichtigung des Gemeinwohls benutzten. Damals kümmerten sich die »weisen Männer« nur um die politische Lenkung des Staats, nicht aber um das Prozesswesen vor Gericht. Dieses wurde daher zum Betätigungsfeld von skrupellosen  Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 31

Advokaten, die ihrerseits an die Spitze des Staates kamen, die weisen Männer verdrängten und die res publica ruinierten.67 Wieder geht es Cicero also um die Vermeidung von Gewalt: diesmal aber nicht der Gewalt der Lebensumstände, die sich mithilfe der Rhetorik unschädlich machen lässt, sondern die von der Beredsamkeit selbst ausgehende, die ohne Verbindung mit Weisheit handelt und Ausdruck der vorher kritisierten Leidenschaft und Begehrlichkeit ist. Als Mittel zur Vermeidung dieser Form von Gewalt empfiehlt er die Orientierung an der Redekunst rechtschaffener Männer wie Cato, Laelius und Scipio Africanus, deren Beredsamkeit ihrem Ansehen entsprach und »dem Staat Schutz brachte«.68 Die Auffassung, die persuasive Rede sei nicht nur ein Mittel, um Frieden zu stiften, sondern übe selbst auch psychische Gewalt aus, war jedoch bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland unter den Gegnern der sophistischen Rhetorik weit verbreitet. Das »gewaltig reden« (deinós légein) galt als ein Verhaltensmerkmal von Politikern und Sophisten wie etwa des Antiphon69, das schon die damalige Öffentlichkeit mit Misstrauen registrierte. Die Redegewalt dieser Männer zeigte nicht nur ihr großes Geschick im Gebrauch der Beredsamkeit, sondern ihre Wirkung spiegelte auch die Erfahrung vieler Leute, einem geradezu hypnotischen Einfluss beim Hören ausgeliefert zu sein, ohne dass man genau wusste, woher dieses Gefühl kam.70 Ein Mittel dieser Redegewalt war der sophistische élenchos, die Widerlegung des Gegners im Streitgespräch, das ihn bloßstellte und vorführte. Dabei kam es dem Redenden weniger auf die Widerlegung in der Sache an als vielmehr auf den Sieg über den Kontrahenten. Der élenchos war in seiner Funktion für viele undurchschaubar und sollte vor allem die umstehenden Hörer fesseln; er wollte den Gegner kompromittieren und dem Gelächter preisgeben.71 ´Elenchos und Redegewalt gehörten zum sophistischen RedeAgon, zum kämpferischen Wettbewerb zwischen He­rausforderer und Gegner und zum Bestreben, sich aneinander zu messen und den Besten zu ermitteln. Nicht der Sieg der Wahrheit und des Richtigen war das Ziel, sondern die Bewährung aufgrund von Geschick und Wendigkeit, denn der Agon schied das Kraftvolle vom Schwachen, das Echte vom Falschen. Schiedsrichter des sophistischen Rede-Agons waren das Publikum und überhaupt die Öffentlichkeit. Formen des Rede-Agons gab es außer im streit­baren Wech32 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

selgespräch auch als Vortrag gegensätzlicher Reden zum selben Thema. Protagoras, der wahrscheinlich als erster die Rede-Agone einführte, verfasste eine Schrift mit dem Titel »Niederringende Reden«, in denen er beschrieb, wie man nach Platons spöttischem Wort ein »Athlet im Kampfsport Reden« werden könne. Außerdem lehrte er in seinem Unterricht, die schwächere Seite zur stärkeren zu machen.72 Die Gewaltsamkeit sophistischer Rede, die sich offen im élenchos und im Rede-Agon zeigte, wirkte hintergründig auch im Konzept der Überredung (peithó) des Gorgias. Rhetorik war für diesen psychagogía diá lógon, die »Seelenführung durch Worte«, so dass der Redner »den meisten Glauben beim Volke« finde und dabei »gegen alle und über alles« reden könne, »worüber er nur will«.73 Gorgias setzt auf die Bedeutung der Meinung (dóxa) für die Konstitution von Seele und Rede. Die Meinung ist für ihn ein zentraler Baustein der Seele; diese wird regiert von der Rede, die eine aktive, beherrschende Rolle in ihr spielt, sie formt und aufwühlt. Zugleich hat die Meinung eine schwankende, in die Irre führende Gestalt; sie ist der Wahrheit, die als Ziel der Rede gänzlich aus dem Gesichtskreis des Gorgias verschwunden ist, strikt entgegengesetzt. Er mahnt nirgends dazu, sich der Macht der Meinung durch Bemühung um die Wahrheit zu entziehen, sondern zeigt besonders in seiner Lobrede auf Helena nur, wie die dóxa zu handhaben ist. Dort vergleicht er die Rede, die die Meinung bildet, mit einem Wirkstoff, einer Droge wie in der Medizin, die eine Täuschung in der Seele hervorruft, was für Gorgias keineswegs schlecht, sondern manchmal sogar höher als die Wahrheit einzuschätzen ist. Die Rede nötigt die Seele des Hörenden zur Passivität; sie ruft Emotionen hervor oder nimmt sie hinweg, ganz wie der Redner es will.74 Gorgias thematisiert hier nicht den sozialen, sondern den individuellen Nutzen der Redekunst, die es dem Redenden ermöglicht, seine eigenen Ziele durchzusetzen. Dies sind nur einige Beispiele für Methodik und Theorie persuasiver Redegewalt, wie sie die Sophistik damals entwickelt hatte. Dazu kamen noch Hinweise etwa zur Gestaltung einer wirkungsvollen Vortragsweise mit besonderer Stimmführung, Mimik und Gestik, denn erst diese machen eine Rede lebendig, wobei die Sprache des Körpers besonders die Emotionen der Zuhörer beeinflussen  Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 33

sollte. Die Macht der Rhetorik beruhte allerdings nicht nur auf der Wirkung der mündlichen Rede, sondern auch auf der Entwicklung technischer Hilfen zur methodischen Planung des Redeerfolgs. Die Sophisten verfassten nämlich Handbücher für das Entwerfen von Reden (téchnai), wobei sie von ihren eigenen Texten, die als Mus­ ter und Lehrstoff für ihre Schüler dienten, ausgingen und danach den Unterricht gestalteten.75 Die technisch angeleitete, zudem jetzt auch in schriftlicher Form vorbereitete Rede erlaubte ein besseres Kalkül der Wirkung je nach Anlass und Thema. 5. Die ethische Beherrschung psychischer Gewalt in der Rede

Die sophistische Rhetorik beeinflusste mit ihrer Redepädagogik aber nicht nur die Erziehung des einzelnen Bürgers, sondern formte zunehmend auch die Beredsamkeit in den politischen und juristischen Institutionen der Stadt Athen. Die Funktion dieser Institutionen basierte auf Mehrheitsentscheidungen, welche nach der Einführung der Demokratie die alleinige Entscheidungsbefugnis einzelner mächtiger Personen – seien es Adelshäupter oder Tyrannen – abgelöst hatten und so die Handlungsmöglichkeiten der Bürgerschaft sicherten. Diese Mehrheitsentscheidungen kamen durch rhetorische Auseinandersetzungen der verschiedenen Interessengruppen und ihrer Vertreter in oft schwierigen, meist auch kontrovers beurteilten Situationen zustande, wobei die geschickte Handhabung der Redegewalt natürlich einen großen Vorteil darstellte. Zu den Nachteilen der Anwendung dieser Gewalt gehörte es aber, dass sie nicht nur ein großes Wirkungs-, sondern auch Verführungspotential hatte, welches das Volk zu unbedachten Entschlüssen verleiten konnte. Nutzen und Schaden dieser Form von Gewalt lagen also nahe beieinander. Die großen Reden in der athenischen Volksversammlung, die Entstehung, Verlauf und Ausgang des Peloponnesischen Krieges begleiteten, liefern eindrucksvolle Beispiele dafür.76 Der Einfluss, den die Redekunst auf das öffentliche Leben im 5. und 4. Jahrhundert nicht nur in Athen, sondern auch in anderen Städten Griechenlands ausübte, führte daher zu der Frage: Wie kann die persuasive Gewalt, die von der Rhetorik ausgeht, gezähmt werden? 34 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

Dieses Problem wurde vor allem von der Philosophie aufgeworfen, denn Rhetorik und Sophistik waren aufgrund der Erfahrungen, die aus den desaströsen Folgen einer verfehlten Machtpolitik resultierten, fortwährender Kritik an ihrem Handeln vor allem von Seiten der Philosophen ausgesetzt. Die Philosophie hatte dem Menschen mit der theoretischen Analyse Macht über die Dinge, d. h. über die Welt außer ihm, verschafft, wie es die Erkenntnisse der ionischen Naturphilosophen belegen. Sokrates aber setzte dem die Praxis ethischer Reflexion entgegen und zeigte seinen Dialogpartnern im philosophischen élenchos, der sich nicht um Überwältigung, sondern um die kritische Überprüfung vorgefasster Meinungen bemühte77, wie der Mensch auch Macht über sich selbst, d. h. die Herrschaft über die eigenen Antriebe und Interessen, erringen könne. Die dialogische Rechenschaftslegung, das lógon didónai, bildete das Grundprinzip, das Sokrates für die Ethik entdeckt, mit seinen Verfahren der Induktion bzw. der Maieutik im Gespräch angewandt und an Platon weitergegeben hatte.78 Die Kritik der Philosophie am Bestreben der Rhetorik, Macht über andere Menschen zu gewinnen, äußert sich besonders in dessen Dialog »Gorgias«. Platon entwirft dort das Bild des nach seiner Auffassung wahren Redners. Dieser ist ein »rechtschaffener Mann (agathós anér), der um des Besten willen sagt, was er sagt […]«. Der »rechte und kunstmäßige Redner« wird darauf sehen, dass »Gerechtigkeit in die Seele seiner Mitbürger kommen möge, Ungerechtigkeit aber weiche und Besonnenheit […] und so jede andere Tugend hineinkomme […]«. Ohne Ordnung und Anstand bzw. Recht und Gesetz nimmt die Seele des Menschen Schaden.79 Gut sind die besonnene Seele und der besonnene Mann. »Wer also ein richtiger Redner werden will, muss notwendig gerecht und des Rechtes kundig sein […].«80 Das Gute, das er mit seiner Rede erstrebt, besteht nicht nur im Nutzen für ihn selbst, wie es die Sophisten proklamierten, sondern orientiert sich an der Idee des Guten als Prinzip der Moral, das auch nach dem Guten des Nützlichen fragt.81 Die Forderung nach ethischer Beherrschung der Redegewalt blieb in der Folgezeit ein wichtiges Thema in Philosophie und Rhetorik. Sokrates, Platon und später die Stoiker banden die Rhetorik an Tugendhaftigkeit und die Erkenntnis des Wahren durch den Gebrauch der Dialektik.82 Aristoteles band sie an die Überzeugungs Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 35

kraft des Wahren,83 Cicero  – wie die Interpretation von »De inventione« gezeigt hat – an die philosophische Weisheit. Auch das auf Cato d. Ä. zurückgehende Ideal des vir bonus dicendi peritus84 propagierte die ethische Beherrschung der Redegewalt, wie sich besonders an Quintilian zeigt. Leitbild seiner Erziehungslehre, der »Institutio rhetorica«, ist der »vollkommene Redner (orator perfectus)« in dem Sinne, dass nur »ein wirklich guter Mann (vir bonus) ein Redner sein kann«, woraus folgt, dass er nicht nur eine »hervorragende Redegabe, sondern [auch] alle Mannestugenden« besitzt.85 Quintilian will den »Versuch wagen«, dem Redner »den Halt sittlicher Lebensführung« zu geben und »ihm seine festen Pflichten« zuzuweisen.86 Er setzt sich damit von denen ab, »die die Redegabe trennen von der Leistung einer untadeligen Lebensführung«87, die sie also wie viele der alten Sophisten und der Forumsredner seiner Zeit als bloße Überredungskunst im Dienste des Nützlichen verstanden wissen wollen. Um dieses Ideal zu erreichen, muss der angehende Redner seine Anlagen durch ausgiebige Studien des ganzen »Gebiet[es] des Gerechten und Guten« zur Sittlichkeit ausbilden.88 Quintilian entwirft damit sein Rednerideal als Synthese aus ciceronischem summus orator, der perfekt die rhetorischen Wirkungspflichten des Belehrens, der Unterhaltung und der leidenschaftlichen Erregung seiner Zuhörer beherrscht89, sowie stoischem vir sapiens, der nach der Tugendlehre Zenons und seiner Schülerschaft lebt.90 Dennoch ist er sich bewusst, dass die Rhetorik auch mit dem Einsatz von psychischer Gewalt arbeitet, und zwar als Strategie zur Überwältigung der Zuhörer, was nach seiner Meinung manchmal nötig ist. Er vergleicht die Rhetorik mit einer »Ausrüstung«, die der Redner »als Waffen zur Hand haben, mit ihrer Kenntnis gegürtet« sein muss, »wozu dann geläufige Fülle in Worten und Figuren, die Auffindungslehre, die Übung in der Gliederung, die Kraft des Gedächtnisses und der Reiz des Vortrages hinzukommt«.91 Der Redner braucht »die Überlegenheit des Geis­ tes, die keine Furcht brechen, kein Zuruf schrecken« kann.92 Er ähnelt für Quintilian darin einem Feldherrn, der in den Krieg zieht und seine Truppen aufstellt. Bald wird er »frontal, bald in Keilform, bald mit Hilfstruppen, bald mit dem römischen Aufgebot den Kampf führen, manchmal wird es sich bewähren, sogar kehrtzumachen und Flucht vorzutäuschen«.93 36 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

Die moralischen Probleme, die dem vir bonus aus der Anwendung der persuasiven Redegewalt entstehen, erörtert Quintilian an vielen Stellen seines Buches, und zwar im Horizont der Spannung von Ehrenhaftem (honestum) und Nützlichem (utile), wie Cicero sie in seiner auf den Stoiker Panaitios zurückgehenden Schrift »De officiis« behandelt.94 Nutzen und Ehrenhaftes gehören für Quintilian zwar prinzipiell zusammen, sind aber in der Praxis oft nur mit Kompromissen zu vereinigen. Das erläutert er anlässlich seiner Erfahrungen mit dem Publikum im Kapitel über die Beratungsrede95, denn nach der aristotelischen Definition der Redegattungen ist das Ziel der Beratung die Information der Zuhörer über Nutzen und Schaden eines Sachverhalts.96 Quintilian plädiert dafür, die entsprechenden Themen vor dem Publikum nach dessen Fassungskraft zu behandeln, denn meist besteht es aus ungebildetem Volk. Ihm ist klar, dass der Redner, um seine Zwecke zu erreichen, dabei manchmal dem »Laster« frönt, also eigentlich unehrenhaft handelt bzw. Mittel psychischer Gewalt wie Schönfärbung, Abschwächung, Verfälschung, Insinuation oder Verschweigen der Wahrheit bzw. Aussage des Gegenteils97 anwendet. Bedingung solch einer Handlungsweise muss aber sein, dass er die Lüge nur für den Sieg der Wahrheit einsetzt, den Unterschied zwischen beiden genau kennt und sich nicht selbst in seinem Lügengewebe verfängt. Außerdem begründet Quintilian den persuasiven Gebrauch von Lüge und Täuschung mit der psychischen Disposition des Publikums: »[…] gäbe man mir Philosophen als Richter, beständen die Volksversammlungen und alle Sitzungen aus Philosophen, hätte der Neid, hätte der Einfluss keine Macht, auch die vorgefasste Meinung nicht und die falsche Zeugenaussage, so wäre der Raum für die Rhetorik recht schmal […]. Wenn aber die Zuhörer so schwankenden Sinnes sind und auch die Wahrheit so vieler Bosheit ausgesetzt ist  – so heißt es, mit Kunstgriffen zu kämpfen und einzusetzen, was nützen kann.«98 Dies ist für ihn auch in einer Gerichtsverhandlung keine Schande, wenn der Fall selbst nicht unehrenhaft ist99 oder wenn die Übernahme »aus gutem Grunde geschieht […]. Denn auch sich einer Lüge zu bedienen ist selbst dem Weisen zuweilen gestattet, die Leidenschaften wird der Redner notwendigerweise erregen müssen, wenn der Richter auf andere Weise nicht zur Billigkeit gebracht werden kann; denn es sind ja unerfahrene Schöffen, die zu Gericht  Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 37

sitzen, und häufig muss man sie deshalb täuschen, damit sie nicht irrtümlich richten.«100 Doch nicht nur die Lüge, auch die Verteidigung eines Verbrechers mit allen rhetorischen Finessen kann nach Quintilian moralisch gerechtfertigt sein. »Angenommen, ein guter Feldherr, ein Mann, ohne den der Staat den Feind nicht besiegen könne«, heißt es im 12. Buch seiner »Institutio oratoria«, also ein geschickter Militärstratege, »stehe wegen ganz klarer Schuld vor Gericht, wird ihm dann nicht das Gemeinwohl den Redner zum Anwalt bestellen?«101 Die Güterabwägung, die das Handeln des Redners hier bestimmen soll, ist klar: die offenbare Schuld des Feldherrn gebietet eine Verurteilung, Gemeinwohl bzw. Staatsinteresse erfordern aber einen Freispruch. Der Freispruch aus Staatsräson muss in dieser schwierigen Situation nach Quintilian das Ziel des Redners sein, und darauf soll er hinarbeiten. Die staatsethisch motivierte Entscheidung, die Straffreiheit des Übeltäters als höheres Gut über Recht und Gesetz zu stellen, verbindet sich für den Redner jetzt mit dem Persuasionsproblem: Wie kann er als Anwalt so plädieren, dass die von ihm anvisierte Straffreiheit plausibel wird, damit der Richter den Feldherrn nicht schuldig spricht und so zur Sühne für das Unrecht verurteilt? Der Redner hat damit eine zweite Entscheidung zu fällen: Er muss nicht nur die Deckung des Unrechts für sich akzeptieren, sondern er muss danach ebenfalls sein rhetorisches Vorgehen einrichten. Das heißt: Auch seine redetechnischen Entschlüsse bezüglich der Wahl der Mittel zur Anwendung psychischer Gewalt bekommen eine ethische Qualität. Wie bei einem so problematischen Fall wahrscheinlich, wird der Redner nicht mit einer simplen Darlegung des Sachverhalts wie z. B. des Staatsnotstands durchkommen, sondern er muss auch versuchen, die Wahrheit zu verbiegen bzw. zu verschweigen, also zu den bekannten rhetorischen »Tricks« von Täuschung und Lüge greifen. Dazu kommt die Erregung der Leidenschaften beim Richter bzw. bei den Schöffen. Denn die Redekunst wird dort unwiderstehlich, »wo es […] gilt, dem Gefühl der Richter Gewalt anzutun und den Geist selbst von dem Blick auf die Wahrheit abzubringen […]«, wie Quintilian ausführt. »[…] Beweise bringen es ja freilich zustande, dass die Richter unsere Sache für die bessere halten, die Gefühlswirkungen leisten es, dass sie das auch wollen […] Denn wenn sie Zorn, Vorliebe, Hass und Mit38 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

leid zu spüren begonnen haben, sehen sie die Dinge schon so, als ginge es um ihre eigene Sache, und wie Liebende über die Schönheit kein Urteil zu fällen vermögen, weil ihr Herz ihnen vorschreibt, was die Augen sehen sollen, so verliert der Richter allen Sinn für die Ermittlung der Wahrheit, wenn er von Gefühlen eingenommen ist.«102 Ein rednerisches Vorgehen wie dieses ist für Quintilian mit seiner Vorstellung von Ehrenhaftigkeit durchaus vereinbar, damit die Richter nicht – wie er sagt – »irrtümlich« richten, sondern dem Gemeinwohl und damit der Staatsräson dienen.103 Quintilian führt in seinem Buch neben moralischen Gesichtspunkten auch erkenntnistheoretische und handlungspraktische Argumente für dieses parteiliche Lavieren der Rhetorik zwischen Nutzen und Ehrenhaftigkeit an. In einer von Notwendigkeiten und Zwängen bestimmten Welt kann es nicht immer eine säuberliche, wissenschaftlich oft erst mühsam und aufwendig erreichbare Unterscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum geben, sondern das Handeln muss sich meist am Vorläufigen und Wahrscheinlichen orientieren. »Ist es denn nicht so«, fragt Quintilian, »dass die Rhetorik gar nicht durchaus den Anspruch erhebt, immer die Wahrheit zu sagen, wohl aber immer das Wahrscheinliche?«104 Dabei kann es sogar zu unterschiedlichen, aber dennoch gleichberechtigten Sichtweisen kommen, wie er feststellt, denn bisweilen können auch »gerechte Streitfälle zwei weise Männer in Gegensatz bringen […].«105 In diesem Fall lässt sich die Rhetorik sogar für beide Seiten eines strittigen Sachverhalts in Anspruch nehmen, eine Erfahrung, welche die Subjektivität und Parteilichkeit rhetorischen Handelns spiegelt. Zur wahrscheinlichkeitsbestimmten Sicht der Welt gehört für Quintilian zudem die Veränderlichkeit der Dinge, die je nach Umständen so und auch anders gegeben und zu bewerten sind, sei es, dass man – wiederum im Gerichtsprozess – eine Tat als bloßes Faktum hinnimmt oder aber von ihren Ursachen her beleuchtet, oder sei es, dass eine an sich gute Tat dennoch für das Staatsinteresse schädlich ist, weshalb man dann nicht zu ihr raten kann.106 Wie man sieht, hat Quintilian die Problematik und Komplexität moralischer Fragestellungen in der Rhetorik gut beschrieben. Charakteristisch ist, dass er in seinen ethischen Überlegungen für eine flexible Anwendung von Normen plädiert, die sich nicht an fixen Prinzipien orientiert, sondern versucht, sich jedem einzelnen  Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 39

Fall anzupassen und ihm so gerecht zu werden. Daher misstraut er trotz seiner Empfehlung eines intensiven Ethikstudiums und seiner Orientierung an den Lehren der Stoiker doch der Philosophie bei der Lösung praktischer Fragen. Denn der Redner sollte für ihn nicht zum Philosophen werden, da keine andere Lebensform sich weiter von den rednerischen Aufgaben in der Bürgerschaft entfernt habe.107 Quintilian spielt hier die theoretische, weltabgewandte Form der Philosophie gegen die weltzugewandte, lebenspraktische Weisheit aus, wie sie in der nachahmenswerten Tugendhaftigkeit der römischen Vorfahren verwirklicht ist.108 Doch können wir als moderne Menschen mit seinen Lösungsvorschlägen nicht zufrieden sein, da er sich auf einen recht unbestimmten Tugendbegriff zurückzieht und für die ethische Urteilsbildung im Handeln nur einige wenige und dazu sehr allgemeine Maximen wie die schwierige Verbindung des Ehrenhaften mit dem Nützlichen benennt. Außerdem entscheidet sein ethisches Empfinden oft anders als unser modernes, das durch die strengen Moralbegriffe des 18. Jahrhunderts geprägt ist, wie sich vor allem an Quintilians Legitimierung des Freispruchs für einen Verbrecher aus Gründen der Staatsräson zeigt. Überdies gehört die primäre Beachtung des Ehrenhaften als Handlungsmaxime für uns heute wohl eher zum Moralkodex traditionaler Gesellschaften, wogegen die moralische Leitnorm einer modernen Gesellschaft in der Beachtung der Menschenwürde zu suchen ist. Doch dies gehört zur Frage der Gestalt einer zeitgemäßen rhetorischen Ethik, um deren Beantwortung es im Folgenden gehen wird. 6. Rhetorik, Ethik, Gewalt und Kultur: ein Resümee

Ausgangspunkt für die Grundlegung einer rhetorischen Ethik bleibt die Feststellung von Habermas, dass das Gewaltmoment an der Rhetorik nicht zu tilgen ist. Die rhetorische Forschung hat sich bisher vor allem mit der Frage beschäftigt, ob die Rhetorik überhaupt eine Erscheinungsform von Gewalt sei. Doch das muss man wohl als Tatsache akzeptieren. Das Problem besteht allerdings darin, ethisch akzeptable und nichtakzeptable Formen von Redegewalt

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zu unterscheiden und entsprechende Kriterien für den Umgang mit ihr aufzustellen. Aufgabe der Ethik muss es daher sein, nach diesen Formen und Kriterien zu suchen. Hinweise darauf geben die angeführten Differenzierungen des sprachlichen Gewaltbegriffs. Nach Sybille Krämer liegt dessen Quelle zum einen in der logischen Prädikation der Aussage, die Individuelles unter die Allgemeinheit des Begriffs subsumiert (langue-Aspekt), zum andern im Gewalt hervorrufenden Gebrauch der Sprache durch die Wahl von bestimmten Wörtern und Sätzen (parole-Aspekt). Für die Rhetorik  – die von Krämer kaum berücksichtig wird – ist nur der zweite Aspekt, derjenige des Sprachgebrauchs, relevant. Allerdings muss hier noch weiter differenziert werden, denn die Redegewalt kann in zwei Formen auftreten: als legitime »Redemacht« im Sinne von starker Beeinflussung der Zuhörer durch den Redner, und als illegitime, »gewalttätige« Beeinflussung im Sinne von Verführung (Manipulation) und psychischer Verletzung. Krämer hat nur die negativen Folgen der Redegewalt im Blick, übersieht aber, dass starke Einwirkung auf die Zuhörer für das Erreichen der eigenen Handlungsziele auch durchaus positiv einzuschätzen ist, denn darauf beruht doch der Wert der Rhetorik. Die Redegewalt umfasst also einerseits starke Wirkung, andererseits aber auch Gewalttätigkeit, wobei die Wirkung erst durch den schädigenden Einfluss des Redners auf die Zuhörer zur Gewalttätigkeit wird, die zu ethisch nicht vertretbaren Handlungen bei ihnen führen kann. Der Redner vermag also mit seinen Worten nicht nur gewalttätig zu werden, sondern auch reaktive Gewalt bei den Zuhörern z. B. gegen Andersdenkende auszulösen. Die Skala der rednerischen Gewalttätigkeit reicht von der moralischen bis zur juristischen Dimension. Juristisch nicht erlaubt ist alles, was strafrechtlich gesehen Handlungen von manifester Schädigung anderer oder Zerstörung von Sachen nach sich zieht. Moralische Erscheinungsformen und Folgen rednerischer Gewalttätigkeit sind aber nicht so einfach zu bestimmen, da die Grenzen zwischen legalen und illegalen Äußerungen und die Spielräume dessen, was dem einzelnen Zuhörer noch akzeptabel erscheint oder nicht, nur schwer zu bestimmen sind und oft auch von Zeit und Umständen abhängen. Zu den Erscheinungsformen rhetorischer Gewalt heute gehören aber nicht nur die Methoden verletzenden Sprechens in di Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt | 41

rekter Rede wie Herabwürdigung, Bloßstellung oder Schmähung, die Krämer aufzählt und die man als Spielarten der persönlichen Invektive109 bezeichnen kann. Als ungleich heftiger wird man die Wirkung dieser Methoden veranschlagen müssen, wenn man an ihre audiovisuellen Ausdrucksformen in den Medien wie Massenpresse, Fernsehen und Internet denkt und auch sie als Erscheinungen rhetorischer Gewalt versteht.110 Die ethische Ambivalenz der Redegewalt zwischen legitimer Redemacht und illegitimer Gewalttätigkeit wurde schon in der rhetorischen Kulturentstehungslehre der Antike thematisiert, wie sich zeigte. Die Rhetorik beansprucht danach, das in der Vorzeit von Gewalt gekennzeichnete Naturverhalten der Menschen durch die Wirkung der Rede zu befrieden und in ein humanes, auf Kultivierung beruhendes Verhalten umzugestalten.111 Damit sei in doppelter Hinsicht ein ethischer Gewinn für die Menschheit erzielt worden: Erstens lässt sich jetzt die physische Gewaltanwendung in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen durch den persuasiven Gebrauch der Sprache ersetzen, und zwar in dem Sinne, dass an die Stelle von Bemächtigung und Konflikt die sprachliche, auf Konsens oder Kompromiss setzende Interaktion zur Realisierung der jeweiligen Handlungsziele tritt. Zweitens entsteht aufgrund der Kultivierung bei den Menschen ein moralisches Bewusstsein von der Pflicht, physische Gewalt in ihren Auseinandersetzungen zu vermeiden. Doch zugleich muss dieses moralische Bewusstsein sich eingestehen, dass auch die Rhetorik ein Gewaltmoment enthält: ein psychisches, das ihrem persuasiven Handlungsimperativ innewohnt, der gleichfalls auf die Überwältigung der Adressaten ausgehen kann. Dieses Moment der Gewalt war der Antike wohlbekannt, wie das Beispiel der Sophistik zeigt. Daraus folgte unter dem Einfluss der Philosophie für die rhetorische Erziehungslehre, dass es die moralische Aufgabe des Redners ist, die Redemacht nur ethisch verantwortlich einzusetzen, wie Quintilians Propagierung des vir-bonus-Ideals belegt. Festzuhalten ist damit, dass der Einsatz der Rede anstelle der Anwendung von physischer Gewalt ein ethischer Fortschritt ist, ja sogar eine zentrale moralische Forderung an die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens enthält. Festzuhalten ist ferner, dass die Rhetorik aufgrund des ihr inhärenten Gewaltmoments jedoch 42 | Rhetorik, Ethik und die Beherrschung ­sprachlicher Gewalt 

zugleich moralisch ambivalent ist und durch eine Ethik ergänzt werden muss, die dem Redner die bewusste und verantwortete Beherrschung des Gewaltmoments ermöglicht. Medium der Ethisierung der Rhetorik ist die Kultur. Infolgedessen stellt diese in den von ihr entwickelten sittlichen Verhältnissen alle die moralischen und juristischen Mittel bereit, die die Beherrschung von Gewalt in den durch die Rhetorik gestalteten zwischenmenschlichen Beziehungen regulieren und gegebenenfalls auch sanktionieren. Sie gewinnt damit selbst eine ethisch-normative Dimension.112 Die moralischen Postulate zur Beherrschung der persuasiven Gewalt können aber erst durch eine auf der menschlichen Kultivierung aufbauende Ethik formuliert werden.113 Kultur normativ aufladen heißt also nicht, moralische Normen schon aus der Kultivierung abzuleiten, denn die entstehen erst in den Überlegungen praktischer Vernunft zur Frage, nach welchen Regeln die Menschen zusammen­leben wollen.114 Im Folgenden werden jetzt die einzelnen Teile einer rhetorischen Ethik beschrieben und dazu die jeweils relevanten kulturellen Aspekte wie Bildung, Institutionen, rhetorische Technik und die Darstellungsformen der Rede selbst behandelt.

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II . Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 1. Technisch-instrumentelle und praktische Vernunft

Zur Bestimmung der ethischen Merkmale rhetorischen Handelns soll zunächst die Rolle der das Handeln anleitenden Vernunft in ihrer technisch-instrumentellen und ihrer praktischen Form geklärt werden. Vermittlungsinstanz ist wiederum die menschliche Kultivierung, denn mit Spracherwerb und persuasivem Sprachgebrauch entwickelten sich auch Rationalität und Vernunft als Bedingungen für die Entstehung von rhetorischer Technik und Ethik. Das soll jetzt mithilfe von Ernst Cassirers kultureller Symboltheorie gezeigt werden. Da die Rhetorik nicht nur Teil der Kultur ist, sondern auch selbst Kultur erzeugt, ist sie zugleich ein Mittel des kulturellen Handelns, eine von vielen »symbolischen Formen«, die nach Cassirer die Kultur hervorbringen und repräsentieren. Dieser versteht Kultur nicht nur als Summe von Kulturbereichen wie Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft, sondern definiert sie vor allem durch ein gemeinsames Merkmal, das alle menschlichen Tätigkeiten kennzeichnet: den Akt der Symbolisierung. Darin werden geistige Gehalte an sinnliche Zeichen geknüpft mit dem Resultat, dass ein »Symbolnetz«115 entsteht, ein Universum aus symbolischen Formen, das alle Kulturbereiche umfasst und in dem sie repräsentiert sind.116 Die symbolischen Formen sind nach Cassirer »die eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung umso fester mit ihr zu verbinden. Dieser Zug der Vermittlung charakterisiert alles menschliche Erkennen, wie er auch für alles menschliche Wirken bezeichnend und typisch ist.«117 In der symbolischen Vermittlung werden die Dinge allerdings nicht nur repräsentiert, sondern für das Bewusstsein zugleich präformiert, denn die Symbole bilden Gegenstände und Sachverhalte nie bloß ab, sondern modellieren sie ebenso für die Wahrnehmung und das Begreifen.118 Eine symbolische Form präsentiert also die Welt nicht   45

einfach als fertigen, gegebenen Stoff, sondern produziert erst in der zeichenhaften Vermittlung »das Bild dieser Außenwelt, ihre geistig-ideelle Form«119, und zwar nicht als ein ›Ding an sich‹, sondern subjektiv als die ›Welt für uns‹. Die symbolbedingte Medialität kulturellen Handelns hat kulturanthropologisch gesehen einen besonderen Effekt für den Menschen. Sie ermöglicht es ihm im Unterschied zu den Tieren, die direkt auf Sinnesreize reagieren, Abstand von der Situation zu nehmen, in der er steht. Die Distanzierung bietet ihm zugleich die Chance des Nachdenkens über das, was er tun will. So gewinnt er die Freiheit zur Auswahl unter seinen Handlungsoptionen und zur bewussten Entscheidung für eine von ihnen.120 Die gesamte Kultur wird damit zum Projekt der menschlichen Selbstbestimmung.121 In der symbolischen Distanzierung von der Situation entsteht erst die Möglichkeit des Handelns aus Vernunft und damit der Gestaltung der Welt nach der Intention und Perspektive des die Handlung ausführenden Subjekts. Mit der Entstehung des mittelbaren Handelns und Denkens entwickeln sich überhaupt das Ich und die menschliche Subjektivität. »Jedes neue Werkzeug, das der Mensch findet«, bemerkt Cassirer, »bedeutet […] einen neuen Schritt, nicht nur zur Formung der Außenwelt, sondern zur Formierung seines Selbstbewusstseins.«122 Zu den symbolischen Formen, die den Menschen von der Welt trennen und zugleich neu mit ihr verbinden, gehört auch die Technik. Allgemein gesehen umfasst der Begriff »Technik« erstens alle Verfahren zur Erschließung und Nutzung der natürlichen Stoffund Energieressourcen, zweitens die dazu nötigen Vorgehensweisen als lehrbare Methoden und schließlich das meisterhafte Können als Einheit von Fertigkeiten und Wissen zum Erreichen einer bestimmten Leistung. Gegenstand der Technik ist die zu bearbeitende Natur; als Artefakt (z. B. Werkzeug oder Maschine) ist sie der Inbegriff spezifischer Mittel zur Realisierung eines Handlungsziels.123 Cassirer beschreibt den medialen Charakter der Technik zunächst anhand des Werkzeugs, der Frühform der Technik, und erklärt: »Statt unmittelbar durch einen wirklichen Reiz bewegt zu werden, blickt er [der Mensch] auf ›mögliche‹ Bedürfnisse hin, zu deren Befriedigung er die Mittel im Voraus bereitstellt. Die Absicht, der das Werkzeug dient, schließt also eine bestimmte Voraus-Sicht in sich. 46 | Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 

[…] Diese ›Vorstellung‹ des Künftigen charakterisiert alles menschliche Handeln. Wir müssen ein noch nicht Bestehendes im ›Bilde‹ vor uns hinstellen, um sodann von dieser ›Möglichkeit‹ zur ›Wirklichkeit‹, von der Potenz zum Akt überzugehen.«124 Das Werkzeug ist damit zum Medium des menschlichen Begreifens der Realität und des Einwirkens auf diese Realität geworden. Das gilt auch für die Technik überhaupt. Dem Begreifen und Einwirken auf die Realität liegt nach Cassirer die Vorstellung eines geistigen »Bandes« zugrunde, das im technischen Handeln »rein gegenständliche Bestimmungen miteinander verknüpft und zwischen ihnen eine Regel der Abhängigkeit setzt«, also kausale Beziehungen der Gegenstände konstruiert, um Begreifen und Einwirken zum Erfolg zu führen.125 Technisches Denken und Tun erschließen so eine bestimmte Form der Welt, eine distinkte Ordnung ihrer Sachen und Sachverhalte.126 Darin, dass Werkzeug und Technik als Medien eine Dimension des Verstehens von Welt verkörpern127, sind sie nach Cassirer symbolische Formen. Denn sie stehen für einen Sinnzusammenhang, eine produktive »Idee«128 und ermöglichen mit ihrer Art des Operierens das Denken und Handeln in der symbolisch strukturierten Welt. Das macht sie zugleich zum Ausdruck von Kultur.129 Die Technik als eine wichtige Bedingung der menschlichen Handlungsfreiheit hat für Cassirer außerdem eine besondere ethische Qualität. Da sie als Verfahren zur Nutzung der gegebenen Ressourcen zwecks Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse entscheidend zur Gestaltung des ›guten Lebens‹ beiträgt, muss ihr Gebrauch sich an moralischen Gesichtspunkten orientieren. Für Cassirer ist es nötig, »dass das, was im technischen Schaffen geschieht, in seiner Grundrichtung erkannt und verstanden, dass es ins geistige und sittliche Bewusstsein erhoben wird«. Er bezeichnet daher »als den impliziten Sinn technischer Arbeit und technischer Kultur den Gedanken der ›Freiheit durch Dienstbarkeit‹«.130 Nur indem der mediale, auf Mittelbarkeit gegründete Charakter der Technik im Handeln bewusst bleibt, lässt sich eine den Menschen in seiner Freiheit bedrohende Verselbständigung der Technik vermeiden. Erst dann wird ihre instrumentelle, auch für den Missbrauch so verlockende Macht kontrollierbar, in den Dienst der menschlichen Kultivierung und Zivilisierung gestellt131 und so den moralischen Vorgaben praktischer Vernunft zugänglich.  Ethische Aspekte rhetorischen Handelns | 47

Cassirers symboltheoretische Deutung des Verhältnisses zwischen handelndem Subjekt und Technik lässt sich auch auf die Beziehung des Redners zur rhetorischen Technik übertragen. Dieser versteht seine Rede als ein Instrument der Persuasion.132 Dazu will er sie formen, und dazu setzt er die rhetorische Technik – wiederum instrumental – ein in Gestalt des Systems der fünf Arbeitsschritte des Redners und all der anderen Errungenschaften, welche die Rhetorik im Lauf ihrer Geschichte hervorgebracht hat. Im Rahmen der oben angeführten Definition ist sie der Inbegriff lehrbarer Methoden zur Beeinflussung einer Hörerschaft, ein kulturelles Handlungsschema, das methodische Schritte zur Redeformung und damit zur Erreichung des rednerischen Handlungsziels, eben der Persuasion, vorgibt. Als symbolische Form133, die in ihrer Semantik alle Aspekte der Technik umfasst, erschließt dieses Schema im Rahmen der gegebenen Kultur mit seinen Mitteln die Welt des kommunikativen Handelns, um Wirkung zu erzeugen. Die produktive Idee hinter seiner Anwendung besteht in der Annahme des Redners, nach Aristoteles »das möglicherweise Glaubenerweckende« am zur Rede stehenden Sachverhalt zu erkennen und für die Persuasion auszunutzen.134 Der Gebrauch der rhetorischen Technik bietet ihm außerdem die Möglichkeit, sich von den unmittelbaren Anforderungen der Situation zu distanzieren, seine Handlungschancen auszuloten und kalkuliert einzusetzen. In diesem Sinne ist rhetorisches Handeln strategisches Handeln.135 Es ist Ausdruck der instrumentellen Vernunft des Redners, ist das Resultat seiner Analyse der Redeumstände und umfasst die Auswahl der Mittel zur Realisierung des Handlungsziels durch Einwirkung auf die Hörerschaft, die einzelnen Handlungsschritte vom Aufbau der Rede bis zu ihrem Vortrag sowie die spätere Erfolgskontrolle mit der Frage: Habe ich mein Ziel erreicht, oder muss ich beim nächsten Mal meine Handlungsweise ändern? Die Bedeutung von Kalkül und persuasiver Strategie nötigt übrigens für die Rhetorik zu einer etwas anderen Konzeption von Handlungsfreiheit, als Cassirer sie vertritt. Zwar gehört die Möglichkeit dieser Freiheit zu den wichtigsten kulturellen Errungenschaften, welche die symbolischen Formen als Handlungsmedien dem Menschen gebracht haben. Deren spezifische Merkmale las48 | Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 

sen sich aber nicht zureichend erfassen, wenn man wie Cassirer dabei nur von der Autonomie des Subjekts im Sinne Kants ausgeht. Auch die sozialen, genauer die institutionellen Bedingungen zur Ausübung der Freiheit gehören zum Aktionsraum des Subjekts.136 Dasselbe gilt für das rhetorische Handeln. Der Redner ist auf die Institutionen angewiesen, die in den gesellschaftlichen Beratungsgremien, in den Einrichtungen zur Rechtsprechung oder als Anlässe für private bzw. öffentliche Reden wie etwa Feste existieren und denen er seine Rede anpassen muss, will er seine Ziele erreichen. Die Theorie der Redegattungen, wie sie die Rhetorik seit der Antike entwickelt hat, ist genau auf die sozialen Institutionen zugeschnitten, die als Regulative dem Menschen Handlungsoptionen sowie Orientierung in der Welt anbieten, damit so das Zusammenleben seine Ordnung finden kann.137 Dabei entscheidet die historische Gestalt dieser Institutionen, ob sie nun zu einer Monarchie, Oligarchie, Demokratie oder Diktatur gehören, über die konkreten Spielräume rednerischer Freiheit. Cassirers kulturanthropologische These, mit der Entstehung des technisch-mittelbaren Handelns entwickle sich zugleich das Subjekt in seinem Verhältnis zur Welt, findet ihre Bestätigung auch in der Geschichte der Rhetorik. Anfangs bestand die Ausbildung des jungen Redners darin, dass der Schüler musterhafte Reden seines Lehrers nachahmte, sei es in Athen im Unterricht der Sophisten oder in Rom zuhause im Unterricht des Vaters nach dem Vorbild der Forumsredner. Das änderte sich erst mit der Entstehung der rhetorischen Technik, als die Sophisten die ersten Lehrbücher verfassten, die griechische Rhetorik im 2. Jahrhundert v. Chr. nach Rom kam und sich in den neugegründeten Rednerschulen verbreitete.138 Jetzt wurde der Unterricht auf methodischer Grundlage didaktisiert und nach den logisch-psychologischen Regeln der Persuasion eingerichtet.139 So entstand ein Ausbildungsmodell, das bis ins 19. Jahrhundert hinein Bestand hatte und neben einer elaborierten Persuasionstechnik auch besondere Rednerideale für den Unterricht entwarf, die kulturelle Leitbilder für die jeweilige his­ torische Epoche formulierten. In diesen Redneridealen artikuliert sich ein rhetorisches Selbstbewusstsein, das sich auf Parteilichkeit und Perspektivität der Weltsicht sowie auf Bildung und den Willen zur rhetorischen Wirkung gründet.140  Ethische Aspekte rhetorischen Handelns | 49

Im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Rhetorik entwickelte sich seit der Antike parallel dazu, wie oben gezeigt, auch die ethische Komponente im Selbstverständnis des Redners. Man wollte die Schüler jetzt nicht mehr nur in den verschiedenen Persuasionstechniken unterrichten, sondern ihnen auch die moralische Forderung vermitteln, Reden und Handeln mit einem tugendhaften Leben zu verbinden. Als Leitbild dafür wurde das Ideal des vir bonus dicendi peritus entworfen, wie es vor allem Quintilian in seiner »Institutio oratoria« skizziert hat und wie man es später in der humanistischen Tradition der Rhetorik lehrte. Allerdings haben sich heute vor allem aufgrund der moralphilosophischen Überlegungen des 18. Jahrhunderts (insbesondere der Rhetorikkritik Kants) die ethischen Vorstellungen seit den Zeiten Quintilians geändert. Daher stellt sich die Aufgabe, den tradierten tugendethischen Ansatz neu zu interpretieren, zu ergänzen und nach modernen Vorstellungen zu reformulieren. – Rednerische Subjektivität, ihr Verhältnis zu den Formen der Vernunft und zur rhetorischen Technik spielen allerdings in der postmodern orientierten Handlungstheorie der Rhetorik von Andreas Hetzel keine Rolle mehr. Er lehnt den Rekurs auf Rednersubjekt und Technik als Grundlage zum Verständnis rhetorischen Handelns ab und thematisiert daher auch nicht das Problem der rednerischen Ethik. Im Zentrum seiner Konzeption der Rhetorik steht das autopoietische Arbeiten der Sprache, das die Rede in ihrer Wirkungsabsicht antreibt und kaum ein subjektives, von persuasiven Intentionen bestimmtes Handeln des Redners identifizierbar macht. Hetzel sucht ein »adäquate[s] Verständnis der pragmatischen, persuasiven und performativen Dimension unseres Sprechens«, schreibt er in seinem Buch »Die Wirksamkeit der Rede«.141 Dazu will er »die über ein begründungslogisches Konzept von Sprache hinausweisenden Dimensionen der Rede« zurückgewinnen, die in der modernen sprachpragmatischen Philosophie insbesondere von Searle und Habermas nicht berücksichtigt werden.142 Sprache soll nicht über ihre Repräsentationsleistung, sondern – so Hetzel in einem Aufsatz über antike Rhetorik143 – in ihrem »welterzeugenden Charakter« verstanden werden. Das Verb peíthein verkörpere die Kraft der Sprache, Welt hervorzubringen, etwa indem sie Situationen verändert oder neu erschafft.144 »Sprechen wäre 50 | Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 

aus der Perspektive der Rhetorik eine práxis nur als poíesis sowie umgekehrt eine poíesis nur als práxis […]145, also Ausdruck einer grenzenlosen dýnamis, die sich nicht im psychologisch erfassbaren Überreden oder Überzeugen erschöpft.146 »Da es aus der Perspektive der antiken Rhetorik keinen Standpunkt jenseits des lógos gibt, bleibt dieser als ganzer undurchschaubar«, heißt es weiter.147 Rhetorik könne sich nicht wie eine Metasprache zur Rede verhalten. »Selbst sprachlich verfasst, reflektiert sie das Feld der Sprache mit deren eigenen Mitteln.«148 Doch die Sprache als Kommunikationsmittel besteht nicht nur aus den Wörtern als Medien zur Erzielung rhetorischer Wirkung, sondern auch aus Begriffen, die auf Erkenntnissen gründen und damit Wahrheiten oder Irrtümer verbreiten können. Dieses Potential der Sprache beruht in der Tat auf der Repräsentationsleistung ihrer Zeichen und versetzt das handelnde Subjekt in die Lage, seine Absichten und deren Verwirklichung zu verstehen und kritisch zu überprüfen. Damit werden die für das Handeln wesentlichen Teile des lógos erst durchschaubar, was keinesfalls preisgegeben werden sollte, sondern unbedingt nötig zur selbstkritischen Reflexion des eigenen Tuns ist. Die Rhetorik ist außerdem nicht nur eine Praxis wirkungsvoller Rede, sondern zugleich eine Theorie zur Herstellung solcher Reden. Hetzel ebnet diesen Unterschied ein, wenn er práxis und poíesis als identisch auffasst, und verspielt die Möglichkeit, das persuasive Handeln des Redners jenseits einer bloßen Erfolgskontrolle überprüfbar zu machen. Damit schiebt er auch die in der rhetorischen Tradition vorherrschende instrumentalistische Auffassung der Redekunst als sekundär beiseite.149 Zugleich kritisiert er jede sich darauf berufende Handlungstheorie der Rhetorik.150 Dennoch muss er handlungstheoretische Zugeständnisse machen mit dem Hinweis in seinem Aufsatz, der kairós verlange »eine Art Restintentionalität, ein irreduzibles Moment von Handlung«151, dann in der resignierten Feststellung in seinem Buch, wir müssten gleichwohl »weiterhin mit den traditionellen Kategorien der Sprachphilosophie arbeiten […]: mit einem Sprechersubjekt, seinen Intentionen […]« etc. Aber er bleibt dabei, »dass sich alles Wesentliche in der Sprache […] jeder reduktionistischen Erklärung verweigert«.152 Hetzel vertritt also im Grunde eine halbherzige Position: Sprache ist zwar für ihn aufgrund ihres rhetori Ethische Aspekte rhetorischen Handelns | 51

schen Elements in erster Linie Wirkung und deshalb »Ereignis«153, aber er kann in seinem Konzept dennoch nicht völlig auf die persuasiv-intentionalen Handlungsakte des Subjekts verzichten. Ethik und Moral als vorgängiges Orientierungswissen dieses Handelns, die beispielsweise ein Urteil über den manipulativen Gebrauch der Redekunst erlauben würden, haben daher auch keinen Platz in Hetzels Rhetoriktheorie. 2. Rhetorisches Handeln zwischen poíesis und práxis

Um zu erläutern, wie rhetorisches Handeln in der Sicht technischinstrumenteller und praktischer Vernunft erscheint, ist es sinnvoll, von Aristoteles auszugehen, denn dieser hat technisches und praktisches Handeln typologisch genauer beschrieben. Das Ziel des technischen oder poietischen (herstellenden) Tuns ist ein Produkt, das außerhalb des Handelns liegt, wobei zur Zielrealisation geeignete Mittel eingesetzt werden können. Das Ziel des praktischen Tuns aber liegt in diesem selber, da es hier um die Ausführung, um die Art und Weise des Vollzugs geht.154 Kriterium des poietischen Tuns ist die Effizienz des Herstellens aufgrund von Zweckrationalität oder Richtigkeit des Ablaufs; Kriterium des praktischen Tuns ist das interne Gelingen des Vollzugs. Dieses Gelingen gewinnt damit eine ethische Dimension, denn es ist ausgerichtet auf die Realisierung des Guten und das Gelingen des Lebens im Ganzen, aristotelisch gesprochen auf die Eudaimonie.155 Erweitert man nun die Perspektive und betrachtet praktisches Handeln nicht mehr nur aus der Sicht des Teilnehmers, sondern auch aus der des Beobachters156, erscheint der Handelnde anders als bei der poietischen Tätigkeit selbst als Teil der Handlung.157 Er ist anders in sie involviert, denn er hat jetzt die Möglichkeit, seine eigene Rolle mit Blick auf die Realisierung des Guten zu beurteilen, sieht ihren Vollzug im Umfeld eigener und fremder Handlungen, kann ihre möglichen Folgen und ihre Beziehung zu den Handlungen anderer Menschen einschätzen.158 Damit öffnet sich das Feld ethischer Beurteilung rhetorischen Handelns. Wird dieses nicht nur unter dem Blickwinkel der Technik, sondern auch dem der Praxis untersucht, stellt sich bei der Bewertung nicht mehr nur die Frage, ob sie persuasiv effizient, 52 | Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 

sondern auch, ob und wie sie vom Redner mit Blick auf die anderen Handlungspartner verantwortet werden kann.159 »Herstellung« der Persuasion ist nach Aristoteles aber nicht analog zur materiellen Produktion eines Werkstücks160 zu verstehen, wie etwa ein Handwerker einen Schuh herstellt. Da die Hörer einer Rede eigenständig denken und urteilen, kann der Redner sie nicht zwingen, seinen Ansichten zu folgen, sondern er kann nur versuchen, sie in seinem Sinne zu beeinflussen. Dazu stellt ihm die Rhetorik die persuasiven Mittel bereit, wobei die technische Pointe des »Herstellens« gerade in der methodischen Anwendung dieser Mittel besteht.161 Die rhetorische Technik ist daher für den Redner eine große Hilfe, und zwar nicht nur bei der Vorbereitung einer Rede, sondern auch für die Einübung seines Verhaltens in Redesituationen, die oft von Zeitknappheit, raschem Wechsel der Umstände oder auch der Auseinandersetzung mit Debattengegnern geprägt sind. All das erfordert neben ausreichender Erfahrung die Verlässlichkeit eingespielter technischer Methoden, um das eigene Tun mit dem der anderen Akteure zu koordinieren und auftretende Widerstände gegen die Bemühungen, das Publikum auf seine Seite zu ziehen, zu überwinden. Doch trotz dieses Handlungsdrucks muss sich die persuasive Handlung des Redners an moralischen Normen orientieren und darf sie im Blick auf den angestrebten Erfolg nicht einfach ignorieren. Aristoteles benennt wichtige Merkmale für die ethische Beurteilung einer rhetorischen Handlung. Zunächst bestimmt er allgemein den Ausgangspunkt des Handelns. »Ursprung einer Handlung – im Sinn des Ursprungs der Bewegung, nicht des Zwecks – ist ein Vorsatz, und der Ursprung des Vorsatzes ist das Streben und die Überlegung, die auf einen Zweck gerichtet ist«, heißt es in der »Nikomachischen Ethik«. »Deswegen kann es einen Vorsatz weder ohne intuitives und diskursives Denken geben, noch ohne eine Charakterdisposition. Denn gutes Handeln und das Gegenteil davon gibt es nicht ohne Denken und Charakter.«162 In der »Rhetorik« präsentiert er ein einfaches Modell, das die Elemente rhetorischen Handelns benennt. »Aus dreierlei nämlich ist die Rede zusammengesetzt«, heißt es dort, »aus einem Redner, dem Gegenstand, über den er redet, und jemandem, zu dem er redet, und das Ziel [des Redens] bezieht sich auf diesen letzteren, ich meine den Hörer.«163  Ethische Aspekte rhetorischen Handelns | 53

Ethisch relevant beim Handeln ist zunächst einmal das Faktum, dass der Redner etwas freiwillig macht. »Freiwillig tut man alles das«, heißt es in der »Rhetorik«, »was man wissentlich und ohne Zwang tut.« Aristoteles erörtert an dieser Stelle die Argumente, die für eine Gerichtsrede (Anklage und Verteidigung) wichtig sind, und die Gründe, die ein Angeklagter haben kann, um gegen das Gesetz zu verstoßen und anderen zu schaden. »Was man also freiwillig tut, das tut man nicht alles aufgrund einer Entscheidung, aber was man aufgrund einer Entscheidung tut, das tut man alles wissentlich; denn keiner befindet sich in Unkenntnis über das, wofür er sich entscheidet.«164 Freiwilligkeit, Wissen und die Entscheidung beruhen darauf, dass jemand Verursacher einer Handlung ist, sind die Kriterien dafür, dass man ihm die Handlung aufgrund seiner Absicht zuschreiben kann und dass er für sie verantwortlich ist, also Gründe für sein Tun angeben und damit Rechenschaft davon ablegen kann.165 In der Entscheidung wird etwas vor anderem gewählt; sie ist ein mit Überlegung verbundenes Streben, und die zur Entscheidung führende Überlegung beschäftigt sich mit den zur Verwirklichung des Handlungsziels benötigten Mitteln und Wegen.166 Im Zusammenhang mit der Gerichtsrede erörtert Aris­ toteles auch die Handlungsantriebe. Er unterscheidet Handlungsmotive (Kausalursachen)167 und Handlungsziele (Finalursachen)168. Handlungsmotive können bestimmte Eigenschaften sein169, Handlungsziele aber Güter, die erstrebt werden, wobei er hier vernünftiges und unvernünftiges Streben unterscheidet170. Die Klärung der ethischen Verantwortung für eine Handlung erfordert allerdings auch moralische Kriterien, nach denen die Handlungsgründe beurteilt werden können. Diese Kriterien lassen sich nach dem Muster der kantischen Ethik als praktische Grundsätze oder Imperative formulieren, wobei Kant den sittlichen (kate­ gorischen) Imperativ als den obersten praktischen Grundsatz bestimmt, denn er enthält das Kriterium für die Moralität einer Handlung. Kant unterscheidet vom sittlichen Imperativ den technischen, der nur Mittel und Wege für beliebige Ziele, und den pragmatischen, der dann das Ziel selbst auf die Tauglichkeit für jemandes Wohl hin bewertet. Technischer und pragmatischer Imperativ haben relativen oder bedingten – hypothetischen – Charakter, denn sie bewerten eine Handlung als nötig für ein bestimmtes 54 | Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 

Ziel, wogegen der sittliche oder kategorische Imperativ besagt, dass eine Handlung an sich notwendig ist ohne Bezug auf ein bestimmtes Ziel, also auf unbedingte Weise verbindlich ist.171 Praktische Grundsätze formulieren die Normen des Handelns. Werden sie zu beständigen Prinzipien des Handelnden, bezeichnet man sie als Maximen.172 Auch für das rhetorische Handeln können praktische Grundsätze aufgestellt werden, wie unten zu zeigen ist.173 Nach diesen drei Imperativen lässt sich jetzt das poietisch-persuasive Handeln des Redners beurteilen. Betrachtet man es nach dem technischen Imperativ, geht es um die Frage, ob der Redner die Rede richtig für seine Zwecke einsetzte und so zum Erfolg kam, d. h. das Publikum auf seine Seite gezogen hat. Bewertet man seine rhetorische Handlung nach dem pragmatischen Imperativ, stellt sich die Frage, ob er die Ziele erreicht hat, die seinen Interessen oder denen seiner Klientel den erhofften Nutzen bringen. Bewertet man sie aber nach dem sittlichen Imperativ, fragt man, ob der Redner die moralischen Normen z. B. in der Wahl seiner persuasiven Mittel beachtet hat. Vom Aspekt der aristotelischen Handlungs­t ypologie her gesehen fragt sich dann, ob der Redner auch praktisch gesehen im Handlungsvollzug seiner Verantwortung gegenüber dem von ihm beeinflussten Handeln anderer nachgekommen ist und so dem sozialen Umfeld seiner poietischen Handlung Rechnung getragen hat. Denn der Redner kann die Zuhörer auch in einer unzulässigen Weise beeinflussen, um ihr Verhalten zu steuern und zu mani­ pulieren. Damit wären dann moralische Grundsätze verletzt, die ihre Basis in einer für die Rhetorik als verbindlich anzusetzenden Grundnorm haben. Auch darüber wird weiter unten zu reden sein. 3. Ethische Urteilsbildung bei Redner und Hörer

