Normative Ethik 9783110226911, 9783110226904

Normative ethics concerns the criticism and justification of morality, law, and other systems of norms. This book develo

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German Pages 441 Year 2010

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Inhalt
I. Einleitung
II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen (Belange bzw. Interessen)
III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen: grundsätzliche Pluralität
IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange: Vollständigkeit
V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange: das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit
VI. Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz
VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände
VIII. Pflichten gegen sich selbst?
IX. Typen von Pflichten
X. Über- und unterpflichtgemäßes Handeln (Super- und Supraerogation) sowie Indifferenz
XI. Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus)
XII. Einzelne Typen moralischer Konflikte
XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?
XIV. Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit
XV. Individualethik und Sozialethik
XVI. Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik
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Dietmar von der Pfordten Normative Ethik

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Dietmar von der Pfordten

Normative Ethik

De Gruyter

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ISBN 978-3-11-022690-4 e-ISBN 978-3-11-022691-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandabbildung: Dreifachportrait, Öl auf Leinwand, 84,5 × 69,2 cm, entstanden in der ersten Hälfte des 16. Jhd. im venezianischen Stil, traditionell Tizian, Giorgione und Sebastiano del Piombo als Gemeinschaftschaftswerk zugeschrieben, seit 1926 im Detroit Institute of Arts, Inv. 26.107 Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, www.da-tex.de, Leipzig Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

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Für Leonard

Vorwort Wie sollen wir handeln? Was ist gut oder schlecht? Diese und ähnliche Fragen erscheinen uns für unser Leben wesentlich. Wir beantworten sie im Rahmen vieler kleiner und großer Wertungen und Entscheidungen unseres Alltags. Die Antworten können solche der Moral, des Rechts, der Politik, der Religion, der Erziehung oder der Ratschläge des guten Lebens sein. Die normative Ethik dient der Kritik und Recht­fertigung dieser Antworten. Zur Erfüllung dieser Aufgabe der Kritik und Rechtfertigung benötigt die normative Ethik  – so die zentrale inhaltliche These der vorliegenden Untersuchung  – fünf Elemente: erstens die einzelnen Menschen bzw. Lebewesen als Ausgangspunkt, zweitens ihre Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, also ihre Belange, drittens der Bezug dieser Belange auf alle Handlungsteile im weiteren Sinn, nicht nur auf einzelne wie den guten Willen oder die Konsequenzen, viertens die Notwendigkeit einer Abwägung, schließlich fünftens als Kriterium dieser Abwägung die relative Unabhängigkeit der Belange von den Anderen bzw. der Gemeinschaft. Die hier entfaltete normative Ethik markiert mit ihren fünf Elementen einen dritten Weg jenseits von kantischer Ethik bzw. Deontologie auf der einen Seite und Utilitarismus bzw. Konsequentialismus auf der anderen Seite. Sie versucht auf dieser Grundlage Antworten auf konkretere ethische Fragen zu geben, etwa nach dem Bestehen von Pflichten gegen sich selbst, nach der Zulässigkeit paternalistischen Entscheidens für Andere sowie nach der Beurteilung überpflichtgemäßen Handelns.

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theorien der normativen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 14 17

I. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

23 23 28 30 32 38 46

8. 9. II. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen . . . . . . . . . . . . . . Präzisierung des normativen Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normativ-individualistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wahl der Bezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachliche Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begründung des Individualprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begründung des Allprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begründung des Prinzips der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ontologische Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asymmetrie und Symmetrie der Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen (Belange bzw. Interessen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik verschiedener Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation und objektiver Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belange bzw. Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interessen und Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Qualifikationen von Belangen bzw. Interessen . . . . . . . . . . . . . . Menschenwürde und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften und die Handlungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Bestätigung des normativen Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46 48 49

50 50 57 65 67 69 72 74 87 88

X III. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. IV. 1. 2. 3. 4. V. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Inhalt

Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen: grundsätzliche Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion: Gründe und Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versuche einer ethischen Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die deskriptive Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die normative Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Grund für das Scheitern der Beschränkung des Bezugs . . . . . . . . . . Handlungen und Normen bzw. Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problem / trolley problem) . . . Sollen die Zahlen zählen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handeln als Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange: Vollständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Möglichkeit einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirklichkeit einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Notwendigkeit einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gut, richtig und gerecht als Begriffe der Abwägung bzw. Zusammen­fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange: das Prinzip der relativen Individualund Ander- bzw. Gemeinschafts­abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Fokus der Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik des Vertragsprinzips / Diskursprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik des Verallgemeinerungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik des Maximierungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik weiterer Prinzipien: Gleichheit, Genügen / Suffizienz, Pareto, Aufopferung / Kaldor-Hicks, Maximin, Utilex, Leistung, Priorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Prinzip der relativen Individual- und Anderbzw. Gemeinschafts­abhängigkeit der Belange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Belange der Individualzone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Belange der Relativzone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Belange der Sozialzone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone . . . . . . . . . . . . . . Der Widerstreit zwischen Belangen verschiedener Zonen . . . . . . . . . . . . Die Hierarchie der Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90 91 95 99 101 102 105 107 107 117 128 135 150 151 159 159 162

165 165 169 175 191 201 210 214 220 221 224 239 243



VI. 1. 2.

XI

Metaethik: individualistisch-objektivistische Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . 245 Eine Analyse der fünf Elemente normativer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Eine Metaethik der individualistisch-objektivistischen Kohärenz . . . . . . . 252

VII. Die Realisationsformen der Ethik und ihrer Gegenstände . . . . . . . . . . . . 1. Bewertung, Norm und Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflicht (Verbot, Gebot) und Pflichtfreiheit (Erlaubnis, Freistellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zum Verhältnis zwischen Wertungen sowie Normen und Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259 259

VIII. Pflichten gegen sich selbst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die fünf möglichen Relationspole einer Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Worauf bezieht sich das „gegen“ bei den Pflichten gegen sich selbst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Pflichten gegen sich selbst in traditionellen Ethiken und bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Pflichten gegen sich selbst nach der hier entfalteten Ethik . . . . . . . .

272 272

IX. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Typen von Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterlassenspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tuns- bzw. Hilfeleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinschaftspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten zwischen Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten zwischen Bekannten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten in Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tugendpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281 281 285 286 288 289 290 292

X.

Über- und unterpflichtgemäßes Handeln (Super- und Supraerogation) sowie Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überpflichtgemäßes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterpflichtgemäßes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere deontisch-axiologische Kombinationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

294 294 304 305 305

Handeln für Andere ohne oder gegen deren Willen (Paternalismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff des Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normativer Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Verwirklichung von Pflichten gegen sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . Die entscheidenden Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifik der Sozialethik, politischen Ethik und Rechtsethik . . . . . . . . . . .

307 307 310 311 312 315

1. 2. 3. 4. XI. 1. 2. 3. 4. 5.

261 263 264

274 275 276

XII

Inhalt

XII. 1.

Einzelne Typen moralischer Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interesse des Akteurs und Interesse des Anderen bezüglich einer Akteurshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Pflichten gegenüber einem Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten gegenüber zwei Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten gegenüber drei und mehr Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollision zwischen moralischen und rechtlichen Pflichten . . . . . . . . . . . .

319

XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen? . . . . . . . . . . 2. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosysteme zu berücksichtigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen? . . . . . . 4. Wie weit reicht die Würde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

338 339

XIV. 1. 2. 3. 4.

Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

352 352 356 363 364

XV. 1. 2. 3. 4.

Individualethik und Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zentrale Unterschied: Gemeinschaft und Repräsentation . . . . . . . . . Mitglieder und Nichtmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturen der Gerechtigkeit in Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

365 366 369 370 377

XVI. 1. 2. 3.

Drei beispielhafte Fragen der Angewandten Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . Arzt und Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gentechnik beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

381 381 385 391

2. 3. 4. 5.

321 322 324 332 337

341 343 347

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

Einleitung 1. Der Begriff der Ethik Ethik ist eine Art unserer Suche nach Erkenntnis. Aber Erkenntnis wovon? Eine erste Antwort ist einfach: von zu Erkennendem, das heißt ihrem Gegenstand im formalen Sinn, ihrem Er­kennt­­nis­objekt. Die Unterscheidung von Erkenntnissuche und Erkenntnisobjekt ist grundlegend, denn jede Suche nach Erkenntnis richtet sich als zielorientiertes menschliches Handeln auf einen bestimmten Gegenstand im formalen Sinn. Durch diese Richtung auf einen bestimmten Gegenstand im formalen Sinn unterscheidet sie sich notwendig, wenn auch nicht aus­schließ­lich, von anderen Arten der Suche nach Erkenntnis. Gegenstand der Ethik in einem ersten, noch vorläufigen und damit eingeschränkten Verständnis sind praktische Tatsachen im engeren Sinn, also auf jeden Fall wirklich bestehende Normen, Regeln, Wertungen und Überzeugungen, die unser Handeln und Entscheiden bestimmen, etwa Moral (Sitte), Recht, Religion, Erziehung, Politik, Technik, Medizin, Konventionen und Einsichten des guten Lebens (Ethos), seien diese Normen, Regeln, Wertungen und Überzeugungen jeweils individuell oder sozial, autonom oder heteronom, kategorisch oder hypothetisch. Ethik

Moral Recht Religion Erziehung Politik Technik Medizin Konvention gutes Leben ...

a) Primäre und sekundäre Normordnungen Sowohl die Normen und Regeln der Moral, des Rechts usw. als auch die Beschreibungen, Bewertungen und Verpflichtungen der Ethik sind menschliche Gestaltungen. Worin unterscheiden sie sich?

2

Einleitung

Die Normen der Moral, des Rechts usw. bestehen zum einen nicht nur zufällig, sondern notwendig auch als reale, das heißt wirkliche einstellungs- und handlungsbestimmende praktische Tatsachen in Raum und Zeit, und zwar als innere wie äußere Tatsachen. Sie leiten und beeinflussen zum anderen unser gesamtes Handeln und unsere gesamten Einstellungen unmittelbar und primär. Man kann deshalb auch von primären Wertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen sprechen, oder, sofern es sich wie regelmäßig um eine systematisch verbundene Mehrzahl derartiger Denk- und Sprachformen handelt, von primären Wertungs-, Normen-, Regel- und Überzeugungsordnungen. Die Ethik als eine Art unserer Suche nach Erkenntnis besteht dagegen zum einen nicht begrifflich not­wendig als wirkliche einstellungs- und handlungsbestimmende Tatsache in Raum und Zeit. Sie kann vielmehr ein nur mögliches Gedankengefüge, ein bloßes Ideal sein, das sich zwar in verschiedenen inneren Normen und äußeren Handlungsverpflichtungen verwirklichen kann, eine derartige Verwirklichung aber anders als die primären Normordnungen nicht begrifflich notwendig voraussetzt. Die Ethik bezieht sich zum anderen nicht unmittelbar und primär auf unsere gesamten Handlungen, sondern nur mittelbar und sekundär auf primäre Normordnungen, also Moral, Recht, Religion usw., die unser tägliches Handeln und Entscheiden unmittelbar bestimmen. Die Ethik ist somit – die verbundene Mehrzahl ihrer Denk- und Sprachformen vorausgesetzt – eine sekundäre Beschrei­bungs-, Bewertungs- und Verpflichtungsordnung. Die Alltagssprache mit ihrer häufig sehr feinen und sensiblen Differenzierung markiert die Demarkationslinie zwischen dem Wirklichkeitscharakter der primären Moral und dem Möglichkeitscharakter der sekundären Ethik ganz deutlich: Eine Moral kann man „beschreiben“, nicht aber „schreiben“. Eine Ethik dagegen kann man – wie es hier unternommen wird – „schreiben“, nicht aber nur „beschreiben“. Angesichts der regelmäßigen Mannigfaltigkeit derartiger menschlicher Gestaltungen ist der Unterschied zwischen dem Wirklichkeitscharakter der primären Normordnungen und dem Möglichkeitscharakter der Ethik in der Realität allerdings kein absoluter, sondern lediglich ein relativer. Denn als menschliche Artefakte haben auch tatsächlich bestehende primäre Normordnungen wie Moral und Recht, insofern sie Wertungen und Utopien realisieren, gewisse idealische Züge. Und die idealische Ethik muss, um primäre Normordnungen wie Moral und Recht wirksam rechtfertigen und kritisieren zu können, wenigstens bis zu einem gewissen Grade ihrerseits wirklich, das heißt formuliert werden, sich also in inhaltlich bestimmenden Konkretisierungen, wie Erklärungen, Briefen, Artikeln, Büchern usw. niederschlagen. Aber wie beim Unterschied von Tag und Nacht schließt die Unklarheit über die genaue Demarkationslinie der Dämmerung die beiden klaren Alternativen und die Vielzahl eindeutig zuzuordnender einzelner Phänomene nicht aus. Sie macht die Unterscheidung vielmehr umso notwendiger. Der mittelbare und sekundäre Bezug der Ethik auf die unmittelbar und primär einstellungs- und handlungsleitenden Wertungen, Regeln, Normen und Überzeugungen schließt deren Beschreibung und Erklärung ein. Er dient aber auch und vor allem ihrer Bewertung sowie Normierung in Form einer Kritik bzw. Rechtfertigung. Die Möglichkeit, eine solche Kritik bzw. Rechtfertigung und damit eine normative Ethik mit Wahrheits-

1. Der Begriff der Ethik

3

oder zumindest Richtigkeitsanspruch, also objektiv, durchzuführen, ist im Alltag akzeptiert. Einige Philosophen ziehen sie aber prinzipiell in Zweifel.1 Eine eingehende Erörterung dieser Zweifel würde eine eigene, auf einer tertiären Ebene operierende Metaethik, das heißt eine auf einer sekundären Reflexionsebene angesiedelte Untersuchung der ontologischen, erkenntnistheoretischen und sprachlichen Voraussetzungen der Ethik und ihrer Gegenstände erfordern. Metaethik

Ethik

Moral Recht Religion Erziehung Politik Technik Medizin Konvention gutes Leben ...

Eine solche Untersuchung der Ethik und ihres Gegenstandsbezugs durch eine Metaethik ist zwar isoliert durchführbar. Sie wird aber – soviel lässt sich in wissenschaftstheoretischer Perspektive vielleicht behaupten – mangels Fähigkeit, die Widersprüchlichkeit des Begriffs einer normativen Ethik apriori zeigen zu können, die Entscheidung über ihre Möglichkeit mittels eines Verwirklichungsversuchs nicht von vornherein ausschließen können. Die hier unternommene normative Ethik ist ein solcher Verwirklichungsversuch. Aus Gründen der Beschränkung von Raum und Zeit kann die Objektivitätsfrage der Metaethik aber nur am Rande erörtert werden (Kapitel VI). Ethik in einem ersten Verständnis ist also die mögliche bzw. idealische Suche nach der Erkennt­nis notwendig auch wirklicher und primärer, also unmittelbar handlungsleitender Wertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen wie sie sich in Moral, Recht, Religion, Erziehung, Politik, Technik, Medizin, Konventionen, Einsichten des guten Lebens (Ethos) usw. finden, und zwar in Form der Beschreibung, Erklärung, Bewertung sowie Verpflichtung, also auch der Kritik und Rechtfertigung.2 1

2

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe Band 1, 9. Aufl. Frankfurt a. M. 1993, 6.42–6.422; Moritz Schlick, Fragen der Ethik, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2002; Alfred Jules Ayer, Language, Truth and Logic, London / New York 1987, S. 136 ff.; Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge 1985; Jonathan Dancy, Ethics Without Principles, Oxford 2004. Für eine Unterscheidung zwischen Moral und Ethik auch: William K. Frankena, Ethics, 2. Aufl. Englewood Cliffs, S. 5; Tom L. Beauchamp und James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, 6. Aufl. Oxford 2009, S. 1 ff.; Mark Timmons, Morality without Foundations. A Defense of Ethical Contextualism, Oxford 1999, S. 87, Fn. 11; Wilhelm Vossenkuhl, Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahr-

4

Einleitung

Die Ethik ist dabei nicht auf die akademische bzw. wissenschaftliche Suche nach Erkenntnis beschränkt, sondern findet sich ursprünglich in der alltäglichen Erörterung primär handlungs- und einstellungsleitender Normen, vorausgesetzt diese alltägliche Erörterung erreicht eine gewisse Vernünftigkeit, das heißt Beschreibungs-, Erklärungsund / oder Begründungskraft. Die sprachliche Äußerung des A „Du sollst den B nicht töten!“ wäre in einer konkreten Situation also eine solche der Moral. Auch die ­bloße Bekräftigung „Ich will es so!“ wäre eine moralische. Die Begründung „…, weil es den Belangen des Opfers widerspricht“ wäre dagegen ebenso wie die Beschreibung „C will, dass A den B nicht tötet“ eine solche der Ethik. Die konkrete Institutionalisierung umfangreicher primärer Normordnungen kann wie beim modernen Recht und der modernen Politik dann allerdings auch viele Beschreibungen und Begründungen einschließen  – mit der notwendigen Folge, dass diese zusammen mit der primären Normierung ebenfalls Gegenstand einer sekundären ethischen Beschreibung und Bewertung werden. Der sekundäre Beschreibungs- und Begründungscharakter der Ethik überschreitet den primären Normierungscharakter etwa der Moral oder des Rechts und lässt es deshalb eo ipso unerheblich sein, ob der Beschreibende oder Begründende selbst als Autor oder Adressat an der konkreten moralischen oder rechtlichen Normierungs­situation oder auch nur an der ihr zu Grunde liegenden moralischen oder rechtlichen Gemeinschaft teilnimmt. Das schließt nicht aus, dass die Teilnahme an der konkreten moralischen oder rechtlichen Normierungssituation oder wenigstens an der ihr zu Grunde liegenden Gemeinschaft regelmäßig die Sensibilität für eine adäquate ethische Konfliktlösung erhöhen wird – wenn auch die in allen Kulturen etablierten Institutionen der neutralen Beratenden oder Entscheidenden, etwa in den Personen von Priestern und Richtern, umgekehrt die Alltagseinsicht beglaubigen, dass Distanz, Neutralität und Objektivität der ethischen Recht­­­fertigung ebenfalls wichtig sind. Wissenschaftliche Ethik, wie sie das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist, lässt sich von derartigen alltäglichen ethischen Beschreibungen und Begründungen der Moral nicht prinzipiell unterscheiden. Sie ist diejenige Ethik, die als säkular-immanentes Unternehmen bestimmten, relativ weitergehenden wissenschaftlichen Standards wie Allgemeinheit, Genauigkeit, Differenziertheit, Begründetheit, Wider­­spruchsfreiheit, Kohärenz, Vollständigkeit, Einfachheit, Originalität, Fruchtbar­keit und Wahrheit oder wenigstens Richtigkeit genügt. Die wissenschaftliche Ethik stellt also nur eine relative Erweiterung der alltäglichen ethischen Vernünftigkeit dar, so wie etwa auch die empirischen Wissenschaften keine grundsätzlich neuen Erkennt­nisquellen im Vergleich zu unseren Alltagserfahrungen erschließen. Die wissenschaftliche Ethik setzt wie die Ethik generell somit kein Fundament außerhalb der Moral voraus. Sie setzt auch nicht voraus, dass der Ethiker nicht selbst am fraglichen moralischen Konflikt beteiligt ist. Sie schließt dies aber auch nicht aus. Der Sekundärcharakter der ethischen Bezugnahme auf die primären Normen führt zur prinzipiellen Unerheblichkeit der Teilnahme an den primären Regelungen. hundert, München 2006, S. 18, 40 ff. Vgl. ebenfalls die Differenzierung zwischen „positive morality“ und „critical morality“ bei H. L. A. Hart, Law, Liberty and Morality, Oxford 1963, S. 20, 22.

1. Der Begriff der Ethik

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b) Die Unterscheidung von Moral und Ethik Der Ausdruck ta ethika wurde im Rahmen wissenschaftlicher Erörterungen, soweit wir wissen, zum ersten Mal von Aristoteles zur Bezeichnung der Untersuchung des tatsächlichen éthos (Gewohnheit, Sitte, Brauch), e¯thos (gewöhnlicher Aufenthalt, Wohnsitz, Gewohnheit, Charakter) und nómos (Brauch, Sitte, Gewohnheit, Satzung, Gesetz, Setzweise, Tonart, Gesang, Lied) verwendet.3 Er diente dann auch als Titelteil zweier seiner Abhandlungen zur praktischen Philosophie, der Nikomachischen Ethik und der Eudemischen Ethik – wobei zweifelhaft ist, ob diese Titel von Aristoteles selbst stammen oder eine Hinzufügung späterer Herausgeber seiner Werke darstellen. Die Geschichte der Philosophie hat Hunderte von „Ethiken“ hervorgebracht. Bentham und Kant verwenden dann am Ende des 18. Jahrhunderts den Ausdruck zwar nicht mehr im Titel, perpetuieren die klare Unterscheidung zwischen primärer Normierung und sekundärer Beschreibung bzw. Begründung dieser Normierung in ihren Werktiteln aber durch die Vorschaltung von „Prinzipien“ (bei Bentham: Introduction to the Principles of Morals and Legislation) bzw. „Metaphysik“ (bei Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). Kant betont überdies am Anfang seiner Schrift, dass die alte griechische Einteilung der Philosophie in Physik, Ethik und Logik „vollkommen angemessen“ sei und man „an ihr nichts zu verbessern“ habe, „als etwa nur das Prinzip derselben hinzu zu thun“.4 Man mag sich fragen, warum beide „Ethik“ dann nicht auch in ihre Titel aufnahmen? Vermutlich wollten sie die Neuheit ihrer Konzeptionen betonen, sich also vor allem von der aristotelischen Glücks- und Tugendethik abgrenzen. Henry Sidgwick wählt dann 1874 wieder den Titel The Methods of Ethics und Max Scheler 1913 Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik. Beide kehren also zum klassischen Ausdruck „Ethik“ im Titel zurück. Eine Abgrenzung zur antiken Glücks- und Tugendethik war offenbar nicht mehr nötig oder vielleicht auch nicht gewollt. Heute werden vereinzelt in der Alltagssprache und sogar in wissenschaftlichen Untersuchungen die Begriffe Ethik und Moral nicht mehr klar getrennt.5 Das erscheint aber sowohl begriffs- und worthistorisch – wegen der mit der griechischen Unterscheidung von éthos, e¯thos sowie nómos und ta ethika sowie der lateinischen Unterscheidung von mos (Sitte, Gewohnheit, Brauch) und philosophia de moribus6 bzw. philosophia

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Aristoteles, Metaphysik, 987b1. Es finden sich auch noch „ethische Theorie“ (ethikes theorias, Analytica Posteriora 89b9), „in ethischen Büchern“ (en tois ethikois, Politik 1261a31) und „ethische Beschäftigung / Abhandlung / Ange­legenheit“ (ethike pragmateia, Magna Moralia 1181b28). Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants gesammelte Schriften, hg. von der ­Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademieausgabe), Berlin 1902 ff., Nachdr. 1968, S. 387. Vgl. Simon Blackburn, Ruling Passions, Oxford 1998, S. 2; Svend Andersen, Einführung in die Ethik, 2. Aufl. Berlin 2005, S. 2; Richard B. Brandt, Ethical Theory. The Problems of Normative and Critical Ethics, Englewood Cliffs 1959, S. 2 Fn. Marcus Tullius Cicero, De Fato 1, 1.

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Einleitung

moralis erreichten Differenzierung – als auch sachlich – wegen der für jede Form der Suche nach Erkenntnis notwendigen Trennung eben dieser Erkenntnissuche und ihres Objekts – ein Rückschritt im Phänomenverständnis. Jeder unterscheidet etwa die Physik von Materie und Energie oder die Literaturwissenschaft von Romanen, Erzählungen und Gedichten als ihren Erkenntnisgegenständen. Im Übrigen differenzieren wir klar und ohne Zweifel zwischen der Ethik auf der einen Seite und Recht, Religion, Erziehung, Politik, Technik, Medizin, Konventionen usw. als ihren – neben der Moral – übrigen notwendig tatsächlich bestehenden Gegenständen auf der anderen Seite. Warum mit Bezug auf die Moral als einer Recht, Politik usw. vergleichbaren, primären Normenordnung die Unterscheidung zwischen Erkenntnissuche und Erkenntnisobjekt verzichtbar sein soll, ist nicht einzusehen. Die Tatsache, dass die Pflichten der Moral im Gegensatz etwa zu solchen von Recht und Konventionen vom Adressaten auch eine innere Überzeugung fordern, hebt die eingangs erwähnten zentralen Unterschiede zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitscharakter sowie primärer Handlungs- und Einstellungsnormierung und sekundärer Bezugnahme auf diese primäre Handlungs- und Einstellungsnormierung nicht auf. Die Unterscheidung der primären Normordnungen in Moral, Recht, Religion, Erziehung usw. ist Ergebnis eines langen historischen Differenzierungsprozesses der Phänomene, dessen Erkenntnis nicht durch die Verwechslung von Ethik und Moral verdunkelt werden darf.7 Der Grund für die gelegentlich anzutreffende Ersetzung des Ausdrucks „Moral“ durch den Ausdruck „Ethik“ in der Sprache des Alltags dürfte in der allgemeinen Tendenz mancher gegenwärtiger Sprecher zum vermeintlich Besseren, Höheren und Wichtigeren liegen. Immobilienmakler preisen als Teil eines durchsichtigen Marketings heute nicht mehr „Häuser“, sondern „Wohnresidenzen“ an. Da dem Ausdruck „Moral“ immer das Hand­lungs­beschränkende, das „Moralinsaure“ kategorischer Pflichten anhaftet, versuchen manche mit dem Ausdruck „Ethik“ mehr Reflexion, Verständnis und Bejahung zu suggerieren – eine Verwirrung des Sprachgebrauchs in Kauf nehmend. Warum auch in wissenschaftlichen Untersuchungen zum Teil nicht mehr zwischen „Moral“ und „Ethik“ unterschieden wird, lässt sich nur vermuten. Ein Faktor mag neben dem immer weiter fortschreitenden Szientismus der zunehmende Einfluss der angelsächsischen Sprache und Begrifflichkeit sein. Das Englische kennt den Unterschied zwischen „moral(s)“ und „morality“, welcher im Deutschen nicht einfach reproduzierbar ist. Während „moral(s)“ dem deutschen „Moral“ vergleichbar nur primäre Verpflichtungen bzw. Verpflichtungsordnungen ausdrücken kann und einen Plural kennt, hat „morality“, das wie „Ethik“ nicht im Plural stehen kann („Ethiken“ ist nur eine Abkürzung für die verschiedenen ethischen Theorien einzelner Autoren oder einzelne Bereichsethiken), schon eine stärker sekundäre, das heißt beschreibende und begründende Bedeutung.8

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Vgl. Verf., Über die Begriffe Moral, Recht und Ethik, in: Religion und Ethik als Organisationen? Hg. von Jan Hermelink und Stefan Grotefeld, Zürich 2008, S. 175–193. Langenscheidt, Muret-Sanders, Großwörterbuch Englisch-Deutsch, Berlin 2001, S. 733 f., wo, anders als bei „moral“, bei „morality“ auch „Ethik“ und „Sittenlehre“ als Wortbedeutung angegeben ist.

1. Der Begriff der Ethik

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Darüber hinaus hat sich seit Hobbes sowie Hume und fortgeführt etwa durch Wittgenstein und Ayer im angelsächsischen Raum eine grundsätzliche Skepsis gegenüber normativ-ethi­schen Rechtfertigungen ausgebreitet, was für manche die Beschränkung auf eine Beschreibung oder gar bloße Selbstbeschreibung der Moral nahelegt. Während die externe Beschreibung als deskriptive Ethik zwar reduktiv, aber zumindest möglich erscheint, wäre die bloße Selbstbeschreibung der Moral widersprüchlich und deshalb unmöglich, da die gleich noch näher zu erörternde notwendige Funktion der Moral gerade nicht in der Beschreibung liegt und es auch keinen kollektiven Akteur der Moral gibt, der eine solche Beschreibung durchführen könnte. Während der Begriff der Ethik in der Tradition von Aristoteles bis ins 19. Jahrhundert die gesamte praktische Philosophie umfasste, wird er heute als Folge der Spezialisierung zumindest im akademischen Kontext verschiedentlich enger verstanden. Die Ethik ist danach lediglich ein Teil der praktischen Philosophie, die etwa noch die Beschreibung und Erklärung von Handlungen, Entscheidungen, Gefühlen, Einstellungen und Wertungen, also die Handlungstheorie, die Entscheidungstheorie sowie die Theorie der Gefühle, Einstellungen und Wertungen umfasst. Diese sind im Grunde genommen theoretische Untersuchungen praktisch relevanter Eigenschaften des Menschen, das heißt praktischer Tatsachen im weiteren Sinn, auf die sich die Bewertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen der Moral, des Rechts, der Politik usw., also die Gegenstände der Ethik bzw. praktische Tatsachen im engeren Sinne wertend und verpflichtend beziehen, von denen sie ihrerseits aber auch beeinflusst werden. Untersuchungen dieser praktischen Tatsachen im weiteren Sinne sind regelmäßig deskriptiv bzw. erklärend-rekonstruktiv und nicht recht­fertigend-normativ, jedenfalls nicht in einem engeren kategorischen, sondern allenfalls in einem rationalitätstheoretisch-hypo­thetischen Sinn. Für kategorisch-normative Rechtfertigungen besteht kein Grund, weil diese Gegenstände anders als viele Normen der Moral, des Rechts, der Religion und der Erziehung nicht kategorisch verpflichten. Aber die Verbindungen zwischen den praktischen Tatsachen im engeren und im weiteren Sinn sind so eng, dass jede strikte Trennung problematisch ist.

c) Subdisziplinen der Ethik Die Ethik lässt sich wenigstens in zwei Richtungen weiter differenzieren: Sie kann zum Ersten im Hinblick auf die Teile ihres Gegenstands unterschieden werden. Sie richtet sich dann jeweils auf einzelne der erwähnten primär handlungsleitenden Normordnungen. Als Ethik der Moral bzw. Moralphilosophie (Ethik im engsten Sinn) bezieht sie sich etwa auf die Moral, als Rechtsethik auf das Recht, als Ethik der Religion auf religiöse Normen, als Ethik der Erziehung auf die Erziehung, als politische Ethik auf die Politik, als Technikethik auf die Technik, als Medizinethik auf die Medizin, als Ethik der Konventionen auf konventionelle Regeln und Bewertungen und schließlich als Ethik des guten bzw. glücklichen Lebens auf Einsichten guter Lebensführung. Man fasst diese Teilbereiche der Ethik unter den Bezeichnungen „Angewandte Ethik“, „Praktische Ethik“ oder „Bereichsethiken“ zusammen.

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Einleitung

Metaethik

Ethik

Ethik der Moral Rechtse. relig. E. Erze. pol. E. Technike. Medizine. konv. E. E. d. g. Lebens

Moral Recht Religion Erziehung Politik Technik Medizin Konvention gutes Leben ...

Innerhalb dieser Gegenstandsdifferenzierung lassen sich notwendig Andere betreffende und nicht notwendig Andere betreffende Normordnungen gruppieren: Fragen der Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung und der Politik setzen notwendig die Betroffenheit Anderer voraus. Fragen der Medizin als solche sowie der Technik, der Konventionen und des guten Lebens usw. setzen nicht notwendig die Betroffenheit Anderer voraus, weil es ja auch medizinische, technische und konventionelle Gestaltungen geben kann, die nur den Anwender betreffen. Es handelt sich um Normen- bzw. Überzeugungsordnungen, die sich auf die eigenen Ziele, Wünsche und Bedürfnisse beschränken können. Innerhalb dieser Gegenstandsdifferenzierung kann man weiterhin notwendig kategorisch verpflichtende Normordnungen und nicht notwendig kategorisch verpflichtende Normordnungen unterscheiden. Kategorisch sind Normen, die konkret zustimmungs­ unabhängig Akzeptanz oder Befolgung fordern. Hypothetisch sind dagegen Normen, bei denen die Forderung nach Akzeptanz oder Befolgung von der konkreten Zustimmung des Verpflichteten abhängt. Moral, Recht, Religion, Erziehung und Politik enthalten notwendig auch kategorische Normen und sind deshalb kategorische Normordnungen. Bei der Medizin, Technik und den Konventionen hängt dies von der konkreten Ausgestaltung ab. Während etwa Ärzte früher häufig kategorische Βefolgung forderten, ist heute in jedem Fall die aufgeklärte Zustimmung des Patienten notwendig. Die Ethik kann zum Zweiten im Hinblick auf ihr Erkenntnisziel eingeteilt werden. Man kann das Ziel der Beschreibung und Erklärung von dem der Bewertung und Verpflichtung bzw. normativen Kritik und Rechtfertigung unterscheiden, wobei die Bewertung und Verpflichtung auf der Beschreibung und Erklärung aufbauen.9 Somit gäbe es eine deskri­ptive, eine evaluative und eine präskriptive Ethik. Die beiden letzteren Formen werden allerdings regelmäßig – so auch hier – unter dem allgemeineren, wenn auch we-

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Zur Unterscheidung dieser drei sprachlichen Grundfunktionen: Verf., Deskription, Evaluation, Präskription, Berlin 1993.

1. Der Begriff der Ethik

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niger präzisen Begriff der normativen Ethik zusammengefasst, so dass sich die deskriptive und die normative Ethik gegenüberstehen. Hinsichtlich der ersten Art der Differenzierung, also des Rekurses auf Teile des Gegenstands der Ethik, ist der vorliegende Versuch grundsätzlich ein allgemeiner, das heißt prinzipiell auf alle primären Normordnungen bezogener, wobei aber eine Konzentration auf die notwendig auf Andere bezogenen und kategorischen Normordnungen der Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung und der Politik stattfindet (Ethik im objektbezogen engeren Sinn). Im Hinblick auf die zweite Art der Differenzierung, also mit Rekurs auf das Erkenntnisziel, ist er ein solcher der normativen Ethik. Im Vordergrund steht somit das Ziel der normativen Kritik und Rechtfertigung von primären Normordnungen, nicht ihre Beschreibung und Erklärung bzw. Rekonstruktion, wobei die Beschreibung und Erklärung wie gesagt im Prinzip notwendige Bedingung jeder normativen Kritik und Rechtfertigung ist. Allerdings erfordert die wissenschaftliche Untersuchung der Vielzahl und Vielgestaltigkeit der primären Normordnungen eine weitere pragmatische Auswahl. Da die Moral gegenüber dem Recht, der Religion, der Erziehung und der Politik die am wenigsten von weiteren sozialen Gestaltungen und Institutionen abhängige Form der Regelung unseres Verhaltens ist, wird die normative Ethik in dieser Untersuchung zunächst modellhaft auf die Moral bezogen. Aber weil Recht, Religion, Erziehung und Politik der Moral in den wesentlichen Hinsichten des notwendigen Bezugs auf Andere und der Kategorizität ähneln, ist die Ethik der Moral auf diese weiteren primären Normordnungen relativ leicht erweiterbar. Das Verständnis des Bezugs der Ethik auf die Moral als derart modellhaften Gegenstand ermöglicht also auch die Einsicht in die Ethik des Rechts und der Politik. Die Religion ist auch kategorisch, aber letztlich transzendent und deshalb vollkommen anders zu rechtfertigen. Die Erziehung enthält auch kategorische Elemente, setzt aber spezielle Einsichten in die Entwicklungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen voraus. Technik, Medizin, Konventionen und Ratschläge des guten bzw. glücklichen Lebens sind dagegen heute regelmäßig nicht kategorisch verpflichtend, sondern nur hypothetisch bzw. empfehlend und bedürfen deshalb keiner starken normativen Begründung, sondern nur einer schwachen Untersuchung der Zweckmäßigkeit ihrer Normen.

d) Die Moral Mit dem bloßen Ziel der Beschreibung und Erklärung kann die Moral ebenso wie die anderen primären Normordnungen nicht nur Gegenstand der deskriptiven Ethik, sondern auch Gegenstand anderer Wissenschaften sein, etwa der Soziologie, der Geschichte, der Ethnologie, der Anthropologie oder der Psychologie, je nachdem, welches Untersuchungsziel in den Vordergrund gerückt wird.10 Man könnte vielleicht noch 10 Vgl. Edward Westermarck, The Origin and Development of the Moral Ideas, 2 Bde., Nachdr. der 2. Aufl., London 1912 / 17; Hartmut Kliemt, Moralische Institutionen. Empiristische Theorien ihrer Evolution,

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Einleitung

weitergehend behaupten, dass die deskriptive Ethik nichts anderes als Soziologie, Geschichte, Ethnologie, Anthropologie oder Psychologie der Moral ist, also gar kein philosophisches, sondern vielmehr ein einzelwissenschaftliches Unternehmen. Warum ist das so? Vermutlich weil die bloße Beschreibung, anders als die Normierung, welche ja die Beschreibung einschließt, keine umfassende und damit philosophische Perspektive auf einen Gegenstand entwirft. Die Moral ließe sich also zumindest im Rahmen einer reinen Beschreibung und Erklärung unabhängig von der normativen Ethik untersuchen und darstellen. Weil aber der hauptsächliche Gegenstand und das Ziel der vorliegenden Untersuchung die normative Ethik ist, wird hier auf eine nähere Erörterung der Moral jenseits dieser normativ-ethischen Per­spektive verzichtet. Da für den Fortgang der Überlegungen unentbehrlich, muss jedoch eine tentative Präzisierung des Phänomens bzw. Begriffs der Moral und damit eine Abgrenzung zu anderen primären Normordnungen vorgeschlagen werden, ohne diesen Präzisierungsvorschlag hier näher erläutern oder rechtfertigen zu können:11 Moral bzw. Sitte ist danach die wirkliche, das heißt in einer konkret realisierten Gesellschaft, also in Raum und Zeit, bestehende Gesamtheit oder Teilgesamtheit von primären Wertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen, die vor allem folgendem Ziel dienen: zwischen wenigstens potentiell divergierenden und damit konfligierenden Lebensvorstellungen zu vermitteln, um unsere Einstellungen und unseren Charakter sowie unser Entscheiden und Handeln zu beurteilen und zu lenken.12 Von anderen, einem ähnlichen Ziel dienenden primären Normordnungen unterscheidet sich die Moral durch folgende weitere spezifische Mittel und Sekundärziele: –– Erstens enthält die Moral wie Recht, Religion, Erziehung und Politik auch Pflichten, das heißt Gebote und Verbote, und weitergehend kategorische Pflichten,13 nicht nur hypothetische, also nicht bloße Empfehlungen und Wertungen im Allgemeinen, wie die Regeln der Technik und der Medizin, die allgemeinen Empfehlungen und Gewohnheiten der Konventionen und die Ratschläge des guten Lebens. Moral, Recht, Religion, Erziehung und Politik unterscheiden sich also von anderen Norm­ ordnungen wesentlich durch ihre Kategorizität. Dieses Erfordernis schließt nicht aus, dass der Verpflichtete konkret oder abstrakt tatsächlich zustimmt oder abstrakt Freiburg 1985; Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M. 1995; Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a. M. 1996. 11 Zu Kennzeichen der Moral: Günther Patzig, Moral und Recht, in: ders., Ethik ohne Metaphysik, 2. Aufl. Göttingen 1983, S. 7–31, S. 9 ff.; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2. Aufl. Berlin 2007, S. 8 ff. 12 Zur Annahme, dass die Moral widerstreitende Gesichtspunkte bzw. soziale Probleme zu lösen hat: Richard B. Brandt, Ethical Theory, S. 89 ff., 258. Auf den Kampf um limitierte Ressourcen und den Ausgleich fehlender Sympathie verengend: John L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, London 1990, S. 111. Gegen ein einheitliches Ziel der Moral dann aber Richard B. Brandt, A Theory of the Good and the Right, Neuauflage, Amherst 1998, S. 184. 13 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 414–420; Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, Indianapolis 1981, S. 3, 391; Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt a. M. 1975, S. 257 ff.

1. Der Begriff der Ethik

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zustimmen können müsste. Es schließt auch nicht aus, dass derartige Verpflichtungen notwendig zu begründen sind und von anderen Bedingungen als der konkreten Zustimmung des Betroffenen abhängen. –– Zweitens normiert die Moral nicht allein durch äußere, von anderen gesetzte und formale Regelungen wie das Recht (verstanden als positives Recht), sondern auch mittels innerer Wertungen und Verpflichtungen.14 –– Drittens dient die Moral nicht zur zumindest partiell transzendenten Konstitution und Anleitung einer kultisch-religiösen Praxis wie die Religionen, die allerdings häufig sehr viel komplexer sind und als umfassendes soziokulturelles Phänomen auch allgemeine und damit genuin moralische Normen enthalten können. –– Viertens dient die Moral nicht hauptsächlich der Entwicklung noch nicht voll einsichtsfähiger Menschen und anderer Lebewesen wie die Erziehung. Wirklich bestehende Normen bzw. Wertungen der Moral sind in vielen Gesellschaften zum Beispiel das Tötungsverbot, das Folterverbot, das Verletzungsverbot, das Lügenverbot, das Verleumdungsverbot, das Hilfsgebot in Notlagen, das Fairnessgebot sowie die Tugenden und damit positiven Bewertungen der Klugheit, Stärke, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Friedfertigkeit, Hilfsbereitschaft, Wohltätigkeit, Großzügigkeit usw. Eine bloße Konvention wäre dagegen die in der westlichen Welt vielfach als nor­ mativ verbindlich akzeptierte Regel, beim Essen nicht zu schmatzen. Diese kulturabhängige Konvention gilt offenbar in manchen Teilen Asiens nicht. Ein Asiate könnte bei einer Essenseinladung durch einen Europäer eine Befreiung von dieser europäischen Konvention erbitten, etwa weil er mangels Übung nicht in der Lage sei, sie einzuhalten, oder weil ihm das Essen im Falle der Einhaltung dieser Regel keine Freude bereite. Die Begründetheit dieser Bitte zeigt, dass ihre Verpflichtungskraft von seiner konkreten Zustimmung abhängt, die Konvention also nicht kategorisch verpflichtet. Er könnte dagegen sicherlich keine Befreiung vom allgemeinen Tötungsverbot in An­spruch nehmen, weil dessen Verpflichtungskraft nicht von seiner konkreten Zustimmung abhängt, also kategorisch wirkt. Die Politik nimmt gegenüber Moral, Recht, Religion und Erziehung insofern einen gewissen Sonderstatus ein, als es bei ihr nicht auf den spezifischen Regelungstyp, sondern auf eine Eigenschaft des Handelnden ankommt, nämlich auf die Eigenschaft, als Vertreter einer repräsentierenden Gemeinschaft mit dem realistischen Anspruch auf Letztentscheidung zu handeln (vgl. Kapitel XV).15 Die Politik kann sich deshalb mit allen anderen spezifischen Normierungstypen verbinden. Sie kann moralisch, recht­lich, religiös oder erzieherisch regeln. Bei manchen zeitgenössischen Theoretikern findet sich die häufig nicht näher begründete Annahme, dass das Ziel bzw. die „soziale Funktion“ der Moral die Verbesserung oder wenigstens Erhaltung des „Wohlergehens“ (well-being) und „Wachsens“ 14 Vgl. Verf., Was ist Recht? Ziele und Mittel, Juristenzeitung 2008, S. 641 ff. 15 Zu diesem Verständnis von Politik: Verf., Politik und Recht als Repräsentation, in: Jan Joerden / Roland Wittmann (Hg.), Recht und Politik, Stuttgart 2004, S. 51–73.

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Einleitung

(flourishing) der Menschen und anderen Lebewesen sei.16 Das Zweifelhafte dieser Annahme liegt darin, dass sie bereits eine Wohlfahrtsorientierung der Menschen und damit einen gewissen antiindi­vi­dua­listischen Konsequentialismus impliziert, welche für eine bloße Phänomenbeschreibung der Moral nicht überzeugen können (vgl. Kapitel III). So sind etwa religiöse Moralen häufig nicht wohlfahrts-, sondern jenseitsorientiert. Der modernen Ethik ist im Übrigen verschiedent­lich eine zu starke Konzentration des Moralverständnisses auf Pflichten, Normen und das Sollen vorgeworfen worden.17 Wie hoch der faktische Anteil von Bewertungen und Normen ist, kann aber als kontingente Tatsache dahinstehen. Dahinstehen kann auch die weiterführende deskriptiv-phänomenale Frage, worin die Wirklichkeit der Moral genau besteht, etwa in ihrer Befolgung oder in ihrer Akzeptanz, das heißt in ihrer Internalisierung, oder in beidem, und ob Sanktionen zur Förderung ihres Zieles der Konfliktvermittlung und zur Sicherung von Befolgung oder Akzeptanz eine Rolle spielen. Was die Grundlage der kategorischen Verpflichtungskraft der Moral ist, ob sie nur auf einer Metanorm beruht oder sachlich oder gar ontologisch-metaphysisch begründet ist, kann hier ebenfalls offen bleiben. Im Rahmen des schon angekündigten metaethischen Exkurses wird der Zusammenhang zwischen der Kategorizität von auf Andere bezogenen primären Normordnungen und der Objektivität ihrer normativ-ethischen Begründung näher untersucht werden. Die notwendige Kategorizität von Moral, Recht, Religion, Erziehung und Politik scheint mit dem gemeinsamen Ziel aller dieser Norm­ ordnungen zusammenzuhängen, zwischen wenigstens potentiell divergierenden und damit konfligierenden Lebensvorstellungen unterschiedlicher Akteure zu vermitteln,18 während Technik, Medizin, Konventionen und Ratschläge des guten Lebens auch und vor allem die widerstreitenden Belange ein und desselben Akteurs ins Verhältnis setzen und Empfehlungen aussprechen. Wegen der Freiheit des Akteurs, diese Empfehlungen anzunehmen oder zu verwerfen, brauchen letztere die Normrealisierung nicht mittels kategorischer Verpflichtungen zu garantieren. Die Eigenschaft der Kategorizität bedingt zwei weitere Merkmale der Moral, welche immer wieder festgestellt wurden, für die Moral aber nicht spezifisch sind, da sie auch bei Recht, Religion, Erziehung und Politik vorkommen:19 ihre Allgemeinverbindlichkeit und ihr Anspruch auf Rechtfertigung: Weil die Normen und Werte der Moral notwendig auch kategorisch verpflichten, also nicht von der konkreten Zustimmung des jeweils Verpflichteten abhängen, können sie sich – ihre abstrakte sprachliche Fassung vorausgesetzt – an alle Personen mit gleichen Eigenschaften in allen Situationen richten, also allgemein verpflichten. Die Allgemeinverbindlichkeit ist allerdings praktisch sekundär gegenüber der Kategorizität, weil 16 Mark Timmons, Morality without Foundations, S. 88 f. 17 G. E. M. Anscombe, Modern Moral Philosophy, in: dies., Ethics, Politics and Religion (The Collected Philosophical Papers of G. E. M. Anscombe, Vol.  3), Minneapolis 1981, S.  26–42; Michael Stocker, Plural and Conflicting Values, Oxford 1990, S. 2, 95 ff. 18 Zum Ausschluss von Pflichten gegen sich selbst aus einer säkularen Moral siehe Kapitel VIII. 19 Vgl. etwa Norbert Hoerster, Was ist Moral? Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2008, S. 13–18.

1. Der Begriff der Ethik

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nur die Kategorizität als Mittel zur Erreichung des Ziels der Lösung konkreter Konflikte notwendig ist, nicht aber die Allgemeinverbindlichkeit. Ob auch andere Personen in anderen vergleichbaren Situationen ähnlich handeln (sollen), kann demjenigen, der eine Moralnorm in einer bestimmten Situation äußert oder vernimmt, gleichgültig sein. Die Allgemeinverbindlichkeit der Moral ist also regelmäßig lediglich eine nichtbeabsichtigte Folge ihrer Kategorizität. Und weil die Normen und Werte der Moral kategorisch sind, also nicht von der konkreten Zustimmung des jeweils Verpflichteten abhängen, erheben sie diesem gegenüber häufig einen Anspruch auf Rechtfertigung, welche die aus Respekt vor dessen Autonomie prinzipiell notwendige Zustimmung ersetzen kann. Auch diese Folge ist ein nichtbeabsichtigtes Resultat der Kategorizität, denn für denjenigen, der eine Moralnorm äußert, ist ein implizit erhobener Anspruch auf Rechtfertigung kein notwendiges Mittel zur Erreichung des Vermittlungszwecks der Moral. Allerdings wird dieser Vermittlungszweck der Moral durch einen gegenüber dem Verpflichteten über­zeugend erhobenen Anspruch auf Rechtfertigung naturgemäß erheblich befördert werden.

e) Die Metaethik In der akademischen Philosophie hat sich, beginnend in der Neuzeit mit Hobbes, Des­ cartes u. a. und dann im 20. Jahrhundert vor allem seit G. E. Moores Principia Ethica von 1903, die Metaethik zunehmend von der Ethik verselbständigt und  – allerdings nicht ohne signifikante Gegenbewegungen – mehr und mehr in den Vordergrund geschoben, etwa mit Moores Leitfrage, was „das Gute“ sei.20 Dabei ist der durch die Metaethik erzielte Gewinn an Reflexionstiefe bedeutsam und begrüßenswert. Der Verlust an normativer Relevanz derartiger metaethischer Unter­su­chungen für die ethische Kritik und Rechtfertigung der primären Normordnungen ist allerdings der dafür zu entrichtende, hohe Preis. Für manche ist die Metaethik wohl nicht ganz zu Unrecht gar keine Subdisziplin der praktischen Philosophie, sondern eine der theoretischen Philosophie. Der Ausdruck „Metaethik“ ist im Übrigen unpräzise, denn er suggeriert, dass man sich nur auf die Ethik und nicht auch auf die Relation zu deren Gegenständen bezieht. Viele Theoretiker machen aber gar keinen deutlichen Unterschied oder richten ihre Überlegungen ohne weitere Diskussion auf die Moral, ohne zu realisieren, dass dann die Unterscheidung zwischen deskriptiver Ethik und Metaethik zu kollabieren droht.21 Der allgemeine Zug zur tertiären Ebene der Metaethik impliziert im Übrigen eine Art 20 Vorrang der Metaethik zum Beispiel bei: Richard B. Brandt, Ethical Theory; Michael Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 2003. Gegenbewegungen: John Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1973, und die zunehmend normativ-ethischen Bücher von Richard M. Hare, Freedom and Reason, Oxford 1963, und Moral Thinking. Its Levels, Method and Point, Oxford 1981. Die Bücher von William K. Frankena, Ethics, und Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, sind dagegen normativ-ethisch ausgerichtet. 21 Nico Scarano, Moralische Überzeugungen, Grundlinien einer antirealistischen Theorie der Moral, Paderborn 2001, S. 11; Gerhard Ernst, Die Objektivität der Moral, Paderborn 2008, S. 9 f.

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Einleitung

disziplinären Rationalismus und Deduktivismus der Abstraktion, also eine disziplinäre top-down-Haltung, die ihrerseits gegenüber einem Empirismus und Induktivismus, also einer disziplinären bottom-up-Haltung, mit einem Ausgangspunkt der ethischen Erkenntnis in den praktischen Tatsachen keinen apriorischen Vorrang beanspruchen kann. Nach der hier vertretenen Ansicht lässt sich ein derartiger disziplinärer Rationalismus und Deduktivismus nicht von vornherein rechtfertigen. Den Vorzug verdient vielmehr eine Kohärenz der Überzeugungen auch zwischen diesen disziplinären Ebenen, also ein Erkenntnismodell, das deduktive und induktive Elemente verbindet.22 Die vorliegende Untersuchung ist deshalb nicht nur aus praktischen Gründen der zeitlichen und räumlichen Beschränkung, sondern auch aus sachlich-methodischen Über­zeu­gun­ gen eine primär normativ-ethische. Eine von der Ethik isolierte Metaethik, die sich nur noch indirekt und hypothetisch oder in rationalistisch-deduktiver Manier auf die Ethik und ihre Gegenstände bezieht, kann nicht wirklich fruchtbar unabhängig von einer entfalteten normativen Ethik betrieben werden. Um sich aber auf die normative Ethik und ihre Gegenstände als Erkenntnisobjekt der Metaethik zu beziehen, ist es erforderlich, die normative Ethik erst einmal näher zu untersuchen. Sie kann nicht von vorn­ herein, a priori und quasi aus dem Lehnstuhl von der Meta­­ethik begrenzt und bestimmt werden. Wie eine Wissenschafts­theorie, die es versäumt, als Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie auch die empirische Wissenschaft in den Blick zu nehmen und somit nur über sie phantasiert, ist auch eine Metaethik, die sich nicht auf eine tatsächlich entfaltete oder zumindest mit guten Argumenten als mögliche Entfaltung vorgeschlagene normative Ethik bezieht, methodisch fragwürdig.

2. Theorien der normativen Ethik Zur Rechtfertigung moralischer, aber auch rechtlicher und sonstiger primärer Normen haben sich im Verlauf der Entwicklung der normativen Ethik vier große rivalisierende Theoriefamilien herausgebildet.

a) Vier große Theoriefamilien Im historischen Rückgang, das heißt angefangen bei der jüngsten, lassen sich diese vier großen Theoriefamilien der Ethik folgendermaßen charakterisieren: Die Vertragstheorie (Kontraktualismus) sieht den hypothetischen Vertrag als Kern der normativen Ethik und damit als Quelle moralischer und sonstiger Normen und Bewertungen an, der Utilitarismus bzw. Konsequentialismus und die teleologische Ethik den größten Nutzen aller oder, genereller, die besten Konsequenzen, die deontologische Ethik mit dem Kantianismus als Hauptversion die Befolgung unserer Pflichten, die Tugendethik schließlich die 22 Verf., Für eine Kohärenz normativer Überzeugungen ohne Fundierung in Konventionen, im Erscheinen. Vgl. Kapitel VI.

2. Theorien der normativen Ethik

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Tugenden (wobei sie allerdings nicht immer klar zwischen normativer Ethik der Moral und Theorie des guten Lebens unterscheidet, sich also auf beide Bereiche bezieht).23 Daneben findet sich eine unübersehbare Menge mittlerer und kleinerer Ethiktheorien, etwa die Mitleidsethik, die Diskursethik, die Ethik der Sorge (care ethics), die Klugheitsethik (Prudentialismus).24 Schließlich werden gelegentlich auch Versuche der Hybridisierung zweier oder mehrerer dieser Theorien unternommen. Wie soll man sich angesichts dieser Vielzahl erheblich unterschiedlicher Vorschläge der normativen Ethik entscheiden? Vier Reaktionsmöglichkeiten liegen auf den ersten Blick nahe, die zum besseren Verständnis des hier eingeschlagenen Wegs einleitend kurz erwähnt werden sollen, ohne dass sie näher untersucht werden können, da dies Aufgabe der Metaethik, genauer einer Wissenschaftstheorie ethischer Theorien ist: ein Monismus, Relativismus, Partikularismus oder Skeptizismus der Theoriewahl.25 Ein Monismus der Theoriewahl entscheidet sich für eine dieser Theorien und versucht sie gegen die Einwände anderer Theorien zu verteidigen. So verfahren etwa manche Utilitaristen, Kantianer und Tugendethiker. Diese Strategie erscheint im Falle der normativen Ethik angreifbar, weil  – so die hier quasi-axiomatisch zu Grunde gelegte und natürlich weiter erläuterungs- und begründungsbedürftige Auffassung – zentrale Elemente zumindest der vier großen Theoriefamilien wesentliche Gesichtspunkte einer begründeten normativen Ethik bilden. Dies gilt sowohl für die Notwendigkeit der wenigstens potentiellen Zustimmung der Betroffenen (Vertragstheorie), etwa in der Medizin­ethik, als auch für das Maximierungsprinzip (Utilitarismus) und die Konsequenzen, etwa bei manchen Entscheidungen mit umfangreichen äußeren oder gesellschaftlichen Auswirkungen, sowie für das Prinzip der möglichen Verallgemeinerung einzelner Pflichten (Deontologie) in Fällen, in denen ein Handeln eine gemeinschaftliche Praxis zugleich voraussetzt und negiert, wie bei der Lüge oder dem falschen Versprechen, und schließlich auch für die Tugenden (Tugendethik), etwa in der Individualethik persönlicher Beziehungen. Ein Relativismus der Theoriewahl bezieht die Ethik auf einzelne, potentiell divergierende Quellen der theoretischen Rechtfertigung in unterschiedlichen praktischen Tatsachen. 23 Zur Kritik der deontologisch-teleologisch-Unterscheidung vgl. Verf., Die fünf Strukturmerkmale normativ-ethischer Theorien, in: Georg Meggle (Hg.), Analyomen 2, Proceedings of the 2nd Conference „Perspectives in Analytical Philosophy“, Vol. III, Berlin 1997, S. 306–315. 24 Zu drei der vier Haupttheorien: Marcia W. Baron / Philip Pettit / Michael Slote, Three Methods of Ethics: A Debate, Malden 1997. Vgl. auch die vier Bände von Stephen Darwall (Hg.), Consequentialism; Contractarianism / Contractua­lism; Deontology; Virtue Ethics, alle Malden, MA, 2003. Zur Mitleidsethik: Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 3. Aufl. Zürich 1994. Zur Diskursethik: Karl-Otto Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft, in: ders., Transformation der Philosophie II, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 358–435; Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1988; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1992. Zur Care-Ethik: Virginia Held, Feminist Morality. Transforming Culture, Society, and Politics, Chicago u. a. 1993. Zum Prudentialismus: Christoph Lumer, Rationaler Altruismus. Eine prudentielle Theorie der Rationalität und des Altruismus, Osnabrück 2000. 25 Weitere Möglichkeiten wären ein Eklektizismus und ein Pragmatismus.

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Einleitung

Die Folge dieser relativistischen Bezugnahme wäre, dass mehrere oder sogar alle Theorien der Ethik gerechtfertigt erschienen,26 dass also kein einziger letzter Standard der Kritik und Rechtfertigung der Moral angenommen werden könnte. Dadurch werden Widersprüche in der Bewertung der Moral seitens der Ethik möglich. Das kann im Extremfall dazu führen, dass keine konsistente Stellungnahme der Ethik zu moralischen Streitfragen mehr gelingt, welche wir aber allgemein und relativ unangefochten voraussetzen. Ein Partikularismus der Theoriewahl kritisiert die Allgemeinheit bzw. Abstraktheit aller ethischen Theorien und die Akzeptabilität ethischer Prinzipien schlechthin. Er plädiert für konkrete, situative Konfliktlösungen.27 Die dadurch mögliche Annahme, in moralisch vergleichbaren Situationen könnten unterschiedliche moralische Normen bestehen, begrenzt aber unsere kognitiven Möglichkeiten der Abstraktion und Vereinheitlichung ohne Grund und bringt die Moralphilosophie auf diese Weise in einen Gegensatz zu anderen Wissenschaften, ja zum Faktum rationaler Erkenntnis schlechthin, welches eine derartige Begrenzung der Abstraktion und Vereinheitlichung nicht akzeptiert. Ein Skeptizismus der Theoriewahl sieht schließlich im Pluralismus der ethischen Theorien eine Recht­­­fertigung für die Annahme, eine normative Ethik sei grundsätzlich unmöglich. Aber eine derartige Folgerung ist natürlich nicht gültig, weil jederzeit bisher nicht bedachte Theorievorschläge zu einer überzeugenden normativen Ethik führen könnten.

b) Eine Lösung Es gibt aber wenigstens noch eine weitere, aus der hier eingenommenen Sicht vorzugswürdige Art und Weise, um auf die Vielzahl der normativ-ethischen Theorien der Moral zu reagieren und zu einer begründeten normativen Ethik zu gelangen. Sie lässt sich als „phänomenal“ sowie „analytisch-synthetisch“ charakterisieren. Man kann sich erstens wieder mehr auf die Sachfragen konzentrieren und die in der modernen Philosophie immer mehr die Sachfragen überwuchernde Diskussion von Theorien über Theorien mit ihrem zunehmenden Selbstzweck- und Betriebscharakter in den Hintergrund treten lassen. Man kann zweitens komplementär dazu die bisher vorgeschlagenen Theorien in ihre einzelnen Bestandteile analysieren sowie zum einen mit den Bestandteilen anderer Theorien vergleichen und zum anderen im Hinblick auf die Sachfragen bewerten.28 Dazu können, soweit erforderlich, etwa aus unseren allgemeinen moralischen und 26 Vgl. Klaus-Peter Rippe, Ethischer Relativismus, Paderborn 1993; Gilbert Harman / Judith Jarvis Thompson, Moral Relativism and Moral Objectivity, Oxford 1996; Thomas M. Scanlon, What We Owe To Each Other, Cambridge 1998, Kapitel 8, S. 328 ff. 27 Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy; Bernward Gesang, Kritik des Partikularismus, Paderborn 2000; Jonathan Dancy, Ethics without Principles (ohne klare Unterscheidung zwischen Moral und Ethik). Zur Kritik: Sean McKeever / Michael Ridge, Principled Ethics. Generalism as a Regulative Ideal, Oxford 2006. 28 Zu einer ähnlichen Verbindung einzelner Theorieelemente: Günther Patzig, Der Kategorische Imperativ in der Ethik-Diskussion der Gegenwart, in: ders., Ethik ohne Metaphysik, 2.  Aufl. Göttingen 1983, S. 164 und passim; ders., Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine

3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik

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ethischen Überzeugungen, weitere oder veränderte Elemente treten. Diese bekannten Theoriebestandteile und neuen Elemente können dann zu einer weiterentwickelten normativen Ethik synthetisiert werden. Der Analyse-, Vergleichs- und Syntheseprozess hat als solcher keine ethische Begründungskraft und soll deshalb nicht in Einzelheiten nachgezeichnet werden. Von einigen gelegentlichen Bezugnahmen abgesehen wird hier deshalb nur sein Ergebnis vorgestellt und begründet. Dieses besteht in fünf Elementen einer adäquaten normativen Ethik, die in den ersten fünf Kapiteln dieses Buches erläutert werden. Daran schließt sich wie erwähnt ein Kapitel der metaethischen Reflexion an. Die folgenden Kapitel dienen dazu, die in den ersten fünf Kapiteln entfaltete normative Ethik für einzelne Fragen zu konkretisieren: Pflichten und Rechte, Pflichten gegen sich selbst, überpflichtgemäßes Handeln, Handeln für Andere (Paternalismus), moralische Konflikte, Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung, Verhältnismäßigkeit, Sozialethik usw.