Jede rhetorische Handlung hat den Zweck, beim Hörer in irgend­ einer Form ein Urteil über den anstehenden Sachverhalt hervorzurufen. Bereits Aristoteles hat festgestellt, dass es »in der Rhetorik um ein Urteil geht – denn man urteilt über das in den Versammlungen Verhandelte, und auch ein Gerichtsentscheid stellt ein Urteil dar […].«174 Er hat die Überzeugung durch die öffentliche Rede offensichtlich als einen Prozess der Urteilsbildung verstanden175,  Ethische Aspekte rhetorischen Handelns | 55

in dem ein Redner die Zuhörer zur Übernahme seines Urteils zu bewegen sucht, und zwar durch die Mitteilung des nach seiner Ansicht Richtigen in einer Sachfrage. Dieser Prozess findet in einer bestimmten Konstellation statt, zu der neben Redner und Zuhörern auch die räumlichen und zeitlichen Umstände der Rede gehören sowie der Redeanlass, also ein Problem, das gelöst werden muss. Die Konstellation begründet die rhetorische Situation, die Redner und Zuhörer zusammenbindet.176 Determinanten der Situation sind demnach die beteiligten Personen, Objekte oder Ereignisse, die die Macht haben, Entscheidungen und Handlungen zur Lösung des anstehenden Problems zu beeinflussen.177 Der Kontext, in dem Redner und Zuhörer agieren, trägt also wesentlich zur Urteilsbildung bei.178 Der Redner muss sein Urteil über das anstehende Problem vor seiner Rede fällen, sei sie nun beratend, anklagend bzw. verteidigend oder lobend bzw. tadelnd, denn es ist die Basis seiner Aussage und Positionsbestimmung. Der Hörer fällt sein Urteil nach der gehörten Rede. Dabei urteilt er als Mitglied der Volksversammlung über Zukünftiges; als Richter urteilt er über Vergangenes; und als Adressat einer Lob- bzw. Tadelrede urteilt über Gegenwärtiges. Er bestimmt auch, ob es in der Beratung als zu- oder abträglich für das Gemeinwesen, beim Gerichtsprozess mit Blick auf die Gesetze als gerecht oder ungerecht und bei Lob bzw. Tadel bezogen auf die beurteilte Person als zustimmend oder ablehnend ausfällt.179 Doch nicht nur der Kontext der rhetorischen Situation, auch das Verständnis der Sachlage bei den Beteiligten bestimmt mit über die Urteile, womit die Urteilsfindung außer einer kommunika­tions­ theoretischen auch eine hermeneutische Dimension gewinnt. Das ungelöste Problem stellt sich dar als eine Frage, welche die Sachlage an die Beteiligten stellt, und deren Aufgabe ist es nun, darauf eine Antwort zu finden.180 Diese Fraglichkeit zeigt sich besonders deutlich, wenn eine Sache strittig zwischen den Parteien ist und daher Beratungsbedarf besteht, wie Aristoteles ausführt: »Wir beraten aber über solches, was sich dem Anschein nach auf zweierlei Weise verhalten kann; über Gegenstände aber, die sich weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft noch in der Gegenwart anders verhalten können, stellt niemand, der sie so einschätzt, Beratungen an, denn es gibt nichts mehr darüber [zu sagen].«181 Was sich auf zweierlei Weise, also nicht eindeutig verhält, verlangt Antwort 56 | Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 

und Entscheidung. Der Vergleich von Problem und Lösung mit der Logik von Frage und Antwort stellt daher den Redner vor die Aufgabe, wie in einem Gespräch die verschiedenen Sinnhorizonte  – den seinigen und den des Publikums – zusammenzuführen, damit die Zuhörer ihm zustimmen, und daraus die Lösung zu gewinnen. In diesem Rahmen vollzieht sich auch die praktische Reflexion182 auf beiden Seiten, die das ethische Urteil zur anstehenden Sachlage ergeben soll. Sie orientiert sich am Fundus der gemeinsamen Wertvorstellungen und Moralprinzipien, den die an der rhetorischen Situation Beteiligten als intuitives oder reflektiertes Vorwissen mitbringen. Dabei soll die gegebene Lage im Licht dieser Prinzipien gedeutet bzw. die Fakten mit der Normativität dieser Prinzipien vermittelt werden.183 Sprachlich-rhetorisch gesehen existiert dieser Fundus vor allem in der Form einer Ansammlung von Topoi des sog. Gemeinsinns (sensus communis), also des Sinns verschiedener Gruppierungen oder sogar der ganzen Gesellschaft für das Richtige und Rechte.184 Jeder Redner – und vice versa jeder Hörer – kann aus dem System dieser Topoi, der sozialen Topik, das für eine politische, gerichtliche, lobende oder sonstige Rede Passende entnehmen, um damit eine Verbindung von seinen individuellen Wertvorstellungen zu den Gemeinwohlinteressen herzustellen. Denn die rhetorische Argumentation macht sich die Topik für die Auslegung der entsprechenden moralischen Prinzipien zunutze und begründet von daher ihre Ansprüche.185 Praktisch gesehen ist diese Form rhetorisch-ethischer Argumentation vor allem wichtig wegen ihres heuristischen Handlungspotentials. Denn der Handlungsdruck, der oft genug eine rhetorische Situation kennzeichnet, lässt meist nur wenig Zeit für gründliche Überlegungen oder wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse vor der Entscheidung, so dass es auch in ethischer Hinsicht an Evidenz des Wahren und Richtigen mangelt. Hier ermöglicht die Rhetorik rasches Handeln und die Orientierung am Wahrscheinlichen und Plausiblen.186 Problematisch ist allerdings die kognitive Asymmetrie in der Situation, von welcher der Redner gegenüber den Zuhörern profitiert. Denn er kann oft aufgrund von Informationsvorsprung und strategischer Planung der Redewirkung ihre Wahrnehmung so lenken, dass sie seinem Urteil nur wenig Widerstand entgegensetzen. Ein besonders effizientes Mittel  Ethische Aspekte rhetorischen Handelns | 57

rhetorischer Strategie ist die Indienstnahme der Angemessenheit der Rede durch eine Instrumentalisierung des situativen Kontextes, wobei der Redner die Perspektive der Hörer aufnimmt und modifiziert187, damit sie die seinige übernehmen. Diese Asymmetrie kann der Hörer oft erst im Nachhinein durch die Bemühung um ein sachgerechtes Urteil aufheben. Der Redner aber sollte seine ethische Position vor der Rede nicht nur in Bezug auf das anstehende gemeinsame Problem bestimmen, sondern auch in Bezug auf die Verwendung der eigenen persuasiven Mittel bedenken, damit er der aus diesem Ungleichgewicht resultierenden Verantwortung gerecht wird. 4. Ethikaffine rhetorische Darstellungstechniken a) Darstellen als rhetorisch-poietische Handlung

Zur Untersuchung der Handlungsaspekte rhetorischer Ethik gehört auch eine Analyse des handlungsstimulierenden Charakters der Darstellung, da der Redner nicht bloß durch den Inhalt, sondern zugleich durch die formale Gestaltung seiner Rede auf die Zuhörer einwirken will, um ihnen so seine Bewertungen zu vermitteln. Die Darstellungsweise der Rede muss daher in die ethische Entscheidung des Redners mit einbezogen werden, denn es geht um die Frage, ob sie wegen ihres Wirkungspotentials auch moralisch akzeptabel ist. Das von der Tradition entwickelte und auch heute noch brauchbare kulturelle Handlungsschema, das dem Inhalt einer Rede persuasive Wirkung geben soll, besteht aus den sog. »fünf Arbeitsschritten des Redners« (officia oratoris), die Gedankenfindung (inventio), Gedankenanordnung (dispositio), Sprachgebung (elocutio), Einprägen der Rede (memoria) und Redevortrag (pronuntiatio) umfassen.188 Sie helfen ihm, seine Rede gedanklich zu entwerfen, sprachlich auszuformulieren und dann für die Darbietung vorzubereiten. Die gestalterischen Vorgaben für die Formung einer Rede liefern die einzelnen Redegattungen mit ihren Mustern für die Redeanlässe, nach denen sich der Redner richten oder die er für seine Zwecke abwandeln kann. Im Folgenden sollen allerdings nicht die komplexen rhetorisch-ethischen Gestaltungsprozesse in 58 | Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 

den Redegattungen, sondern nur zwei rhetorische Techniken aus den fünf Arbeitsschritten näher untersucht werden, die in allen Gattungen vorkommen können und eine besondere Bedeutung für die ethische Wirkung der Rede haben. Es handelt sich um die Beispielgebung aus dem Bereich der inventio und die Gegenstands­ modellierung aus dem Bereich der elocutio.189 b) Beispielgebung als Argumentationsergänzung und ­Nachahmungsanreiz

Die Beispiele für seine Rede sammelt der Redner bereits in der Arbeitsphase der Gedankenfindung, um sie dann im Anschluss an die Argumente zu deren Bekräftigung vorzutragen.190 Ihre Funktion lässt sich aus rhetorischer und aus logischer Sicht verdeutlichen, wie Gottfried Gabriel darlegt. Der systematische Ort der Logik der Beispiele ist das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem. Aristoteles unterscheidet den Gebrauch des Beispiels danach, ob es als Besonderes dem Allgemeinen vorausgeht oder ihm nachfolgt. Im ersten Fall dient das Beispiel der Hinführung zum Allgemeinen, im zweiten der Veranschaulichung des aufs Allgemeine gehenden Begriffs, und zwar als Beleg oder als Erläuterung.191 Die Rede vom Beispiel bewegt sich daher in eigentümlicher Weise zwischen dem Blick aufs Einzelne und dem aufs Allgemeine. Einerseits ist das Urbild im Sinne des Exemplarischen gemeint, andererseits das Abbild im Sinne des Exemplars. Die Verbindung zwischen beidem leistet das Besondere als Grundkategorie des analogischen Denkens. Logisch gesehen vermitteln Beispiele eine indirekte, eben analogische und nichtpropositionale (d. h. nicht in direkter Aussage formulierte) Erkenntnis; rhetorisch gesehen fungieren sie als Verfahren zur Darstellung von Erkenntnis.192 Die Zuordnung des Beispiels zur Rhetorik oder zur Logik erfolgt danach, ob die anschaulich-konkretisierende Funktion für die Persuasion oder die induktiv-garantierende Funktion für die Erkenntnisvermittlung im Mittelpunkt steht. Das Verfahren der Induktion ist demnach das logisch-dialektische Pendant zur rhetorischen Präsentation von Beispielen.193 Gute Beispiele können Erkenntnis befördern, schlechte sie verhindern. Wichtig ist eine wirksame Darstellung,  Ethische Aspekte rhetorischen Handelns | 59

damit die Vermittlung von Erkenntnis gelingt. Da der Vorteil der Beispiele darin besteht, komplizierte Sachverhalte leichter verständlich zu machen, bezeichnet Aristoteles es als ihre Aufgabe, von Gegenständen zu handeln, über die wir beraten.194 Aber auch die Pädagogik macht sich die didaktische Rolle der Beispiele zunutze, um das Geschäft der Erziehung zu erleichtern. Für die Moralpädagogik sind vom rhetorischen Standpunkt aus allerdings nicht die trockenen Schulbeispiele interessant, in denen die möglichen Handlungsoptionen anhand eines konkreten Falles durchgespielt werden, sondern die Beispiele moralischen Handelns in literarischer Gestalt wegen ihres intellektuell-affektiven Einflusses auf den Leser. Literatur, und zwar vor allem die dichterische Fiktion, fordert mit ihrer direkten oder indirekten Wirkung unsere moralische Urteilskraft heraus, indem sie das Erzählte in einen wertenden Kontext stellt und sich spielerisch mit Handlungsalternativen auseinandersetzt, die uns vorher unbekannt waren und unsere Lebenserfahrung sowie unser Hintergrundwissen aktivieren.195 In literarischem Zusammenhang liefern Beispiele darüber hinaus eine Form der Erkenntnis, in der das Gemeinte wiederum nicht direkt gesagt, sondern gezeigt wird, und zwar so, »dass ein fiktional berichtetes Geschehen aufgrund seiner Fiktionalität den Charakter des Historisch-Einzelnen verliert und auf diese Weise – zu einem Besonderen geworden  – einen allgemeinen Sinn aufweist.« (Gabriel)196 Solche »nichtpropositionalen Vergegenwärtigungsleistungen der Literatur« können Anlass zu weiterführenden, jetzt propositionalen Erörterungen geben, die unsere moralische Urteilskraft ausdifferenzieren, indem sie uns eine imaginative Teilnahme an Motiven, Gefühlen, Haltungen, Sichtweisen und Stimmungen erlauben, die uns im wirklichen Leben nicht ohne weiteres zuteil oder auch erspart würden.197 Doch der moralpädagogische Wert des Beispielgebens zeigt philosophisch gesehen eine besondere Problematik. »Man könnte […] der Sittlichkeit nicht übler raten«, moniert Kant, »als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte. Denn jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt wird, muss selbst zuvor nach Prinzipien der Moralität beurteilt werden, ob es auch würdig sei, zum ursprünglichen Beispiele, d. i. zum Muster zu dienen, keinesweges aber kann es den Begriff derselben zu oberst an die Hand geben.«198 Normative 60 | Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 

Theorien der Moral nach Art von Kants Prinzipienethik geben an, wie Handlungen unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten sind und an welchen moralischen Maßstäben sich unser Handeln orientieren soll. Dazu benötigen wir entsprechende Bewertungsund Orientierungskriterien. Im Zentrum jeder Ethik, die ein solches Kriterium angibt, steht ein allgemeiner Satz: ein Grundsatz oder ein Moralprinzip. Kants kategorischer Imperativ ist solch ein Grundsatz, mit dessen Hilfe man moralische von unmoralischen bzw. moralisch indifferenten Handlungen oder Handlungsabsichten unterscheiden kann. Moralprinzipien als Bewertungsprinzipien haben die Aufgabe, unsere moralischen Bewertungen anzuleiten; als Handlungsgründe zeigen sie auf, ob der Handlungsgrund in der Erfüllung einer moralischen Pflicht besteht.199 Moralische Prüfung und Bewertung der Beispiele sind also wichtig zur Orientierung des Handelns. Allerdings haben die abstrakten Regeln der Vernunft den Nachteil nur geringer Motivationskraft für den Willen des Handelnden, wogegen Beispiele viel eher dessen moralische Handlungsbereitschaft durch den Impuls zur Nachahmung stimulieren. Hans-Georg Gadamer erläutert das anhand der Aufgabe der exempla in der rhetorisch geprägten Geschichtsschreibung (historia200): »Die historia ist […] eine ganz andersartige Wahrheitsquelle als die theoretische Vernunft. […] Ihr Eigenrecht beruht darauf, dass die menschlichen Leidenschaften nicht durch die allgemeinen Vorschriften der Vernunft regiert werden können. Dazu sind vielmehr überzeugende Beispiele vonnöten, wie sie nur die Geschichte bietet.«201 Die Rhetorik erschließt also eine andere handlungsrelevante Wahrheit als die Philosophie mit ihrer Prinzipienwahrheit. Das zeigt eine nähere Analyse der pädagogischen Wirkungskraft des Beispiels, die Günther Buck in seiner Erörterung praktischer Erfahrung kritisch gegen Kant gewendet hat. Praktische Erkenntnis ist danach nicht interessiert an dem, was unabhängig vom Besonderen und jenseits von ihm der situtationsüberlegene Sachverhalt ist, sondern übersteigt das Besondere im Hinblick auf einen übergreifenden Kontext von Situationen. Die kantische Philosophie dagegen interpretiert praktische Erkenntnis als Theorie. Das heißt: Die Handlung, die in einer Situation das Rechte treffen soll, setzt ein vorgängiges begriffliches Wissen dessen voraus, was in  Ethische Aspekte rhetorischen Handelns | 61

jeder beliebigen Situation eines bestimmten Typs das allgemein Geforderte ist. Beispiele erhalten so den Status doppelt abhängiger Instanzen: den von Theorie und von apriorischer Gültigkeit, und können nicht von sich aus eine orientierende und anleitende Funktion für neues Handeln ausüben. Weil der Weg der praktischen Erkenntnis vom Prinzip zu den Einzelfällen, also als Determination, verläuft, ist ausgeschlossen, dass das Handeln von Beispiel zu Beispiel, also quasi induktiv, fortgeht.202 Eben deshalb heißt es bei Kant: »Nachahmung findet im Sittlichen gar nicht statt, und Beispiele dienen nur zur Aufmunterung […], sie machen das, was die praktische Regel allgemeiner ausdrückt, anschaulich, können aber niemals berechtigen, ihr wahres Original, das in der Vernunft liegt, beiseite zu setzen […].«203 Doch hier übersieht Kant die Wahrheitsquelle des Beispiels, denn über alles Kopieren hinaus produziert die Nachahmung eines Musters auch eine Erkenntnis: Der Nachahmende bringt sich selbst etwas zur Darstellung, und zwar eine Vergegenwärtigung des (nicht in propositionaler Auslegung aufgehenden!) Sinns des Nachgeahmten. Damit findet auch das Problem der Applikation der praktischen Erkenntnis in der Situation seine Auflösung. Denn Kant erklärt nicht, wie die Urteilskraft das theoretisch-begriffliche Allgemeine auf den konkreten Fall anwenden kann. Das muss sie nämlich auch ihrerseits erst lernen, d. h. einüben, und dazu braucht sie Übungsbeispiele.204 Beispiele als Leitbilder enthalten natürlich kein direkt lehrbares Wissen, wie Gadamer hervorhebt, sondern haben nur den Geltungsanspruch von Schemata. Sie verkörpern keine abstrakten Normen, sind aber auch keine bloßen Konventionen, sondern geben den Gehalt der in Frage stehenden Sachlage wieder, wobei diese sich durch die Anwendung, die das sittliche Bewusstsein von ihnen macht, auch selbst bestimmt.205 Kant lehnt also die moralpädagogische Bedeutung des Beispiels nicht grundsätzlich ab, weist aber seine wirkungsintentionale und damit auch rhetorische Funktion als Stimulus zur Nachahmung moralischen Handelns zurück. Auf diese Weise verdrängt er die moralische Asketik durch moralische Katechese. Katechese ist die Schulung der praktischen Urteilskraft durch kasuistische, d. h. auf den Einzelfall bezogene Betrachtungen, Asketik die auf Gewöhnung bedachte Einübung tugendhaften Verhaltens. Die Asketik 62 | Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 

war ein integraler Bestandteil der antiken Ethik.206 Sittlichkeit ist immer etwas Werdendes und entwickelt sich erst aus situations­ bezogenen, vorreflexiven Formen gelingender Praxis bis zur Reflexionsmoralität.207 Das Lernen durch die Nachahmung von Vorbildern zwecks Einübung von moralischen Verhaltensweisen gehörte traditionell zum humanistischen Unterricht, worauf Gadamer durch den Hinweis auf die historia anspielt. Nachahmung (imitatio) und Einübung (exercitatio) als Unterrichtsprinzipien waren aber schon von der Rhetorik in der Antike entwickelt und an das europäische Bildungssystem weitergegeben worden.208 Kants Verkürzung der pädagogischen Wirkung des Beispiels ist also auch als ein Aspekt seiner Ablehnung der Rhetorik zu verstehen. Er verdrängt aber nicht nur die Asketik als Übungslehre für die Schüler, sondern verkürzt desgleichen die Pädagogik als die für den Lehrer bestimmte Erziehungslehre, indem er den Philosophen als dessen Modell propagiert und nicht mehr dazu auch den auf die Schüler einwirkenden Redner, wie es der humanistische Unterricht noch tat. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass das zur Nachahmung auffordernde Beispiel ein wichtiges Mittel rhetorisch-ethischen Handelns bleibt. c) Ethisch-ästhetische Modellierung des Redegegenstandes

Zu den ethikaffinen Gestaltungstechniken der Rhetorik gehört außer der Illustration moralischer Normen durch Beispiele auch die sprachästhetisch verfahrende und bewertende Darstellung des Gegenstandes der Rede. Das Instrument dieser Darstellung, eingesetzt in der dritten Phase der rhetorischen Arbeitsschritte, der elocutio, sind diejenigen Stilmittel, die das Objekt der Rede für eine bestimmte Wahrnehmung aufbereiten und parteilich »einfärben«. Ästhetische Gestaltung und parteiliche Färbung des Redegegenstandes eignen sich wegen ihres kognitiven und affektiven Poten­ tials besonders gut dazu, die Handlungsbereitschaft der Zuhörer zu mobilisieren. Die Darstellung des Redegegenstandes soll daher kein bloß »interesseloses Wohlgefallen« (Kant)209 der Zuhörer am Schönen wecken, sondern die rhetorischen Wirkungszwecke befördern. Sie  Ethische Aspekte rhetorischen Handelns | 63

spricht die ästhetische Wahrnehmung der Zuhörer zunächst als eine sinnliche an, für die die Verfassung des Gegenstandes dessen Erscheinung ist.210 Diese Wahrnehmung soll Schönes  – oder gegebenenfalls auch Hässliches – aufnehmen und damit die affektive und imaginative Aufmerksamkeit des Betrachters für den Gegenstand wecken. Sie kann zugleich solche Tätigkeiten begleiten, die selbst keine ästhetischen Handlungen sind. Zur ästhetischen Wahrnehmung gehört die Fähigkeit, etwas begrifflich Bestimmtes aufzunehmen, wobei dieses Bestimmte aber nicht nur in seinem rationalen Umriss, sondern auch in seiner sinnlichen Gegenwärtigkeit und phänomenalen Fülle aufgenommen wird.211 Voraussetzung für die ästhetische Modellierung des Redegegen­ standes ist die Tatsache, dass es in der Rhetorik keine durch die Ermittlung einer absoluten Wahrheit festgelegte, reale Beziehung zwischen einem Ding und seiner Erscheinungsform in der Rede gibt. Das erläutert ganz elementar eine Passage aus Platons Dialog »Phaidros«. Dort sagt Sokrates, Teisias und Gorgias hätten gemeint, »dass man das Wahrscheinliche höher schätzen müsse als das Wahre«, und sie ließen »das Kleine groß und das Große klein erscheinen […] durch die Kraft der Rede, ebenso das Neue in alter Art, und das Gegenteilige in neuer […]«.212 Das heißt: Da der Redner sich mit dem Wahrscheinlichen begnügt (darauf deutet das von Sokrates ironisch gemeinte »Höherschätzen«), kann er die Gegenstandswahrnehmung der Zuhörer leichter nach seinem Interesse und seinem Parteistandpunkt lenken. Das rhetorische Mittel, um das Große klein und das Kleine groß erscheinen zu lassen, ist die amplificatio, eine vom Parteiinteresse des Redners motivierte darstellerische »Steigerung des von Natur aus Gegebenen durch die Mittel der [rhetorischen F.-H. R.] Kunst« (Lausberg).213 Sie hat zwei Richtungen: die der Vergrößerung und die der Verkleinerung eines Sachverhalts. Dessen parteiische »Farbe« wird color genannt. Stoff der Amplifikation sind die Gedanken, wobei Vergrößerungs- bzw. Verkleinerungsabsicht natürlich die Sprache der Darstellung formen. Ästhetisch gesehen ist die Amplifikation Teil des Redeschmucks, des ornatus214, und zwar vor allem durch den Einsatz von rhetorischen Tropen und Figuren. Die amplifizierende, ästhetisch zugleich Wahrnehmung und Affekte der Zuhörer ansprechende Formung der Rede entspricht der rednerischen Per64 | Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 

spektive und drückt sich auch in den darin gründenden Bewertungen des Sachverhalts aus. Dabei spiegelt der Redestil die jeweils zeitbestimmten Eigenschaften einer kulturellen Semantik, die als Ensemble sozial festgelegter Bedeutungsstrukturen Teil dessen ist, was Cassirer das »symbolische Universum« oder auch das »Symbolnetz« der Kultur nennt.215 Kenneth Burke hat das eindrücklich in seiner Analyse von Bent­ hams »Book of Fallacies« dargelegt. Bentham wollte danach »the suggestiveness of imagery« zeigen, die all unsere Urteile, Entscheidungen, Haltungen und Handlungen bestimmt.216 Er propagierte eine Suche nach imaginativen »Archetypen«, d. h. sprachlichen Bildern, die dem Gebrauch von Abstrakta unterliegen, wie etwa »Bindung« (binding) der »Verpflichtung« (obligation) zugrunde liegt. Er glaubte auch, dass ursprünglich alle Wörter für Schmerzen, Vergnügungen, Wünsche, Gefühle, Motive oder Leidenschaften neutral waren, dann aber teils lobende (eulogistic), teils tadelnde (dyslogistic) Bedeutungen annahmen. Als Beispiel führt er den Begriff »Geldinteresse« (pecuniary interest) an und ordnet ihm folgende Synonyme zu: neutral: Wunsch nach Lebenserhalt, Fülle, Profit, Anschaffung; lobend: Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit, Bescheidenheit; tadelnd: Geiz, Knauserigkeit, Gier, Habsucht, Käuflichkeit, Gewinnsucht.217 Hier soll nicht beurteilt werden, ob Benthams Konzept sprachlicher Archetypen und ihrer Variationen einer linguistischen Prüfung standhält. Hilfreich für das Verständnis rhetorischer Stilisierung aber ist seine Suche nach polaren, auch die semantischen Valeurs der Tropen und Figuren ausnutzenden Wertungsprädikaten in der Sprache, und wichtig ist sein Fazit: Wo es um die Beeinflussung von Handlungen anderer geht, wird der Gebrauch eines bloß neutralen Wortschatzes nicht ausreichen.218 Man muss Benthams Beispiele aber nicht bloß als Synonyme auffassen, sondern kann sie auch rhetorisch als Mittel zur ästhetischamplifizierenden Darstellung des Redegegenstandes verstehen. Steigerungen der »Sparsamkeit« wären dann etwa der »Notgroschen« oder die »Fürsorge«, solche des »Geizes« etwa die »Schäbigkeit«, die »Wucherei« oder der »Mammonsdienst«. Hierzu gehörende rhetorische Figuren und Tropen wären dann die Periphrase, die Metapher oder die Hyperbel.219 Kognitiv, also erkenntnismäßig gesehen, prägen sie das Erscheinungsbild des »Interesses am Geld«;  Ethische Aspekte rhetorischen Handelns | 65

volitiv gesehen haben sie gerade in der bewertenden Polarisierung von »gutem« und »schlechtem« Interesse eine auf den Willen der Adressaten zielende und damit handlungsrelevante Funktion.220 Auslöser dieser Funktion sind die an Lob bzw. Tadel gebundenen Gefühle wie die Liebe zur Sparsamkeit oder der Abscheu gegenüber dem Geiz, wobei hier – nach den rhetorischen Wirkungspflichten delectare und movere – die ganze Palette von den sanften, auf Unterhaltung bedachten bis zu den heftigen, auf Erregung der Leidenschaften gerichteten Gefühlen in Betracht kommt.221 Genauer lässt sich diese Handlungsrelevanz fassen, wenn man nicht bloß die Erlebnisqualität dieser Gefühle (bzw. Affekte) sieht, sondern sie als Emotionen begreift, die neben dem affektiven auch einen kognitiv repräsentierten Inhalt haben, der die Welt als in bestimmter Verfassung befindlich vorstellt. Dieser Inhalt transportiert zugleich eine Bewertung des Repräsentierten, sei es ein Gegenstand oder eine Person im Licht subjektiver Ansprüche, Ziele und Motive.222 Die kognitive und die volitive Funktion der mit den Bewertungen des Redegegenstandes ausgedrückten Emotionen stellen damit den Mobilisierungsspielraum bereit, den der Redner mit seiner Rede ausnützen kann, um sein persuasives Ziel zu erreichen. Rhetorische Techniken wie Amplifikation und Beispielgebung sind also nicht nur wichtig für das Gelingen der Persuasion, sondern sie haben auch große Bedeutung für die ethische Wirkung des Redners auf die Zuhörer.

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III . Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik 1. Kritik der Forschung

Bevor wir unsere eigenen Vorstellungen zur Gestalt einer rhetorischen Ethik präsentieren, sollen die bisherigen Ansätze einer kritischen Revision unterzogen werden. Sie stammen aus Diskursethik und Argumentationstheorie, aus dem Pragmatismus, aus analytischer Sprachphilosophie, Stiltheorie und Tugendethik. Bekannt für seinen diskursethischen Ansatz ist vor allem Josef Kopperschmidts Entwurf einer sozialemanzipativen Rhetorik, deren Ursprünge noch aus den Diskussionen der Studentenbewegung um die Gestalt einer »kritischen Rhetorik« stammen. Seine Version der Theorie persuasiver Rede entspringt der Ablehnung technischer Perfektionierung moderner rhetorischer Kommunikation. Deren »Verabsolutierung der instrumentellen Rationalität« erliege »der Gefahr der Ausblendung der hermeneutischen Rationalitätsleis­ tung der traditionellen Rhetorik. Nur die Synthese beider Rhetoriken kann eine neue wissenschaftliche Rhetorik begründen […]«, schreibt er in dem frühen Aufsatz »›Kritische Rhetorik‹ statt ›Moderner wissenschaftlicher Rhetorik‹«. Daher fordert er eine Verbindung von empirisch-analytischen mit historischen und normativhermeneutischen Verfahren, denn nur so gewinne das gesuchte Rhetorikkonzept emanzipatives Potential und vermöge »Sprache zur hermeneutischen Aufklärung von Praxis« einzusetzen.223 Die Gestalt einer kritischen Rhetorik sucht er durch die Entwicklung eines angemessenen Handlungsbegriffs zu begründen, wie er in seinem späteren Buch »Allgemeine Rhetorik« ausführt. Den Ansatz dazu findet er bei Max Weber, der Handeln als »menschliches Verhalten« bestimmt, »wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.«224 Soziales Handeln als Sonderform des Handelns ist nach Weber dadurch gekennzeichnet, dass es »in seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran  67

in seinem Ablauf orientiert ist.«225 Das Spezifische dieses Handelns im Unterschied zum reaktiven oder imitativen Verhalten ist seine Intentionalität.226 Sie richtet sich nach dem Verhalten der anderen Individuen und ist verankert im Kontext von deren Absichten. Aufgrund reziproker Verhaltenserwartungen ist es ein verstehbares Handeln, das in ein gemeinsames Sinn- und Normengefüge eingebettet und grundsätzlich sprachlich verfasst ist. Denn Sinn kann man nur sprachlich tradieren und vermitteln; Sinnhaftigkeit des Handelns lässt sich nur sprachlich begründen und rechtfertigen; Orientierung an geltenden Normen und Erwartungsstandards kann nur als Antizipation einer kommunikativ erzielten Verständigung beschrieben werden.227 Doch »Verständigung« ist nach Kopperschmidt noch nicht »Einverständnis«. Wenn es als Handlungsbedingung nicht existiert oder nicht mehr selbstverständlich ist, muss es in einem »handlungsbegleitenden Konsens« wieder hergestellt werden.228 Diese Konsensorientierung teilt Kopperschmidt mit Habermas, der den Weg dorthin allerdings nicht in der Rhetorik, sondern im intersubjektiven »Diskurs« sieht.229 Kopperschmidt hält jedoch am emanzipativen Potential der persuasiven Rede fest. Er integriert sie seinerseits in die Habermas’sche Diskurstheorie und konstatiert, »dass ein Reden, in dem die Vernunft handelnder Subjekte zur Geltung kommt, gerade dann zu sich selbst findet, wenn es in der kommunikativen Auseinandersetzung nicht nur über seine handlungsleitenden Interessen und Zielsetzungen Rechenschaft gibt, sondern sie einem Kommunikationspartner gegenüber argumentativ einsichtig zu machen unternimmt, damit sie zur Grundlage gemeinsamen sozialen Handelns werden. Gelingt diese Argumentation und führt sie zur Übereinstimmung zwischen den Kommunikationspartnern über handlungsleitende Ziele, dann kann man von Konsens sprechen und ihn als die Bedingung gemeinsamen sozialen Handelns qualifizieren. Der Versuch, argumentativ diesen Konsens herzustellen, lässt sich mit dem […] Begriff überzeugen beschreiben und entsprechend eine so orientierte Kommunikation als überzeugende bzw. […] als Persuasive Kommunikation kennzeichnen.«230 Das Interesse dieser Art von Argumentationsrhetorik liegt nicht in der Effizienzsteigerung der Rede, sondern in einer »Ausweitung von Vernunft, die als sprachliche zugleich auch öffentliche Vernunft ist«.231 Manipulativ 68 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

bzw. überredend und damit gewaltsam wirkt die persuasive Rede dann, wenn sie autonomes Handeln unmöglich macht, und zwar durch Beeinflussungsmechanismen, die unterhalb der Kontrolle des Bewusstseins ablaufen.232 Dieser sozialemanzipativ orientierte, auf Vernunft, Konsens und Argumentation setzende Rhetorikbegriff hat zweifellos ethische Dignität, aber auch seine Schwächen. So konstatiert Kopperschmidt zu Recht, dass zur gelingenden Argumentation ebenfalls die Tugenden der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit gehören.233 Aber es fragt sich, ob man dazu nicht auch die Klugheit zählen sollte. Kopperschmidt berücksichtigt sie nicht, wahrscheinlich wegen ihrer Nähe zu der von Habermas kritisierten strategischen Kommunikation. Dennoch gehört sie sicherlich zu den rhetorischen Kardinaltugenden.234 Außerdem setzt Kopperschmidt nur auf Rationalität als Mittel gegen das manipulative Potential der Rhetorik, ohne doch auch die Wirkung von Emotionen für Emanzipation und Ethik zu würdigen. Schließlich muss man bezweifeln, ob der »praktische Diskurs, in dem eine Verständigung über problematisierte Geltungsansprüche angestrebt wird« und der von Kopperschmidt »ebenso als rechtfertigend bzw. begründend wie als persuasiv« gekennzeichnet wird235, als Basis zur Fundierung einer rhetorischen Ethik ausreicht. Denn Kommunikationstheorien sind nach Höffe nicht Begründungstheorien schlechthin, sondern »vor allem Geltungs- und nicht auch Explikations- und Konstitutionstheorien von Moral und Recht«.236 Ein Teil jener normativen Grundsätze, die auf ihre Geltung erst geprüft werden sollen, wird darin schon als gültig vorausgesetzt. Man müsse deshalb eine Stufe tiefer ansetzen: zuerst einmal eine Analyse des sittlich Guten als des unbedingt Guten durchführen und danach dann die für den jeweiligen Bereich gültigen spezifisch sittlichen Grundsätze formulieren.237 Mit dem Postulat, dass der Konsens der Diskursteilnehmer in Geltungsfragen gelingen müsse, ist also noch nicht die Frage nach der inhaltlichen Bewertung oder der ethischen Abwägung der diesen Konsens tragenden Normen beantwortet, denn das Aushandeln der Geltungsansprüche ist lediglich eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen des Konsenses.238 Problematisch vom Aspekt rhetorischer Ethik her ist Kopperschmidts Einstellung zur Technik. In der Rückschau auf die Genese  Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 69

seiner Überlegungen erklärt er, seinerzeit habe er »den Versuch unternommen, die verschiedenen, in der Binärformel »Sozialtechnologie/Kritik« geronnenen problemgeschichtlichen Dichotomien freizulegen, angefangen von Aristoteles (poíesis/práxis) über Vico (critica/topica) und Arendt (Herstellen/Handeln) bis zu Habermas (Technik/Praxis). […] Dabei wurden als »Sozialtechnologie« alle Interessen an Rhetorik bestimmt, die »Sprache/Rede als strategisches Mittel eines prinzipiell monologischen Willens instrumentalisierten [...].«239 Eine kritische Linie der Argumentation aufgrund von zwei Handlungs- bzw. Rhetoriktypen lässt sich wohl bei Vico, Arendt und Habermas nachweisen, da es Vico um die Differenz von rationalistischer und topischer Erkenntnis, Arendt um den Unterschied bzw. die falsche Identifizierung von hervorbringendem und praktischem Handeln, Habermas um den Gegensatz von instrumenteller und kritischer Vernunft im kommunikativen Handeln geht.240 Der Typus des herstellenden Handelns gerät in dieser Genealogie allerdings zu einem Vorläufer der rein negativ bewerteten instrumentellen Vernunft. Auch Kopperschmidt greift auf das technische Potential der Rhetorik zurück, wenn er von »spezifisch rhetorischen Mittel[n]« bei der persuasiven Rede spricht.241 Die kommunikative Funktion dieser Mittel scheint er auch zu bejahen, hebt deren positive Rolle aber nicht genügend von der kritisierten Funktion der rhetorischen Sozialtechnologie ab. Diese dient nach Habermas in erster Linie der Stützung und Reproduktion der spätkapitalistischen Gesellschaft. Dort sind im Rahmen der industriellen Forschung »Wissenschaft, Technik und Verwertung zu einem System zusammengeschlossen«, ist »das Selbstverständnis der Gesellschaft vom Bezugssystem des kommunikativen Handelns und von den Begriffen symbolisch vermittelter Inter­a ktion« getrennt und durch ein wissenschaftliches Steuerungsmodell ersetzt 242 worden, zu dem nach Kopperschmidt auch die Rhetorik gehören kann. Technik ist aber selbst im Spätkapitalismus nicht nur ein Systemelement universaler Manipulation, sondern nach wie vor ein ethisch relevantes Instrument des Handelns und der Selbstbestimmung des Individuums auch in seinen kommunikativen Interaktionsbezügen. Anders könnte sie nicht zum Mittel einer kritischen, auf soziale Emanzipation bedachten Rhetorik werden. 70 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

Auf die argumentativen Verfahren der Diskursethik gründet auch Wolfgang Kuhlmann sein ethisches Konzept.243 Im Aufsatz »Rhetorik und Ethik« identifiziert er die Rhetorik mit der Überredung, die Diskursethik mit der Überzeugung. Er stellt fest, dass die Ethik des Diskurses eigentlich der Rhetorik widerstreite, da Erstere eine »zentrale moralische Intuition« enthalte, »die Idee der Fairness zwischen im Prinzip gleichberechtigten freien Personen«. Letztere dagegen versuche, das »Risiko der Erfolglosigkeit« des Überzeugens im offenen Diskurs zweier miteinander redender Partner zu vermindern, indem sie zu den Mitteln der Ablenkung, Schönfärberei oder Emotionalisierung greife, um so besser zum Ziel zu kommen.244 Kuhlmann muss aber einräumen, dass die unmittelbare Befolgung des diskursethischen Ideals unrealistisch ist, ja sogar falsch sein kann.245 Daher trennt er die Diskursethik in einen Begründungsteil, in dem das Moralprinzip formuliert und die Diskursregeln festgesetzt werden246, und einen Anwendungsteil, in dem die faktischen Konsequenzen des Moralprinzips in realer Kommunikation berücksichtigt werden. Hier findet jetzt auch die Rhetorik ihren Platz, deren Zweck er als Beratung definiert und die die Brücke zwischen Ideal und Realität der Kommunikation schlägt.247 Allerdings kommt er in einer fünfteiligen »Typologie von Beratungshandlungen« und in seinen Überlegungen zur Legitimierung von Werbung den Nutzensbedingungen erfolgsorientierter Kommunikation so weit entgegen, dass man kaum noch zwischen diskursiver und utilitaristischer Ethik unterscheiden kann.248 Auch die Feststellung, dass sich die angewandte Diskursethik an die gegebenen Umstände anpassen muss wie Knappheit der Zeitressourcen und kommunikative Erfordernisse von Staat, Recht, Markt und Wirtschaft, verwässert das regulative Ideal der diskursiven Prinzipien. Mit der Forderung nach Anpassung an die gegebene Situation wird implizit der Klugheit das Wort geredet, die Kuhlmann früher aus der Diskursethik ausgeschlossen hatte.249 Außerdem schwächt er mit seinem Überzeugungskonzept die Persuasion als intendiertes Ziel der Rede. Da er die Rhetorik auf die Überredung einschränkt, läuft »das Überzeugen auf die Gefährdung des in ihm intendierten Erfolges [hinaus]«250, eine Paradoxie, die Wirkungsintention ohne Wirkungsaktivität ansetzt und damit das Gebiet der Rhetorik verlässt. Kuhlmann kann also Wirkung begrifflich nicht zureichend  Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 71

erfassen, was wohl daran liegt, dass er das Überzeugen nur als intersubjektiven Prozess, der in der gegenseitigen Anerkennung der Diskursregeln gründet, versteht. Die Annahme einer rhetorischen Wirkungsintention erfordert aber ein Konzept rhetorischer Subjektivität251, das der persuasiven Aktivität des Redners zugrunde liegt und insbesondere für ein Verständnis der ebenfalls subjektiv fundierten ethischen Komponenten des Redehandelns wie Bewusstheit, Freiwilligkeit und Entscheidung unverzichtbar ist.252 Ähnlich wie die Diskursethiker denkt Chaim Perelman. In seinem gemeinsam mit Lucie Olbrechts-Tyteca verfassten Buch »La nouvelle rhétorique« versteht er die Rhetorik als Theorie des plausiblen, stets am Publikum orientierten und damit dialogischen Argumentierens, das er klar von den zwingenden Beweisen der formalen Logik abhebt. Perelman bewegt sich daher zwischen den absoluten Gewissheiten des Dogmatismus und dem totalen Zweifel des Skeptizismus. Er sucht eine Methodik, die es erlauben soll, auch mit Fragen der Ethik, des Rechts und des praktischen Handelns auf eine nichtarbiträre Weise umzugehen. Das Argumentieren zielt stets darauf ab, die Zustimmung einer mehr oder weniger großen Zuhörerschaft zu gewinnen.253 Ein Problem stellt für Perelman die ethisch wichtige Abgrenzung des Überzeugens vom Überreden dar, denn er geht davon aus, dass der Redner sich immer an sein Publikum anpassen, ja es »konstruieren« muss, will er erfolgreich sein.254 Damit bekommt die Hörerschaft die »normative Rolle«, »über die überzeugenden Wesenszüge von Argumentation entscheiden zu können [.]«255 Überzeugend ist eine Argumentation, »wenn sie mit dem Geltungsanspruch auf Zustimmung bei allen vernünftigen Wesen verbunden wird« und sich an eine universelle Hörerschaft wendet; überredend ist sie, »wenn sie nur bei einer partikulären Hörerschaft gelten soll […]«.256 Anders als Kant, der das Unterscheidungskriterium zwischen Überzeugung und Überredung aus dem Gegensatz von »subjektiv« und »objektiv« gewinnt 257, konstruiert Perelman also zwei Arten von Hörerschaften. Sie entscheiden über die Perspektive von Argumentationen, deren typische Züge und künftige Tragweite.258 Doch der Begriff des universellen Publikums ist zu allgemein, als Adressat zu unspezifisch, um Hinweise für eine Unterscheidung von plausiblen, schwachen oder gar trugschlüssigen Argumenten 72 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

liefern zu können. Dazu müssten inhaltliche oder logische Kriterien der Argumentation herangezogen werden.259 Auch bleibt die Frage nach einem nicht nur auf logische Allgemeinheit, sondern auch auf ethische Verallgemeinerung von Normen gegründeten Zusammenhang zwischen Überzeugen und Überreden, zwischen universellem und partikulärem Publikum offen. Zudem lässt sich einwenden: Wenn jeder Argumentierende seine eigene universale Hörerschaft konstruiert, wird die Frage nach einem Kriterium für die Gültigkeit von Argumenten mit psychologischen und kulturellen Voreinstellungen des Redenden vermischt.260 Pragmatistische und utilitaristische Überlegungen zum Verhält­ nis von Rhetorik und »praktischer Weisheit« zeigen sich in Chris­ topher L. Johnstones Aufsatz über »Dewey, Ethics and Rhetoric: Toward a Contemporary Conception of Practical Wisdom«. D ­ ewey verfolgt mit seinem Ansatz pädagogische Absichten. Danach soll Kommunikation die Charakterentwicklung des Individuums, seine »moralische Tugend« (moral virtue) und »Haltung« (conduct) stimulieren. Elemente dieser Haltung sind kreative Intelligenz, Verantwortung, Freiheit und die »Ausdehnung des Geistes« (expansion of mind).261 Da nicht alle Güter von gleichem Wert sind, erfordert moralisches Verhalten die Beurteilung des relativen Werts konkurrierender Güter. Darin besteht die praktische Weisheit. Ihr Urteil antizipiert die Konsequenzen von Handlungen; sie ist sich bewusst, dass erst das Ziel die Mittel rechtfertigt. Es gibt kein alles beherrschendes Ziel, sondern nur eine Vielfalt von Zielen; zu den wichtigsten gehört die Entwicklung des Selbst. Die letzte Autorität für die Beurteilung von Werten ist das Leben. Die Belohnung sind Erfahrungen, die erfreuen und befriedigen, die gut sind. Wichtig ist dabei das soziale Element: Der Einzelne hat eine fundamentale Beziehung zum Wohlergehen derer, mit denen er zusammenlebt, denn die Interessen der anderen sind mit den eigenen verbunden.262 Die Rhetorik bezweckt in Deweys Sicht nicht in erster Linie die Persuasion, sondern das moralische Wachstum. Sie ist das Instrument der praktischen Weisheit und dient zur Beeinflussung des Verhaltens der anderen sowie der ästhetischen Formung der eigenen Rede.263 John Dewey, dessen Auffassung vom Konzept einer rhetorischen Ethik Johnstone hier vorstellt, war eine der wichtigsten Figuren des  Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 73

frühen amerikanischen Pragmatismus und besonders mit Fragen der Pädagogik beschäftigt. Er propagierte die Idee einer nie wirklich abgeschlossenen Erziehung in einer offenen Gesellschaft und verstand das ganze Leben als Lernprozess.264 Seine utilitaristische Position zeigt sich in Johnstones Hinweis auf die Wichtigkeit der Handlungsfolgen für ethische Entscheidungen und auf die Verflechtung des individuellen Wohls mit der Wohlfahrt der anderen Gesellschaftsmitglieder. Deweys pragmatische Pädagogik ging stets von der Erfahrung aus, wie sich ja auch in seinem Verständnis der Rhetorik als praktische Weisheit zeigt. Allerdings erklärt Johnstone nicht genau, wie diese in Deweys Sicht das rhetorische Handeln leitet, da er – Johnstone – sich zu sehr auf die pädagogische Rolle der Redeästhetik konzentriert und im Übrigen den Begriff der Ethik als moralische Handlungsanleitung auch nicht näher bestimmt. Erkenntnis ist für Dewey (nach Johnstone) ein Verfahren, um Mittel zum Erreichen praktischer Zwecke zu finden, ohne dass auch das Problem der Legitimität von Mitteln für die Zielrealisation des Handelns aufgeworfen wird. Die Frage nach den handlungsleitenden Werten stellt Dewey nur auf der Ebene einer Realisierung von Einzelzwecken und beantwortet sie durch die Orientierung an der praktischen Erfahrung.265 Doch hier liegen die Grenzen dieses utilitaristischen Sozialprogramms, denn Probleme der Normativität des Verhaltens lassen sich nicht allein auf der individuellen und pragmatischen Ebene lösen.266 Moralität als Ziel der Redeerziehung, genauer des Debattierens, propagiert auch Star A. Muir in seinem Aufsatz »A Defense of the Ethics of Contemporary Debate«. Er verteidigt die schon auf die Sophistik (Protagoras) zurückgehende Praxis des »Nach-zwei-­ Seiten-Argumentierens« (switch side debate) als gute Übung in der akademischen Ausbildung und zur Schulung des demokratischen Verhaltens, da sie ein Mittel ist, sich auch in gegnerische Standpunkte hineinzuversetzen. Sie würde nicht zu Relativismus und Amoralität führen, sondern ermögliche den Studenten eine gute Vorbereitung auf die Anforderungen des späteren Berufslebens. Werte, die in der Debatte trainiert würden, seien etwa die Effi­zienz des Argumentierens durch Kenntnis gegenteiliger Ansichten und zur Verteidigung der eigenen Meinung, dann die Ausbildung intellektueller Flexibilität und des Sinns für Realismus, schließlich 74 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

der Erwerb einer Haltung der Toleranz und Fairness gegenüber abweichenden Meinungen.267 Diese Werte gehören zweifellos zu einer Ethik der Rhetorik. Doch Muir gibt kein Kriterium an, das ihre moralische Qualität genauer bestimmbar macht. Denn argumentative Effizienz, Sinn für lebenspraktischen Realismus sowie selbst Toleranz und Fairness können in einer Demokratie auch für ganz inhumane Handlungsziele instrumentalisiert werden. Die Suche nach ethisch angemessenen Zielen der Redeerziehung ist deshalb so wichtig, weil es dabei um den verantwortungsvollen Umgang mit der persuasiven Macht der Rhetorik geht. Denn rhetorisches Sprechen bzw. Schreiben erzeugt nicht nur Texte, sondern hat auch praktische Folgen als Handlungsakt, der Einfluss auf die sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder nimmt. Vor allem in der US-amerikanischen Rhetorikforschung ist das Verhältnis von Rhetorik und Macht ein wichtiges Thema. Als Beispiel kann der Aufsatz »Critical Rhetoric: Theory and Praxis« von Raymie E. McKerrow dienen, der den »discourse of power« als Mittel zur Erhaltung der Privilegien von Eliten und der Dominanz der Herrschenden »demaskieren« will.268 McKerrow skizziert darin das komplexe Konzept einer »kritischen Rhetorik«, in dem er Elemente von marxis­tischer Ideologiekritik und des Foucault’schen Machtbegriffs mit soziologischen und medientheoretischen Annahmen verbindet. Im Zentrum stehen handlungstheoretische und rhetorische Begriffe wie »discursive practice«, »transformation activity«, »interpretative act«, »doxa«, »influence« und »critique as performance«.269 Doch das Ganze bleibt vor allem deshalb ziemlich vage, weil die Begriffe der kritischen Gesellschaftsanalyse und des rhetorischen Handelns kaum miteinander vermittelt werden. McKerrow verzichtet auf ethische Überlegungen, die gerade diese Vermittlung leisten könnten: »A critical rhetoric no longer looks at praxis in its ethical dimension, tying it to an ideal life-style. Rather, a critical rhetoric links praxis, both as object of study and as style, to ›a mode of transformative acitivity‹ (Benhabib)«.270 Aber worauf zielt eine politische Veränderungsaktivität anders als auf Formen des ›idealen‹ oder besser des ›guten‹ Lebens, das dem herrschenden ›schlechten‹ oder ›falschen‹ Leben entgegengestellt wird? Werte, die zu diesem ›guten‹ Leben gehören, sollten konkret benannt werden und die Ak Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 75

tivitäten einer kritischen Rhetorik leiten, welche die im »discourse of power« zementierten Privilegien von Eliten oder die Machtausübung der Herrschenden attackieren wollen. Vielleicht verzichtet McKerrow deshalb auf die Benennung solcher Werte, weil er nur eine kritische Praxis auf den Weg bringen will, »that stands on its own, without reliance on universal standards of reason«.271 Ein bloß individualistischer Standpunkt kann allerdings nicht nur in Fragen der Ethik, sondern auch für ein Konzept kritischer Rhetorik nicht befriedigen, liefert er die Maßstäbe des Handelns doch allzu sehr der subjektiven Beliebigkeit aus. Wie Perelman versucht, sich bei der Geltungsfrage zwischen Dogmatismus und Skeptizismus hindurchzulavieren, will Willis A. Salomon in der Einleitung zu dem von ihm zusammen mit Victoria Aarons herausgegebenen Sammelband »Rhetoric and Ethics« nichts von »absolute ethical judgments about the nature of rhetoric« wissen, genauso wie »there would be none about the nature of ethics […]«.272 Stattdessen konstatiert er, dass ethische Urteile primär die besonderen konzeptionellen Möglichkeiten unserer Sprache enthüllten, wie spezifische soziale Zwänge sie vermitteln. Die ethischen Annahmen, die rhetorischer Theorie und Praxis unterlägen, seien weniger Berufungen auf »richtig« und »gut« als Berufungen auf gemeinsam vorhandene Tugenden und Laster.273 Salomon hält sich dabei an Wittgenstein, der die Existenz absoluter Werte ablehne und diese immer nur als relativ, weil sprachlich vermittelt ansehe, sowie an Burke, der von in der Rhetorik eingelagerten ethischen Annahmen, auf denen die ganze Persuasionstaktik beruhe, gesprochen habe.274 Doch es wird nicht erklärt, warum »richtig« und »gut« nichts mit Tugenden zu tun haben sollten, was ja völlig unplausibel ist. Salomons Einstellung bestimmt auch die anderen ethischen Beiträge dieses Sammelbandes. Hier gilt die Kritik von Bubner an ähnlichen Positionen: »Normen stehen eben nicht auf derselben Ebene wie Sätze, ihr Annehmen und Verwerfen hat sowohl andere Voraussetzungen wie auch andere Konsequenzen. […] Reden kann man lernen, ohne dass man damit schon gelernt hätte, so zu tun, wie man sagt. Hierzu bedarf es immer noch der Dimension der Anwendung oder des Gebrauchs […] von Wissen.«275 Sprachnormen und Handlungsnormen sind also nicht dasselbe, wie gegen Salomon einzuwenden ist. 76 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