3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik a) Fünf Fragen Jede normative Ethik muss wenigstens die folgenden fünf Fragen beantworten: (1) Welche Wesen sind ethisch in letzter Instanz relevant? (2)  Welche Eigenschaften dieser ethisch relevanten Wesen sind normativ entscheidend? (3) Worauf in der Welt bzw. im Akteur beziehen sich diese normativ entscheidenden Eigenschaften? (4) Wie ist der modale Status einer Verbindung dieser Bezugnahmen der normativ entscheidenden Eigenschaften auf die Welt, sofern sie divergieren, das heißt, wie ist der modale Status einer Zusammenfassung dieser Eigenschaften? (5) Wie kann, sofern sie zumindest möglich ist, diese Zusammenfassung der normativ entscheidenden Eigenschaften bzw. Bezugnahmen auf die Welt inhaltlich stattfinden? Die Reihenfolge dieser fünf notwendigen Fragen einer normativen Ethik ist keine beliebige. Die fünf Fragen bauen vielmehr aufeinander auf. Jede ethische Rechtfertigung und Kritik der Moral ähnelt also einem Pfad mit vier Weggabelungen. Man erreicht vom Ausgangspunkt jede der Weggabelungen nur, wenn man die dahin führende Wegstrecke zurückgelegt hat. An jeder Weggabelung muss man sich erneut entscheiden (formale Pfadabhängigkeit). Jede säkulare, das heißt nichtreligiöse normative Ethik muss – so lautet das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung – als Antwort auf diese fünf Fragen wenigstens die folgenden fünf Elemente bzw. Prinzipien enthalten. Erstens: Moralische Normen, Regeln, Bewertungen und Überzeugungen lassen sich in letzter Instanz ausschließlich durch grundsätzlich gleiche Berücksichtigung aller beBedeutung für die Ethik, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. I, Göttingen 1994, S. 72–98, S. 76; Tom L. Beauchamp / James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S. 361 f., passim; William K. Frankena, Ethics, S. 52, 70.

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troffenen Einzelnen rechtfertigen. Das ist das Prinzip des normativen Individualismus, welches den Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen einer adäquat begründeten Ethik bildet. Die hier vorgeschlagene Ethik kann deshalb auch „Ethik des normativen Individualismus“ heißen. Man könnte sie aber auch als eine radikal humanistische bzw. personale Ethik bezeichnen, sofern man damit keine antireligiösen oder antitranszendenten Annahmen verbindet und sich nicht von vorn­herein auf moralische und sonstige Konflikte zwischen menschlichen bzw. personalen Wesen beschränkt. Zweitens: Die entscheidenden normativ-ethisch rechtfertigenden Eigenschaften der Einzelnen sind ihre Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, zusammengefasst ihre Belange bzw. Interessen. Das ist das Prinzip der Belange als normativ-ethisch recht­ fertigende Eigenschaften. Drittens: Die Belange der Einzelnen und damit die moralischen Bewertungen, Normen und Regeln beziehen sich in grundsätzlich gleicher Weise auf alle möglichen Teile des Handelns von Individuen im weitesten Sinne, nicht primär oder gar ausschließlich auf einzelne ihrer Elemente wie den guten Charakter, den guten Willen oder die guten Folgen bzw. Konsequenzen. Das ist das Prinzip des Handlungsuniversalismus. Viertens: Es besteht sowohl eine Möglichkeit, Wirklichkeit als auch Notwendigkeit, die Belange der Individuen mit Hilfe eines Abwägungsprinzips zusammenzufassen und auf diese Weise zur Recht­fertigung und Kritik moralischer Verpflichtungen und Bewertungen zu gelangen. Das ist das Prinzip der modalen Vollständigkeit. Fünftens: Die Einzelnen müssen sich im Rahmen der Abwägung in je größerem Maße eine Relativierung ihrer Belange gefallen lassen, je weitergehend diese Belange von den Anderen bzw. einer Gemeinschaft abhängen. Als erstes und abstraktestes maßgebliches Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip wird damit ein Prinzip der relativen Einzel- und Ander- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit der Individualbelange vorgeschlagen, das als Metaprinzip die Anwendung konkreterer Prinzipien und Abwägungen wie diejenige des Gleichheitsprinzips, des Maximierungsprinzips, des Differenzprinzips oder des Paretoprinzips steuert.

b) Die Reihenfolge der Antworten Anknüpfend an die Reihenfolge der fünf Fragen jeder normativen Ethik, also ihre formale Pfadabhängigkeit, ist auch die Abfolge dieser fünf notwendigen Elemente einer adäquaten normativen Ethik keine beliebige. Die Elemente zwei bis fünf lassen sich zwar nicht logisch aus dem ersten Element des normativen Individualismus oder den jeweils nächsten Elementen folgern. Aber eine rechtfertigende Abhängigkeit und damit eine sachlich begründete Abfolge gibt es gleichwohl. Jedes der folgenden Elemente lässt sich nur adäquat erörtern und normativ bestimmen, wenn und weil das vorherige Element akzeptiert wurde. Man kann dies in Ausfüllung des Rahmens der bloß formalen Pfadabhängigkeit jeder normativen Ethik ihre normativ-inhaltliche Pfadabhängigkeit nennen. Auf diese Weise erhält man auch eine Begründung für die externe Vollständigkeit dieser fünf Elemente einer begründeten normativen Ethik. Da die fünf Elemente recht­

3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik

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fertigend voneinander abhängen, kann kein weiteres vollkommen unabhängiges externes Element fehlen. Denkbar wäre nur, die interne Differenzierung einerseits zu verfeinern oder zu vergröbern, um die Elemente weiter aufzuteilen oder zusammenzufassen oder dem fünften Element andererseits noch ein sechstes oder weiteres abhängiges Element folgen zu lassen. Weil die fünf Elemente zum einen nur zusammen eine adäquate normative Ethik bilden und zum anderen rechtfertigend voneinander abhängen, ist es auch nicht sinnvoll, eines dieser Elemente isoliert zu betrachten. Das wäre, als wollte man die einzelnen Zahnräder einer Maschine isoliert voneinander beschreiben. Natürlich weisen diese auch isoliert beschreibbare Eigenschaften auf, etwa ihre Größe, ihr Gewicht, ihre chemische Zusammensetzung. Aber entscheidend für ihre Bestimmung als in­einandergreifende Zahnräder ist doch ihre Funktion für die Maschine als Ganzes. Bei gedanklichen Komplexen wie einer Ethik lassen sich für die einzelnen Teile nun nicht einmal derart körperliche Eigenschaften isolieren. Die Teile sind vielmehr nur im funktional-intentionalen Zusammenhang einer ethischen Begründung bzw. Rechtfertigung sinnvoll charakterisierbar. Deshalb können die Elemente einer normativen Ethik nur zusammen sinnvoll dargestellt und diskutiert werden. Der Zusammenhang muss im Zweifel auch in der Darstellung primär gegenüber der Detailliertheit der Analyse der einzelnen Elemente sein. Aus diesem Grund werden in diesem Buch alle fünf notwendigen Elemente der normativ-ethischen Rechtfertigung erläutert, unter Inkaufnahme, dass die einzelnen Elemente nicht so ausführlich diskutiert werden können, wie dies zumindest quantitativ, aber eben nicht qualitativ-funktional möglich wäre, würde man nur eines der Elemente analysieren. Der vorliegende Versuch ist also methodisch von einem tiefen Zweifel gegenüber verschiedentlich anzu­treffenden Unternehmen getragen, die einzelnen Elemente der normativen Ethik isoliert und dann vielleicht statt in eine umfassende normative Ethik eingebettet sogar mit ihrer bloßen Bedeutung für ein gutes Leben, das heißt ihrer Klugheitsfunktion zu erörtern, etwa das Wohlergehen, die Wünsche oder die Bedürfnisse.29 Diese Begriffe können als ethische Begriffe nur in ihrem jeweiligen funktionalintentionalen Zusammenhang einer deskriptiven oder einer normativ-verpflichtenden Theorie, also einer Psychologie der Moral oder einer normativen Ethik adäquat bestimmt werden, weil es sich nicht um konkrete deskriptive Begriffe handelt, die sich auf einfache empirische Tatsachen beziehen (und selbst da wäre die Isolierung problematisch), sondern um theoretische und damit im Hinblick auf die normative Ethik stark normativ geprägte und abstrakte Instrumente der Erkenntnis. Eine normative Ethik kann Normen der Moral nur als Ganzes kritisieren oder rechtfertigen. Deshalb müssen ihre Elemente im Hinblick auf diese Aufgabe auch in ihrer Funktion für das Ganze der Begründung untersucht werden. Man könnte nun fragen: Richtet sich diese Skepsis gegenüber isolierten Untersuchungen einzelner Elemente der Ethik nicht auch gegen das hier durchgeführte Unter29 Vgl. etwa James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, Oxford 1986; Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics, Oxford 1996; David Braybrooke, Meeting Needs, Princeton 1987; Garrett Thomson, Needs, London 1987.

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nehmen einer normativen Ethik im engeren Sinn, also einer Ethik, die sich zunächst modellhaft auf die Kritik und Rechtfertigung von Moral und dann von Recht und Politik beschränkt? Sollte die normative Ethik nicht vielmehr im Zusammenhang einer umfassenden Ethik, die auch Fragen des guten Lebens behandelt, oder vielleicht einer umfassenden, alle Fragen berücksichtigenden praktischen oder sogar allgemeinen Philosophie untersucht werden? Eine Antwort darauf hat wenigstens zwei Teile. Der erste Teil lautet: Es wäre besser, aber es stößt an pragmatische Grenzen der Produktionsfähigkeit des Autors und der Rezeptionsfähigkeit des Lesers. Der zweite Teil lautet: Anders als bei ihren einzelnen Elementen erscheint eine isolierte Darstellung der normativen Ethik mit Bezug auf einzelne Gegenstände vertretbar, weil wir hier mit der Moral zum Ersten einen klar abgrenzbaren tatsächlichen Gegenstand der Bezugnahme dieser normativen Ethik vor uns haben und die normative Ethik der Moral zum Zweiten innerhalb der Ethik eindeutig die Interpretationshoheit der Grenzziehung beansprucht. Fragen, welche die Relation zwischen Problemen der Moral und solchen des guten Lebens betreffen, etwa ihren Vorrang oder ihre partielle oder vielleicht sogar vollständige Überschneidung, können dann zwar noch nicht erörtert werden. Aber es ist nicht ersicht­­lich, warum die normative Ethik der Moral nicht zunächst selbständig entwickelt werden könnte, bevor diese Fragen diskutiert werden. Es scheint sich also eher um Fragen zu handeln, die zunächst die Entfaltung einer Theorie der Moral und einer Theorie des guten Lebens voraussetzen, um adäquat behandelt werden zu können, als dass sie umgekehrt Voraussetzung der Entfaltung dieser Theorien wären. Fragen der Moral und des guten Lebens sind erst in Gemeinschaften, insbesondere politischen Gemeinschaften, untrennbar miteinander verbunden. Darauf wird in den letzten Kapiteln näher eingegangen werden. Eine umfassende praktische oder sogar allgemeine Philosophie kann nur Ergebnis einer Arbeitsteilung oder eines Lebenswerks sein.

c) Die Grenze der Betroffenheit Wie sich gezeigt hat, unterscheiden sich Normen der Moral, des Rechts, der Religion, der Erziehung und der Politik einerseits und Fragen der Technik, der Medizin, der Konventionen und des guten Lebens andererseits im Hinblick auf die notwendige Betroffenheit Anderer und die Kategorizität der Normierung. Diese Grenzziehung impliziert – wie sich im Kapitel VIII erweisen wird – eine Ablehnung moralischer Pflichten gegen sich selbst. Natürlich kann diese Grenzziehung zwischen kategorischen und nichtkategorischen Normordnungen ihrerseits Gegenstand von Zweifeln und Fragen sein: Kann nicht jedes Handeln im weitesten Sinne Andere betreffen? So mag etwa das Wissen, dass jemand über seine eigene berufliche Zukunft nicht gründlich und vernünftig nachdenkt, bei Anderen Unbehagen erzeugen. Und dass jemand schlechte statt gute Musik hört oder schädliches statt gesundes Essen zu sich nimmt, mag bei Anderen Missbilligung hervorrufen. Auf diesen Einwand gegen eine Grenzziehung zwischen kategorischen und nichtkategorischen Normen sind zwei Antworten möglich, eine Antwort, die auf Fakten verweist, und eine normative.

3. Fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik

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Die auf Fakten verweisende Antwort wird geltend machen, dass die Menschen zumindest in unserer Zeit und in unserer Gesellschaft Bereiche des Lebens in Anspruch nehmen, die Andere nicht betreffen und die sie deshalb nichts angehen, etwa unsere Geschmacksurteile, unser individuelles Denken und Fühlen, unsere Einrichtung der eigenen Wohnung oder unsere Gestaltung des je eigenen Tagesablaufs. Es mag spezielle Situationen geben, in denen selbst in diesen Fällen Andere moralisch betroffen sind, etwa wenn das Denken in einem Mordplan besteht, die Wohnung als Versteck der Mordwaffe dient oder die Gestaltung des eigenen Tagesablaufs das Verbrechen des Mordes einschließt. Aber das sind extreme Fälle, in denen Handlungen, die Andere normalerweise nicht betreffen, für diese direkt und stark negativ werden. In den meisten Fällen sehen wir derartige Handlungen aber als moralisch neutral an. Wer etwa Pop statt Klassik hört, dem kann kein moralischer Vorwurf gemacht werden. Konstatiert man die Faktizität einer derartigen Grenzziehung zwischen Fragen des guten Lebens und der Moral, kommt man allerdings nicht umhin, ihre partielle historische und kulturelle Relativität anzuerkennen. Das kulturübergreifende Faktum der Grenze als solcher wird durch die kulturrelative Variabilität der konkreten Grenzziehung aber nicht dementiert. Die normative Antwort auf die Infragestellung der Grenzziehung wird auf die Normativität von Moral und Ethik im engeren Sinn verweisen. Weil Moral und Ethik im engeren Sinn, wie sich sogleich im ersten Kapitel zeigen wird, das Individuum als wesentliche Quelle moralischer und ethischer Normativität akzeptieren, muss den Individuen ein Bereich der eigenen Lebensführung zugestanden werden, der nicht oder nicht wesentlich unter dem Vorbehalt der Berücksichtigung Anderer und damit einer Moral steht.

d) Die Janusköpfigkeit der fünf Elemente Der funktionale Zusammenhang der nachfolgend entfalteten fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik und daraus resultierend ihre Fähigkeit, gemeinsam eine solche Ethik zu bilden, zeigt sich in folgender spezifischer Charakteristik: Jedes einzelne der fünf Elemente ist in seinen Eigenschaften janusköpfig, das heißt doppelt relational sowohl zum vorherigen als zum nachfolgenden Element gewendet. Man kann das mit fünf Menschen vergleichen, die sich an den Händen fassen und auf diese Weise eine Kette formen. Eine Ausnahme bilden dabei naturgemäß nur das erste und das letzte Element der Kette, da hier die „Hände“ bzw. Relationen über die ethische Theorie hinausreichen. Das erste der fünf Elemente, das Element des normativen Individualismus, verknüpft die normative Ethik mit der sehr grundlegenden ontologischen Entscheidung zwischen Einzelnen oder Gemeinschaften. Das letzte der fünf Elemente, das Prinzip der relativen Einzel- und Ander- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit der Einzelbelange, vollendet die Objektivität und damit intersubjektive Notwendigkeit, die eine normative Ethik zur Erfüllung ihrer Aufgabe der Kritik und Rechtfertigung der Moral benötigt, und mündet damit in den Zweck dieser normativen Ethik, den Zweck der Kritik und Rechtfertigung der Moral. Das erste Element verbindet die Ethik mit der real bestehen-

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Einleitung

den Welt der Dinge und Tatsachen. Das letzte Element richtet die Ethik normativ auf die Moral als ihren spezifischen Gegenstand der Rechtfertigung und Kritik aus. Zusammengenommen überbrücken die fünf Elemente den Unterschied zwischen dem Faktischen und dem Normativen. Sie geben also eine Antwort auf das Problem der Sein-Sollen-Dichotomie bzw. des naturalistischen Fehlschlusses. Der Übergang von jedem der Elemente zum nächsten enthält einen Hiatus zwischen Faktischem und Normativem und ist deshalb kein logischer oder semantischer. Insofern sind die SeinSollen-Dichotomie und die Kritik am naturalistischen Fehlschluss vollkommen berechtigt. Aber in ihrer funktionalen Verbindung zur Rechtfertigung des moralischen Ziels der Vermittlung möglicher gegenläufiger Belange stellen die fünf Elemente zusammengenommen einen solchen Übergang vom Faktischen zum Normativen her. Sie zeigen damit, dass die Recht­fertigungskraft der normativen Ethik sich auch auf natürliche Fakten wie Individuen und Eigenschaften stützen kann, ohne naturalistisch zu sein und deshalb der berechtigten Kritik am naturalistischen Fehlschluss anheim zu fallen.

I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen Welches sind die letztlich ethisch relevanten und damit moralisch bzw. rechtlich vorrangig zu berücksichtigenden Wesen? Als Alternative kommen grundsätzlich Einzelne oder Gemeinschaften bzw. Kollektive in Betracht. Die These des normativen Individualismus bzw. Humanismus lautet, dass im Rahmen einer säkularen, also nichtreligiösen Ethik in letzter Instanz ausschließlich die Einzelnen und zwar alle betroffenen Einzelnen zu berücksichtigen sind, nicht aber irgendwelche Gemeinschaften bzw. Kollektive. An diese These schließen sich zwei Fragen an: Wie ist dieses erste Element des normativen Individualismus genauer zu verstehen? Wie lässt es sich begründen?

1. Präzisierung des normativen Individualismus Das Prinzip des normativen Individualismus enthält drei Teilprinzipien, das Individualprinzip, das Allprinzip und das Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung:

a) Die drei Teilprinzipien (1) Individualprinzip: Ausschließlich Individuen können letzter Ausgangspunkt einer legitimen primären Verpflichtung bzw. Wertung und damit als betroffene Akteure bzw. Andere erstes Element einer adäquaten normativen Ethik sein, nicht aber Gemeinschaften oder Kollektive, etwa die Nation, das Volk, die Gesellschaft, die Rasse, die Familie, die Sippe, die Kommunikationsgemeinschaft, das Ökosystem oder die Biosphäre.1 Der verpflichtende und deshalb letztlich ethisch zu berücksichtigende Andere muss also ebenso wie der Akteur in letzter Instanz immer ein Einzelner sein. Oder anders formuliert: Das normativ-ethische Grundverhältnis Akteur-Anderer kann in letzter Instanz nur zwischen Einzelnen bestehen. Man kann dieses Prinzip das „Individualprinzip“ des normativen Individualismus nennen (zu seiner Begründung vgl. sogleich Kapitel I, 5). (2) Allprinzip: Alle von einer Handlung bzw. Entscheidung betroffenen Einzelnen sind bei deren ethischer Rechtfertigung zu berücksichtigen, nicht nur einer oder einige 1

Zum Gegenmodell einer kollektiven bzw. holistischen Ethik: Ludwig Siep, Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt a. M. 2004, S. 14, 16, 24, 26 ff.; Martin Gorke, Artensterben. Von der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur, Stuttgart 1999.

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

wenige. Das heißt im Rahmen der letztinstanzlichen Rechtfertigung einer Handlung oder Entscheidung müssen alle von dieser Handlung oder Entscheidung betroffenen Individuen Beachtung finden. Man kann dieses Prinzip das „Allprinzip“ des normativen Individualismus nennen. Verschiedentlich wird auch vom „Universalismus“ gesprochen.2 Das Allprinzip des normativen Individualismus impliziert nicht – das sei besonders betont  – dass die solchermaßen zu beachtenden Belange aller zu berücksichtigenden Individuen sich dann auch vollständig oder auch nur teilweise durchsetzen. Das ist – obzwar individuell häufig wünschenswert – natürlich nicht immer möglich, sonst wäre die Moral als Lösung potentieller Widerstreite zwischen Belangen und damit auch die Ethik im engsten Sinn überflüssig. (3) Prinzip der Gleichberücksichtigung: Alle von einer Handlung bzw. Entscheidung betroffenen Einzelnen müssen grundsätzlich gleich berücksichtigt werden. Man kann dieses Prinzip das „Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung“ nennen. Es bedeutet: Niemand, der prinzipiell Beachtung verdient, darf von Moral und Ethik bzw. dem fraglichen Handelnden von vornherein ohne weiteren Grund weniger berücksichtigt werden.3 Allerdings kann es natürlich jenseits dieser grundsätzlichen Pflicht zur Gleichberücksichtigung im Falle konkreter Bedingungen bzw. Situationen möglicherweise Gründe für eine Erlaubnis oder gar Pflicht zur spezifischen Ungleichbeachtung, Ungleichbehandlung oder Ungleichstellung geben. Eltern etwa dürfen, ja sollen ceteris paribus nach einer noch zu diskutierenden normativ-ethischen Auffassung ihre Kinder in vielfältiger Weise faktisch viel stärker beachten und besser behandeln als fremde Kinder, weil sie ihnen aufgrund der Zeugung und des vorherigen Zusammenlebens in besonderem Maße moralisch, rechtlich und ethisch verantwortlich sind. Das gleiche gilt nach dem Sozialstaatsprinzip in Bezug auf sozial Bedürftige für die politischen Institutionen. Aus dem Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung folgt also nicht ohne weiteres eine Pflicht zur konkreten Gleichbeachtung, Gleichbehandlung oder gar Gleichstellung. Man muss hier vielmehr mit zusätzlichen Gründen zum einen oder anderen Ergebnis kommen.

b) Erklärung einzelner Begriffe Wichtig für das Verständnis des normativen Individualismus und seiner Teilprinzipien ist zunächst eine Erklärung des Begriffs des Individuums. Der Begriff des Individuums kann in diesen Prinzipien nicht bloß ontologisch oder physikalisch verstanden werden, 2 3

Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, Oxford / Cambridge 2002, S. 92 ff., 101 ff., 169. Vgl. für neuere Formulierungen des Prinzips: Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls. Begründung und Anwendung eines modernen Moralprinzips, Freiburg 2000, S. 190 (Prinzip der starken Unparteilichkeit); Ronald Dworkin, Sovereign Virtue, Cambridge 2002, S. 5, und stärker auf das Handeln abstellend: Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 128, 153.

1. Präzisierung des normativen Individualismus

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denn letzte Individuen in einem ontologischen Sinn sind nicht mehr weiter rückführbare Seiende. Und letzte Individuen in einem physikalischen Sinn sind nach derzeitigem Wissen Partikel bzw. Quarks. Aus der ontologisch und physikalisch abgrenzbaren Menge der möglichen Dinge müssen im Rahmen der Ethik und damit auch dieser Prinzipien vielmehr diejenigen ausgewählt werden, für welche die Unterscheidung zwischen Individuen und Kollektiven überhaupt einen normativ-sozialen Sinn bzw. eine Funktion der Konfliktlösung haben kann. Dies können im Normalfall nur Individuen nach dem Verständnis einer gewissen mittleren Sinnebene unseres Handelns und unserer möglichen Handlungsbeeinflussung sein. Individuen in einem normativ-ethischen Sinn sind danach prinzipiell einzelne Menschen, Tiere, Pflanzen, Mikroben bzw. vergleichbare Objekte auf einer sozial relevanten Ebene wie Steine usw. – wo die Grenze verläuft wird noch zu erörtern sein – im Gegen­ satz zu Kollektiven als Verbindung dieser Individuen, also Gruppen von Menschen, Tieren, Pflanzen, Mikroben, Naturobjekten, etwa Familien, Nationen, Staaten, Rassen, Biotope, Ökosysteme, Landschaften und die Biosphäre. Die Grenzen der normativethisch relevanten Ebene gegenüber sehr kleinen und sehr großen seienden Dingen werden von der grundsätzlichen Erkennbarkeit, Berücksichtigungs­fähigkeit und möglichen Handlungsbeeinflussung der je betroffenen Anderen bestimmt. Auch der für alle drei Teilprinzipien des normativen Individualismus wichtige Begriff der Betroffenheit bedarf näherer Erläuterung. Es handelt sich um eine Relation zwischen der fraglichen Handlung und den moralisch relevanten Individuen. Diese Relation besteht darin, dass die Handlung den moralisch relevanten Individuen mit ihren moralisch entscheidenden Eigenschaften im konkreten Einzelfall entweder entsprechen oder widersprechen kann, und zwar in praktischer, nicht nur in logischer Form. Das heißt, es bestehen zwei Voraussetzungen: Zum einen müssen die fraglichen Betroffenen grundsätzlich moralisch relevante Individuen sein. Zum anderen muss im konkreten Einzelfall ein Widerspruch oder eine Entsprechung zu einer moralisch entscheidenden Eigenschaft zumindest möglich erscheinen. Dabei ist mit dem Erfordernis einer moralisch relevanten Eigenschaft schon auf das im nächsten Abschnitt zu erörternde zweite Element einer konkreten normativ relevanten Eigenschaft der Individuen verwiesen. Hier zeigt sich also die oben erwähnte janusköpfige bzw. kettenartige Verbindung der ersten beiden Elemente der normativ-ethischen Rechtfertigung. Sowohl das Individualprinzip als auch das Allprinzip und das Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung des normativen Individualismus sind inhaltliche Prinzipien der normativen Ethik, nicht lediglich prozedurale Prinzipien. Das heißt: Sie setzen unseren Einstellungen und unserem Handeln primär inhaltliche Standards. Nur sekundär implizieren sie auch prozedurale Verpflichtungen jedes moralisch Handelnden, etwa die Verpflichtung, den Belangen aller betroffenen Individuen grundsätzlich gleichermaßen Gehör zu schenken (audiatur et altera pars), sie zu erwägen, eine Entscheidung gegenüber den Beteiligten nicht geheim zu halten, diese zu begründen usw. Als Gegenpart des normativen Individualismus kann man den normativen Kollektivismus formulieren. Seine zentrale These lautet: Moralische Normen, Regeln und Bewertungen können ihre letzte Rechtfertigung in einem politische Legitimität ver-

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

leihenden Kollektiv, das heißt dem Staat, der Nation, dem Volk, der Rasse, der Sippe, der Familie, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Sprach- oder Kulturgemeinschaft, der Nachbarschaft, der Diskursgemeinschaft, dem Ökosystem, der Biosphäre usw. finden. Die konträre These des normativen Kollektivismus beinhaltet also, dass wenigstens die Rechtfertigung einzelner moralischer Verpflichtungen in letzter Instanz nicht auf die betroffenen Individuen zurückzuführen ist, sondern auf Gemeinschaften, wie die Nation, das Volk, die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Nachbarschaft, das Biotop, das Ökosystem usw. Stärkere Versionen des normativen Kollektivismus vertreten sogar, dass alle oder wenigstens die wesentlichen moralischen Verpflichtungen letztlich mit Bezug auf Kollektive zu rechtfertigen sind.

c) Andere Möglichkeiten ontologischer Anknüpfung Die beiden Alternativen des normativen Individualismus und des normativen Kollektivismus schließen andere Möglichkeiten einer theorieexternen ontologischen An­ knüpfung der normativ-ethischen Rechtfertigung an unser allgemeines Bild der Welt logisch-begrifflich nicht aus. Denkbar sind etwa religiöse, wertobjektivistische bzw. naturrechtliche sowie naturalistische Recht­­fertigungen. Derartige Recht­fertigungen haben jedoch in der Neuzeit für eine säkulare Ethik wegen ihres starken religiösen, metaphysischen oder naturalistisch-reduktiven Anspruchs, welcher nicht mehr allgemein anerkannt wird, immer mehr an genereller Überzeugungskraft eingebüßt. Religiöse Rechtfertigungen setzen religiöse Überzeugungen voraus. Da die Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften diese religiösen Überzeugungen nicht teilen, können sie auch die religiösen Rechtfertigungen zurückweisen. Religiöse Rechtfertigungen scheiden deshalb per definitionem als letzter ontologischer Ausgangspunkt für eine säkular-immanente, philosophische Ethik mit allgemeinem Rechtfertigungsan­spruch aus (anders aber natürlich für eine transzendente, religiöse Ethik und damit für jeden einzelnen Gläubigen als Mitglied einer Religionsgemeinschaft). Wertobjektivistische Rechtfertigungen enthalten zwar keine religiösen, aber immerhin starke metaphysische Annahmen über das Bestehen empirisch nicht sinnlich wahrnehmbarer objektiver Werte, die von sehr vielen in Zweifel gezogen werden.4 Naturalistische Rechtfertigungen implizieren eine Reduktion normativ-ethischer Begründungen auf die Beschreibung natürlicher Tatsachen, die ebenfalls vielfach abgelehnt wird.5

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Neuere realistisch-wertobjektivistische Konzeptionen: Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik, 2. Aufl. Berlin 1999, S. 213 ff.; Christoph Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt a. M. 2007. Die am meisten beachtete Kritik formuliert hat John Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, S. 15 ff. Neuere naturalistisch-objektivistische Positionen: David O. Brink, Moral Realism and the Foundations of Ethics, Cambridge 1989; Peter Schaber, Moralischer Realismus, Freiburg 1997, S. 18 ff., 89 ff.

1. Präzisierung des normativen Individualismus

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Die Diskussion dieser weitergehenden ontologischen Anknüpfungen ist Aufgabe der Metaethik und nicht der hier entfalteten normativen Ethik. Ihre Erörterung kann aber auch deshalb dahinstehen, weil derartige religiöse, wertobjektivistische oder naturalistische Quellen der Verpflichtung und Bewertung – sofern sie tatsächlich anzunehmen wären – immer durch Subjekte, das heißt durch einzelne Individuen oder zu Kollektiven verbundene Individuen erkannt und in ihre Einstellungen aufgenommen werden müssten, um handlungs- und betroffenheitsrelevant zu werden,6 so dass sich die Alternative normativer Individualismus versus normativer Kollektivismus auch dann stellen würde, wenn auf einer noch fundamentaleren onto­lo­gi­schen Ebene derartige religiöse, wertobjektivistische oder naturalistische Quellen der Verpflichtung und Bewertung aufgewiesen werden könnten. Dabei ist es zwar prinzipiell nicht ausgeschlossen, prima facie aber nicht erkennbar, dass derartige weitere ontologische Quellen die Entscheidung zwischen normativem Individualismus und normativem Kollektivismus in die eine oder die andere Richtung beeinflussen. Es soll an dieser Stelle nicht verhehlt werden, dass der Autor dieser Untersuchung jenseits religiös-transzendenter Überzeugungen auf einer säkular-immanenten Ebene weitere wertobjektivistische oder naturalistische Fundierungen der Moralbegründung weder für möglich noch für nötig hält. Warum letzteres so ist, wird in Kapitel VI näher erläutert.

d) Graduelle Abstufungen So wie die Thesen des normativen Individualismus und des normativen Kollekt­ivis­ mus formuliert wurden, erlauben sie keine graduellen Abstufungen oder Kompromisse zwischen beiden Alternativen. Das würde zutreffen, wenn ethische Rechtfertigungen lediglich aus einem einzigen natursprachlichen Satz bestünden. Komplexere ethische Theorien bestehen aber natürlich nicht nur aus einem einzigen Satz. Folglich können bei ihnen manche Teile normativ-individua­listisch, andere normativ-kollektivistisch sein. Das führt allerdings selbstredend zu internen Konsistenzproblemen. Die Theorie des Thomas Hobbes lässt sich etwa in ihrem Ausgangspunkt bei der Etablierung des Staates bzw. des „Leviathans“ als normativ-individualistisch ansehen. Ist der Staat allerdings einmal etabliert, so sind kaum Vorkehrungen für eine weitere Berücksichtigung der Individuen getroffen, so dass man die Theorie in ihrer Gesamtheit nicht als rein normativ-individualistisch qualifizieren kann. Hobbes hat also den Terminus „letzter Ausgangspunkt“ in der obigen Definition des Individualprinzips des normativen Individualismus nur in einer sehr eingeschränkten und zweifelhaften Weise konkretisiert.7

6 7

Das gestehen auch Vertreter eines Wertobjektivismus zu: Christoph Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, S. 277, 298 f. Vgl. Verf., Rechtsethik, München 2001, S. 296 ff.

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

2. Normativ-individualistische Theorien Viele neuzeitliche normativ-ethische Konzeptionen stimmen bei genereller Betrachtung zumindest im Ausgangspunkt oder in manchen Zügen mit dem normativen Individualismus überein, etwa der Kantianismus, der Utilitarismus, aber auch die Vertragsethik (Kontraktualismus). Nur bei der Tugendethik liegen die Verhältnisse komplizierter und ebenso bei einer Klugheitsethik des aufgeklärten Eigeninteresses (Prudentialismus), der Mitleidsethik oder einer Ethik der Sorge (care ethics): Nach Kants zweiter Formel des Kategorischen Imperativs dürfen sowohl der Akteur als auch jeder Andere als Personen (genauer: die Menschheit in ihnen) niemals bloß als Mittel, sondern sie müssen jederzeit zugleich als Zweck „gebraucht“ werden.8 Eine Welt vernünftiger Wesen ist nach der dritten Formel des Kategorischen Imperativs als Reich der Zwecke nur durch die „eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder“ gekennzeichnet.9 Die Allgemeinheit des Gesetzes setzt also die Berücksichtigung aller autonomen Individuen voraus. Freilich stellt sich die in Kapitel V. 3 noch näher zu erörternde Frage, ob das Abwägungsprinzip des Kategorischen Imperativs die Individuen wirklich ernst nimmt. Im Übrigen beschränkt Kant den Kreis der zu berücksichtigenden Individuen auf vernünftige Wesen, schließt also die Berücksichtigung von Lebewesen ohne Vernunft wie Tiere um ihrer selbst willen aus. In der politischen Philosophie hat Kant das Recht der politischen Partizipation und das Wahlrecht auf männliche und erwachsene Selbständige beschränkt.10 Aber zwischen der Möglichkeit politischer Partizipation und der moralischen bzw. ethischen Berücksichtigungswürdigkeit und Verantwortlichkeit muss klar unterschieden werden. Kant war ohne Zweifel der Ansicht, dass Frauen und Kinder als einzelne Vernunftwesen selbständig moralisch zu berücksichtigen sind, wenn er Ersteren auch – aus zeitbedingten, heute nicht mehr überzeugenden Gründen – das politische Wahlrecht nicht zuerkennen wollte. Der klassische Utilitarismus nimmt seinen Ausgang bei Lust und Leid der betroffenen Individuen.11 Auf dieser Basis wird die Nutzensumme ermittelt. An diesem normativindivi­dua­listi­schen Ausgangspunkt ändert sich auch nichts, wenn, wie im modernen Präferenzutilitarismus,12 statt Lust und Leid die Präferenzen entscheidend werden. Allerdings verhindert, wie noch näher zu erläutern sein wird (V. 4), das utilitaristische Prinzip der Maximierung des kollektiven Nutzens die umfassende und adäquate Berücksichtigung der Individuen mit ihren ethisch relevanten Eigenschaften. Die Vertragstheorie geht in ihren verschiedenen Varianten bei Hobbes, Locke, Rousseau, Gauthier, Rawls und Scanlon trotz großer Unterschiede in Einzelheiten immer 8 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 429. 9 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 438. 10 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VI, Berlin 1907 / 14, Nachdr. Berlin 1968, S. 314 f. 11 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789), Nachdr. Buffalo 1988, S. 1 f. 12 Vgl. zum Beispiel Peter Singer, Practical Ethics, 2. Aufl. New York 1993.

2. Normativ-individualistische Theorien

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von Individuen aus,13 die in letzter Instanz als vertragsschließend angesehen werden. Die Unterschiede betreffen die Frage, wie die Individuen zu verstehen sind, welche ihrer Eigenschaften entscheidend sein sollen und wie der Vertragsschluss zu interpretieren ist. Die Tugendethik akzeptiert dagegen bereits die in der Einleitung zu Grunde gelegte Trennung zwischen Moral und Fragen des guten Lebens nicht. Ihr Fokus ist nicht auf den von einer Handlung betroffenen Anderen gerichtet, sondern regelmäßig akteurszentriert.14 Entscheidend soll der Charakter des Akteurs sein, nicht der Andere als individuell Betroffener. Damit wäre das Allprinzip verletzt. Dieser negative Befund bedarf aber einer Einschränkung: Es wäre voreilig, dieser Grundorientierung der Tugendethik kritiklos zu folgen. Denn sie beruht auf einer fragwürdigen Entscheidung. Hat man den betroffenen Anderen zu berücksichtigen, so ist es nicht ausgeschlossen, sondern sogar sehr wahrscheinlich, dass dessen Wünsche und Ziele sich nicht nur auf die Handlungen und Konsequenzen, sondern auch auf die Charaktereigenschaften derjenigen Akteure richten, deren Handeln ihn betrifft (vgl. Kapitel III). Warum ist das so? Jeder von uns kann häufig sicherer sein, dass seine Wünsche und Ziele nicht missachtet werden, wenn Akteure, deren Handlungen ihn betreffen, einen guten Charakter aufweisen. Insofern wird jeder von uns wünschen, dass Akteure einen derartigen guten Charakter haben oder zumindest in der Zukunft ausprägen. Ob und wann dieser Wunsch berechtigt ist, ist eine weitere Frage, die noch zu erörtern sein wird. Entscheidend ist, dass eine Berücksichtigung des Charakters des Akteurs nicht akteurszentriert sein muss, sondern mit einer normativ-individualistischen Berücksichtigung des Anderen vereinbar ist. Bei der Tugendethik muss zwischen klassischen Versionen, etwa denjenigen von Platon und Aristoteles, und modernen Versionen unterschieden werden. Platons Ethik einer Gerechtigkeit in der Polis wendet sich mit ihrem Grundprinzip, dass jeder das Seine zur Polis beitragen soll,15 zwar auch an individuelle Akteure, ist aber insgesamt eher auf das Wohl der Gemeinschaft gerichtet, also bis zu einem gewissen Grade kollektiv orientiert. Aber bereits bei Platon ist diese Gemeinschaftsorientierung in verschiedener Hinsicht relativiert: Es sind die Bedürfnisse der Individuen, die zur Begründung der Polis führen.16 Neben der Gerechtigkeit in der Polis steht auch die des Einzelnen in Frage.17 Die Sorge um die Seele und die Tugendhaftigkeit des Einzelnen sind ein Ziel der Polis.18 Aristoteles verstärkt diesen normativen Individualismus. Das Glück des Einzelnen rückt ins Zentrum der Ethik.19 Statt der Verpflichtung jedes Einzelnen, das Seine zur Polis beizutragen, akzentuiert er den Grundsatz „Jedem das Seine“.20 In der modernen 13 Vgl. etwa Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 229, 218–223. 14 Michael Slote, Virtue Ethics, in: Marcia W. Baron / Philip Pettit / Michael Slote, Three Methods of Ethics. A Debate, S. 175–238, S. 177. 15 Platon, Politeia, 433a9. 16 Platon, Politeia, 369c10. 17 Platon, Politeia, 368e2. 18 Platon, Nomoi, 631c5–8, 963d2, 965d3; vgl. auch Minos 321d1–3 (Platons Autorschaft ist umstritten). 19 Aristoteles, Nikomachische Ethik I 1095a18. 20 Aristoteles, Nikomachische Ethik V 1133b3.

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

Tugendethik wird der Schwerpunkt dann explizit auf das tugendhafte Individuum mit seinen inneren Veranlagungen, Dispositionen und Motiven gelegt.21 Die moderne Tugendethik folgt also grosso modo und mit einigen retardierenden Momenten dem allgemeinen Trend der neuzeitlichen Ethik zu normativ-individualistischen Konzeptionen. Bei anderen akteurszentrierten Ethiken, wie der Mitleidsethik, der Ethik der Sorge (care ethics) und der Klugheitsethik des aufgeklärten Eigeninteresses (Prudentialismus), ergibt sich Ähnliches wie bei der Tugendethik. Auch sie können aufgrund ihrer Beschränkung auf das Mitleid, die Sorge oder die Klugheit des Akteurs die Berücksichtigung des Anderen zwar partiell und indirekt, aber nicht vollständig und direkt in ihre Theorie integrieren. Ihr normativer Individualismus bleibt deshalb ein halbierter, ausschließlich oder zumindest dominant auf den Akteur bezogener, auch wenn der Andere bei der Mitleidsethik, der Klugheitsethik und der Ethik der Sorge zumindest vermittelt über Gefühle oder Vernunfterwägungen des Akteurs berücksichtigt wird.

3. Die Wahl der Bezeichnung Elemente und Aspekte des normativen Individualismus tauchen in der ethischen Diskussion unter den verschiedensten Bezeichnungen auf: „Individualismus“, „legitimatorischer Individualismus“, „Indivi­dualität“, „Wert des Einzelnen“, „Person“, „Humanismus“, „Liberalismus“, „Subjektivismus“ (normativ-ethisch verstanden), „Kooperation“, „Selbstbestimmung“, „Autonomie“, „Freiheit“.22 Dennoch scheint der Ausdruck „normativer Individualismus“ den anderen Alternativen überlegen zu sein, und zwar aus folgenden Gründen: „Individualismus“ schlechthin kann sich auch auf ein rein soziologisch zu beschreibendes Faktum der Individualisierung beschränken. „Legitimatorischer Individualismus“ betont zwar die Legitimation. Aber auch diese kann nur als bloßes Legitimationsfaktum beschrieben werden. „Individualität“ wird eher als psychologische denn als ethische Kategorie verstanden. „Wert des Einzelnen“ schränkt die Ethik von vornherein auf eine Werttheorie ein. Der „Wert des Einzelnen“ kann überdies auch als bloße Er21 Michael Slote, Virtue Ethics, S. 177. 22 Für „Individualismus“: Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, S. 169. Für „legitimatorischen Individualismus“: Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 45 ff. Für „Wert des Einzelnen“: Heiner Hastedt, Der Wert des Einzelnen. Eine Verteidigung des Individualismus, Frankfurt a. M. 1998. Für „Freiheit“: Friedrich A. von Hayek, The Constitution of Liberty, Chicago 1960. Für „Humanismus“: Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986, S. 194, der den Terminus dann aber auf wenig einleuchtende Weise nichtindividualistisch interpretiert. Für „Subjektivismus“: John L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, Chap. I, 2.; Rainer W. Trapp, „Nicht-klassischer“ Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1988, S. 304, 310 ff.; Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik, 2. Aufl. Berlin 1999, S. 59, 121 ff. Für „Kooperation“: Julian Nida-Rümelin, Demokratie als Kooperation, Frankfurt a. M. 1999, S. 162 ff. Für „Selbstbestimmung“: Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999; ders., Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 155 ff. Für „Autonomie“: Tom L. Beauchamp / James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S. 99 ff.; Jerome Schneewind, The Invention of Autonomy, Cambridge 1998; Joel Feinberg, Harm to Self, Oxford 1986, S. 27 ff.

3. Die Wahl der Bezeichnung

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gänzung in einer kollektivistischen Theorie anerkannt werden. Im Übrigen wird mit „Wert“ der notwendige Aspekt der kategorischen Verpflichtung in moralischen Konflikten nicht klar genug ausgedrückt. „Humanismus“ impliziert von vornherein eine Beschränkung auf Menschen. Dieser Begriff schließt also Tiere und andere Lebewesen aus. Das ist ohne Begründung nicht zu rechtfertigen. Die hier entwickelte Ethik ist aber natürlich im Hinblick auf Menschen eine humanistische in einem weiteren Sinne. Sie ist es allerdings nicht in dem engeren Sinne, in dem der Begriff neuerdings von manchen zur Kennzeichnung einer Ethik des Wohlergehens in Abgrenzung zum normativen Individualismus gebraucht wird.23 Der Terminus „Person“ hängt stark von seinem spezifischen Verständnis ab. Es gibt Theorien der „Person“, die mit der Wahl dieses Ausdrucks sehr viel weiter gehende metaphysische Vorstellungen verbinden, etwa wie Hegel die Selbstbestimmung des Individuums als Allgemeines.24 Deshalb erscheint es sinnvoll, zunächst einen neutraleren und weniger anspruchsvollen Begriff zur Kennzeichnung der ethisch relevanten Individuen zu wählen. „Normativer Individualismus“ und „Liberalismus“ sind sich sehr nahe. Es gibt trotzdem einen wesentlichen Unterschied: Der normative Individualismus ist legitimatorisch grundlegender, weil er den direkten Bezug zu den entscheidenden, legitimationstragenden Wesen klarstellt. Er ist ein rechtfertigendes Prinzip bzw. eine rechtfertigende Theorie, während der Liberalismus eher ein gesellschaftliches, politisches und rechtliches Programm als wesentliche Auswirkung des normativen Individualismus formuliert. Aber es besteht keine strikte legitimatorische Korrelation. Der Liberalismus ist als politisches Programm zum Beispiel prinzipiell auch auf religiöser oder naturrechtlicher Grundlage möglich. „Subjektivismus“ wird von vielen nicht nur als normativ-ethischer Bezug auf die Individuen, sondern als methodische bzw. metaethische Entscheidung für den Verzicht auf eine objektive ethische Konfliktlösung verstanden.25 Dabei wird angenommen, dass die Pluralität und Beliebigkeit individueller Belange eine objektive Ethik ausschließen. Das ist aber, wie sich im Kapitel VI zeigen wird, ein Irrtum. Man kann sich bei der normativen Rechtfertigung im Ausgang ausschließlich auf die Individuen und ihre zum Teil kontingenten Eigenschaften beziehen und trotzdem – wie es hier geschieht – eine objektivistische normative Ethik vertreten. „Kooperation“ ist eine zentrale Folge des normativen Individualismus, steht aber wie „Liberalismus“ schon zu weit in der Anwendung. Der Terminus der „Selbstbestimmung“ bzw. „Autonomie“ weist gegenüber dem des normativen Individualismus drei Nachteile auf: Der erste Nachteil liegt darin, dass er auch als eine bloße empirisch-psychologische Beschreibung verstanden werden kann. Das Begründungsziel der normativen Ethik wird deshalb nicht in ähnlicher Weise wie beim Begriff des normativen Individualismus deutlich. Der zweite Nachteil besteht darin, dass der Begriff der Selbstbestimmung von vorn­herein auf einsichtsfähige Menschen 23 Vgl. Joseph Raz, The Morality of Freedom, S. 194. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke 7, Frankfurt a. M. 1986, §§ 34 ff., S. 93 ff. 25 John Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, S. 18.

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

beschränkt ist. Nicht einsichtsfähige Menschen, Tiere, andere Lebewesen sowie Gott können mit ihm nicht erfasst werden. Die Frage, wer moralisch zu berücksichtigendes Individuum ist, würde auf diese Weise bereits durch den Be­griffsgebrauch entschieden. Für den ethischen Hauptfall des Konflikts einsichtsfähiger Menschen ist der Begriff der Selbstbestimmung also hilfreich. Aber seine Verwendung darf nicht dazu führen, dass andere Wesen nicht als ethisch zu berücksichtigende Individuen wahrgenommen werden. Es verwundert nicht, dass der Begriff der Selbstbestimmung insbesondere auftaucht, wo regelmäßig ausschließlich einsichtsfähige Menschen eine Rolle spielen, etwa in der Medizinethik,26 nicht aber in der Tierethik oder der ökologischen Ethik. Der dritte Nachteil liegt darin, dass der Begriff der Autonomie nicht auf Individuen beschränkt ist. Der ursprüngliche griechische Begriff Autonomie bezeichnete zunächst vor allem die Selbstbestimmung politischer Gemeinschaften.27 Dieser politische Sinn von Autonomie findet sich auch noch in der Gegenwart, etwa im Prinzip der „Selbstbestimmung der Völker“ in Artikel 1 Nr. 2 der Charta der Vereinten Nationen. Der Begriff der Selbstbestimmung ist demnach allein nicht in der Lage, das Individualprinzip des normativen Individualismus auszudrücken. Seine Verwendung ist aber immer dort sinnvoll, wo sich ein Gebiet der Angewandten Ethik primär auf einsichtsfähige Individuen bezieht, wie etwa die Medizinethik und die politische Ethik, etwa bei Fragen des Arzt-PatientenVerhältnisses, der Euthanasie, der politischen Partizipation und Repräsentation.

4. Sachliche Abgrenzung Sachlich lässt sich der normative Individualismus durch einige negative Abgrenzungen weiter charakterisieren: Das ethische Prinzip des normativen Individualismus ist selbstredend mit der Anerkennung der Tatsache vereinbar, dass die Individuen faktisch regelmäßig mehr oder weniger eng in Gemeinschaften, Ehen, Familien, Nachbarschaften, Gemeinden, Staaten etc., eingebunden sind, also tatsächlich sozial bzw. kollektiv leben. Keine realistische Ethik kann dies bestreiten. Zwischen dem Faktum des sozialen Zusammenlebens und der normativen Rechtfertigung von potentiell widerstreitenden Belangen ist aber klar zu unterscheiden. Ein deskriptiver Kollektivismus sozialer Tatsachen wäre mit dem normativen Individualismus durchaus vereinbar, wobei eine stark kollektivistische Beschreibung aufgrund der zunehmenden Individualisierung der modernen Gesellschaften zumindest für die westlichen Industriestaaten kaum mehr als zutreffend angesehen werden kann.28 Die Menschen leben zwar nach wie vor überwiegend in Gemeinschaften wie Ehen, Partnerschaften, Familien, Gemeinden und Staaten. Aber die Bindungen 26 Vgl. zum Beispiel Tom L. Beauchamp / James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S. 99 ff. 27 Rosemarie Pohlmann, Artikel „Autonomie“, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp. 701–719, Sp. 701. 28 Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1996.

4. Sachliche Abgrenzung

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zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Gemeinschaften haben sich – man mag dies bedauern oder nicht – gelockert. Aus dem Faktum des Zusammenlebens der Menschen resultiert zweitens, dass Kollektive Ziele formulieren und Interessen haben können. Der normative Individualismus schließt die Berücksichtigung dieser Ziele und Interessen von Kollektiven nicht aus. Was er fordert, ist lediglich die letztinstanzliche, normativ-ethische Rückführung derartiger kollektiver Ziele und Interessen auf die Belange von Individuen. In letzter Instanz dürfen also nur solche Ziele und Interessen von Kollektiven Berücksichtigung finden, die, wenn auch vielleicht nur indirekt, rechtfertigend auf die jeweils betroffenen Individuen rückführbar sind. Der normative Individualismus bestreitet im Übrigen nicht, dass die einzelnen Individuen in der Bildung und Formulierung ihrer Belange von ihrer sozialen Umgebung beeinflusst werden. Er leugnet also keinen partiellen genetischen oder faktischen Kollektivismus. Er behauptet aber, dass zwischen dem Faktum der Einbettung der Einzelnen in kollektive Lebensgemeinschaften sowie der daraus resultierenden teilweise kollektiv bestimmten Genese ihrer Bedürfnisse, Wünsche und Ziele und den moralisch und ethisch zu berücksichtigenden Belangen klar zu unterscheiden ist.29 Die soziale Prägung macht individuelle Eigenschaften nicht zu kollektiven. Die moralisch zu beachtenden Individuen gewinnen ihre moralische Berücksichtigungswürdigkeit gerade aufgrund der Tatsache, dass sie ihre Belange als ihre je eigenen begreifen, vertreten und gewahrt wissen wollen. Ethik und Moral dürfen diesen grundlegend individualistischen Impuls der Selbstbestimmung30 nicht durch den Verweis auf nicht zu leugnende soziale Bedingungen unterdrücken. Selbst wenn die Ziele der Individuen vollständig sozial bedingt wären, würde dies die Tatsache, dass die Individuen diese Ziele als die je ihren ansehen, bejahen und berücksichtigt wissen wollen, und damit die Grundlage und Rechtfertigung des normativen Individualismus nicht entwerten. Dies gälte selbst dann, wenn die individuelle Bejahung und Berücksichtigung ihrerseits als Ziel sozial bedingt wäre. Insofern muss klar zwischen dem Sein sozialer Bedingungen und dem Sollen individueller Belange bzw. Interessen (das allerdings natürlich auch den Charakter einer, wenn auch normativen Tatsache hat) unterschieden werden. An dieser Stelle darf sich kein naturalistischer Fehlschluss einschleichen. Der normative Individualismus impliziert des Weiteren keinen psychologischen oder sonstigen Egoismus.31 Mit der allgemeinen Sozialpsychologie geht er vielmehr davon aus, dass die Individuen regelmäßig in erheblichem Umfang altruistische Wünsche und idealistische Ziele haben. Diese fließen allerdings nicht als objektive Wahrheiten, sondern als individuelle Belange und Vorstellungen in die Bewertung des moralischen Konflikts ein. Der normative Individualismus fördert auch keinen Egoismus, da nicht erkennbar

29 Anders als Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982, S. 50 ff., das tut. 30 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; Jerome Schneewind, The Invention of Autonomy; Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. 31 So aber zum Beispiel Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik, S. 302.

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

ist, wieso dieser im längerfristigen und umfassend verstandenen Interesse der Individuen liegen sollte. Der normative Individualismus impliziert auch keinen Relativismus der Moral oder der ethischen Rechtfertigung im Sinne einer Beliebigkeit ihrer Normen. Die individuellen Belange, welche die Grundlage seiner Normen bilden, sind zwar vom Willen der betroffenen Menschen abhängig und insofern relativ und damit auch zufällig. Aber zum einen gibt es menschliche Grundbedürfnisse, auf deren Befriedigung kein Mensch  – sofern er weiterleben will  – vollständig verzichten kann, etwa Atemluft, Wasser und Nahrung. Und bei vielen weiteren Wünschen besteht im Grundsätzlichen große Übereinstimmung, etwa bei dem Wunsch nach Wärme, Trockenheit, Sauberkeit, Helligkeit, Handlungsfreiheit, Schmerz­freiheit, Schutz vor Tötung und Verletzung usw. Zum anderen muss man annehmen, dass sich bei widerstreitenden Interessen zumindest eine relativ objektive Grenze der besten Konfliktlösung finden lässt (oder mehrere). Diese metaethische Frage des Verhältnisses von Subjektivismus und Objektivismus wird noch in Kapitel VI erörtert. Zu betonen ist weiterhin, dass eine normativ-individualistische Position nicht mit einer libertären Theorie bzw. der Konzeption eines Ultraminimalstaats zu verwechseln ist.32 Die Restriktion gemeinschaftlicher Entscheidungen bzw. der Moral auf das, was sich in einem tatsächlichen Koor­di­na­tions­prozess unter Verwendung der Methode der Unsichtbaren Hand ergeben würde, lässt sich nicht auf den normativen Individualismus stützen, da die Individuen auf diese Weise gehindert werden, die ihren Belangen nicht ausreichend Rechnung tragenden, mageren Resultate dieses Prozesses – etwa fehlende Förderung der Kultur, Bildung, Infrastruktur usw. – zu vermeiden. Liegt es im Interesse der Individuen, die Beschränkung auf einen selbstlimitierenden und selbstschädigenden Prozess zu umgehen, und schränken sie sich auch faktisch nicht derart ein, so muss man annehmen, dass diese Beschränkung nicht zu rechtfertigen ist. Der normative Individualismus darf auch nicht mit der Vertragstheorie gleichgesetzt werden.33 Die Vertragstheorie war zwar historisch eine wesentliche Ausprägung des normativen Individualismus. Aber auch der Utilitarismus, der Kantianismus und in beschränktem Sinne und in manchen Varianten sogar die Tugendethik gehen, wie sich ergab, von den Individuen aus und sind deshalb zumindest bis zu einem gewissen Grade normativ-individualistische Theorien. Die Vertragstheorie ist ein Modell und damit eine von mehreren möglichen Konkretisierungen des normativen Individualismus. Manche Vertragstheoretiker haben die tatsächliche Einstimmigkeit der betroffenen Individuen als notwendige Bedingung der moralischen Rechtfertigung angesehen, also deren fak32 Vgl. Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York 1974, S. 18. 33 Dies gilt für beide Zweige der Vertragstheorie, die mittlerweile unterschieden werden: den sog. „Contractarianism“, der zum Beispiel von Thomas Hobbes und David Gauthier vertreten wird, und den sog. „Contractualism“, der zum Beispiel von Jean-Jacques Rousseau, John Rawls und Thomas M. Scanlon als begründet angesehen wird. Während Ersterer die eigenständige Verfolgung hauptsächlich egoistischer Interessen in einem Prozess des Aushandelns aus der Perspektive der Individuen in den Vordergrund stellt, soll bei Letzterem eher die gemeinschaftliche Perspektive der allgemeinen Zustimmung zu Regeln entscheidend sein. Vgl. die Einleitung in Stephen Darwall (Hg.), Contractarianism / Contractualism, S. 1 ff.

4. Sachliche Abgrenzung

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tische Zustimmung.34 Dieses Erfordernis mag jenseits der Moral in eng umgrenzten Bereichen der Politik als repräsentativem Handeln gerechtfertigt sein, wenn es etwa um fundamentale Verletzungen von Menschenrechten, zum Beispiel der Menschenwürde oder des Rechts auf Leben geht. Als generelles Erfordernis der Moral stünde das Prinzip der faktischen Einstimmigkeit jedoch im Widerspruch zur moralischen Grundsituation, weil eine begrifflich notwendige Bedingung der Moral im hier verstandenen Sinn gerade im zumindest möglichen Widerstreit der Belange besteht, also zumindest die Möglichkeit der Nichtübereinstimmung voraussetzt. Viele Vertragstheoretiker haben auf das Fehlen einer tatsächlichen Einstimmigkeit mit dem Erfordernis der fiktiven Einstimmigkeit reagiert, den Vertrag also als hypothetischen Vertrag verstanden. Der fiktive Vertrag kann anders als der faktische auf die tatsächliche Nichtübereinstimmung und damit auf die moralische Konfliktsituation reagieren. Allerdings gilt: Resultat des hypothetischen Vertrags kann nur das sein, was man vorher in Form von quasi-axiomatischen Grundannahmen in ihn hineingesteckt hat. Das Vertragsmodell ist also legitimatorisch nicht so grundlegend wie das Prinzip des normativen Individualismus. Der normative Individualismus schließt weiterhin nicht aus, dass Gemeinschaftsbeziehungen an einem bestimmten Punkt der Moral und ethischen Theorie zu speziellen Verpflichtungen und theoretischen Differenzierungen führen. Es wird zum Beispiel vielfach angenommen, dass wir gegenüber unseren Eltern und Kindern erhöhte Verantwortungs- und Hilfspflichten haben, die etwa aus früherem Verhalten und dem spezifischen Nähe- und Vertrauensverhältnis zu ihnen resultieren. Man darf aber die Frage der grundsätzlichen moralischen Berücksichtigungswürdigkeit nicht mit der Frage erhöhter spezifischer Anforderungen aus besonderen Näheverhältnissen verwechseln. Voraussetzung für erhöhte Verantwortungs- und Hilfspflichten ist die selbständige Berücksichtigungswürdigkeit unserer Eltern und Kinder als Individuen im ethischen Grundverhältnis Akteur-Anderer. Gegenüber einem unselbständigen Organ unseres Körpers, etwa unserer Leber, haben wir trotz möglicherweise im Einzelfall schädigenden Vorverhaltens durch übermäßigen Alkoholgenuss und einem unleugbaren Näheverhältnis keine grundsätzlichen oder gar erhöhten moralischen Verantwortungs- und Hilfspflichten, weil unsere Leber Teil unser selbst als Betroffene und deshalb kein eigenständig moralisch zu berücksichtigendes Individuum ist. Der normativ-individualistische Ausgangspunkt von Ethik und Moral schließt auch in keiner Weise aus, dass im Interesse der betroffenen Menschen gemeinsame Handlungen und Gemeinschaften gefördert und kollektive Ziele wie Patriotismus, Gemeinsinn oder Gleichheit angestrebt werden. Der normative Individualismus ist also mit einem gemäßigten praktischen Kommunitarismus vereinbar. So wird sich der normative Individualismus zum Beispiel im Interesse der Menschen gegen den Zwang zu isolierenden und vereinzelnden Lebensformen wenden. Er wird politische und rechtliche Regelungen ablehnen, die derartige isolierende und vereinzelnde Lebensformen zur einzigen Möglich34 Dazu: Peter Stemmer, Die Rechtfertigung moralischer Normen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 58 (2004), S. 483–504.