Das gilt auch für den Ansatz von Lars Leeten, der die ethische Normativität rhetorischen Handelns an ihren sprachlichen Vollzug bindet. Er erklärt in seinem Aufsatz »Rhetorik und Ethik«: Wer die Sprache von ihrer Performativität her begreift, »wird ihr vermutlich auch eine Kraft der Realitätsbildung zutrauen, eine Setzungsmacht, die eine ethische Dimension eigener Art eröffnet, welche mehr umfasst als die normative Bewertung einzelner Sprechakte […]«.276 Unter den »rhetorischen Prämissen« identifiziert er schon das Sprechen als praktisches ethisches Handeln: »Wer den Logos als Rede, nicht als Ratio, interpretiert, macht ein praktisches Verhalten zur letzten Grundlage. Es gibt dann keine Vernunft mehr außerhalb von diskursiven Prozessen, keine logische Sphäre jenseits von Sprechsituationen, Kontexten und Sachlagen […].«277 Die »Denkfiguren« dieser »ethischen Redepraxis« finden sich für ihn bereits in der Antike, wo »der Maßstab der guten Rede nicht formale Perfektion, sondern eine vorbildliche Handlungsweise bezeichnet, ein Tugendideal«, das zur »Praxis des guten Lebens« gehörte.278 Rhetorik »als System oder Kunstlehre«, gerichtet auf ein »effektvolles Reden«, »kommt […] als ethische Praxis des guten Lebens nicht in Frage, oder doch nur insofern, als sie zu individueller Machtsteigerung verhilft«.279 Es geht Leeten um die »ethopoietische Funktion der Rede«, die die Entfaltung eines Ethos individuellen und gesellschaftlichen Lebens bezweckt.280 Grundmotive rhetorischer Ethik sieht er im Primat des Praktischen, in der Stiftung von Gemeinschaft und Identität, in der therapeutischen Funktion des Logos zur Unterstützung gelingender Lebensformen, im Beispielgeben, in der situativen Wahrnehmung von rechtem Zeitpunkt und Angemessenheit, in der Beachtung des rechten Maßes und des Einzelfalles sowie in der Einübung ethischer Redepraktiken.281 Doch Leetens Identifizierung der Redeethik mit Fragen der sprachlichen Performanz ist irreführend. Das wäre, wie wenn man die Rhetorik auf Fragen der Vortragsgestaltung reduzieren würde, weil die actio unmittelbar das rhetorische Tätigsein vor Augen führt und zunächst als solches die Reaktionen der Zuhörer auf sich zieht. Sicher realisiert der Vortrag die Rede und fügt sie ein in die kommunikative Interaktion zwischen Redner und Publikum. Aber an der Komposition einer Rede ist nicht nur die Vortrags Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 77

planung beteiligt, wie das rhetorische Produktionsschema lehrt, sondern es tragen auch weitere wichtige Arbeitsschritte dazu bei wie etwa die Gedankenfindung. Hier spielt, anders als Leetens Degradierung der ratio suggeriert, die Vernunft eine zentrale Rolle. Das zeigt schon der griechische Begriff lógos an, der nicht einfach nur die Rede, sondern explizit die vernünftige Rede bezeichnet. Auf ähnliche Weise nivelliert Leeten den Begriff der rhetorischen Praxis, indem er ihn mit der Performanz gleichsetzt. Am Handlungsbegriff dieser Praxis interessieren ihn nur der sprachliche Vollzug und die damit einhergehende Interaktion als ethikrelevante Komponenten, nicht auch das poietische Moment, mit dem sich die »Kunstlehre« beschäftigt, um durch die »formale Perfektion« der Rede die Persuasion zu erreichen. Es greift zu kurz, diese Lehre nur als Mittel bloßer »Machtsteigerung« abzutun und sie nicht auch in ihrer ethischen Funktion zu würdigen, denn der effektive Einsatz der Rhetorik dient dem Redenden dazu, für sich das ›gute Leben‹ zu realisieren.282 Damit bekommt der Gebrauch von Rede und Rhetorik für den Redner einen elementaren strebensethischen283 Zweck. Das Problem rhetorischer Machtsteigerung und Gewaltanwendung würde dann in den Bereich der Moral führen und zu der Frage, welche Normen hier verletzt werden. Diese Frage stellt Leeten aber nicht. Inhaltlich gesehen reduziert er vielmehr die rhetorische Ethik auf den Status »unbefangener Sittlichkeit« (Hegel), wenn er Standes- bzw. Anstandsethik, Nachahmung von Vorbildern und Tugendhaftigkeit als die bestimmenden Bestandteile dieser Ethik anführt und die Moralität ausklammert.284 Nach Hegel aber fällt der Begriff der Moral »nicht mit dem, was wir sonst […] Tugend, Sittlichkeit, Rechtschaffenheit usf. nennen, unmittelbar [zusammen]. Ein sittlich tugendhafter Mensch ist darum nicht auch schon moralisch. Denn zur Moral gehört die Reflexion und das bestimmte Bewusstsein über das, was das Pflichtgemäße ist, und das Handeln aus diesem vorhergegangenen Bewusstsein.«285 Daher kann Leetens Vorhaben, »die rhetorische Ethik als reflektierte Praxis des Umgangs mit der Macht der Rede« darzustellen286, nicht überzeugen, denn moralische Reflexion hat hier nirgendwo ihren Ort. Wenn kein Kriterium für das Gute als Ziel ethischen Handelns angegeben wird, sondern es nur um das tradierte und das alltägliche Normbewusstsein geht, dann können legitime von 78 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

illegitimen Persuasionszwecken und -mitteln nicht mehr begründet unterschieden werden. Das Verhältnis von Sprache und Handeln ist auch zentrales Thema im Artikel »Stil und Moral« von Hans Jürgen Heringer. Er geht davon aus, dass der Stil Ausdruck einer Person ist, und konstatiert, dass die stilistische Formung der Sprache zum Medium des intentionalen, verantwortlichen Handelns eines Autors wird und sich daher auch moralisch vom Standpunkt des Rezipienten aus beurteilen lässt. Voraussetzung für die moralische Stilbetrachtung ist der kritische Umgang mit sprachlichen Äußerungen. Zu unterscheiden sind Sprachkritik, die sich auf die Wortentstehung, und Stilkritik, die sich auf die Sprachverwendung bezieht.287 Bei der Stilkritik kommt mit der Frage nach der Sprachverwendung bzw. -handlung die Frage nach dem ethischen Ansatz ins Spiel. Um einen Maßstab für die Beurteilung von Stil zu gewinnen, greift Heringer zurück auf die »Kommunikative Ethik« von Edeltraud Bülow. Moralische Verantwortung kommt nach Bülow dadurch zustande, dass der Mensch frei seine Tugenden wählt und damit für seine Wahl auch rechenschaftspflichtig ist. Die Anforderungen für diese Wahl umfassen 1. die Pflicht jedes Kommunikationspartners, sich die kommunikativen Mittel möglichst vollständig anzueignen und die Wahrhaftigkeit ihres Einsatzes zu gewährleisten; 2. das Gebot der Achtung, die jeder an der Kommunikation Teilnehmende seinem Partner entgegenzubringen hat.288 Die Begriffe »Pflicht« und »Achtung« verweisen auf die ethischen Überlegungen Kants, die Bülow ihrem Ansatz zugrunde legt.289 Um die Allgemeinheit der hier genannten Pflichten und Gebote zu gewährleisten, bezieht Heringer sich außerdem auf die in Anlehnung an Kant formulierten Kooperationsmaximen von H. Paul Grice, die für jeden Kommunikationsteilnehmer gelten, soll die Kommunikation erfolgreich verlaufen, d. h. Verständigung erzielen. »Eine so begründete Moral«, meint Heringer, »würde sich nicht auf irgendwelche äußeren Werte stützen, sondern ganz im Sinne Kants ihre Begründung abstrakt aus dem Sinn des Handelns oder Kommunizierens gewinnen. Verstöße gegen die Maximen wären dann wahrhaft unmoralisch und würden das gesamte Unternehmen der Kommunikation in Frage stellen.«290 Dabei bestimmen die Grice’schen Maximen die Kommunikation eigentlich in unterschiedlicher Weise, denn Quanti Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 79

tät und Modalität sind rein technische Maximen, Relation ist eine pragmatische Maxime, wogegen nur die Qualität mit der Wahrhaftigkeitsforderung eine wirklich moralische Maxime ist.291 Heringer illustriert die kommunikationszerstörenden bzw. -bedrohenden Folgen dieser Verstöße anhand der Lüge sowie der phrasenhaften und vagen, der unpersönlichen und generalisierenden Rede.292 Richtig ist, dass Heringer stilistische Formung von vornherein als sprachliches Handeln thematisiert. Allerdings begreift er dessen ethische Qualität nur unter kommunikativen Vorzeichen, da er die Rhetorik von der Linguistik her sieht, obwohl Rhetorik nicht einfach nur Kommunikation ist. Rhetorik ist erst von der Persuasion her, also einer speziellen Form von Kommunikation, wirklich zu verstehen, womit der Rückgriff auf Kant nicht zufriedenstellt, denn dieser hat bekanntlich die Rhetorik gerade aufgrund ihrer Wirkungsabsicht scharf kritisiert. Daher fragt es sich, ob es neben dem moralischen Aspekt nicht noch ein anderes ethisches Prinzip sprachlichen Handelns gibt, das den rhetorischen Gesichtspunkt der Wirkungsintention berücksichtigt und die stilistische Form eines Textes der ethischen Beurteilung zugänglich macht. Doch dieses Problem sieht Heringer nicht. Rhetorik als Mittel der kommunikativen Wirkung anzusehen sollte übrigens nicht dazu verleiten, sie einfach mit Manipulation gleichzusetzen, wie es Douglas H. Parker in seinem Aufsatz »Rhetoric, Ethics and Manipulation« macht. Manipulation versteht er nicht nur in einem negativen, sondern zunächst mal in einem ethisch neutralen, rein wirkungsbezogenen Sinn. Denn die Menschen üben immer gegenseitigen Einfluss aus, da sonst ihr Leben als humane Wesen nicht zu realisieren ist.293 Es gibt für ihn auch negative Formen von Manipulation, und zwar dann, wenn Einflussnahme als Gewalt und Zwang auftritt.294 Aber positive, »nicht ausbeuterische [non-exploitive]« Formen haben eine unverzichtbare und nützliche Wirkung auf die Gesellschaft. Dazu gehört der rhetorische »Versuch, eine Person oder Hörerschaft zu irgendeiner Aktion zu überreden [persuade]«, die in ihrem Interesse liegt und nicht in den psychischen oder monetären Bedürfnissen von jemand anders.295 Parkers Differenzierung von Einflussnahme bzw. Wirkung in positive und negative Erscheinungsformen ist ohne weiteres zuzustimmen. Terminologisch aber ist eine schlichte Identifi80 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

zierung von Wirkung bzw. Rhetorik mit Manipulation abzulehnen, da Manipulation zu negativ konnotiert ist.296 Einen ganz anderen moralischen Gesichtspunkt als den der stilistischen Verfehlung legt Richard Weaver seinem Buch »The Ethics of Rhetoric« zugrunde. Es kritisiert die politisch-gesellschaftlichen Zustände in den USA, die vor allem von einer egoistischen Auslegung des pursuit of happiness, den die Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung beschwört, motiviert sind. Weaver entdeckt die Spuren dieses auf Profit und Machterwerb bedachten Egoismus insbesondere im Journalismus der Massenpresse und in der modernen politischen Rede, die mit ihrer aufreizend emotionalisierenden Sprache Leser und Hörer von sich und ihren Bewertungen abhängig machen wollen.297 Das Gegenmittel dazu sieht er in enger Bindung der Rhetorik an die Dialektik. Diese ist für ihn »a method of investigation whose object is the establishment of truth about doubtful propositions«; jene dagegen schlägt die Brücke »from mere scientific demonstration of an idea to its relation to prudential conduct«. Die wahre, dialektisch angeleitete Rhetorik sucht die Menschen zu vervollkommnen, indem sie ihnen bessere Versionen ihrer selbst zeigt bis hin zum Ideal, das nur der Intellekt verstehen und für das nur die Seele Liebe empfinden kann.298 Leicht zu sehen, dass Platon als Vorbild für dieses ethische Verständnis der Rhetorik dient, und zwar insbesondere sein Dialog »Phaidros«. Weaver konstruiert eine auf Platon fußende Unterscheidung zwischen dem »gemeinen Rhetoriker« (base rhetorician), der auf der Jagd nach flüchtigen Freuden den physischen Lebenstrieben folgt, und dem »tugendhaften Rhetoriker« (virtuous rhetorician), der ein Liebhaber der Wahrheit und unvergänglicher, d. h. im Reich der Ideen angesiedelter Werte ist.299 Redner, die dem platonischen Ideal entsprechen, findet er in der amerikanischen Geschichte, und zwar vor allem in der Gestalt Abraham Lincolns, der von Grundprinzipien, klaren Analysen und axiomatischen Definitionen aus argumentierte, so dass seine Sätze für die Zuhörer Überzeugungskraft ausstrahlten und ihnen dauerhafte Werte vermittelten.300 Weaver sieht die allgemeinen Züge seines rednerischen Leitbildes in den politischen Ideen des amerikanischen Konservatismus verwirklicht, insbesondere in den sozialen und kulturellen Normen der Südstaaten des 19. Jahrhunderts, die er den  Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 81

auf Polarisierung und Gewinnsucht zurückgehenden modernen Verfallserscheinungen der amerikanischen Gesellschaft entgegenhält.301 Platons agathós anér, der rechtschaffene Mann, der später in der römischen Rhetorik als vir bonus dicendi peritus wiederkehrt, ist also Weavers Modell.302 Seine sprach-, kultur- und gesellschaftskritischen Überlegungen bleiben allerdings recht allgemein und müssten mit Theoremen der neuzeitlichen Ethik vermittelt werden. Alberto Gil dagegen versucht, in seinem didaktisch orientierten Buch »Wie man wirklich überzeugt« die tugendethischen Merkmale des vir-bonus-Ideals neu zu formulieren. Ihn interessieren die ethischen »Bedingungen«, »die ehrliches und überzeugendes Reden ermöglichen«, wobei er wirkungstechnisch von den drei aris­ totelischen Beweisformen lógos, éthos und páthos ausgeht.303 Am meisten zählt für Gil eine Einstellung, die besagt, »dass der Redner sich durch die Ausübung der […] Eigenschaften Wahrhaftigkeit, Einfachheit, Optimismus und Demut nicht künstlich bzw. rein technisch, sondern auf eine organische und natürliche Weise entwickelt und so überzeugend wirkt«.304 Der Erwerb der genannten Tugenden ist die Folge von Selbstreflexion und Persönlichkeitsbildung. »Autorität strahlt aus, wer über Sachverstand, ein ethisches Gerüst verfügt und deutlich macht, dass er das Wohl der anderen im Auge hat, da er aus dem kommunikativen Vorgang keine persönlichen Vorteile ziehen möchte.«305 Gil favorisiert also für die Rednerausbildung einen psychologisch-therapeutischen Ansatz, der kritische Selbsterkenntnis anstrebt und die Propagierung von tugendhaftem Verhalten empfiehlt. Diese Fundierung der Rednerethik auf Tugendhaftigkeit ist zweifellos legitim; sie sollte aber nicht in einen Altruismus münden, der bis zur Demut306 geht, das rednerische Eigeninteresse nivelliert und sogar den Geschäftspartner als »Bruder«307 ansieht. Die Demut passt eher als Haltung für den Prediger, wie sie Augustinus in seiner Homiletik fordert.308 Eine ähnliche Auffassung wie Gil vertreten Sonja K. Foss und Cindy L. Griffin in ihrem Aufsatz »Beyond Persuasion: A Proposal For An Invitational Rhetoric«. Sie verstehen die Rhetorik als Einladung zum Verstehen »as a means to create a relationship rooted in equality, immanent value and self-determination«.309 Dieses Konzept hat außerdem eine feministische Spitze, weil es annimmt, die tra82 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

dierte, auf Persuasion setzende Rhetorik habe einen »patriarchal bias«, den es zu überwinden gelte.310 Doch nicht nur Platon mit dem auf ihn zurückgehenden vir-­ bonus-Ideal, auch Aristoteles ist eine wichtige Figur in der Diskussion um eine zeitgemäße rhetorische Ethik, wie Gudrun Feys Arbeit »Das ethische Dilemma der Rhetorik in der Theorie der Antike und der Neuzeit« zeigt. Dieses Dilemma besteht nach Ansicht der Verfasserin »in der Unfähigkeit oder Unmöglichkeit, ethische Normen und Werte für den Gebrauch der Rhetorik verbindlich vorzuschreiben, oder auch darin, Rhetorik und Ethik so unlösbar miteinander zu verbinden, dass ein Missbrauch der Rhetorik ausgeschlossen werden kann […]«.311 Der größte Teil ihres Buches besteht im Referat theoretischer Überlegungen aus Vergangenheit und Gegenwart, die diesen Missbrauch vermeiden wollen. Behandelt werden die Sophistik, Platon, Aristoteles, Cicero und die römische Erziehung zum vir bonus mit ihrer europäischen Wirkungsgeschichte. Typologisch gesehen unterscheidet Fey die sophistisch-instrumentelle Lösung, die Rhetorik und Ethik trennt312; die platonische Lösung, welche die Rhetorik eng mit der Ethik verknüpft und die Redekunst für überindividuelle, »allgemein als edel anerkannte Werte« einsetzt313; die vir-bonus-Lösung, welche die ethische Fundierung der Rhetorik durch die Erziehung sicherstellen will314; moderne Lösungsversuche315 sowie »die aristotelische Lösung als erfolgversprechendste[n] Ausweg aus dem ethischen Dilemma der Rhetorik«316. Der aristotelische Ausweg stützt sich auf das rednerische éthos tou légontos »als integrativen und unverzichtbaren Bestandteil des Überzeugungserfolges […], so dass die theoretisch mögliche Trennung von Ethik und Rhetorik in der Rede selbst aufgehoben wird«. Denn ein Redner wird sich »aus Vernunft und Eigeninteresse nicht nur bemühen, glaubwürdig und vertrauenswürdig zu wirken, sondern es auch zu sein, weil sich dann diese Wirkung und damit der Überzeugungserfolg leichter erzielen lassen«.317 Fey beruft sich vor allem deshalb auf Aristoteles, weil nach ihrer Ansicht das Interesse des Redners sich nicht eliminieren lasse. Es sei bisher »immer stärker« gewesen »als die Einhaltung ethischer Normen und Regeln wie Wahrhaftigkeit, Sachlichkeit oder Redlichkeit« und werde es auch in Zukunft sein. Daher müsse das Ziel des Redners, von eigenen Interessen zu überzeugen, als legitimes Anliegen gesellschaftlich akzeptiert  Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 83

werden. Eine Ethik nach Aristoteles diene der menschlichen Praxis und hätte damit den Zweck, »die puritanische Ethik Kants zu überwinden«.318 Eine solchermaßen pragmatische Ethik sei eine »›aktive‹ Ethik« aus selbstverantwortlichem Verhalten heraus mit dem Ziel der Realisierung der eudaimonía, des »geglückten Lebens«. »Grundsätze« dieser aktiven Ethik sind die Legitimität des Eigeninteresses, das aptum (die Stimmigkeit zwischen éthos, páthos und prágma) als grundlegendes Handlungsprinzip, die Degradierung der Wahrheit (»nicht mehr unbedingter oberster Wert«), Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik, die Kongruenz zwischen dem, »was ›vernünftig‹, und dem, was ›gut‹ ist«.319 Feys an Aristoteles anschließendes Ethikkonzept ist sehr inte­ ressant, enthält aber Wegweisendes und Fragwürdiges in bunter Mischung. Wichtig ist sicher der Ansatz am Eigeninteresse des Redners als Motor der Persuasionsanstrengung, denn es ist ethisch gerechtfertigt, Handlungsziele zu verfolgen, die dem Eigenwohl dienen. Allerdings ist eine bloß egoistisch ausgerichtete Ethik insgesamt gesehen doch nur eine halbe Sache, die das von Fey anvisierte Ziel des »geglückten Lebens« wohl deshalb schwerlich erreichen wird, weil zum Glück des eigenen Lebens immer auch das geglückte Leben anderer Menschen gehört. Von daher ist die moralische Interpretation der aristotelischen éthos-Lehre als Verbindung von Ethik und Rhetorik in der Rede wiederum nur halbherzig, da sie bloß von der größeren Wirkung, aber nicht von der tatsächlichen Moralität des Handelns her, das sich etwa an den sozial wertvollen Handlungsfolgen zeigt, legitimiert wird. Eine Ergänzung (nicht »Überwindung«) der »puritanischen Ethik Kants« wäre sicher insofern zu begrüßen, als gerade bei der Rhetorik neben den »Normen und Regeln« auch das wohlverstandene Eigeninteresse ein Faktor ethischer Überlegung sein sollte. Aber damit sind die zu respektierenden Pflichten des Redners wie Wahrhaftigkeit, Sachlichkeit und Redlichkeit noch nicht per se obsolet. Es wäre nötig, die diesbezüglichen Normen (Gebote, Verbote, Erlaubnisse) und Regeln – genauso wie übrigens die rhetorischen Güter und Ziele – einmal zusammenzustellen und auf ihre ethische Validität zu untersuchen, anstatt von vornherein in Abrede zu stellen, ethische Normen und Werte könnten für die Rhetorik verbindlich festgeschrieben werden, wie Fey gleich zu Beginn ihres Buchs be84 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

hauptet. Zu den »Grundsätzen« ist kritisch zu fragen, was genau mit der geforderten Degradierung der Wahrheit denn gemeint sei, warum die Verfasserin mit Max Weber bei der Rhetorik die Verantwortungsethik gegenüber der Gesinnungsethik favorisiert und worin die Beziehung zwischen der Vernunft und dem »Guten« denn eigentlich besteht. Trotz dieser Einwände bleibt Feys Ausgang vom Eigeninteresse des Redners für den Entwurf einer rhetorischen Ethik bedenkenswert. Nur sollte man dafür an der Terminologie des Aristoteles selbst ansetzen. Statt »Eigeninteresse« bietet sich dann das aristotelische »Streben« aus »Nikomachischer Ethik« und »Rhetorik« an, das als einer der Grundbegriffe auch einer rhetorischen Ethik gelten kann, wie im Folgenden zu zeigen ist. 2. Rhetorische Ethik als Integrationstypus a) Ethische Ansätze der rhetorischen Tradition

Der Blick auf die heutige Forschung hat Motive zur ethischen Bewertung der Persuasion zutage gefördert, die sich sowohl auf die Handlungsziele (teleologisch) als auch auf die Beachtung von Pflichten (deontologisch), auf die Orientierung am Nutzen (utilitaristisch) und auf den Einfluss der Tugenden richten. Ähnliche Konzepte bestimmen bereits die ethischen Positionen der antiken und humanistischen Rhetorik. Die Römer konzentrieren sich schon früh auf die Pflichten, die mit der Tätigkeit des Redens in der Öffentlichkeit verbunden sind. »Aufgabe des Redners [oratoris officium] ist es«, so definiert die »Rhetorik an Herennius«, »über die Angelegenheiten sprechen zu können, welche um der Wohlfahrt der Bürger [ad usum civilem] willen durch Sitten und Gesetze festgelegt sind, und zwar mit der Zustimmung der Zuhörer, soweit diese erlangt werden kann.«320 Der lateinische Begriff officium bezeichnet eigentlich den Dienst, den jemand zur Bewältigung der Aufgabe leisten muss, die ihm durch seine Stellung im Familienverband, in der Gesellschaft und im Staat zugewiesen ist.321 Auch das öffentliche Reden wird in dieser Bestimmung der HerenniusRhetorik als Aufgabe bzw. Pflicht im Sinne der sozialen Nötigung verstanden, die der Redende im Dienst der Bürgerwohlfahrt zu er Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 85

füllen hat, wobei er sich um die Zustimmung seiner Hörer bemühen muss. Der junge Cicero erweitert dieses Pflichtkonzept, wenn er in »De inventione« erklärt: »Aufgabe [officium] aber dieser [d. h. der rednerischen Fähigkeit] scheint es zu sein, geeignet zu sprechen, um zu überzeugen; das Ziel [finis] ist die Überredung durch den rednerischen Vortrag. Zwischen Aufgabe und Ziel besteht folgender Unterschied: Bei der Aufgabe betrachtet man, was getan werden soll, beim Ziel, was erreicht werden soll.«322 Nach Cicero besteht das pflichtgemäße Handeln des Redners also in einer besonderen Art des Sprechens, und zwar des überzeugenden Sprechens. Zugleich ergänzt er diese Definition durch einen Perspektivenwechsel, der die Überzeugung auch als Handlungsziel kennzeichnet. Damit sind in der Herennius-Rhetorik und bei Cicero drei ethische Aspekte rednerischen Handelns formuliert: die Pflicht des Redners zur erfolgreichen Persuasion der Hörer, die Persuasion als Ziel der rednerischen Handlung und die Beachtung des Nutzens für die Wohlfahrt der Bürger. Schon vor den Römern hat Isokrates Ziele und Nutzen der Redekunst definiert. Nach seiner Auffassung nimmt sie Themen auf, »die der Menschheit nützen und die Allgemeinheit angehen«, wie es in der »Anitdosis-«Rede heißt.323 Der pragmatische Charakter der Rhetorik passt zur lebenspraktischen Haltung des Gebildeten, der – wie der »Panathenaikos« formuliert – in der Lage ist, »die tagtäglich anfallenden Aufgaben gut zu verrichten und sich ein Urteil bilden [zu] können, das in der jeweiligen Situation das Richtige trifft und meist das Vorteilhafte zu erkennen vermag«.324 Aristoteles bestimmt die Redekunst in seiner »Rhetorik« bei der Beschreibung der rednerischen Handlungsziele konkret als Mittel zur Erlangung von Gütern. Ziel der beratenden Rede ist das Nützliche und Schädliche (»[…] der Zuratende empfiehlt es [das Gut] als Besseres, der Abratende rät als von einem Schlechteren ab […]«); Ziel der gerichtlichen Rede ist das Gerechte und Ungerechte, Ziel der lobenden bzw. tadelnden ist das Schöne bzw. Schändliche.325 Das Nützliche als Ziel der beratenden Rede ist ein Gut, welches als dasjenige bestimmt wird, »was um seiner selbst willen gewählt wird, und als das, um dessentwillen wir anderes wählen, und als das, wonach alles strebt oder vielmehr alles, sofern es Wahrneh86 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

mung oder Vernunft hat […]«.326 Das gilt aber genaugenommen nicht nur für die Beratungsrede, sondern im weiteren Sinne auch für Gerichts- und Lob- bzw. Tadelrede, denn die Ermittlung des Gerechten und Ungerechten sowie die Darstellung des Schönen und Schändlichen sind ebenfalls Güter für Redner und Zuhörer. »Alle werden nämlich durch das überzeugt, was Nutzen bringt […]«, folgert die aristotelische »Rhetorik«.327 Quintilian verbindet bei seiner Behandlung der beratenden Rede das Nützliche wieder mit dem Pflichtgemäßen. »[…] die Beratungsreden sind erstaunlicherweise von manchen lediglich auf die Nützlichkeit beschränkt worden«, erklärt er in der »Institutio oratoria«. »Auch zweifle ich nicht, dass die Vertreter der ersteren Auffassung gemäß der höchsten Überzeugung nur für nützlich (utile) erachtet haben, was auch anständig (honestum) ist.«328 Damit wird die rednerische Überzeugungspflicht um die Forderung nach Beachtung der Moral erweitert (mores et officia329), denn das honestum des Redners – eigentlich das Ehrenhafte – besteht in persönlicher Rechtschaffenheit und im Einsatz für das Wohl der Gemeinschaft. Seinen Ausdruck findet dieses Konzept im von Quintilian propagierten rednerischen Leitbild des vir bonus dicendi peritus. Das vir-bonus-Ideal hat nicht nur in der Antike, sondern auch später im Humanismus große Wirkung in der Rhetorik entfaltet.330 Der darin angelegte Gegensatz zwischen Nutzen und Ehrenhaftigkeit als Handlungsmotive des Redners spielt zu Zeiten von Barock und Aufklärung noch einmal eine große Rolle, und zwar in den Debatten um das richtige Verhalten des »Politicus«, des klugen Hofmanns. Die Redekunst galt jetzt als nützliche Strategie zur erfolgreichen Selbstbehauptung für alle, die am Fürstenhof Ämter erhalten wollten oder innehatten. Allerdings wurde das »politische« Erfolgsstreben vom Standpunkt des Christentums her, das altru­ istisch ausgerichtet war, auch als unmoralisch, weil egoistisch und rücksichtslos, kritisiert.331 Diese Haltung fand besonders im Bürgertum der frühen Aufklärung Anhänger und kulminierte schließlich in der Rhetorikablehnung Kants. Seine »Kritik der Urteilskraft« brandmarkt die Redekunst als eine »hinterlistige Kunst« und spricht ihr jede moralische Dignität ab, da der Redner in seiner Absicht, die Zuhörer in eine bestimmte Richtung zu lenken, die Menschen als Mittel  Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 87

und nicht als Zwecke behandle.332 Kants Abwertung des strebensethischen und utilitaristischen Motivs der Rhetorik zugunsten von sollensethischen Präferenzen, die in Veränderungen der Ethik im 18. Jahrhundert333 begründet sind, fand in der Folgezeit großen Anklang. Im 19. und 20. Jahrhundert galt daher vom moralischen Standpunkt auch das auf die Tugendhaftigkeit des Redners setzende antik-humanistische vir-bonus-Ideal als überholt, so dass die Rhetorik trotz verschiedener ethischer Ansätze in der Forschung ihre Berechtigung vor allem als eine auf persuasive Effizienz ausgerichtete Wirkungstechnik zu haben schien. Die Neukonzeption einer Ethik für die Rhetorik muss sich daher wieder auf solche Grundlagen besinnen, die durch strebens- und sollensethische sowie utilitaristische Prinzipien gekennzeichnet sind, und zugleich danach fragen, welche Tugenden auch heute noch für den Redner gültig sein können. b) Streben, Sollen und Nützlichkeit als Elemente rhetorischer Ethik

Die Mannigfaltigkeit der ethischen Zugänge zur Bewertung der persuasiven Rede, die die rhetorische Tradition und die moderne Forschung zeigen, kommt dem Faktum entgegen, dass normative Fragen einer Disziplin sich heute nicht mehr durch Berufung auf nur eine der gängigen ethischen Lehrmeinungen beantworten lassen. Viele ungelöste Streitfragen der zeitgenössischen Ethik sind Ausdruck der hohen Komplexität unserer normativen Überzeugungen. Daher nehmen wir oft unabhängig von theoretischen Fragen der Begründung ethischer Normen moralisch Stellung und versuchen, die Standards der moralischen Beurteilung einsichtig und kohärent zu gestalten.334 Eine kohärente Begründung moralischer Urteile verläuft aber nicht nur in eine Richtung, sondern kann sich in alle Richtungen bewegen und auf verschiedene Ansätze berufen. Die verschiedenen Regelungen und Bewertungen müssen sich dabei gegenseitig stützen und ergänzen sowie insgesamt eine Praxis ermöglichen, die von den Beteiligten als sinnvoll erlebt und mitgetragen wird. Der Kohärentismus fordert, dass es keine Bestandteile der ethischen Theorie gibt, denen ethische Geltung ohne Einbettung in unser gesamtes ethisches Überzeugungs88 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

system zukommt.335 Unter diesen Voraussetzungen ist die Wahl eines Ethiktypus von pluralistischem Zuschnitt336 am sinnvollsten, da er eine Vereinigung von verschiedenen Ethikmodellen erlaubt, um so möglichst viele Beurteilungsperspektiven zu verbinden.337 Außerdem begünstigt der Pluralismus dieser Ansätze eine prak­ tische Konkretheit in der Beurteilung ethischer Fragen, wie sie zur heute stark favorisierten Spezies der Bereichsethik oder Angewandten Ethik passt. Diese Ethikform vermittelt zwischen allgemeiner Ethik und der Untersuchung wichtiger Handlungsfelder einer bestimmten Disziplin, um dafür jeweils bereichsspezifische Normen zu formulieren und zu begründen. Eine angewandte Ethik benötigt Fachkenntnisse, die sich auf die Sachverhalte und Pro­bleme des jeweiligen Gegenstandsbereichs beziehen, und die Orientierung an allgemein akzeptierten ethischen Grundsätzen wie etwa Menschenwürde, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und liberale Freiheitsrechte, wie sie in der philosophischen Ethik formuliert worden sind.338 Ein für die Rhetorik passendes Handlungsmodell der Ethik aus teleologischen, deontologischen und utilitaristischen Elementen soll jetzt skizziert werden. (Der tugendethische Ansatz, der sich auf Charakter und Motive als Handlungsgrundlage stützt, wird weiter unten im Kapitel V dargestellt.) Teleologische bzw. strebensethische und deontologische bzw. sollensethische Motive verbindet die »Integrative Ethik« Hans Krämers. Strebensethik ist danach die Theorie der richtigen Lebensführung. Als präskriptive und normative Ethik hat sie wie die Sollensethik oder Moralphilosophie die Aufgabe, praxisregulierend und -klärend zu wirken. Während jedoch diese an das Verantwortungs- und Pflichtgefühl appelliert und vielfach Weisungen gibt, versucht jene nicht, verbindlich, sondern beratend über Handlungsziele aufzuklären und das richtige Verhalten in Gang zu setzen oder zu verbessern.339 Die Strebensethik will einen Lernprozess zum Lebenkönnen ein- und anleiten; die Moralphilosophie ist dagegen nicht für das eigene Wollen oder Können zuständig, sondern hält stattdessen an zur kritischen Aufmerksamkeit auf die Forderungen, die die jeweils anderen an uns stellen. In der Strebensethik ist das Gute als Handlungsziel gut für den Akteur selbst und gleichbedeutend mit dem Gewollten und Erstrebten; in der Moralphilosophie ist es gut für die anderen und  Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 89

daher synonym mit dem Gesollten. Dort hat es eine affirmative, hier eine restriktiv-prohibitive Bedeutung. Dabei ergibt sich stellenweise durchaus eine doppelte Perspektive auf das Gute: mal aus der Sicht des Eigeninteresses, mal aus der Sicht der sozialen Verpflichtung, was zu Konflikten zwischen dem eigenen Wollen und der Rücksicht auf andere führen kann bis zur Infragestellung der Berechtigung von sozialen Normen.340 Das eigentliche Ziel vernünftigen Strebens ist das Glück, aristotelisch die Eudaimonie. Doch ist nach Krämer die aristotelische Vorstellung von Glück für die Bedürfnisse unserer Gegenwart zu modifizieren, denn sie ist zu starr und unflexibel auf ein absolutes Optimum von Autarkie festgelegt. Stattdessen muss heute reformuliert und graduell differenziert werden, was unter »Glück« zu verstehen ist. An die Stelle einer einheitlichen Güterordnung und einer Hierarchie der Lebensformen tritt die Pluralität und Variabilität von Gütern und Lebensweisen sowie die Austauschbarkeit von beiden.341 Für die Übertragung dieses ethischen Ansatzes auf rhetorisches Handeln empfiehlt es sich, zunächst den Begriff des Strebens noch näher zu analysieren. »Streben« charakterisiert das Bemühen des Redners um die erfolgreiche Persuasion der Zuhörer recht genau. Es ist nach Aristoteles der Versuch, mit eigener Kraft und aus eigener Spontaneität ein Ziel, nämlich ein erreichbares Gut, zu verfolgen. Streben ist gekennzeichnet durch die drei Momente der Aktivität, der Finalität und der individuellen Spontaneität, sei es als Ortsbewegung, als physische oder psychische Entwicklung oder auch als Bewegung in einem metaphorischen Sinne.342 Es ist ausschließlich durch ein Tätigsein definiert, ist daher keine Fähigkeit oder Kompetenz, sondern nur ein individuelles Geschehen. Streben heißt aber nicht bloß, mit einem Ziel oder Zweck konform zu gehen, sondern Ziele bzw. Zwecke auch mit Absicht zu verfolgen. Nicht der objektive Zusammenhang von Aktivität und Ziel ist entscheidend, sondern der subjektive: die Vorstellung vom Ziel und die Meinung, dass man sich aufgrund einer bestimmten Tätigkeit dem Ziel nähert. Damit wird das Streben Teil eines Selbstverhältnisses; es wird zu einer reflektierten Aktivität mit einem kognitiven Moment. Ein zweites Moment kommt hinzu, ein praktisches: der Handlungswille (Volition), die Anerkennung und Bejahung des 90 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

Zieles sowie die Freiwilligkeit in der Ausführung der entsprechenden Aktivität343, womit sie der ethischen Beurteilung zugänglich wird. Ziel des Strebens  – auch des rhetorischen Persuasionsstrebens – ist der Erwerb der Güter, die zum Glück eines gelingenden Lebens gehören. Zum gelingenden Leben zählt aber nicht nur das, was uns durch erfolgreiches Streben zuteil geworden ist, sondern auch sollensethisch gesehen die Rücksicht auf die Bedürfnisse der Mitmenschen durch Beachtung der moralischen Normen des Zusammenlebens, also des Gebotenen, Verbotenen und Erlaubten. Wir können nur im Rahmen moralischer Anerkennung durch andere Menschen zu Personen werden, die eines guten und selbstbestimmten, an der Realisierung der erstrebten Ziele interessierten Lebens fähig sind. Die Moral besteht in einem Verständnis eigener und fremder Handlungen, das sie nicht nach dem Maß des eigenen Vorteils, sondern nach dem Maß von Rechten und Pflichten beurteilt: danach, was wir den anderen und was die anderen uns schulden. Gelingende Interaktion ist so immer zugleich ein gelingendes moralisches Verhältnis.344 Die vom Subjekt zu beachtenden moralischen Pflichten liegen auch der von Kant345 formulierten Kritik an der Rhetorik zugrunde, wenn er die »Hinterlist« der Redekunst anprangert sowie die dialektischen und affektiven Mittel (»Maschinen der Überredung«) verurteilt, mit denen der Redner seine Zuhörer manipuliert.346 Für Kant ergeben sich die moralischen Verpflichtungen aus dem Universalisierungstest. Dieser prüft die Maximen, d. h. die subjektiven Handlungsmaßstäbe, auf ihre Vereinbarkeit mit den gleichen Maximen anderer Menschen. Ist eine Maxime nicht vereinbar mit der Übernahme durch alle anderen, ergibt sich das Verbot, danach zu handeln, bzw. die Pflicht, nicht danach zu handeln. Ist sie aber vereinbar, gilt das Gegenteil. Der kategorische Imperativ Kants ist solch eine Form des Universalisierungstests, den man auch auf die Rhetorik anwenden kann, wie die Formulierung der moralischen Grundnorm der Persuasion zeigt.347 In manchen Fällen, die eine moralische Entscheidung verlangen, ist das Kriterium der Universalisierung als alleiniger Beurteilungsmaßstab für eine Handlung aber zu eng. Dann muss die moralische Qualität einer Handlung nicht nur nach ihrer internen Richtigkeit oder Falschheit, sondern auch nach den absehbaren äußeren Hand Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  | 91

lungsfolgen beurteilt werden.348 In diesem Fall sollte man sich auf eine »konsequentialistische Abschwächung« (Nida-Rümelin) verständigen. Das heißt: Kriterien, die normalerweise qua Universalisierung bestimmte Kooperationsnormen sicherstellen, müssen im Falle widersinniger oder kontraintuitiver Handlungsfolgen Abweichungen erlauben.349 Der Blick auf die Folgen einer Handlung und des sie lenkenden Strebens gehört überhaupt zu den wichtigen ethischen Optionen der Rhetorik, weil es ihr natürlich in erster Linie um die Wirkung der Persuasion geht. Daher zählt auch der Utilitarismus zu den Elementen einer rhetorischen Ethik. »Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist«, schreibt John Stuart Mill, »besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter ›Glück‹ ist dabei Lust und das Freisein von Unlust, unter ›Unglück‹ Unlust und das Fehlen von Lust verstanden.«350 Die Richtigkeit der Handlungen bzw. Handlungsregeln (Normen) bestimmt sich also von ihren Folgen her, und zwar von den beabsichtigten Folgen.351 Gemessen werden diese Folgen an ihrem Nutzen. Entscheidend ist aber nicht der Nutzen für beliebige Ziele, Werte oder Zwecke, sondern der Nutzen für das, was in sich gut ist. Die Verschiedenheit der angenommenen Werte bedingt die Verschiedenheit der einzelnen Denkrichtungen des Utilitarismus. Nach Bentham und Mill, den klassischen Vertretern des Utilitarismus, ist der höchste Wert die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse und Interessen, das menschliche Glück. Ziel ist die maximale Bedürfnis- und Interessenbefriedigung bzw. die minimale Frustration. Sittlich geboten ist, was am meisten Lust bereitet oder aber Unlust vermeidet. Kriterium der Beurteilung der Handlungsfolgen ist also ihr Gratifikationswert. Es kommt jedoch nicht allein auf diesen Wert für den Handelnden an, auch nicht auf das Wohlergehen bestimmter Gruppen, Schichten oder Klassen, sondern am Ende im Sinne eines Gesamtnutzens auf das Wohl aller von der Handlung Betroffenen. Damit fließt nicht nur ein nutzenorientiertes, sondern ebenfalls ein moralisches Kriterium in die utilitaristische Bewertung der Handlungsfolgen mit ein.352 Moralische Fragen stellen sich an den Uti92 | Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik  

litarismus auch vom Aspekt der Zweck-Mittel-Relation her, denn konsequentialistisch gesehen geht es beim Handeln in erster Linie um die Bewertung der intendierten Ziele und erst danach um die Beurteilung der entsprechenden Mittel. Das kann nach Auffassung der deontologischen Ethik aber problematisch sein, weil diese Mittel manchmal gar nicht geprüft werden, sondern ihr Einsatz um des Effekts willen einfach vorausgesetzt wird.353 Nutzens-, Sollens- und Strebenselemente einer rhetorischen Handlung verweisen so aufeinander und konstituieren die rhetorische Ethik insgesamt als einen Integrationstypus. Dabei formuliert die rhetorische Strebensethik als Handlungsziele die rhetorischen Güter, die rhetorische Sollensethik die moralischen Handlungsgrundsätze und der rhetorische Utilitarismus bewertet die beabsichtigten Handlungsfolgen der erreichten Persuasion. In der konkreten Anwendung geht es dann darum, eine Übereinstimmung oder Balance zwischen allgemeinen Prinzipien und Einzelfall­urteilen herzustellen, und zwar in der Weise, dass entweder die Prinzipien den Einzelfallurteilen oder diese den Prinzipien angepasst bzw. die zwischen beiden vermittelnden Positionen aufgefunden werden.354

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IV. Güter und moralische Normen 1. Die strebens- und nutzensethische Perspektive: rhetorische Güter

Die nun folgende Behandlung der rhetorikrelevanten Güter und Normen soll die Gestalt des im Vorigen präsentierten Ethikmodells konkretisieren. Strebensethisch gesehen geht es zunächst darum, zu klären, was unter »rhetorischen Gütern« zu verstehen ist. Ausgangspunkt ist das, was das »gute Leben« in der durch Kultivierung geformten menschlichen Gesellschaft ausmacht. Aristoteles beschreibt es aus dem Blickwinkel der durch staatliche Organisation geformten Gemeinschaft, die »um eines Gutes willen besteht«.355 »Auch von fast allen anderen [staatlichen] Einrichtungen wird anzunehmen sein«, schreibt Aristoteles in der »Politik«, »dass sie in der langen Zeit oft oder besser: unzählige Male erfunden worden sind. Denn man kann annehmen, dass das Notwendige das Bedürfnis selbst lehrt; was aber zum Wohlstand und zum Überfluss gehört, wird, wie zu vermuten, erst naturgemäss sein Wachstum finden, wenn das Notwendige bereits vorhanden ist. So wird man annehmen können, dass auch die Dinge des Staates sich auf dieselbe Weise verhalten.«356 Die Kultur stellt dem Menschen für seine Lebensführung also zweierlei zur Verfügung: zum einen das zur elementaren Bedürfnisbefriedigung hergestellte Notwendige, dann den darüber hinaus gehenden Reichtum aus all dem, was er sonst noch geschaffen hat. Ethisch gesehen könnte man mit Siep von einem »guten Ganzen« sprechen, das die Kultur in ihrer Mannigfaltigkeit dem Menschen bietet und das ihm ein »gutes Leben« ermöglicht.357 Vor diesem Hintergrund heißt »gut« dann so viel wie »bejahens-« und »erstrebenswert«, »ethisch gut« zusätzlich »wahrhaft bzw. uneingeschränkt gut«. »Gut« kann von Handlungen und Handlungsweisen, Absichten, Dingen oder Sachverhalten ausgesagt werden, und zwar in adjektivischer Funktion.358 Daneben gibt es auch »das Gute« als substantivierte Bezeichnung für die genannten Phänomene. Zu unterscheiden ist davon »das Gut« als   95

ein positiv gewertetes Ding oder Besitztum.359 Synonym zu »gut« wird auch »wert« gebraucht.360 Drei unterschiedliche Realisierungsformen des Guten gibt es nach Krämer in einem gelingenden Leben: Selbstverwirklichung, Selbststeigerung und Selbsterhaltung.361 Zur Selbsterhaltung dient der Nutzen, den rhetorisch gesehen der Gebrauch der Redekunst dem Redner einbringt. Nach traditioneller Unterscheidung ist er als Ziel der Beratungsrede zugeordnet362, doch ist instrumentelle Nützlichkeit im ganz allgemeinen Sinne der zielgerichteten ZweckMittel-Relation einer Handlung natürlich auch ein Kennzeichen der andern Redeformen, ja sie legitimiert überhaupt die Wirkungsorientierung der Rhetorik. Der Aspekt der Selbstverwirklichung zeigt sich rhetorisch vor allem im Können des Redners. Allgemein »korrespondiert [das Können] dem Verfügbaren, d. h. dem Disponiblen der Güterwelt, […] besteht in allen Könnensweisen praktischer und technischer Art […]« und äußert sich »in allen Formen des Mächtigseins und der Freiheit mit der Elementarstufe der Handlungsfreiheit und den Reflexionsstufen der Wahl- und Entscheidungsfreiheit […].« (Krämer) Ist es ein starkes Können, kann es auf Abruf aktualisiert und beliebig oft in Vollzüge überführt werden. In ihm steckt auch die Gewissheit künftigen Könnens und Vermögens. Der Vollzug ist die Realisierung des Könnens durch bewussten Gebrauch363 und steht somit im Dienst der Selbsterhaltung. Ausdruck des rhetorischen Könnens ist die persuasive Kompetenz des Redners. Diese gründet sich auf kommunikative Schlüsselqualifikationen der verschiedensten Art und umfasst methodische Geschicklichkeit (etwa bei der Problemlösung und Entscheidungsfindung), besondere psychische Eigenschaften (Denkvermögen, emotionale Intelligenz im Umgang mit Gefühlen) und soziale Handlungsfähigkeit im Verhältnis zu anderen Menschen.364 Ihre Grundlage ist die Beherrschung der rhetorischen Technik mit deren Anwendung bei den verschiedensten öffentlichen Redeanlässen, und zwar heute nicht nur in den klassischen Situationen direkter face-to-face-Kommunikation, sondern auch in den diversen Formaten indirekter, durch Medien vermittelter Kommunikation. Das Ziel dieser Kompetenz ist die Persuasion der Zuhörer, wobei die erreichte Persuasion selbst als ein Gut einzustufen ist. 96 | Güter und moralische Normen 

Die Steigerung des Könnens als Koordination und Kooperation einzelner Könnensweisen365 kulminiert in der Ausbildung zur rednerischen Perfektion. Ausdruck rhetorischen Könnens ist dann strategische Handlungskompetenz und Situationsmächtigkeit, Fähigkeiten, die unerlässlich für die Realisierung der Persuasion sind. Rednerische Strategie zeigt sich in der Positionierung der eigenen Handlung innerhalb eines Netzes von Handlungsplänen anderer Menschen und darin, die Handlung auch im System der eigenen Handlungspräferenzen zu verorten366, bevor es an den Entwurf der taktischen und operativen Handlungszüge zur Erreichung des anvisierten Zieles geht. Rednerische Situationsmächtigkeit bewährt sich etwa im Ergreifen des rechten Augenblicks bei rhetorischen Aktionen, denn der Handelnde muss immer mit einer plötzlichen, unerwarteten Wendung des Geschehens rechnen und darauf reagieren.367 Zu diesem Bereich rhetorischen Könnens zählt außerdem die Gestaltungskompetenz, die der Redner bei der Ausarbeitung seiner Rede aktivieren muss, um seine Strategie zu realisieren unter Berücksichtigung der Anforderungen der Situation. Bei der Gestaltung der Rede geht es um die Formung der Argumente und den Einsatz der Emotionen. Erst der Erwerb der Meisterschaft aber ist die Krönung rhetorischer Ausbildung. Das gilt für die Gegenwart wie auch für die Tradition. Die verschiedenen Versionen des Rednerideals der einzelnen Epochen zeigten damals die konkrete Form des perfekten Redners; den Weg dorthin wies die rhetorische Pädagogik mit ihrem Bemühen um die Entwicklung der Naturanlage (phýsis) des Schülers, mit dem Unterricht im rhetorischen System (téchne) und der Organisation des Übungsbetriebs (áskesis).368 Erst der Erwerb der verschiedenen Formen des Könnens bietet auch die Voraussetzung für den moralisch verantwortlichen Gebrauch der Redekunst, denn ethisches Sollen in einem bestimmten Praxisfeld bedingt zunächst ein Können und damit Handlungskompetenz in diesem Feld. Zu Kompetenz und Können im Bereich der Rhetorik gehört aber nicht nur das Absolvieren rhetorischer Ausbildung, sondern auch der Erwerb von Allgemeinbildung. Der Umriss dieser Allgemeinbildung ist heute vor dem Hintergrund schwindender Vertrautheit mit dem tradierten europäischen Bildungskanon allerdings nur  Güter und moralische Normen | 97

noch schwer zu bestimmen. Einst bestand sie in Grundkenntnissen aus Geschichte (insbesondere der Antike), Religion, Literatur und Kunst. Diese stellten insbesondere für die Eliten einen kommunikativen Fundus bereit, der den Einzelnen von der speziellen Terminologie des jeweils ausgeübten Berufs unabhängig machte und so ein Verstehen anderer Positionen über die Fachgrenzen hinaus ermöglichte.369 Auch heute noch ist es also sinnvoll, sich aus rhetorischer Sicht um eine zeitgemäße Allgemeinbildung zu bemühen. Sie sollte neben wichtigen Fakten aus dem kulturellen Leben zugleich gute Sprachkenntnisse sowie Informationen zur allgemeinen Geschichte und zum politischen System, in dem man lebt, umfassen. Daraus kann der Redner beim Entwurf seiner Rede schöpfen und zugleich einen gemeinsamen Verständigungshorizont mit seinen Gesprächspartnern entwerfen.370 Neben der Allgemeinbildung sollte sich der Redner auch topisches Wissen aus verbreiteten Meinungen, gängigen Erfahrungen, Werturteilen des Alltags und der kollektiven Lebenspraxis zu eigen machen. Dieses existiert in meist schon vorgeprägten Wendungen (topoi) und enthält Sentenzen, Vergleiche und pointierende Metaphern.371 Charakteristisch für topisches Wissen ist, dass es sich vom Spezialwissen des Fachmanns unterscheidet und sein Überzeugungspotential gerade aus der Orientierung am »natürlichen Allgemeinsinn« (sensus communis, Vico) der Mitglieder einer Gemeinschaft bezieht.372 Es liefert ebenfalls eine wichtige Grundlage für die gegenseitige Verständigung und darüber hinaus einen unerschöpflichen Vorrat an schlagkräftigen Argumenten. Zu den Bildungsgütern, die der angehende Redner erwerben kann, gehören neben den genannten Fähigkeiten bestimmte zivile Fertigkeiten, die mit der Gestaltung der öffentlichen Redekultur zusammenhängen. An erster Stelle ist hier das urbane Verhalten zu nennen, also Anstand und Höflichkeit in einem Ton, der in Rede und Gespräch einen respektvollen und doch die eigenen Ziele selbstbewusst verfolgenden Umgang mit Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft ermöglicht.373 Rhetorische Kommunikation ist die Bedingung für das Funktionieren der politischen, juristischen, sozialen und kulturellen Institutionen einer demokratischen Gesellschaft. Diese sind Ergebnisse der Kulturentwicklung und feste Regulative des Zusammenlebens, die durch vorgegebene Ver98 | Güter und moralische Normen 

haltensmuster den Menschen klare Handlungsoptionen und damit Orientierung und Sicherheit in der Welt bieten.374 Redner agieren in diesen Institutionen in verschiedenen Rollen, sei es als Politiker oder Juristen, Verwaltungsbeamte oder Manager, und zwar als Verfasser von mündlich vorgetragenen oder schriftlich formulierten Texten, oft auch stellvertretend als Mandatare im Auftrag und mit Vollmacht für Einzelpersonen oder Gruppen. Soziale Funktionsund soziale Charakterrolle greifen dabei im rhetorisch erzeugten urbanen Verhalten ineinander. Die Vorgabe dazu kommt zwar von den kommunikativen Anforderungen der jeweiligen institutionell geprägten Situation; das faktische Verhalten aber richtet sich da­ rauf, die Konventionen dieser Vorgabe sprachlich zu beachten und ihnen zu entsprechen. In diesem Sinne kann urbanes Verhalten sich der persuasiven Funktionsweise des rhetorischen éthos an­ nähern.375 In allen sozialen Situationen hilft die Rhetorik insbesondere bei der Regelung von Konflikten gemäß ihrem kultivierenden Anspruch, Interessengegensätze zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft nicht durch physische Gewalt, sondern auf dem Verhandlungsweg auszugleichen, sei es durch das Erzielen von Kompromissen oder das Erarbeiten eines Konsenses. Dabei entsteht der Konsens in dialogischer Argumentation als Zustand der Übereinstimmung zwischen zunächst unterschiedlichen Auffassungen, der Kompromiss als Resultat wechselseitiger Zugeständnisse in strategischen Verhandlungen zwischen Interessengegnern.376 Zu den politisch-institutionellen Voraussetzungen der rhetorischen Streitkultur gehören dabei Rederecht und Redefreiheit als zentrale Rechtsgüter. Jede friedliche Lösung politischer und sozialer Konflikte mithilfe der Rhetorik beruht auf der freien und rechtlich geschützten öffentlichen Rede. Denn dadurch erst ergibt sich die Möglichkeit von Kompromiss und Konsens. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erklärt im Artikel 5: »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.« Zu beachten ist, dass in der grundgesetzlich garantierten Redefreiheit und im darauf fußenden Rederecht auch die Meinungsfreiheit enthalten ist, die nicht nur die Freiheit des Denkens, sondern auch die ungehinderte öffent Güter und moralische Normen | 99

liche Verbreitung der Gedanken in den verschiedenen Kommunikationsmedien umfasst. Die Redefreiheit besteht im Recht eines Redners auf Schutz vor Verfolgung oder Bestrafung wegen seiner Rede und der darin enthaltenen Meinungskundgabe. Es ist damit ein Abwehrrecht insbesondere gegen staatliche Verfolgung, wogegen das Rederecht ein Zugangsrecht darstellt: »Während das Rederecht den Zugang zur Rede regelt und den Redner formal gegen Störungen vor und während der Rede sichert, dient das Recht auf Redefreiheit zur Abwehr von Sanktionen nach der Rede, die sich gegen den Inhalt der Rede oder ein Abstimmungsverhalten richten.« (Hoppmann, Kemmann)377 Redefreiheit und Rederecht gehören also zusammen, da ohne Berechtigung der Redner nicht sprechen und ohne Freiheit seine Meinung nicht wirklich äußern kann. Die konkreten Modalitäten im Gebrauch dieser beiden Rechtsgüter müssen allerdings durch die Gesetze im Einzelnen geregelt werden, damit beispielsweise der Jugendschutz oder das Recht der persön­ lichen Ehre anderer Menschen gewahrt bleiben.378 Ethisch gesehen entsteht dann ein Problem für die Funktion dieser Rechtsgüter, wenn Rederecht und Redefreiheit eingeschränkt, missbraucht oder abgeschafft werden. Denn der ethische Wert, welcher der rhetorischen Streitkultur zugrunde liegt, liegt in der Anerkennung des Gegners aus dem Wissen des Redenden heraus, dass seine eigenen Meinungen und Ziele durch die jeweils andere Sicht des Gegenübers ergänzt und bereichert werden sollten.379 Aus diesem Grund dürfen Rhetorik und Propaganda nicht gleichgestellt werden dürfen, denn Propaganda ist die einseitige, durch keine Kontrolle überprüfte, öffentliche und oft auch gewaltsam durchgesetzte Verbreitung von Meinungen.380 Natürlich gebraucht auch sie rhetorische Mittel wie Metaphern, Wiederholungen, Schlagwörter oder Euphemismen zwecks Verkürzung und Vereinfachung, Polarisierung und Emotionalisierung.381 Nur als poíesis, also als Technik zur Verbreitung einer von politischer oder ökonomischer Macht lancierten Meinung, lässt sich die Rhetorik für propagandistische Zwecke dienstbar machen. Als práxis aber von dialogischer und dialektischer Rede, gegründet auf Redefreiheit und Rederecht, bleibt sie der Gegensatz zur Propaganda.382 Die Funktion der Rationalität dieser práxis besteht darin, dass Wahrheit in der Öffentlichkeit nicht als Resultat von dogmatischem Monologisie100 | Güter und moralische Normen 

ren und von Dekreten erscheint, sondern sich nur als Folge eines Streits von unterschiedlichen Meinungen ergibt. Das epistemische Moment dieser Rationalität gründet im Bemühen um richtige Erkenntnis des Sachverhalts und der realen Fakten, wobei es auch um die Entlarvung falscher Behauptungen und Bewertungen geht. Ihr ethisches Moment äußert sich in der Forderung, jede Auseinandersetzung mit einem Gegner auf der Basis seiner Anerkennung als zurechnungsfähige Person, mit der ein kritischer Dialog möglich ist, zu führen. 2. Die sollensethische Perspektive: rhetorische Gebote und Verbote a) Zwischen Wirkungsabsicht und Instrumentalisierungsverbot: die moralische Grundnorm der Rhetorik