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

keit machen, etwa eine Bauplanung, die anonyme Wohnblöcke ohne Infrastruktur weit vor der Stadt errichtet. Er wird Ehe, Familie und Partnerschaft vielfach stärker als bisher unterstützen. Er wird freiwillige Gemeinschaften fördern. Aber alle kollektiven Ziele müssen sich letztlich an den Belangen aller betroffe­nen Einzelnen messen lassen. Sie dürfen keinen ultimativen Selbst­zweck haben. Der normative Individualismus schließt also einen strikten Kommunitarismus aus, insbesondere einen solchen, der gegen den klaren Willen der betroffenen Individuen in letzter Instanz einer Gemeinschaft und ihren Eigenschaften den Vorzug geben will. Der normative Individualismus stellt in der hier vorgestellten Formulierung zunächst eine schwächere Form der Abgrenzung zu allen kollektiven Theorien der Ethik dar. Nicht ausgeschlossen sind damit – wie sich oben ergab – metaethische Positionen, die objektive Werte, Pflichten oder sonstige normative Tatsachen als letzte Quelle der Rechtfertigung ansehen. Behauptet wird nur, dass diese objektiven Werte, Pflichten oder sonstigen normativen Tatsachen – sofern sie bestehen – in letzter Instanz immer durch die betroffenen Individuen erkannt und als eigene oder fremde Belange für die moralische Konfliktsituation zur normativen Relevanz erhoben werden müssen, um normativ entscheidender Teil einer säkularen ethischen Rechtfertigung sein zu können. Im Hinblick auf eine vergleichbare Begriffsbildung in den Sozialwissenschaften mag schließlich fraglich sein, warum nicht von „methodologischem“ oder „metho­dischem“ Individualismus gesprochen wird.35 Der methodologische Individualismus vertritt die Auffassung, dass soziale Phänomene nur durch den Bezug auf Individuen zu beschreiben und zu erklären sind:36 35 Die Wortverbindung „methodologischer Individualismus“ scheint vor allem auf Karl Popper und John W. N. Watkins zurück­zugehen: Vgl. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2.  Aufl. München 1970; John W. N. Watkins, The Principle of Methodological Individualism, The British Journal for the Philosophy of Science 3 (1952), S. 186–189; ders., Ideal Types and Historical Explanation, in: Herbert Feigl / M. Brodbeck (Hg.), Readings in the Philosophy of Science, New York 1953, S. 729–732; ders., Methodological Individualism: A Reply, in: Philosophy of Science 22 (1955), S.  58–62; ders., Historical Explanation in the Social Sciences, in: P. Gardiner (Hg.), Theories of History, New York 1959, S. 503–514, S. 512. Vgl. auch Paul Oppenheim / Hilary Putnam, Unity of Science as a Working Hypothesis, in: H. Feigl / M. Scriven / G. Maxwell (Hg.), Concepts, Theories, and the Mind-Body Problem, Minneapolis 1958, S. 3–36, S. 17. Vgl. zu umfassenderen Darstellungen, Analysen und Diskussionen: John O’Neill (Hg.), Modes of Individualism and Collectivism, New York 1973, Teil 3 und 4; Viktor J. Vanberg, Die zwei Soziologien: Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975; Rajeev Bhargava, Individualism in Social Science. Forms and Limits of a Methodology, Oxford 1992. 36 Die sachliche Annahme beginnt sich bereits seit dem 18. Jahrhundert zu entwickeln. Vgl. Bernard de Mandeville, The Fable of the Bees, or, Private Vices, Publick Benefits, London 1924, Teil II; David Hume, A Treatise of Human Nature, hg. von L. A. Selby-Bigge, 2., rev. Ausg. hg. von P. H. Nidditch, Oxford 1978, Book III, Part II, Sec. II, S. 495; Adam Smith, An Inquiry into the Nature & Causes of the Wealth of Nations, hg. von R. H. Campbell / A. S. Skinner / W. B. Todd, Bd. 1, Oxford 1976 (= The Glasgow Edition Vol. II, 1), S. 26 ff.; John S. Mill, A System of Logic Ratiocinative and Inductive, hg. von J. M. Robinson, Toronto 1974 (Collected Works Vol. VIII), S. 879. Die sozialwissenschaftliche Verwendung des Begriffs „Individualismus“ wird auf Friedrich A. von Hayek, Individualism and Economic Order, Chicago 1948, S. 1 ff. zurückgeführt. Von Hayek unterscheidet allerdings begrifflich nicht zwischen methodologischem und normativem Individualismus, sondern spricht nur von „individualism“. Nach einer Bestimmung als Theorie des Verstehens (S.  6) folgen auch normative Regeln, die jenseits bloßer Beschreibung und Erklärung liegen. Von Hayek hat also auch in der Sache noch keine klare Differenzierung zwischen den zwei Arten des Individualismus eingeführt. In seinem späteren Hauptwerk, The

4. Sachliche Abgrenzung

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Es handelt sich also erstens um eine Antwort auf die Frage, welcher Art Hypothesen bzw. Theorien sind, mit denen wir beschreiben und erklären können, was in der „sozialen Welt“ vor sich geht.37 Die normative Ethik kann sich dagegen nicht auf eine bloße Beschreibung und Erklärung beschränken, sondern muss ein normatives Prinzip der Recht­fertigung angeben. Anders als dem methodologischen Individualismus geht es dem normativen Individualismus also nicht um Beschreibung und Erklärung, sondern um Begründung und Kritik. Das Ziel der Begründung und Kritik des normativen Individualismus führt zweitens zu einer anderen Differenzierung der Anwendungsbereiche. Der Anwendungsbereich des normativen Individualismus geht einerseits prinzipiell über den Bereich des Sozialen hinaus und betrifft auch individuelles Werten und Handeln ohne allgemeine gesellschaftliche Folgen, während dies für den methodologischen Individualismus – zumindest soweit er in der Sozialethik vertreten wird – ohne Bedeutung ist. Im Spektrum des Sozialen ist der Anwendungsbereich des ethisch zu Rechtfertigenden dafür andererseits gegenüber dem zu Beschreibenden und Erklärenden kleiner. Während der methodologische Individualismus alle möglichen sozialen Folgen kollektiven wie individuellen Handelns beschreiben und erklären, also eine umfassende Theorie des Sozialen liefern soll, geht es dem normativen Individualismus im Bereich des Sozialen nur um eine Kritik und Rechtfertigung moralischen, rechtlichen und politischen Handelns usw., also um eine moralische, politische und rechtliche Ethik, nicht um eine allgemeine Theorie aller sozialen Phänomene.38 Beide Gesichtspunkte hängen drittens eng zusammen. Manche allgemeine soziale Phänomene, etwa die Entwicklung der Bevölkerungszahl oder der Prozentsatz der Eheschließungen, sind selbstredend Ergebnis einzelner menschlicher Handlungen. Sie sind aber zunächst im Regelfall nicht als kollektive moralische, politische oder rechtliche Handlung intendiert oder zumindest relevant und damit weder normativ-indivi­ dualistisch rechtfertigungsfähig noch -bedürftig, sondern lediglich methodologischindividualistisch erklärbar, also als Ergebnis individuellen Handelns.39 Für den engeren Bereich von Moral, Recht und Politik ist die Charakterisierung als recht­fertigungsfähige und -bedürftige Handlung aber zumindest weitgehend und in zentralen Bereichen plausibel, so dass nur hier eine normativ-indi­vi­dua­listi­sche Rechtfertigung möglich, aber auch – will man in seinem Verstehen nicht reduktionistisch bleiben – notwendig ist. Damit soll nicht behauptet werden, dass eine sozialwissenschaftlich-kausale Erklärung politischer Phänomene keinen Wert hätte. Aber zumindest im Kernbereich moralischen, Constitution of Liberty, Chicago 1960, tritt der Be­griff des Individualismus dann auch ganz hinter den Begriff der Freiheit zurück. 37 Viktor J. Vanberg, Die zwei Soziologien: Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, S. 3, Fn. 3. 38 Fraglich ist dann allerdings, wozu man das Handeln nichtpolitischer Gemeinschaften, wie Vereine, Unternehmen, Verbände usw., zählt. Aber selbst wenn man dieses auch der Sozialethik zuordnet, ist deren Bereich immer noch kleiner als der Bereich der Sozialtheorie des methodologischen Individualismus, der ja auch alle sozialen Folgen rein individuellen Handelns berücksichtigt. 39 Derartige Handlungen können aber natürlich individualethisch bedeutsam sein.

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

rechtlichen, religiösen, erzieherischen und politischen Entscheidens überwiegt für uns doch der Charakter der sozialen Phänomene als rechtfertigungsfähiges und rechtfertigungsbedürftiges Handeln gegenüber dem lediglich blinden und zufälligen Resultat sozialer Prozesse. Sozialwissenschaftlich-kausale Faktoren werden von Prozessen der Kommunikation, Deliberation und Rechtfertigung überlagert und verlieren deshalb im Zentrum von Moral, Recht und Politik an Relevanz. Viertens divergieren auch die Traditionsbezüge: Für die Sozialwissenschaften waren Bernard Mandeville, Adam Smith, David Hume, Edmund Burke und Alexis de Tocqueville Theoretiker des metho­do­lo­gischen Individualismus, weil sie kollektive Phänomene als ungewollte Folgen individuellen Handelns erklärten.40 Hobbes wird von ihnen dagegen teilweise als methodologischer Kollektivist angesehen, weil der Staat als Leviathan einem Gesamtplan entspringen soll,41 während Hobbes nach dem Verständnis der Ethik einen – wenn auch sehr eingeschränkten und mangelhaften – normativen Individualismus vertreten hat. Der normative Individualismus sieht sich dagegen in der Tradition der philosophischen Vertragstheorien, aber auch des Utilitarismus, Kantianismus und anderer liberaler Theorien sowie der Tugendethik. Nunmehr ist zu fragen, wie der normative Individualismus zu begründen ist. Dabei ist es sinnvoll, zwischen seinen drei Teilen, also dem Individualprinzip, dem Allprinzip und dem Prinzip der prinzipiellen Gleichberücksichtigung zu unterscheiden.

5. Begründung des Individualprinzips Wie sich ergab, legen die wesentlichen heute vertretenen Theorien der normativen Ethik, wie die Vertragstheorie, der Kantianismus, der Konsequentialismus sowie die Tugendethik das Prinzip des normativen Individualismus zu Grunde. Insofern steht man mit ihm im Lager der weit überwiegenden Auffassung. Da diese Auffassung aber häufig nur implizit besteht und nicht explizit geäußert wird, muss gefragt werden, wie der normative Individualismus begründet werden kann. Warum können in letzter Instanz nur Individuen moralische Verpflichtungen bzw. Wertungen rechtfertigen? Warum gilt also das Individualprinzip des normativen Individualismus?42

40 Friedrich A. von Hayek, Individualism and Economic Order, S. 4, spricht auch von John Locke. Aber diese Nennung dürfte nur auf die fehlende klare Abgrenzung von methodischem und normativem Individualismus zurückzuführen sein. 41 Viktor J. Vanberg, Die zwei Soziologien: Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, S. 6, S. 172 ff. Anders aber Rajeev Bhargava, Individualism in Social Science. Forms and Limits of a Methodology, S. 1. 42 Vgl. zu einer modernen Kritik des normativen Individualismus aus perfektionistisch-konse­quentialisti­ scher Perspektive: Joseph Raz, The Morality of Freedom, S. 193 ff.

5. Begründung des Individualprinzips

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a) Der Kern der Begründung Eine Begründung muss ihren Ausgangspunkt beim Sinn und Zweck der Moral und daran an­knüpfend der Ethik nehmen. Die Moral dient – wie eingangs festgestellt wurde – dazu, unseren Charakter sowie unser Handeln und Entscheiden angesichts zumindest potentiell widerstreitender Lebensvorstellungen zu bestimmen und zwischen diesen potentiell widerstreitenden Lebensvorstellungen zu vermitteln, und zwar nicht nur mittels Ratschlägen und Empfehlungen, sondern auch mittels kategorischer Pflichten. Die Moral hat also als Teil der menschlichen Kultur den Sinn und Zweck, faire und vernünftige Lösungen eventuell gegenläufiger Charakter-, Handlungs- und Entscheidungsoptionen zu ermöglichen, die dann auch handlungsleitende, kategorische Verpflichtungen umfassen. Das erfordert, dass Handelnder und Betroffene nicht Teil eines einzigen, normativ letztentscheidenden Kollektivs sind. Denn wären sie Teil eines einzigen, normativ letzt­ entscheidenden Kollektivs, so würde das bedeuten, dass sie zueinander nur im Verhältnis einer internen, also die Elemente dieses Kollektivs verbindenden normativen Relation stünden, nicht im Verhältnis einer externen, also auch zu Nichtelementen dieses Kollektivs bestehenden normativen Relation. Stünden sie aber zueinander nur im Verhältnis einer internen normativen Relation als Teil eines einzigen umfassenden und normativ letztentscheidenden Kollektivs, so wäre nicht zu erklären, warum zwischen ihnen kategorische, handlungsbegrenzende Pflichten bestehen sollten, wie sie für die Moral begrifflich-kennzeichnende Voraussetzung sind. Innerhalb eines einzigen, normativ letztentscheidenden Kollektivs mit ausschließlich internen Relationen kann es gute Gründe der Klugheit geben, einzelne widerstreitende Handlungsgesichtspunkte zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Kategorische Verpflichtungen müssen ihren letzten Ausgangspunkt aber außerhalb eines solchen Kollektivs finden, denn nur dann hängen sie nicht von den an Kollektivzielen orientierten Entscheidungen des Kollektivs mit unmittelbarer Wirkung für seine abhängigen Teile ab. Hängen Konfliktlösungen von derartigen Entscheidungen des Kollektivs für seine abhängigen Teile ab, so erfolgt keine externe kategorische Verpflichtung, sondern eben nur eine interne, unmittelbar wirksame Klugheitsentscheidung einer Zentrale für die Peripherie. Kollektive bedürfen für interne normative Letztentscheidungen keiner kategorischen Verpflichtungen. Innerhalb eines normativ letztlich relevanten Kollektivs herrscht keine Moral und damit auch keine Ordnung, deren Verpflichtungen auf externen Relationen basieren, sondern die Faktizität der kollektiven, mehr oder weniger klugen Entscheidung über interne Relationen seitens einer Zentrale. Nun könnte man einwenden, dass damit der normative Individualismus noch nicht begründet sei, weil sich ja nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive in externen Relationen gegenüberstehen können, etwa wenn eine Räuberbande eine Reisegruppe überfällt. Warum sind in letzter Instanz die Belange der überfallenen einzelnen Reisenden als Andere für die Räuber handlungsbegrenzend und nicht die der Reisegruppe als Ganzes? Kollektive wie Reisegruppen, Räuberbanden, Familien oder politische Gemeinschaften lassen sich intern noch einmal normativ differenzieren. Innerhalb der Reisegruppe

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

besteht etwa für jeden einzelnen Reisenden die moralische Verpflichtung, die Gruppe in dieser Situation zu verteidigen. Für diese interne Verpflichtung gilt nun aber die im letzten Absatz formulierte Einsicht: Eine genuin moralische Verpflichtung kann sie nur sein, wenn sie sich im Hinblick auf eine externe normative Relation ergibt, nicht aber als eine interne normative Relation, die in normativer Hinsicht in letzter Instanz nur von der Entscheidung des Kollektivs abhängt. Kollektive kann man immer noch einmal moralisch und ethisch hinsichtlich ihrer eigenen Mitglieder intern beurteilen, also rechtfertigungstheoretisch analysieren. Deshalb kann die Kollektiventscheidung nicht letzter Maßstab der begründeten moralischen Rechtfertigung sein. Zwischen Individuen und Kollektiven besteht insofern eine unhintergehbare moralische und damit ethische Asymmetrie. Wir sprechen zwar von den Belangen bzw. Interessen von Kollektiven und akzeptieren damit das Bestehen derartiger kollektiver Belange bzw. Interessen. Daran lässt sich aber immer die Frage anschließen: Entsprechen diese kollektiven Belange bzw. Interessen auch wirklich den dahinter stehenden moralisch zu berücksichtigenden Belangen bzw. Interessen der Mitglieder des Kollektivs? Liegt etwa ein bestimmtes Handeln eines Unternehmens auch wirklich im Interesse der Arbeitnehmer und Aktionäre? Das Umgekehrte gilt aber nicht: Wenn Individuen moralisch betroffen sind und nicht in speziellen Rollen als Repräsentanten eines Kollektivs handeln, so kann man – so jedenfalls unsere phänomenologisch zu ermittelnde allgemeine Auffassung – nicht normativ bzw. moralisch, sondern nur faktisch bzw. kausal sinnvoll fragen: Entsprechen die Belange der betroffenen Individuen auch wirklich in moralischer Hinsicht den dahinter stehenden, individuen­unabhängigen Belangen des Kollektivs? Selbst Marx’ Klassentheorie ist hier kein Gegenentwurf, sondern eine Bestätigung. Denn Marx hat seine Klassentheorie nur als naturalistisch-historistische Theorie entworfen, nicht als normativ-moralische.43 Das heißt, die Belange der Individuen sind faktisch-historisch Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zu einer Klasse in einer bestimmten historischen Situation. Aber sie können nicht als normativ-moralisch durch diese Zugehörigkeit bestimmt angesehen werden.

b) Weitere Rechtfertigungen Die Rechtfertigung des Individualprinzips des normativen Individualismus zeigt sich auch in folgenden Konkretisierungen: Erstens: Jedes Handeln eines Akteurs, das Andere in deren Handeln betrifft, impliziert eine zumindest partielle Verschiebung des Handlungswillens und der Handlungsausführung von diesen Betroffenen auf den Handelnden. Der Handelnde reißt also durch sein Handeln das Handeln eines anderen Betroffenen und damit dessen Handlungswillen und Handlungsausführung wenigstens teilweise an sich. Wer einem 43 Vgl. Brian Leiter, The Hermeneutics of Suspicion: Recovering Marx, Nietzsche, and Freud, in: ders., The Future for Philosophy, Oxford 2004, S. 7–105, S. 76 ff.

5. Begründung des Individualprinzips

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Anderen die Geldbörse stiehlt, bestimmt bis zu einem gewissen Grade den Handlungswillen und die Handlungsausführung des Betroffenen hinsichtlich dieser Geldbörse. Er nimmt ihm nämlich die Möglichkeit, mit dem Geld, das sich darin befindet, etwas zu kaufen. Da aber nur Individuen in einem vollen Sinne Akteure sind und Kollektive nur über sie repräsentierende Individuen handeln können, betrifft die Verschiebung von Handlungswille und Handlungsausführung in letzter Instanz immer die handelnden Individuen. Dann muss sich aber auch die Rechtfertigung letztlich auf diese Individuen beziehen, um die ultimative Verschiebung des Handlungswillens und der Handlungsausführung durch den Akteur von den eigentlich Betroffenen auf ihn selbst zu legitimieren. Andernfalls kann man nicht von ethischer Rechtfertigung in einem vollen Sinne sprechen. Zweitens: Das Handeln gegenüber anderen Betroffenen führt zu einer Diskrepanz zwischen Handlungsausführung durch den Akteur und Handlungsinteresse bei den Betroffenen. Eine ethische Theorie muss darauf reagieren. Eine Rückbindung der Handlungsausführung an das Handlungsinteresse kann aber nur gelingen, wenn die Rechtfertigung diese Diskrepanz zwischen Handlungsausführung durch den Akteur und Handlungsinteresse beim Betroffenen überwindet. Dies ist gegenüber den Individuen aber nur möglich, wenn die Individuen selbst letzter Bezugspunkt der Recht­fertigung sind und nicht nur ein undifferenziertes Kollektiv aus Akteur und Betroffenen. Drittens: Das Handlungsinteresse der Individuen manifestiert sich in einem tatsächlichen Recht­fertigungsverlangen. Zwar erheben auch Kollektive Forderungen nach Rechtfertigung von Handlungen durch andere. Aber Kollektive tun dies erstens regelmäßig in letzter Instanz nur in Vertretung ihrer Mitglieder, etwa eine Familie für ihre Mitglieder, eine Aktiengesellschaft für ihre Aktionäre, eine Gesellschaft beschränkter Haftung für ihre Gesellschafter, ein Verein für seine Mitglieder, ein Staat für seine Staatsbürger. Und zweitens wäre die bloße Befriedigung des Recht­fertigungs­verlangens des Kollektivs nicht hinreichend, um auch das Rechtfertigungs­verlangen der hinter dem Kollektiv stehenden Individuen zu befriedigen. Die grundlegende Asymmetrie der moralischen bzw. ethischen Berücksichtigung von Individuen und Kollektiven manifestiert sich phänomenologisch am deutlichsten in der unterschiedlichen Auflösbarkeit. Lässt man religiöse oder sonstige transzendente Erwägungen außer Betracht, so sehen wir anders als bei Individuen keinen ethischen Grund, warum Kollektive gegen den klaren Willen, das heißt die Wünsche und unabhängigen Ziele aller Beteiligten, bestehen bleiben sollten.44 Stimmen alle Beteiligten bewusst und freiwillig zu, so ist die Auflösung von Kollektiven ethisch nicht verwerflich. Man hat es etwa nicht allgemein als verwerflich angesehen, dass die Sowjetunion oder die Tschechoslowakei aufgelöst wurden, allenfalls als unzweckmäßig. Ebenso sieht man es nicht als ethisch verwerflich an, wenn Freundschaften auseinander gehen oder ein Verein seine Selbstauflösung beschließt. Nur enttäuschte Erwartungen, nicht erfüllte Verpflichtungen oder andere Belange bzw. Interessen der Individuen können in solchen 44 Die Frage, was gilt, wenn Individuen freiwillig der Unauflöslichkeit einer Gemeinschaft zugestimmt haben, etwa der Ehe oder dem Eintritt in einen geistlichen Orden, bleibt hier außer Betracht.

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

Fällen zu einer negativen ethischen Bewertung und zu entsprechenden Verzögerungsund Kompensationspflichten führen, nicht aber die Beendigung der Gemeinschaft als solche. Sie ist ethisch neutral, weil die Gemeinschaft als solche unabhängig von ihrer Bejahung durch die Individuen keinen eigenen Wert hat. Wie bei der Frage der Auflösbarkeit zeigt sich der Unterschied in der Berücksichtigung von Individuen auch bei der Ersetzbarkeit. Kollektive lassen sich, sofern alle betroffenen Individuen zustimmen, ohne ethische Beschränkungen durch andere Kollektive substituieren. Niemand hat es etwa als ein ethisches Problem angesehen, dass in Frankreich die Vierte Republik durch die Fünfte Republik ersetzt wurde. Und niemand sah es als ethisches Problem an, dass die Europäischen Gemeinschaften Teil der Europäischen Union wurden. Die Umwandlung von Unternehmen einer Rechtsform in eine andere ist tägliches Brot der Wirtschaftsberater, Rechtsanwälte und Registergerichte. Würde dagegen jemand zwei Menschen töten und dann zwei neue zeugen, um die Getöteten zu ersetzen, so würden wir das unter allen Umständen für ethisch verwerflich halten und als Mord bzw. Totschlag qualifizieren.45 Wir sind davon überzeugt, dass individuelle Menschen anders als Kollektive nicht wechselseitig ersetzbar sind. Viele würden das auch für Tiere akzeptieren, während es bei Bäumen schon zweifelhaft wäre – was die noch zu erörternde abnehmende Berücksichtigungswertigkeit dieser Gruppe von Individuen zeigt.

c) Einwände Es ist zwar nicht logisch zwingend und auch nicht ohne weiteres empirisch belegbar, dass alle Individuen selbständig und frei entscheiden.46 Aber keine Ethik kann sich auf logische Notwendigkeiten oder empirisch vollständig erfasste Daten stützen. Sie muss vielmehr von allgemein akzeptierten Fakten ausgehen. Ein Faktum ist, dass der einzelne Mensch anders als Kollektive im Laufe seiner kindlichen und jugendlichen Entwicklung mit zunehmender körperlicher und geistiger Reife regelmäßig aus sich selbst heraus sowohl in der Lage als auch willens ist, über zentrale Fragen seines Lebens selbständig und selbstbestimmt zu entscheiden.47 Es gibt zwar ganz bestimmte Lebenssituationen, wo manche Handlungen, die uns betreffen, bis zu einem gewissen Grade auch von vertrauenswürdigen Experten abhängen,48 etwa dem Arzt, dem Rechtsanwalt, dem Apotheker oder dem Pfarrer. Aber erstens ist es sicherlich nicht so, dass es sich hierbei um die meisten Fragen unseres Lebens handelt.49 Zweitens wollen wir auch in diesen 45 Dieses Beispiel stammt von Marcia W. Baron, Kantian Ethics, in: Marcia W. Baron / Philip Pettit / Michael Slote, Three Methods of Ethics: A Debate, S. 3–91, S. 24. 46 So ein Gegenargument von Ludwig Siep, Konkrete Ethik, S. 111 f. 47 Davon geht auch das Recht aus: „§ 1626 BGB Elterliche Sorge: (2) Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewußtem Handeln. […]“ 48 So ein weiteres Argument Ludwig Sieps, Konkrete Ethik, S. 112. 49 So die Annahme Sieps.

5. Begründung des Individualprinzips

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Fällen zunächst autonom entscheiden, ob und wie weitgehend wir uns den Experten anvertrauen. Drittens versuchen die meisten trotz dieser Verantwortungsübertragung an Experten ein Höchstmaß an Kontrolle über deren Handeln zu behalten. Der Arzt soll etwa nicht beliebig, sondern nur mit der aufgeklärten Zustimmung des Patienten behandeln. Er muss den Patienten laufend über die Diagnose und Therapie informieren. Schließlich stehen die Experten gerade nicht notwendig oder auch nur häufig in einem besonderen familiären, freundschaftlichen oder sonstigen Kollektivverhältnis zu uns. Wir konsultieren sie vielmehr regelmäßig als Fremde und aus zweckrationalen Überlegungen, um bestimmte Ziele zu erreichen, die wir allein nicht realisieren können, etwa um unsere Gesundheit wiederzuerlangen, einen Prozess zu gewinnen, ein Medikament zu erhalten oder religiöse Sakramente zu empfangen. Die Experten haben für uns primär die Funktion, unser Leben zu fördern, obwohl wir sie natürlich, weil sie Menschen und damit moralisch zu berücksichtigende Individuen sind, nicht nur als Mittel zum Zweck behandeln dürfen. Joseph Raz hat den normativen Individualismus mit folgender Erwägung in Frage gestellt:50 „Is there anything wrong with moral individualism? Are any collective goods intrinsically desirable? I will suggest that some collective goods are intrinsically desirable if personal autonomy is intrinsically desirable. If this is so then right-based theories cannot account for the desirability of autonomy.“ An dieser Aussage ist schon die keinesfalls notwendige Verbindung von normativem Individualismus und einer Rechte-basierten Ethik problematisch, denn die Rechte-basierte Ethik kann – wie sich im nächsten Abschnitt noch erweisen wird – allenfalls als eine mögliche Kon­kretisierung des normativen Individualismus angesehen werden. Aber sieht man von diesem Einwand ab, so gilt: Raz geht davon aus, dass Autonomie im Sinn von Wahlfreiheit intrinsisch gut für ein Leben ist. Wenn Autonomie intrinsisch gut für ein Leben ist, dann soll es auch intrinsisch gut sein, eine hinreichend große Zahl von möglichen und akzeptablen Optionen für die autonome Wahl zu haben, etwa die Möglichkeit, Architekt zu werden, oder die Möglichkeit, als Homosexueller eine eheähnliche Gemeinschaft einzugehen. Das Ideal der persönlichen Autonomie soll also nach Raz dazu führen, dass wenigstens einige der entsprechenden kollektiven Güter intrinsisch gut sind, was den normativen Individualismus widerlegen soll.51 Diese Erwägung steht und fällt mit der Auszeichnung der Autonomie als intrinsisch gut. Aber dafür liefert Raz keine Rechtfertigung. Autonomie im Sinne von Wahlfreiheit ist jedoch ein Spezialfall unter den Gütern. Sie ist gerade nicht unabhängig von den Individuen und ihren Belangen absolut, sondern nur relativ zu diesen Individuen und ihren Belangen gut. Sie selbst und das Maß ihrer Güte hängen von ihrer Forderung und Bewertung durch die betroffenen Individuen ab. Wir würden es nicht als gut ansehen, wenn jemandem Autonomie im Sinne von Wahlfreiheit jenseits des von ihm gewünschten Maßes aufgedrängt würde, weil darin eine Missachtung des Individuums 50 Joseph Raz, The Morality of Freedom, S. 199–207. 51 Joseph Raz, The Morality of Freedom, S. 206: „The ideal of personal autonomy entails, therefore, that collective goods are at least sometimes intrinsically valuable.“

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

läge. Das zeigt aber, dass die Autonomie im Sinne der Wahlfreiheit, zumindest sofern sie gemeinschaftlich erzeugt und gewährt wird, in ihrer tatsächlichen Realisierung kein intrinsisches Gut ist, sondern die Bejahung durch die Betroffenen zur notwendigen Bedingung hat. Autonomie im Sinne von Wahlfreiheit ist eine erste und wesentliche Konkretisierung des normativen Individualismus. Es mag etwa sein, dass sich in einer Gesellschaft alle Menschen endgültig gegen bestimmte Optionen der Berufs- oder Partnerwahl entscheiden, etwa aus religiösen, nicht weiter objektivierbaren Gründen. Der Vertreter intrinsischer kollektiver Werte bzw. Güter müsste dann behaupten, dass diese intrinsischen kollektiven Werte bzw. Güter gegen den Willen aller Betroffenen bestehen bleiben oder durchgesetzt werden sollen. Aber die Autonomie der Wahlfreiheit des Einzelnen kann im Extremfall zur berechtigten Entscheidung für die Existenz als Eremit führen und damit jede Gesellschaft sowie alle in ihr erreichbaren kollektiven Güter negieren. Die Möglichkeit und Berechtigung dieses Extremfalls zeigt, dass kollektive Güter in einer Gemeinschaft nicht unabhängig von individuellen Interessen intrinsisch wertvoll sein können. Man kann den Einwand gegen Raz noch allgemeiner fassen: Selbst wenn es von menschlicher bzw. sonstiger individueller Bewertung unabhängige Güter oder Werte gäbe, wäre es doch notwendig, dass Individuen diese Güter oder Werte zunächst erkennen und dann vor allem mittels eigener Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele zum für sie und andere moralisch relevanten Belang erheben. Denn es ist nicht ersichtlich, woraus ohne eine solche individuelle Bewertung im Rahmen einer immanenten, nichtreligiösen Perspektive die normative Kraft dieser Werte resultieren sollte. Autonomie kann nun aber nicht nur die Wahlfreiheit äußerer kollektiver Optionen meinen, sondern auf einer fundamentaleren Ebene auch die Willens- und Handlungsfreiheit, also die grundsätzliche Möglichkeit, zu wollen und gemäß diesem Wollen zu handeln. Aber diese Autonomie als Willens- und Handlungsfreiheit ist nun weder ein kollektiver Wert noch ein kollektives Gut. Es handelt sich vielmehr um eine – im Fall der Willensfreiheit umstrittene  – natürliche Bedingung individuellen menschlichen Handelns. Kann es eine Rechtfertigung oder Widerlegung des normativen Individualismus geben, die ontologisch noch grundlegender ist als die hier vorgestellte? Gibt es etwa ein grundlegendes „Prinzip der Individualität“?52 Oder gibt es umgekehrt einen grundlegenden Kollektivismus, wie ihn manche strikte Kommunitaristen annehmen? Wie erwähnt, scheinen hier Zweifel angebracht zu sein. Sobald man versucht, im Rahmen der ersten Frage der moralisch zu berücksichtigenden Wesen noch grundlegender und damit notwendig noch ontologischer zu argumentieren, büßt die normativ-ethische Fundierung zwangsläufig an Begründungskraft ein. Man stellt dann zwar vielleicht eine ontologische Beschreibung bzw. Behauptung auf, formuliert aber kein Element einer normativen Ethik, das schon eine gewisse normative Kraft aufweisen muss, um erster Teil einer rechtfertigungsfähigen Ethik sein zu können.

52 Vgl. Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität.

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5. Begründung des Individualprinzips

d) Akteur und Anderer Das normativ-ethische Grundverhältnis, also die Konkretisierung der Kritik und Rechtfertigungsfunktion der normativen Ethik im engeren Sinn mit Bezug auf die Relation Akteur-Anderer, lässt sich folgendermaßen visualisieren, wobei der durchbrochene Pfeil die fragliche Handlung mit Bezug auf den betroffenen Andern symbolisiert und der nicht durchbrochene Pfeil die potentiell gegenläufige Verpflichtung des Handelnden durch den betroffenen Anderen: A

A

K

N

T

D

E

E

U

R

R

E R

Auf dieser Stufe der Theorie ist mit der abstrakten Unterscheidung zwischen Akteur und betroffenem Anderen noch nicht ausgeschlossen, dass beide im konkreten Fall ein und dasselbe Individuum sind, dass also Pflichten gegen sich selbst bestehen. Kapitel VIII wird aber zeigen, warum derartige Pflichten nicht anerkannt werden können. Die Verpflichtungs- und Handlungsrelationen können natürlich auch umgekehrt bestehen, so dass der Akteur zum Anderen wird und der Andere zum Akteur. Sind beide Beteiligte nicht nur moralisch betroffene Andere, sondern auch moralisch einsichtsfähig handelnde Personen wie etwa beim Standardfall zweier Erwachsener, so sind Handlungen und Verpflichtungen regelmäßig wechselseitig: A

A

K

N

T

D

E

E

U

R

R

E R

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

6. Begründung des Allprinzips Warum sind alle von einer Handlung betroffenen Individuen zu berücksichtigen und nicht nur einige, zum Beispiel eine Elite, wie es etwa manche Äußerungen Nietzsches nahe legen,53 warum gilt also das Allprinzip? Die Trennung zwischen dem Handelnden und dem von einer Handlung moralisch Betroffenen und damit das Individualprinzip des normativen Individualismus setzen voraus, dass der Betroffene moralisch relevante Eigenschaften aufweist oder entfaltet (welche, wird im nächsten Kapitel zu erörtern sein). Ist dies nicht der Fall, so kann er nicht selbständig moralisch berücksichtigungswürdig sein. Dieses Erfordernis der Entfaltung moralisch relevanter Eigenschaften gilt nun aber für alle moralisch zu berücksichtigenden Einzelnen in gleicher Weise. Alle moralisch zu berücksichtigenden Individuen stehen unter dem Erfordernis, eigenständige moralisch relevante Eigenschaften aufzuweisen oder zu entfalten. Ist dies aber die entscheidende Voraussetzung für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit, dann ist kein Grund ersichtlich, warum nicht alle Wesen, bei denen diese moralisch relevanten Eigenschaften bestehen, also die erste Voraussetzung für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit zutrifft, grundsätzlich moralisch bzw. ethisch zu berücksichtigen sein sollen (vorbehaltlich der anderen vier Elemente der Rechtfertigung). Für alle moralisch zu berücksichtigenden Individuen ergibt sich eine Betroffenheit, sofern die Individuen eine entsprechende moralisch relevante Eigenschaft aufweisen und die Handlung im konkreten Einzelfall dieser Eigenschaft entweder entsprechen oder widersprechen kann. Diese Einsicht bereitet auch die noch näher zu erörternde Frage vor, wie weit die Grenze der moralisch zu berücksichtigenden Arten von Individuen zu ziehen ist (vgl. Kapitel XIII).