Wie gelingendes Streben bzw. Wollen im Handeln durch das Sollen ergänzt werden muss, so sind den Gütern als Zielen die moralischen Gebote und Verbote als Einschränkungen des Handelns komplementär zugeordnet. Gebote und Verbote betreffen nicht die Güter, sondern die Handlungen und die damit verbundenen Aspekte wie Wünsche oder Präferenzen.383 Auch rhetorische Gebote und Verbote haben einen Kultivierungsaspekt: Sie vervollständigen den Anspruch an die rhetorische Bildung des Individuums um die moralische Komponente.384 Wie schon die Darstellung der Kulturtheorie Cassirers gezeigt hat, befähigt der Gebrauch der Kulturgüter als symbolischer Formen den Menschen, sich von der gegebenen Situation zu distanzieren und seine Handlungen in Freiheit auszuführen. Damit muss er zugleich die Verantwortung dafür übernehmen, auch im Falle des rhetorischen Handelns. Die im Folgenden erörterten Gebote und Verbote helfen dem Redner daher, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Für die Herleitung der moralischen Grundnorm rhetorischen Handelns muss nochmal auf die ethische Polarität zwischen Streben und Sollen eingegangen werden. Sie reflektiert sich im spannungsvollen Gegensatz von Überreden und Überzeugen, wobei das Überreden auf die Beeinflussung der Hörer vor allem mit emotio Güter und moralische Normen | 101

nalen Mitteln aus ist und schlimmstenfalls sogar mit manipulativen Mitteln wie Täuschung und Lüge arbeitet, das Überzeugen sich dagegen primär auf die rational gesteuerte Einwirkung beschränkt und darauf achtet, das Publikum nicht einfach für die eigenen Ziele zu instrumentalisieren.385 Jemanden überzeugen heißt also, ihn zu veranlassen, eine neue Überzeugung als Grundlage für sein Handeln zu bilden. Von daher kann man die Überzeugung als subjektive Festlegung verstehen, nach der in ihr unterstellten Wahrheit zu denken und aktiv zu werden386, wogegen die Überredung zum reaktiven Handeln oft gegen die eigene Überzeugung führt. Die Überzeugung ist das Resultat einer Urteilsbildung, in der man als Person Stellung zu etwas genommen und sich prüfend gefragt hat, ob es vernünftig, rational, moralisch und existentiell vertretbar ist, diese bestimmte Überzeugung zu haben.387 Ergänzend gilt natürlich, dass Gefühle nach Prüfung ihrer Wertigkeit ebenfalls die Grundlage für eine Überzeugung sein können.388 Der Redner greift zu überredenden Mitteln, um die Zuhörer auf seine Seite zu ziehen, wenn er ihrer Zustimmung nicht sicher ist, da diese unter nicht-eingeschränkten Kommunikationsbedingungen freiwillig und ohne Zwang erfolgt. Auf diese Weise kann er neben dem Verstand zugleich den Handlungswillen als Sitz der affektiven Antriebe ansprechen. Kant hat den Gegensatz zwischen Überredung und Überzeugung wohl am schärfsten formuliert. In der »Kritik der reinen Vernunft« schreibt er: »Wenn es [das Fürwahrhalten] für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat, so ist der Grund desselben objektiv hinreichend, und das Fürwahrhalten heißt alsdenn Überzeugung. Hat es nur in der besonderen Beschaffenheit des Subjekts seinen Grund, so wird es Überredung genannt. Überredung ist ein bloßer Schein, weil der Grund des Urteils, welcher lediglich im Subjekte liegt, für objektiv gehalten wird.« Und er ergänzt: »Wahrheit aber beruht auf der Übereinstimmung mit dem Objekte, in Ansehung dessen folglich die Urteile eines jeden Verstandes einstimmig sein müssen […].«389 Philosophisch gesehen wird hier der Gegensatz zwischen den beiden persuasiven Prinzipien zugunsten der auf dem Wahrheitsbeweis gründenden Überzeugung aufgelöst, wie es schon Platon mit seinem Konzept des wahrhaftigen Redners390 machte. Rhetorisch gesehen aber bleibt der Antagonismus zwischen ihnen wichtig und sogar unverzichtbar, da der Redner 102 | Güter und moralische Normen 

den Zuhörern nicht nur seine Meinung vermitteln, sondern sie auch zu einer bestimmten Handlung veranlassen will. Blaise Pascal hat in seiner kleinen Schrift »Die Kunst zu überzeugen« die zugrundeliegenden anthropologischen Prämissen formuliert. Klar ist für ihn, »dass man, wovon immer man jemanden überzeugen will, auf den Menschen Rücksicht zu nehmen hat, den man überzeugen will. Man muss seinen Geist und sein Herz kennen und wissen, welchen Grundsätzen er zustimmt und welche Dinge er liebt […].« Deshalb besteht für den Redner die Kunst zu überzeugen [persuader] ebenso darin, »zu gefallen wie darin, die Wahrheit sichtbar zu machen […]«. »Und so geschieht es, dass ein zweifelndes Abwägen zwischen der Wahrheit und der Begierde [zu gefallen] stattfindet und dass das Wissen um die eine und das Gefühl für die andere einen Kampf ausfechten […].«391 Diese anthropologische Beobachtung hat einen ethischen Aspekt. Der »Kampf« zwischen zwei Wirkungsprinzipien lässt sich als Kampf zweier Pflichten deuten, in dem der Redner jedes Mal, wenn er sich an sein Publikum wendet, das Verhältnis zwischen Überredung und Überzeugung, zwischen Mobilisierung und Respektierung seiner Zuhörer abwägen muss. Denn, wie der Rückblick auf die ethischen Konzepte der rhetorischen Tradition gezeigt hat, verstand man in Rom die persuasio als eine ethische Handlung des Redners, die aus seiner Pflicht (officium) resultierte, sich für das Wohl der Gemeinschaft einzusetzen. Überreden und überzeugen wurden damals allerdings anders gewichtet als zu Zeiten von Kant oder von uns heute. Ein Redner wie Cicero scheute sich nicht, auch ethisch fragwürdige Überredungsmittel selbst bei ehrenhaften Verfahren einzusetzen, wenn sie ihm Erfolg bringen konnten.392 Kant hingegen – und da zeigt sich die gegenüber der Antike geänderte Einstellung der Neuzeit gegenüber der rhetorischen Moral  – hat nie die rhetorischen Mittel der Überredung zur Beeinflussung eines Publikums akzeptiert. Deshalb hat er die rednerische Pflichtenkollision auch nach der Seite der Überzeugung hin aufgelöst, und zwar in der »Kritik der Urteilskraft«. Von der »Beredsamkeit« als der »Kunst zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen«, heißt es dort, sie entnehme der Dichtkunst das, was »nötig ist, die Gemüter [der Zuhörer], vor der Beurteilung, für den Redner zu dessen Vorteil zu gewinnen, und dieser die Freiheit zu  Güter und moralische Normen | 103

benehmen […]«.393 Solche Mittel der Dichtkunst, wie sie etwa der Witz oder überhaupt die Einbildungskraft für die Redekunst bereitstellten, seien aber immer abzulehnen, auch für gute Zwecke. »Denn«, fährt Kant fort, »wenn sie gleich [die Kunst zu überreden] bisweilen zu an sich rechtmäßigen und lobenswürdigen Absichten angewandt werden kann, so wird sie doch dadurch verwerflich, daß auf diese Art die Maximen und Gesinnungen subjektiv verderbt werden, wenn gleich die Tat objektiv gesetzmäßig ist [d. h. den Gesetzen entspricht]: indem es nicht genug ist, das, was Recht ist, zu tun, sondern es auch aus dem Grunde allein, weil es Recht ist, auszuüben.«394 Man soll also das Recht nur durch Berufung auf seine Richtigkeit überzeugend machen und nicht, weil man seine Zuhörer mit irgendwelchen auf das Gemüt einwirkenden Mitteln so aufgewühlt hat, dass sie das Richtige schließlich auch tun wollen. Ethisch gesehen kritisiert Kant hier eine problematische Doppelwirkung rhetorischen Handelns. Danach ist die Handlung mit einer guten und einer schlechten Folge moralisch nur dann erlaubt, wenn die gute, aber nicht die schlechte Folge beabsichtigt ist. Diese letzte Bedingung ist vor allem dann erfüllt, wenn die schlechte Folge als Mittel zur Erreichung der guten Folge in Kauf genommen wird, was eben ethisch gesehen nicht richtig ist. Moralisch erlaubt wäre sie nur dann, wenn die schlechte Folge als nicht beabsichtigte Nebenfolge eintritt.395 Wenn Kant in einer überredenden Zweck-Mittel-Relation die Grenzen vertretbarer Einwirkung des Redners auf seine Adressaten sieht, stellt sich die Frage nach der Begründung für diese Haltung. Einen Hinweis gibt seine Bemerkung in der »Kritik der Urteilskraft«, es sei »unter der Würde eines so wichtigen Geschäftes«, wie es das öffentliche Reden ist, »wenn es um bürgerliche Gesetze, um das Recht einzelner Personen, oder um dauerhafte Belehrung und Bestimmung der Gemüter zur richtigen Kenntnis und gewissenhaften Beobachtung ihrer Pflicht zu tun ist […]«.396 Kant spielt hier auf die Menschenwürde an, die immer auch tangiert ist, wenn es um die rhetorische Einwirkung auf eine Zuhörerschaft geht. Sein Begriff der menschlichen Würde enthält einen moralischen Anspruch, der in der Zeit vor ihm noch nicht erhoben wurde. Früher war die Würde etwas Kontingentes, das etwa aufgrund von sozialer Herkunft, Stellung oder verdienstlichem Verhalten erworben 104 | Güter und moralische Normen 

werden, das aber wegen ungünstiger Bedingungen ebenso wieder verloren gehen konnte.397 Auf dieser kontingenten Würde beruhte vor allem das soziale Ansehen, das eine wichtige Bedingung für den öffentlichen Redeerfolg einer Person war und auch heute noch ist.398 Doch Kant macht den Begriff zu einem Grundbaustein seiner Moraltheorie. Die Würde sieht er als inhärentes Merkmal des Menschen, das dieser mit der Geburt erwirbt und nie wieder verliert.399 Danach haben Vernunftwesen Würde aufgrund bestimmter Eigenschaften, z. B. der Autonomie. Diese definiert er als die Fähigkeit – und auch den Anspruch gegenüber anderen –, das eigene Verhalten durch vernünftige Überlegungen zu steuern und entsprechend moralische Normen zu beachten. Wer nach Gründen handeln kann, ist auch in der Lage, moralisch zu handeln. Die Würde wird bei Kant zum Grundbegriff einer Moral der Achtung gegenüber dem Menschen, denn die Person gilt ihm als Zweck an sich selbst. Würde haben heißt deshalb auch: keinen Preis haben. Dinge wie Ansehen und Geld haben einen relativen Wert, d. h. einen Preis, die Würde aber hat einen absoluten Wert. Der Wert von Wesen, die eine Würde haben, darf nicht gegen andere Güter, die einen relativen Wert haben, abgewogen werden. Was wir anderen Personen schulden, ist die Achtung bzw. die Anerkennung ihrer Würde. Wir verletzen also die Pflicht, den anderen in seiner Würde zu achten, wenn wir ihn bloß als Mittel für unsere eigenen Zwecke einsetzen. Aus dieser Achtung vor der Würde des anderen leitet Kant den »praktischen Imperativ« [d. h. den kategorischen Imperativ des moralischen Handelns] her: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.«400 Zur Pflicht, die Würde als Selbstzweck zu achten, tritt also das Verbot, den anderen zu instrumentalisieren. Es verbietet uns nicht, andere als Mittel zu behandeln, sondern untersagt uns nur, Personen – die eigene401 wie auch andere – bloß als Mittel zu behandeln. Doch was heißt es, den anderen bloß als Mittel zu behandeln? Das tue ich dann, wenn ich ihn in einer Weise behandle, der er nicht zustimmen kann. Die Würde von jemand anders zu achten fordert folglich eine Behandlung, die der Person die Möglichkeit der Zustimmung oder Ablehnung gibt, oder sie so zu behandeln, dass sie vernünftigerweise zustimmen kann.  Güter und moralische Normen | 105

Kants »praktischer Imperativ« kann als Grundlage dienen für die Forderung an die Rhetorik, die Zuhörer bei aller Mobilisierung für die Interessen des Redners nie bloß als Mittel für die eigenen Zwecke, sondern immer auch als Zwecke an sich zu behandeln. Diese Forderung ist daher als die moralische Grundnorm der Rhetorik anzusetzen. In der Perspektive gibt es keine Pflichtenkollision zwischen Überreden und Überzeugen, da die Überzeugung immer als die höherwertige, eine Instrumentalisierung der Hörer vermeidende Pflicht anzusehen ist und die Überredung für Kant aufgrund seiner kritischen Einstellung wohl niemals als eine Pflicht gelten könnte.402 Dennoch ist seine Verwerfung der persuasiven Macht der Rhetorik mit ihrem verführerischen »schönen Schein«403 und der Empfehlung des schlichten Stils der »Wohlredenheit« eines »Redner[s] ohne Kunst aber voll Nachdruck«404 aber weltfremd. Denn wir Menschen instrumentalisieren uns auch in unserer Kommunikation aufgrund unserer Lebensnotwendigkeiten immer gegenseitig. Das gilt ebenfalls für den Redner, der die Rhetorik und ihre Wirkungsmacht zum Erwerb von Gütern für sich und seine Klientel einsetzt. Allerdings gibt es Grenzen der Instrumentalisierung, und darauf weist Kants praktischer Imperativ hin. Akzeptiert man nun, dass die strebens- und die sollensethische Perspektive rhetorischen Handelns sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen, zeigt sich, dass Überredung und Überzeugung enger zusammengehören – und übrigens auch schwerer zu unterscheiden sind –, als es die Kantische Definition suggeriert. Die Überzeugungsarbeit braucht oft die Überredung, da vielfach erst der Appell an die Emotionen die Entscheidungs- und Handlungsbereitschaft der Zuhörer wirklich aktiviert.405 Das gilt etwa dann, wenn zwei gleichwertige, aber unvereinbare Überzeugungen in einer Streitfrage die Handlungsbereitschaft eines Publikums lähmen. Die Überredung kann dann zur Revision einer der bestehenden Überzeugungen motivieren und damit zu einem Mehrheits­ beschluss oder einem Konsens führen. Der Redner sollte bei seinen Persuasionsbemühungen nur so zu Werke gehen, dass der Zuhörer nie bloß ein Mittel zur Realisierung seiner Ziele wird und sich auch so vorkommt, sondern dem Gehörten zugleich freiwillig und bewusst zustimmen kann. Abzulehnen sind also etwa der Gebrauch 106 | Güter und moralische Normen 

von Trugschlüssen oder eine so weit getriebene Emotionalisierung der Rede, dass jede rationale Argumentation überdeckt oder gar ersetzt wird. Die jeweils ethisch angemessene und verantwortbare Verbindung von Überredung und Überzeugung kann man mit Krämer als »gemischte Norm« bezeichnen406, die aus persuasiven Geboten und Verboten besteht. Die moralische Grundnorm der Rhetorik markiert dabei den Bereich, innerhalb dessen diese gemischte Norm interpretiert werden sollte.407 Differenzierter als Kant geht übrigens Johann Christoph Gottsched mit Überredung und Überzeugung um, da er den Einsatz der beiden Wirkungsprinzipien je nach dem Auffassungsvermögen des Publikums empfiehlt. »Wahre Beredsamkeit« hat ein Redner, wenn er fundierte Beweisgründe gebraucht, wobei Gottsched genauer solche, die aus ersten Prinzipien deduziert sind und der (überzeugungsorientierten) »Ueberführung« dienen, von den nicht auf Wahrheit, sondern auf Wahrscheinlichkeit gründenden und die »Ueberredung« bezweckenden unterscheidet. Die Letztere ist in seinen Augen nichts Schlechtes, nützt sie doch dem populären Vortrag. Tadelnswert ist dagegen die »falsche Beredsamkeit«, die auf »Scheingründen« beruht. Die »Ueberführung« passt zu Vorträgen für Zuhörer, die »eine so geübte Vernunft besitzen, »daß sie eine lange Kette von Schlußreden fassen und einsehen können«, wogegen die »Ueberredung« für solche Vorträge bestimmt ist, »die ein Zuhörer von mittelmäßigem Verstande, ohne alle Mühe fassen und einsehen kan«.408 Damit ist zugleich ein Beispiel gegeben, wie die gemischte Persuasionsnorm anzuwenden ist. b) Die populäre Redemoral

Überzeugt sind die Zuhörer eines öffentlichen Vortrags oder einer Ansprache nicht nur, wenn der Redner seine Argumente angemessen vorträgt und mit objektiv hinreichenden Gründen stützt, sondern auch, wenn seine Haltung zur allgemein akzeptierten Redemoral passt. Daher beruhen die moralischen Normen der Rhetorik auf der populären Moral, wie sie sich in der praktizierten Sittlichkeit früher Kultivierungsphasen einer Gesellschaft409 herausgebildet hat und noch heute gilt. Die Redemoral reguliert schon seit al Güter und moralische Normen | 107

ters her das Verhalten beim Sprechen im Privatbereich und in der Öffentlichkeit. Moralische Erwartungen dieser Art artikulieren sich vielfach indirekt in Sprichwörtern wie etwa den folgenden: »Wenn du ins Haus kommst, beurteilt man dich nach deiner Kleidung, wenn du es verlässt, nach dem, was du gesagt hast.« Hier geht es um das Auftreten und moralisch angemessene Reden einer Person. Oft werden diese Erwartungen in Maximen für die richtige Ausbalancierung des Redens mit anderen Tätigkeiten ausgedrückt. So heißt es etwa: »Erst denken, dann reden!«, oder: »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.« Richtiges Reden ist also an kluges Abwägen aller Gegebenheiten der Situation gebunden bis hin zu der Entscheidung, zunächst lieber nichts zu sagen bzw. erst den richtigen Moment für eine Äußerung abzuwarten. Überflüssiges und folgenloses Geschwätz wird von der Aufforderung: »Handeln statt reden!« kritisiert. Wenn es bisher um Anstand und Effizienz des Redens ging, so enthält die Maxime »Ein Mann, ein Wort!« eine direkt moralische Forderung, und zwar die, dass man sein Versprechen halten muß, Reden und Tun also übereinstimmen sollten. Auch soll man zunächst gesprochene Worte gelten lassen und nicht im Nachhinein »einem das Wort im Munde herumdrehen«. Ein altägyptischer Weisheitsspruch postuliert das Maßhalten im Reden und erklärt: »Großes Ansehen genießt, wer sein Temperament zügelt, aber wer viele Worte macht, gilt als übel.« Babylonische Weisheit tadelt die zwischenmenschlichen Folgen bösartigen Redens: »Du sollst keine Gemeinheit reden: Nachher wird sie sich wie eine Falle nach dir ausstrecken!«410 Auch die Bibel enthält häufig moralische Forderungen an das Reden. Im Buch Jesus Sirach (Altes Testament) heißt es: »Der Schlag mit der Peitsche bewirkt eine Strieme, der Schlag mit der Zunge aber zerbricht Knochen.« Und: »Sieh, du zäunst deinen Besitz mit Dornen ein, dein Silber und Gold verschließest du; bestimme Waage auch und Gewicht für dein Wort, Türen und Riegel mach auch für deinen Mund. Achte, dass du durch sie nicht strauchelst, und nicht fällst vor einem, der lauert.«411 Im MatthäusEvangelium geht es um die schlimmen Folgen der lügenhaften Rede: »Hütet euch vor den falschen Propheten, die bei euch auftreten, als Schafe verkleidet, unter der Hülle aber beutegierige Wölfe sind! An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen können.«412 108 | Güter und moralische Normen 

Die populäre Redemoral erscheint in den hier zitierten Sentenzen als eine Art von Lebensweisheit, artikuliert in kurzen Sprüchen oder religiösen Geboten, die aus der Lebenserfahrung hervorgegangen sind und der Erziehung dienen sollen. In dieser Form reflektiert die populäre Redemoral den Zustand einfacher Sittlichkeit einer Gesellschaft. Moralische Handlungsgrundsätze der persuasiven Rede sollten sich aber nicht nur auf die Lebensweisheit berufen, sondern auch im Rahmen einer Ethik legitimiert und begründet sein. Denn nur so können sie vor kritischen Fragen nach dem Geltungsbereich dieser Moral und ihrer Wertmaßstäbe bestehen.413 Im Folgenden sollen ausgehend von der populären Moral die wichtigsten Handlungsgrundsätze der rhetorischen Ethik vorgestellt ­werden. c) Die Einheit von Reden und Handeln

Eine Maxime der populären Redemoral ist besonders wichtig für die rhetorische Ethik: die Forderung nach der Übereinstimmung von Reden und Handeln, denn sie ist die Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit des Redners.414 Grundlage ist sein guter Ruf in der Öffentlichkeit, sein Image verbunden mit Prestige und Reputation. Sein Prestige deutet auf sozialen Erfolg, seine Reputation bezieht sich auf Kompetenz und gegebenenfalls hervorragende Leistung, während sein Image im typischen Bild seiner Person besteht, das in der Öffentlichkeit verbreitet ist. Image ist ein Deskriptionsbegriff, Prestige und Reputation sind darüber hinaus auch Bewertungsbegriffe.415 Aristoteles hat den Grund dieser Glaubwürdigkeit vor allem in der charakterlichen Selbstdarstellung des Redners (éthos) gesehen, in dessen Erscheinungsbild, darin, dass er »eine bestimmte Art von Mensch zu sein scheint und dass (die Hörer) annehmen, er sei ihnen gegenüber auf eine bestimmte Weise eingestellt […]«.416 Diese Selbstdarstellung beruht auf Tugendhaftigkeit, Klugheit und Wohlwollen, die durch die Rede gegenüber dem Publikum zur Schau gestellt werden sollen, wobei die Tugendhaftigkeit nach Aristoteles der wichtigste Faktor der angestrebten Überzeugungsleistung ist.417 »Tugendhaftigkeit« bedeutet hier keine Rechtschaffenheit aufgrund von allgemeinen ethischen Überlegungen,  Güter und moralische Normen | 109

sondern umfasst nur dasjenige, was nach Meinung der Zuhörer einen rechtschaffenen Mann im Rahmen der jeweils geltenden Staatsverfassung ausmacht.418 Vom Hörer her gesehen spiegelt sich die Glaubwürdigkeit des Redners in der positiven Meinung, die das Publikum von ihm hat. Meinungen enthalten subjektive Ansichten und Standpunkte; in ihnen äußert sich die Disposition des Individuums in einer gegebenen Situation bezogen auf eine bestimmte Sachfrage, also das, was es für wahr hält und glaubt. Die Rationalität dieser Disposition beruht nicht unbedingt auf einem objektiven Maßstab, sondern gründet primär im Willen des Individuums, sich über seinen Standpunkt Klarheit zu verschaffen und gegebenenfalls auch darüber Rechenschaft abzulegen.419 Meinungen werden in der Öffentlichkeit vor allem kontrovers ausgetauscht, im Meinungsstreit aufgrund der Pluralität von Perspektiven, in denen das Subjekt seinen Beitrag zur gemeinsamen Praxis leistet. Denn die Situation, in der gehandelt werden muss, ist selten aus sich heraus transparent, sie wird vielmehr in den verschiedenen Meinungen ganz verschieden beleuchtet, wobei die Aufgabe der Rhetorik darin besteht, die einzelnen Meinungen miteinander zu vermitteln und so einen gemeinsamen Handlungs- und Entscheidungshorizont aufzuspannen.420 Die Komplexität des Phänomens der vom Redner erzeugten und von den Hörern übernommenen Meinung zeigt der griechische »Hybrid«-Begriff dóxa, in dem »Meinung« und »Ansicht«, aber auch »Einbildung«, »Schein«, »Glanz« und »Ruhm« miteinander verbunden sind. Sogar das rednerische éthos gehört zum semantischen Feld der dóxa, wie die Wendung dóxa tou légontos (Ansehen, Ruf des Redners) in der sophistischen »Rhetorik an Alexander« belegt, die dem aristotelischen Terminus éthos tou légontos voraufging.421 Es ist also nicht nur auf öffentliche Sichtbarkeit aus, sondern selbst Bestandteil und Resultat von Meinungen. Seine eigene Meinung zu vertreten, das gehörte für den athenischen Bürger zur Fähigkeit, sich öffentlich zu präsentieren, von anderen gehört und gesehen zu werden.422 Auch der Inhalt der öffentlich vorgetragenen Reden erschien als dóxa, weshalb Aristoteles von der Redekunst als dem Bereich der dóxai spricht.423 Das Phänomen »Meinung« bestand also eigentlich aus einer ›doxastischen Trias‹, die sich aus dem Rednerimage, dem Hörereindruck und der subjektiven 110 | Güter und moralische Normen 

Ansicht von Redner und Hörer zum jeweils verhandelten Thema ­zusammensetzte. »Sein« in der Öffentlichkeit war damit »gleich jemandem erscheinen«, wie man mit Protagoras sagen könnte.424 Nur wenn man den so gewonnenen Begriff von Öffentlichkeit als eine von Redner und Hörern konstituierte Welt der Erscheinungen425 versteht, kann die Einheit von Reden und Handeln überhaupt als moralische Forderung nach der Angleichung von Sein und Schein erhoben werden, wie sich an den verschiedenen Aspekten der doxastischen Trias demonstrieren lässt. Denn die Selbstpräsentation des Redners und die Wahrnehmung seines Auftretens und Handelns von Seiten der Zuhörer können auch auf bloßer Illu­sion beruhen. Das rhetorische éthos bleibt so lange ein nur für die Zwecke der Persuasion inszenierter Schein, wie ihm nicht ein wirklich sittliches éthos, ein normatives Gefüge aus handlungsleitenden Überzeugungen und Regeln entspricht, welches das reale Handeln des Redners auch außerhalb der Redesituation bestimmt. Damit entsteht das moralische Problem besonders bei der gezeigten Tugendhaftigkeit des Redners, und zwar mit der in der Zuschauerperspektive angelegten Frage: Erscheint der Redner nicht nur als tugendhaft, sondern ist er es auch wirklich? Stimmen Reden und Handeln bei ihm überein? Denn, wie Aristoteles zu Recht feststellt: »[…] wir glauben den Tugendhaften in höherem Maße und schneller – und zwar im Allgemeinen bei jeder Sache, vollends aber bei solchen Fällen, in denen es nichts Genaues, sondern geteilte Meinungen gibt.«426 Das éthos ›setzt‹ also gewissermaßen die Glaublichkeit der vom Redner vertretenen Sache vor allem in Zweifelsfällen, und zwar oft noch vor einem logisch oder empirisch abgesicherten Beweis. Es ersetzt die Gewissheit, die die Zuhörer vom Redner fordern müssen, sollen sie ihm Glauben schenken. Die demonstrierte tugendhafte Haltung des Redners soll auf diese Weise die Gewissheitsdefizite der Zuhörer ausgleichen und Vertrauen erzeugen.427 Das moralische Problem liegt aber auch auf Seiten der Meinungshaftigkeit des Wissens selbst. Denn Meinungen, sofern sie mehr sind als nur die Kundgabe eines Standpunktes, können wahr und falsch sein. Sie beruhen selten auf dem eindeutigen Gegensatz von wahr und falsch als vielmehr auf Wahrscheinlichkeiten, die Wahres und Falsches zugleich enthalten und deren Realitäts Güter und moralische Normen | 111

gehalt vom Handlungsdruck in der gegebenen Situation diktiert ist.428Das Wahrscheinliche ist das gewöhnlich sich Ereignende, das zwar nicht zufällig existiert, aber auch anders sein kann. Es hat seine grundlegende Bedeutung in der Zustimmungsfähigkeit dessen, was in Rede steht, und dem zur Zustimmung verholfen werden soll.429 Das Meinen als Wissen des Wahrscheinlichen ist die dem Status des Veränderlichen adäquate Weise des Wissens. In diesem Handlungshorizont gibt es zwar kein objektives Kriterium zur Unterscheidung von Meinung und Wissen, sondern nur verschiedene Grade des Wissens.430 Dennoch brauchen sich die Zuhörer mit dem bloßen Anschein einer Sachlage nicht zufrieden zu geben, sondern dürfen zu Recht eine für ihr Urteil hinreichende Gewissheit über die Richtigkeit des Gesagten vom Redner verlangen. Der Gewiss­ heitsanspruch der Zuhörer gegenüber dem Redner fordert so weit wie möglich ein wahres, begründbares Wissen, denn sie wollen von ihm nicht getäuscht werden.431 Nur so können sie dem Redner auch Glauben schenken. Der Glaube kann aber das Wissen nicht einfach ersetzen, sondern muss es stützen und ergänzen. Doch zugleich beruht jeder Glaube auf dem Wissen und ist seinerseits eine psychologische Einstellung zum Wissen432, die in der Gewissheit zutreffender Kenntnis von der verhandelten Sache einen Anhaltspunkt für die Formulierung der eigenen Position braucht. Und diesen Anhaltspunkt fordert die Maxime, dass Sagen und Tun beim Redner in der Öffentlichkeit übereinstimmen müssen. Allerdings erfüllt diese Maxime den Anspruch an eine gültige Rednermoral noch nicht vollständig. Denn sie kritisiert zwar scheinhaftes Redehandeln, verurteilt aber noch nicht z. B. die böswilligen Aktionen eines Redners, der zwar tut, was er sagt, der jedoch nur aufgrund seiner eigentlich unrechtmäßigen Handlungsziele für das angebliche Wohl der Zuhörer arbeitet. Erst wenn also das einer Rede und dem dazu passenden Handeln zugrunde liegende Gute nicht bloß relativ gut ist für die Interessen des Redners, sondern wenn es uneingeschränkt als gut für Redner und Zuhörer zu bewerten ist, stellt es einen moralisch zureichenden Handlungsgrund dar.433 Um das gezeigte éthos des Redners bewerten zu können, sollte man sich als Zuhörer daher über den Eindruck, den er in seiner Rede von sich entwirft, Rechenschaft ablegen. Dazu braucht man – 112 | Güter und moralische Normen 

und hier geht eine moralische Theorie des éthos als wirklich sittliche und nicht nur demonstrierte Haltung über den aristotelischen Ansatz hinaus – weitere Informationen über sein Leben und Handeln, die in der Öffentlichkeit verfügbar sind. Denn sie erst ermöglichen eine Überprüfung des von ihm demonstrierten Image und erlauben dem Publikum auch gegebenenfalls die Distanzierung vom Gehörten und Kritik daran. Dazu muss die Öffentlichkeit aber ihre angestammten Aufgaben erfüllen. Insbesondere benötigt sie eine normative Verfassung, die ihr eine uneingeschränkte Informations-, Aufklärungs- und Kontrollfunktion garantiert, sowie die Chance zur freien Meinungsäußerung für die an ihr Teilhabenden, damit sie so ihren demokratischen Aufgaben wirklich gerecht werden kann.434 d) Wahrheitsgebot und Lügenverbot

Die Wahrheit zu sagen ist nicht nur moralische Pflicht des Individuums, sondern auch notwendige Bedingung für das Funktionieren des menschlichen Zusammenlebens. Um handeln zu können, müssen die Menschen ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten sowohl bei sich selbst wie auch bei den Mithandelnden kennen und respektieren. Aufgrund dieses gegenseitig geschuldeten Respekts sollten sie die Wirklichkeit, über die sie kommunizieren, wahrheitsgemäß wiedergeben, so dass diese Rechte und Pflichten auch weiterhin gelten können. Die Wahrheit zu kennen ist auch ein Bedürfnis der Menschen im Umgang miteinander. Nur dadurch verlieren sie nicht den Kontakt zur Wirklichkeit und erfahren zudem die zwischenmenschliche Kommunikation nicht als eine Missachtung ihrer Person.435 Die Rhetorik hat ein eigenes Verständnis von Wahrheit. Wo die Philosophie sich auf Vernunftwahrheit und der Journalismus sich auf Tatsachenwahrheit beruft, arbeitet die Rhetorik mit Wahrscheinlichkeiten  – also Aussagen, die der Wahrheit nur nahekommen, ohne sie vollständig wiederzugeben  – und mit perspektivischen Annäherungen an die Wahrheit, die sich aus ihrer Standpunktbezogenheit ergeben. Beide Wahrheitsformen spiegeln nicht nur ihre Sicht der Dinge, sondern bieten dem Redner auch  Güter und moralische Normen | 113

die Ressourcen für seine persuasive Strategie, denn die Perspektivität ist die Quelle seiner Parteilichkeit, die Wahrscheinlichkeit die Quelle für Suggestion und Appell. Allerdings sollte die rhetorische Wahrheit trotz aller Subjektivität von Standpunkt und Situationswahrnehmung nie nur in einer bloßen Meinung bestehen436, sondern sich immer an der möglichst weitgehenden Verfügbarkeit objektiven Wissens über eine gegebene Sachlage orientieren. Der Redner muss also verantwortlich mit der Wahrheit umgehen. Dabei ist der richtige Umgang mit der Wahrheit eine seiner schwierigsten Aufgaben. Denn er will seine Sache zum Erfolg führen, darf seine Glaubwürdigkeit nicht verspielen und muss sich zugleich in manchen Situationen unter Bedingungen bewähren, die die Mitteilung von Wahrheiten riskant oder sogar gefährlich machen. Dazu kommt, dass der Druck der Umstände oft von ihm Stellungnahmen verlangt, die aus Zeitgründen kaum auf die Ermittlung der Wahrheit gegründet sein können. Handlungsdruck, Wahrscheinlichkeit und Parteilichkeit führen zwar nicht notwendig zur Lüge, bestimmen aber und begrenzen rhetorisch gesehen den Umgang mit der Wahrheit. Daher gilt zu Recht Graciáns Maxime: »Ohne zu lügen nicht alle Wahrheiten sagen. […] Nicht alle Wahrheiten kann man sagen, die einen nicht unser selbst wegen, die andern nicht des andern wegen.« Mit der Wahrheit ins Haus zu fallen bedeutet also nicht nur, dass man sich damit möglicherweise selbst schädigt, sondern auch, dass man sein Gegenüber durch Takt- und Rücksichtslosigkeit schädigt und verletzt. Wichtig ist daher nach Gracián: »Die Wahrheit zu handhaben verstehen.«437 Es geht um den angemessenen Umgang mit der Wahrheit aufgrund der rednerischen Verantwortung gegenüber den Adressaten, seien es nun einzelne Personen, Gemeinschaften, Institutionen oder Öffentlichkeiten.438 Allerdings gibt es Formen der ›Handhabung‹ von Wahrheit, welche die Grenze zur Lüge überschreiten, wie etwa die Verheimlichung, Verfälschung und Übertreibung von Tatbeständen oder die falsche Versicherung.439 Unter einer Lüge wird hier nach Augustinus eine Falschaussage mit der Absicht, den Adressaten zu täuschen, also eine wissentlich falsche Behauptung, verstanden.440 Kennzeichnend für die Rhetorik ist ja, dass sie besonders geschickt in der Verschleierung der Wahrheit ist.441 Sie spiegelt das ganze 114 | Güter und moralische Normen 

Spektrum des gesellschaftlichen Umgangs mit der Lüge und weiß dementsprechend alle Formen des Übergangs zwischen Wahrheit und Unwahrheit bis zur Täuschung auszunutzen. Solche Formen sind: nicht die ganze bzw. nur die halbe Wahrheit sagen; die Wahrheit abschwächen, beschönigen, verdrehen, entstellen; die Verbergung der Wahrheit (dissimulatio) oder die Vortäuschung des Falschen (simulatio).442 Auch der ganze Aufbau einer Rede beginnend mit dem Arrangement der Fakten kann der Täuschung der Zuhörer dienen. Dazu kommen Methoden der Ablenkung des Publikums vom wahren Sachverhalt wie die Ausschmückung des Positiven oder die Marginalisierung des Negativen, das Ignorieren von wichtigen Argumenten und stattdessen die Erregung von Gefühlen.443 Bei all dem haben die rhetorischen Wort- und Gedankenfiguren sowie die Tropen eine wichtige darstellerische Funktion, denn in der von ihnen vermittelten Erscheinungsweise des Redegegenstandes und der damit verbundenen Wirkungsintention manifestiert sich sprachlich die Täuschungsabsicht des Redners. Das ebenfalls rhetorisch wirkende Mittel der Verbergung der Redekunst, das den Gebrauch rhetorischer Techniken geschickt verschleiert (dissimulatio artis)444, kann diesen Effekt noch verstärken. Oft wirken die rhetorischen Formen der Täuschung zusammen, um den Übergang zwischen Wahrheit und Lüge unkenntlich zu machen, so dass eine Unterscheidung zwischen parteilicher Sicht der Dinge und Objektivität von Tatsachen kaum mehr möglich ist.445 Folgt daraus nun, dass man in seiner Rede nie lügen darf? Da die Lüge zahlreichen Zwecken dienen kann, ergibt sich die moralische Beurteilung einer Lüge aus der Bewertung der Zwecke, die mit ihr verfolgt werden446, wobei allerdings die Zweck-Mittel-Relation zu beachten ist, wie es die Selbstzweckformel der kategorischen Imperativs fordert. So ist eine Lüge aus Höflichkeit erlaubt. Denn bei einem Kompliment müssen Inhalts- und Beziehungsebene unterschieden werden. Nicht die Sachrichtigkeit eines Lobes ist dabei moralisch ausschlaggebend, sondern die glaubhafte Darstellung der Aufrichtigkeit des Sprechers. Selbst wenn ein Lob nicht zutrifft, ist das kein Hindernis für das Glücken eines Kompliments. Lassen die Sprachformen bestimmter sozialer Konventionen eine ›Lüge‹ schon erwarten, liegt keine Täuschungsabsicht mehr vor.447 Auch die Lüge in einer Situation der Notwehr ist erlaubt, wenn dadurch  Güter und moralische Normen | 115

die Ausübung von Gewalt gegen mich selbst oder andere abgewehrt werden kann.448 Schwierig aber wird es in nicht eindeutigen Fällen, wenn es etwa zu Pflichtenkollisionen kommt, weil von verschiedenen Standpunkten aus verschiedene Normen als handlungsleitend geltend gemacht werden können. Hier hängt viel von der Definition des moralischen Problems ab und der Entscheidung, welche Norm jeweils einschlägig ist für die Zulassung oder Ablehnung einer Unwahrheit449, wobei natürlich beim Geltendmachen einer Norm wiederum auch die Rhetorik ihre Rolle spielt. Unter diesem normativen Aspekt ist die oben zitierte Ansicht Quintilians zum Einsatz der Lüge in Gerichtsprozessen450 zu bewerten. Er schreibt: »Denn auch sich einer Lüge zu bedienen ist selbst dem Weisen zuweilen gestattet, die Leidenschaften wird der Redner notwendigerweise erregen müssen, wenn der Richter auf andere Weise nicht zur Billigkeit gebracht werden kann; denn es sind ja unerfahrene Schöffen, die zu Gericht sitzen, und häufig muss man sie deshalb täuschen, damit sie nicht irrtümlich richten.«451 Die Frage ist jedoch, was unter der »Billigkeit« zu verstehen ist, zu der der Richter »gebracht werden« soll, oder worin der »Irrtum« der »unerfahrenen« Schöffen bei ihrer Beurteilung des Falls besteht. Wo Quintilian hier der von ihm favorisierten und vielleicht sogar akzeptablen Sicht der Dinge durch den Einsatz einer Lüge zum Sieg verhelfen will, scheint uns heute ein anderer Gesichtspunkt maßgebend zu sein, und zwar das Verhältnis von Mitteln und Zwecken. Das heißt: Der Redner kann natürlich wirkungsmächtige rhetorische Mittel zur Darlegung seines Standpunkts einsetzen, aber doch nur so weit, dass er Richter und Schöffen »jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« behandelt. Damit ist der rhetorische Einsatz der Lüge in dem von Quintilian genannten Beispiel abzulehnen. Die Verpflichtung des Richters auf die Billigkeit des Urteils sollte anders als durch eine Unwahrheit erreicht werden. Auch der Unerfahrenheit bzw. Irrtumsanfälligkeit der Schöffen sollte auf andere Weise begegnet werden, etwa durch vermehrte Informationen über die zur Beurteilung anstehende Sachlage.

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e) Mäßigung der Gefühlserregung

Gefühle spielen eine wichtige Rolle in unserem ethischen Handeln, da sie große Bedeutung für unsere persönliche Identität haben452, fast immer mit Wertungen verbunden sind und gerade deshalb den Willen zur Umsetzung von Einsichten unserer praktischen Vernunft antreiben. Moralische Emotionen wie Empathie und Mitleid, Achtung, Liebe und Hass, Scham, Reue, Trauer, Freude oder Neid waren und sind daher Anlass für die Entwicklung von Gefühlsethiken, die annehmen, das Moralische sei ursprünglich in unserer Gefühlswelt verankert.453 Doch dieselben Emotionen waren und sind gerade wegen ihrer engen Verbindung zu Wertungen auch Quellen einer effektiven rednerischen Persuasionsstrategie, da sie beim Publikum starke Handlungsimpulse auslösen. Ein moralisches Problem tritt beim Einsatz persuasiver Rhetorik vor allem dann auf, wenn der Redner die heftigen und leidenschaftlichen Gefühle seiner Zuhörer erregen will. Zu diesem Zweck muss er, wie Quintilian erklärt, ihre Einbildungskraft (phantasia) ansprechen, damit die für die Persuasion benötigten Empfindungen bei ihnen auch wirklich entstehen und den Redegegenstand in einer für ihn günstigen Perspektive erscheinen lassen. Psychologisch gesehen wird die Einbildungskraft von der sinnlichen Wahrnehmung454 zu einem Eindruck angeregt und produziert dann ihre eigenen Vorstellungen von den wahrgenommenen Gegenständen455, ein Vorgang, der zentral für die Auslösung von Gefühlen ist. Will der Redner dieses Potential der Einbildungskraft für sich nutzen, muss er mit ihrer Hilfe die benötigten Empfindungen zuerst bei sich selbst erregen, um sie dann auch bei den Adressaten hervorzurufen und in die ihm genehme Richtung zu lenken. Die evozierende Kraft der evidentia beispielsweise kann nach Quintilian »die Bilder abwesender Dinge so im Geiste vergegenwärtig[en], dass wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie leibhaftig vor uns haben […]«.456 Durch Vergegenwärtigung und Verlebendigung modelliert der Redner damit den gegebenen Umriss eines Sachverhalts, um vermittels seiner eigenen Einbildungskraft diejenige der Zuhörer anzusprechen und deren Leidenschaften aufzuregen. Doch die Gefahr besteht, dass durch diese Erregung der Affekte die Wirklichkeitswahrnehmung der Zuhörer verzerrt wird. Aristo Güter und moralische Normen | 117

teles definiert in seiner Schrift »Von der Seele« die Einbildung als eine Bewegung, die aufgrund erfolgter Wahrnehmung entstanden und von daher selbst der Wahrnehmung ähnlich ist. Da sie nicht nur die Eigenschaften der Objekte aufnimmt, sondern selbst schon eine Art von Urteil ist, enthält sie auch die Möglichkeit des Irrtums.457 Versetzt nun die vom Redner hervorgerufene Einbildung die Hörer in einen heftigen emotionalen Zustand, dann scheinen, wie Aristoteles in der »Rhetorik« feststellt, »[…] die Dinge […] für diejenigen, die lieben, und für diejenigen, die hassen, nicht dieselben zu sein, auch nicht für die, die zürnen, und die, die sich sanftmütig verhalten, sondern entweder erscheinen sie als durchweg verschieden oder als der Bedeutung nach verschieden: Dem Liebenden nämlich scheint die Person, über die er das Urteil fällt, entweder gar kein oder nur ein geringfügiges Unrecht begangen zu haben, dem Hassenden jedoch scheint das Gegenteil der Fall zu sein, und dem Begehrenden und Hoffnungsvollen scheint, wenn das Künftige angenehm ist, dass es wirklich eintreten und dass es ein Gut sein wird, dem Gleichgültigen und Missmutigen scheint das Gegenteil der Fall zu sein.«458 Daher geben die Emotionen aufgrund ihres affektiven Potentials trotz aller kognitiven Elemente doch nur einen partikularen Eindruck des Sachverhalts wieder, der aus der momentanen Befindlichkeit einer Person in einer bestimmten Situation entstanden ist.459 Als alleinige Begründung für ein Urteil in der Sache und eine daran anknüpfende Handlungsentscheidung können sie nicht ausreichen. Kant vertritt daher die Auffassung, dass Emotionen keine Beweggründe für Urteile liefern dürfen, da sie subjektiv und deshalb unvorhersehbar, kapriziös, impulsiv und wechselhaft sind. Moralität ist für ihn vor allem eine Sache der Vernunft, denn nur sie garantiert die für ein Urteil erforderliche Beständigkeit.460 Er kritisiert folglich auch die Rhetorik, die ja ständig mit der Erregung von Gefühlen arbeitet. Doch trotz dieser Einwände lässt sich der Einsatz von Gefühlen aus anthropologischer Sicht für die Zwecke der Persuasion rechtfertigen, weil nach Ansicht der Rhetorik der Mensch ein Wesen ist, das sich weniger von der Rationalität als vor allem durch affektive Antriebe und Wünsche leiten lässt. Ist es schon wichtig, die Bedeutung der Emotionen auch in der Ethik anzuerkennen461, bleibt der Einsatz auch heftiger Gefühle für die Rhe118 | Güter und moralische Normen 

torik vertretbar, wenn die Beziehung zur Vernunft nicht abgebrochen wird. Eine Stütze dieser Auffassung bietet die Affektenlehre des Aristoteles, denn für ihn sind die Affekte nicht nur das Gegenteil, sondern auch das Pendant der Vernunft und können durch Rationalität beeinflusst werden. Grundlage ist seine Theorie vom Aufbau der Seele, die einen vernünftigen und einen unvernünftigen Teil enthält. Der unvernünftige Teil umfasst die vegetativen Vorgänge und das Strebevermögen; der vernünftige Teil handelt wissend, überlegend und meinend. Der unvernünftige Teil kann dabei durch den vernünftigen »gewissermaßen überzeugt« (peíthetaí pos) werden.462 Bestimmte Emotionen wie etwa Mitgefühl sind situationsangemessen und sogar für das passende Verhalten notwendig. Sie unterstützen das tugendhafte Handeln, sind Faktoren des Strebens und Meinens. Stets personen- und objektbezogen, drücken sie das Involviertsein des Protagonisten aus, implizieren Wertsetzungen und spiegeln Lebenshaltungen. Sie haben große Bedeutung für eine gelingende Lebensführung und sind zugleich moralisch beurteilbar, denn sie können angemessen oder unangemessen, gut oder schlecht sein. Damit leisten sie etwas, das von der Vernunft nicht übernommen werden kann. Aristoteles meint auch, dass die Vernunft unangemessene, irrationale Emotionen wieder zurechtzurücken vermag.463 Da der vernunftlose Seelenteil irgendwie an der Vernunft teilzuhaben scheint, »gehorcht er der Vernunft beim Beherrschten – und vermutlich ist er noch gehorsamer beim Mäßigen und Tapferen, denn bei ihm stimmt er [der vernunftlose Seelenteil] in allem mit der Vernunft überein.«464 Die wichtigste Art des vernünftigen Umgangs mit den Gefühlen ist die Mäßigung durch Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung. Natürlich haben die Emotionen (páthe) einen unterschiedlichen Stellenwert in der »Nikomachischen Ethik« und in der »Rhetorik« des Aristoteles.465 Dort unterstützen sie das tugendhafte Handeln des Individuums, hier sind sie neben éthos und lógos ein wichtiges Mittel des rhetorischen Beweisverfahrens, denn auch der rednerische Appell an die Gefühle soll die Persuasion der Zuhörer bewirken.466 Doch man kann die ethische und die appellative Sichtweise vereinigen. Beachtet der Redner die Mäßigkeitsforderung beim Einsatz des páthos und aktiviert nicht alles, was seine persuasive  Güter und moralische Normen | 119

Phantasie ihm eingibt, kann das Publikum einen klaren Kopf behalten und zu einer verantwortlichen, vernünftig begründeten Urteilsfindung bzw. Handlungsentscheidung finden. Peitscht er aber in maßloser Agitation die Publikumsgefühle auf, können die Zuhörer die Kontrolle über ihre Empfindungen verlieren, was sie in diesem Zustand primär reaktiv anstatt nach klarer Überlegung handeln lässt. Solch ein Verhalten des Redners ist manifeste Gewaltausübung und vor allem dann verwerflich, wenn er zwar seine Erregung zur Schau stellt, aber nicht aus wirklicher Ergriffenheit, sondern nur aus persuasivem Kalkül handelt, um so Herr der Situation zu bleiben und die Zuhörer nach seinem Willen zu lenken. Deren Aufregung entsteht dagegen spontan und impulsiv, wodurch sie sich seinen Verführungskünsten hilflos ausliefern. Die Beachtung rhetorischer und ethischer Angemessenheit der Rede erfordert daher eine ausgewogene Verbindung von emotionalen und rationalen Elementen der Rede sowie Antwort auf die Frage, ob Gefühle die rationalen Argumente verstärken oder aber von ihnen ablenken, sie verdecken oder gar ersetzen sollen. Und der Redner sollte nicht nur seine Einbildungskraft zur Erzeugung persuasiver Energien mobilisieren, sondern auch seine Urteilskraft zur Prüfung des Verhältnisses von Vernunft und Gefühl in der Rede gebrauchen. f)  Angemessenheit zwischen Anbiederung und moralischer Anerkennung

Die rhetorische Forderung nach Angemessenheit der Rede steht überhaupt als oberste Handlungsregel über allen sonstigen Anweisungen für die Arbeit des Redners.467 Denn bei den strategischen Überlegungen zur Realisierung seiner persuasiven Handlungsziele muss er immer die Anpassung der Rede an die Fassungskraft des Publikums und die Umstände der konkreten Situation mit in Betracht ziehen, um Erfolg zu haben. Rhetorische Angemessenheit beschreibt daher keine ›objektive‹ Relation wie etwa die Harmonie zwischen Teilen und Ganzem, wobei die Proportionen durch die Struktur eines Gegenstandes festgelegt werden. Angemessenheit als Verhältnis des Redners zu seinem Publikum ist immer relativ 120 | Güter und moralische Normen 

bestimmt, zugeschnitten auf die mögliche Zustimmung der Hörer. Sie ist perspektivisch vom subjektiven Wirkungsinteresse des Redners her konstruiert. Der Begriff des Angemessenen (aptum) der Rede umfasst zwei Bedeutungsbereiche. Nach außen hin bezieht er sich zum einen auf etwas Faktisches, auf die beobachtbare Realität einer Situation oder die typischen Eigenschaften des Publikums, dann auf etwas Normatives wie die Regeln des Zulässigen und Anständigen, z. B. auf Verhaltensvorschriften. Nach innen hin zielt er auf etwas Formales: auf die Entsprechung zwischen der Rede und dem in ihr behandelten Gegenstand, also vor allem den Stil und die Redegattung.468 Cicero erläutert beispielhaft, welche Ansprüche die verschiedenen Themen und Zuhörerschaften an den römischen Redner zu seiner Zeit stellten, wenn er wirklich angemessen in der Öffentlichkeit sprechen wollte: Kapitalprozesse erforderten einen anderen Tonfall als geringfügige Privatfehden; einen je verschiedenen Stil verlangten Beratungen, Lobreden, Plädoyers, Gespräche, Trostworte, Scheltreden, Diskussionen oder geschichtliche Darstellungen. Wich­tig war auch, wer zuhörte: ob der Senat, das Volk oder die Richter oder ob viele oder wenige Menschen anwesend waren und in was für einer Situation man sich befand, ob etwa Krieg herrschte oder Frieden.469 Steht nach Cicero für den Redner fest, was sich vom inneren und äußeren aptum her schickt, dann wird er »nicht ein reichhaltiges Thema dürftig formulieren oder ein bedeutendes kleinlich noch auch umgekehrt; sein Stil wird vielmehr dem Stoff angemessen und gleichartig sein: der Anfang zurückhaltend, noch nicht feurig mit gehobenen Worten, sondern scharf in der Gedankenführung, sei es, um den Gegner zu treffen, sei es, um die eigene Seite zu empfehlen; die Erzählungen glaubhaft, nicht im Tone des Historikers, sondern beinahe im Alltagston, deutlich dargelegt; wenn dann der Fall ein einfacher ist, so wird auch der Faden der Argumentation einfach sein, beim Vortragen sowohl wie beim Widerlegen, und er wird es bleiben, so dass zugleich mit dem Inhalt auch der Stil sich hebt. Liegt aber ein Fall vor, in dem man die Macht der Beredsamkeit voll entfalten kann, dann wird sich der Redner weiter ausbreiten, dann wird er die Hörer lenken und leiten und sie so beeinflussen, wie er will – und das heißt: wie die Art des Falles und die Umstände es erfordern.«470  Güter und moralische Normen | 121

Wie Ciceros Ausführungen zum aptum zeigen, beruht der Maßstab für die rhetorische Angemessenheit auf der adäquaten Erfassung der Umstände durch den Redner mit dem Ziel, diese optimal für die Persuasion zu nutzen. Doch der Maßstab ethischer Angemessenheit einer Rede fordert vom Redner auch, die Respektierung des Zulässigen und Anständigen in der Situation nicht bis zur ­opportunistischen Anbiederung an das Publikum zu treiben, nur damit die Rede Erfolg hat. Damit wäre der Maßstab des moralisch Richtigen verletzt, der eben nicht nur in dem besteht, was in einer Situation vorteilhaft ist. Eine ethisch angemessene Rede sollte der Redner – sozusagen vom ›inneren‹ aptum des Gegenstandsbezugs her – vor allem nach solchen moralischen Prinzipien gestalten, die eine manipulative Instrumentalisierung der Zuhörer verbieten und auch allgemeine, über die Erfordernisse der Situation hinausgehende ethische Kriterien beachten.471 Nach ›außen‹ hin sollte er die Angemessenheit als Anerkennung der Zuhörer in dem Sinne verstehen, dass er sie trotz ihrer Andersartigkeit auch als ihm gleich betrachtet und sie deshalb als urteilsfähige und selbstbestimmte Wesen anspricht. Auf diese Weise wird die Anerkennung der in einer Zuhörerschaft anwesenden Personen zum Bestandteil einer Ethik des Publikums.472 Sie gründet für den Redner darin, dass sein auf die Realisierung bestimmter Ziele gerichtetes Handeln komplementär an die Ziele der Zuhörer als mit ihm lebende Gesellschaftssubjekte gebunden ist. Aufgrund dieser Reziprozität erst kann er »in den Bestrebungen des Interaktionspartners einen Bestandteil der äußeren Welt erblicken, der es ihm erlaubt, seine selbstgesetzten Ziele auch objektiv umzusetzen« (Honneth).473 Der Handelnde wird so zum sittlichen Subjekt mit normativem Status, das auf der Anerkennung der anderen Gesellschaftsmitglieder basiert und darin besteht, »nach dem Rechte und der Ehre des Menschen« (Hegel)474 respektiert zu werden. Anders als beim Toleranzgedanken wird auch ein Fremder nicht nur hingenommen und geduldet, sondern in seinem Anderssein geachtet. Das Anerkanntsein als sittliches Subjekt begründet so eine eigene Würde des Individuums. Sie resultiert jetzt nicht aus der absoluten Qualität eines inhärenten und unverlierbaren Merkmals seiner Menschlichkeit wie bei Kant, sondern aus Interaktionsprozessen, die es ihm ermöglichen, als Person 122 | Güter und moralische Normen 

oder Mitglied einer Gruppe in seiner jeweiligen Identität wahrgenommen und respektiert zu werden. So gesehen gehört die Anerkennung durch andere zu den permanenten Vollzugsbedingungen des menschlichen Lebens, die Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertschätzung entstehen lassen und Verachtung, Demütigung und Diskriminierung vermeiden.475 Vor diesem Hintergrund versteht es sich, dass bei einer Rede moralische Anerkennung des und rhetorische Angemessenheit an das Publikum ineinandergreifen müssen. Dieser Anspruch sollte insbesondere alle Formen interkultureller Rhetorik leiten, die ein nach seiner Lebensart und seinem ethnischen Herkommen diverses Publikum wirkungsvoll anreden wollen. Erfolgreiches rhetorisches Handeln ist heute mehr denn je eine Frage der Anpassung an die kulturellen Standards der jeweiligen Zuhörer. Diese Standards sind aber sehr verschieden und spiegeln die Heterogenität der modernen Gesellschaft. Außerdem bringt in vielen Arbeitsbereichen die internationale Verflochtenheit von Kommunikation und Verkehr immer mehr Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung in Kontakt. Interkulturelle Anerkennung der Zuhörer praktiziert ein Redner dann, wenn er seine Rede situationsgerecht angemessen formuliert und dabei die kulturellen Eigenarten seines Publikums sowie dessen Status als sittliche Subjekte respektiert.476 Dabei ist Anerkennung als moralischer Faktor der rhetorischen Kommunikationsverhältnisse ein durchaus gegenseitiger Akzeptanzprozess, der nicht nur die Zuhörer betrifft, sondern auch den Redner in seiner Glaubwürdigkeit stärkt.