7. Begründung des Prinzips der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung Mit dem Individualprinzip und dem Allprinzip des normativen Individualismus notwendig verbunden ist das dritte Teilprinzip des normativen Individualismus, das Prinzip der fundamentalen Gleichheit der Berücksichtigung aller Individuen. Wenn alle betroffenen Individuen zu berücksichtigen sind, so gibt es keinen Grund, einzelne Individuen von vornherein und als solche ungleich zu berücksichtigen, sofern sie grundsätzlich betroffen sind. Keiner hat einen prinzipiell herausgehobenen Status. Denn worauf sollte dieser sich stützen, wenn keine religiösen oder ontologisch-metaphysischen Zusatzannahmen gemacht werden? In der Abwägung von Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und

53 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Sämtliche Werke 5, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Studienausgabe München 1980, S. 205 ff.

7. Begründung des Prinzips der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung

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Strebungen ist grundsätzlich jeder gleichermaßen Quelle von Normativität. Wenn die betroffenen Individuen als Individuen zu berücksichtigen sind, so gibt es keinen Grund, sie auf einer fundamentalen Ebene als ungleich zu berücksichtigen. Jede Form einer grundsätzlichen Ungleichbe­rück­sichtigung von Frauen und Männern, von Erwachsenen und Kindern, von Alten und Jungen, von Bürgern und Nichtbürgern, von Armen und Reichen, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist deshalb ethisch ausgeschlossen. Allerdings muss zwischen dem grundsätzlichen Prinzip der Gleichberücksichtigung als erstem Element der normativ-ethischen Theorie und verschiedenen anderen Ausprägungen des Gleichheitsgedankens klar unterschieden werden: Erstens: In Kapitel V wird sich zeigen, dass bei der Abwägung der fraglichen Belange das Prinzip der Gleichheit der Interessenbefriedigung eine Rolle spielt. Dabei wird sich aber erweisen, dass es sich weder um das einzige noch um das grundlegende Abwägungsprinzip der normativen Ethik handelt. Zweitens: Vom Prinzip der Gleichberücksichtigung und dem Prinzip der Gleichheit der Interessenbefriedigung muss des Weiteren die Pflicht zur Gleichberücksichtigung bzw. Gleichbeachtung klar unterschieden werden. Die Pflicht zur Gleichberücksichtigung bzw. Gleichbeachtung ist ein mögliches Ergebnis der gesamten normativ-ethischen Rechtfertigung, also ein Ergebnis der Verbindung aller fünf Elemente der normativethischen Begründung primärer Normordnungen. Dabei kann es natürlich mit guten Gründen im Einzelfall oder in bestimmten Typen von Fällen eine Erlaubnis oder sogar eine Pflicht zur Ungleichberücksichtigung geben. Eigene Kinder etwa verdienen mehr Aufmerksamkeit als fremde – sofern nicht spezielle Umstände hinzukommen, etwa die Übernahme einer besonderen Aufsicht über die fremden Kinder. Nicht ausgeschlossen ist also – wie noch näher zu erläutern sein wird –, dass auf der Basis des fundamentalen Prinzips der Gleichberücksichtigung spezifische Belange und Interessen einzelner Individuen in unterschiedlichen Konfliktsituation unterschiedlich stark beachtet werden müssen. Drittens: Vom Prinzip der Gleichberücksichtigung, dem Prinzip der Gleichheit der Interessenbefriedigung und der Pflicht zur Gleichberücksichtigung sind schließlich sorgfältig die Pflichten zur Gleichbehandlung und zur Gleichstellung zu unterscheiden. Die Pflicht zur Gleichbehandlung ist wie die Pflicht zur Gleichberücksichtigung kein Teil eines der fünf Begründungselemente, sondern ein mögliches Ergebnis der fünf Elemente einer adäquaten normativen Ethik. Dabei kann es im Einzelfall oder in bestimmten Typen von Fällen natürlich gute Gründe für eine Erlaubnis oder sogar eine Pflicht zur Ungleichbehandlung geben. Behinderte müssen etwa unter bestimmten Umständen bevorzugt werden. Vergleichbares gilt für eine noch weiter gehende Pflicht zur Gleichstellung. Man sollte sich an dieser Stelle das Verhältnis zwischen den ersten beiden Teilen des Prinzips des normativen Individualismus und dem Prinzip der grundsätzlichen Gleichheit der Berücksichtigung der Individuen deutlich machen. Das Individualprinzip und das Allprinzip des normativen Individualismus sind fundamentaler. Das Prinzip der grundsätzlichen Gleichheit der Berücksichtigung der Individuen stellt eine wesentliche Folgerung aus den ersten beiden Teilprinzipien des normativen Individualismus dar.

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I. Die letztlich zu berücksichtigenden Wesen: Individuen

8. Die ontologische Voraussetzung Wie jeder ethischen Theorie liegt auch dem normativen Individualismus eine gewisse Minimalontologie als notwendige, wenn auch nicht normativ bestimmende, also hinreichende Bedingung zu Grunde. Ausschließlich Individuen als in letzter Instanz moralisch zu berücksichtigend anzusehen setzt voraus, dass derartige Individuen zum einen als prinzipiell bestehend (wenn auch vielleicht erst in der Zukunft) und zum anderen als von anderen Wesen unterscheidbar angenommen werden. Vorauszusetzen ist also eine individualistische Sozialontologie.54 Allerdings handelt es sich dabei wie gesagt nur um eine minimale Ontologie und auch nur um eine Sozialontologie als Teil der allgemeinen Ontologie. Es ist zum Beispiel durchaus mit dem normativen Individualismus vereinbar – und im Übrigen empirisch sehr gut begründet –, davon auszugehen, dass es keine völlig isolierten Individuen ohne Relationen zu anderen Individuen gibt. Jeder Mensch hat etwa biologische Eltern. Mit dem normativen Individualismus ist es auch vereinbar, anzunehmen, dass alle Individuen Teil eines größeren Ganzen, etwa der Welt als Ganzes, sind. Nur drei sehr extreme ontologische Auffassungen sind denkbar, welche den normativen Individualismus prinzipiell ausschließen würden. Die erste wäre ein absoluter ontologischer Holismus, also eine Theorie der absoluten metaphysischen Einheit bzw. Identität der Welt, wonach nur ein einziges, intern nicht differenziertes Seiendes bestünde.55 Die zweite wäre ein absoluter ontologischer Nihilismus, wonach nichts besteht. Die dritte wäre ein absoluter ontologischer Kollektivismus, wonach die Welt nur in Kollektive zerfällt, die wiederum nicht in Individuen zerfallen – was immer man darunter zu verstehen hätte, denn es scheint so zu sein, dass der Begriff des Kollektivs bereits den der Individuen als Teil dieses Kollektivs voraussetzt. Keine dieser extremen Varianten einer Ontologie wird ernsthaft vertreten. Würde eine der ersten beiden Varianten zutreffen, so wäre ohnehin mangels Differenzierung von Handelndem und Betroffenem jede Moral und Ethik undenkbar. Diese beiden ontologischen Varianten sind also rein begrifflich mit der Frage nach einer Moral und Ethik ausgeschlossen. Die dritte Variante eines absoluten ontologischen Kollektivismus widerspricht nicht nur allen unseren Annahmen über die Welt, sondern wird – soweit ersichtlich – weder von Philosophen im Allgemeinen noch von holistischen Ethikern im Besonderen auch nur in Erwägung gezogen.

54 Vgl. zu einer dazu passenden allgemeinen Ontologie: Peter F. Strawson, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, Nachdr. London 1990. 55 Vgl. dazu: Verf., Absolute Identity / Unity, in: The Review of Metaphysics LXII (2009), S. 803–818.

9. Asymmetrie und Symmetrie der Verpflichtungen

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9. Asymmetrie und Symmetrie der Verpflichtungen Moralisch und ethisch verpflichtet können nur einsichtsfähige Menschen sein (sog. moralische Subjekte / moral agents). Stehen sie in einem moralischen Konflikt nicht gleichermaßen einsichtsfähigen Menschen, sondern anderen moralisch zu berücksichtigenden Individuen (sog. moralischen Objekten / moral patients) gegenüber, so resultiert eine Asymmetrie der Verpflichtung. Begegnen sich dagegen in einem moralischen Konflikt zwei einsichtsfähige Menschen, so tritt zur fundamentalen Gleichheit der moralischen Berücksichtigung eine Symmetrie als moralisch Handelnde und Wissende hinzu. Oder abstrakter ausgedrückt: Einsichtsfähige Menschen verdienen nicht nur passiv in gleicher Weise durch den jeweils Anderen Berücksichtigung. Sie sind einander auch aktiv in gleicher Weise verpflichtet. Schließlich wird auch das jeweilige Wissen einsichtsfähiger Menschen, das diesen aktiven wie passiven Aspekten der Verantwortung und Berücksichtigung zu Grunde liegt, prinzipiell als gleich angenommen, obwohl es sich in der Realität natürlich unterscheidet.

II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen (Belange bzw. Interessen) Akzeptiert man den normativen Individualismus als erste und grundlegende Forderung an die Moral und damit als erstes und grundlegendes Element bzw. Prinzip der normativen Ethik, so stellt sich die weitere Frage: Welche Eigenschaften der in letzter Instanz moralisch zu berücksichtigenden Individuen sollen für eben diese Berücksichtigung relevant sein?1

1. Kritik verschiedener Vorschläge a) Zwei Adäquatheitsbedingungen Zur Frage der moralisch entscheidenden Eigenschaften der Individuen gibt es eine schier unübersehbare Vielzahl von Vorschlägen, etwa Selbsterhaltung (Hobbes), Wille, Willkür (Rousseau, Kant), Geschädigtsein (harm, Mill), individuelle menschliche Entwicklung (human flourishing, Pogge), Glück (eudaimonia, happiness, Aristoteles), Freiheit (von Hayek), Funktionen und Fähigkeiten (capabilities, Sen), Wohlergehen, Wohl­fahrt (well-being, welfare, Griffin, Raz, Sumner), Lust und Leid bzw. Nutzenbefriedigung, sog. Hedonismus (Bentham, Mill, klassischer Utilitarismus), das moralische Gesetz „in mir“ (Kant), Autonomie (Selbstgesetzgebung, Kant), Gefühle (Tugendhat), Mitleid (Schopenhauer), Rechte (Nozick, Dworkin), faktische Einwilligung (Locke), fiktive Zustimmung bzw. Rechtfertigung (Scanlon, Habermas, Koller), Bedürfnisse (Marx, Apel), Wünsche (desires, Sidgwick), Ziele (aims, goals), Strebungen, Interessen (Höffe, Hoerster, Patzig), Präferenzen (Arrow, Gauthier).2 1 2

Der Begriff der Eigenschaft wird dabei in einem sehr weiten Sinn verstanden, also einschließlich zweiund mehrstelliger Relationen und auch im Sinne von Tätigkeits- und Ereignistypen. Thomas Hobbes, Leviathan, hg. von Richard Tuck, Cambridge 1991, Kap. XVII, S. 117; Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social, Paris 1992, 2. Buch, 3. Kap., S. 54; Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.  393; ders., Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S.  230; John S.  Mill, On Liberty, hg. von Elizabeth Rapaport, Indianapolis 1978, S.  9; Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, S. 26 ff.; Amartya K. Sen, Inequality Reexamined, 3. Aufl. New York 1995, passim; Friedrich A. von Hayek, The Constitution of Liberty, passim; James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance; Joseph Raz, Ethics in the Public Domain, Oxford 1994, S. 3 ff.; Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics; Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. I 1., S. 1; Immanuel Kant, Kritik der

1. Kritik verschiedener Vorschläge

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Diese umfangreiche, aber noch keineswegs vollständige Aufzählung von Vorschlägen soll davor bewahren, sich zu schnell und ohne weiteres auf einen von ihnen zu beschränken, wie dies häufig geschieht3 und was zu wenig umfassenden, das heißt philosophischmethodisch zweifelhaften Erklärungsversuchen führt. Man wird sich vielmehr zunächst fragen müssen, wie man überhaupt aus diesen verschiedenen Vorschlägen auswählen soll. Zwischen diesen Vorschlägen lässt sich nur mit Hilfe zweier Adäquatheitsbedingungen entscheiden. Diese zwei Adäquatheitsbedingungen sind – wie in der Einleitung zu den Elementen einer begründeten normativen Ethik erläutert – janusköpfig: Die erste blickt quasi auf das erste Element des normativen Individualismus zurück. Die zweite schaut auf die Auswahl zwischen möglichen Charakterformen, Handlungen bzw. Entscheidungen und dann weitergehend auf das normative Ziel der ethischen Recht­ fertigung voraus: Die erste dieser Adäquatheitsbedingungen ergibt sich aus einer Anwendung des normativ-indivi­dua­listi­schen Grundprinzips auf einer sekundären, theoriebestimmenden Ebene:4 Sieht man die Individuen als letzten Ausgangspunkt der normativen Ethik an, so darf man ihnen von außen keine bestimmte Eigenschaft als ethisch entscheidend zuschreiben. Man darf ihren Entscheidungsspielraum nicht einschränken, welcher Aspekt ihrer Individualität im Rahmen der moralischen Berücksichtigung für die Konsti­ tuierung des Konflikts und damit in der Abwägung mit den Belangen Anderer wesentlich sein soll. Eine derartige Selbstbestimmung durch einzelne konkrete Individuen ist natürlich im Rahmen einer intersubjektiv notwendigen Abwägung der Moral bzw. einer abstrakten Theorie, wie sie eine Ethik notwendig sein muss, unmöglich. Dann wird man aber zumindest Annahmen machen müssen, durch welche die Individuen in ihrer Freiheit und Individualität möglichst zur Geltung kommen. Die gesuchte Eigenschaft der Individuen darf also nicht zu eng und pater­nalistisch sein, soll sie das normativ-individualistische Prinzip der selbständigen Berücksichtigung der Individuen nicht unzulässig einschränken. Notwendig ist deshalb, dass eine subjektive Haltung und Bewertung eine wesentliche Rolle spielt. Die Eigenschaft darf also nicht rein aus

3 4

praktischen Vernunft (1788), Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V, Berlin 1908, Nachdr. Berlin 1968, A 288, S. 161; John S. Mill, Utilitarianism, hg. von H. B. Acton, London / Melbourne 1972; Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, S. IX; Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge 1977, S.  184 ff.; John Locke, Two Treatises of Government (1691), hg. von Peter Laslett, Cambridge 1991, The Second Treatise, § 95; Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 189 ff.; Peter Koller, Moderne Vertragstheorie und Grundgesetz, in: Winfried Brugger, Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1. Aufl. Baden-Baden 1996, S. 361–393; Karl-Otto Apel, Transformationen der Philosophie II, Frankfurt a. M. 1973, S. 425; Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, Indianapolis 1981, S. 43 ff., Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 55 ff.; Norbert Hoerster, Ethik und Interesse, Stuttgart 2003; Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik; Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values, 2. Aufl. New Haven 1963, S. 11 ff.; David Gauthier, Morals by Agreement. Etwa bei Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness and Ethics; James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance. Dies zeigt, dass das erste, ontologisch-fundamentale Element des normativen Individualismus grundlegender als die anderen Elemente ist, weil es auch die anderen Elemente mitbestimmt.

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

der Perspektive eines bloßen Beobachters festgelegt werden. Jede objektive Feststellung muss die Selbstzuschreibung der Betroffenen berücksichtigen.5 Die zweite Adäquatheitsbedingung ergibt sich aus der Funktion bzw. dem Ziel der normativ-ethischen Untersuchung: Die normativ-ethische Untersuchung dient nicht der bloßen Beschreibung der Moral, sondern auch und vor allem ihrer Begründung und Kritik. Sie ist also notwendig normativ im Sinne einer Fähigkeit, die Moral bzw. andere primäre Normordnungen zu begründen und zu kritisieren. Diese Normativität muss aus ihren Elementen erwachsen. Das erste Element des normativen Individualismus trifft zwar eine Auswahl zwischen ontologisch möglichen Alternativen und kann damit innertheoretisch die Grundlage für die anderen, normativ wirksamen Elemente liefern. Aber es schafft allein noch keine extern wirksame Normativität, die eine Rechtfertigung und Kritik moralischer Verpflichtungen ermöglichen würde. Die moralisch entscheidende ­Eigenschaft der Individuen hat dagegen diese Normativität zumindest in einer noch rohen und durch die nachfolgenden Elemente der Theorie weiter zu formenden Gestalt zu liefern. Die gesuchte Eigenschaft der Individuen muss also in der Lage sein, die ethische Relation zwischen den Individuen normativ zu bestimmen. Das heißt, es muss sich zwar um eine be­schreib­bare Tatsache bzw. Eigenschaft handeln. Aber anders als rein faktische Eigenschaften wie die Körpergröße oder das Gewicht einer Person braucht die für Moral und Ethik entscheidende Eigenschaft auch eine normative Dimension. Als Eigenschaft der moralisch und ethisch allein relevanten Individuen muss sie zur letzten Quelle der moralischen Normativität taugen – auch wenn sich diese, wie wir noch sehen werden, natürlich nicht in ihr erschöpft, da sie hinsichtlich der potentiell widerstreitenden Belange allein noch keine Objektivität der Konfliktlösung gewährleisten kann. Im Folgenden werden nun einzelne Vorschläge mit Hilfe dieser beiden Adäquatheitsbedingungen untersucht:

b) Einzelne Möglichkeiten Das Streben nach Selbsterhaltung mag ein zentrales Interesse der Menschen sein. Aber es gibt daneben noch andere Bedürfnisse und Wünsche, welche die Menschen befriedigt sehen wollen, etwa die Verwirklichung ihrer religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Überzeugungen. Die Beschränkung der moralisch relevanten Eigenschaft auf das Streben nach Selbsterhaltung ist also zu eng und paternalistisch und genügt der ersten Adäquatheitsbedingung einer weiten, die umfassende Berücksichtigung der Selbstzuschreibung der Individuen ermöglichenden Eigenschaft nicht. Der Willensbegriff verengt nach dem heutigen Verständnis  – abweichend von der sehr spezifischen Kantischen Interpretation, zu der gleich noch etwas zu sagen sein wird – die Bestimmung der Rechtfer­tigungsrela­tion auf einen tatsächlich bestehenden psychischen Zustand eines Indi­viduums mit höheren kognitiven Fähigkeiten. Die Be­ rücksichtigung der Belange von Neugeborenen, Komatösen usw. wird damit problema­ 5

Vgl. Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness and Ethics, S. 27 ff.

1. Kritik verschiedener Vorschläge

53

tisch. Entsprechendes gilt für die Belange von Erwachsenen, wenn sie der jeweiligen Person nicht bewusst sind. Dem psychologischen Willensbegriff fehlt es also sowohl an Weite als auch an normativer Bestimmungskraft. Weder hinreichend weit und offen noch hinreichend normativ sind auch die Eigenschaften der Schädigung und der menschlichen Entwicklung. Wir erwarten auch die Berücksichtigung von Belangen und Wünschen, welche nicht durch Schädigungen oder Ziele der menschlichen Entwicklung motiviert sind. Der Begriff der menschlichen Entwicklung hat überdies den Nachteil, dass er bereits rein begrifflich nichtmenschliche Lebewesen wie Tiere als moralisch und ethisch relevante Seiende ausschließt, die nach dem ersten Element des normativen Individualismus nicht von vornherein unberücksichtigt bleiben dürfen. Interpretiert man die Freiheit entweder als innere psychologische Handlungsbedingung oder als Unabhängigkeit von äußerem Zwang, so ist sie als Bestimmung zu einseitig und zu wenig normativ, um als grundlegende moralisch relevante Eigenschaft der Individuen zu taugen. Funktionen und Fähigkeiten der Individuen sind zwar wichtige Eigenschaften. Aber sie bleiben rein objektivistisch, ohne die je spezifische, subjektive Haltung der Betroffenen zu ihnen ausdrücken zu können. Sie nehmen die eigenen Entscheidungen der Individuen, also die erste Adäquatheitsbedingung, nicht hinreichend ernst. Verweigert jemand die Ausübung von Funktionen oder den Erwerb von Fähigkeiten, so ist das normativ-ethisch hinzunehmen. Beiden Eigenschaften fehlt überdies die nach der zweiten Adäquatheitsbedingung erforderliche normative Kraft. Die Eigenschaften sind als Ziele der Entwicklungspolitik propagiert worden und haben dort sicher einen sehr guten Sinn.6 Aber sie sind als alleinige normativ begründende Eigenschaften der Individuen im Rahmen einer grundlegenden, normativ-ethischen Theorie nicht hinreichend. Steht etwa in Frage, ob Versprechen zwischen Privaten gehalten werden sollen, so kann es nicht entscheidend sein, ob dadurch Funktionen und Fähigkeiten gefördert werden. Vergleichbares gilt für den Glücksbegriff. Das Glück bzw. ein glückliches Leben kann zwar in einem sehr formalen Sinn als abstraktestes Ziel vieler Menschen angesehen werden. Aber es bleibt doch zweifelhaft, ob dies wirklich für alle zutrifft, etwa für Märtyrer. Die Aspekte des Glücksbegriffs müssen überdies konkretisiert werden, um innerhalb einer normativ-ethischen Theorie als normativ wirksame Elemente dienen zu können. Im Übrigen ist der Glücksbegriff offen für eine rein objektivistische Bewertung durch Dritte und genügt damit der in der ersten Adäquatheitsbedingung geforderten Bestimmung durch die subjektive Selbstzuschreibung der Betroffenen nicht. Zumindest begrifflich ist es nicht widersprüchlich, jemanden „zu seinem Glück zu zwingen“. Ähnliches spricht dagegen, Wohlergehen bzw. Wohlfahrt als die grundlegende Eigenschaft anzusehen. Wir müssen annehmen, dass die betroffenen Individuen selbst noch einmal mit Rekurs auf ihre Ziele, Wünsche und Bedürfnisse über ihr Wohlergehen entscheiden wollen, und zwar jenseits aller objektivistischen Vorgaben.

6

Martha Nussbaum, Woman and Human Development. The Capabilities Approach, Cambridge 1999, S. 5 ff.

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

Für Lust und Leid, also den Hedonismus gilt: Es mag sein, dass manche unserer normativ relevanten Eigenschaften faktisch-kausal auf Lust und Leid rückführbar sind oder zumindest auch Aspekte von Lust und Leid beinhalten. Aber wir nehmen als entscheidungsfähige Wesen für uns in Anspruch, die wesentlich körperlichen Strebungen von Lust und Leid noch einmal durch unseren Willen und unsere mentalen Fähigkeiten zu bewerten und zu beurteilen. Wir setzen etwa ein Fußballspiel trotz verletzungsbedingter Schmerzen fort. Wir helfen Anderen, weil es notwendig ist, selbst wenn es Gefühle der Unlust in uns erzeugt. Diesem Anspruch auf voluntativ-mentale Bewertung und Beurteilung der physischen Zustände von Lust und Leid, der zentraler Ausdruck unserer Individualität und unseres Selbstverständnisses ist, muss eine adäquate normativ-ethische Theorie Rechnung tragen. Sähe man Lust und Leid als ethisch entscheidende Eigenschaften an, würde man also die erste Adäquatheitsbedingung verletzen. Das bereits von Sidgwick formulierte „fundamentale Paradox des Hedonismus“ spricht im Übrigen dagegen, Lust und Leid als grundlegende moralische Eigenschaft aufzufassen: Unmittelbares Streben nach Lust verhindert das Erreichen höchster Lust, sobald es dominant wird.7 Wer etwa beim Hören schöner Musik die Intention auf die Maximierung seiner Lust richtet, wird nicht die höchstmögliche Lust erzielen. Kants Annahme eines „moralischen Gesetzes in mir“,8 auf das der Wille jedes einzelnen Handelnden ausgerichtet sein soll, ist mit zwei Problemen behaftet: Bei der Annahme der Existenz dieses Gesetzes handelt es sich zum einen um eine starke metaphysische Spekulation, die wegen der Dunkelheit des Gesetzesbegriffs und der Zweifelhaftigkeit der individuellen Lokalisierung des Gesetzes kaum allgemein vorausgesetzt werden kann. Aber selbst wenn man ein solches „moralisches Gesetz in mir“ als bestehend ansehen würde, so wäre zum anderen das Resultat eine akteurszentrierte Ethik. Der Akteur müsste nur seinem eigenen moralischen Gesetz in sich folgen, nicht aber die Belange der anderen Individuen als genuinen Ausdruck ihrer Individualität unmittelbar ernst nehmen. Dies widerspricht der ersten Adäquatheitsbedingung der Realisierung des normativen Individualismus. Gefühle sind ohne Zweifel wesentliche psychisch-kausale Bestimmungsfaktoren unserer Bedürfnisse, Wünsche und Ziele. Insofern spielen sie in jeder Beschreibung der Moral eine wichtige Rolle. Aber in letzter normativer Hinsicht sehen wir sie nicht als alleinentscheidend an. Wir fragen etwa, ob sich ein Gefühl zu einem Bedürfnis, einem Wunsch oder einem Ziel entwickelt hat, um über seine moralische Signifikanz zu urteilen. Hat zum Beispiel jemand verwirrte Gefühle, die er bei Befragung nicht als Ziele, Wünsche oder Bedürfnisse artikulieren kann, so dürfen wir uns im moralischen Konflikt nicht allein auf seine Gefühle stützen. Die Gefühle sind ein wesentlicher Ausgangspunkt, nicht aber der Endpunkt des Entscheidungsprozesses eines Individuums im Hinblick auf seine in moralischen Konflikten entscheidenden Eigenschaften. Und für die Moral, das heißt für die Konfliktlösung und die Handlungspflichten der Akteure, ist dieser Endpunkt des Entscheidungsprozesses moralisch wesentlich, denn sonst würden 7 8

Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S. 48. Immanuel Kant, Kritik der Praktischen Vernunft, A 288, S. 161.

1. Kritik verschiedener Vorschläge

55

die von der Handlung betroffenen Individuen in ihrer Individualität bzw. Humanität durch eine Beurteilung des Akteurs auf den Ausgangspunkt ihrer Belange reduziert. Der Begriff der Rechte  – verstanden in einem subjektiven Sinn  – ist wichtig, um zentrale Lebensvorstellungen der Menschen zu kennzeichnen. Aber der Begriff ist für die umfassende Bestimmung der ethischen Relation zwischen Individuen aus mehreren Gründen wenig geeignet. Die Rechtferti­gungsrelation bedarf eines nor­mativen Transfers von den betroffenen In­divi­duen auf die ethische Entscheidung. Der ethischen Entschei­dung wird durch diesen Transfer die Unrechtmäßigkeit genommen. Der Begriff des „subjektiven Rechts“ impliziert da­gegen zumindest in einer von vielen angenommenen Interpretation umgekehrt, dass die Individuen eine Handlung oder Unterlassung fordern können, enthält also  – was in Kapitel  VII, 4 noch zu diskutieren sein wird – einen Anspruch.9 Man­che Interessen der Individuen münden sicherlich in einen solchen An­spruch, so dass sich in derartigen Fällen die Unterscheidung zwischen Interesse und Recht erübrigt. Aber Interessen, de­nen kein sinnvoller, über das Interesse an der Erfüllung hinausgehen­der Anspruch auf das Handeln eines anderen zuzuordnen ist, werden durch den Rechtsbegriff nicht erfasst. Wir haben zum Beispiel ein Interesse, dass alle sich soweit wie möglich bemühen, Tatsachen korrekt zu beschreiben. Aber es er­scheint nicht gerechtfertigt, ein generelles subjektives Recht im Sinne eines subjektiven Anspruchs gegenüber Anderen auf die bestmögliche Beschreibung von Tatsachen zu behaupten. Man kann den Rechtsbegriff natürlich so weit aus­dehnen, dass er nicht mehr einen Anspruch auf ein spezifisches subjektbezügliches Handeln, sondern allgemein die Beachtung aller Interessen des Ein­zelnen meint. Dann wären Rechts- und Interessenbegriff synonym. Das würde aber den Rechtsbegriff als spezifischeren Begriff und damit spezifi­scheres Instrument der normativen Ethik und des Rechts entwerten. Diese Strategie ist also wenig überzeugend. Man sollte den Rechtsbegriff deshalb besser für besondere Interessen reservieren, die mit einem Anspruch des Begünstigten verbunden sind, und nicht versuchen, ihn so auszudehnen, dass er zur Bezeichnung der grundlegenden Eigenschaft der betroffenen Individuen tauglich wird. Die Eigenschaft der faktischen Einwilligung bzw. Zustimmung kann sowohl als weit genug und damit dem normativen Individualismus entsprechend als auch als normativ bestimmend an­ge­sehen werden. Aber sie wird nur in den seltensten Fällen tatsächlich vorliegen. Und wenn sie vorliegt, bedarf es keiner Moral und damit keiner Ethik. Dies drückt der klassische Grundsatz „volenti non fit iniuria“ aus. Das Erfordernis der faktischen Einwilligung ist ein sehr starkes Erfordernis. Man sollte sich vor Augen führen, dass es viel stärker als die Eigenschaften der Bedürfnisse, Wünsche oder Interessen ist. Die faktische Einwilligung setzt die vollständige Entsprechung voraus. Bedürfnisse, Wünsche oder Interessen kann man dagegen nur zum Teil oder im Extremfall auch gar nicht befriedigen, ohne dass ihre prinzipielle Berücksichtigung aufgehoben würde. Dies entspricht dem Normalfall der Moral und Ethik viel 9

Vgl. Wesley N. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning (1919), Westport 1978; Judith J. Thomson, The Realm of Rights, Cambridge 1990.