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V. Tugenden 1. Tugend in Ethik und Rhetorik

Die ethischen Ausführungen des vorherigen Kapitels beschäftigten sich mit den wichtigsten moralischen Handlungsnormen des Redners. Jetzt soll es mit den Tugenden um charakterliche Haltungen gehen, die das rednerische Handeln nicht nur in einzelnen Situa­tio­ nen, sondern dauerhaft bestimmen. Denn die beständige Umsetzung moralischer Grundsätze im Alltag erfordert eine praktische Instanz in uns, damit sie auch wirksam werden können. Diese In­ stanz wird repräsentiert durch die Tugenden, die Teil unseres Charakters477 sind. In der Ethik spielen Tugenden eine große Rolle für das Verhältnis zwischen der Verfassung des guten Lebens und der Moral, die es dafür zu beachten gilt. Sie vermitteln zwischen der Sorge um sich selbst und der Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer Menschen. Der Charakter eines Menschen ist wichtig für die Art, wie ethische Ziele im Leben umgesetzt werden. Denn das Streben nach dem gelingenden Leben und die Koordination der darauf bezogenen Ziele und Mittel erfordert die Integration und Ordnung der natürlichen Antriebskräfte. Diese Ordnung bringt der Mensch aber nicht von Geburt an mit noch entwickelt sie sich durch biologisches Wachstum oder einen bloßen Entschluss der Vernunft. Sondern sie entsteht erst in einem langen Lernprozess durch das Einüben des rechten Handelns von Kindheit an bis ins Erwachsenenalter, so dass sie zu einem festen Bestandteil der Person werden kann, zu einer beständigen moralischen Haltung im Leben, eben zu einer Tugend.478 Auch die Einübung des richtigen moralischen Handelns wird so zum Bestandteil von Bildung und Kultivierung des Individuums. Mit Aristoteles kann man sittliche oder charakterliche Tugenden wie etwa Freigebigkeit oder Gelassenheit von Verstandestugenden wie Klugheit oder Weisheit unterscheiden. Charaktertugenden entstehen hauptsächlich durch Gewöhnung, Verstandestugenden  125

aber vor allem durch Belehrung; diese benötigen deshalb Erfahrung und Zeit.479 Die Charaktertugend bezieht sich auf die Zügelung der Affekte, und da sie sich in einem Zuviel oder Zuwenig äußern kann, zielt sie wie alle Tugenden auf die Wahl der rechten Mitte zwischen den Extremen im Handeln.480 So liegt etwa die beste Art der Tapferkeit zwischen einem Mehr, der Tollkühnheit, und einem Weniger, der Feigheit. Daher ist die richtige Mitte auch nicht ein absolut gültiges Maß, sondern sie besteht in einer situativ passenden und sich an den subjektiven Möglichkeiten des Handelnden orientierenden Mitte, die nicht der Sache nach, sondern »in Bezug auf uns« gefunden werden muss.481 Die aristotelische Lehre von der fragilen Mitte der Tugend lässt sich zur Theorie einer inneren Ambivalenz der Tugenden selbst erweitern, wie Martin Seel feststellt, womit auch die Laster als – allerdings negative – Kräfte zur sittlichen Orientierung des Menschen gedeutet werden können. Die Autoren der philosophischen Tradition haben wie Aristoteles die Tugenden und Laster als konträre Einstellungen im menschlichen Verhalten verstanden. Nach Seel aber wohnt »jedem menschlichen Vorzug […] eine Tendenz zur Abirrung vom Pfad der Tugend, fast jedem Laster ein Impuls zum Abbiegen auf ihn inne.«482 Viele Tugenden sind daher heikle Balancen, die nur mit Mühe gehalten werden können, was nicht nur für die Charakter-, sondern auch für die Verstandestugenden gilt. Die Energien der den Tugenden opponierenden Laster sind also ebenfalls wichtige Faktoren für die Gestaltung eines guten und gerechten Lebens. Damit sollen nach Seel aber die Unterschiede zwischen Tugenden und Untugenden keineswegs eingeebnet werden. Als Kriterium der Unterscheidung gilt: »Tugenden respektieren und fördern, Laster hingegen verletzen und behindern die Selbstachtung und Selbstbestimmung der Menschen.« Moral realisiert sich in einer Vielzahl von miteinander verbundenen Tugenden, Unmoral in einer Vielzahl miteinander verbundener Laster. Was im Handeln einer Person mit schillernden Charakterzügen den Ausschlag gibt, hängt auch von ihren sonstigen Tugenden und Lastern ab, da diese sich erst in ihren Erscheinungsformen und Auswirkungen gegenseitig Kontur geben.483 Doch nicht nur die Ethik, auch die Rhetorik kennt Tugenden, und zwar bestimmte Stilhaltungen als ›technische‹ Tugenden zur 126 | Tugenden 

Formung der Rede, denen auch ›Laster‹ bzw. Fehler entsprechen (virtutes-vitia-Lehre). Die rhetorischen Tugenden sind ebenfalls eingeübte und perfektionierte Haltungen, aber solche des Schreibens. Sie sind Ausdruck von Tüchtigkeit; ihnen fehlt aber natürlich das moralische Element. Als Stilhaltungen basieren sie auf den vier maßgeblichen Stilqualitäten einer guten Rede, die bis auf die Antike zurückgehen und die der perfekte Redner beachten musste. Diese Qualitäten umfassen Sprachrichtigkeit bzw. -reinheit (Lati­nitas bzw. puritas), Deutlichkeit (perspicuitas), Redeschmuck (ornatus) und Angemessenheit (aptum). Die entsprechenden Stilfehler sieht die Schulrhetorik im Verstoß gegen Grammatik bzw. Sprachreinheit, in Dunkelheit bzw. Undeutlichkeit (obscuritas), in Schmuck­ losigkeit und sachlicher bzw. sozialer Unangemessenheit.484 Die rhetorische Lehre von den Stiltugenden enthält keine objektiven und materialen Kriterien zur Beurteilung der Sprachgestalt, sondern sie ist eine pragmatische Beschreibung von funktionalen Qualitäten des Textes. Die Bewertungen »gut« oder »schlecht« beziehen sich daher nicht auf Sprachstrukturen, sondern auf die Verwendungsweisen von sprachlichen Merkmalen, wobei nach dem Vorbild der aristotelischen Tugendlehre der Mittelweg als das rechte Maß zwischen den Extremen des Zuviel und Zuwenig galt. Aufgrund dieser pragmatischen, auf Wirkung bedachten Funktio­nen können die stilistischen Tugenden bzw. Fehler immer auch wechselseitig ausgetauscht werden, sind also ambivalent und haben keine feste Identität. Daher ist eine situations- oder kontext­unab­ hängige Bewertung oft nur schwer möglich. So kann ein gezielt als Ausdrucksmittel eingesetzter Fehler etwa in einem ironischen Kontext zur Stiltugend werden, und eine gewöhnlich als Tugend eingeschätzte Figur (z. B. die brevitas) wird durch übermäßige Verwendung zum Fehler. Den stilistischen Tugenden und Lastern stehen von Anfang an auch Ausnahmen von der Regel, die sog. »Lizenzen«, gegenüber. Sie rechtfertigen die Normverstöße in einer Rede sozusagen von »höherer«, nämlich persuasiver Warte aus, etwa wenn es um den wirkungsvollen Ausdruck der Affekte geht.485 Eine kanonische Norm für den rhetorischen Sprachgebrauch wie in der Tradition gibt es heute allerdings nicht mehr. Die Formulierung von übergreifenden Normen für diesen Bereich haben inzwischen kulturelle Instanzen der Sprachpflege und Sprachkritik wie etwa  Tugenden | 127

die Akademien übernommen. Auch der Redner selbst fungiert indirekt als normierende Größe, wenn er eine Rede hält, da er Abweichungen vom überlieferten Sprachgebrauch vornehmen kann, wenn es nach seinem Urteilsvermögen am besten für die Zwecke der Persuasion passt.486 In der rhetorischen Tradition war die virtutes-vitia-Lehre grund­ sätzlich normativ bis in den moralischen Bereich hinein ausgerichtet, wie die vir-bonus-Formel zeigt. Die Verpflichtung zur Mischung von stilistischen und ethischen Vorschriften steigerte Quintilian bis zu der Forderung, dass ethische und rhetorische Tugend einander entsprechen müssten, ja am Ende identisch seien, da nur ein guter Mensch auch gut reden könne.487 Unsere Erfahrung mit dem manipulativen Potential der Rhetorik lehrt aber, dass die Verpflichtung zum ethisch richtigen Sprachgebrauch mit der zum persuasiv wirksamen in Konflikt geraten kann. Dieser Widerstreit sollte nach der Regel der moralisch stärkeren Verpflichtung entschieden werden. Der Redner hat sicher als erste Pflicht die Aufgabe, seine Zuhörer zu überzeugen. Daher ist diese Pflicht stärker als diejenige, die idiomatische Sprachrichtigkeit in der Rede zu bewahren; rhetorische Pflicht bricht also grammatische Pflicht.488 Doch die rhetorische Pflicht wird wiederum gebrochen durch die Pflicht zur Beachtung der moralischen Normen, da sprachliches Handeln auch im stilistischen Bereich immer zugleich im ethischen Kontext steht.489 2. Klugheit als Haupttugend des Redners

Unter allen Tugenden ist die Klugheit für den Redner die wichtigste, weil sie das Organon seiner persuasiven Strategie, aber auch seiner ethischen Kompetenz darstellt. Sie ist die Verstandestugend, welche geeignete Mittel und Wege ausfindig macht bzw. bewertet, um unter den spezifischen Bedingungen der rhetorischen Situation das angestrebte Ziel zu erreichen. Aristoteles beschränkt zwar die Zuständigkeit der Klugheit auf die Wahl der Mittel zum angestrebten Ziel, wogegen er die Zielreflexion der theoretischen Erkenntnis des Guten – z. B. der Weisheit – vorbehält.490 Diese strikte Trennung leuchtet aber nicht ein, denn oft genug ändern sich beim Nachdenken über die Mittel auch die Ziele des Handelnden. Die 128 | Tugenden 

Klugheit verhält sich am meisten von allen Tugenden kontextsensitiv, denn sie praktiziert eine situationsgemäße Adaption der rhetorischen und ethischen Prinzipien. Das lässt sich etwa am Umgang mit der Stiltugend der Verständlichkeit zeigen. Rhetorisch gesehen erscheint es zunächst sinnvoll, sich klar und deutlich auszudrücken, denn das verspricht Wirkung. Aber ethisch gesehen sollte geprüft werden, wie viel Verständlichkeit einer Aussage eine Situation verträgt und ob nicht in bestimmter Hinsicht auch eine gewisse Unklarheit angebracht ist. Das berührt die Maxime, mit der Wahrheit umgehen zu können. Klugsein heißt also auch, Ambivalenzen zu handhaben verstehen. Da die Klugheit sich mit Mitteln und Wegen zur Erreichung des Ziels einer geplanten Handlung beschäftigt, ist es ihre Aufgabe, die persuasive Strategie in der aktuellen oder künftigen Redesituation umzusetzen, und zwar durch die effizienteste Verbindung von sachlichem und sprachlichem Handeln. Eine besondere Beziehung hat die Klugheit zur zielbewussten Argumentation, die – anders als die wissenschaftliche Erklärung aus Gesetzen oder gesetzesähnlichen Annahmen – in einer Begründungsleistung besteht, die von der Wahrscheinlichkeit bzw. Plausibilität im Kontext einer Sprechergemeinschaft ausgeht. Was wie von wem begründet werden muss, hängt von der angemessenen Situationseinschätzung ab. Der Argumentierende muss dabei nicht nur sein Thema, sondern auch die besonderen psychologischen, sozialen oder kulturellen Umstände des Verhältnisses zu seinem Gegenüber im Auge behalten. »Die Argumentation muss sozusagen ›am Platze sein‹« (Bubner)491, und darüber hat die Klugheit zu wachen. Ihre Leistung beruht vor allem auf der Urteilskraft492, d. h. der richtigen Einschätzung und Unterscheidung dessen, was an einer Sachlage verlässlich gegeben und was unsicher ist. Denn der Handelnde muss seine Ziele in einer Welt realisieren, deren Zustände sich immer wieder ändern und jeweils anders präsentieren.493 Die Urteilskraft betätigt sich in dem Versuch, die verschiedenen Aspekte eines Sachverhalts in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen, wozu auch die kritische Distanz zu den interessengeleiteten Standpunkten anderer sowie zu uns selbst gehört. Sie erlaubt uns erst, die Befunde unserer Einschätzungen in eine schlüssige Strategie des Handelns zu überführen.494 Zugleich überbrückt sie  Tugenden | 129

den Gegensatz zwischen einer generellen Handlungsregel, sei sie nun rhetorischer oder moralischer Art, und den Erfordernissen der konkreten Situation, indem sie das Besondere als den Fall der Regel erkennt und diese als das Allgemeine auf das Besondere anwendet. Urteilskraft ist mehr als bloße Intelligenz, denn als geistiges Vermögen besteht sie in einem durch Erfahrung erworbenen Inbegriff von Maßstäben, die mit dem common sense, dem natürlichen Allgemeinsinn, verbunden sind und sich vor allem in den sittlichen Urteilen über Recht und Unrecht manifestieren.495 Dabei orientiert sich auch die rhetorische Urteilskraft an der Wahrscheinlichkeit.496 Nach Aristoteles zeichnet ethisch gesehen den Klugen aus, »dass er gut zu überlegen vermag über das für ihn Gute und Zuträgliche, und zwar nicht in einer besonderen Hinsicht, zum Beispiel darüber, was seiner Gesundheit oder seiner Kraft zuträglich ist, sondern darüber, was überhaupt dem guten Leben zuträglich ist«.497 Wichtig ist der Akzent auf der subjektiven Perspektive des Handelnden: Die kluge Überlegung bietet ihm die Möglichkeit, das für das eigene Wohl Nützliche und Gute zu erreichen. Für Aristoteles ist die Klugheit nicht auf die Regelung der individuellen Dinge beschränkt, sondern – als politische Kunst – auch für Angelegenheiten der Allgemeinheit zuständig wie die Leitung des Staates498, was natürlich für den Redner wichtig ist. In diesem Zusammenhang spielt die Besonnenheit eine große Rolle - vor allem beim Ansturm der Affekte; »sie bewahrt nämlich das so […] beschaffene Urteil«.499 Doch nicht nur die Besonnenheit, auch die anderen Tugenden arbeiten mit der Klugheit zusammen, wie sie ihrerseits die Voraussetzung für die Realisierung jeder Tugend ist durch die richtige Einschätzung des für die jeweilige Handlung Erforderlichen.500 Moralisch gesehen zeigt insbesondere die rhetorische Klugheit allerdings eine spezifische Ambivalenz. Sie besteht darin, zum einen durch zielgerichtete Überlegung den eigenen Vorteil zu sichern, zum andern möglicherweise jemandem zu schaden und diese Schädigung bewusst in Kauf zu nehmen. Die Klugheit erscheint daher nicht nur als Geschicklichkeit in der Durchsetzung eigener Interessen, sondern auch als Schlauheit und Gerissenheit in der Überwindung von Widerständen, die ihr von der Einstellung oder dem Handeln anderer her entgegenstehen.501 Anpassung 130 | Tugenden 

bis zum Opportunismus und Täuschung bis zur Lüge zwecks Manipulation des Zuhörerverhaltens gehören zu den Erscheinungsformen rhetorischer Schlauheit und Gerissenheit. Damit öffnet sich die Schere zwischen moralischem und unmoralischem Gebrauch der Klugheit. Aristoteles hat für beides eine einfache Unterscheidung parat: »Wenn nun der Zielpunkt werthaft [bzw. gut, F. H. Rg.] ist, ist es lobenswert, wenn aber schlecht, handelt es sich um Verschlagenheit.«502 Doch so einfach ist die Sachlage nur, wenn man von den Zielen der Handlung ausgeht, nicht aber ihre Mittel einbezieht. Die Formel »gute Ziele plus gute Mittel« und »schlechte Ziele plus schlechte Mittel« ist zu simpel, denn hier ist die Bewertung der Klugheit nach gut und schlecht eindeutig. Kompliziert und damit moralisch interessant wird es erst bei der Formel »gute Ziele plus schlechte Mittel«, da jetzt rhetorisches Handeln nicht so einfach zu bewerten ist. Kant hatte sie in seiner Rhetorikkritik getadelt, als er die Beredsamkeit »als Kunst zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen« bezeichnete, »um die Gemüter vor der Beurteilung für den Redner zu dessen Vorteil zu gewinnen«. Denn der Redner nehme seinen Zuhörern durch fragwürdige Mittel trotz eines damit verfolgten guten Zwecks die Freiheit des unabhängigen Urteils und verführe sie so zur Übernahme seiner Sicht der Dinge.503 Doch ist hier – wie auch bei der Lüge – die Grenzlinie zwischen guter und schlechter Handlung ohne Berücksichtigung des Einzelfalls nur schwer zu ziehen. Problematisch ist sicher eine bedenkenlose Rechtfertigung überredender Mittel für gute Ziele504, da beim Zuhörer in solch einem Fall leicht der Verdacht aufkommen kann, der Redner wolle ihn nicht nur für etwas Gutes einnehmen, sondern instrumentalisiere ihn obendrein und nehme es für die Erreichung seiner Ziele um der Wirkung willen auch mit der Wahrheit nicht so genau. Das kann der Glaubwürdigkeit, dem wichtigsten Effekt des rhetorischen éthos, schaden. Es lässt sich also bei der Klugheit nicht immer eindeutig entscheiden, wo noch legitime Geschicklichkeit und wo schon fragwürdige Schlauheit das rednerische Handeln bestimmt. Gerade die Klugheit kann als Paradigma für Seels These gelten, dass Tugenden und Laster aus dem gegenseitigen Spannungsverhältnis ihre Energien, aber auch das Bewusstsein für die jeweilige moralische Grenze beziehen. Am Ende müssen hier wie bei allen Tugenden solche Hand Tugenden | 131

lungskriterien zu Rate gezogen werden, die nach dem moralisch Richtigen und Gebotenen fragen. 3. Weitere Rednertugenden

Die erste Tugend des Redners ist natürlich die Beredsamkeit selbst, der kommunikative Habitus dessen, der an- und ausspricht, was ihn bewegt, und dabei ein offenes Ohr für die Reaktionen anderer Menschen hat. Sie gehört zu den Fähigkeiten, die er einsetzt, um auf Herausforderungen, die in bestimmten Situationen für ihn entstehen, zu antworten. Im Idealfall gelingt es ihm sogar, über jedes Thema in einer Weise zu reden, dass seine Zuhörer davon überzeugt sind. Eine weitere wichtige Tugend des Redners ist die Wahrhaftigkeit.505 Zusammen mit der Beredsamkeit betrifft sie direkt seine Kernkompetenz, das überzeugende Reden. Auf ihr beruht die Dignität der wahrscheinlichen Argumentation, denn Wahrscheinlichkeit ist nichts Beliebiges, sondern als das ›dem Wahren Ähnliche‹ an der Wahrheit orientiert, soweit sie dem Redner unter den gegebenen Umständen zugänglich ist. Wahrhaftigkeit ist nicht nur die moralische Voraussetzung für Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit seines Handelns, sondern auch ein wesentliches Element der Glaubwürdigkeit, die er braucht, um erfolgreich zu wirken.506 Glaubwürdigkeit ist der Kredit, der Vertrauensvorschuss, den die Zuhörer dem entgegenbringen, was der Redner sagt, denn nicht immer lässt sich beim Hören der Rede sofort die Wahrheit des von ihm Gesagten überprüfen. Wahrhaftigkeit erst macht die Glaubwürdigkeit zu einem Wirkungsfaktor in der Öffentlichkeit. Ohne sie gewinnt die Glaubwürdigkeit keine Überzeugungskraft, da Zweifel an der Aufrichtigkeit des Redners bei den Zuhörern nur zu Misstrauen und zur Verweigerung der Gefolgschaft führen. Daher zählt die Wahrhaftigkeit auch zu den Merkmalen der Tugendhaftigkeit, die im éthos, dem Charakterbild des Redners, erscheinen sollten. Glaubwürdigkeit selbst aber ist keine Tugend, sondern das Resultat der rednerischen Wirkung auf die Zuhörer und damit eine Eigenschaft, und zwar diejenige, die sie jemandem zuschreiben, dessen Rede sie vertrauen. 132 | Tugenden 

Beredsamkeit und Wahrhaftigkeit zählen aber nicht alleine zu den rednerischen Tugenden. Sie sollten von weiteren Tugenden flankiert werden wie vor allem der Gerechtigkeit, die man als »geschuldete Sozialmoral« (Höffe) definieren kann.507 Objektiv gesehen betrifft sie die richtig funktionierende Verfassung der gesellschaftlichen Institutionen wie Ehe, Familie, Wirtschaft oder das Bildungswesen, bei Recht und Staat auch die Handlungsweise der Politik. Im subjektiven oder personalen Verständnis dagegen stellt sie jene Rechtschaffenheit des Individuums dar, welche die Forderungen der institutionellen Gerechtigkeit nicht bloß gelegentlich und aus Angst vor Strafe, sondern beständig und freiwillig erfüllt. Hier ist die Gerechtigkeit ein moralisches Charaktermerkmal, das nicht von persönlicher Zuneigung abhängt, aber auch nicht über das Geschuldete hinausgeht.508 Schon Platon hatte im »Gorgias« den Sinn für Gerechtigkeit als das wichtigste moralische Kennzeichen des Redners in der Volksversammlung oder im Gerichtsprozess bezeichnet. Für Platon schließt die Gerechtigkeit auch die Besonnenheit mit ein.509 Diese ist die Voraussetzung für das Maßhalten im Handeln. Sie ist eine distanzierte, abwägende Einstellung zur eigenen Emotionalität, die sowohl ausufernder Affektivität und maßloser Gier wie auch der Unterdrückung von Gefühlen widersteht und sich um einen vernunftgemäßen Ausgleich zwischen den Extremen bemüht.510 Auch die Tapferkeit gehört zur persönlichen Gerechtigkeit, denn sich für eine gerechte Sache einzusetzen verlangt nicht selten vom Redner eine besondere Haltung: die der Zivilcourage. Wenn Zivilität eines der rhetorischen Güter ist, das auf den Umgangsformen der Mitglieder einer Gesellschaft beruht511, dann erfordert die Erhaltung menschenwürdiger und gerechter Zustände in dieser Gesellschaft oft mutiges Einschreiten in Situationen, die diese Zustände bedrohen. Dabei sollte zur Zivilcourage auch die Entschiedenheit im Reden gehören, denn ein klarer, verständlicher Standpunkt erhöht die motivierende Kraft des Redners und signalisiert Handlungskompetenz. Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Klugheit gelten in der ethischen Tradition als »Kardinaltugenden«. Sie markieren einen »Kern menschlichen Gutseins« (Seel), an dem sich alle anderen Tugenden orientieren können, und sind die zentralen Tugen Tugenden | 133

den des menschlichen Anstands, die jemanden zu einem »guten« Menschen, also zu einer achtens- und schätzenswerten Person machen.512 Doch hier erweitert sich das bisher entwickelte Konzept einer Rednerethik zum Projekt einer allgemeinen Ethik. Mit dieser Aufzählung ist das Spektrum rednerischer Tugenden übrigens noch nicht erschöpft, denn weitere Tugenden finden sich, wenn man die verschiedenen sozialen Rollen des Redners untersucht.513 4. Das Ideal des vir bonus dicendi peritus a) Rückblick: Antike Tugendethik als Grundlage

Die ganze Tradition der Rhetorik war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, also bis zum Verschwinden des auf humanistischen Ideen beruhenden rhetorischen Bildungssystems, tugendethisch geprägt, und zwar durch das alles verbindende rednerische Ideal des »Ehrenmanns, der reden kann«.514 Die oben skizzierten handlungstheoretischen Überlegungen der antiken Rhetorik wie etwa die zum Nutzen der Redekunst515 tauchten in der Tradition zwar immer wieder auf, wurden aber nicht weiter zu einem eigenen ethischen Konzept ausgearbeitet. Das Leitbild vom rechtschaffenen Redner haben zuerst Platon, dann Cato der Ältere und schließlich insbesondere Quintilian formuliert. »Dem vollkommenen Redner aber gilt unsere Unterweisung«, schreibt dieser in der Vorrede seiner Erziehungslehre für angehende Redner, und zwar »in dem Sinne jener Forderung, dass nur ein wirklich guter Mann [vir bonus] ein Redner sein kann, und deshalb verlangen wir, dass er nicht nur eine hervorragende Redegabe, sondern auch alle Mannestugenden [omnes animi virtutes] besitzt.«516 Im zwölften Buch pointiert er noch einmal seine These: »Für uns soll also der Redner, den wir heranbilden wollen, von der Art sein, wie ihn Marcus Cato definiert: ›ein Ehrenmann, der reden kann‹ [vir bonus dicendi peritus] – unbedingt jedoch das, was in Catos Definition am Anfang steht und auch seinem Wesen nach das Wichtigere und Größere ist: ein Ehrenmann.«517 Die Tugenden machen den vollkommenen Redner für Quintilian erst zu einem rechtschaffenen Menschen. 134 | Tugenden 

In diesem Tugendkonzept fließen verschiedene ideengeschichtliche Strömungen zusammen, und zwar zunächst das Leitbild der generell für den römischen nobilis verpflichtenden persönlichen und staatsmännischen Tugendhaftigkeit (virtus), dann speziell der sozialethische Verhaltenskodex des Grundbesitzers (patronus) und schließlich die philosophische Lehre von den Pflichten (officia), die ein rechtschaffener Mann zu erfüllen hat.518 Quintilian verweist auf Cato den Älteren, der zuerst die vir-bonus-Formel geprägt und sie in einem Buch über die Redekunst für seinen Sohn erläutert hat.519 Auch andere Schriften des alten Cato zeigen das Leitbild vom rechtschaffenen Römer, aus denen hervorgeht, dass dieser etwas vom Ackerbau verstehen und ein pflichtbewusster Familienvater sein musste. Doch nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Bereich hatte der patronus bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Dazu gehörten der Militärdienst im Heer sowie die Verteidigung der von ihm Abhängigen vor Gericht. Denn mit dem Grundbesitz war vielfach das Patronat über eine zahlreiche Klientel von Bauern, Handwerkern oder auch ganzen Dörfern und Städten verbunden, die sich unter den Schutz einer einflussreichen Persönlichkeit gestellt hatten. Während der Zeit der römischen Republik verschmolzen daher zunehmend die öffentlichen Funktionen von orator und patronus. Zu Quintilians Zeit, der ja während der römischen Kaiserzeit lebte, hatten die patroni zwar nicht mehr denselben politischen Einfluss wie in der Republik. Doch ihr sozialethisches Leitbild, welches das Gute im Handeln für das Gemeinwohl sah, blieb weiterhin in der rhetorischen Ausbildung lebendig. Für das Verständnis des vir-bonus-Ideals von philosophischer Seite ist vor allem die stoische Tugendlehre zu berücksichtigen. Quin­ tilian hat für seinen Begriff vom rechtschaffenen Redner Elemente des Konzepts vom stoischen Weisen (sapiens vir) übernommen.520 Dabei folgt er den Stoikern in der Favorisierung von Argumentation und Dialektik, integriert aber anders als sie auch Affektenlehre und Stilistik in seine Auffassung von Rhetorik. Außerdem orientiert er sich an der stoischen Pflichtenlehre, die auf der Verbindung des Ehrenhaften mit dem Nützlichen beruht.521 Darin folgt er Cicero, dessen Schrift »De officiis« diese Pflichtenlehre für die römische Ethik übernommen und ihren Vorstellungen angepasst hat. Der lateinische Begriff officium (eigentlich: Dienst) bezeichnet  Tugenden | 135

das Handeln aus Verpflichtung, sei es durch äußeren Zwang oder zur Erfüllung einer ethischen Norm. Er ist Ausdruck der sittlichen Haltung, die den Römer im familiär-zwischenmenschlichen Bereich sowie in Staat und Religion leiten sollte. Cicero adaptiert in seinem Werk, das er nach Exzerpten aus dem Buch des Stoikers Panaitios über die Pflichten und aufgrund eigener Überlegungen verfasste, den philosophischen Ansatz seines Vorgängers für die moralisch-praktischen Zwecke des politischen Verhaltens in der Öffentlichkeit.522 Pflichtgemäßes Handeln kann sich danach entweder allein am höchsten Guten oder an zwei Arten von Pflichten: den vollkommenen und den sog. »mittleren«, orientieren. Cicero favorisiert die Ausrichtung an den »mittleren« Pflichten, da diese nach Auffassung des Panaitios eher zu den ethischen Forderungen des alltäglichen Lebens passen und weniger streng sind als die auf das altstoische Ideal der vollkommenen Tugend zielenden Pflichten.523 Sein Werk umfasst drei Bücher, in denen das Ehrenhafte (honestum), das Nützliche (utile) sowie die Verbindung dieser beiden Handlungsnormen dargestellt werden. Das Ehrenhafte ist das um seiner selbst willen Erstrebenswerte; es ergibt sich, wenn man sich in seinem Handeln von den vier Kardinaltugenden Klugheit bzw. Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit leiten lässt.524 Das Nützliche ist nur theoretisch vom Ehrenhaften zu trennen, denn nach Cicero ist alles, was als ehrenhaft gilt, auch zugleich nützlich.525 Da aber nicht alles Nützliche auch ehrenhaft ist, gibt es häufig Konflikte zwischen diesen beiden Handlungsnormen, die sich jedoch, wie Cicero im dritten Buch ausführt, am Ende versöhnen lassen. Zur Ehrenhaftigkeit gehören Anstand und Schönheitssinn, die sich im Schicklichen (decorum) äußern, weshalb auch honestum und decorum eine Einheit bilden. Ausdruck des Ehrenhaften und Schicklichen in der Öffentlichkeit sind neben anständigem Verhalten vor allem die Rede und das Gespräch.526 »Denn Vernunft und Rede klug zu gebrauchen«, heißt es alle wesentlichen ethischen Aspekte zusammenfassend, »was du tust, wohlüberlegt zu tun, und in jeder Sache, was wahr ist, einzusehen und im Auge zu behalten – das ist schicklich […]«, wobei zum Schicklichen auch »eine Art Schönheitssinn in der Lebensgestaltung (ornatus vitae)« gehört.527 Bei all dem hält Cicero an der persönlichen Rechtschaffenheit als Leitbild auch innerer Moralität fest.528 Die Grundlage 136 | Tugenden 

pflichtgemäßen Handelns ist für ihn die Annahme, dass wir Menschen »nicht nur für uns selbst geboren sind, sondern einen Teil unseres Daseins die Vaterstadt beansprucht, einen Teil die Freunde, und […] was auf Erden hervorgebracht wird, insgesamt zum Nutzen der Menschen geschaffen wird […]«.529 Damit ist auch von philosophischer Seite noch einmal die sozialethische Basis benannt, die dem rhetorischen vir-bonus-Ideal zugrunde liegt.530 Cicero bietet in seinem Werk eine Fülle von Beispielen für das gute oder – als Kontrast – auch schlechte Handeln von historischen und zeitgenössischen Persönlichkeiten, die als viri boni oder auch als viri mali gelten können. b) Ausblick: Klugheit und Verantwortungsbereitschaft als ethische Kennzeichen eines zeitgemäßen Rednerideals

Mit dem Untergang der klassischen Rhetorik verlor zwar die virbonus-Formel ihre Verbindlichkeit für die rhetorische Ausbildung. Doch damit ist die Notwendigkeit ethischer Orientierung in der modernen Rhetorik keineswegs verschwunden. Es stellt sich die Frage, was von der überkommenen Tugendethik gegenwärtig für sie noch von Bedeutung sein kann. Die Antwort ergibt sich zunächst aus einer Kritik am honestum-Prinzip der antiken rhetorischen Ethik. Ehrenhaftigkeit kann heute nicht mehr wie damals als oberste Leitnorm des rednerischen Handelns gelten.531 Sie enthielt zwar mit der Bindung an die Kardinaltugenden wichtige moralische Elemente, umfasste aber mit der Propagierung etwa von Wohltätigkeit, Großzügigkeit und Ruhm532 ein ständisches Ideal, das für die Welt der römischen nobiles und deren Lebensstil galt, in der Panaitios und Cicero verkehrten.533 Die antiken und auch noch die frühneuzeitlichen Gesellschaften waren ständisch organisiert und damit hierarchischer gegliedert als die Bevölkerungen in den modernen westlichen Ländern, wo sich nach den europäischen Revolutionen ab dem 18. Jahrhundert politisch und rechtlich egalitäre Ordnungen durchsetzten. Zwar sind der Erwerb und die Mehrung der persönlichen Ehre auch heute noch wichtige Handlungsziele – selbst für die Rhetorik, denn sie manifestieren unsere Anerkennung durch andere Menschen.534  Tugenden | 137

Doch höher noch in der Rangfolge der Tugenden muss auch für den Redner die Selbstachtung stehen, die unabhängig vom schwankenden Grad der sozialen Ehre ist, deren man sich nie sicher sein kann. Selbstachtung ist jene Art von Würde, die ihren Grund im eigenen Selbstverhältnis hat und sich daran bemisst, wie wir uns in unserer Lebensführung zu den eigenen Ansprüchen verhalten.535 Entsprechend kommt für den Redner die Achtung vor seinen Zuhörern hinzu, die den Respekt vor ihrer Würde als Menschen und ihren Ansprüchen an seine Glaubwürdigkeit einschließt. Sie sollen sich zu Recht darauf berufen können, dass er sie nicht manipulativ bloß für seine eigenen Interessen instrumentalisiert. Diesen Aspekt, der sich aus der modernen Betonung der Menschenwürde und dem noch heute bestehenden Einfluss der Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts ergibt536, kennt die antike rhetorische Ethik nicht.537 Doch welche Tugenden kommen heute für den Redner in Frage? Von den Kardinaltugenden sollte wohl die Klugheit die leitende Tugend sein. Sie ist zweifellos die wichtigste operative Tugend, denn sie kann rhetorisch-strategische mit moralischer Urteilskraft vereinigen und ist so am besten geeignet, in den Wechselfällen der Situation das eigene Handlungsziel im Auge zu behalten, ohne doch die Würde der Zuhörer zu verletzen. Der Prüfstein dabei ist sicherlich die nach der moralischen Grundnorm und den anderen oben genannten Normen538 vorgenommene Einschätzung des Verhältnisses von persuasiven Mitteln und sachlichen Zielen, um eine manipulative Instrumentalisierung des Publikums zu vermeiden. Denn oft diskreditieren solche Mittel, wenn sie in primär überredender Absicht eingesetzt werden, selbst gute Handlungsziele. Unterstützt werden sollte das moralische Potential der Klugheit durch die Verantwortungsbereitschaft des Redners, für die Folgen seiner Rede und für ihre rhetorische Form einzustehen. »Bedingung von Verantwortung ist kausale Macht«, erklärt Hans Jonas. »Der Täter muss für seine Tat antworten: er wird für deren Folgen verantwortlich gehalten und gegebenenfalls haftbar gemacht.«539 Eine Handlung verantworten heißt also zunächst, aufgrund bestimmter normativer Kriterien begründet Rechenschaft über sie gegenüber einer dazu legitimierten Instanz abzulegen. Verantwortung bezieht sich also retrospektiv auf etwas Getanes; sie kann aber auch pro­ 138 | Tugenden 

spektiv für etwas noch in Zukunft Auszuführendes übernommen werden.540 Sie ist kein isoliertes Phänomen, sondern betrifft soziale Praktiken verschiedenster Art, sogar auch Überzeugungen und Einstellungen zusammen mit bestimmten Gefühlslagen.541 Reden in der Öffentlichkeit sollte daher immer neben dem subjektiven Interesse auch eine zu verantwortende sozialethische Komponente enthalten und das Wohl der Klientel – und zwar nach moralischen Maßstäben – im Blick behalten, wie es traditionell das vir-bonusIdeal forderte. Dazu gehört ebenfalls die Verantwortung für die persuasive Form der Rede gegenüber den Zuhörern, denn diese haben gegenüber dem Redner das aus ihrer Würde resultierende Recht, nicht nur überredet, sondern auch überzeugt zu w ­ erden. Zu guter Letzt sollte heute die Bildung beim Redner nicht fehlen, und zwar als Ausdruck von Kultivierung, wie Cicero es mit dem Hinweis auf den Schönheitssinn des decorum meinte. Bildung als Tugend sollte dabei mehr sein als nur die Ansammlung von Fachkenntnissen und eine Allgemeinbildung, die sachhaltiges Reden, Schulung der Urteilskraft und Verständigung auch mit Leuten unterschiedlichster Herkunft ermöglichen. Sie wäre eine Verständigkeit für menschliche Lebenslagen, in denen Dialogbereitschaft und die Fähigkeit vorhanden ist, die Perspektiven anderer einzunehmen und von daher auch sich selbst wahrzunehmen.542

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VI . Rhetorisch-ethische Interpretation eines ­Beispiels Die Reden von Brutus und Antonius in Shakespeares »Julius Caesar« 1. Historischer Hintergrund

Abschließend sei nun an zwei berühmten Reden gezeigt, wie rhetorisches Handeln als persuasives Handeln unter ethischen Aspekten zu bewerten ist. Untersucht werden die Reden von Brutus und Antonius, zweier Gefolgsleute Cäsars, die sich nach der Ermordung des Diktators an den Iden des März 44 v. Chr. von verschiedenen Standpunkten aus mit den Folgen dieser Tat auseinandersetzten. Die Reden wurden tatsächlich gehalten, sind aber nicht überliefert, sondern existieren nur in dichterischer Nachgestaltung, und zwar in Shakespeares Tragödie »Julius Caesar«, verfasst etwa um 1599. Shakespeare formte beide Reden nach Hinweisen, die er in antiken Quellen, und zwar vor allem in Plutarchs »Parallelbiographien«, fand543, und zeigt damit in poetischer Verdichtung gewissermaßen idealtypisch die Licht- und Schattenseiten der politischen Rhetorik. Der Vorteil dieser Gestaltung und ihre Einbettung in ein die damaligen Vorgänge schilderndes Bühnengeschehen liegt für unsere Untersuchung aber in der Präsentation nicht nur der rhetorischen Handlungen, sondern auch der Folgen für die Handlungen der Zuhörer, was die ethische Beurteilung erst ermöglicht. Denn es gibt im Stück drei Beziehungsebenen: erstens diejenige der beiden Redner zueinander, wobei der eine die Taten des anderen und dessen Rechtfertigung bekämpft; zweitens die der Redner zu ihren Zuhörern, in der es um die Zustimmung der Angesprochenen zum Gesagten geht; und drittens die Beziehung der Redner und ihrer Zuhörer zu den Zuschauern im Theater. Ebene eins und zwei sind repräsentiert durch das Geschehen auf der Bühne, Ebene drei entsteht durch die Wahrnehmung des Geschehens dort von Seiten des Publikums vor der Bühne. Diese dritte Ebene erst thema  141

tisiert die ethische Frage an das Bühnengeschehen aus der theaterspezifischen Wahrnehmungsperspektive: Wessen Rede ist in der schwierigen Situation nach dem Tod Cäsars ethisch angemessen und welche nicht? Anlass für die Reden dieser beiden Protagonisten in den Geschehnissen nach den Iden des März ist die ultimative Forderung der römischen Bürger: »Wir wollen Rechenschaft, legt Rechenschaft uns ab!«544 2. Rhetorische Strategie

Brutus gibt in seiner Rede, die als politische auf dem Forum gehalten wird, aber ihrer argumentativen Funktion nach eine Verteidigungsrede ist, die vom Volk geforderte Rechenschaft. Die Rede lautet: BRUTUS . […]

Römer ! Mitbürger ! Freunde ! Hört mich meine Sache führen und seid still, damit ihr hören möget. Glaubt mir um meiner Ehre willen und hegt Achtung vor meiner Ehre, damit ihr glauben mögt. Richtet mich nach eurer Weisheit und weckt eure Sinne, um desto besser urteilen zu können. Ist jemand in dieser Ver­sammlung, irgendein herzlicher Freund Cäsars, dem sage ich: Des Brutus Liebe zum Cäsar war nicht geringer als seine. Wenn dieser Freund dann fragt, warum Brutus gegen Cäsar aufstand, ist dies meine Antwort: Nicht weil ich Cäsarn weniger liebte, sondern weil ich Rom mehr liebte. Wolltet ihr lieber, Cäsar lebte und ihr stürbet alle als Sklaven, als daß Cäsar tot ist, damit ihr alle lebet wie freie Männer? Weil Cäsar mich liebte, wein’ ich um ihn; weil er glücklich war, freue ich mich; weil er tapfer war, ehr’ ich ihn; aber weil er herrschsüchtig war, erschlug ich ihn. Also Tränen für seine Liebe, Freude für sein Glück, Ehre für seine Tapferkeit und Tod für seine Herrschsucht. Wer ist hier so niedrig gesinnt, daß er ein Knecht sein möchte? Ist es jemand, er rede, denn ihn habe ich beleidigt. Wer ist hier so roh, daß er nicht wünschte, ein Römer zu sein? Ist es jemand, er rede, denn ihn habe ich beleidigt. Wer ist hier so schlecht, daß er sein Vaterland nicht lieben will? Ist es jemand, er rede, denn ihn habe ich beleidigt. Ich halte inne, um Antwort zu hören. 142 | Rhetorisch-ethische Interpretation eines ­B eispiels  

BÜRGER . (Verschiedene Stimmen auf einmal.)



Niemand, Brutus, niemand. BRUTUS . Dann habe ich niemand beleidigt. Ich tat Cäsarn nichts, als was ihr dem Brutus tun würdet. Die Untersuchung über seinen Tod ist im Kapitol aufgezeichnet; sein Ruhm nicht geschmälert, wo er Verdienste hatte; seine Vergehen nicht übertrieben, für die er den Tod gelitten. (Antonius und andre treten auf mit Cäsars Leiche.) Hier kommt seine Leiche, vom Mark Anton betrauert, der, ob er schon keinen Teil an seinem Tode hatte, die Wohltat seines Sterbens, einen Platz im Gemeinen Wesen, genießen wird. Wer von euch wird es nicht? Hiermit trete ich ab: Wie ich meinen besten Freund für das Wohl Roms erschlug, so habe ich denselben Dolch für mich selbst, wenn es dem Vaterlande gefällt, meines Todes zu bedürfen. BÜRGER . Lebe, Brutus ! Lebe, lebe ! ERSTER BÜRGER . Begleitet mit Triumph ihn in sein Haus. ZWEITER BÜRGER . Stellt ihm ein Bildnis auf bei seinen Ahnen. DRITTER BÜRGER . Er werde Cäsar ! VIERTER BÜRGER . Im Brutus krönt ihr Cäsars beßre Gaben. ERSTER BÜRGER . Wir bringen ihn nach Haus mit lautem Jubel. BRUTUS . Mitbürger – ! ZWEITER BÜRGER .   Schweigt doch ! Stille ! Brutus spricht. ERSTER BÜRGER . Still da ! BRUTUS . Ihr guten Bürger, laßt allein mich gehn: Bleibt mir zuliebe hier beim Mark Anton. Ehrt Cäsars Leiche, ehret seine Rede, Die Cäsars Ruhm verherrlicht: Dem Antonius Gab unser Will’ Erlaubnis, sie zu halten. Ich bitt’ euch, keiner gehe fort von hier Als ich allein, bis Mark Anton gesprochen.

Zunächst bittet Brutus also seine Zuhörer um Ruhe. Dann erklärt er, »warum Brutus gegen Cäsar aufstand«: »Nicht weil ich Cäsarn weniger liebte, sondern weil ich Rom mehr liebte.« Unter Cäsar wären alle Römer Sklaven geblieben, nun aber, da er tot ist, seien sie frei. Er gesteht, dass diese Tat ihn schmerzt: »Weil Cäsar mich liebte, wein’ ich um ihn, […] aber weil er herrschsüchtig war, er Die Reden von Brutus und Antonius in »Julius Caesar« | 143

schlug ich ihn.« Doch sein persönliches Motiv steht hinter dem politischen Motiv zurück: um der Freiheit des Staates und damit der Römer willen, denen seine größere Liebe gilt, hat er den Mord begangen. Er appelliert an die Freiheitsliebe jedes Einzelnen: »Wer ist hier so niedrig gesinnt, dass er ein Knecht sein möchte? […] Wer ist hier so schlecht, dass er sein Vaterland nicht lieben will?« Sollte das Volk aber eine andere Wertung vornehmen, so gilt: »Wolltet ihr lieber, Cäsar lebte und ihr stürbet alle als Sklaven […]«, so würde auch er sterben wollen: »Wie ich meinen besten Freund für das Wohl Roms erschlug, so habe ich denselben Dolch für mich selbst, wenn es dem Vaterlande gefällt, meines Todes zu bedürfen.« Er bietet an, sich dem Urteil der Bürger zu stellen: »Richtet mich nach eurer Weisheit und weckt eure Sinne, um desto besser urteilen zu können«, was als Aufforderung zur direkten Stellungnahme nach der Rede gewertet werden kann, aber auch als Resultat eines möglichen späteren Gerichtsverfahrens zu verstehen ist. Die Rede des Brutus ist nur kurz und von Shakespeare in Prosa wiedergegeben; sie bevorzugt den einfachen Stil und enthält als rhetorische Figuren vor allem Antithesen, Parallelismen und rhetorische Fragen. Grundlage dieser Argumentation sind für Brutus zum einen tugendhafte Überzeugungen wie Freiheitsliebe und Ehrlichkeit in der Darlegung seines Standpunkts, zum andern Ehre und Ansehen seiner Person in der Öffentlichkeit. »Glaubt mir um meiner Ehre willen«, sagt er gleich zu Anfang seiner Rede, »und hegt Achtung vor meiner Ehre, damit ihr glauben mögt.« Brutus meint als Redner, was er sagt, er argumentiert offen und appelliert an die Vernunft seiner Zuhörer. Der Rechtfertigungsimpuls dieser Rede ist vor allem vom lógos bestimmt, enthält daneben natürlich auch mit der demonstrierten Ehrenhaftigkeit ein starkes éthos-Element, das seine emotionale Wirkung auf die Zuhörer nicht verfehlt und dennoch den Rahmen rationaler Argumentation nicht sprengt. Das Volk honoriert zunächst auch dieses Verhalten. »Lebe, Brutus, lebe […]!«, ruft ein Zuhörer, und ein anderer sagt sogar: »Er werde Cäsar!«545 Wie wenig die Bürger allerdings die Argumentation des Brutus wirklich verstehen und nachvollziehen, zeigt die Wirkung der anschließenden Rede des Antonius. Sie lautet:

144 | Rhetorisch-ethische Interpretation eines ­B eispiels  

ANTONIUS .

Mitbürger ! Freunde ! Römer ! Hört mich an: Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen. Was Menschen Übles tun, das überlebt sie, Das Gute wird mit ihnen oft begraben. So sei es auch mit Cäsarn! Der edle Brutus Hat euch gesagt, daß er voll Herrschsucht war; Und war er das, so war’s ein schwer Vergehen, Und schwer hat Cäsar auch dafür gebüßt. Hier, mit des Brutus Willen und der andern (Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann, Das sind sie alle, alle ehrenswert !) Komm’ ich, bei Cäsars Leichenzug zu reden. Er war mein Freund, war mir gerecht und treu: Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war, Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Er brachte viel Gefangne heim nach Rom, Wofür das Lösegeld den Schatz gefüllt. Sah das der Herrschsucht wohl am Cäsar gleich? Wenn Arme zu ihm schrien, so weinte Cäsar: Die Herrschsucht sollt’ aus härterm Stoff bestehn. Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war, Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Ihr alle saht, wie am Luperkus-Fest Ich dreimal ihm die Königskrone bot, Die dreimal er geweigert. War das Herrschsucht? Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war, Und ist gewiß ein ehrenwerter Mann. Ich will, was Brutus sprach, nicht widerlegen, Ich spreche hier von dem nur, was ich weiß. Ihr liebtet all’ ihn einst nicht ohne Grund: Was für ein Grund wehrt euch, um ihn zu trauern? O Urteil, du entflohst zum blöden Vieh, Der Mensch ward unvernünftig ! – Habt Geduld ! Mein Herz ist in dem Sarge hier beim Cäsar, Und ich muß schweigen, bis es mir zurückkommt. ERSTER BÜRGER . Mich dünkt, in seinen Reden ist viel Grund.

 Die Reden von Brutus und Antonius in »Julius Caesar« | 145

ZWEITER BÜRGER . Wenn man die Sache recht erwägt, ist Cäsarn

Groß Unrecht widerfahren. DRITTER BÜRGER . Meint ihr, Bürger? Ich fürcht’, ein Schlimmrer kommt an seine Stelle. VIERTER BÜRGER . Habt ihr gehört? Er nahm die Krone nicht, Da sieht man, daß er nicht herrschsüchtig war. ERSTER BÜRGER . Wenn dem so ist, so wird es manchem teuer Zu stehen kommen. ZWEITER BÜRGER . Ach, der arme Mann ! Die Augen sind ihm feuerrot vom Weinen. DRITTER BÜRGER . Antonius ist der bravste Mann in Rom. VIERTER BÜRGER . Gebt acht, er fängt von neuem an zu reden. ANTONIUS . Noch gestern hätt’ umsonst dem Worte Cäsars Die Welt sich widersetzt: nun liegt er da, Und der Geringste neigt sich nicht vor ihm. O Bürger ! Strebt’ ich, Herz und Mut in euch Zur Wut und zur Empörung zu entflammen, So tät’ ich Cassius und Brutus Unrecht, Die ihr als ehrenwerte Männer kennt. Ich will nicht ihnen Unrecht tun, will lieber Dem Toten Unrecht tun, mir selbst und euch, Als ehrenwerten Männern, wie sie sind. Doch seht dies Pergament mit Cäsars Siegel; Ich fand’s bei ihm, es ist sein Letzter Wille. Vernähme nur das Volk dies Testament (Das ich, verzeiht mir, nicht zu lesen denke), Sie gingen hin und küßten Cäsars Wunden Und tauchten Tücher in sein heil’ges Blut, Ja bäten um ein Haar zum Angedenken, Und sterbend nennten sie’s im Testament Und hinterließen’s ihres Leibes Erben Zum köstlichen Vermächtnis. VIERTER BÜRGER . Wir wollen’s hören: Lest das Testament. Lest, Mark Anton. BÜRGER .     Jaja, das Testament  ! Laßt Cäsars Testament uns hören. ANTONIUS . Seid ruhig, liebe Freund’ ! Ich darf’s nicht lesen; 146 | Rhetorisch-ethische Interpretation eines ­B eispiels  

Ihr müßt nicht wissen, wie euch Cäsar liebte. Ihr seid nicht Holz, nicht Stein, ihr seid ja Menschen, Drum wenn ihr Cäsars Testament erführt, Es setzt’ in Flammen euch, es macht’ euch rasend. Ihr dürft nicht wissen, daß ihr ihn beerbt; Denn wüßtet ihr’s, was würde draus entstehn? BÜRGER . Lest das Testament ! Wir wollen’s hören, Mark Anton ! Lest das Testament ! Cäsars Testament ! ANTONIUS . Wollt ihr euch wohl gedulden? Wollt ihr warten? Ich übereilte mich, da ich’s euch sagte. Ich fürcht’, ich tu’ den ehrenwerten Männern Zu nah, durch deren Dolche Cäsar fiel; Ich fürcht’ es. VIERTER BÜRGER . Sie sind Verräter: ehrenwerte Männer ! BÜRGER . Das Testament ! Das Testament ! ZWEITER BÜRGER . Sie waren Bösewichter, Mörder ! Das Testament ! Lest das Testament ! ANTONIUS . So zwingt ihr mich, das Testament zu lesen? Schließt einen Kreis um Cäsars Leiche denn, Ich zeig’ euch den, der euch zu Erben machte. Erlaubt ihr mir’s? Soll ich hinuntersteigen? BÜRGER . Ja, kommt nur ! ZWEITER BÜRGER . Steigt herab ! (Antonius verläßt die Rednerbühne.) DRITTER BÜRGER . Es ist Euch gern erlaubt. VIERTER BÜRGER . Schließt einen Kreis herum ! ERSTER BÜRGER . Zurück vom Sarge ! Von der Leiche weg ! ZWEITER BÜRGR . Platz für Antonius ! Für den edlen Antonius ! ANTONIUS . Nein, drängt nicht so heran ! Steht weiter weg ! BÜRGER . Zurück ! Platz da ! Zurück ! ANTONIUS . Wofern ihr Tränen habt, bereitet euch, Sie jetzo zu vergießen. Diesen Mantel, Ihr kennt ihn alle; noch erinnr’ ich mich Des ersten Males, daß ihn Cäsar trug, In seinem Zelt, an einem Sommerabend – Er überwand den Tag die Nervier –, Hier, schauet, fuhr des Cassius Dolch herein; Seht, welchen Riß der tück’sche Casca machte !  Die Reden von Brutus und Antonius in »Julius Caesar« | 147

Hier stieß der vielgeliebte Brutus durch. Und als er den verfluchten Stahl hinwegriß, Schaut her, wie ihm das Blut des Cäsar folgte, Als stürzt’ es vor die Tür, um zu erfahren, Ob wirklich Brutus so unfreundlich klopfte. Denn Brutus, wie ihr wißt, war Cäsars Engel. – Ihr Götter, urteilt, wie ihn Cäsar liebte ! Kein Stich von allen schmerzte so wie der. Denn als der edle Cäsar Brutus sah, Warf Undank, stärker als Verräterwaffen, Ganz nieder ihn: da brach sein großes Herz, Und in den Mantel sein Gesicht verhüllend, Grad’ am Gestell der Säule des Pompejus, Von der das Blut rann, fiel der große Cäsar. O meine Bürger, welch ein Fall war das ! Da fielet ihr und ich; wir alle fielen, Und über uns frohlockte blut’ge Tücke. O ja ! Nun weint ihr, und ich merk’, ihr fühlt Den Drang des Mitleids: dies sind milde Tropfen. Wie? Weint ihr, gute Herzen, seht ihr gleich Nur unsers Cäsars Kleid verletzt? Schaut her ! Hier ist er selbst, geschändet von Verrätern. ERSTER BÜRGER . O kläglich Schauspiel ! ZWEITER BÜRGER . O edler Cäsar ! DRITTER BÜRGER . O jammervoller Tag ! VIERTER BÜRGER . O Buben und Verräter ! ERSTER BÜRGER . O blut’ger Anblick ! ZWEITER BÜRGER . Wir wollen Rache ! ALLE BÜRGER . Rache ! Auf und sucht ! Sengt ! Brennt ! Schlagt ! Mordet ! Laßt nicht einen leben ! ANTONIUS . Seid ruhig, meine Bürger ! ERSTER BÜRGER . Still da ! Hört den edlen Antonius ! ZWEITER BÜRGER . Wir wollen ihn hören, wir wollen ihm folgen, wir wollen für ihn sterben. ANTONIUS . Ihr guten, lieben Freund’, ich muß euch nicht Hinreißen zu des Aufruhrs wildem Sturm. Die diese Tat getan, sind ehrenwert. Was für Beschwerden sie persönlich führen, 148 | Rhetorisch-ethische Interpretation eines ­B eispiels  

Warum sie’s taten, ach, das weiß ich nicht. Doch sind sie weis’ und ehrenwert und werden Euch sicherlich mit Gründen Rede stehn. Nicht euer Herz zu stehlen komm’ ich, Freunde: Ich bin kein Redner, wie es Brutus ist, Nur wie ihr alle wißt, ein schlichter Mann, Dem Freund ergeben, und das wußten die Gar wohl, die mir gestattet, hier zu reden. Ich habe weder Witz noch Wort, noch Gaben, Noch Kunst des Vortrags, noch die Macht der Rede, Der Menschen Blut zu reizen; nein, ich spreche Nur gradezu, und sag’ euch, was ihr wißt. Ich zeig’ euch des geliebten Cäsars Wunden, Die armen stummen Munde, heiße die Statt meiner reden. Aber wär’ ich Brutus Und Brutus Mark Anton, dann gäb’ es einen Der eure Geister schürt’ und jeder Wunde Des Cäsar eine Zunge lieh’, die selbst Die Steine Roms zum Aufstand würd’ empören. ALLE . Empörung ! . ERSTER BÜRGER . Steckt des Brutus Haus in Brand ! DRITTER BÜRGER . Hinweg denn ! Kommt, sucht die Verschwornen auf ! ANTONIUS . Noch hört mich, meine Bürger, hört mich an ! BÜRGER . Still da ! Hört Mark Anton, den edlen Mark Anton ! ANTONIUS . Nun, Freunde, wißt ihr selbst auch, was ihr tut? Wodurch verdiente Cäsar eure Liebe? Ach nein ! Ihr wißt nicht. – Hört es denn ! Vergessen Habt ihr das Testament, wovon ich sprach. BÜRGER . Wohl wahr ! Das Testament ! Bleibt, hört das Testament ! ANTONIUS . Hier ist das Testament mit Cäsars Siegel. Darin vermacht er jedem Bürger Roms, Auf jeden Kopf euch fünfundsiebzig Drachmen. ZWEITER BÜRGER . O edler Cäsar ! – Kommt, rächt seinen Tod ! DRITTER BÜRGER . O königlicher Cäsar ! ANTONIUS . Hört mich mit Geduld ! BÜRGER . Still da ! ANTONIUS . Auch läßt er alle seine Lustgehege,  Die Reden von Brutus und Antonius in »Julius Caesar« | 149

Verschloßne Lauben, neugepflanzte Gärten Diesseit der Tiber, euch und euren Erben Auf ew’ge Zeit; damit ihr euch ergehn Und euch gemeinsam dort ergötzen könnt. Das war ein Cäsar ! Wann kommt seinesgleichen? ERSTER . BÜRGER . Nimmer ! Nimmer ! – Kommt ! Hinweg, hinweg ! Verbrennt den Leichnam auf dem heil’gen Platze Und mit den Bränden zündet den Verrätern Die Häuser an. Nehmt denn die Leiche auf ! ZWEITER BÜRGER . Geht ! Holt Feuer ! DRITTER BÜRGER . Reißt Bänke ein ! VIERTER BÜRGER . Reißt Sitze, Läden alles ein ! (Die Bürger mit Cäsars Leiche ab.] ANTONIUS . Nun wirk’ es fort. Unheil, du bist im Zuge: Nimm, welchen Lauf du willst ! –

Auch diese Rede steht im politischen Kontext, scheint am Anfang zunächst die Topik der dem Brutus von Antonius zugesagten Leichenrede aufzunehmen, wandelt sich aber bald zur Anklage und schließlich zur politischen Beratungsrede mit der Agitation gegen die Cäsarmörder. Antonius preist zuerst den Toten als seinen Freund (»war mir gerecht und treu«). Von Anfang an kontrastiert er so Cäsars edlen Charakter mit dem Handeln der Verschwörer. Der kritisierten »Herrschsucht« des Ermordeten setzt er dessen »Liebe« zum Volk entgegen, für das Cäsar sogar auf die Königskrone verzichtet habe. Die tugendhaften Motive des Brutus und seiner Mitverschworenen erscheinen dadurch als dubios, ein Eindruck, der sich im Verlauf der Rede immer mehr verstärkt. Dabei ironisiert546 Antonius insbesondere dessen angeblich ehrenhaftes Handeln, indem er es Cäsars Wohltaten an den Römern gegenüberstellt: »Wenn Arme zu ihm schrien, so weinte Cäsar: / Die Herrschsucht soll aus härterm Stoff bestehn. / Doch Brutus sagt, dass er voll Herrschsucht war, / Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.« Mehrmals äußert er sich auf diese Weise in seiner Rede, erwähnt auch Cäsars Testament zugunsten der Bevölkerung Roms und zerstört so allmählich die von Brutus beanspruchte Ehrenhaftigkeit. Antonius benutzt zwar rationale Argumente, um die Anschuldigungen der Verschwörer zurückzuweisen, appelliert jedoch vor 150 | Rhetorisch-ethische Interpretation eines ­B eispiels  

allem an die Gefühle zur Aufwiegelung des Volkes wie in dem Moment, als er von der Rednertribüne herab zum Sarg mit Cäsars Leichnam steigt und dessen blutigen Mantel herumzeigt. »Diesen Mantel, / Ihr kennt ihn alle«, beginnt er und fährt fort: »Hier schauet, fuhr des Cassius Dolch herein; / Seht, welchen Riß der tück’sche Casca machte! / Hier stieß der vielgeliebte Brutus durch. / Und als er den verfluchten Stahl hinwegriß, / Schaut her, wie ihm das Blut des Cäsar folgte, / Als stürzt’ es vor die Tür, um zu erfahren, / Ob wirklich Brutus so unfreundlich klopfte.« Antonius arbeitet hier geschickt mit Cäsars Mantel als Beweismittel für sein Redeziel, den Mord an Cäsar zu brandmarken, und benutzt ihn als Motiv zur Anwendung des Stilmittels der evidentia, indem er die Tötungsszene drastisch ausmalt, um Mitleid und Zorn bei den Zuhörern zu erregen.547 Das bringt schließlich auch den Umschwung in der Stimmung des Volks. Dessen aufflammende Feindseligkeit gegenüber den Verschwörern befeuert Antonius am Ende seiner Rede noch durch die ›Enteignung‹ des éthos seines Vorredners, indem er sich vorgeblich die Redekunst abspricht: »Nicht Euer Herz zu stehlen komm’ ich, Freunde: / Ich bin kein Redner, wie es Brutus ist / Nur, wie ihr alle wisst, ein schlichter Mann. […] Aber wär ich Brutus / Und Brutus Mark Anton, dann gäb’ es einen / Der eure Geister schürt’ und jeder Wunde / Des Cäsar eine Zunge lieh’, die selbst / Die Steine Roms zum Aufstand würd’ empören.« Darin also liegt nach Antonius die wahre Ehre eines Redners in dieser Situation: als echter Cäsar-Freund zur Rache für den unschuldig Getöteten aufzurufen. Er gibt vor, als einfacher Mann zu reden, der keine gedrechselten Worte für sein Anliegen nötig hat wie Brutus und sozusagen wie ein Volkstribun gegen ihn aufbegehrt, da Cäsar so viel für die Bürger Roms getan hat.548 Dabei reizt dieser Kniff, der als Spielart der rhetorica contra rhetoricam angeblich die Redekunst denunziert, aber tatsächlich ihre Wirkung verstärkt, die Wut der Zuhörer nur noch mehr. Hier offenbart sich Antonius’ Redestrategie: Unter dem Deckmantel der Totenehrung will er in Wirklichkeit das Volk aufwiegeln. Statt offen zu argumentieren, verschleiert er in der Rede seine wahren Absichten, denn er will etwas anderes erreichen, als er sagt. Die Rede des Antonius ist voll von rhetorischen Figuren und Tropen sowie in Blankversen gehalten, deren Rhythmik und Bil Die Reden von Brutus und Antonius in »Julius Caesar« | 151

derflut die Emotionen der Zuhörer unmittelbar ansprechen und die daher viel eingängiger sind als Prosasätze. Insgesamt dauert sie länger als die von Brutus, was vor allem ihrem amplifizierenden Duktus geschuldet ist, denn sie gestaltet raffiniert alle Aspekte der Mordtat aus, modelliert in immer wieder neuen Anläufen ihr Thema und bearbeitet so die Gefühle der Anwesenden. Doch Antonius ist zwar von großer Trauer um seinen Freund Cäsar erfüllt, wird aber beim Reden keineswegs von seinen Gefühlen fortgerissen, denn er handelt mit kühler Überlegung und behält sein Ziel unverwandt im Auge. Das zeigt seine Bemerkung am Schluss der Szene, als die aufgewiegelten Bürger mit Cäsars Leiche forteilen, um die Häuser der Verschwörer niederzubrennen: »Nun wirk’ es fort. Unheil, du bist im Zuge: / Nimm, welchen Lauf du willst! […] Das Glück ist aufgeräumt / Und wird in dieser Laun’ uns nichts versagen.« Die in den Tumult auf der Bühne verwickelten Zuhörer seiner Rede vernehmen diese Sätze aber nicht mehr, sondern nur die Zuschauer des Stücks im Theater, denen so Wirkung und Folgen einer demagogischen Rede vorgeführt werden. 3. Ethische Beurteilung

»Die ganze Forumsszene ist darauf angelegt, den Rezipienten zur eigenen Urteilsbildung herauszufordern, zur gedanklichen Auseinandersetzung mit Wesen und Ziel der Rhetorik«, schreibt Wolfgang Müller über die Funktion, die die Reden von Brutus und Antonius für die Zuschauer, die Shakespeares Schauspiel im Theater sehen, haben sollen.549 Thema dieser Auseinandersetzung sollen die Lichtund Schattenseiten der Persuasion sein, und am Ende sollte eine ethische Beurteilung des rhetorischen Handelns beider Redner stehen. Wie stellt sich nun die Situation in der Forumsszene des Dramas für die Zuschauer dar? Shakespeare hat die Ereignisse nach Cäsars Tod, die im Kampf um die Macht im Staat kulminierten und mehrere Tage vom Mord bis zum Leichenbegängnis des Diktators dauerten, auf einen Tag komprimiert550, um Spannung für die Zuschauer zu schaffen und damit den Unterhaltungswert des Stücks zu steigern. Die Reden folgen im Drama unmittelbar aufeinander, und so entsteht die Illusion eines Redewettstreits, in dem man di152 | Rhetorisch-ethische Interpretation eines ­B eispiels  

rekt hören kann, was beide Redner sagen, und Inhalt wie Wirkung der Reden vergleichen kann. Außerdem spiegelt dieser Wettstreit für den Zuschauer den Handlungsdruck, unter dem die Protagonisten stehen, und er kann miterleben, wie sich am Ende Misserfolg bzw. Erfolg der Reden ergeben und wie sie über das weitere Schicksal von Brutus und Antonius entscheiden. Zur Beurteilung der ethischen Valenz beider Reden aus der Zuschauerperspektive sollen nun zunächst die politischen Ziele und Motive der beiden Männer dargestellt werden. Brutus will mit seiner Beteiligung am Mord die Alleinherrschaft Cäsars in Rom beseitigen und so die Freiheit für die Bürger wiederherstellen. Diese Freiheit betraf in erster Linie den politischen Einfluss der Nobilität, zu der Brutus gehörte und die um ihre Stellung im republikanischen Staat fürchtete.551 Denn in deren Augen hatte Cäsar mehr Macht errungen, als dem Einzelnen nach Brauch und Herkommen gestattet war. Brutus versteht daher die Herrschaft dieses einzelnen Mannes über die anderen Mitglieder des Gemeinwesens als Tyrannei, die sich in der Usurpation des Staates äußert und entsprechende Willkür in der Gesetzgebung, daraus folgende Ungerechtigkeit und Gewaltausübung nach sich zieht. Die Ermordung eines Tyrannen wurde in der Antike vielfach gerechtfertigt, wie Philosophie und Geschichtsschreibung zeigen552, und auch Brutus begründet damit seine Beteiligung an der Verschwörung. Doch sein Freiheitsmotiv steht in Konflikt mit seinem Freundschaftsmotiv, denn er liebte Cäsar, wie er gesteht. Aus diesen beiden Motiven ergeben sich konkurrierende Pflichten für Brutus: zum einen die Pflicht, den Tyrannen Cäsar zu beseitigen, zum andern die Pflicht, ihn als seinen Freund zu beschützen. In dieser Situation wählt er das, was er als die höhere Pflicht ansieht: den Mord am Tyrannen zur Rettung der Republik und ihrer Verfassung, wie sie nach der Absetzung des letzten römischen Königs eingerichtet worden war. Die politischen Ziele und Motive des Antonius gehen im Vergleich dazu in eine andere Richtung.553 Er sieht sich nach Cäsars Tod als dessen Erbe und beansprucht dessen Machtstellung. Seine Gegner sind die Cäsarmörder und deren Anhang. Als die Lage in Rom nach dem Mord zunächst noch unübersichtlich ist, muss er sich zuerst mit ihnen arrangieren, will dann aber ihren Nimbus als Retter des Staates zerstören, ihre neugewonnene Macht brechen  Die Reden von Brutus und Antonius in »Julius Caesar« | 153

und den Tod Cäsars rächen. Neben den politischen Motiven hat Antonius ebenfalls ein persönliches Motiv, das aber seinem politischen Handeln nicht entgegensteht, sondern es bestärkt. Er war von Cäsar nicht nur in seiner Ämterlaufbahn gefördert worden – seit Anfang Januar 44 war er Mitkonsul an Cäsars Seite –, sondern ihm auch freundschaftlich verbunden und empfand deshalb tiefe Trauer über den Tod seines Gönners. Entsprechend verfolgen – strebensethisch und utilitaristisch gesehen – die beiden Männer gegensätzliche Ziele, die zu entgegengesetzten Bewertungen ihres Handelns und der damit intendierten Konsequenzen führen. Brutus hat die Wiederherstellung der Republik im Auge, was zweifellos ein ehrenwertes und akzeptables Resultat seiner Rede ist. Der Großteil seiner Zuhörer gibt diesem von ihm beabsichtigten Ergebnis zuerst auch die Zustimmung, bis Antonius sie umstimmt. Dieser will seine Hörer aufputschen, so die Macht im Staat an sich reißen und Cäsars Tod rächen, was ihm durch seine Rede auch gelingt. Sein Nutzenkalkül geht für ihn also auf, aber nicht für die Römer, deren Situation – im Sinne des Gesamtwohls für die meisten – sich nicht verbessert, sondern in eine neue Phase des Bürgerkriegs mündet, denn jetzt stehen seine Auseinandersetzungen mit den Cäsarmördern und den anderen Rivalen (dem Mitkonsul Lepidus und mit Cäsars Adoptivsohn Octa­ vian) um die Macht im Staate an. Diese krisenhafte Zuspitzung sieht Antonius und nimmt sie in Kauf, wie sein Ausspruch »Unheil, du bist am Zuge« belegt. Unter dem Aspekt des Gesamtnutzens ist sein Handeln also negativ zu bewerten und daher moralisch zu verurteilen.554 Als amtierender Konsul hätte Antonius – jetzt deontologisch gesehen – außerdem die Pflicht gehabt, die Cäsarmörder nicht aus Rachedurst und Machtgier, sondern von Amts wegen aufgrund ihres Kapitalverbrechens vor Gericht zu bringen. Denn unumstritten ist die Tat des Brutus ja keineswegs, da er immerhin einen offiziell vom Senat zum Diktator ernannten Mann getötet hat, was trotz aller Tyrannenkritik damals zunächst eine gesetzeswidrige Tat war. Sind so bei den sachlichen Handlungen beider Protagonisten moralische Zweifel angebracht, fällt das Urteil bei ihrem rhetorischen Handeln moralisch eindeutig aus. Beide Männer benützen gegensätzliche rhetorische Strategien zur Erreichung ihrer Ziele. 154 | Rhetorisch-ethische Interpretation eines ­B eispiels  

Antonius weckt durch seine emotionale Redeweise die zum Leichenbegängnis passende und seinen Zwecken günstige Stimmung im Volk und schafft so eine Gemeinsamkeit zwischen sich und dem Publikum, die der auf distanzierende Rationalität setzenden Rede des Brutus unerreichbar bleibt.555 Antonius lenkt zugleich von Brutus’ Argumentation ab und greift relevante Punkte wie das Freiheitsbedürfnis der Bürger oder die mögliche gerichtliche Aufarbeitung des Mordes nicht auf. Er realisiert rhetorisch perfekt die Angemessenheit seiner Rede an die Situation, ein Kunstgriff, der Brutus nicht gelingt, denkt aber zugleich nicht daran, sein Publikum auch als selbständig urteilende Instanz ethisch anzuerkennen, wie Brutus es macht. Angemessenheit rhetorischen Handelns und Anerkennung der Urteilsfähigkeit des Publikums gehen also bei beiden in verschiedene Richtungen. Brutus setzt dabei auf die Überzeugung, Antonius auf die Überredung556 der Zuhörer. Sollensethisch gesehen handelt Brutus untadelig, strebensethisch gesehen dagegen ungeschickt, da er keinen Erfolg hat. Antonius handelt strebensethisch gesehen äußerst erfolgreich, sollensethisch dagegen tadelnswert, da er seine Zuhörer vollkommen instrumentalisiert und bloß als Mittel für seine Zwecke benutzt. Doch die Frage nach der moralischen Berechtigung rhetorischen Handelns darf natürlich die Frage nach dessen persuasiver Effizienz nicht verdrängen; das bleibt der Stachel bei jeder moralischen Beurteilung einer Rede, wie vom Gegensatzpaar Brutus – Antonius557 zu lernen ist. Für den, der eine Rede wirkungsvoll, aber auch mit Blick auf die Verantwortung gegenüber dem Publikum und dessen Reaktionen gestalten will, stellt sich darüber hinaus die Frage nach dem Verhältnis von ethischer Idealnorm und Praxisnorm in seinem Handeln. Diese Unterscheidung stammt von Dieter Birnbacher und geht von der Aufgabe aus, ideale Forderungen so mit den Beschränkungen der Lebenswirklichkeit zu vermitteln, dass konkrete Verhaltensnormen formulierbar werden, die den Wertgehalt der idealen Normen wahren, in ihrem Inhalt sich jedoch den Realitätsbedingungen anpassen.558 Man kann das Verhältnis von Ideal- und Praxisnormen unter zwei Gesichtspunkten bestimmen. Zum einen lassen sich Praxis- aus Idealnormen durch interpretative Differenzierung ableiten. Es wird gefragt, was das Idealprinzip für die jeweiligen Kontexte und Situationen bedeutet, damit  Die Reden von Brutus und Antonius in »Julius Caesar« | 155

sie operationalisiert werden können. Bei der Gerechtigkeit etwa geht es unter dem Belohnungsaspekt um Leistungsgerechtigkeit, bei Sozialleistungen um Bedarfsgerechtigkeit. Zum anderen lassen sich Praxis- und Idealnormen nach der Orientierung an den Handlungsfolgen ableiten. Danach ist die Praxisnorm optimal, die die Idealnorm am besten erfüllt. Praxis- und Idealnorm stehen hier in einer instrumentellen Beziehung. Der interpretative Ansatz passt am besten zu deontologischen Normen, die Handlungspflichten formulieren, der instrumentelle Ansatz zu konsequentialistischen Normen, die die Verwirklichung von bestimmten Zielen fordern. Allgemein gesehen sollen Praxisnormen auch leicht eingängig und für den Alltagsgebrauch praktikabel formuliert sein.559 Die Ideal- und Praxisnormen sollen nun anhand der BrutusRede interpretativ noch weiter differenziert werden, und zwar ausgehend von der Frage, wie eine ›verbesserte‹, das heißt persuasiv effizientere und doch weiterhin ethisch akzeptable Version dieser Rede aussehen könnte. Bleiben sollten die klare Standpunktbestimmung des Akteurs mit dem Bekenntnis zur Tat, seine offene Argumentation mit der Begründung des Mords und der Darlegung seiner Motive sowie die Respektierung der Zuhörer in Sprache und Stil. Ändern müsste sich aber die Anpassung der Rede an die emotionale Situation des Publikums bei der Leichenfeier. Brutus hat zwar die Trauer über den Tod seines Freundes erwähnt, aber seiner gerechtfertigten Empörung über die Selbstherrlichkeit des Diktators, die er schon lange gespürt haben muss, gar nicht Ausdruck verliehen. Dieser hatte ja kurz vor seiner Ermordung das Gesuch des Metellus abgelehnt, die Verbannung des Bruders aufzuheben, und diese Ablehnung wurde dann der Auslöser des Mords an Cäsar, wie Shakespeare zu Anfang der Tötungsszene zeigt560. Die daraus resultierende Quelle von Gefühlswirkungen hat Brutus nicht ausgenutzt; dabei hätte sie viel emotionales Potential für den Verteidigungsaspekt seiner Rede bereitgestellt. Hier gäbe es außerdem eine gute Möglichkeit zum Einsatz amplifizierender Stilmittel, die den eher spröden Duktus der Ansprache auflockern und mehr Parteinahme für die Sache der Verschwörer hätte mobilisieren können. Wie sieht nun das Verhältnis von Ideal- und Praxisnormen in dieser ›verbesserten‹ Brutus-Rede aus? Ausgangspunkt ist die moralische Grund- oder Idealnorm der Rhetorik, wonach die Zuhö156 | Rhetorisch-ethische Interpretation eines ­B eispiels  

rer nicht bloß instrumentalisiert, sondern auch in ihrer Würde respektiert, also nicht nur als fremdbestimmte Zwecke, sondern auch als Zwecke an sich behandelt werden sollen. Die daraus abgeleiteten rhetorisch-ethischen Praxisnormen erscheinen als gemischte, zweistellige Postulate. Zuerst sollte das Postulat der Angemessenheit der Rede beachtet werden, und zwar zum einen situativ, insofern man publikumswirksam mit dem persuasiven Potential der jeweiligen Redegattung umgeht, zum andern ethisch, indem die Zuhörer als urteilsfähige Subjekte anerkannt werden. Dabei müssten Überredung und Überzeugung so verbunden werden, dass dieses persuasive Potential möglichst ausgeschöpft wird, der Respekt gegenüber den Zuhörern gerade durch Appell an deren Einsicht jedoch gewahrt bleibt. Dann sollte der Redner sich in der Rede so darstellen (éthos), dass er nicht nur für sein Reden, sondern auch für sein Tun – die Handlungsfolgen – einstehen kann. Weiter sollten vom Redner in offener Argumentation Gründe und Motive seiner Handlung genannt werden (lógos). Schließlich sollte die Mobilisierung der Publikumsgefühle (páthos) an die sachliche Argumentation gebunden bleiben und diese nicht marginalisieren oder verdrängen. Die drei letztgenannten Praxisnormen orientieren sich an der Trias der aristotelischen Beweismittel in der Rede.561 Nach dem Gesamt der Praxisnormen sollten sich auch die in der Rede verwendeten persuasiven Stilmittel richten.

 Die Reden von Brutus und Antonius in »Julius Caesar« | 157

VII . Fazit und medienethischer Ausblick Wenn Rhetorik die Theorie der Wirkung einer Äußerung ist, dann ist rhetorische Ethik die Theorie des moralischen Umgangs mit dieser Wirkung. Das ist, wie einleitend gesagt, die diesem Buch zugrundeliegende These; sie soll im Rückblick noch einmal kurz zusammengefasst und erläutert werden. Der Grund für den Entwurf einer rhetorischen Ethik liegt im latenten Gewaltcharakter rhetorischer Einwirkung. Die rhetorische Tradition hat diese Einwirkung als eine Dialektik zwischen Gewaltvermeidung und Gewalterzeugung verstanden, und zwar vermittelt durch die sprachliche Kultivierung des Menschen in der Urzeit. Danach verhalf die Entdeckung, dass der persuasive Sprachgebrauch gegenseitige Verständigung herbeiführen kann, den Menschen zwar zu der Möglichkeit, den Austrag von Konflikten durch körperliche Gewalt zu vermeiden, bot ihnen aber andererseits auch die Chance, sich mithilfe einer neuen Form von Gewalt, die diesmal von der Rede ausging, durchzusetzen. Sprachliche Kultivierung erlaubte also einerseits die Vermeidung physischer Gewalt, schuf andererseits aber auch neue, psychische Formen von Gewalt. Damit war zwar eine elementare Stufe der Zivilisierung im menschlichen Zusammenleben erreicht, aber es fehlten ethische Überlegungen zur Zähmung auch der Redegewalt. Da nicht nur Spracherwerb und Sprachgebrauch, sondern verbunden damit auch die Entstehung von Rationalität und Vernunft Resultate der Kulturentwicklung waren, formulierte schon die antike Rhetorik ethische Normen, die das Gewaltpotential der Rhetorik beschränken und den Redner zu einem moralisch verantwortlichen Gebrauch der Redekunst veranlassen sollten. Unter dem Einfluss der Philosophie entwarf sie daher das Leitbild vom tugendhaften »Ehrenmann, der reden kann« (vir bonus dicendi peritus). Die Ambivalenz persuasiver Wirkung zwischen Gewaltvermeidung und Gewalterzeugung ist auch heute noch das ethische Kernproblem der Rhetorik. Allerdings entspricht das antike virbonus-Ideal nicht mehr den Anforderungen der Gegenwart, son  159

dern diese braucht ein neues Ethikmodell. Ausgangspunkt dafür muss ein Konzept rhetorisch-ethischen Handelns sein, das wiederum an der menschlichen Kultivierung ansetzt. Da die Rhetorik nicht nur Teil der Kultur ist, sondern auch Kultur erzeugt, ist sie selbst ein Mittel kulturellen Handelns, eine unter vielen »symbolischen Formen«, die nach Ernst Cassirer die Kultur hervorbringen und repräsentieren. Das Handeln des Redners mit der symbolischen Form »Rhetorik« lässt sich unter zwei Aspekten betrachten: zum einen als hervorbringende  – poietische  – Tätigkeit, die verschiedenste Äußerungsformen zur Beeinflussung eines Publikums produziert; zum anderen als praktische Tätigkeit, die sich in einer bestimmten Weise vollzieht und sich so in die Handlungen anderer Menschen eingliedert. Der zweite Aspekt betrifft die Ethik, denn hier geht es nicht mehr nur um das »Was«, sondern auch um das »Wie« des Gebrauchs der Rhetorik. Zum hervorbringenden Handeln gehört der Einsatz von ethikaffinen und kulturspezifischen Darstellungsformen in der Rede; hier wurden Beispielgebung und Gestaltung des Redegegenstandes genauer untersucht. Praktisches rhetorisches Handeln wird durch die unterschiedlichen ethischen Perspektiven von Redner und Hörer bestimmt, denn der Redner trifft seine ethischen Entscheidungen schon beim Entwurf der Rede, also vor der Präsentation, während die Hörer ihre ethischen Einschätzungen erst vornehmen, nachdem sie gehalten wurde. Das hier vorgelegte systematische Modell einer rhetorischen Ethik will dem Redner eine Orientierung beim Entwurf seiner Rede bieten, die er genauso wie die Anweisungen der rednerischen Arbeitsschritte bei der Planung seiner Rede berücksichtigen sollte. Ansatz für rednerisches Handeln ist zunächst einmal das Bestreben, mithilfe der Rede ein bestimmtes Handlungsziel zu verwirklichen als Beitrag zur Sicherung der Grundlagen des eigenen ›guten Lebens‹ bzw. des ›guten Lebens‹ seiner Klientel. Doch zur Realisierung dieses Lebens gehört nicht nur der Nutzen, den er von der Rede hat, sondern auch eine Antwort auf die Frage, ob seine rhetorische Handlung moralisch in sich stimmig ist, also beispielsweise keine unlauteren Mittel der Persuasion verwendet, und ob ihre Folgen auch mit Blick auf die Wohlfahrt anderer Menschen zu rechtfertigen sind. Streben, Nutzen und moralisches Sollen im Handeln 160 | Fazit und medienethischer Ausblick 

des Redners oder teleologischer, utilitaristischer und deontologischer Aspekt seiner Tätigkeit lassen sich damit zu einem integrativen Ethikmodell verbinden; sie können so zur Grundlage einer Bewertung seines Handelns werden. Gerade durch die Kombination der Bewertungszugänge kommt es den Bedürfnissen einer Bereichsethik entgegen, die sich möglichst konkret auf die einzelnen rhetorischen Handlungsfelder beziehen möchte. Im Rahmen dieses Ethikmodells lassen sich auch die anzustrebenden Güter und die zu beachtenden moralischen Normen formulieren. Zu den Gütern gehört alles, was der Redner durch die Aneignung rhetorischer Bildung – dem wichtigsten individuellen Merkmal der Kultivierung – erwirbt, wie vor allem die professionelle Kompetenz im persuasiven Reden. Zu den moralischen Normen gehört die Forderung, Reden und Handeln glaubwürdig zu verbinden, gehört das Wahrheitsgebot bzw. das Lügenverbot, die Mäßigung der Erregung von Gefühlen bei den Zuhörern und die Aufgabe, die Angemessenheit der Rede mit der moralischen Anerkennung des Publikums zur Deckung zu bringen. Als Grundnorm rhetorischen Handelns sollte gelten, dass nach Maßgabe des kategorischen Imperativs Kants die Zuhörer nie nur für die Bedürfnisse des Redners instrumentalisiert, sondern immer auch als Zwecke an sich respektiert werden. Entsprechend sollte man den Einsatz von persuasiven Mitteln der Rede so gestalten, dass ihr Überzeugungspotential nicht geschwächt wird. Wichtig in einer rhetorischen Ethik sind auch die Tugenden, die der Redner erwerben sollte, denn sie vermitteln als Haltungen zwischen der Gestalt des erstrebten ›guten Lebens‹ und den moralischen Normen, die es dabei auch zu befolgen gilt. Die Klugheit sollte die Haupttugend des Redners sein, weil sie die Urteilskraft für die Aufgabe enthält, die nötigen persuasiven Redemittel beim Verfolgen der eigenen Ziele einzusetzen und doch die ethische Ausrichtung des Handelns nicht zu vergessen. Neben der Klugheit ist vor allem die Verantwortungsbereitschaft des Redners gegenüber seinem Publikum als die zentrale rhetorische Tugend anzusehen. Auch die Wahrung der eigenen Ehre ist heute noch eine wichtige Rednertugend; sie hat allerdings keineswegs mehr den Stellenwert wie im antiken und humanistischen vir-bonus-Ideal, als die Standesehre (honestum) der Angelpunkt für die Moralvorstellungen  Fazit und medienethischer Ausblick | 161

war. Heute geht es eher um die Selbstachtung des Redners und den Respekt vor der Zuschauerwürde als ethische Leitnormen für das rhetorische Handeln. Die Beispielinterpretation der Reden von Brutus und Antonius aus Shakespeares »Julius Caesar«, die am Ende dieser Untersuchung steht, will demonstrieren, wie man das hier vorgeschlagene integrative Ethikmodell zur Bewertung von Reden einsetzen und welche Hinweise der Redner beim Entwurf seiner Rede daraus beziehen kann. – Medientheoretisch gesehen sind die Reden von Brutus und Antonius Teil einer face-to-face-Kommunikation, in der der Redner unmittelbaren Kontakt zu seinem Publikum hat und direkt zu ihm spricht. Doch in der heutigen Gesellschaft ist neben dieser direkten Form vor allem der durch Medien vermittelte Publikumskontakt verbreitet, so dass der Redner vielfach nur noch indirekt zu seinen Zuhörern spricht. Im Folgenden sollen jetzt stichwortartig einige Überlegungen zur Frage angestellt werden, welche Rolle die rhetorische Ethik in der Medienkommunikation spielen kann, und zwar demonstriert am Beispiel personenbezogener Berichterstattung in Presse und Fernsehen.562 Allgemein gesehen werden in der medialen Kommunikation Botschaften durch Texte mithilfe von Bedeutungsträgern (Ulrich, Knape: Medien als »Tragflächen« von Texten) übermittelt.563 Diese Art der Kommunikation vollzieht sich ja stets über eine gewisse Dis­tanz hinweg, die das Medium überbrücken will, weshalb der Kommunikator nicht nur seinen Text, sondern auch die Gestaltungsangebote des ›Trägers‹ seiner Botschaft nutzen muss, und zwar spezifisch und verschieden je nach Art des Mediums, das er einsetzt. Die Gestaltungsformen des Mediums sind neben der Gestaltung des Textes der zentrale Aspekt rhetorischer Medienkommunikation, und zwar insofern, als der Kommunikator mit Text- und Medienformung eine bestimmte Wirkung erzielen will. Entsprechend muss dann der verantwortungsvolle Umgang mit dieser Wirkung das zentrale Thema einer rhetorischen Medienethik 564 sein. Die medialen Gestaltungsformen als Mittel der Einwirkung sind unter ethischen Aspekten natürlich nicht nur ihrer immanenten Struktur nach zu untersuchen, sondern immer auch mit Blick auf die Intentionen bzw. Praktiken des Kommunikators zu analysieren und mit Blick auf die rezeptiven Aktivitäten der Adressaten, die nicht ein162 | Fazit und medienethischer Ausblick 

fach reflexartig, sondern in einem komplexen Aneignungsprozess die kommunizierten Botschaften aufnehmen. Ethisch gesehen muss man rhetorische Einwirkung im Presseund Fernsehbereich ebenfalls als Instrumentalisierung der Adressaten durch die Medienakteure verstehen, wobei das zunächst einmal durchaus positiv zu beurteilen ist. Denn diese Einflussnahme realisiert – im Sinne der Ermöglichung des ›guten Lebens‹ in einer Gesellschaft – die Funktionen der Medien in der Demokratie, sei es durch die interessengesteuerte Propagierung von politischen Inhalten als Teil der öffentlichen Meinungsbildung, sei es als Element von Werbung zur ökonomischen Sicherung ihrer Existenz, ohne die es keinen Spielraum zur Behauptung der Unabhängigkeit auch von staatsfreien Medien gäbe. Aber diese Einwirkung hat ihre moralischen Grenzen, und die werden von der rhetorischen Grundnorm bestimmt, nach der die Adressaten einer Äußerung nie nur fremden Zwecken unterworfen, sondern immer auch als Zwecke an sich respektiert werden sollten. Im Journalismus betreffen diese Grenzen vor allem die Behandlung von Nachrichtentexten zur politischen Information, in der Wirtschafts- und Wissenschaftsberichterstattung sowie in den regionalen und lokalen Medien.565 Leitnorm ist hier die Objektivität der journalistischen Berichterstattung, »verstanden als Norm, Ereignisse  – und allgemein Wirklichkeit  – objektgemäß, also so adäquat wie möglich darzustellen« (Bentele).566 Die Objektivitätsforderung kann nur für darstellende oder deskriptive Textgattungen wie Nachricht, Meldung, Bericht, Dokumentation, Statement oder Reportage gelten, nicht dagegen für den Kommentar und für juristische Eigenwertungen, da es hier um die Kundgabe eines subjektiven Standpunktes geht. Wichtige Regeln für journalistische Objektivität umfassen das Wahrheits- und das Vollständigkeitspostulat, das Postulat der Trennung von Nachricht und Kommentar sowie das Postulat der Präsentation von Nachrichten ohne Emotionalisierung.567 Allerdings ergeben sich besondere Einwirkungschancen bei der Berichterstattung, die über die bloße Präsentation etwa von brisanten Nachrichten hinausgehen, vor allem durch die kalkulierte Verwischung der Grenzen zwischen Information und Kommentar sowie zwischen Information und Unterhaltung, wie sie beispielsweise in der Personalisierung von Nachrich Fazit und medienethischer Ausblick | 163

ten vorliegen. Diese journalistische Darstellungsmethode, die vom Nachrichtenmagazin entwickelt568 und wegen ihres publizistischen Erfolgs bald von anderen Presseorganen übernommen wurde, bindet die Informationsvermittlung an die Präsentation von Personen, und zwar durch erzählerische Aufbereitung von Nachrichten in Storyform. Die Konzentration der Berichterstattung auf Personen bedient sich der alten rhetorischen Technik des Beispielgebens, das einen abstrakten Gedanken oder komplizierten Vorgang konkretisiert und illustriert. Doch der Vorteil der Veranschaulichung wird bei der Personalisierung vielfach durch den Nachteil der Verkürzung erkauft, denn die Darstellung bindet die komplexen Elemente des Nachrichtengeschehens an das individuelle Verhalten der Protagonisten. Dadurch werden die Geschehnisse zwar kurzweilig präsentiert, in ihrer über die Personen hinausgehenden Bedeutung aber entstellt, wobei Bewertungen etwa durch ironische Stilmittel und verdeckte Kritik zum Unterhaltungswert beitragen. Die politische Tendenz der Medienmacher, die die Berichterstattung grundiert, wird so eher unterschwellig lanciert als in direkter Stellungnahme geäußert. Rhetorisch-ethisch gesehen liegen hier dissimulierende Methoden der Verheimlichung von Standpunkten vor, wobei die Unterhaltung mit Spaß und Zerstreuung Gefühlslagen an die Stelle von Argumenten setzt. Nachricht und Kommentar wären etwa durch eine klarere Kennzeichnung der Meinungsbestandteile zu trennen, und es wäre ein sensiblerer Umgang mit den erzählerischen Funktionen des storytelling zu fordern, damit beim dramatisierenden Faktenarrangement nicht der täuschende Eindruck von Kausalbeziehungen hervorgerufen wird, wo keine sind. Die Personalisierung von Geschehnissen ist übrigens auch eine beliebte Darstellungstechnik im Wissenschaftsjournalismus. Hier werden Informationen vor allem an das Handeln einzelner herausragender Forscherpersönlichkeiten geknüpft, was es erlaubt, die Prozesse wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung als »Abenteuer der Forschung« auszugeben und daraus entsprechende Spannungselemente für die Berichterstattung zu gewinnen. Doch dieses Vorgehen simplifiziert die Resultate der Forschungsarbeit und die Langwierigkeit der Forschungsvorgänge, die Geduld, Teamarbeit und umsichtige institutionelle Planung erfordern.569 164 | Fazit und medienethischer Ausblick 

Eine auf Personen konzentrierte Berichterstattung gibt es aber nicht nur in der Presse, sondern auch im Fernsehen. Dabei wirkt dieses Medium außer durch die Personalisierung von Nachrichten vor allem durch die suggestive Präsentation von Personen. So natürlich und authentisch sie auch erscheinen mögen, so sehr ist doch ihr Bild künstlich produziert, vom Outfit über Sprache und Gestik bis hin zum Ambiente, wobei besondere Kameraeinstellungen noch das Ihre dazu beitragen. Grund dafür ist die »Simulation von Präsenzkommunikation unter distanzkommunikativen […] Bedingungen«, wie Ulrich und Knape erklären570, denn die räumliche Entfernung zwischen der präsentierten Person und dem Fernsehzuschauer verschwindet zugunsten einer fingierten Nähe auf dem Bildschirm. Der Zuschauer baut dadurch eine pseudo-intimisierte Beziehung zu seinem Gegenüber auf und zu dem Medium, das ihm dieses präsentiert. Die Beziehung entwickelt ihre persuasive Macht vor allem dann, wenn die im Fernsehen auftretenden Personen in irgendeiner Form als Sprachrohre für im Hintergrund agierende Interessengruppen aus Politik oder Wirtschaft dienen und so ihre Botschaften dem Zuschauer vermitteln.571 Rhetorisch gesehen fungiert das präsentierte Image dieser Stellvertreter-Personen als éthos-Element in der Fernsehbotschaft, das sie nicht nur als Individuen glaubwürdig machen, sondern ihren Authentizitätsbonus auch noch auf die hinter ihnen stehenden Gruppen übertragen soll. Doch ethisch gesehen ist auch hier die Objektivitätsnorm tangiert, denn es stellt sich die Frage nach der Berechtigung dieser Glaubwürdigkeit. Wie der Zuhörer beim Redner nicht weiß, ob der im praktischen Handeln für das einsteht, was er sagt, weiß der Zuschauer nicht, ob das präsentierte Personen-Image auch wirklich realitätsgerecht ist und eine Kongruenz zwischen dessen Aussagen und der Wirklichkeit besteht. Gerade an der personenbezogenen Berichterstattung von Fernsehen und Presse lassen sich also exemplarisch die Aufgaben einer rhetorischen Medienethik zeigen. Auch hier geht es nicht nur um die effiziente Vermittlung von Informationen, sondern bei aller Wirkungsabsicht auch um die Wahrung ethischer Standards, die zur menschlichen Kultivierung und Zivilisierung beitragen ­sollten.572

 Fazit und medienethischer Ausblick | 165

Abkürzungen und Notationen Eckige Klammern […] in einem Zitat markieren immer eine Auslassung oder eine Einfügung von mir (F.-H. Rg.). Arist NE  |  Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. und hg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 72018. Arist Rhet  |  Aristoteles, Rhetorik, hg. von Christof Rapp. 1. Halbband: Übersetzung, 2. Halbband: Kommentar, Darmstadt 2002. Cic. De inv.  |  Cicero, Marcus Tullius: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern. Lat.-dt., übers. und hg. von Theodor Nüßlein, Düsseldorf/ Zürich 1998. Cic. De off.  |  Marcus Tullius Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lat.-dt. übers. und hg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 31987. Cic. De or.  |  Marcus Tullius Cicero: De oratore. Über den Redner. Lat.dt. übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 1976. HWPh  |  Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 – 13, Basel 1971 – 2007. HWRh  |  Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1 – 9: Tübingen 1992 – 2009; Bd. 10 – 11: Berlin/Boston 2012 – 2014. Kant GMS  |  Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Werke Bd . 6 hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1974. Kant KU  |  Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Werke Bd. 8 hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968. Quintilian  |  M. Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners, zwölf Bücher, hg. und übers. von Helmut Rahn, 2 Bände, Darmstadt 1972, 1974. Robling, Redner  |  Franz-Hubert Robling: Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals, Hamburg 2007.

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 Literaturverzeichnis | 181

Anmerkungen Vorwort/Einleitung

  F.-H. Robling: Redner und Rhetorik. Studie zu Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals, Hamburg 2007. 2  H. Krämer: Integrative Ethik, Frankfurt/M. 1995, 95. 3  In Kapitel III. 1: »Kritik der Forschung« der vorliegenden Untersuchung wird das Unzureichende der bisherigen Ansätze dargestellt. 4  Dockhorns rhetorische Anthropologie ist ein interessantes Beispiel für die Verdrängung der Ethik aus der modernen Rhetorikforschung. Er untersucht die rhetorischen Affekte von éthos und páthos sowie die antike vis oratoris nur als anthropologische Phänomene und rückt sie in die Vorgeschichte der modernen Ästhetik, ohne aber die ethischen Überlegungen seines Gewährsmannes Cicero zum Umgang mit den Affekten aus dessen Werk »De officiis« aufzunehmen. Siehe K. Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik, Bad Homburg v. d. H., Berlin/Zürich 1968, 49/50, 60 – 68. 5  Vgl. O. Kramer: Rhetorikforschung, in: HWRh Bd. 8, Sp. 148. 6  Arist. Rhet. 1355 a 29 – 3 4. 7  »Redner« ist hier als genderneutrales, idealtypisches Konzept gedacht und begreift daher die »Rednerin« mit ein. Historisch gibt es freilich wichtige Unterschiede in den Konzepten und im Erscheinungsbild von Redner und Rednerin. Siehe dazu Robling: Redner 141 – 146. 8  Zu den in der rhetorischen Tradition entwickelten Rednerkonzepten siehe Robling: Redner Teil B. 9  Krämer 215. Zu Ethik und reflektierender Subjektivität siehe auch W. Schulz: Grundprobleme der Ethik, Stuttgart 21993, 45 – 48. 10  Man kann deshalb die hier vorgelegte rhetorische Ethik auch als eine Form von Kulturethik ansehen. Siehe dazu R. Ammicht-Quinn: Kulturethik. In: M. Düwell, Chr. Hübenthal, M. H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 32011, 264 – 269. 11  So hat etwa jede Berücksichtigung des rhetorischen Angemessenheitspostulats in der Rede eine bestimmte kulturelle Form, in der es sich ausdrückt. Zur Angemessenheit vgl. Kap. IV 2, e. Ähnliches gilt für den rhetorischen Umgang mit Wahrheit und Lüge, dazu Kap. IV 2, d. 12  Vgl. F.-H. Robling: Philosophie [und Rhetorik], in: HWRh B. 6, Sp. 968/969. 13  Vgl. M. Rasche: Sprache und Methode. Freiburg/München 2018, dazu meine Rezension in: Philosophische Rundschau Bd. 65, H. 4, 2018, 332 – 335. 14  Ein prominentes Beispiel aus der Antike ist etwa Quintilian. 1

  183

  »Bereichsethik« ist der Terminus, den J. Nida-Rümelin gebraucht in: ders. (Hg.): Angewandte Ethik, Stuttgart 22005. 16  Siehe dazu allgemein N. Knoepffler: Angewandte Ethik, Köln/Weimar/ Wien 2010. 17  Siehe R. Stoecker, Chr. Neuhäuser, M.-L. Raters: Einleitung, in: dies. (Hg.): Handbuch Angewandte Ethik, Stuttgart/Weimar 2011, 4. 15

I. Rhetorik, Ethik und die Beherrschung sprachlicher Gewalt

S. 19

  Rhetorische Persuasion, d. h. Überredung oder Überzeugung, zielt auf Meinungswechsel und soziale Bindung beim Adressaten. Vgl. J. Knape: Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, 34. Neben dem Meinungswechsel kann es natürlich durch eine rhetorisch geprägte Botschaft auch eine Meinungsbestärkung geben. 19  Die »Organisation von Redefeldern«, die sich auf ein Thema konzentrieren, ist nach Waldenfels eine »elementare Ordnungsleistung«. Sie »bedeutet Selektion und Exklusion in eins und erlegt dem Dialog die Grenzen eines mehr oder weniger fest umschriebenen Betätigungsfeldes auf«, das z. B. »nach Gesichtspunkten der Relevanz, die mit bestimmten Interessen korrespondieren«, strukturiert ist. B. Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M. 1990, 48. 20  J. Habermas: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. In: K.-O. Apel u. a.: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt /M. 1975, 123. 21  J. Kopperschmidt: Zwischen »Zauber des Wortes« und »Wort als Waffe«. Versuch, über die »Macht des Wortes« zu reden. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, H. 57, 1998, 15, 24. Hervorhebung vom Autor. 22  Gewalt lässt sich mit Aristoteles als Zwang verstehen. »Erzwungen ist ein Verhalten«, schreibt er in der »Nikomachischen Ethik«, »dessen Bewegursache außerhalb liegt, das heißt so beschaffen ist, dass der Handelnde oder Erleidende gar nichts beiträgt, etwa wenn jemanden der Wind irgendwohin trägt, oder Menschen, die einen in der Gewalt haben.« Siehe NE 1110 a 2–4. Davon zu unterscheiden ist »Macht«, deren Gewalt- bzw. Zwangspotential auf einer sozialen und institutionell gesicherten, durch gesellschaftliche Übereinstimmung erreichten Ordnungsstruktur des menschlichen Zusammenlebens beruht. Macht ist eine asymmetrische Beziehung, in der der eine von einem anderen abhängt und die zur Gewaltausübung einladen kann. Vgl. A. Fischer: Manipulation, Frankfurt/M. 2017, 179/180. 23  Kopperschmidt 25/26. 24  Ebd. 15. 25  J. Knape: Gewalt, Sprache und Rhetorik. In: J. Dietrich, U. Müller-Koch (Hg.): Ethik und Ästhetik der Gewalt. Paderborn 2006, 61. 26  Knape 75, 61 27  Ebd. 76. 18

184 | Anmerkungen 

  Ebd. 77/78.   Ebd. 77. 30  Ebd. 77/78. 31  Vgl. H. P. Grice: Logik und Konversation, in: G. Meggle (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung, Frankfurt/1993, 248 – 250. 32  Siehe dazu unten Kap. IV, 2 f. 33  Th. Zinsmaier: Zwangloser Zwang? Zum Problem des Verhältnisses von Rhetorik und Gewalt. In: G. Ueding, G. Kalivoda (Hg.): Wege moderner Rhetorikforschung, Berlin/Boston 2014, 587. 34  Ebd. 589. 35  Ebd. 590/591. 36  Ebd. 592, Hervorhebung vom Autor. 37  Ebd. 587. 38  Meinungsführerschaft und nicht nur Verständigung kann man übrigens auch mit dem Gebrauch der Dialektik anstreben, wie etwa das achte Buch der »Topik« des Aristoteles zeigt, wo es um Frage und Antwort in der Disputation geht. Auch die Dialektik hat also eine rhetorische Komponente. 39  S. Krämer: ›Humane Dimensionen‹ sprachlicher Gewalt oder: Warum symbolische und körperliche Gewalt wohl zu unterscheiden sind. In: dies., E. Koch (Hg.): Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens, München 2010, 23, 24. 40  Ebd. 24 – 28. 41  Ebd. 28/29. 42  Krämer 35 – 4 0. 43  So lautet ja der Untertitel des von ihr herausgegebenen Buchs; vgl. zur Rede ebd. 31. 44  Die Griechen hatten noch keinen einheitlichen Ausdruck für alle Aspekte der Kultur, sondern sprachen von Bildung oder von den Künsten bzw. Techniken wie Politik, Ökonomie, Strategik oder Rhetorik, wenn sie »Kultur« meinten. Erst die Römer prägten mit cultura einen umfassenden Kulturbegriff. Siehe dazu F.-H. Robling: Rhetorische Begriffsgeschichte und Kulturforschung beim »Historischen Wörterbuch der Rhetorik«. In: G. Scholtz (Hg.): Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000, 46 – 49 sowie R. Müller: Die Entdeckung der Kultur, Düsseldorf/Zürich 2003. Die Auffassung, dass auch die Rede als Kulturgut verstanden wurde, bezeugt das Diktum Senecas, der die Rede als Schmuck der Seele (oratio cultus animi) bezeichnete. Siehe die Briefe an Lucilius 115, 2. 45  Isokrates: Rede des Nikokles oder Rede an die Zyprioten 6, übers. von Chr. Ley-Hutton, in: Isokrates: Sämtliche Werke Bd. 1: Reden I-VIII, Stuttgart 1993. Die folgenden Überlegungen basieren auf Robling: Redner 78 – 80. 46  Vgl. dazu Chr. Eucken: Isokrates, Berlin/ New York 1983, 165 – 167. 47  Im griechischen Originaltext spricht Isokrates vom lógos synkataskeuásas, wörtlich der »einrichtenden Rede«. (III,6). Grundsätzlich kann beim lógos 28 29

 Anmerkungen | 185

der Rede ein spekulativ-theoretischer und ein überlegend-praktischer Aspekt unterschieden werden, wie es Aristoteles in seiner Analyse des vernünftigen Seelenteils in der »Nikomachischen Ethik« (1139 a 6 – 15) getan hat. Vgl. den Kommentar von G. Bien in: Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. von E. Rolfes und hg. von G. Bien, Hamburg 41985, 301/02. Für die Rhetorik kommt der überlegend-praktische Aspekt in Frage, der in der Klugheit des Redners präsent ist. Siehe Arist. NE VI, 5.8. 48  Demokrit: Fragment zur Kulturphilosophie. In: W. Capelle (Hg.): Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, Stuttgart 41953, 466/467. 49  A. Dihle: Fortschritt und goldene Urzeit. In: J. Assmann, T. Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, 150 – 169. 50  Cic. De inv. I,2. 51  Ebd. 52  W. Hegener: »Die Feststellung des ursprünglichen Zustands bleibt jedesmal eine Sache der Konstruktion« (Freud). Psychoanalytische Überlegungen zu religiösen Konzeptionen des Urmenschen. In: B. Kleeberg, T. Walter, F. Crivellari (Hg.): Urmensch und Wissenschaften, Darmstadt 2005, 259. 53  Chr. Schwameis: Die Praefatio von Ciceros »De inventione«, München 2014, 29/30. 54  Der Topos des weisen Redners (magnus vir et sapiens) als Kulturschöpfers scheint aus stoischem Gedankengut zu stammen. Cicero hat ihn in seiner Kulturentstehungslehre mit anderen aus dem Hellenismus kommenden Lehren zu einer eigenen Synthese verbunden. Siehe dazu R. Bees: Stoa, Stoizismus, in: HWRh Bd. 9, Sp. 133. 55  Cic. De off. I, 50. 56  Während Ciceros Darstellung der Kultivierung eine mythische Spekulation ist, deren Realitätsgehalt nur schwer auszumachen ist, enthält die nüchterne Beschreibung des Isokrates Merkmale, die von der modernen Soziobiologie und Entwicklungspsychologie bestätigt werden. Danach vermehrte sich vor ca. 10 000 Jahren mit der Entstehung der Landwirtschaft und der ersten Städte die Anzahl der Menschen signifikant. Dieses Wachstum brachte eine Reihe von neuartigen kooperativen Organisationsformen hervor, welche die menschliche Gesellschaft veränderten. Kulturelle Entwicklung erscheint danach nicht nur als ein Resultat biologischer Eigenschaften, die auch Tiere besitzen, sondern als ein Ergebnis sozialer und kooperativer Prozesse. (Vgl. dazu M. Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014.) Insbesondere die Etablierung und Anwendung rechtlicher Normen scheint von Anfang an mit dem gewaltvermeidenden und Frieden stiftenden Gebrauch von Sprache verbunden gewesen zu sein, wie die Regelung von Konflikten in den Sammler- und Jägergesellschaften zeigt. (Vgl. dazu U. Wesel: Geschichte des Rechts, München 42014, 21, 25 – 29.) 57  Isokrates: Antidosis 191. 58  Cic. De or. I, 32, übers. von H. Merklin, Stuttgart 1976; vgl. De inv. 1, 5. 186 | Anmerkungen 

  Vgl. Chr. Leidl: Urbanitas, in: HWRh Bd. 10, Sp. 1344 – 1348.   Habermas spricht bei der Skizzierung seines Konzepts der »idealen Sprechsituation« vom »eigentümlich zwanglose[n] Zwang des besseren Argumentes, der die methodische Überprüfung von Behauptungen sachverständig zum Zuge kommen lässt und die Entscheidung praktischer Fragen rational motivieren kann«. Vgl. ders.: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: J. Habermas, N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt/M. 1971, 137. 61  Im Falle der Zuhörer wird dafür allerdings ein Überzeugtsein vorausgesetzt, das eine bewusste Übernahme der rednerischen Meinung enthält. 62  Vgl. Cic. De inv. I, 2. 63  Damit wird Gewalt als Element des Handelns thematisch, das auf den ethisch relevanten Elementen Freiwilligkeit, Bewusstheit und Entscheidung beruht. Siehe dazu unten S. 54. 64  Die Übersetzung von Ley-Hutton »ein Leben führen« gibt den Text nicht wörtlich wieder, passt aber gut. Im griechischen Originaltext heißt es in III,6: ou mónon tou theriodós zen apellágemen, also: »wir haben nicht nur die tierische Lebensweise verlassen…« Vgl. Isocrates in three volumes, ed. G. Norlin, vol. 1, Cambridge, Mass./London 1980, 78. 65  R. Bultmann hat dieses Merkmal der griechischen Anthropologie herausgearbeitet. Vgl. ders.: Das Urchristentum, München 1992, 52/53. 66  Isokrates, Rede des Nikokles 7. 67  Cic. De inv. I, 1 und 4, dazu Schwameis 35. 68  De inv. I, 5. 69  Vgl. Thukydides VIII, 68. 70  Vgl. dazu Th. Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens, Hamburg 1986, 11,12. Die folgende Darstellung stützt sich weitgehend auf Buchheim. 71  Ebd. 4 – 8 . Aristoteles hat den élenchos direkt als Gewalt (bía en to lógo) bezeichnet. Vgl. Metaphysik 1009 a 15 – 22, 1011 a 13 – 28. 72  Ebd. 12 – 18. Buchheim übersetzt den Titel der Schrift des Protagoras mit »Reden, die auf die Bretter werfen«. (S. 16) Platons Bezeichnung stammt aus Sophistes 231 e 1f. 73  Vgl. Platon, Phaidros 461 A (Def.), dann Gorgias 456 B, D; übers. von K. Hildebrandt in: Platon: Gorgias oder über die Beredsamkeit, Stuttgart 21983. 74  Vgl. Buchheim 19 – 27, dazu Gorgias: Enkomion auf Helena, in: Th. Schirren, Th. Zinsmaier (Hg. u. Übers.): Die Sophisten, Stuttgart 2003, 79 -89. In Paragraph 12 der Helena-Rede heißt es: »Die Rede nämlich ist es, die die Seele überredet und sie zwingt, dem, was gesagt wird, zu gehorchen und dem, was geschieht, beizupflichten.« Bezeichnend für Gorgias ist, dass er hier und auch an anderen Stellen des Textes die Redewirkung als Naturgewalt fasst, nicht 59

60

 Anmerkungen | 187

aber als zivilisatorische Gewalt, die in einem ganz anderen, eben dem moralischen Kontext steht. 75  Dazu M. Fuhrmann: Das systematische Lehrbuch, Göttingen 1960. 76  Vor allem Thukydides hat in seinem Geschichtswerk detailliert beschrieben, wie die sophistisch geformte Redegewalt vieler Politiker die athenische Bürgerschaft zu falschen Entscheidungen verführte. 77  Th. Schirren: Elenchos, in: HWRh Bd. 2, Sp. 1013. 78  E. Cassirer: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt. In: ders,: Symbol, Technik, Sprache, Hamburg 21995, 138. 79  Platon: Gorgias, 504 B, C, übers. von K. Hildebrandt; vgl. 503 C – E . 80  Ebd. 508 C, vgl. 506 C – 507 C. Siehe dazu Robling: Redner 97. »Nichts bestimmt das Selbstverständnis der antiken Rhetorik so sehr wie die Überzeugung, mit der Rede einerseits ein Äquivalent der Gewalt und andererseits die humane Alternative dazu zu besitzen«, schreibt H. Niehues-Pröbsting. »Der Mensch wird erst da ganz Mensch, wo er seine Konflikte nicht mehr gewaltsam wie die Tiere, sondern durch Überredung erledigt; eben dazu befähigt ihn die Kunst der Rhetorik. Dem hält Platon entgegen, dass eine Rhetorik wie die sophistische, die sich nicht auf das Gute verpflichtet, stets in der Gefahr steht, in Gewalt zurückzuschlagen und damit sich selbst zu zerstören. Das ist das Thema des ›Gorgias‹, dessen Leitfaden die Nähe von Rhetorik und Gewalt ist. Die Selbstzerstörung der sophistischen Rhetorik kulminiert in der Rede des Kallikles […].« Siehe H. Niehues-Pröbsting: Rezension von N. Pedrique: Logos dynastes. Frankfurt/M. 2011. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch Bd. 30, 2014, 156. 81  Dazu F.-H. Robling: Prolegomena zu einer Theorie der rhetorischen Ethik. In: W. Kofler, K. Töchterle (Hg.): Pontes III. Die antike Rhetorik in der europäischen Geistesgeschichte, Innsbruck/Wien/Bozen 2005, 39 – 41. Zur Idee des Guten vgl. Platon: Staat 505 A – 506 D. 82  Auch Sokrates benutzte bei der Prüfung und Korrektur der vorgefassten Meinungen seiner Schüler neben der Dialektik die persuasive Macht der Rhetorik, wie die platonischen Dialoge zeigen. Rhetorische Mittel seines philosophischen élenchos waren z. B. die vereinfachende Polarisierung von gegensätzlichen Begriffen, die petitio principii oder die einseitige Interpretation gegnerischer Positionen. (Vgl. dazu M. Kienpointner: Rhetorica contra rhetoricam, in: HWRh Bd. 7, Sp. 1395 – 1397.) Das zeigt nur, dass die Philosophie nicht auf Rhetorik verzichten kann, selbst wenn sie die Rhetorik kritisiert. Aber zugleich zeigt das Beispiel des Sokrates, wie das Bemühen um das Verstehen der gemeinsamen Sache immer wieder die nur auf Wirkung setzende Macht der Rhetorik durchbricht, um zu wahrem Wissen zu gelangen. Siehe dazu H.-G. Gadamer: Platos dialektische Ethik. In: ders.: Gesammelte Werke Bd. 5, Tübingen 1985, § 3: Die mitweltlichen Motive der Sachlichkeit (Logik und Dialektik), 27 – 33, und § 4: Verfallsformen des Sprechens, 33 – 38, § 5: Der sokratische Dialog, 38 – 48. 188 | Anmerkungen 

  Vgl. Arist. Rhet. 1355 a 21.   Vgl. dazu genauer unten Kap. V, 4. 85  Quintilian I praef. 9. Hier soll nicht weiter auf die Frage eingegangen werden, ob Quintilians Identifizierung von vollkommenem Redner und Ehrenmann – sogar in dem Sinne, »dass nur ein Ehrenmann überhaupt ein Redner werden kann« (XII,1, 3) – heute noch plausibel ist, was nach allen historischen Erfahrungen wohl verneint werden muss. Gründe für diese Auffassung liegen in Quintilians intellektualistischer, auf Sokrates und Platon zurückgehender Vorstellung, nach der unmoralisches Handeln nur aus fehlender Einsicht in die Schädlichkeit des eigenen Tuns entstehen kann. Vgl. XII, 1, 4. 86  Ebd. XII, praef. 4. 87  II, 15, 2. 88  XII, 2, 1. 89  Dazu Cicero: Orator 69. 90  Vgl. dazu A. E. Walzer: Quintilian’s vir bonus and the Stoic Wise Man. In: Rhetoric Society Quarterly 33, 24 – 41, insbes. 31, 35, 36, 38. 91  Quintilian XII, 5, 1. 92  Ebd. 93  II, 13, 3 – 4 . 94  III, 8, 1 – 3. 30 – 32. Genaueres dazu unten in Kap. V, 4 zum vir-bonusIdeal. 95  III, 8, 1 – 3, 30 – 32, 38 – 47. 96  Vgl. Arist. Rhet. 1362 a 17 – 22. 97  Vgl. Quintilian XII, 1, 33; IV, 1, 44; IV, 2, 88/89; IV, 1, 42 – 4 5; XII, 1, 33/34; VI, 4, 14.17. In XII, 1, 11 – 13 bemerkt Quintilian sogar, die Verstellung wirke bei einem guten Menschen besser als bei einem schlechten, weil man jenem eher glaube. 98  Ebd. II, 17, 28. 99  XII, 1, 39/40. 100  II, 17, 26/27. 101  XII, 1, 43. 102  VI, 2, 5/6. 103  Ebd. II, 17, 27. Vgl. dazu auch F.-H.Robling: Utilitarianism and Morality of the Orator in Quintilian. In: L. Calboli Montefusco (Ed.): Papers on Rhetoric VII, Roma 2006, 227 – 234. 104  II, 17, 39. 105  II, 17, 32. 106  XII, 1, 36. 41/42. 107  XII, 2, 6/7. 108  XII, 2, 5 – 6 . 29. 109  Vgl. dazu U. Neumann: Invektive, in: HWRh Bd. 4, Sp. 549 – 561. 110  Siehe dazu die Überlegungen zur medialen Gewalt in Kap. VII: Fazit und medienethischer Ausblick ab S. 163. 83

84

 Anmerkungen | 189

  Die Redegewalt als Wirkungsmacht hat also nach Auffassung der Rhetorik einen positiven Einfluss auf die Kultur. Die negativen Folgen dieser Gewalt sind damit keineswegs kulturkonstitutiv für die menschliche Gesellschaft, wie es manche Kulturtheorien – etwa die von René Girard – annehmen. 112  Ein normativer Kulturbegriff dieser Art, wie er für die Rhetorik charakteristisch und Voraussetzung einer rhetorischen Ethik ist, geht davon aus, dass die Kultivierung des Menschen sein von der Natur gegebenes Wesen verändert, und zwar im Sinne einer Verbesserung der Möglichkeiten, ein humanes Leben zu führen. Dieser Begriff dominierte Erziehung und Bildung von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, als Herder ihn historisierte, Kultur als geschichtlich gewordene, individuelle Lebensweise von Völkern und Nationen verstand und ihn so relativierte. Normative Kulturbegriffe gab es auch noch im 19. und 20. Jahrhundert, etwa in der von der deutschen Philosophie propagierten Opposition von Kultur und Zivilisation. Doch seit Herder verbreitete sich auch ein deskriptiv verstandener, nichtnormativer Kulturbegriff, der vor allem heute Kultur mit Lebenswelt und Gesellschaft identifiziert und insbesondere von den Kulturwissenschaften favorisiert wird. Dieser Kulturbegriff passt für eine rhetorische Ethik nicht. Zu den verschiedenen Aspekten des Kulturbegriffs siehe A. und V. Nünning (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften, Stuttgart/Weimar 2008, 19 – 22. 113  Die menschliche Kultivierung in dem von Cicero und Isokrates beschriebenen frühen Stadium könnte man mit Hegel als die Epoche der »unbefangenen Sittlichkeit« bezeichnen, eine elementare Sozialordnung, die auf dem überlieferten Gut des »richtigen« und angemessenen Verhaltens der Mitglieder einer Gemeinschaft beruhte. Als aber diese Ordnung aufgrund von Krisen problematisiert und von Einzelnen kritisch in Frage gestellt wurde, entstanden neue ethische Konzepte, die universelle Normen für das Handeln des Individuums auch über den begrenzten Bereich der Gruppenmoral hinaus formulierten. Hegel nennt die neue, »mit Reflexion verbundene Sittlichkeit […] Moralität«. Er hat diese Entwicklung in der Ethik anhand des Prozesses der Athener gegen Sokrates beschrieben. Siehe dazu seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in den Werken, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd. 18, Frankfurt/M. 1971, 441 – 516, insbesondere 445. Wichtig ist auch W. Schneiders: Der Verlust der guten Sitte. In: ders.: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie, Berlin 2005, bes. 247. 114  »Die Sittlichkeit hat biologische und kulturgeschichtliche Bedingungen, ohne jedoch aus ihnen ableitbar zu sein«, schreibt O. Höffe zu Recht in: Grundbegriff Sittlichkeit. In: ders.: Ethik und Politik, Frankfurt/M. 1979, 296. 111

II. Ethische Aspekte rhetorischen Handelns 115

  E. Cassirer: Versuch über den Menschen, Hamburg 1996, 49 – 51.

190 | Anmerkungen 

S. 45

  Zur näheren Definition der symbolischen Form vgl. G. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, Frankfurt/M. 2010, Kap. 18. 117  Ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften. In: Gesammelte Werke, hg. von B. Recki, Bd. 24, Hamburg 2007, 381. 118  Ders.: Form und Technik. In: Gesammelte Werke Bd. 17, Hamburg 2004, 150/51. 119  Ders.: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. In: Gesammelte Werke Bd. 12, Hamburg 2002, 253. 120  Ebd. 158/59. 121  Vgl. dazu B. Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in E. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, 38/39. 122  Ders.: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, 254. In gewissem Sinne lässt sich die Vermittlung des Handelns durch den Gebrauch symbolischer Formen, die eine Distanzierung vom Druck der gegebenen Situation und vom Zwang zur unmittelbaren Reaktion ermöglicht, ebenfalls als Austritt des Menschen aus dem Naturzusammenhang verstehen, wie ihn die Rhetorik durch den Gebrauch der persuasiven Sprache postuliert. Cassirer setzt den Akzent allerdings etwas anders als die rhetorische Kulturtheorie, weil für ihn die Sprache nur eine symbolische Form unter anderen ist und erst das Ensemble der Kulturformen die menschliche Welt konstituiert. Anthropologisch gesehen ist übrigens der Austritt des Menschen aus dem Naturzusammenhang nicht nur als historisches Faktum, sondern auch als strukturelles Merkmal menschlichen Handelns zu verstehen, denn die kulturelle Distanzierung vom Naturzwang ereignet sich in jedem Moment. Siehe dazu F.-H. Robling: Rhetorische Kulturtheorie nach E. Cassirer. In: R. Lachmann, R. Nicolosi, S. Strätling (Hg.): Rhetorik als kulturelle Praxis. München 2008, 46 – 50. 123  Definition nach P. Fischer: Philosophie der Technik, München 2004, 15/16. 124  Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften 382. 125  Ders.: Form und Technik 159 – 161, Zitat 162. Hervorhebung vom Autor. 126  Fischer Kap. 1.3.2. Als Medium erschließt die Technik die in der Welt existierenden Möglichkeiten der Behandlung bestimmter Gegenstände, als Instrument dagegen beschränkt sie sich auf das in der jeweiligen Handlung für die Realisierung des konkreten Zwecks Notwendige. Vgl. dazu Fischer 106/107. 127  So J. M. Krois: Einleitung zu E. Cassirer: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927 – 1933, Hamburg 21995, XXI. 128  Cassirer: Form und Technik 142 – 145. 129  Fischer 104, vgl. auch 40 – 51. 130  Ders.: Form und Technik 183, Hervorhebungen vom Autor. 131  Vgl. Fischer Kap. 5. 2. 1. 132  Schon die Sophisten verstanden den lógos als Instrument, wie Cassirer ausführt; vgl. Form und Technik 149/150. Platon jedoch fasste den lógos in 116

 Anmerkungen | 191

erster Linie erkenntnistheoretisch-kontemplativ auf und kritisierte von daher das sophistische lógos-Verständnis. Dazu Fischer 35/36. 133  Nicht nur die Technik, auch die Rede als Werk des Redners oder Redenschreibers ist eine symbolische Form. Cassirer untergliedert symbolische Formen in Ausdrucks-, Darstellungs- und reine Symbolfunktionen, eine Differenzierung, die man auch für »Rede« und »rhetorische Technik« vornehmen könnte, was hier aber nicht geschehen soll. Zur Analyse von Ausdrucks- und Darstellungsfunktion bei der symbolischen Form »Rede« siehe F.-H. Robling: Rhetorik als pragmatisches Element der symbolischen Form. In: U. Büttner, M. Gehring, M. Gotterbarm, L. Herzog, M. Hoch: Potentiale der symbolischen Formen, Würzburg 2011, 111 – 121. 134  Arist. Rhet. 1355 b 26, eigene Übers. 135  Zum Begriff der rhetorischen Strategie vgl. den gleichnamigen Artikel von J. Knape, N. Becker, K. Böhme in: HWRh Bd. 9, Sp. 152 – 154. 136  A. Honneth: Das Recht der Freiheit, Frankfurt/M. 2011, 79, 81, 83. Honneth argumentiert hier mit Hegel gegen Kant. 137  Vgl. H. Dubiel: Institution, in: HWPh Bd. 4, Sp. 418 – 4 24. 138  Vgl. G. Kennedy: The Art of Persuasion in Greece, Princeton 1963, Kap. 2 und 3 sowie P. L. Schmidt: Die Anfänge der institutionellen Rhetorik in Rom. In: E. Lefèvre (Hg.): Monumentum Chilonense. Amsterdam 1975, 194/195. 139  Die Nachahmung musterhafter Texte blieb zwar auch im methodisch neu organisierten Lehrbetrieb Bestandteil der Ausbildung, jetzt freilich nach Anleitung genauer Regeln. Methodik kennzeichnet eine Technikkonzeption, die ein systematisch geregeltes Vorgehen beim Handeln ermöglicht und im Idealfall sogar Gründe und Ursachen dafür angibt. Darin sieht etwa Aristoteles den Unterschied zwischen seiner téchne und derjenigen der Sophisten. Vgl. Aristoteles: Sophistische Widerlegungen 184 a - b. 140  Zum Ganzen vgl. Robling: Redner Teil A, Kap. 4: Subjektivität, Teil B zu den Redneridealen, Teil C zum Rednerwillen. Zu den modernen Redneridealen ab dem 19. Jahrhundert vgl. F.-H. Robling: Redner, Rednerideal, in: HWRh Bd. 7, Sp. 1021 – 1031. 141  A. Hetzel: Die Wirksamkeit der Rede, Bielefeld 2011, 11. 142  Ebd. 11, 18, 57 – 59. 143  A. Hetzel: »Die Rede ist ein großer Bewirker«. Performativität in der antiken Rhetorik. In: J. Kertscher, D. Mersch (Hg.): Performativität und Praxis. München 2003, 229 – 246. 144  Ebd. 242, 240/41. 145  Ebd. 231. 146  Vgl. ebd. 233, 238 sowie: Wirksamkeit der Rede 11/12. 147  Die Rede ist ein großer Bewirker 240. 148  Ebd. 149  Ebd. 235, 238.