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

eher, weil die Moral ja in der Vermittlung zwischen widerstreitenden Belangen ihr Ziel hat. Und es scheint für eine Rechtfertigung auch zu genügen, weil die Moral keine allgemein organisierte und institutionalisierte Zwangsgewalt darstellt, sondern ein diffuses Netz von Regeln und Wertungen. Allenfalls für die sehr viel speziellere und massiver eingreifende Etablierung einer kollektiven Zwangsgewalt wird man deshalb vielleicht das erheblich stärkere Erfordernis der faktischen Zustimmung verlangen dürfen. Das Problem der Stärke und des fehlenden Bestands der faktischen Einwilligung versucht der Begriff der fiktiven Einwilligung bzw. Zustimmung zu lösen. Dieser Begriff erfüllt zwar das Erfordernis der ersten Adäquatheitsbedingung. Er bedarf jedoch der Konkretisierung. Er muss objektiv handhabbar gemacht werden, um normativ wirksam werden zu können. Das heißt, er muss hinreichend bestimmt werden, um rechtfertigend zu wirken. Manche greifen dazu auf die Vernunft zurück,10 andere auf den idealen Diskurs.11 Auf diese Weise wird aber kaum etwas an zusätzlicher Konkretisierung und damit normativer Bestimmtheit gewonnen. Das Kriterium der fikti­ven Einwilligung ist deshalb einerseits zu schwach, andererseits zu stark. In man­chen Si­tuationen genügt es nicht, bloß eine „fiktive“ Einwilligung einzuholen, weil der Be­troffene tatsächlich befragt werden kann und muss. Nötig ist dann die tatsächliche Einwilligung, etwa in Form der aufgeklärten Zustimmung bei medizinischen Heilbehandlungen, die nur in seinem Interesse vorgenommen werden und nicht das Ergebnis einer moralischen Interessenabwägung sind. In anderen Fällen finden sich keinerlei Anhaltspunkte für eine tatsächliche Haltung des Betroffenen zu der konkreten Streitfrage. Dann von einer fiktiven Einwilligung auszugehen, wäre eine bloße Verschleierung der externen, objektivierenden Beurteilung im allenfalls mutmaßlichen Interesse der betroffenen Individuen.

c) Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen, Interessen, Präferenzen Damit verbleiben von den oben aufgezählten Vorschlägen noch sechs: die Ziele, die Wünsche, die Bedürfnisse, die Strebungen und die Interessen, die man mit einem deutschstämmigen Wort auch als „Belange“ bezeichnen kann, sowie die Präferenzen. Diese Vorschläge genügen grundsätzlich den beiden oben aufgestellten Adäquatheitsbedingungen für die normativ-ethisch relevante Eigen­schaft der Individuen: Sie sind nicht so eng und rein objektivistisch, dass sie das normativ-individualistische Paradigma von vornherein zu sehr ein­schränken und keine Rücksicht auf die Selbstbewertung der Individuen nehmen würden. Und sie weisen einen über die bloße Faktizität hinausgehenden, konkret-individuellen normativen Anteil auf. Es handelt sich um faktische Eigenschaften, die aber auch einen Anspruch auf Berücksichtigung und Befriedigung geltend machen. Sie sind also in der Lage, die ethische Relation zwischen den Indi­vi­du­ en normativ zu bestimmen. 10 Thomas M. Scanlon, What We Owe To Each Other, S. 189 ff. 11 Jürgen Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, S. 53–126, S. 103; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, S. 134.

2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen

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Aber da es sich noch um mehrere Eigenschaften handelt, stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis. Man muss sie zueinander in Beziehung setzen, um bei der Bestimmung der ethisch relevanten Eigenschaften einen Fortschritt zu erzielen. Dabei ist der Begriff des Belangs bzw. Interesses der abstrakteste, das heißt umfassendste. Der Begriff der Präferenz kann, wie noch näher zu erläutern sein wird, zu ihm synonym verstanden werden. Die Begriffe der Ziele, der Wünsche, der Bedürfnisse und der Strebungen sind jeweils konkreter und damit der Realität näher stehend. Sie sollen zunächst erörtert werden, weil man sich mit diesen Eigenschaften im Rahmen der Gesamttheorie der normativen Ethik der faktischen Welt am weitesten annähert. Es handelt sich um tatsächlich bestehende und deshalb auch empirisch wahrnehmbare Eigenschaften der Individuen, die aber zusätzlich eine normative Dimension aufweisen und deshalb im Rahmen ihrer Einbettung in eine Ethik auch normativ relevant werden.

2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen Die soeben genannten, sowohl subjektiv-individualistisch offenen als auch normativ funktionsfähigen Eigenschaften müssen nun näher analysiert und verglichen werden. Was auffällt, ist, dass diese Eigenschaften offenbar ein Kontinuum zwischen Körperlichkeit und Geistigkeit des Menschen abdecken, ein Kontinuum, das dann sekundär auch ein Kontinuum von Passivität und Aktivität ist und eine Systematisierung ermöglicht:

a) Strebungen Strebungen sind rein vegetativ-körperlich fundierte und orientierte, vollständig passivische Eigenschaften, die der Aufrechterhaltung der körperlichen Integrität dienen und auf der Wirkung der physikalischen Grundkräfte aufbauen.12 Sie lassen sich als lokale und zeitweilige Umkehrung der allgemeinen physikalischen En­tropie kennzeichnen und finden sich nur bei Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren und Menschen, nicht aber bei lebloser Materie, wie Steinen oder Gewässern. Strebungen setzen keine Bewusstheit oder mentale Beeinflussbarkeit voraus. Strebungen des menschlichen Körpers wären zum Beispiel seine Regulation des Temperaturausgleichs sowie seine Abwehr schädigender Mikroorganismen mit Hilfe des Immunsystems. Strebungen der Pflanzen wären zum Beispiel ihre Wasseraufnahme entgegen der Schwerkraft und die Wendung ihrer Blätter ins Sonnenlicht. Strebungen sind nicht normativ iterierbar, das heißt, es kann keine Strebung „über“ eine Strebung geben. Strebungen sind allenfalls schwer, indirekt und partiell mental beeinflussbar. Sie sind deshalb kaum variabel und relativ eindeutig objektiv bestimmbar. 12 Der Begriff wird hier enger als im Alltag verstanden, wo jemand etwa „nach Erfolg streben“ kann, was eher einen Wunsch oder ein Ziel darstellt. Die hier vorgenommene Abgrenzung zu den anderen Eigenschaften soll ein Phänomen beschreiben, enthält aber zum Zweck der Präzisierung unscharfer Begriffsgrenzen auch einen gewissen stipulativen Anteil.

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

b) Bedürfnisse Bedürfnisse haben regelmäßig eine körperliche Basis, sind aber in verschiedener Hinsicht notwendig mental beeinflussbar, wenn auch nur relativ schwach, etwa im Hin­blick auf den Zeitpunkt und den Umfang ihrer Befriedigung. Sie setzen also die Möglichkeit eines mentalen Bedürfniszustands voraus und sind nicht mehr vollständig passivisch. Bedürfnisse müssen im Gegensatz zu bloßen Strebungen empfunden werden können. Zweifelhaft ist, ob die mentale Komponente von Bedürfnissen so stark ausgeprägt ist, dass man sie immer als intentional auf ein Objekt gerichtet ansehen kann, wie dies bei Wünschen und Zielen der Fall ist. Bedürfnisse finden sich nur bei Menschen und Tieren, etwa das Bedürfnis nach Nahrung, nach Flüssigkeit, nach Schlaf und Ruhe, nach Ausscheidung, nach Schutz vor den Unbilden des Wetters, nach Freiheit von Schmerz usw. Man kann im Deutschen kaum davon sprechen, dass eine Pflanze ein „Bedürfnis“ hat, allenfalls einen „Bedarf“ im Sinne des Inhalts einer Strebung. Allerdings scheinen sich hier die Begriffsgrenzen des Deutschen und des Englischen zu unterscheiden. Das englische „need“ ist offenbar weiter und setzt nicht die Möglichkeit eines mentalen Bedürfniszustands voraus. Der Ausdruck „need“ würde dann sowohl Bedürfnisse als auch Strebungen umfassen. Bedürfnisse können stark sozial orientiert oder beeinflusst sein, etwas das Bedürfnis nach sozialer Gemeinschaft, nach Kommunikation und nach Anerkennung. Die körperliche Basis kann weitgehend zurückgedrängt werden, ja vielleicht im Extremfall sogar fast ganz verschwinden, wobei man dann auch schon von Wünschen sprechen kann. Bedürfnisse sind wohl wie Strebungen im Regelfall nicht iterierbar. Wir können also normalerweise nicht das Bedürfnis nach einem Bedürfnis haben, weil die mentale Komponente zu schwach ist, um eine intentionale Bezugnahme auf einer sekundären Ebene zu erlauben. Aber die Übergänge zwischen Bedürfnissen und Wünschen sind fließend, so dass sich nicht vollständig ausschließen lässt, dass sich etwa ein Wunsch bezüglich eines Bedürfnisses derart zu einer Obsession verfestigt, dass er bei genügend unabhängiger Intentionalität bedürfnisartige Züge annimmt. Aber in derartigen Extremfällen wird man doch fragen müssen, ob es sich wirklich um ein unabhängiges Bedürfnis nach einem Bedürfnis handelt oder ob die Ebenentrennung in der Realität nicht doch in einem umfassenden Bedürfnis kollabiert. Bedürfnisse können sich im Normalfall auch nicht als Eigenschaften zweiter Stufe auf Strebungen, Wünsche oder Ziele beziehen. Bedürfnisse sind in stärkerem Maße beeinflussbar und damit variabler als Strebungen. Man muss insofern zwischen instrumentellen Bedürfnissen und grundlegenden, kategorischen bzw. absoluten Bedürfnissen unterscheiden.13 Instrumentelle Bedürfnisse sind von kontingenten Zielen abhängig und damit selbst kontingent, etwa das Bedürfnis, sich ein paar Stunden zurückzuziehen, um einen wissenschaftlichen Vortrag vorzubereiten. Dieses instrumentelle Bedürfnis hängt von dem kontingenten Wunsch ab, den 13 Harry Frankfurt, Necessity and Desire, in: ders., The Importance of What We Care About, Cambridge 1988, S. 104–116, S. 108 ff.; Garrett Thomson, Needs; David Wiggins, Needs, Values, Truth, 3. Aufl. Oxford 1998, S. 14.

2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen

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Vortrag vorzubereiten. Daneben gibt es aber auch grundlegende, absolute Bedürfnisse (basic needs), die nicht von kontingenten Zielen abhängen und deshalb normalerweise feststehend und damit zumindest als grundlegendes Faktum objektiv bestimmbar sind, etwa das Bedürfnis jedes Menschen nach Essen und Trinken. Aber selbst derartige normalerweise feststehende Bedürfnisse können der Relativierung unterliegen, etwa im Hinblick auf ein höchstes Ziel, ein andersartiges „gutes“ Leben zu führen. Wenn jemand nicht mehr weiterleben will und beschließt, sich selbst zu töten, also das normale Ziel, am Leben zu bleiben, aufgibt, so kann er auf Essen und Trinken, auf Schlaf und Schutz vor den Unbilden des Wetters verzichten. Es sind also keine wirklich absoluten Bedürfnisse erkennbar, die unseren Wünschen und Zielen notwendig übergeordnet wären. Die Unterscheidung zwischen instrumentellen Bedürfnissen und „absoluten“ Bedürfnissen ist nur eine graduelle. Bedürfnisse werden gelegentlich dadurch definiert, dass ihre Nichtbefriedigung zu einem Schaden führt.14 Das trifft sicher für die grundlegenden körperlichen Bedürfnisse zu, etwa das Bedürfnis nach Essen und Trinken, nach Schlaf und Ruhe, nach Wetterschutz. Es gilt wohl auch für die permanente Nichterfüllung der meisten Bedürfnisse. Aber es ist doch zweifelhaft, ob es notwendig für alle Bedürfnisse zutrifft, etwa für soziale Bedürfnisse. Ob einen eine Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach Kommunikation wirklich schädigt, ist offen. Es kommt wohl alles auf das Maß an. Eine gewisse Gelegenheit zu kommunikationsloser Reflexion – etwa im Falle einer Krankheit – mag mancher im Nachhinein sogar als positiv empfinden. Und auch bei einigen körperlichen Bedürfnissen kann die Nichtbefriedigung eher nutzen als schaden, etwa die Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach Süßwaren.

c) Wünsche Wünsche haben häufig auch eine körperliche, im Gegensatz zu Strebungen und Bedürfnissen primär aber eine mentale Komponente.15 Wünsche sind deshalb notwendig intentional, also auf einen Gegenstand oder Zustand gerichtet.16 Und die mentale Komponente kann sich anders als bei Bedürfnissen vollständig sachlich und zeitlich

14 Harry Frankfurt, Necessity and Desire, S. 109; David Wiggins, Needs, Values, Truth, S. 14. 15 Ich verstehe Wünsche hier im engen Sinn des Alltagsverständnisses, nicht in einem in der Literatur häufig anzutreffenden weiten, alle motivational handlungswirksamen Einstellungen wie wollen, beabsichtigen, anstreben, herbeisehnen, erhoffen, befürchten usw. umfassenden Sinne. Vgl. zu diesem weiten Begriff: Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, Frankfurt a. M. 2001, S.  52 ff. Die weite Auffassung, die offenbar auch Strebungen und Bedürfnisse umfassen soll, führt dazu, dass Steinfath dann zwischen passivischen und aktivischen Wünschen unterscheiden muss, wobei diese Unterscheidung weniger differenziert ausfällt als die hier vorgeschlagene zwischen vollständig passivischen Strebungen, weitgehend passivischen Bedürfnissen, partiell aktivischen Wünschen und vollständig aktivischen Zielen. 16 Vgl. David Wiggins, Needs, Values, Truth, S. 6; Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics, S. 53 ff., 124.

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

gegenüber der körperlichen Komponente durchsetzen, also die Befriedigung des Wunsches zur Gänze inhaltlich modifizieren oder gar unterdrücken. Wünsche sind schon partiell aktivisch, wenn auch im Gesamtzusammenhang unserer Einstellungen, Haltungen, Wertungen und Gefühle verankert und deshalb nicht immer ad hoc erzeugbar.17 Wünsche finden sich hauptsächlich bei Menschen, möglicherweise auch bei höheren Tieren, etwa der Wunsch nach Geselligkeit, Arbeit, Unterhaltung, neuen Erlebnissen, Gesundheit, Lustmehrung und Leidminderung, Abwechslung und Abenteuer. Die Grenze zwischen Bedürfnissen und Wünschen ist fließend. So ist der Paarungstrieb bei höheren Tieren wohl nur ein Bedürfnis, während man beim Menschen das Bedürfnis nach geschlechtlicher Vereinigung und den Wunsch nach einer liebevollen Partnerschaft unterscheiden kann. Menschen können zölibatär leben, wobei das Bedürfnis nach geschlechtlicher Vereinigung dann bei manchen Menschen latent bestehen bleibt, aber nicht befriedigt wird. Wünsche sind notwendig in Raum und Zeit instanziierte mentale Eigenschaften. Schlafen wir oder sind wir bewusstlos, so haben wir Wünsche nur in einem weiteren Sinn, nicht aber im Sinne einer tatsächlich bewussten, aktualen Zielgerichtetheit. Wünsche sind im Gegensatz zu Bedürfnissen und Strebungen ohne Zweifel und in jedem einzelnen Fall iterierbar, das heißt, wir können uns Wünsche wünschen. Manche sagen etwa: „Ach hätte ich doch nur den Wunsch, weiter mit diesem Menschen zusammenzuleben!“ Wünsche können sich auch anders als Bedürfnisse auf die anderen normativethisch relevanten Eigenschaften beziehen. Wir können also etwa den Wunsch haben, eine Strebung oder ein Bedürfnis zu entwickeln oder zu befriedigen. Wir können sogar den Wunsch haben, Ziele zu fassen und zu erreichen. Wünsche manifestieren sich regelmäßig in aktuellen oder früheren Willensbekundungen. Wünsche sind viel variabler und subjektiver als Bedürfnisse und deshalb ohne konkrete Willensbekundung des jeweils wünschenden Individuums nur schwer objektivierbar.

d) Ziele Ziele (Absichten) sind ausschließlich mentale, genauer intentionale Eigenschaften und nach allem, was wir wissen, im Wesentlichen Menschen vorbehalten. Vielleicht haben aber auch höhere Tiere wie Menschenaffen oder Delphine Ziele. Ziele sind vollständig aktivisch.18 Ziele wären etwa das Erreichen eines Ortes mit der Bahn, das Verfassen eines Buches, das Bestehen eines Examens, das Ansparen eines Vermögens, die Durchführung einer Reise, das Erringen einer gewissen beruflichen Stellung, die Veränderung der Gesellschaft, die Verwirklichung seiner selbst, der Erwerb von Ruhm, die Gewinnung der

17 Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, S. 55 ff. und passim, spricht deshalb zu Recht von „widerfahrenden“ bzw. „neigungsförmigen“ Wünschen. 18 Vgl. zu ihrer Abgrenzung gegenüber Wünschen: Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, S. 69 ff.

2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen

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ewigen Seligkeit. Ziele müssen klar von Wünschen unterschieden werden.19 Sie divergieren in wenigstens vierfacher Hinsicht: Während Wünsche als generell oder wenigstens durch den Akteur unerfüllbar angesehen werden können, müssen Ziele erstens vom Akteur für prinzipiell erreichbar gehalten werden. Man kann etwa den Wunsch haben, noch einmal ein Kind zu sein, nicht aber das entsprechende Ziel. Zur Erreichung von Zielen werden regelmäßig Mittel gesucht und eingesetzt. Geschieht dies, so werden die Ziele in der Perspektive ihrer Verbindung mit Mitteln zu Zwecken. Ein Ziel kann man fassen, ohne schon konkrete Mittel zu seiner Erreichung bestimmt zu haben, einen Zweck dagegen nur, sofern man bereits mögliche Mittel gewählt hat. Wünsche stehen dagegen nicht in diesem notwendigen begrifflichen Zusammenhang zu Mitteln ihrer Realisation. Ziele sind zweitens, anders als Wünsche, unabhängig von jeweiligen konkreten mentalen Instanziierungen. Auch von einem momentan Schlafenden oder Bewusstlosen, der gegenwärtig keine Wünsche haben kann, nehmen wir etwa an, dass er weiterhin das Ziel verfolgt, sein Studium zu beenden. Notwendig ist nur, dass er irgendwann einmal die entsprechende Absicht gefasst und seither nicht aufgegeben hat. Ziele sind also anders als Wünsche keine kontinuierlichen mentalen Zustände. Sie setzen nur eine einmalige mentale Initiationsabsicht voraus, die nicht dementiert oder vollständig in Vergessenheit geraten sein darf. Ziele können drittens – worauf oben schon hingewiesen wurde – als abhängige Ziele auch Kollektiven wie Unternehmen, Vereinen oder Staaten zugesprochen werden. Für Wünsche ist das dagegen zweifelhaft und für Bedürfnisse sicher unmöglich. Ziele sind viertens anders als Wünsche, fasst man letztere nach dem Alltagsverständnis eng, regelmäßig Teil eines umfassenderen Lebensentwurfs. Wünsche beziehen sich als singuläre mentale Instanziierungen häufig erst einmal nur auf einzelne Tatsachen, also Zustände oder Handlungen, etwa der Wunsch, den Zug zu erreichen, um an das Reiseziel zu gelangen. Ziele sind dagegen regelmäßig zu längerfristigen oder umfangreicheren Plänen und Projekten verbunden. Das Ziel, einen Ort aufzusuchen, ist etwa Teil unseres weitergehenden Ziels, unserer Arbeitsverpflichtung gewissenhaft nachzukommen. Einzelne Ziele sind deshalb in letzter Instanz immer Teil unseres umfassendsten Ziels, ein gutes Leben zu führen.20 Ziele sind wie Wünsche iterierbar, jedoch in einer ganz spezifischen Art und Weise: Ziele können zu anderen Zielen in einem Zweck-Mittel-Verhältnis stehen. Man spricht dann von untergeordneten und übergeordneten Zielen. So dient etwa das untergeordnete Ziel, den Ort zu erreichen, dem übergeordneten Ziel, die Arbeitsleistung zu erbringen. Ziele manifestieren sich wie Wünsche in aktuellen, früheren oder mutmaßlichen

19 Dies tun, wie erwähnt, viele in der Literatur nicht. Vgl. etwa Leonard W. Sumner, Welfare, Happiness, and Ethics, S. 122. Eine einigermaßen klare Unterscheidung findet sich aber zum Beispiel bei Joseph Raz, The Morality of Freedom, S. 291, Fn. 1. 20 Vgl. zu diesem umfassenden Ziel: Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, 2. Aufl. München 1995; Wilhelm Vossenkuhl, Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert.

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

Willensbekundungen. Wie Wünsche können auch Ziele Eigenschaften zweiter Ordnung sein. Ziele können sich also auf Strebungen, Bedürfnisse und Wünsche beziehen, wobei in dieser Abfolge die Möglichkeiten der Erzeugung, Beeinflussung und Unterdrückung wegen der abnehmenden Körperbestimmtheit steigen. Ziele sind von allen hier aufgeführten Bestimmungen im interpersonalen Vergleich am variabelsten. Verschiedene Menschen prägen in ihrem Leben die unterschiedlichsten Ziele aus. Der eine will ein kontemplatives Leben führen, der andere ein aktives, der eine will das Tanzen lernen, der andere das Golfspielen, der dritte eine Fremdsprache. Der eine will eine herausgehobene berufliche Stellung erreichen, dem anderen ist das vollständig gleichgültig. Der Unterschied zwischen Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen lässt sich gut an den vorherrschenden sprachlichen Bezeichnungen für ihre Realisation erkennen: Strebungen verwirklichen sich, Bedürfnisse werden befriedigt, Wünsche erfüllt, Ziele schließlich erreicht. Trotz der soeben aufgewiesenen Unterschiede bleiben die Grenzen zwischen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen auf dem Kontinuum Geistigkeit / Körperlichkeit bzw. Aktivität / Passivität fließend. Die Begriffe sind lediglich Analyseinstrumente und implizieren keine raum-zeitliche oder in sonstiger Weise reale Teilung. Für die Ethik besteht auch nicht die Notwendigkeit einer derartigen Teilung und damit einer scharfen Grenzziehung in jedem Einzelfall, weil jede dieser Eigenschaften im Zusammenhang mit den anderen unabhängig von ihrer genauen Kategorisierung die beiden Adäquatheitsbedingungen der subjektiv-individualistischen Sensibilität und der normativen Kraft erfüllt und damit ethisch bzw. moralisch relevant ist. Die Abgrenzung spielt allerdings für das bessere Verständnis der im speziellen Fall moralisch relevanten Eigenschaft, die Abwägung und die Notwendigkeit einer Beurteilung durch Andere, also im Falle des Paternalismus eine Rolle, denn über Strebungen und Bedürfnisse Anderer lassen sich regelmäßig leichter Mutmaßungen anstellen als über deren Wünsche oder gar deren Ziele.

e) Das Verhältnis zwischen diesen Eigenschaften Wie ist nun das Verhältnis zwischen Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen genauer zu bestimmen? Die beiden Einflußfaktoren der Körperlichkeit und der Geistigkeit bzw. Passivität und Aktivität führen zu zwei gegenläufigen Kontinua der Vorrangigkeit. Fragen wir, welche Alternativen der je Betroffene in einem möglichen Konflikt regelmäßig als primär, also aus der Warte seiner Geistigkeit für eine einzelne Handlung und Entscheidung vorrangig einstufen wird, so sind das im Normalfall unsere Ziele. Unseren Zielen ordnen wir im Konflikt häufig, wenn auch nicht immer unsere Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen unter. Haben wir etwa das Ziel, einen Ort mit einem Zug zu erreichen, so verzichten wir regelmäßig auf die Befriedigung des Wunsches, in der Bahnhofsbuchhandlung zu schmökern und unterdrücken das Bedürfnis, noch etwas zu trinken. Das Bedürfnis zu trinken können wir zwar nicht ganz ausschalten, aber seine Befriedigung doch aufschieben, bis wir im Zugrestaurant oder am Ziel der Reise sind.

2. Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen

63

Selbst die grundlegendsten Bedürfnisse, wie das Bedürfnis zu essen und zu trinken, werden also häufig den höchsten Zielen untergeordnet. Ist es unser Ziel, nicht mehr weiterzuleben, so können wir auf Essen und Trinken verzichten. Dies ist für Moral und Ethik wichtig, denn ordnet jemand sein Ziel zu sterben allen anderen Bedürfnissen über, so darf er von anderen nicht mit dem Verweis auf diese anderen Bedürfnisse zwangsweise am Leben erhalten werden. Im Verhältnis von Wünschen und Bedürfnissen ziehen wir regelmäßig die Wünsche vor. Haben wir etwa den Wunsch, einen Freund zu treffen, oder sind wir sogar zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihm verabredet und haben wir den Wunsch, die Verabredung einzuhalten, so verschieben wir im Normalfall die Befriedigung des Bedürfnisses, sofort etwas zu essen. Alle drei bisher genannten Eigenschaften der Ziele, Wünsche und Bedürfnisse überwiegen schließlich für uns gegenüber den rein körperlichen Strebungen, soweit wir diese wenigstens partiell kontrollieren können. Bei diesem Rangverhältnis handelt es sich allerdings wie gesagt nur um ein regelmäßiges und typisierendes des jeweiligen Trägers dieser Eigenschaften. Wir können natürlich auch anders entscheiden und lieber in der Bahnhofsbuchhandlung schmökern oder auf die Toilette gehen, statt den Zug zu erreichen. Wir können auch eher etwas essen als den Freund zu treffen. Manche propagieren sogar eine Lebensauffassung, die einen regelmäßigen Vorrang der Befriedigung unserer Bedürfnisse gegenüber der Erfüllung unserer Wünsche und der Erreichung unserer Ziele vorschlägt. Das tun etwa Sekten, die ein Leben im Hier und Jetzt und / oder „aus dem Bauch heraus“ predigen. Eine solche Lebensauffassung mag vielleicht tatsächlich zu einem glücklicheren Leben führen. Aber ob das stimmt, ist eine Frage des guten Lebens und nicht der normativen Ethik im engeren Sinn. Jeder Einzelne muss sie selbst für sich entscheiden. Für die normative Ethik im engeren Sinn als Theorie der Moral und anderer kategorischer Normordnungen kann ein derartiges Ideal des guten Lebens nicht maßgeblich sein, solange es nicht allgemein geteilt wird. Maßgeblich muss vielmehr sein, was die tatsächlich lebenden Menschen in ihrer großen Mehrheit vorziehen. Insofern lässt sich empirisch feststellen, dass die Menschen ihre Ziele regelmäßig ihren Wünschen und ihre Wünsche ihren Bedürfnissen und Strebungen überordnen, zumindest sofern ein Mindestmaß an wesentlichen Bedürfnissen befriedigt ist. Wäre es anders, so könnten etwa keine Schulen und Universitäten existieren. Denn um unser Ziel des Erwerbs von Wissen zu erreichen, ist ein Verzicht auf die sofortige Befriedigung mancher aktueller Wünsche und Bedürfnisse erforderlich. Man erhält also folgendes Kontinuum des typischen, geistig bestimmten Vorrangs seitens des Entscheiders: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen. Damit ist nicht gesagt, dass diese Reihenfolge auch moralisch wesentlich ist. Dies wird sofort deutlich, wenn wir für den Primat zwischen diesen Eigenschaften nicht die Geistigkeit und damit die vernünftige Wahl auf einer Metaebene entscheidend sein lassen, sondern die Körperlichkeit und damit die schiere Notwendigkeit für unsere Lebensführung. Dann sind Strebungen wie die Erhaltung unserer Körpertemperatur oder unseres Immunsystems absolut essentiell. Grundlegende Bedürfnisse sind auch häufig notwendige Bedingungen für unsere Wünsche und Ziele, etwa das Bedürfnis zu essen und zu trinken. Auf

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

einzelne Wünsche können wir häufig verzichten und fast immer auf bestimmte Ziele. Der Vorrang kehrt sich also gegenüber der geistigen Bewertung um. Wie ist nun zwischen diesen beiden Alternativen des Vorrangs zu entscheiden? Hierbei kann wieder das Prinzip des normativen Individualismus helfen: Soll man die Individuen als Individuen berücksichtigen, so erfordert das, sie auch in der normativethischen Entscheidung über die grundsätzlich brauchbaren Alternativen ernst zu nehmen. Welche der Alternativen normativ relevanter Eigenschaften der Individuen sehen wir also in einem potentiellen Konflikt als maßgeblich an? Dies sind regelmäßig die Ziele. Das Kontinuum zwischen Körperlichkeit und Geistigkeit ist insofern asymmetrisch, als bei höheren Lebewesen und insbesondere beim Menschen die ganz oder stärker körperlichen Eigenschaften der Strebungen und der Bedürfnisse regelmäßig durch die eher geistigen Eigenschaften der Wünsche und der Ziele bewertet und beurteilt werden. Der Mensch gewinnt einen wesentlichen Teil seines je eigenen Selbstverständnisses durch diese Beurteilung. Wir bemühen uns von klein auf, Strebungen, Bedürfnisse und schließlich mit zunehmendem Alter auch Wünsche im Hinblick auf unsere Ziele bzw. Absichten zu bewerten und diesen Zielen anzupassen. Wir lernen etwa, unsere Atmung als Strebung je nach unseren Bedürfnissen, Wünschen und Zielen zu regulieren. Wir verzichten – wie wir sahen – regelmäßig auf die Befriedigung des Bedürfnisses, etwas zu trinken oder des Wunsches, noch etwas in der Bahnhofsbuchhandlung zu schmökern, wenn dies unser Ziel, mittels des Zuges einen Ort zu erreichen, vereiteln würde. Ziele und Absichten – oder handlungsbezogen gesprochen: unser Wille als Ausdruck unserer Selbstbestimmung  – sind deshalb höchster Ausdruck unseres Selbstverständnisses als menschliche Wesen. Deshalb müssen unsere tatsächlichen Willensbekundungen, oder bei Eingriffen die Einwilligung, im Rahmen der Berücksichtigung der ethisch entscheidenden Eigenschaft im Vordergrund stehen. Allerdings gilt dies natürlich nur, wenn wir sie selbst in den Vordergrund stellen. Will jemand einen Wunsch gegenüber einem Ziel vorrangig erfüllt sehen, so ist das für Andere im Rahmen der moralischen Abwägung verbindlich. Bekundet jemand also das abstrakte Ziel, das Rauchen aufzugeben, äußert er dann aber doch in einer einzelnen Situation den Wunsch nach einer Zigarette, so ist das maßgeblich. Wir dürfen ihm die Zigarette nicht mit Verweis auf das allgemein erklärte Ziel wegnehmen. Ob wir ihm aber eine Zigarette geben sollten, ist eine andere Frage, die von der Abwägung vieler weiterer Faktoren abhängt. Eine ähnliche mögliche Umkehrung des typischen Vorrangs gilt für Bedürfnisse im Verhältnis zu Wünschen und Zielen. Bedürfnisse gewinnen in bestimmten Situationen gegenüber Wünschen und Zielen die Oberhand. Wenn es gar nicht anders geht, dann müssen wir Wünsche und Ziele unerfüllt bzw. unerreicht lassen, um ein dringendes Bedürfnis zu befriedigen. Ziele und Wünsche sind zwar kognitiv-subjektiv in unserer eigenen Bewertung grundsätzlich primär. Die stärkere körperlich-natürliche Basis der Bedürfnisse kann uns aber dazu zwingen, ihnen in bestimmten Situationen den Vorrang einzuräumen. Haben wir etwa ein „dringendes Bedürfnis“, werden wir im Zweifel darauf verzichten müssen, den Zug zu nehmen. Aber dieser Vorrang von Bedürfnissen gilt – wie wir sahen – nur für untergeordnete Ziele, wie das Ziel, den Zug zu erreichen, nicht aber für das höchste Ziel, ein gutes Leben zu führen. Dieses Ziel ist aber derart ab-