192 | Anmerkungen 

  Vgl. das Kapitel: »Zur Kritik einer handlungstheoretischen Pragmatik« in Hetzels Buch: Die Wirksamkeit der Rede S. 54 – 72. 151  Die Rede ist ein großer Bewirker 245. 152  Die Wirksamkeit der Rede 18. 153  Die Rede ist ein großer Bewirker 234. 154  Arist. NE VI, 4 sowie 1140 b 6 – 7; dazu R. Bubner: Handlung, Sprache und Vernunft, Frankfurt/M. 1982, 70 – 73. Aristoteles verwendet hier einen sehr speziellen Begriff von Praxis, der nicht wie heute als Realisierung von Theorie zu verstehen ist. Vgl. dazu ebenfalls Bubner 101/102. 155  O. Höffe: Lebenskunst und Moral, München 2007, 78/79. 156  Zu dieser Unterscheidung vgl. B. Irrgang: Praktische Ethik aus hermeneutischer Sicht, Paderborn 1998, 97. Irrgang differenziert zwischen dem subjektiven und objektiven Sinn des Handelns und identifiziert beides mit dem Unterschied von Teilnehmer- und Beobachterperspektive. Der Handelnde nimmt also eine Doppelrolle ein als Involvierter und Beobachtender seiner Tätigkeit. Als Beobachter versetzt er sich gewissermaßen in die Sichtweise eines Mitmenschen. Irrgang bezieht sich auf A. Schütz, Th. Luckmann: Strukturen der Lebenswelt Bd. 2, Frankfurt/M. 1984, 17 – 19: Handeln und Verhalten. 157  Vgl. F. Rese: Praxis und Logos bei Aristoteles, Tübingen 2003, 54/55 zur Haltung des Handelnden. 158  Wichtig ist, Herstellen und Handeln nicht als Klassen-, sondern als Relationsbegriffe zu verstehen. Denn es gibt keine Tätigkeit, die ausschließlich unter nur einen der beiden Begriffe subsumierbar ist. Jedes praktische Handeln hat von einem bestimmten Gesichtspunkt aus auch instrumentelle Aspekte, und jedes instrumentelle Handeln ist auch irgendwie praktisch. Politisches Handeln z. B. kann – als Vollzugshandeln betrachtet – das Gute realisieren, als Herstellungshandeln gesehen aber etwa den Frieden hervorbringen. Vgl. dazu J. Rohbeck: Zehn Arten, einen Text zu lesen. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 4, 2001, 290. 159  Aristoteles hat auch rhetorisches Handeln unter den Aspekten von poíesis und práxis betrachtet, wenn er die Rhetorik zum einen als téchne (Kunstlehre, 1354 a 11), zum andern als eupraxía (gutes Handeln, 1360 b 4 – 19) versteht. Vgl. dazu O. Höffe: Aristoteles, München 1996, 33/34, 63. 160  Aristoteles definiert die Rhetorik daher auch nur als Vermögen, das möglicherweise Glaubwürdige an einem Sachverhalt zu erkennen. Vgl. Rese 234/235 zu Arist. Rhet. 1355 b 10. Eine gewisse Analogie zur materiellen Produktion hat das poietische Handeln des Redners insofern, als man den Entwurf einer Rede auch als das Verfassen eines Textes einschließlich seiner Realisierung z. B. als Manuskript verstehen kann. Text bzw. Manuskript gehören dann zu den kommunikativen Persuasionsmitteln. 161  Dazu Chr. Rapp: Aristoteles, Rhetorik, 2. Halbbd., Darmstadt 2002, 29. 162  Arist. NE 1139 a 30 – 35. Die hier zitierte Beschreibung der Handlungsverursachung dient nur der Herleitung von Handlungsverantwortlichkeit. 150

 Anmerkungen | 193

Eine nähere Erörterung der damit gegebenen Frage, ob Handlungen eher kausal oder eher teleologisch bestimmt sind, kann hier aber nicht geliefert werden. Vgl. dazu Chr. Horn, G. Löhrer (Hg.): Gründe und Zwecke, Berlin 2010. Zur Relevanz dieser Frage für die Bestimmung rhetorischer Handlungen vgl. die Überlegungen bei S. Drescher: Persuasion zwischen Zweifel und Gewissheit, Berlin/Boston 2019, 69 – 77. 163  Arist. Rhet. 1358 a 37 – 1358 b 2. Griech. sýnkeitai, wörtl. »zusammengesetzt«, ist hier wohl als »beruhend auf« zu verstehen. 164  Ebd. 1368 b 9 – 13. 165  Genauer hat Aristoteles diese ethischen Handlungskriterien in der »Nikomachischen Ethik« beschrieben. Vgl. Chr. Rapp: Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit (III, 1 – 7). In: O. Höffe (Hg.): Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, 109 – 127. Sie gehören zu den relevanten Merkmalen praktischer Vernunft, die neben kognitiven immer auch volitive, also willentliche, die Handlung anstoßende und ausführende Elemente hat. 166  Arist. NE 1112 a 17, b 11, 1113 a 12. Vgl. dazu O. Höffe: Praktische Philosophie, Berlin 3 2008, 117 – 125. 167  Diese Bezeichnung gehört zur Ursachentypologie, die Aristoteles in »Metaphysik« und »Physik« entworfen hat. Ein Motiv als Kausalursache des Handelns (causa efficiens) ist etwas, »das man angibt, wenn man die Frage beantwortet, was als erstes bewegte, den ursprünglichen Anstoß zur Bewegung oder Veränderung gab […]«. U. Nortmann: »aitia/Ursache. In: O. Höffe (Hg.): Aristoteles-Lexikon. Stuttgart 2005, 15. 168  Ein Gut als Finalursache (causa finalis) des Handelns ist dasjenige, »dessentwegen etwas geschieht oder da ist«. Nortmann ebd. 17. 169  Arist. Rhet. 1368 b 14. 170  Ebd. 1369 a1 – 5. Als Beispiele für unvernünftiges Streben nennt Aristoteles die Affekte Zorn und Begierde, für vernünftiges Streben aber das Wollen von etwas ethisch Gutem (agathón). 171  Siehe Kant GMS BA 40 – 4 4; vgl. dazu O. Höffe: Lebenskunst und Moral 23 – 27, 265 – 268, F. Ricken: Allgemeine Ethik, 42003, 134/135. 172  Höffe 268. 173  Siehe Kap. IV, 2. 174  Arist. Rhet. 1377 b 21/22. Nach 1358 b 3 ist »der Zuhörer entweder einer, der betrachtet oder einer, der urteilt […].« Das Urteil ist also reserviert für Beratungs- und Gerichtsentscheid, die Betrachtung für die Lob- bzw. Tadelrede – obwohl man sicher auch diese Haltung als eine letzten Endes urteilende verstehen kann. Vgl. dazu Chr. Rapp: Aristoteles, Rhetorik, zweiter Halbband, Darmstadt 2002, 257. Die Zuhörer bilden ihr Urteil nicht nur mit dem Verstand, sondern auch aufgrund der in ihnen geweckten Gefühle und nach dem Eindruck, den der Charakter des Redners auf sie gemacht hat. 175  Aristoteles scheint in seinem Persuasionsverständnis vom Entscheidungsprozess bei Abstimmungen auszugehen, in denen es für den Redner 194 | Anmerkungen 

darum geht, die noch unentschlossenen Hörer auf seine Seite zu ziehen. Ein anderes Modell ist etwa das der Sophistik, das am Meinungsstreit ansetzt und das Ziel der Persuasion darin sieht, die Hörer zur Änderung ihrer Ansicht zu bewegen. 176  L. F. Bitzer: The Rhetorical Situation. In: Philosophy and Rhetoric, vol. 1, no.1, 1968, 1 – 14. 177  Ebd. 8. 178  Zur Analyse des rhetorischen Kontextes vgl. S. Drescher: Persuasion zwischen Zweifel und Gewissheit, Berlin/Boston 2019, Kap. 5: Rhetorik und Kontextualismus. 179  Vgl. Rese: Praxis und Logos bei Aristoteles 299/300. 180  Vgl. H. G. Gadamer: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode, Tübingen 1986: Die Logik von Frage und Antwort, 375 – 384. 181  Arist. Rhet. 1357 a 4 – 7. 182  Vgl. J. Dietrich: Ethische Urteilskraft. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Jg. 60, H. 2, 2012, 233 – 249. 183  O. Höffe: Lebenskunst und Moral, München 2007, 274. Knoepffler beschreibt das deduzierende bzw. induktive Modell dieser Vermittlung zur Illustration dessen, was »Anwendung« in der Ethik heißt. Siehe N. Knoepffler: Angewandte Ethik, Köln/Weimar/Wien 2010, 50 – 57. 184  Dazu Gadamer 40 – 51. 185  Die rhetorische Argumentation verfährt dabei diskursiv und operiert daher anders als die logische Deduktion bzw. das mechanische Subsumieren eines Sachverhalts unter die betreffenden Prinzipien. Siehe dazu L. Kolmer, C. Rob-Santer: Studienbuch Rhetorik, Paderborn 2002, Kap. V: Topische, logische und rhetorische Argumentation. 186  Der Mangel an Evidenz des Wahren und Richtigen kennzeichnet oft nicht nur die Lage des Redners, der sich zur Situation äußern, sondern auch diejenige des ethisch Handelnden, der eine verantwortbare Entscheidung fällen muss. Die praktische Vernunft in Rhetorik und Ethik ist vor allem dann gefordert, wenn es Umstände gibt, in denen die bisherigen Handlungsmuster keine Orientierung mehr bieten und man den Gebrauch der persuasiven und ethischen Prinzipien der neuen Situation anpassen muss. Vgl. dazu H. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981, 108, 113 sowie F. Ri­ cken: Allgemeine Ethik, Stuttgart 4 2003, 25/26. 187  Drescher beschreibt und analysiert diese Technik als Kontextverschiebung; vgl. in seinem Buch Kap. 6. Zur ethischen Problematik der Angemessenheit siehe unten Kap. IV, 2. 188  Siehe dazu die kurze Einführung bei H. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, München 31967, § 39 – 45. 189  Beispielgebung und Gegenstandsmodellierung werden hier also als Handlungsakte rhetorisch-poietischer Darstellung verstanden. Grundlage  Anmerkungen | 195

dafür ist das Verständnis des rhetorischen Arbeitsschritts der elocutio als Phase der »Einkleidung« der Redegedanken. (Vgl. Cicero: Orator 227, München 2 1980.) Nicht nur die Gegenstandsmodellierung, auch die Verwendung von Beispielen ist übrigens als eine Art »Einkleidung« zu verstehen, da sie ähnliche Phänomene zwecks Illustration des Hauptgedankens anführt und insofern eine gedankliche Form für ihn ist, obwohl die rhetorische Systematik die Beispiele nur der inventio zuordnet. Die gorgianische Tradition der Rhetorik verstand die Form des Redetextes allerdings nicht als »Einkleidung« von Gedanken, sondern als Resultat eines einheitlichen Sprachproduktionsimpulses, der Form und Inhalt der Rede von vornherein mit dem Zweck der Wirkung verbindet und eine Trennung für falsch hält. (Vgl. dazu Th. Buchheim: Einleitung zu: Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien, Hamburg 1989, X.) Doch diese Auffassung bietet keinen Zugang zur ethischen Problematik rhetorischen Handelns, die sich gerade aus der wirkungsbezogenen Form einer Rede ergeben kann. (Siehe dazu oben S. 50 – 52 die Kritik an Hetzel.) Versteht man die Sprache nur als Ausdruck eines Gedankens, sind Form und Inhalt eines Textes sicher unzertrennlich. Versteht man sie aber auch als Darstellung eines gedanklichen Gegenstandes, bedingen sich Form und Inhalt zwar miteinander, lassen sich aber auch als ideell getrennte Momente auffassen, an denen man arbeiten muss, um die Rede am besten auf Handlungsziel und Situation abzustimmen. 190  Vgl. H. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, Stuttgart 31990, S. 11/12, § 410 – 426. 191  Vgl. G. Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997, 129. Vgl. dazu Arist. Rhet. I, 2 ab 1356 b. 192  Gabriel ebd. 25, 127. 193  Ebd. 127/128. 194  Arist. Rhet. 1357a 1 – 4 . 195  J. Berendes: Literatur und Moral, Literaturwissenschaft und Ethik. In: M. Maring (Hg.): Ethisch-Philosophisches Grundlagenstudium, Münster 2005, 76. 196  G. Gabriel: Vergegenwärtigung in Literatur, Kunst und Philosophie. In: C. F. Gethmann in Verbindung mit J. C. Bottek und S. Hiekel (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft, Hamburg 2011, 731. 197  Ebd. 734. 198  Kant GMS B 30, Hervorhebung vom Autor. 199  Vgl. Chr. Horn, C. Mieth, N. Scarano: Kommentar zu: I. Kant: Grund­ legung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt/M. 42015, 128 – 141. 200  Die historia galt nach Ciceros Bestimmung als magistra vitae (Lehrmeis­ terin des Lebens) und enthielt einen unerschöpflichen Vorrat an Beispielen, auf die der Redner zurückgreifen konnte. Darauf gründet der rhetorischdidaktische Zug der Geschichtsschreibung in Antike und Humanismus, der auf das Exemplarische der historischen Beispiele im positiven oder negativen 196 | Anmerkungen 

Sinne abhebt. Vgl. E. Kessler: Die Ausbildung der Theorie der Geschichtsschreibung im Humanismus und in der Renaissance unter dem Einfluss der wiederentdeckten Antike. In: A. Buck (Hg.): Die Antike-Rezeption in den Wissenschaften während der Renaissance, Weinheim 1983, 29 – 50. 201  H.-G. Gadamer: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke Bd. 1, Tübingen 1986, 28/29. 202  G. Buck: Hermeneutik und Bildung, München 1981, 104, 112 – 115. 203  Kant GMS B 29/30. 204  G. Buck 115 – 118. 205  Gadamer 325/326. 206  Vgl. dazu allgemein P. Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique, 1981, dt.: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt/M. 2002 sowie Arist. NE X, 10 zu Naturanlage, Gewöhnung und Lehre als Wege zur Tugend. 207  G. Buck 114, 116. Kant hat der Tugendlehre in seiner »Metaphysik der Sitten« auch einen kleinen Abschnitt zur Asketik angefügt, der aber nur den Erwerb eines »fröhlichen Gemüts« durch die »ethische Gymnastik« behandelt. Vgl. I. Kant: Die Metaphysik der Sitten. In: Werke Bd. 7, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1975, § 53, A 176/177. Die Gründe für die Marginalisierung der Asketik in Kants Ethikkonzeption erörtert H. Krämer in: Integrative Ethik, Frankfurt/M. 1995 auf S. 98/99. 208  Dass die Asketik auch zur Tradition der rhetorischen Ethik gehört, zeigt Cicero in »De officiis« I, 60: »Aber wie weder Ärzte noch Feldherrn noch Redner – mögen sie auch die Vorschriften ihres Fachs verstanden haben – irgendein hohen Ruhmes würdiges Ziel erreichen können ohne Erfahrung und Übung, so werden zwar jene Vorschriften zur Beachtung der Pflicht gelehrt, wie wir das selbst tun, aber die Bedeutsamkeit der Sache erfordert auch Erfahrung und Übung.« 209  »Interesse wird das Wohlgefallen genannt«, schreibt Kant in der »Kritik der Urteilskraft«, »was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden. Ein solches hat daher immer zugleich Beziehung auf das Begehrungsvermögen […]. Nun will man aber, wenn die Frage ist, ob etwas schön sei, nicht wissen, ob uns, oder irgend jemand, an der Existenz der Sache irgend etwas gelegen sei, oder auch nur gelegen sein könne; sondern, wie wir sie in der bloßen Betrachtung (Anschauung oder Reflexion) beurteilen.« Von daher unterscheidet er die Ästhetik autonomer Kunst als eine freie und diejenige heteronomer Kunst als eine zweckhaft gebundene: »[…] schöne Kunst muss in doppelter Bedeutung freie Kunst sein: sowohl dass sie nicht, als Lohngeschäft, eine Arbeit sei, deren Größe sich nach einem bestimmten Maßstabe beurteilen, erzwingen oder bezahlen lässt; sondern auch, dass das Gemüt sich zwar beschäftigt, aber dabei doch, ohne auf einen andern Zweck hinauszusehen (unabhängig vom Lohne), befriedigt und erweckt fühlt.« Kant KU B5,

 Anmerkungen | 197

B 206/207. Die rhetorische Ästhetik als an einen Wirkungszweck gebundene ist danach heteronom. 210  Vgl. M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt/M. 2003, 82. 211  Ebd. 51/52, 56/57. Gerade diese Selbstzweckhaftigkeit des Wahrnehmungsvollzugs führt zum Genuss des Schönen. Ethisch gesehen gehört das Schöne und damit die Ästhetik zu einem unverzichtbaren Teil des gelingenden Lebens. Vgl. dazu M. Seel: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt/M. 1996, 14, 17. Seel hat die Aspekte des ästhetischen Erscheinens sehr detailliert dargestellt, allerdings vorwiegend in rezeptiver, nicht in produktiver Perspektive, wie es für die Rhetorik erforderlich ist. Er konstatiert lediglich: »Die ästhetische Anschauung kann andere Tätigkeiten begleiten, die selbst keine ästhetischen Handlungen sind […]. Immer aber zeichnet sie sich durch einen Abstand von einer ausschließlichen Zweckverfolgung und eine Wachheit für eine disfunktionale Präsenz der Phänomene aus.« (Ästhetik des Erscheinens 57, Hervorhebung vom Verfasser; vgl. auch 65.) Das heißt: Die ästhetische Anschauung behält immer etwas Selbstzweckhaftes, das nicht in der pragmatischen Zweckverfolgung aufgeht, wie es die Rhetorik will. Dennoch macht sie – die Rhetorik – sich diese Anschauungsform für ihre Absichten zunutze. Daher stellt sich die Frage, wie unter Wirkungsgesichtspunkten ästhetischer Selbstzweck für einen Fremdzweck in Dienst genommen werden kann und wie er im rezeptiven Verhalten der Zuhörer seine Resonanz findet. Das ist zwar nicht Seels Problem, könnte aber zu einer interessanten Erweiterung seines Ansatzes führen. 212  Platon: Phaidros oder Vom Schönen 267 A, übers. von K. Hildebrandt, Stuttgart 1982. 213  Lausberg: Elemente § 71. 214  Ebd. § 73 – 75. Die amplificatio ist ein weitaus komplexeres Phänomen als oben im Text dargestellt, vgl. dazu H. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, Stuttgart 31990, 645. 215  Cassirer: Versuch über den Menschen 49 – 51. Siehe auch F.-H. Robling: Rhetorisches Handeln als kulturelles Handeln. In: G. Ueding, G. Kalivoda (Hg.): Wege moderner Rhetorikforschung, Berlin/Boston 2014, 496 – 498 (kultursemantische Interpretation einer Rede). 216  K. Burke: Rhetorical Analysis in Bentham. In: A Rhetoric of Motives. Berkeley/Los Angeles/London 1962, 90. 217  Ebd. 90, 92. 218  Ebd. 96. Für die Rhetorik stellt sich die Frage emotionaler Beeinflussung von Handlungen natürlich nicht nur als eine nach Sprachform bzw. Redestil, sondern auch als eine nach der gesamten Komposition der Rede und nach der rednerischen Vortragsweise, also von Stimmführung, Mimik und Gestik. Doch diese Aspekte sollen hier außer Acht bleiben. 219  Die parteiisch amplifizierende Synonymenwahl kann beispielsweise eine aggressiv-verschärfende oder eine defensiv-mildernde Funktion haben. 198 | Anmerkungen 

Von den genera amplificationis her könnte man Benthams Beispiele als congeries (Ballung von Synonymen) bezeichnen. Vgl. Lausberg: Elemente § 75, 80. 220  Kognition und Volition sind also Handlungsvermögen des Redners und zugleich Vermögen des Zuhörerhandelns. Siehe zum Redner- und Zuhörerwillen Robling: Redner Teil C, III. 221  In der rhetorischen Tradition wurde die Amplifikation insbesondere als Mittel zur Gefühlserregung verstanden. Vgl. etwa Cicero, Partitiones oratoriae 53: »Die Steigerung des Ausdrucks ist also gewissermaßen die verstärkte Form einer Beteuerung, die durch Weckung von Emotionen beim Sprechen Vertrauenswürdigkeit gewinnen hilft.« Übers. von K. und G. Bayer in: Cicero, Partitiones oratoriae. Rhetorik in Frage und Antwort, Darmstadt 1994. 222  Siehe dazu S. A. Döring (Hg.): Philosophie der Gefühle, Frankfurt/M. 2009, 14 – 16. III. Systematischer Grundriss der rhetorischen Ethik 

S. 67

  J. Kopperschmidt: »Kritische Rhetorik« statt »Moderner wissenschaftlicher Rhetorik«. In: Sprache im technischen Zeitalter H. 45, 1974, 50 – 52, Zitat: 52. 224  Ders.: Allgemeine Rhetorik, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 21976, 37. Kopperschmidt zitiert hier M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51976,1. Er gründet seinen Handlungsbegriff aber nicht nur auf Weber, sondern integriert auch andere Konzepte wie vor allem die Sprechakttheorien von Austin und Searle. Siehe dazu Allgemeine Rhetorik Kap. 2 – 4. 225  Weber a.a.O., vgl. Kopperschmidt a.a.O. 226  Kopperschmidt identifiziert aber auf S. 39 ohne weitere Begründung das intentionale mit dem zweckrationalen Handeln, obwohl Weber auf S. 12/13 noch andere Handlungstypen wie den wertrationalen, »affektuellen« und traditionalen unterscheidet. 227  So Kopperschmidt in der Paraphrase von Webers Definition 37/38. 228  Ebd. 38. 229  Ebd. 39/40. Habermas misstraut der Rhetorik, denn: »In der merkwürdigen Ambivalenz zwischen Überzeugung und Überredung, die dem rhetorisch hervorgebrachten Konsensus anhängt, zeigt sich nicht nur das Moment der Gewalt, das bis auf den heutigen Tag an den wie immer auch diskussionsförmigen Willensbildungsprozessen nicht getilgt worden ist. Vielmehr ist jene Zweideutigkeit ein Indiz dafür, dass praktische Fragen nur dialogisch entschieden werden können […].« J. Habermas: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. In: Hermeneutik und Ideologiekritik. Mit Beiträgen von K.-O. Apel u. a., Frankfurt/M. 1975, 123. Hier liegt der Grund dafür, dass Habermas das rhetorisch-strategische Vorgehen aus seiner Version von Diskursethik und kommunikativem Handeln ausgeschlossen hat. 230  Kopperschmidt 18, Hervorhebungen vom Verfasser. 223

 Anmerkungen | 199

  Ebd. 19.   Ebd. 150. 233  Ebd. 153. 234  Siehe dazu unten Kap. V, 2. 235  Kopperschmidt: Allgemeine Rhetorik 43; vgl. dazu auch die Regeln des persuasiven Sprechaktes in Kap. 4.5. 236  O. Höffe: Sind Moral- und Rechtsbegründung kommunikations- (konsens-, diskurs-) theoretisch möglich?  – Einige Thesen. In: ders.: Ethik und Politik, Frankfurt/M. 1979, 245. 237  Ebd. 248/49. Vgl. auch in diesem Band Höffes Aufsatz: Kritische Überlegungen zur Konsensustheorie der Wahrheit (Habermas). 238  Vgl. dazu F. Ricken: Allgemeine Ethik, Stuttgart 4 2003, 167 – 70. 239  J. Kopperschmidt: Sozialtechnologie, in: HWRh Bd. 10, Sp. 1233. 240  Ders.: Kritische Rhetorik 24/25, 29 – 32. 241  Ders.: Allgemeine Rhetorik 64, vgl. auch 64 – 74 zur »mittelbaren Zielrealisation«. 242  J. Habermas: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. In: ders. im gleichnamigen Band, Frankfurt/M. 1968, 79, 81. 243  Die folgende Darstellung beruht auf meinem Aufsatz: Prolegomena zu einer Theorie der rhetorischen Ethik. In: W. Kofler, K. Töchterle (Hg.): Pontes III. Die antike Rhetorik in der europäischen Geistesgeschichte. Innsbruck, Wien, Bozen 2005, 32 – 34. 244  W. Kuhlmann: Rhetorik und Ethik. In: W. Armbrecht, U. Zabel (Hg.): Normative Aspekte der Public Relations. Opladen 1994, 35, 38 – 39. 245  Ebd. 42. 246  Ebd. 41. 247  Ebd. 36,41,43 – 4 4. 248  Ebd. 44 – 50, 49: Nutzen. 249  Ebd. 43 – 4 4; vgl. W. Kuhlmann: Ethik und Argumentation. In: J. Kopperschmidt, H. Schanze (Hg.): Argumente, Argumentation. München 1985, 81. 250  Kuhlmann: Rhetorik und Ethik 40. 251  Dazu Robling, Redner, insbes. Teil A, Kap. IV sowie P. L. Oesterreich: Subjektivität, rhetorische, in: HWRh Bd. 10, Sp. 1290 – 1301. 252  Zu dieser subjektiven Fundierung siehe oben die Einleitung S. 2: Akteursrolle; dann Kap. II, 2, S. 41: Bewusstheit sowie Kap. II, 1: Technisch-instrumentelle und praktische Vernunft. 253  M. Kienpointner: Nouvelle Rhétorique. In: HWRh Bd. 6, Sp. 344, 346. 254  Ch. Perelman, L. Olbrechts-Tyteca: Die neue Rhetorik. 2 Bde. Stuttgart 2004, 25 (»Konstruktion«), 31. 255  Ebd. 40. 256  Ebd. 37. 257  Ebd. 38. Perelman zitiert aus der »Kritik der reinen Vernunft«, nach der 231

232

200 | Anmerkungen 

Überzeugung ein Fürwahrhalten ist, dessen Grund »objektiv hinreichend« ist, wogegen Überredung »nur in der besonderen Beschaffenheit des Subjekts seinen Grund« hat. Siehe I. Kant. Kritik der reinen Vernunft B 848. In: Werke hg. von W. Weischedel, Bd. 4, Frankfurt/M. 1974. 258  Ebd. 40. 259  Kienpointner: Nouvelle rhétorique Sp. 349. 260  D. Böhler, B. Rähme: Konsens, in: HWRh Bd. 4, Sp. 1289. 261  Chr. L. Johnstone: Dewey, Ethics and Rhetoric: Toward a Contemporary Conception of Practical Wisdom. In: Philosophy and Rhetoric, vol. 16, no. 3, 1983, 186/87, 190. 262  Ebd. 188/89, 191. 263  Ebd. 193 – 98. 264  Vgl. E. Martens: Einleitung in: ders. (Hg.), Philosophie des Pragmatismus, Stuttgart 22002, 48/49. 265  Ebd. 49/50. 266  Vgl. dazu O. Höffe: Strategien der Humanität, Frankfurt/M. 1985, 135. 267  St. A. Muir: A Defense of the Ethics of Contemporary Debate. In: Philosophy and Rhetoric vol. 26, no 4, 1993, 277 – 290. 268  R. E. McKerrow: Critical Rhetoric: Theory and Praxis. In: B. L. Ott, G. Dickinson (Ed.): The Routledge Reader in Rhetorical Criticism, New York 2013, 479 – 498. 269  Vgl. dazu insbesondere den Abschnitt »The Principles of Praxis« ab S. 487. 270  490. McKerrow zitiert hier S. Benhabib: Critique, Norm and Utopia: A Study of the Foundations of Critical Theory, New York, Columbia University Press 1986; Hervorhebung von Benhabib. 271  Ebd. 495. 272  W. A. Salomon: Introduction, in: Rhetoric and Ethics: Historical and Theoretical Perspectives. Ed. by V. Aarons and W. A. Salomon, Lampeter, Dyfed, Wales 1991, III. 273  ebd. III. 274  Ebd. I-III. 275  R. Bubner: Eine Renaissance der praktischen Philosophie (Literaturbericht). In: Philosophische Rundschau, 22. Jg., 1976, 32, 33. 276  L. Leeten: Rhetorik und Ethik. In: A. Hetzel, G. Posselt (Hg.): Handbuch Rhetorik und Philosophie, Berlin/Boston 2017, 585/586. Vgl. zur Kritik an Leeten auch die Auseinandersetzung mit Hetzel oben S. 50 – 52, der eine ähnliche Position vertritt. 277  Ebd. 587. 278  Ebd. 588. 279  Ebd. 589. 280  Ebd. 591. 281  Ebd. 595 – 6 09.  Anmerkungen | 201

  Vgl. Arist. Rhet. 1360 b 4/5, 1362 a 16 – 24.   Siehe zum Begriff Strebensethik unten Kap. III, 2. 284  Vgl. Leeten 591, 602 – 6 05, 611. 285  G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel Bd. 13, Frankfurt/M. 1970, 79. Hervorhebungen vom Verfasser. 286  Leeten 595. 287  H. J. Heringer: Stil und Moral. In: U. Fix, A. Gardt, J. Knape (Hg.): Rhetorik und Stilistik. 2. Halbbd., Berlin/New York 2009, 1159/60, 1163. 288  Ebd. 1167/68. Vgl. E. Bülow: Kommunikative Ethik, Düsseldorf 1972, 42/43. Bülow verfolgt mit ihrer Arbeit einen therapeutisch-didaktischen Ansatz, der aus der Erfahrung des Scheiterns von Verstehen in Gesprächen Vorschläge zu deren Gelingen formuliert. Vgl. z. B. S. 10/11. 289  Ebd. 36 – 41. 290  Heringer: Stil und Moral 1168/69, Zitat 1169. Siehe H. Paul Grice: Logik und Konversation. In: G. Meggle (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt/M. 1993, 263 – 65. Die Kooperationsmaximen der Quantität (»Mache deinen Beitrag so informativ wie […] nötig.«), Qualität (»Versuche deinen Beitrag so zu machen, dass er wahr ist.«), Relation (»Sei relevant.«) und Modalität (»Sei klar.«) werden auf den Seiten 248 – 50 erläutert. 291  Auch die hier genannten ethischen Unterscheidungen der Maximen gehen auf Kant zurück. »Alle Wissenschaften haben irgend einen praktischen Teil, der aus Aufgaben besteht, dass irgend ein Zweck für uns möglich sei, und aus Imperativen, wie er erreicht werden könne«, erklärt er in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. Die technischen Imperative bezeichnet er »als zur Kunst gehörig«, die pragmatischen als »zur Wohlfahrt« und die moralischen »zum freien Verhalten überhaupt, d. i. zu den Sitten gehörig«. Siehe Kant GMS BA 42, 45. 292  Heringer a.a.O. 1169/70. Oft lassen sich an Heringers Beispielen insbesondere bei der »Stilisierung« (ab S. 1171) aber Moralfragen kaum von Geschmacksfragen unterscheiden. 293  D. H. Parker: Rhetoric, Ethics and Manipulation. In: Philosophy and Rhetoric, vol. 5, no. 2, 1972, 73. 294  Ebd. 74, 75. 295  Ebd. 75, vgl. auch 75 – 77. 296  A. Fischer plädiert allerdings unter gelegentlicher Bezugnahme auf die Rhetorik dafür, den Begriff der Manipulation auch in einem positiven Sinne zu verwenden, da wir nicht anders wollen und können, als gezielt auf unsere Mitmenschen Einfluss zu nehmen. Siehe ders.: Manipulation. Zur Theorie und Ethik einer Form der Beeinflussung, Frankfurt/M. 2017, 202- 210: »legitime Manipulation«. 297  R. M. Weaver: The Ethics of Rhetoric. Davis, CA 1985, 11. 298  Ebd. 15 und 21 (Zitate), 11, 25. 282 283

202 | Anmerkungen 

  Ebd. 11, 17.   Ebd. Kap. IV: Abraham Lincoln and the Argument from Definition, insbes. 85; vgl. auch Kap. VII: The Spaciousness of Old Rhetoric. 301  Vgl. Th. Conley: Rhetoric in the European Tradition, New York 1990, 279 – 81. 302  Vgl. dazu Robling: Redner 97 sowie ders.: Topik und Begriffsgeschichte am Beispiel des vir bonus-Ideals. In: Th. Schirren, G. Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik, Tübingen 2000, 68/69. Zum vir-bonus-Ideal siehe auch unten Kap. V, 4. 303  A. Gil: Wie man wirklich überzeugt, St. Ingbert 2013, 13. 304  Ebd. 54. 305  Ebd. 6, 39. 306  Ebd. 61: Demut als »Haupttugend des Kommunikators«. 307  Ebd. 13. 308  Vgl. Robling, Redner 127. 309  S. K. Foss, C. L. Griffin: Beyond Persuasion: A Proposal For An Invitational Rhetoric. In: Communication Monographs, vol. 62, 1995, no. 1, 5. 310  Ebd. 2. 311  G. Fey: Das ethische Dilemma der Rhetorik in der Theorie der Antike und der Neuzeit, Stuttgart 1990, 5. 312  Ebd. 104 – 109. 313  Ebd. 109. 314  Ebd. 100 – 03, 120 – 23. 315  Ebd. 123 – 30. 316  Ebd. 131 – 35. 317  Ebd. 133, 134. 318  Ebd. 134. 319  Ebd. 135. 320  Rhetorica ad Herennium I, 2, übersetzt von Th. Nüsslein, Darmstadt 1994. 321  Chr. Walde: Officium, in: HWRh Bd. 6, Sp. 405/06. 322  Cicero: De inventione I, 6, übers. von Th. Nüsslein, Düsseldorf/Zürich 1998. Nüsslein übersetzt persuasio mit überzeugen und persuadere mit Überredung, doch eine bedeutungsmäßige Differenz zwischen diesen beiden Ausdrücken ist im lateinischen Satz nicht spürbar und in der Interpretation dieser Stelle auch nicht wichtig. 323  Isokrates: Antidosis 276, übers. von Chr. Ley-Hutton. In: ders.: Sämtliche Werke Bd. II, Stuttgart 1997. 324  Isokrates: Panathenaikos 30, übers. von Chr. Ley-Hutton ebd. Vgl. dazu A. Reckermann: Überzeugen, Hamburg 2018, 83/84. 325  Arist. Rhet. 1358 b 20. 326  Ebd. 1362 a 23. 327  Ebd. 1365 b 25. 299

300

 Anmerkungen | 203

  Quintilian III, 8, 1.   Ebd. XII, praef. 4. 330  Siehe dazu Robling, Redner 216 – 219, wo die Wirkungsmacht dieses Ideals, aber auch die humanistische Kritik daran dargestellt wird. Vgl. im Übrigen unten Kap. V, 4, Exkurs: Das vir bonus-Ideal. 331  Dazu Robling, Redner 239 – 249. 332  Ebd. Teil D: Ethik, Kap. V zu Kant. 333  Vgl. dazu H. Krämer: Integrative Ethik, Frankfurt/M. 1995, 9, 10, 95. 334  J. Nida-Rümelin: Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche. In: ders. (Hg.): Angewandte Ethik, Stuttgart 22005, 46 und: Tierethik I, ebd. 536/537. 335  M. Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 52013, 157/158. Siehe dazu auch das Kap. IX: Begründung in der Ethik. 336  Vgl. M. Düwell: Prinzipienethik. In: R. Stoecker, Chr. Neuhäuser, M.-L. Raters (Hg.): Handbuch Angewandte Ethik, Stuttgart/Weimar 2011, 23. 337  Das entspricht dem eklektizistischen Zuschnitt der Rhetorik, denn sie versuchte von Anfang an all das in ihr Theoriegebäude zu integrieren, was Wirkung versprach. Siehe dazu Robling, Redner insbes. 112 – 115. 338  O. Höffe: Ethik. Eine Einführung, München 2013, 106 – 109.; vgl. auch R. Stoecker, Chr. Neuhäuser, M.-L. Raters: Einleitung. In: dies. Handbuch Angewandte Ethik. 339  Krämer: Integrative Ethik 76 – 77. 340  Ebd. 78/79, 84 /85. 341  H. Krämer: Aktualität und Obsoleszenz der aristotelischen Ethik. In: Prima philosophia Bd. 1, 1988, 287/88. 342  Dazu O. Höffe: Kategorie Streben. In: ders.: Ethik und Politik, Frankfurt/M. 1979, 312. 343  Ebd. 315/16. 344  M. Seel: Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt/M. 1995, 194, 195. 345  Krämers Konzept einer »Integrativen Ethik« ist allerdings von dem Motiv bestimmt, den Einfluss des Kantianismus in der heutigen Ethik zurückzudrängen und stattdessen die aristotelische Strebensethik aufzuwerten. Siehe dazu Krämer: Integrative Ethik 9 – 11. 346  Die Belege bei Robling, Redner 249 – 252. 347  Siehe dazu unten Kap. IV, 2 a: Zwischen Wirkungsabsicht und Instrumentalisierungsverbot: die moralische Grundnorm der Rhetorik. 348  Vgl. D. Birnbacher: Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/Boston 32013, 116, 118. Birnbacher verweist darauf, dass auch deontologische Theorien implizit oft konsequentialistisch argumentieren, insofern sie die Folgen einer Handlung mit ins ethische Urteil einbeziehen. 349  Vgl. Nida-Rümelin: Theoretische und angewandte Ethik 20  – 22. Auf S. 22 spricht er wörtlich von »katastrophalen Konsequenzen«. Dazu wird man 328 329

204 | Anmerkungen 

sicher die Folgen des von Kant geforderten Verbots der Lüge selbst bei Bedrohung des Lebens rechnen müssen. Vgl. zur Erörterung dieses Verbots etwa D. Mieth: Die Grundnorm der Wahrhaftigkeit, ihre ethische Begründbarkeit und ihre Universalität. In: R. Funiok (Hg.): Grundfragen der Kommunika­ tionsethik, Konstanz 1996, 17/18. 350  J. St. Mill: Utilitarianism. Der Utilitarismus. Engl.-dt., übers. und hg. von D. Birnbacher, Stuttgart 22006, 23/25. 351  Außer den beabsichtigten kann man auch noch von den vorausgesehenen oder voraussehbaren Handlungsfolgen ausgehen; wir gehen aber für unsere Zwecke von den beabsichtigten und wahrscheinlichen Folgen aus. An den faktischen Folgen darf eine Beurteilung aber nicht ansetzen, da sie dann die moralische Qualität von Handlungen in weitem Maße schicksalhaften Faktoren überlassen würde. Siehe dazu Birnbacher 177/178, außerdem Quante 137/138. 352  O. Höffe: Einführung in die utilitaristische Ethik, Tübingen/Basel, 52013, 10 – 28. Bei Höffe finden sich auch Darstellungen der im Lauf der Zeit entwickelten Varianten des klassischen Utilitarismus wie Regel-, Handlungsund Präferenzutilitarismus. Vgl. S. 28 – 41. 353  Vgl. Birnbacher 126. 354  Ebd. 98. IV. Güter und moralische Normen 

S. 95

  Aristoteles: Politik 1252 a 1, übers. von O. Gigon, München 41981. 356  Ebd. 1329 b 25 – 31, zitiert nach R. Müller: Die Entdeckung der Kultur, Düsseldorf/Zürich 2003, 245. 357  Auch das von der Natur Bereitgestellte gehört in der Perspektive des Menschen zu diesem Ganzen. Vgl. L. Siep: Konkrete Ethik. Frankfurt/M. 2004, 238, 254 – 267. 358  Siep 61 – 63; vgl. auch M. Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 52013, 33 – 34. 359  H. Krämer: Integrative Ethik. Frankfurt/M. 1995, 132 Anm. 360  Siep 125/26. 361  Krämer 150. Diese Aspekte des Guten hat Krämer aus der Beschäftigung mit der Ethikgeschichte gewonnen, und zwar die Selbstverwirklichung z. B. von Aristoteles, die Selbststeigerung vor allem von Nietzsche und die Selbsterhaltung unter anderem aus der Stoa. 362  C. Spoerhase, Ch. Van den Berg: Utile, in: HWRh Bd. 9, Sp. 976. 363  Krämer 158/59. 364  Vgl. dazu H. Mayer: Rhetorische Kompetenz, Paderborn/München/ Wien/Zürich 2007, 18 – 23. 365  Krämer 158. 355

 Anmerkungen | 205

  Dazu M. Quante: Die Wirklichkeit des Geistes. Frankfurt/M. 2011, 203 sowie Krämer 186/87, 265. 367  Vgl. Robling, Redner Teil D, Kap. II,2 zum kairós. 368  Ebd. Teil B: Die Elemente rhetorischer Bildung in der Antike. 369  Dazu M. Fuhrmann: »Das bürgerliche Gymnasium ist tot.« Zwei Briefe und einige Überlegungen zur Allgemeinbildung. In: ders., Europas fremd gewordene Fundamente, Zürich 1995, 187/88, 190 sowie ders.: Der europäische Bildungskanon, Frankfurt/M. 22004. 370  Ders.: Was ist und wozu brauchen wir Allgemeinbildung? In: Bayrische Staatszeitung vom 14. 2. 2003, 6. 371  Vgl. zur Topik Th. Schirren, G. Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik, Tübingen 2000, insbes. Schirrens Einleitung. 372  Vico unterstreicht diesen Aspekt in seiner Studienschrift nachdrücklich durch die Kontrastierung der philosophischen bzw. wissenschaftlichen mit der rhetorischen Redeweise. Vgl. G.B. Vico: De nostri temporis studiorum ratione. Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung. Lat.-dt., übers. von W. F. Otto, Darmstadt 31984, insbes. 43 – 45; natürlicher Allgemeinsinn: 27. 373  Dazu Chr. G. Leidl: Urbanitas, in: HWRh Bd. 10; Chr. Kock, L. S. Villadsen (Ed.): Rhetorical Citizenship and Public Deliberation. The Pennsylvania State University Press, University Park, Pennsylvania 2012; C. Schmölders: Die Kunst des Gesprächs, München 21986. 374  Vgl. F. Jonas: Die Institutionenlehre A. Gehlens, Tübingen 1966, 43. 375  Das Phänomen des rhetorisch erzeugten Sozialcharakters und seiner kulturellen Wurzeln hat M. Fuhrmann in dem Aufsatz »Persona, ein römischer Rollenbegriff« genauer untersucht, in: Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition, Stuttgart 1982, 21 – 46. 376  D. Böhler, B. Rähme: Konsens, in: HWRh Bd. 4, Sp. 1256/57. 377  M. Hoppmann, A. Kemmann: Rederecht, in: HWRh Bd. 7, Sp. 838. 378  Vgl. dazu das Grundgesetz in Art. 5 sowie näher Hoppmann und Kemmann a.a.O. 379  Vgl. A. Honneth: Das Recht der Freiheit, Frankfurt/M. 2011, 86. 380  S. Doering-Manteuffel: Propaganda, in: HWRh. Bd. 7, Sp. 267. 381  A. Kirchner: Rhetorische Mittel der Propaganda. In: HWRh. Bd. 7, Sp. 283 – 290. 382  W. Jens: Rhetorik und Propaganda. In: ders.: Von deutscher Rede, München 41985, 11 – 23 383  Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik 28. 384  Zu Kultur und Moral vgl. B. Recki: Moral, in: R. Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart/Weimar 2012, 223 – 227. Prägnant formuliert dazu Kant: »Die Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung des Menschen und die Charakteristik seiner Ausbildung ist folgende: Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer 366

206 | Anmerkungen 

Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren […].« In: I. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Werke Bd. 10, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1975, B 319. (Hervorhebung vom Autor) 385  Dazu W. Mesch: Überredung, Überzeugung. In: HWRh Bd. 9, Sp. 858 – 862. 386  Vgl. Ch. Larmore: Vernunft und Subjektivität, Frankfurt/M. 2012, 66. 387  A. Hügli: Überzeugen und Überreden. In: G. Ueding, G. Kalivoda (Hg.): Wege moderner Rhetorikforschung, Berlin/Boston 2014, 15. 388  Genaueres dazu siehe unten S. 118/119. 389  I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Werke, hg. von W. Weischedel, Bd. 4, Darmstadt 1983, B 848. 390  Robling, Redner 96 – 9 9. 391  B. Pascal: L’art de persuader, dt. Die Kunst zu überzeugen. In: ders.: Die Kunst zu überzeugen und die anderen kleineren philosophischen und religiösen Schriften, übertragen von E. Wasmuth, Heidelberg 1963, 89/90. 392  Dazu M. Fuhrmann: Redekunst am Beispiel Ciceros, Stuttgart/Düsseldorf/Leipzig 1997, 17/18, 54 – 58.; siehe auch oben S. 37 – 39 zu Quintilian. 393  Kant KU B 216. 394  Ebd. 395  Birnbacher: Analytische Einführung in die Ethik 179. Die Lehre von der Doppelwirkung ist ein Charakteristikum deontologischer und dabei vor allem moraltheologischer Ethikansätze. Sie wird häufiger herangezogen, um z. B. die normative Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe zu begründen, passt aber auch für das oben von Kant skizzierte Zweck-MittelProblem der rhetorischen Ethik. 396  Kant KU ebd. 397  Das Folgende nach P. Schaber: Menschenwürde, Stuttgart 2012, 19 – 28. 398  Vgl. A. Grossmann: Würde, in: HWRh Bd. 9, Sp. 1459 – 1461. 399  Dazu und zum Folgenden Schaber 39 – 47. 400  Kant GMS BA 67, vgl. BA 82. 401  Die eigene Würde zu achten meint nach Kant, dass auch die eigene Person nie nur als Mittel behandelt werden sollte. Suizid, Kriecherei, Lüge oder Unbeherrschteit verletzen die eigene Würde. Vgl. dazu Schaber 43. 402  Vgl. I. Kant: Die Metaphysik der Sitten. In: Werke hg. von W. Weischedel Bd. 7, Darmstadt 1975, AB 23 /24. Kant würde hier wohl eher eine Kollision von Pflicht und Verbindlichkeit sehen, wobei die Verbindlichkeit weniger nötigt als die Pflicht. 403  An der Herstellung dieses »schönen Scheins« wirken nicht nur die von der Dichtkunst entlehnten Mittel, sondern auch die Dialektik mit. In der »Kritik der Urteilskraft« B 216 identifiziert Kant die Beredsamkeit mit der Dialektik. Dabei denkt er vor allem an die sophistische Dialektik, welche die Widersprüche eines Sachverhalts aufzeigt, um dessen subjektiven Aspekt,  Anmerkungen | 207

nämlich die der eigenen Sicht dienende Seite daran, auszunutzen. Vgl. dazu genauer Robling, Redner 381. 404  Kant KU B 218 Anm. 405  Dazu schreibt J. Nida-Rümelin: »Überzeugungen allein können […] Handlungen nicht anleiten, da diese eines Movens bedürfen, und dieses Movens speist sich aus der Quelle ungerichteter Wünsche, die unserer Kontrolle generell und einer rationalen Bestimmung speziell entzogen sind.« Ders.: Strukturelle Rationalität, Stuttgart 2001, 23/24. 406  Krämer: Integrative Ethik 261, 266. 407  Auf anderen Wegen kommt A. Fischer in seinem psychologisch orientierten Buch über Manipulation zu einem ähnlichen Ergebnis. Er plädiert im Rahmen einer »verschlankten kantianischen Moralauffassung« für den Respekt gegenüber den Zielpersonen als Grenze manipulativer Beeinflussung. Manipulation dürfe danach nie zeitlich unbegrenzt eingesetzt werden, müsse eine grundlegende Wahlfreiheit lassen und einen legitimen Zweck verfolgen. Siehe A. Fischer: Manipulation. Zur Theorie und Ethik einer Form der Beeinflussung, Frankfurt/M. 2017, 202, 204/205. 408  J. Chr. Gottsched: Ausführliche Redekunst. Erster, allgemeiner Teil. In: ders.: Ausgewählte Werke Bd. VII, 1, hg. von P. M. Mitchell, Berlin/New York 1975, 12. 409  Aristoteles sieht in der Anpassung des Redners an die populäre Moral, wie sie in der Staatsverfassung neben Lebensgewohnheiten, Bräuchen und Institutionen repräsentiert ist, einen der stärksten Wirkungsimpulse des rhetorischen éthos. Danach muss sich der Redner bei der Darstellung seines Charakters in der Rede ein Aussehen geben, das zu den Eigentümlichkeiten dieser Verfassung passt. Vgl. Arist. Rhet. 1366 a 9 – 16. 410  O. Höffe (Hg.): Lesebuch zur Ethik, München 21999, 30, 37. 411  Das Buch Jesus Sirach (Ecclesiasticus) 28, 17. 24 – 26. In: Die Bibel, dt. Ausgabe, Freiburg/Basel/Wien 31965. 412  Matthäus-Evangelium 7, 15/16. In: Das Neue Testament, übersetzt und kommentiert von U. Wilckens, Zürich/Einsiedeln/Köln/Gütersloh 51977. 413  Vgl. Höffe: Vorwort zum Lesebuch der Ethik 19 – 21. 414  Der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder sagte daher zu Recht: »Ich glaube, Glaubwürdigkeit hat zu tun mit der Tatsache, dass man macht, was man sagt, dass man hinter dem steht, was man tut. Nur wenn man selber überzeugt ist, kann man andere überzeugen.« Zit. in Mayer: Rhetorische Kompetenz 18. 415  Dazu J. Knape: Image, Prestige, Reputation und das Ethos der aristotelischen Rhetorik. In: B. Christiansen, U. Thaler (Hg.): Ansehenssache, München 2012, 106 – 107, 112. 416  Arist. Rhet. 1377 b 27/28. 417  Ebd. 1356 a 6/7. 418  Ebd. 1366 a 12  – 14. Der Zuhörer eines demokratischen Staates wird 208 | Anmerkungen 

daher unter der Tugendhaftigkeit eines Redners etwas anderes verstehen als derjenige eines oligarchischen Staates. Vgl. J. Sprute: Ethos als Überzeugungsmittel in der aristotelischen Rhetorik. In: G. Ueding (Hg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften, Tübingen 1991, 285, 287/288. 419  G. Zenkert: Praktische Orientierung. Zum Wahrheitsanspruch der Rhetorik. In: G. Figal (Hg.): Interpretationen der Wahrheit, Tübingen 2002, 269 – 270. 420  Vgl. H. Arendt: Sokrates, Berlin 2016, 48/49 sowie P. Ptassek, B. Sandkaulen-Bock, J. Wagner, G. Zenkert: Macht und Meinung, Göttingen 1992, 8, 50, 61. 421  Rhetoric to Alexander ed. and transl. by R. A. Mayhew and D. C. Mirhady, Cambridge, Mass./London 2011, 1431 b 1 – 19. Vgl. dazu W. Süss: Ethos, Leipzig/Berlin 1910, ND 1975, 116/117. 422  Vgl. Arendt 48. 423  Arist. Rhet. 1404 a 1. 424  Protagoras, Fragment 1 in: H. Diels, W. Kranz (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker Bd. 1, Berlin 61951, 263. Vgl. dazu die Interpretation in Robling: Redner 48 – 50. 425  Vgl. Robling ebd. 60 – 62 zur athenischen Öffentlichkeit. 426  Arist. Rhet. 1356 a 6/7. 427  Man könnte die Demonstration der Tugendhaftigkeit von Seiten des Redners auch als eine Form seines Darstellungshandelns bezeichnen, und zwar insofern, als die Art seiner Präsentation seine Haltung zum Redeinhalt, zum Redeziel und gegenüber den Zuhörern veranschaulicht. Zum Darstellungshandeln siehe oben Kap. II, 4. 428  Daher gibt es auch keine ›nackte‹ Wahrheit im Raum der Öffentlichkeit, sondern Wahrheit muss immer ›erscheinen‹, also mit rhetorischen Mitteln als plausibel und einleuchtend dargestellt werden, um akzeptiert zu werden. Siehe dazu die Rhetorica ad Herennium I, 16 sowie M. Kraus: Zusammenhänge zwischen der aristotelischen »Poetik« und »Rhetorik«. In: J. Knape, Th. Schirren (Hg.): Aristotelische Rhetoriktradition, Stuttgart 2005, 100. 429  Vgl. T. van Zantwijk: Wahrscheinlichkeit, Wahrheit, in: HWRh Bd. 9, Sp. 1285/1286. 430  Zenkert 267, 269. 431  Insbesondere für die politische Rede gilt: »Gerade im Bewusstsein der unaufkündbaren Angewiesenheit aller Politik auf Meinungen muss der Anspruch auf die klärende und sachlich vermittelnde Leistung der Wahrheit steigen«, wie V. Gerhardt schreibt. (Wahrheit und Öffentlichkeit. In: Figal 33/34.) Gerhardt warnt daher vor den Versuchen der politischen Theorie, Wahrheit und Öffentlichkeit zu entkoppeln und nach sophistischem Muster die politische Rede bloß als Meinung zu verstehen. (S. 33) 432  V. Gerhardt: Glauben und Wissen, Stuttgart 2016, 49/50. 433  Dazu O. Höffe: Lebenskunst und Moral, München 2007, 24 – 27 über  Anmerkungen | 209

die bei diesen Fragen einschlägigen pragmatischen und kategorischen Handlungsimperative. 434  Gerhardt: Wahrheit und Öffentlichkeit 29 – 36. Vgl. auch ders.: Öffentlichkeit, München 2012, insbes. Kap. 2: Public age. Die Konstitution der Öffentlichkeit. 435  D. Mieth: Die Grundnorm der Wahrhaftigkeit, ihre ethische Begründbarkeit und ihre Universalität. In: R. Funiok (Hg.): Grundfragen der Kommunikationsethik, Konstanz 1996, 17,19. 436  Vgl. dazu H. Arendt: Wahrheit und Politik. In: dies.: Wahrheit und Lüge in der Politik, München 42017, 55. 437  B. Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Stuttgart 1990, Ratschlag Nr. 181, 210. 438  Vgl. Mieth 26. Dabei ist auch klar, dass es keinen absoluten Maßstab für die Feststellung dessen geben kann, was als wahr gilt, sondern dass dabei oft eigene Gesichtspunkte und Werturteile mit einfließen. 439  Ebd. 34 – 36. 440  Augustinus: Die Lügenschriften, übers. von A. Städele, in: Werke Bd. 50, Paderborn 2013, 63/64. 441  Erasmus lässt einen gewissen Pseudocheus in einem Dialog seiner »Colloquia familiaria« sagen, dass cleveres Lügen einen großen Teil der Beredsamkeit, der »Kunst der Lüge«, ausmache. The Collected Works of Erasmus: Colloquies, vol 39, The University of Toronto Press 1997, 345. 442  Die Ironie ist natürlich keine Lüge, denn bei ihr geht es nicht um Täuschung. Sie ist zwar eine Falschaussage, aber dazu bestimmt, die Wahrheit indirekt durch Aussage des Gegenteils aufzuzeigen, um so zu unterhalten oder zu kritisieren. 443  Vgl. dazu Cic. De or. II, 292 – 295. 444  D. Till: Verbergen der Kunst, in: HWRh Bd. 9, Sp. 1034/1035. 445  Ein Beispiel für die Überschreitung der Grenze zwischen parteilicher Sicht und Anerkennung der Realität von Tatsachen bietet die berühmte Zuchthausmetapher Bismarcks aus seiner Rede 1878 im Deutschen Reichstag zum Verbot der Sozialdemokratie. Die SPD schien ihm eine Gefahr für die politische Ordnung im Reich zu sein. Daher vergleicht er den sozialdemokratischen »Zukunftsstaat« mit einem »sozialistischen Zuchthaus«, in dem die politischen Redner die Aufseher sein würden. Natürlich wollte die SPD damals die Freiheit des kapitalistischen Wirtschaftens durch Produktionsplanung beschränken, jedoch nicht die politische Freiheit im Staat beseitigen. Bismarck suggeriert aber durch seine Metapher, die mit Hyperbolik und Alliteration arbeitet, totale Unfreiheit sei die Folge sozialdemokratischer Politik, was keine Zuspitzung einer These mehr, sondern eine Lüge ist. Zur näheren Interpretation dieser Rede siehe F.-H. Robling: Rhetorisches Handeln als kulturelles Handeln. In: G. Ueding, G. Kalivoda (Hg.): Wege moderner Rhetorikforschung, Berlin/Boston 2014, 496 – 498. 210 | Anmerkungen 

  Vgl. S. Dietz: Der Wert der Lüge, Rostock 2001, 207.   Das hat M. Beetz in seiner Untersuchung der barocken und frühaufklärerischen Höflichkeitsformen, bei denen die Rhetorik eine wichtige Rolle spielt, herausgearbeitet. Siehe M. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, Stuttgart 1990, 135 – 137. 448  Kant lehnt zwar in seinem Aufsatz »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen« den Gebrauch der Lüge selbst in Notlagen ab. (In: Werke hg. von W. Weischedel Bd. 7, Darmstadt 1975) Doch es ist sehr problematisch, hier eine strikte Befolgung des Lügenverbots zu fordern, wenn es dabei um die Beachtung gleich wichtiger Pflichten geht wie etwa den Schutz von Gesundheit und Leben. (Vgl. Mieth 18, 27/28.) Außerdem kann eine Lüge zur Bewältigung menschlicher Grenzsituationen geboten sein, etwa wenn eine ärztliche Diagnose bei einem Schwerkranken besser verschwiegen wird. Doch hier handelt es sich nicht mehr speziell um eine rhetorisch-ethische, sondern um eine allgemein-ethische Frage. Aristoteles ist pragmatischer im Umgang mit der Lüge als Kant. »Für sich allein ist die Lüge schlecht und tadelnswert, die Wahrheit werthaft [bzw. gut, F.H.Rg.] und lobenswert. So ist auch der Wahrhaftige, der die mittlere Disposition hat, lobenswert […]«, erklärt er (NE 1127 a 27 – 30). Aristoteles will also kein generelles Lügenverbot, sondern favorisiert wahrhaftiges Handeln als ein zwischen den Extremen liegendes tugendhaftes Verhalten. Diese Einstellung zeigt auch seine »Rhetorik«. Die Beachtung der Wahrheit in der Rede ist für Aristoteles am überzeugendsten; und trotzdem empfiehlt er auch den Gebrauch von Mitteln der Täuschung, wenn man anders bei den Zuhörern keinen Erfolg hat. Siehe dazu J. Sprute: Aristotle and the Legitimacy of Rhetoric. In: D. J. Furley, A. Nehamas (Ed.): Aristotle’s »Rhetoric«, Princeton 1994, 117 – 128. 449  Mieth 28. 450  Vgl. oben S. 37. 451  Quintilian II, 17, 26/27. 452  M. C. Nussbaum schreibt: »Emotions contain an ineliminable reference to me, to the fact that it is my scheme of goals and projects. […] In short, the evaluations associated with emotions are evaluations from my perspective, not from some impartial perspective; they contain an ineliminable reference to the self.« So dies. in: Upheavals of Thought, Cambridge University Press 2001, 52. 453  Vgl. Chr. Horn: Einführung in die Moralphilosophie, Freiburg/München 2018, 208; F. Ricken: Allgemeine Ethik, Stuttgart 42003, S. 43 – 49: Der Emotivismus. 454  Siehe dazu oben S. 64. 455  Chr. Menke: Kraft, Berlin 2017, 24 – 26. 456  Quintilian VI, 2, 27 – 3 4, Zitat 29. Vgl. auch X, 7, 15. 457  Aristoteles, Von der Seele III, 427 b 1 – 4 28 a 18. Dazu J. H. Trede: Einbildung, Einbildungskraft, in: HWPh Bd. 2, Sp. 346. 446 447

 Anmerkungen | 211

  Arist. Rhet. 1377 b 30 – 1378 a 6, Übers. Rapp mit leichten Änderungen; vgl. dazu auch den Kommentarband 581/582. 459  Eine zu starke Intellektualisierung der Emotionen verfehlt deshalb auch deren affektiven Charakter. M. C. Nussbaum etwa betont die kognitiven Anteile von Emotionen wie gedanklichen Gehalt, Intentionalität oder zugrundeliegende Überzeugungen. Doch die gibt es nur bei einigen, aber nicht bei allen Emotionen, sicher nicht bei den ganz heftigen und elementaren wie z. B. den Ängsten, die oft eher spontane Reaktionen als Überzeugungen sind. Vor allem diese sind ja interessant für strategische Überlegungen zur rhetorischen Persuasion. Zum Problem vgl. Chr. Ammann: »Aufwallungen des Denkens«. M. Nussbaum auf dem Grat zwischen Intelligenz und Intellektualisierung der Emotionen. In: Hermeneutische Blätter 1/2, 2004, 19 – 22. 460  Vgl. Kant über die wechselhafte, »blinde« und »knechtische« Neigung in: Kritik der praktischen Vernunft. In: Werke, hg. von W. Weischedel, Bd. 6, Darmstadt 1968, A 213. Nur die Achtung nimmt Kant von seinem Verdikt aus, da sie zentrale Bedeutung für moralisches Handeln hat. 461  Dazu Chr. Demmerling: Vernunft, Gefühl und moralische Praxis. In: ders., G. Gabriel, Th. Rentsch (Hg.): Vernunft und Lebenspraxis, Frankfurt/M. 1995, 246 – 250. 462  Arist. NE I, 13; Zitat 1102 b 32, eigene Übers. Siehe auch das Register von Bien in: Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. von E. Rolfes, hg. von G. Bien, Hamburg 41984, 373. 463  Zur aristotelischen Affektenlehre siehe Horn 209 – 213. 464  Arist. NE 1102 b 25/26. 465  Dazu Chr. Rapp: Aristoteles: Rhetorik, 2. Halbbd., 553 – 583. 466  Aristoteles unterteilt die rhetorischen Beweisformen in einen rationalen Teil (lógos-Argumentation) und zwei emotionale Teile (éthos-Darstellung und páthos-Erregung). Die páthos-Lehre mit der Behandlung der einzelnen Emotionen befindet sich im zweiten Buch seiner »Rhetorik«. 467  Cicero erklärt deshalb: »[…] stets muss bei jedem Teil der Rede, genauso wie im Leben auch, das Schickliche (decorum) beachtet werden.« Cicero: Orator 71, übers. von B. Kytzler, München 21980. 468  M. Fuhrmann: Die antike Rhetorik. Eine Einführung. München/Zürich 1984, 118, 120; M. Limpinsel: Angemessenheit und Unangemessenheit, Berlin 2013, 39, 43. 469  Cic. De or. III, 210. 470  Cicero: Orator 123 – 125, Übers. Kytzler. 471  Eine Reduktion des ethisch Angemessenen auf das, was die Umstände der Situation erfordern, befürwortet G. A. Remer in seinem Buch »Ethics and the Orator. The Ciceronian Tradition of Political Morality, Chicago/London 2017. Im Namen der Praxis, auf die es dem Redner ankommen müsse, lehnt er eine Orientierung an Prinzipien wie in der Ethik Kants ab und befürwortet statt dessen »a pragmatic bent to Cicero’s approach to political morality, im458

212 | Anmerkungen 

posing a moral duty on the orator/politician to speak and act with decorum, that is, according to what is fitting to the given circumstance […].« (14, vgl. 8/9.) Cicero’s »duty to speak and act with decorum requires him to accommodate his speech and action to conform to the requirements of context.« (25) Problematisch an dieser Auffassung ist, dass sie sich nur an den Maßstäben einer relativistisch verfassten Situationsethik orientiert, anstatt diese auch mit allgemeinen ethischen Prinzipien zu vermitteln. Gegen eine rein kontextuell verfahrende Ethik ist außerdem nach Horn einzuwenden, »dass die Normativität, wenn sie dem jeweiligen Kontext entnommen ist, nur schwer zu dessen Kritik herangezogen werden kann. Kontextualistische Ansätze laufen damit stets Gefahr, sich in ein unkritisch-affirmatives Verhältnis zu den beschriebenen Geltungskontexten zu stellen.« (269/270) 472  Bei der Anerkennung zeigt sich, dass die rhetorisch-ethischen Normen auf unterschiedlichen Ebenen liegen. Das Postulat der Anerkennung der Zuhörer durch den Redner ist keine moralische Einzelnorm wie etwas, das Mäßigungsgebot, das sich auch als Maxime formulieren lässt, sondern das Anerkennungsgebot umfasst eigentlich das Gesamt der moralischen Normen, die bei der rhetorischen Angemessenheit zu beachten sind, wie ja auch Angemessenheit selbst die rhetorisch-technische Generalnorm ist. 473  A. Honneth: Das Recht der Freiheit, Frankfurt/M. 2011, 85. 474  G.  W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 132. In: Werke, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, 247. Zu diesem Aspekt der hegelschen Ethik vgl. M. Quante: Die Wirklichkeit des Geistes, Berlin 2011, 211. 475  Horn 275, 283; vgl. dazu auch P. Schaber: Menschenwürde, Stuttgart 2012, 65 und insbesondere A. Honneth: Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M. 1994, Kap. II: Die Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse. 476  Vgl. dazu Ch. Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 2009, insbesondere seine Ausführungen S. 19 – 21 zu Dialog und kultureller Identität als Hintergrund, was mutatis mutandis auch für die Rhetorik gilt. Zur interkulturellen Rhetorik siehe F.-H. Robling: Intercultural Rhetoric: A Research Project for the 21st Century. In: N. J. Crowe, D. A. Frank (Ed.): Rhetoric in the Twenty-First Century: An Interactive Oxford Symposium. Cambridge Scholars Publishing 2016, 63 – 68. V. Tugenden 

S. 125

  Aus dem Blickwinkel der Handlungsethik stellt sich allerdings erst in zweiter Linie die Frage, welche Charaktermerkmale und Einstellungen richtige Entscheidungen befördern. Primär rückt sie die Kriterien moralisch richtiger Entscheidungen in den Mittelpunkt. Von daher hat die Tugendethik den Mangel, dass jede tugendhafte Handlung bereits ein Richtigkeitskriterium voraussetzt. Man muss beispielsweise wissen, worin Ehrlichkeit als Hand477

 Anmerkungen | 213

lungsweise besteht, bevor sich Ehrlichkeit als tugendhafte Haltung identifizieren lässt. Sonst kann die Handlung eines insgesamt tugendhaften Menschen in einer bestimmten Situation dennoch moralisch falsch sein. Siehe dazu J. Nida-Rümelin: Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche. In: ders. (Hg.): Angewandte Ethik, Stuttgart 22005, 5/6. 478  O. Höffe: Kategorie Streben. In: ders.: Ethik und Politik, Frankfurt/M. 1979, 324/25. 479  Arist. NE 1103 a 14 – 19. Die aristotelische Terminologie ist etwas verwirrend, da sie Charakter- und Verstandestugenden unterscheidet, passt aber für die rhetorische Analyse am besten. Natürlich gehören auch die Verstandestugenden zum sittlichen Charakter eines Menschen. Birnbacher spricht stattdessen von moralischen, sozialen und sekundären Tugenden. Siehe ders.: Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/Boston 32013, 295/296. 480  Arist. NE 1106 b 36 – 1107 a 1 – 3. 481  Ebd. 1106 b 7. Die Frage, wie diese Mitte richtig zu bestimmen ist, läßt Aristoteles also offen. Hier bleibt nur der Verlass auf die durch Überlegung gewonnene ethische Kompetenz des Handelnden, genauer des Klugen. (Vgl. dazu NE 1107 a 1 – 2 sowie G. Bien : Einl. zu : Arist. NE, übers.von E. Rolfes und hg. von G. Bien, Hamburg 4 1985, XXXI.) Doch kennt nicht jede Tugend eine Mitte zwischen gut und schlecht, denn manche Handlungen wie Ehebruch, Diebstahl oder Mord sind von vornherein Laster und »in ihrem Namen schon« schlecht. Hier gibt es kein richtiges, sondern immer nur ein verkehrtes Handeln. Vgl. 1107 a 9 – 26. 482  M. Seel: 111 Tugenden, 111 Laster, Frankfurt/M. 32012, 234/35, Zitat 235. 483  Ebd. 236 (Zitat), 246/47. Ein Laster hat nach Seel keine moralische Ambivalenz: die Grausamkeit. (S. 248) 484  B. Hambsch: Virtutes-vitia-Lehre, in: HWRh Bd. 9, Sp. 1144/45. Dort finden sich auch die Quellenbelege. 485  Ebd. Sp. 1145/46. Ein nicht durch Lizenz gedeckter Normverstoß ist also erst ein Fehler. 486  Vgl. Hambsch Sp. 1145 – 1147. 487  Quintilian II, 15, 34. Auch Seneca vertritt sehr nachdrücklich diese These. Vgl. dazu F.-H. Robling: Topik und Begriffsgeschichte am Beispiel des vir bonus-Ideals. In: Th. Schirren, G. Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik, Tübingen 2000, 71 – 73. 488  Vgl. H. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, München 31967, § 93, S. 42. 489  Die gegensätzlichen Reden von Brutus und Antonius in Shakespeares Drama »Julius Caesar« zeigen, welche Spannung zwischen rhetorischer und ethischer Tugend bestehen kann. Siehe dazu die Interpretation dieser Reden unten in Kap. VI.

214 | Anmerkungen 

  Arist. NE 1144 a 7/8, vgl. Kap. VI, 5. 7. Dazu O. Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, Berlin 32008, 124 – 127. 491  Vgl. R. Bubner: Klugheit im Gebrauch von Argumenten. In: W. Kersting (Hg.): Klugheit, Weilerswist 2005, 201 – 205. 492  Vgl. Quintilian VI, 5, wo Klugheit (prudentia) und Urteilskraft (iudicium) zusammen mit der Überlegung (consilium) als die Elemente praktischer Vernunft des Redners erörtert werden. Näheres zur rhetorischen Urteilskraft bei J. Wagner: Iudicium, in: HWRh Bd. 4, Sp. 662 – 670. 493  Dieses Merkmal unterscheidet die Welt des Handelns von derjenigen der Wissenschaft, in der die Dinge aufgrund prinzipiengestützter Erkenntnis notwendig sind, wie sie sind. Vgl. Arist. NE VI, 3 und 4 sowie: Von der Seele 433 b 2, 3. 494  Vgl. J. Nida-Rümelin: Die Optimierungsfalle, München 2015, 132, 135, 140/41. 495  Siehe dazu H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 31972, 28/29; vgl. auch 295, 299/300: Bezug zur Klugheit. 496  S. Peetz: Kann Rhetorik Philosophie sein? Ciceros Erfahrung mit der Urteilskraft. In: R. Enskat (Hg.): Erfahrung und Urteilskraft, Würzburg 2000, bes. 63, 67. 497  Arist. NE 1140 a 25 – 27. 498  Ebd. 1141 b 21 – 29. 499  Ebd. 1140 b 13. 500  Siehe dazu Arist. NE VI, 13. 501  Daher muss der Umgang mit Widerständen in der Redesituation nicht nur als technisches, sondern auch als moralisches Problem verstanden werden. Vgl. J. Knape: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000, Kap. 3. 502  Arist. NE 1144 a 25. Zur Unterscheidung von ethischer und rhetorischer Klugheit vgl. Chr. Rapp: Aristoteles, Rhetorik, 2. Halbband, Darmstadt 2002, 409 – 411. 503  Kant KU B 216. Vgl. dazu oben das Kapitel zur moralischen Grundnorm der Rhetorik, S. 104. 504  Vgl. G. A. Remer: Ethics and the Orator, Chicago/London 2017, 20. His­ torisch gesehen wurden Licht- und Schattenseiten der rhetorischen Klugheit vor allem in der sog. »politischen Bewegung« des 17. und frühen 18. Jahrhunderts diskutiert. Vgl. dazu Robling: Redner 239 – 249. 505  Merkmale wahrhaftigen Handelns wurden bereits oben im Kapitel »Wahrheitsgebot und Lügenverbot« erörtert. Im Rahmen dieses Kapitels geht es nur um die Wahrhaftigkeit als Haltung in Bezug auf die Glaubwürdigkeit. 506  R. Eisele: Wahrhaftigkeit, in: HWRh Bd. 9, Sp. 1276. 507  O. Höffe: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München 2001, 28. 508  Ebd. 30/31. 490

 Anmerkungen | 215

  Platon: Gorgias 504 und Staat 441 d-442 d, vgl. dazu Robling: Redner 97/98. 510  O. Höffe: Lebenskunst und Moral, München 2007, 141. 511  Siehe oben S. 98/99. 512  Seel: 111 Tugenden 258 – 263. 513  So gehört zur angemessenen Haltung des Predigers etwa die Demut. Dazu Robling: Redner 127. 514  So die Übersetzung der vir-bonus-Formel durch H. Rahn in seiner Quintilian-Ausgabe (XII, 1, 1). Zur Ideengeschichte dieser Formel und zu ihren Kritikern siehe Robling: Redner 211 – 219. 515  Siehe oben S. 86/87. 516  Quintilian I, praef. 9, Übers. Rahn, leicht verändert. 517  Ebd. XII, 1, 1. 518  Insofern hat das ethische Konzept des vir bonus in der Geschichte der Rhetorik auch die oben schon beschriebene Entwicklung vom Zustand der ›unbefangenen Sittlichkeit‹ bis zum Stadium der reflektierten Sittlichkeit durchgemacht. Vgl. dazu Kap. I, 6 Anm. 113. 519  Zum Folgenden siehe F.-H. Robling: Topik und Begriffsgeschichte am Beispiel des vir bonus-Ideals. In: Th. Schirren, G. Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik, Tübingen 2000, 67 – 80 sowie den Artikel »Vir bonus dicendi peritus« in HWRh Bd. 9. 520  A. E. Walzer: Quintilian’s vir bonus and the Stoic Wise man. In: Rhetoric Society Quarterly 33, 2003, 25 – 41. 521  Vgl. etwa Quintilian III, 8, 1 – 3. 30 – 32, 38 – 47. Schon Cicero hatte in »De inventione« II, 156 – 159 das Ehrenhafte als verbindlichen Wert für die Beratungsrede bezeichnet und es so in die Rhetorik integriert. 522  Cic. De off. I, 4. Vgl. dazu E. Lefèvre: Panaitios’ und Ciceros Pflichtenlehre, Stuttgart 2001, 11. Der implizit politische Charakter von »De officiis« zeigt sich nach Lefèvre vor allem am negativen Bild von Caesars Alleinherrschaft, das im Hintergrund von Ciceros Überlegungen zur Rolle der Pflicht im öffentlichen Leben steht. Siehe dazu insbesondere Kap. D in Lefèvres Buch. 523  Cic. De off. I, 7/8; vgl. dazu Gunermanns Kommentar S. 335, 427, 428. 524  Ebd. I, 6. 15, dazu die Übersicht bei Gunermann 416 – 419. 525  Ebd. II, 9/10. 526  Ebd. I, 93/94, 117, 132 – 136. 527  Ebd. I, 93. 94. 528  Ebd. I, 14; I, 65. 529  Ebd. I, 22. 530  Vgl. zum vir bonus Cic. De off. z. B. I, 20; Gunermann 427/428. Kennzeichen der viri boni sind danach Gerechtigkeit und freigebiges Handeln. 531  Remer favorisiert auch heute noch in der Cicero-Nachfolge die Orientierung am Spannungsverhältnis von honestum und utile. Vgl. S. 20 /21. 532  Vgl. Cic. De off. I, 42 – 49, II, 31 – 3 4. 509

216 | Anmerkungen 

  M. Pohlenz: Antikes Führertum. Ciceros »De officiis« und das Lebens­ ideal des Panaitios, Leipzig/Berlin 1934. 534  Höffe: Lebenskunst und Moral 122 – 124. 535  Seel: 111 Tugenden 99 – 101. Zur Selbstachtung heißt es S. 101: »In Wahrheit nämlich sind alle Tugenden direkt oder indirekt an der Konfigurierung dieses  – zusammen mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung höchsten  – menschlichen Guts beteiligt.« 536  Vgl. Ch. Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 2009, 15 – 17. 537  Platon und Cicero warnten zwar vor dem verderblichen Einfluss unmoralischer Redner auf das Gemeinwesen (vgl. Robling: Redner 97 – 99, 214 – 216), begründeten das aber mit der Fehlleitung des Handelns der Bürger, nicht mit einer Verletzung von deren Menschenwürde. 538  Siehe oben Kap. IV. 539  H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1984, 172. 540  Chr. Hübenthal, J.- P. Wils: Verantwortung: Definitorische Aspekte. In: HWRh Bd. 9, Sp. 1016. 541  J. Nida-Rümelin: Verantwortung, Stuttgart 2011, 49 – 50. 542  Vgl. Seel 215/216. 533

VI. Rhetorisch-ethische Interpretation eines B ­ eispiels

S. 141

  Dazu D. Daniell (Ed.): Julius Caesar. The Arden Shakespeare. Waltonon-Thames, Surrey 1998, 79 – 95. 544  Die Texte dieser beiden Reden sind abgedruckt in: W. Shakespeare: Werke in zwei Bänden, Bd. 1, München/Zürich 1962, hg. von L. L. Schücking, und zwar in Akt III, Szene 2. Zugrundegelegt ist die Übersetzung von A. W. Schlegel und L. Tieck. 545  Zur Interpretation vgl. auch K. Otten: Politische Rhetorik als kommunikationstheoretisches Problem. Eine Darstellung anhand der Tragödien »Julius Caesar« und »Coriolanus«. In: R. Ahrens (Hg.): W. Shakespeare. Didaktisches Handbuch Bd. 2, München 1982, 540 – 542. 546  W. Stroh bezweifelt, dass diese insgesamt zehnmal auftretenden Hinweise auf die Ehrenhaftigkeit des Brutus und seiner Mitverschwörer ironische Funktion hätten. Stattdessen läge hier eine »Trugrede« oder »figurierte Rede« (oratio figurata) vor, in welcher der Redner zwar etwas anderes sage, als er für wahr halte, die aber für den Rezipienten den Widerspruch zwischen Gesagtem und Gemeintem nicht erkennbar mache, da es an »Ironiesignalen« wie evidenter Unwahrheit, sprachlicher Übertreibung, Augenzwinkern etc. fehle. (W. Stroh: Die Macht der Rede, Berlin 2009, 33.) Doch auch die häufigen, gewissermaßen emphatisch wiederholten Hinweise auf die Ehrenhaftigkeit der Verschwörer können als Ironiesignale gelten, da sie ungewöhnlich oft auftreten, so immer wieder auf einen wichtigen Punkt der Rede aufmerksam 543

 Anmerkungen | 217

machen und zum Vergleich zwischen Wirklichkeit und Schein auffordern. Im Übrigen sind diese Signale nicht nur für die Römer auf der Bühne, sondern auch für die Zuschauer im Theater bestimmt. 547  Auch Quintilian erwähnt Cäsars blutigen Mantel, um die persuasive Macht der evidentia zu demonstrieren (VI, 1, 31). Wenn die Ankläger während ihrer Reden ein blutiges Schwert, Knochensplitter oder blutige Kleidungsstücke zeigten, schreibt er, mache das gewaltigen Eindruck, »denn es führt ja den Menschen die Tat gleichsam leibhaftig vor Augen. Hat doch z. B. Cäsars Purpurtoga, die dem Leichenzug vorangetragen wurde, das römische Volk zum Rasen gebracht. Es wusste, dass Cäsar erschlagen war, wusste, dass es sein Leichnam selbst war, den man auf der Bahre trug – und doch machte das bluttriefende Gewand das Bild der Bluttat so gegenwärtig, dass es so war, als sei Cäsar nicht erschlagen worden, sondern als geschehe es gerade eben erst.« 548  Nach diesen Worten verliest Antonius  – wie vorher angekündigt  – ­Cäsars Testament. 549  W. Müller: Die politische Rede bei Shakespeare, Tübingen 1979, 147. 550  J. C. J. König: Über die Wirkungsmacht der Rede, Göttingen 2011, 324. 551  Der römische Freiheitsbegriff ist also nicht mit der modernen egalitären Vorstellung in einer repräsentativen Demokratie zu vergleichen. Freiheit bedeutete für den römischen nobilis die uneingeschränkte Gleichheit unter den Standesgenossen, während sie für den Plebejer etwa den Schutz gegen Beamtenwillkür umfasste. Vgl. dazu J. Bleicken: Die Verfassung der römischen Republik, Paderborn/München/Wien/Zürich 51989, 140 – 142. 552  M. Dreher: Tyrannis, Antike, in: HWPh Bd. 10, Sp. 1607 – 1611. 553  Siehe dazu die Darstellung von H. Bengtson: Marcus Antonius, München 1977, Kap. 4: Die Iden des März 44 v. Chr. 554  Königs Argument zur Verteidigung des Antonius, »dass es sich bei der zu evozierenden Revolte für ihn um eine politische Notwendigkeit handelt«, weil das republikanische System in den Bürgerkriegswirren nicht mehr funktioniert habe (S. 363), sticht hier nicht. Dahinter steht die Hegel’sche Idee vom Handeln der »welthistorischen Individuen«, deren partikuläre Zwecke nur Triebkräfte zum Vollzug des notwendig ablaufenden weltgeschichtlichen Prozesses seien und die daher außerhalb von jeder moralischen Beurteilung stünden. (Vgl. E. Cassirer: Vom Mythus des Staates, Hamburg 2002, 347/348.) Dabei hat es nach dem Mord an Cäsar noch eine Fülle von juristischen Maßnahmen des Senats und der Magistratur gegeben, welche die staatliche Ordnung aufrecht erhielten, und das trotz der Versuche von machtvollen Figuren wie Antonius, den Staat für die eigenen Interessen einzuspannen. Diese Ordnung brach eigentlich erst mit der Entstehung des zweiten Triumvirats aus Antonius, Lepidus und Octavian zusammen. (Vgl. dazu die genannte Darstellung von Bengtson.) Eine Rechtfertigung von egoistischer Machtpolitik mit Blick auf die geschichtliche Entwicklung, die angeblich das Unrecht legitimiere zur Erreichung einer neuen, effizienteren Staatsform – hier Alleinherrschaft und 218 | Anmerkungen 

Kaisertum –, ist daher vom Aspekt moralischer Pflichten der Akteure in einer bestimmten historischen Situation her nicht akzeptabel. 555  Vgl. Otten 546. 556  »Hört mich an: / Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen«, sagt Antonius zu Anfang seiner Rede, womit er selbst indirekt seine dissimulierende Redestrategie charakterisiert. Interessant für Shakespeares Präsentation der unterschiedlichen Strategie der beiden ist auch seine Arbeit mit den Redepausen in der Szene. Brutus bittet am Anfang und am Ende seiner Rede um Stille, und auch die Bürger ermahnen sich gegenseitig, ruhig zu bleiben. Diese Stille hat eine ganz andere Funktion als die Unterbrechungen, die Antonius in seiner Rede vornimmt, als er vor Ergriffenheit nicht weiter reden kann (»mein Herz ist in dem Sarge hier beim Cäsar / Und ich muss schweigen, bis es mir zurückkommt«) oder als er von der Rednerbühne herab zu Cäsars Bahre steigt und in seiner Rede innehält. Bei Antonius sollen die Pausen die emotionale Wirkung des Gesagten vertiefen, während es bei Brutus um die Distanz von der Situation und um Reflexion des von ihm Vorgebrachten geht. 557  Brutus und Antonius repräsentieren in gewissem Sinne auch rednerische Sozialcharaktere des damaligen Rom (dazu Robling: Redner 89 – 90, 94). Brutus als der vir bonus redet und argumentiert vor allem intellektuell wie ein (stoischer) Philosoph, Antonius vor allem emotional als der vir malus wie ein Demagoge mit dem Gestus des Volkstribunen. 558  D. Birnbacher: Medienethik – ideale Forderungen oder praktische Verhaltensregeln? In: Chr. Schicha, C. Brosda (Hg.): Medienethik zwischen Theorie und Praxis, Münster/Hamburg/London 2000, 33. 559  Ebd. 34/35. 560  Siehe Julius Caesar Akt III, Szene 1. 561  Siehe dazu Anm. 466. Zu den anderen Praxisnormen vgl. das Kapitel IV, 2. VII. Fazit und medienethischer Ausblick

S. 159

  Rhetorische Ethik wäre natürlich auch ein wichtiges Thema bei der Beschäftigung mit moralischen Fragen der Internetkommunikation, insbesondere der Sozialen Medien. Aber die Behandlung dieses Problems würde angesichts der Komplexität der Materie den Umfang der vorliegenden Untersuchung sprengen und die Entwicklung eines völlig neuen kategorialen Rahmens erfordern. Vgl. dazu als Beispiel das Buch von B. Pörksen: Die große Gereiztheit, München 52018. 563  Siehe dazu A. Ulrich, J. Knape: Medienrhetorik des Fernsehens, Bielefeld 2015, 10; zum Folgenden auch die Seiten 9 – 13. 564  Rhetorische Medienethik bezieht sich also nur auf diese Wirkungsfragen und die darauf bezogenen Normen. Insofern ist sie ein Untergebiet der allgemeinen Medienethik, die sich mit medialen Normen als Ausdruck eines be562

 Anmerkungen | 219

stimmten Wertekanons beschäftigt. Heesen gründet diesen Wertekanon auf die Informations- und Meinungsäußerungsfreiheit des Grundgesetzes (Art. 5) und die damit verbundenen Werte von funktionsfähiger Öffentlichkeit, demokratischer Willensbildung und individueller Selbstverwirklichung. Vgl. J. Heesen (Hg): Handbuch Medien- und Informationsethik, Stuttgart 2016, 2. 565  Überraschenderweise hat B. Thomaß die Ethik der Nachrichtendarstellung gar nicht unter ihre »Fünf ethischen Prinzipien journalistischer Praxis« aufgenommen, obwohl gerade die Kenntnis und Beherrschung der verschiedenen Darstellungsformen zur journalistischen Ausbildung gehört. Siehe den gleichnamigen Aufsatz von Thomaß in: B. Debatin, R. Funiok (Hg.): Kommunikations- und Medienethik, Konstanz 2003, 159 – 168. Zur Ausbildung der Journalisten siehe W. von LaRoche: Einführung in den praktischen Journalismus, München 192013 mit ausführlicher Behandlung der verschiedenen Darstellungsgenres. 566  G. Bentele: Wie objektiv können Journalisten sein? In: L. Erbring, St. Ruß-Mohl, B. Seewald, B. Sösemann (Hg.): Medien ohne Moral, Berlin 1998, 210/211, Zitat 210. Das Objektivitätskriterium im Sinne von Tatsachengerechtigkeit wird dabei nicht statisch gesehen, sondern als ein Kennzeichen der Berichterstattung verstanden, das notwendigerweise auch eine Reihe von subjektiven Merkmalen enthält wie Perspektivität, Selektivität und Konstruktivität. Vgl. Bentele ebd. 217 – 220. 567  Ebd. 211/212, 215. 568  Siehe dazu für das Folgende F.-H. Robling: Personendarstellung im »Spiegel«, Tübingen 1983, insbesondere Kap. II, 3 und 4 des empirischen Teils. Zur visuellen Rhetorik der Personalisierung siehe Robling: Die Rhetorik von Titelbild und Titelstory des »Spiegel«. In: F. Duerr, E. Seidl (Hg.): Aufmacher. Titelstories deutscher Zeitschriften, Tübingen 2014, 198 – 205. 569  J. Griem: Zumutungen. Wissenschaftskommunikation und ihre Widersprüche. Vortrag auf dem Forum Wissenschaftskommunikation der DFG 2018, 4 – 8. 570  Ulrich, Knape 221. 571  Ulrich und Knape unterscheiden dieses Verhältnis auf S. 222 und 229 als Differenz von »Oratorfigur« und »Oratorinstanz«. Die Oratorfigur bezeichnen sie auch als »Persona«, also als Rollenmaske. 572  Pörksen hat dem Gedanken der medialen Zivilisierung in einer Utopie der »redaktionellen Gesellschaft« Ausdruck verliehen, die er für das Zeitalter des Internet entworfen hat. »In einer redaktionellen Gesellschaft sind […] «, so schreibt er, »die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus zum Bestandteil der Allgemeinbildung und zum selbstverständlichen Ethos geworden, das einen dazu animiert, die Folgen der eigenen Kommunikation kompetent zu reflektieren.« Vgl. Pörksen 189.

220 | Anmerkungen 

Namenregister Adorno, Th. W.  24 Antonius  17, 141–157, 162, 214, 218–219 Arendt, H.  20, 70 Aristoteles  13, 35, 48, 52–56, 59–60, 70, 83–85, 86, 90, 95, 109–111, 118–119, 125–126, 128, 130–131, 184–187, 192–194, 205, 208, 211–212, 214 Augustinus  82, 114 Benjamin, W.  24 Bentham, J.  65, 92, 199 Birnbacher, D.  155, 204–205, 207, 214 Bismarck, O. von  210 Brutus  17, 141–157, 162, 214, 217, 219 Bubner, R.  76, 129, 193 Buck, G.  61 Bülow, E.  79, 202 Burke, K.  65, 76 Cassirer, E., 16, 45–49, 65, 101, 160, 191–192 Cato d. Ä.  32, 36, 134–135 Cäsar  17, 141–156, 162, 214, 216, 218, 219 Cicero  21–22, 25, 26–32, 36, 37, 83, 86, 103, 121–122, 135–137, 139, 183, 186, 190, 196–197, 199, 212–213, 216–217 Demokrit 26 Derrida, J.  24 Dewey, J.  73–74 Dockhorn, K.  183 Drescher, S.  9, 194–195

Erasmus  210 Fey, G.  83–85 Fischer, A.  184, 191–192, 208 Foss, S. K.  82 Foucault, M.  75 Fuhrmann, M.  206 Gabriel, G.  59, 60 Gadamer, H.-G.  61, 62, 63, 188 Gerhardt, V.  209 Gil, A.  82 Girard, R.  190 Gorgias  33, 64, 187 Gottsched, J. Chr.  107 Gracián, B.  114 Grice, H. P.  20–21, 79, 202 Habermas, J.  19, 20, 40, 50, 68–70, 187, 199 Heesen, J.  9, 219–220 Hegel, G. W. F.  78, 122, 190, 192 Herder, J. G.  190 Herennius-Rhetorik  85, 86, 209 Heringer, H.-J.  79–80, 202 Hetzel, A.  50–52, 196, 201 Honneth, A.  122, 192 Hoppmann, M.  100 Horn, Chr.  213 Höffe, O.  69, 133, 190, 193–195, 200, 205 Irrgang, B.  193 Isokrates  25–26, 28, 30–31, 86, 185–186, 190 Johnstone, Chr. L.  73–74   221

Jonas, H.  138

Protagoras  33, 74, 111, 187

Kant, I.  12, 21, 49, 50, 54, 60–63, 72, 79, 80, 84, 87–88, 91, 102–107, 114, 118, 122, 131, 161, 192, 197, 200–202, 204–208, 211–212 Kemmann, A.  100 Knape, J.  20–21, 162, 165, 184, 215, 220 Kopperschmidt, J.  19–22, 67–70, 199 König, J. C. L.  218 Krämer, H.  9, 11–12, 13, 89–90, 96, 107, 197, 204–205 Krämer, S.  23–25, 41–42 Kuhlmann, W.  71

Quintilian  36–40, 42, 50, 87, 116, 117, 128, 134–135, 183, 189, 215–216, 218

Lausberg, H.  64, 198–199 Leeten, L.  77–78, 201 Lincoln, A.  81 Luckmann, Th.  193 McKerrow, R. E.  75–76 Mill, J. St.  92 Muir, St. A.  74–75 Nida-Rümelin, J.  92, 184, 204–205, 208, 213–214 Niehues-Pröpsting, H.  188 Nietzsche, F.  205 Nussbaum, M. C.  211–212 Panaitios  37, 136, 137 Parker, D. H.  80 Pascal, B.  103 Perelman, Ch.  72, 76, 200–201 Platon  33, 35, 64, 81–83, 102, 133, 134, 187–189, 191–192, 217 Plutarch 141 Pörksen, B.  219–220

222 | Namenregister 

Remer, G. A.  212–213 Salomon, W. A.  76 Schröder, G.  208 Searle, J.  50 Seel, M.  126, 133, 198, 214, 217 Seneca  185 Shakespeare, W. 17, 141–157, 162, 214, 217, 219 Sokrates  35, 64, 188–190 Sophistik / Sophisten  26, 32–34, 35, 36, 42, 49, 74, 83, 110, 187–188, 191–192, 194–195, 207, 209 Stoa / Stoiker  26, 35, 37, 40, 135–136, 205 Stroh, W.  217 Thomaß, B.  220 Thukydides  188 Tomasello, M.  186 Ulrich, A.  162, 165, 220 Vico, G.  12, 70, 98, 206 Waldenfels, B.  19, 184 Weaver, R.  81–82 Weber, M.  67, 85, 199 Wittgenstein, L.  76 Zenon 36 Zinsmaier, Th.  21–23, 25

Begriffsregister Achtung  79, 105, 117, 138, 142, 144, 212; ▷ siehe auch  Selbstachtung Amplifikation / amplificatio 16, 64–66, 152, 156, 198–199 Anerkennung  21, 31, 72, 90–91, 100–101, 105, 120–123, 137, 155, 161, 210, 213 Angemessenheit / aptum  58, 77, 84, 120–123, 127, 155, 157, 161, 183, 213 Angewandte Ethik  15, 71, 89, 195 Anstand  35, 78, 87, 98, 108, 121, 122, 134, 136 Anthropologie  12, 46, 49, 103, 118, 183, 191, 206–207 Anwendung  siehe Bereichsethik Arbeitsschritte / officia oratoris 48, 58–89, 63, 78, 160 Argumentation  12, 13, 19, 22, 57, 59–63, 67–70, 72–73, 99, 107, 121, 129, 132, 135, 144, 155–157, 195, 212 Ästhetik 74, 183, 197–198 Autonomie, autonom  49, 69, 105, 197 Beispiel 58–63 Beredsamkeit / eloquentia 22–23, 28, 29, 31–32, 34, 35, 107, 121, 131–133, 207, 210 Bereichsethik  9, 15–16, 89, 161, 184 Berichterstattung  18, 162–165, 220; ▷ siehe auch: Journalismus, Presse Besonnenheit  35, 130, 133, 136 Bildung / Ausbildung  16, 17, 28–29, 31, 43, 49, 63, 74, 82, 97–98, 101,

125, 133, 134–135, 137, 139, 161, 185, 190, 192, 206, 220 Charakter  53, 73, 89, 99, 109, 125– 126, 132–133, 150, 194, 206, 208, 213–214, 219 Darstellung  16, 43, 58–59, 62, 63–65, 87, 115, 121, 160, 164, 192, 195–196, 209, 220 Deduktion 107, 195 Demagoge 152, 219 Demokratie / demokratisch  34, 49, 74, 75, 98, 113, 163, 208–210, 218, 220 Demut 82, 216 Deontologie  85, 89, 93, 154, 156, 161, 204, 207 deskriptive Ethik  15 Dialektik  22, 35, 81, 135, 159, 185, 188, 207 Diskurs / diskursiv  11, 20, 53, 67–69, 71–72, 77, 195, 199 Diskursethik  11, 67, 71–72, 199 Dissimulation / dissimulatio 115, 164, 219 Doppelwirkung 104, 207 Ehre / Ehrenhaftigkeit  27, 37, 39–40, 87, 100, 122, 135–137, 138, 142, 144, 150–151, 161, 216–217 Einbildungskraft / phantasia 104, 117, 120 Eklektizismus  204 Emanzipation 67–70 Emotionen / Emotionalisierung  19– 21, 33, 66, 69, 71, 81, 97, 100, 106,   223

107, 117–120, 133, 144, 152, 155– 156, 163, 198–199, 211–121, 219 Entscheidung  13, 21, 30, 34, 38, 46, 54–57, 58, 65, 72, 74, 91, 96, 106, 108, 110, 116, 118, 120, 160, 187–188, 194–195, 213 elocutio  58, 59, 63, 196 Erscheinung  14, 40–42, 64–65, 80, 109–113, 115, 126, 131, 183 Erziehung / Erziehungslehre  31, 34, 36, 42, 60, 63, 74–75, 83, 109, 134, 190 éthos  14, 77, 82, 83, 84, 99, 109, 110– 113, 119, 131, 132, 144, 151, 157, 165, 183, 208–209, 212, 220 Eudaimonie  52, 84, 90 Fernsehen  18, 42, 162, 165 Figuren, rhetorische  36, 64–65, 115, 127, 144, 151 Fraglichkeit 56 Freiheit  23, 46–49, 73, 89, 96, 99– 100, 101, 103, 131, 144, 153, 155, 208, 210, 218, 220 Freiwilligkeit  54, 72, 91, 102, 106, 133, 187 Gefühle  17, 21, 24, 32, 39, 60, 65, 66, 89, 96, 102, 115, 117–120, 133, 139, 151, 152, 156, 157, 161, 164, 194, 199; ▷ siehe auch: páthos / páthe Gelingen  52, 66, 69, 77, 91, 96, 101, 119, 125, 198 Gemeinschaft  27–29, 77, 87, 95, 98, 103, 114, 129, 190 Gemeinsinn  57, 98, 130; ▷ siehe auch: sensus communis Gemeinwohl  31, 38–39, 57, 135 Gerechtigkeit / das Gerechte  31, 35, 39–40, 56, 86–87, 89, 126, 133, 136, 145, 150, 153, 156, 216, 220 Geschichte  14, 27, 28, 31, 48–49, 61, 81, 83, 98, 186, 190, 205 224 | Begriffsregister 

Gewalt  8, 16, 19–43, 69, 78, 80, 99, 100, 166, 120, 153, 159, 184–190, 199; ▷ siehe auch: Zwang Gewissheit  72, 96, 111, 112 Glauben  33, 48, 111–112 Glaubwürdigkeit  9, 69, 83, 109–110, 114, 123, 131–132, 138, 161, 165, 208 Grundlegung  16, 40 Grundnorm  14, 55, 91, 101–107, 138, 161, 163; ▷ siehe auch: Norm / Normen Gut / Gutes  13, 31, 35–36, 38, 39, 47, 52, 53, 66, 69, 75–78, 84–87, 89– 93, 95–96, 103, 104, 112, 118–119, 125–128, 130–131, 134–137, 138, 143, 145, 160–161, 163, 188–190, 193–194, 205, 214, 217; ▷ siehe auch: Leben, gutes Güter  17, 38, 54, 73, 84, 86–87, 90–91, 93, 95–123, 133, 161 Handlungsdruck  13, 53, 57, 112, 114, 153, 191 Handlungsethik  213 Handlungsmodell  20, 89 Handlungsschema  48, 58 Hermeneutik  56, 67 Humanismus  11, 50, 63, 85, 87–88, 134, 161, 196, 204 Idealnorm 155–156 Idealtypus / idealtypisch  17, 141, 183 Image  109–110, 113, 165 Imperativ  42, 54–55, 61, 91, 105– 106, 115, 161, 202 Institution  12, 13, 16, 17, 27, 34, 43, 49, 98–99, 114, 133, 164, 184, 208 Instrumentalisierung  17, 19, 51, 58, 70, 75, 101–107, 122, 131, 138, 155, 157, 161, 163 Interesse  14, 19, 34, 35, 38, 39, 55, 57, 63–66, 68, 70, 73, 80, 82–85, 90,

92, 99, 106, 112, 121, 129, 130, 138, 139, 163, 165, 184, 197, 218 interkulturelle Rhetorik  123 Ironie  64, 127, 150, 164, 210, 217 Journalismus  81, 113, 163–164; ▷ siehe auch: Berichterstattung, Presse Klugheit  11, 69, 71, 109, 125, 128–132, 133, 136, 137–139, 161, 186, 215 Kohärenz  88, 129 Kommunikationsethiken 11; ▷ siehe auch: Diskursethik, ­Medienethik Kommunikationsmaximen 20–21, 79–80, 202 Kompetenz  90, 96–97, 109, 128, 132, 133, 161, 187, 214, 220 Kompromiss  37, 42, 99 Konsens  20, 42, 68–69, 99, 106, 199 Kontext  30, 56, 58, 60, 60, 68, 77, 127, 128–129, 155, 195, 213 Kontextualismus  195, 213 Kritik / kritisch  13, 15, 35, 67–85, 91, 102–104, 113, 137 Kultur  14, 23, 25, 26, 29, 40–43, 45–48, 65, 82, 95, 160, 185, 190 Kulturentstehung / Kulturentstehungslehre  16, 25–27, 42, 186 kulturelle Semantik  65 Leben, gutes  78, 95 Lebensführung  31, 36, 89, 95, 119, 138 Leidenschaft  27, 30, 32, 36, 37, 38, 61, 65, 66, 116, 117; ▷ siehe auch: Gefühle, páthos / páthe Leitbild  9, 14, 17, 36, 49, 50, 62, 81, 87, 134–136; ▷ siehe auch: vir bonus Logik  57, 59, 72

lógos  26, 28, 31, 51, 77–78, 82, 119, 144, 157, 185–186, 191, 212 Lüge  37–38, 80, 102, 108, 113–116, 131, 161, 183, 205, 207, 210–211; ▷ siehe auch: Täuschung Macht  19–21, 22, 30, 34–35, 36, 47, 56, 75–78, 81, 96, 100, 106, 121, 138, 149, 152–154, 165, 184, 188, 218 Manipulation / manipulativ  12, 19–20, 22, 41, 52, 68, 69, 70, 80–81, 102, 122, 128, 131, 138 202, 208; ▷ siehe auch: Propaganda Mäßigung  117–120, 161, 213 Maxime  12, 20–21, 40, 55, 79–80, 91, 104, 108, 109, 112, 114, 129, 202, 213; ▷ siehe auch: Kommunikationsmaximen Medien / Medium / medial  20, 26, 42–48, 51, 79, 96, 100, 159–165, 191, 219–220 Medienethik  9, 11, 15, 159–165, 219–220 Meinung  15, 20, 22–23, 33, 35, 37, 74–75, 98, 99–101, 103, 110–113, 114, 163, 164, 184–185, 187, 188, 195, 209, 220 Mitte 126, 214 Modellierung / modelliert  16, 45, 59, 63–66, 117, 152, 195–196 Moralpädagogik  60, 62 Motiv / Motivation  54, 60, 61, 64, 65, 66, 77, 85, 87, 88, 89, 106, 133, 144, 150, 151, 153–154, 156, 157, 194 Nachahmung / imitatio  40, 49, 59–63, 78, 192 normative Ethik  89 Normen / normativ  9, 12, 14–18, 23, 39, 40, 43, 53, 55, 57, 60, 62, 63, 67–69, 72- 74, 76–78, 81, 83–84, 88–92, 95–123, 125, 127–128, 136,  Begriffsregister | 225

137–138, 155–157, 159, 161–163, 165, 186, 190, 204, 207, 213–215, 219–220 Nutzen / Nützlichkeit / Nützliches  17, 26, 27, 33–37, 39, 40, 55, 65, 71, 80, 85–87, 88–93, 95–101, 117, 122, 130, 134–137, 154, 160 Objektivität / objektiv  72, 90, 102, 104, 107, 110, 112, 114, 115, 120, 122, 127, 130, 163, 165, 193, 201, 220 Öffentlichkeit / öffentlich  13, 32, 34, 49, 55, 68, 85, 96, 98–100, 104–105, 107–108, 109–113, 114, 121, 132, 135, 136, 139, 144, 163, 209–210, 216, 220 officium  85–86, 103, 135 Parteilichkeit  39, 49, 63, 114–115, 210 Pädagogik  34, 60–63, 73–74, 97 páthos / páthe  82, 84, 119, 157, 183, 212 Performanz / performativ  22, 50, 75, 77–78 Persona  206, 220 Personalisierung 163–165 Perspektive / Perspektivität  13, 14, 16, 23, 46, 49, 51, 52, 58, 72, 86, 89, 90, 110, 111, 113–114, 117, 121, 130, 139, 142, 153, 160, 193, 198, 205, 220 Pflicht  42, 61, 79, 85, 86, 91, 103– 106, 113, 128, 153–154, 197, 207 Pflichtenethik 11 Philosophie / philosophisch  12, 14, 15, 35, 36, 40, 42, 50, 51, 60, 61, 67, 89, 102, 113, 126, 135–138, 153, 159, 188, 190–191, 206–207 Poietisch / poíesis  50, 52–55, 58–59, 77, 78, 160, 193, 195–196 Politicus 87 226 | Begriffsregister 

Politik / politisch  12, 13, 16, 17, 20, 31–32, 34, 35, 57, 75, 81, 87, 95, 98–99, 100, 130, 133, 135, 136, 137, 141, 142, 144, 150, 153–154, 163, 164, 165, 185, 188, 193, 209–210, 215–216, 218 populäre Moral  208 Pragmatismus / pragmatisch  50, 54–55, 67, 73–74, 80, 84, 86, 127, 192, 198, 202, 206, 209–211 Praxis  16, 35, 37, 51–55, 63, 67, 70, 74–78, 84, 88, 100, 110, 155–156, 193, 212, 220 Praxisnorm 155–157, 219 Presse  18, 42, 81, 162–165; ▷ siehe auch: Berichterstattung, Journalismus Prinzipienethik 61 Produktion  11, 16, 53, 78, 193, 196, 210 Propaganda  19, 100; ▷ siehe auch: Manipulation / manipulativ Rationalität  19, 21, 26, 45, 52, 64, 67, 69, 70, 100–102, 103, 110, 118–120, 144, 150, 155, 159, 187, 199, 208 Recht  13, 27, 35, 38, 69, 71, 99–100, 104, 130, 133, 139 Rechtschaffenheit  14, 32, 35, 78, 82, 87, 109–110, 133, 134–137 Redefreiheit  49, 99–100, 220 Redegewalt  16, 32–33, 34–37, 40–42, 159, 188, 190 Rederecht  99–100; ▷ siehe auch: Redefreiheit Rednerideal  9, 11, 29, 36, 42, 49, 50, 75, 82, 83, 87–88, 97, 134–139, 155–157, 159, 161, 183, 192, 204; ▷ siehe auch: vir bonus Reflexion  13, 15, 35, 51, 57, 63, 78, 82, 96, 128, 190, 197, 219 Respekt  9, 84, 98, 103, 113, 122–123, 126, 138, 156–157, 161–163, 208

rhetorica contra rhetoricam 151 Rhetorikforschung / rhetorische Forschung  11–12, 17, 19, 40, 75, 85, 88, 183 Rolle  13, 52, 72, 99, 134, 193, 206, 220 Schein  102, 103, 106, 110–111, 131 Schickliches 136, 212 Seele  27, 30, 31, 33, 35, 81, 119, 185–187 Selbstachtung  123, 126, 138, 162, 217 Selbstbestimmung  46, 70, 89, 91, 122, 126, 217 Selbstverwirklichung 96, 205, 220 Semantik, kulturelle  65 sensus communis  57, 98; ▷ siehe auch: Gemeinsinn Sittlichkeit / sittlich  14, 16, 36, 43, 47, 54–55, 60, 62–63, 69, 78, 92, 107, 109, 111, 113, 122, 123, 125–126, 130, 136, 190, 214, 216 Situation  19, 34, 46, 48, 50, 53, 56–57, 61–63, 71, 77, 86, 96–97, 99, 101, 108, 110–112, 114, 115, 118– 120, 120–123, 125, 127, 128–130, 132, 133, 138, 142, 151–158, 187, 191, 195–196, 211–215, 219 Situationsethik  213 Sollensethik  17, 88–93, 101–123, 155, 160 Sozialcharakter  206, 219 Sozialethik  135, 137, 139 Sprachphilosophie  12, 51, 67 Sprechakt 77, 199 Staat  22, 23, 31–32, 38–40, 71, 85, 95, 100, 110, 130, 133, 135, 136, 144, 152–154, 163, 208–210, 218 Stil  17, 63, 65, 67, 79–81, 106, 121, 126–128, 129, 135, 137, 144, 151, 156, 157, 164, 198, 202 Stiltugenden  17, 67, 79–81, 121, 126–129

Strategie / strategisch  11, 12, 20, 36, 48, 57–58, 69–70, 97, 99, 114, 117, 120, 128, 129, 138, 142–152, 154, 199, 212, 219 Streben  11, 17, 53–54, 78, 85, 88–93, 95–101, 106, 119, 125, 136, 154– 155, 160–161, 194, 204 Strebensethik  11, 17, 78, 88–93, 95–101, 106, 154–155, 204 Streitkultur 99–100 Subjekt / Subjektivität / subjektiv 13–14, 20, 24, 39, 46, 48–52, 66, 67–68, 72, 76, 90–91, 102, 104, 110, 114, 118, 121–123, 126, 130, 133, 139, 157, 163, 193, 200–201, 207, 220 symbolische Form  16, 45–48, 191–192 Symbolnetz  45, 65 Tapferkeit  119 126, 133, 136, 142 Täuschung  13, 19, 33, 37–38, 102, 114–116, 131, 164; ▷ siehe auch: Lüge Technik  9, 12, 13, 16, 20, 22, 26, 43, 45–50, 52, 53, 58–66, 69, 70, 88, 96, 100, 115, 164, 185, 191–192, 195 Teleologie  85, 89, 161, 194 Text  9, 11, 13, 34, 68, 75, 80, 99, 127, 162, 163, 187, 192, 193, 196 Topik / Topos  11, 12, 19, 21, 25, 57, 98, 150, 185–186 Tradition  11, 12, 14–17, 40, 50–51, 58, 63, 67, 85–88, 96, 97, 103, 126–128, 133, 134, 139, 159, 196– 197, 199, 206 Tugend / tugendhaft  14, 17, 35–36, 40, 50, 62, 96, 73, 76, 78–79, 81–82, 85, 88, 109, 111, 119, 125–139, 114, 150, 159, 161, 209, 211, 213–214, 217 Tugendethik  11, 50, 67, 82, 89, 134–137, 213  Begriffsregister | 227

Überlegung  53–54, 57, 105, 109, 120, 120, 130, 136, 152, 212, 214, 215; ▷ siehe auch: Strategie Überredung / Überzeugung  12, 19–20, 22, 25, 33, 36, 55, 71–72, 83, 86–87, 88, 91, 102–103, 106–107, 155, 157, 184, 188, 199, 201, 203 Übung / Einübung  36, 53, 62–63, 74, 77, 125, 197 Unterhaltung  36, 66, 152, 163–164, 210 Unterricht  11, 33, 34, 49–50, 63, 97 Urbanität  29, 98–99 Urteil  24, 30, 39, 52, 55–58, 73, 86, 112, 118, 130, 144, 145, 194, 204 Urteilskraft  60, 62, 87, 103–104, 120, 129–130, 138–139, 161, 215 Utilitarismus / utilitaristisch  71, 73–74, 85, 88–89, 92–93, 154, 161, 205 Verantwortung  14, 30, 54, 55, 58, 73, 75, 79, 84–85, 89, 101, 114, 137–139, 155, 161–162 Verführung  13, 25, 34, 41, 106, 120; ▷ siehe auch: Manipulation Verlebendigung  33, 117 Vernunft  19, 22, 26–28, 29–31, 43, 45–52, 54, 61–62, 68–70, 72, 77–78, 83–85, 87, 90, 102, 105, 107, 113, 117–120, 125, 133, 136, 144, 159, 186, 194–195, 200–201, 206–207, 212, 215 Verständlichkeit  60, 129, 133 vir bonus  11, 14, 17, 36–37, 42, 50, 82–83, 87–88, 128, 134–139, 159, 161, 216, 219; ▷ siehe auch: Rednerideal Volition / volitiv / voluntativ  66, 90, 194, 199; ▷ siehe auch: Wille Wahrhaftigkeit  79, 80, 82–84, 132– 133, 205, 215 228 | Begriffsregister 

Wahrheit  17, 21, 32–33, 37–39, 51, 61–62, 64, 81, 84–85, 100, 102– 103, 107, 113–116, 129, 131, 132, 161, 163, 183, 209–211, 215, 217 Wahrnehmung  45, 57, 63–64, 77, 111, 114, 117–118, 141–142, 198 Wahrscheinlichkeit  15, 39, 57, 64, 107, 111–112, 113–114, 129–130, 132, 205 Weisheit  28, 31–32, 36, 37, 40, 73–74, 108–109, 116, 125, 128, 135–136, 142, 144, 186 Wert  13, 28, 41, 73, 84, 92, 96, 100, 105, 216 Widerstand  29–30, 53, 57, 130, 215 Wille  20, 49, 61, 66, 70, 90, 102, 110, 117, 120, 194, 199; ▷ siehe auch: Volition / volitiv / voluntativ Wirkungsmacht  9, 106, 116, 187, 190, 204 Wissen  46, 54, 61, 62, 76, 98, 100, 112, 188 Würde  104–105, 122, 138–139, 157, 207 Ziele / Zwecke und Mittel  12, 14, 16–17, 31–33, 37–38, 41–42, 46, 48–49, 51, 52–54–55, 58, 63 66, 68, 71, 73–75, 78–79, 83–84, 85–86, 89–93, 96–98, 100, 101–102, 104– 106, 111, 115–116, 118, 120, 122, 125, 128–131, 136–138, 151–157, 160–161, 163, 184, 191, 195–198, 205, 207–209, 218 Zivilisation / Zivilisierung  27, 29, 47, 159, 165, 190, 207, 220 Zustimmung  56–57, 72, 85–86, 102, 105–106, 112, 121, 141, 154 Zwang  19–20, 23, 29–30, 39, 53–54, 76, 80, 102, 136, 184, 187, 191; ▷ siehe auch: Gewalt