3. Das Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation und objektiver Beurteilung

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strakt und umfassend, dass es ohne weiteres den Vorrang der Befriedigung eines „dringenden Bedürfnisses“ gegenüber der Erreichung konkreterer Ziele einschließt. Für nichtmenschliche Lebewesen, die keine Ziele bzw. Absichten haben, reduziert sich die typische Abfolge der ethisch relevanten Eigenschaften auf Wünsche, Bedürfnisse und schließlich Strebungen. In bestimmten Anwendungsbereichen der Ethik kann es überdies auch für den Menschen nahe liegen, statt von den prinzipiell vorrangigen Zielen von den Wünschen oder sogar den Bedürfnissen auszugehen. So kommt es etwa in der politischen Ethik und der Sozialethik anders als in der Individualethik weniger darauf an, individuelle Ziele und Wünsche zu verwirklichen bzw. zu erfüllen. Vielmehr wird zunächst die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung, Schlaf und Schutz im Vordergrund stehen. Dies gilt zumindest, solange diese Bedürfnisse noch nicht befriedigt sind, etwa in Entwicklungsländern, wo Menschen noch an Unterernährung oder Unterkühlung sterben. Sind die grundlegenden Bedürfnisse allgemein befriedigt, so werden Wünsche und Ziele als Richtschnur politischen Handelns wichtiger werden, etwa der Wunsch nach Arbeit und das Ziel beruflicher Selbstverwirklichung. Die obige graphische Darstellung des ethischen Grundverhältnisses lässt sich nun wie folgt durch unsere normativ-ethisch relevanten Eigenschaften ergänzen: A

(1) Ziele /Absichten

(1) Ziele /Absichten

A

K

(2) Wünsche

(2) Wünsche

N

T

(3) Bedürfnisse

(3) Bedürfnisse

D

E

(4) Strebungen

(4) Strebungen

E

U

R

R

E R

3. Das Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation und objektiver Beurteilung Das erste Element des normativen Individualismus führt zu einem weiteren wichtigen Aspekt: Die ethisch relevanten Eigenschaften stehen auch in einem Kontinuum zwischen der eigenen subjektiven Manifestation der Betroffenen und der objektiven Beurteilung durch Andere. Die ethische Verpflichtung des Akteurs zur Berücksichtigung Anderer setzt notwendig dessen Beurteilung der normativ relevanten Eigenschaften dieser Anderen voraus. Nach dem soeben Gesagten ist dies bei Menschen zunächst typischerweise das Ziel, wie es sich in einem aktuellen tatsächlichen Willen manifestiert,

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

es sei denn, der Betroffene ordnet selbst seinen Zielen eigene Wünsche, Bedürfnisse oder Strebungen vor. Aber Ziele setzen keinen permanenten tatsächlichen Willen voraus. Und alltägliche Situationen des Lebens können dazu führen, dass ein tatsächlicher Wille bei Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen nicht immer gebildet wird, erkennbar ist oder berücksichtigt werden kann. So haben Bewusstlose keinen aktuellen Willen. Ist ein von unserem Handeln Betroffener nicht unmittelbar präsent, so können wir seinen aktuellen Willen nicht erkennen. Dies gilt etwa, wenn wir einem Bekannten ein Geschenk schicken wollen und nicht wissen, ob es ihm gefallen wird. Schließlich kann der aktuelle Wille auch zu anderen früheren oder mutmaßlichen Bekundungen des Willens eines Betroffenen in Widerspruch treten. Man denke sich einen Weinliebhaber, der das Weinglas zum Mund führt, ohne zu ahnen, dass jemand Gift hineingeschüttet hat. Der aktuelle konkrete Wille des Weinliebhabers beinhaltet ohne Zweifel, den Inhalt des Glases zu trinken. Aber dieser Wille beruht auf der falschen Überzeugung, dass sich ausschließlich Wein in dem Glas befindet und steht zu dem generellen abstrakten, früheren oder zumindest mutmaßlichen Willen in Widerspruch, nicht vergiftet zu werden. In derartigen Fällen muss statt des aktuellen konkreten Willens eine Kaskade von Substituten berücksichtigt werden: An erster Stelle dieser Kaskade steht ein genereller abstrakter höherrangiger Wille. Ein zweiter Substitutionsschritt wird besonders bei Patienten wichtig, die nicht mehr einwilligungsfähig sind. Haben sie vorher eine Patientenverfügung verfasst, so tritt der frühere tatsächliche Wille, zumindest insofern er eindeutig und fehlerfrei ist, an die Stelle des aktuellen Willens. Da aber auch ein früherer tatsächlicher Wille häufig nicht zu ermitteln ist oder im Widerspruch zu anderen früheren Willensbekundungen stehen kann, wird man als dritten Substitutionsschritt konkrete Mutmaßungen über den tatsächlichen Willen einbeziehen und nach dem mutmaßlichen Willen fahnden müssen. Dabei werden neben früheren Äußerungen über Wertvorstellungen auch die objektiv bewerteten Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen des Betroffenen eine stärkere Rolle spielen. Hilft auch das nicht weiter, ist schließlich auf die abstrakten Strebungen und Bedürfnisse eines relevant ähnlichen Individuums bzw. des typischen Mitglieds einer möglichst konkret vergleichbaren Gruppe zurückzugreifen. Man wird annehmen können, dass diese Berücksichtigung der hypothetischen Strebungen und Bedürfnisse dem generellen Willen der meisten Menschen entspricht. Plausibel erscheint also folgende Kaskade: Erstens ist der aktuelle konkrete Wille entscheidend, zweitens der generelle abstrakte und höherrangige Wille, drittens der frühere tatsächliche Wille, viertens der mutmaßliche Wille und fünftens der hypothetische Wille, wie er mit Bezug auf abstrakte Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen vermutet werden kann. Die beiden erwähnten Kontinua bzw. Abstufungen sind im Hinblick auf die zu berücksichtigende Eigenschaft der Individuen insofern miteinander verkoppelt, als das erste Kontinuum dem zweiten den Ausgangspunkt des aktuellen konkreten Ziels bzw. Willens vorgibt. Im Rahmen der Entfaltung des zweiten Kontinuums muss dann aber auch bei Menschen und höheren Tieren bei der Substituierung immer stärker auf vorhergehende Stufen des ersten Kontinuums zurückgegriffen werden, also auf Wünsche,

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4. Belange bzw. Interessen

Bedürfnisse und schließlich Strebungen. Die folgende Tabelle zeigt den realistischen Schwerpunkt der Berücksichtigung, wenn beide Kontinua verbunden werden. Der Ausgangspunkt ist in der linken oberen Ecke: aktueller, kon­kreter Wille

genereller, abstrakter Wille

früherer tatsächlicher Wille

Ziele

X

X

X

Wünsche

X

X

X

X

X

X

X

X

X

Bedürfnisse Strebungen

mutmaßlicher Wille

hypothetischer Wille

4. Belange bzw. Interessen Die Vielgestaltigkeit und Komplexität dieser beiden Kontinua der ethisch zu berücksichtigenden Eigenschaften legt es nahe, zur Vereinfachung der Darstellung nach einem einzigen, abstrakteren und damit zusammenfassenden Terminus bzw. Begriff Ausschau zu halten. Dazu bieten sich die bereits erwähnten synonymen Termini „Belang“ und „Interesse“ an, sofern man sie nicht egoistisch verkürzt. Die Begriffe Belang und Interesse umfassen sowohl Ziele als auch Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Sie können subjektiv im Sinne des aktuellen konkreten oder generellen oder früheren tatsächlichen Willens, aber auch ein Stück weit objektivierend im Sinne des mutmaßlichen oder sogar hypothetischen Willens, das heißt der mutmaßlichen oder hypothetischen Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen verstanden werden.21 Sie implizieren dabei allerdings bereits eine eigene interne Abwägung des Interessenträgers zwischen seinen je eigenen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen. Die Ausdrücke „Belang“ bzw. „Interesse“ sind synonym und unterscheiden sich nur in der Etymologie. „Belang“ ist deutschstämmig, „Interesse“ lateinischstämmig. „Interesse“ kommt von lateinisch „intersum“ bzw. „interest“. Neben der eher sub­jektiven Bedeutung im Sinne von „für jemand wichtig sein“ gab und gibt es auch eine intersubjektive Bedeu­tung im Sinne von „da­zwi­schen liegen“, „sich dazwischen befinden“.22 Diese janusköpfige Bedeutung hat sich in den juristischen Fachtermini für Schaden „subjektives Interesse“ und „objektives Interesse“ erhalten.23 In dieser Be­deu­tungs­va­ 21 Vgl. Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik. 22 Vgl. Karl E. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches und deutsch-lateinisches Handwörterbuch, Leipzig 1880, Teil 1, Bd. 2, S. 330 ff. 23 Vgl. allgemein zu den römisch-rechtlichen Quellen: Hermann G. Heumann / Emil Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 9.  Aufl. 1907, Nachdr. Graz 1971, S.  281. Eine um­fassende

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

riante impliziert der Ausdruck somit eine gewisse Form von Inter­sub­jektivi­tät, die jeweils eigenständige Po­si­tio­nen der Subjekte er­mög­licht und zu­gleich inte­griert. Nimmt man beide Bedeutungsvarianten des Ausdrucks zusammen, so kann man feststellen: Der Begriff ist sowohl subjektiv als auch intersubjektiv, das heißt schwach objek­tiv interpre­ tierbar. Er kann auf keine der beiden Möglichkeiten ohne größeren Verlust redu­ziert werden.24 Er enthält überdies so­wohl eine beschreibende als auch eine be­­wer­tende und eine norma­tive Kompo­nente. Man kann „Interesse“ nicht einfach mit „Lust“, „Empfindung“ oder „Glück“ gleich­setzen. Inter­essen sind auch nicht not­wendig oder nur re­ gelmäßig mit Lust­gefüh­len verbunden oder auf diese gerichtet. Wichtig ist also, dass der Interessenbegriff als zentrale subjektive und intersubjek­tive Recht­ferti­gungs­kate­gorie nicht hedo­nistisch oder auch nur kon­se­quentia­listisch verengt wird. Viele In­teressen beziehen sich nicht auf Lust und Leid, nicht auf das eigene Wohlergehen und nicht auf die Konse­quenzen von Handlungen ein­zelner oder der Tätigkeit von In­stitutionen, son­ dern auf die Hand­lung und die Tä­tigkeit selbst (vgl. Kapitel III). Eine egoisti­sche Inter­pretation des Interes­senbe­griffs würde ebenfalls eine Ver­kür­zung bedeuten. Viele In­dividual­interessen sind altruisti­sch und richten sich auf das Wohlergehen anderer In­dividuen, zum Beispiel das Interesse der Eltern, die Gesundheit ihrer Kinder zu fördern. Schließlich bezie­hen sich ei­nige Indi­vi­du­al­in­ter­es­sen auch auf ver­ schie­dene Gemeinschaftsfor­men, politische (etwa als politische Utopien) und nichtpolitische (etwa als Ziele von Vereinen oder Unternehmen).25 Der Interes­senbegriff umfasst in diesem weiten Ver­ständnis also auch Ziele bzw. Werte und Ideale. Man kann im Übrigen terminologisch zwischen den Eigeninteressen des Akteurs und den Anderinteressen des von einer Handlung betroffenen Anderen unterscheiden. Der Begriff des Interesses bzw. Belangs ist zwar stark durch seine Funktion in der Moral geprägt. Er findet aber selbstredend auch in anderen Lebensbereichen Anwendung. So haben wir zum Beispiel ein Interesse an schönem Wetter, ohne dass ein Akteur moralisch verpflichtet wäre, das Wetter positiv zu beein­flussen. Die Auszeichnung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen als ethisch relevante Eigenschaften der Individuen und die Zusammenfassung dieser Eigenschaften mit Hilfe des Begriffs des Belangs bzw. Interesses impliziert keine fundamentalistische Ethik in dem Sinne, dass diese Eigenschaften oder die Belange bzw. Interessen das allei-

Geschichte des Interessenbegriffs findet sich in dem Ar­ti­kel „In­ter­es­se“ von Wolfgang Orth in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 305–365. Nachfolgend wird der Begriff des Interesses nicht in der spezi­fischen Form Kants verwendet, der ihn wesentlich psycho­logisch und nicht normativ bestimmt, vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 121, 122, S. 459: „Interesse ist das, wodurch Ver­nunft praktisch, d. i. eine den Willen bestimmende Ursache wird. Daher sagt man nur von einem vernünftigen Wesen, daß es woran ein Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe.“ Vgl. auch ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 38, S. 413; ders., Kritik der praktischen Vernunft, A 141, S. 79. 24 Vgl. Günther Patzig, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik, S. 86 ff., 90. 25 Vgl. ausführlich: Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, Reinbek 1996, S. 204 ff.

5. Interessen und Präferenzen

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nige Fundament oder die alleinige Quelle aller moralischen Normativität wären.26 Sie sind, wie in Kapitel VI näher erläutert werden wird, nur ein, allerdings unverzichtbares Element der Begründung moralischer Normen. Eine ethische Begründung und damit eine adäquate normative Ethik muss dagegen alle fünf hier entfalteten Elemente umfassen. Derjenige Begriff, welcher dem Begriff des Belangs bzw. Interesses am nächsten steht, ist der Begriff des Willens. Aber es gibt doch Unterschiede, die nicht übersehen werden dürfen, denn nicht jeder, der ein Interesse an etwas hat, hat auch den Willen, die entsprechende Handlung auszuführen. Das hat zwei Gründe: Zum einen schließt der Wille immer ein zumindest rudimentäres Bewusstsein ein. Strebungen können als bewusstlose Phänomene einem Willen somit nicht zugrunde liegen. Der Wille erfordert also anders als ein Belang bzw. Interesse notwendig ein Bedürfnis, einen Wunsch oder ein Ziel. Er kann deshalb nur bei bewusstseinsfähigen Lebewesen bestehen. Aber ein Bedürfnis, ein Wunsch oder ein Ziel genügen anders als beim Belang bzw. Interesse noch nicht, um einen Willen zu bejahen. Die obige Formulierung zeigt das ganz deutlich. Man kann ein Interesse an etwas haben, etwa an einem Zustand, zum Beispiel einem aufgeräumten Schreibtisch, ohne den Willen zu haben, den Schreibtisch aufzuräumen. Der Wille ist immer unmittelbar handlungsbezogen bzw. handlungsleitend, sei es mit Bezug auf eine eigene oder auf eine fremde Handlung, welche zumindest hypothetisch angenommen werden muss. Man kann etwa den Wunsch bilden, dass es regnet. Aber man kann nicht den Willen haben, dass es regnet, weil man dies nicht durch eine eigene oder fremde Handlung bewirken kann. Die Notwendigkeit des Handlungsbezugs des Willens impliziert nicht, dass die Handlung dann auch tatsächlich ausgeführt wird, denn es können noch Hinderungsgründe auftreten. So kann man etwa den Willen haben, etwas zu tun, und dann kommen einem Bedenken oder ein Anderer verhindert die Ausführung. Aber mit dem Willen ist jedenfalls ein mentales Phänomen benannt, das ohne die Notwendigkeit weiterer mentaler Phänomene die kognitive Seite von Handlungen und ihre Realisierung erklärt.

5. Interessen und Präferenzen Insbesondere mathematisch und ökonomisch geprägte Theoretiker sprechen statt von „Belangen“ bzw. „Interessen“ nicht selten von „Präferenzen“.27 Dagegen bestehen keine Bedenken, wenn unter „Präferenzen“ nichts anderes als die Belange bzw. Interessen im soeben erläuterten um- und zusammenfassenden Sinne verstanden werden. Häufig ist dies allerdings nicht der Fall. Unter Präferenzen werden erstens nicht selten nur Ziele und Wünsche im Sinne des ersten, soeben erläuterten Kontinuums, also des Kontinu26 Dies kritisiert mit Recht Julian Nida-Rümelin, Vernunft und Freiheit, im Erscheinen, S. 4, 6. 27 Amartya K. Sen, Collective Choice and Social Welfare, San Francisco 1970; Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values. Vgl. zum Beispiel Christoph Fehige / Ulla Wessels (Hg.), Preferences, Berlin 1998.

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

ums von Geistigkeit und Körperlichkeit aufgefasst. Zweitens werden Präferenzen als tatsächlich bestehende Willensbekundungen verstanden (sog. revealed preferences), um Spekulationen über mentale Zustände zu vermeiden, so dass auch das zweite, soeben erläuterte Kontinuum zwischen subjektiver Manifestation und objektiver Beurteilung nicht vollständig entfaltet wird. Drittens werden Präferenzen insbesondere von mathematisch und ökonomisch geprägten Ethikern häufig auf Besser-Schlechter-Bewertungen (ordinale Vergleiche) reduziert, etwa in manchen Varianten des Präferenzutilitarismus. Die Interessen sollen auf diese Weise intra- und interpersonell vergleichbar gemacht oder zumindest einer Vergleichbarkeit angenähert, also wissenschaftlich rationalisiert werden. Damit wird aber die Möglichkeit einer bloßen Bewertung als gut oder schlecht (klassifikatorischer Vergleich) oder einer darüber sogar hinausgehenden Bewertung in Zahlen (kardinaler Vergleich) ausgeblendet. Obwohl das Ziel der wissenschaftlichen Rationalisierung grundsätzlich Unterstützung verdient, kann der Preis für die Erreichung dieses Zieles im Einzelfall doch zu hoch sein. Es ist kaum bestreitbar, dass sich manche Willensbekundungen als Besser-Schlechter-Bewertungen und damit als Präferenzen auffassen lassen, insbesondere ökonomische Kaufentscheidungen. Wir ziehen es etwa normalerweise vor, ein Radio zum niedrigeren Preis zu erwerben, statt zum höheren, wenn alle anderen Parameter wie Service oder Einkaufsweg vergleichbar sind. Die wirklich wichtigen Fragen unseres Lebens lassen sich aber regelmäßig nicht ohne Verkürzung und Missachtung der tatsächlichen Wünsche und Ziele in ein derartiges Präferenzschema pressen. Im Hinblick auf zentrale Belange, wie Familie, Beruf und Ausbildung, können wir häufig nicht sagen, welcher von ihnen uns wichtiger oder weniger wichtig ist. Zentrale Rationalitätspostulate einer derartigen ordinalen Reihung der Interessen sind dann nicht erfüllt, etwa das der Transitivität. Wer Äpfel lieber als Birnen und Birnen lieber als Bananen mag, müsste auch Äpfel gegenüber Bananen vorziehen. In der Realität ist das aber häufig nicht der Fall.28 Der Präferenzbegriff beinhaltet so verstanden also eine Einschränkung des normativindividualistischen Paradigmas. Um sich diese Einschränkung zu verdeutlichen, muss man ihn mit dem Interessenbegriff vergleichen. Der Interessenbegriff kann sowohl klassifikatorisch als auch ordinal und kardinal interpretiert werden. Der Präferenzbegriff ist dagegen in dieser eingeschränkten Form regelmäßig ordinal zu verstehen. Legt man nun statt des Interessenbegriffs mit seinen Differenzierungsmöglichkeiten den Präferenzbegriff zugrunde, so wird von manchen Interessen zu viel verlangt und von manchen zu wenig: Interessen, die sich nur klassifikatorisch einordnen lassen, werden in eine ordinale Relation gezwungen und Interessen, die sogar kardinal bewertbar wären, zum Beispiel monetäre Interessen, werden unterhalb der eigentlichen Möglichkeit ihrer Zusammenfassung behandelt. Das spricht natürlich nicht dagegen, den ordinalen Präferenzbegriff zu verwenden, etwa in der Entscheidungstheorie. Aber für eine umfassende normative Ethik ist die Eigenschaftsreferenz des ordinalen Präferenzbegriffs nicht hinreichend.

28 Vgl. Daniel Kahneman / Amos Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, in: Econometrica 47(1979), S. 263–291.

5. Interessen und Präferenzen

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Der Präferenzbegriff schränkt aber, sofern er Teil einer Aggregationstheorie ist, die individuellen Interessen, die moralische Entscheidungen legitimieren können, noch weiter ein. Bei diesen Einschränkungen handelt es sich nicht um inhaltliche, sondern um formale und zwar folgende:29 Es wird (1) von einer endlichen Alternati­venmenge ausge­gangen, wobei (2) alle Alternativen voneinander unabhängig sein sollen. Das Individuum muss nun seine Präferenzen in Form von (3) ordinalen Besser-Schlechter- bzw. Indifferenzurteilen über (4) paarweise Alternativen ausdrücken, und zwar (5) vollständig, das heißt, es muss alle möglichen Paarbildungen innerhalb der Alter­nativenmenge bewerten. Alle diese einschränkenden Annahmen  – zu denen dann noch weitere Rationalitätsanforde­rungen an das Individuum, wie das der Transitivität, treten können30 – werden vorausgesetzt, um die mathematisch-lo­gische Zusammenfassung der individuellen Ent­scheidungen zu einer kollektiven Wohlfahrtsfunktion zu ermöglichen. Man vergleiche damit die Einfachheit und Voraussetzungslosigkeit des Interessenbegriffs. Das Interesse von Personen richtet sich auf eine be­stimmte gemeinsame Entscheidung, zum Beispiel die Entscheidung, eine Schule zu bauen. Hier spielen weder die Alternati­venmenge noch die Unabhängigkeit der Alternativen noch eine Präferenzbildung über paar­weise Alter­nativen oder die Vollständigkeit eine Rolle. Trotzdem kann man ohne weiteres durch Zusammenfassung der Interessen die Legitimität der Entscheidung erreichen, zum Beispiel nach dem Ein­stimmigkeits­prin­zip: Wenn alle Betroffenen ein Interesse am Bau der Schule bekunden, ist der Bau gerechtfertigt. Denkbar ist aber auch die Anwen­dung des Mehrheitsprinzips: Wenn eine Mehrheit der betroffenen Personen ein Inter­esse am Bau der Schule äußert, wird die Schule gebaut. Man könnte nun einwenden, dass das Präferenzmodell diese einfachere direkte Bezugnahme von Interessen auf Entscheidungsalter­nativen mit enthalte. Man könnte zum Beispiel die jeweiligen klassifikatorischen Interessen, die Schule zu bauen, als ordinale Präferenzen fassen: Jede Person hält es für besser, die Schule zu bauen, als sie nicht zu bauen. Aber was ist mit dieser Formulierung der Frage ge­wonnen? Ein Erkenntnisvorteil für die Zusammenfassung der Individualbelange ist nicht erkennbar. Sinnvoll erscheint die Verwendung des Präferenzbegriffs nur, wenn mindestens zwei echte, konträre und nicht nur kontradiktorische Alternativen zur Wahl ste­hen. Dann werden die formalen Einschränkungen des Präferenzmodells aber auch pro­blematisch. In der Realität werden häufig gerade zen­trale Lebens­interes­sen von den Entscheidern nicht in die ordina­le Präferenzstruktur einer „Besser-Schlech­ter-Ord­nung“ ge­bracht oder auch nur als indifferent ausgezeichnet. Warum soll sich ein Mensch entscheiden, ob er lieber heiraten oder einen Beruf ergreifen oder gegenüber beidem indifferent bleiben will? Offen­sichtlich haben viele Menschen an beidem (gleich­zei­tig) ein In­teresse, das auf der In­dividual­ebene prinzipiell auch zu verwirklichen ist und erst auf der Ebene der Beeinflussung durch Entscheidungen von Gemein­schaften möglicherweise kollidiert bzw. durch ent­spre­chen­de Strukturen und Institutionen verhindert wird. Die Ethik ist ver­pflichtet, die Interessen in Form ihrer (partiellen) individuellen Unab­hängigkeit oder 29 Lucian Kern / Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, München 1994, S. 3. 30 Lucian Kern / Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S. 3 ff.

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

kollektiven Abhängigkeit voneinander zu berücksichtigen. Die uniforme Forderung nach Unabhängigkeit der Alternativen idealisiert hier. Aus all dem kann man folgendes Fazit ziehen: Die Zusammenfassung der vier normativ relevanten Eigenschaften, der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, sollte im Rahmen einer umfassenden normativen Ethik durch den Begriff des Belangs bzw. Interesses erfolgen. Der Präferenzbegriff kann dann in speziellen Fällen in klar definierter Form zum Einsatz kommen.

6. Weitere Qualifikationen von Belangen bzw. Interessen Manche Belange erscheinen uns für eine Moral und Ethik schlechterdings inakzeptabel. Einige Autoren meinen deshalb, solche Belange müssten von vornherein ausgeschieden werden. So kann es uninformierte Interessen geben, etwa wenn jemand eine Brücke betreten will, von der er nicht weiß, dass sie einsturzgefährdet ist.31 Es kann irrationale Interessen geben, etwa wenn jemand im vollen Bewusstsein der schädigenden Wirkung raucht. Es kann rein andergerichtete Interessen geben, etwa wenn jemand seinen Nachbarn dazu bringen will, seine Wohnung aufzuräumen. Es kann schließlich fremdschädigende oder sogar verbrecherische Interessen geben, etwa wenn jemand einen anderen verletzen oder gar umbringen will. Im Falle uninformierter Interessen liegt der entscheidende Grund, warum es gerechtfertigt erscheint, den Mann – sofern wir ihn nicht mehr rechtzeitig warnen können, so dass er selbst entscheiden kann – vom Betreten der Brücke zurückzuhalten oder im obigen Beispiel das Weinglas mit dem Gift wegzuschlagen, nicht in der mangelnden Information, sondern in der internen Widersprüchlichkeit der Belange oder von Teilaspekten der Belange. In beiden Fällen kollidiert der aktuelle konkrete Wille, die Brücke zu betreten oder den Inhalt des Weinglases zu trinken, mit dem generellen abstrakten Willen, am Leben zu bleiben. Der Grund, warum wir den aktuellen konkreten Willen missachten dürfen, liegt also nicht in der fehlenden Information, sondern im internen Widerspruch der Interessen bzw. Willensmomente. Die fehlende Information ist nur die faktische Ursache, nicht aber der rechtfertigende Grund. Man nehme als Gegenbeispiel ein Nahrungsmittel, das gesundheitsfördernd wirkt. Nimmt jemand dieses Nahrungsmittel ohne Kennt­nis der gesundheitsfördernden Wirkung zu sich, so dürfen wir es ihm, anders als das Glas mit dem vergifteten Wein, nicht wegschlagen, obwohl er ebenso wenig informiert ist wie beim Trinken des vergifteten Weins. Der Grund liegt darin, dass hier kein Widerspruch zum generellen abstrakten Willen besteht, weil jeder von uns regelmäßig den Wunsch bzw. das Ziel hat, seine Gesundheit zu fördern. Beim Beispiel der einsturzgefährdeten Brücke kann man den Unterschied deutlich sehen, sofern man die Situation der generellen abstrakten Interessen verändert. Nimmt jemand statt des allgemein anzunehmenden abstrakten Willens, das eigene Leben zu 31 John S. Mill, On Liberty, S. 95. Vgl. zu einer Diskussion auch James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, S. 10–17, 24–26.

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erhalten, eine sehr risikofreudige Lebenshaltung ein, die auch das Betreten einsturzgefährdeter Brücken einschließt und keine weiteren Informationen über den Zustand derartiger Brücken erwartet, etwa um den Nervenkitzel zu erhöhen, so dürfen wir ihn nicht vom Betreten der Brücke zurückhalten, auch wenn er nicht weiß, dass gerade diese Brücke, welche er betreten will, einsturzgefährdet ist. Alles hängt also am internen Widerspruch der Interessen und nichts an der fehlenden Information. Die fehlende Information kann allenfalls die Bedingung eines Widerspruchs und damit ein Indiz dafür sein, dass innerhalb der Interessen des Betroffenen ein Widerspruch besteht. Im Übrigen ist es völlig unbestimmt, welcher Grad an Informationsmangel nötig ist, um Interessen eines Anderen nicht zu berücksichtigen. Was ist etwa, wenn der Betroffene ein vages Gerücht über die Baufälligkeit der Brücke gehört hat? Was ist, wenn er als Laie technische Angaben über den Zustand der Brücke nicht verstanden hat? Insgesamt kann eine fehlende Information die Berücksichtigung der Interessen nicht ausschließen, weil nach Maßgabe des normativen Individualismus auch die Haltung des Betroffenen zu seiner eigenen Informiertheit bzw. Uninformiertheit berücksichtigt werden muss. Im Fall irrationaler Interessen besteht kein Widerspruch zwischen den Interessen einer Person, sondern ein Widerspruch zwischen diesen Interessen und einer objektiven Beurteilung des Wohlergehens dieser Person durch Dritte, etwa wenn Dritte die Erhaltung der Gesundheit der Person als erheblich wertvoller einschätzen als deren Freude zu rauchen. Aber dieses Beispiel zeigt schon, dass es hier nicht um einen rein logischen Widerspruch oder ein faktisch widersprüchliches Verhalten gehen kann, sondern nur um einen Wertungswiderspruch. Dann muss aber wiederum zwischen den Interessen der Person und der Beurteilung durch Dritte eine Wertentscheidung getroffen werden. Man muss also entscheiden, was einem wichtiger ist, die eigene Gesundheit oder die Freuden des Rauchens. Und diese Entscheidung ist keineswegs eindeutig. Manch einer wird auch bei voller Information über die Fakten den langjährigen Genuss des Rauchens einer sehr wahrscheinlichen Lebensverlängerung vorziehen. Der normative Individualismus fordert, dass diese Wertentscheidung durch die betroffenen Individuen selbst getroffen wird und nicht durch Dritte. Insofern kann es keine Rechtfertigung geben, irrationale Belange von vornherein auszuschließen. Bei stark andergerichteten Interessen hat man den Eindruck, dass sich jemand um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen. Aber unser Leben umfasst nicht zuletzt das Zusammenleben mit anderen und damit auch die Bezugnahme von Interessen auf diese Anderen. Die Grenze zu zweifellos berechtigten Interessen ist insofern schwer zu ziehen. Man wird es klarerweise nicht ausschließen, wenn sich eine Mutter um das Wohl ihres Kindes sorgt. Aber wo hört die berechtigte Sorge auf und wo beginnt die unberechtigte Einmischung? Eine Entscheidung darf hier nicht schon durch Restriktion des Interessenbegriffs, also beim zweiten Element der ethischen Rechtfertigung, getroffen werden, sondern muss beim fünften Element der Abwägung mit den Belangen der betroffenen Anderen erfolgen. Je älter und selbständiger ein Kind ist, desto gewichtiger sind seine Interessen an einer selbständigen Lebensführung. Im obigen Beispiel des Interesses eines Nachbarn, den Anderen dazu zu bringen, seine Wohnung aufzuräumen, ist wenig zweifelhaft, dass das Interesse des Anderen, die Gestaltung seiner eigenen vier Wände selbst

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zu bestimmen, Vorrang haben wird. Es besteht also kein Grund, auf Andere gerichtete Interessen von vornherein nicht zu berücksichtigen. Bei fremdschädigenden oder verbrecherischen Interessen gilt Vergleichbares. Diese Klasse von Belangen kann nicht von vornherein ausgeschieden werden, weil umstritten ist, welche Belange fremdschädigend oder verbrecherisch sind. Manche dieser Belange sind in der Abwägung doch berechtigt, etwa das Interesse, gegenüber einem Angreifer Notwehr zu üben. Der Ausschluss derartiger Interessen muss also ebenfalls auf der Ebene der Abwägung erfolgen, nicht schon bei der fundamentaleren Anerkennung als moralisch relevante Eigenschaft. Man kann zusammenfassen: Der normative Individualismus fordert, die Individuen mit ihren ethisch relevanten Eigenschaften soweit wie möglich zu berücksichtigen. Sie sollen selbst entscheiden, was ihnen wichtig und was ihnen unwichtig ist. Deshalb kann keine dieser Einschränkungen der moralisch relevanten Belange überzeugen, sofern sich einzelne Belange nicht innerhalb eines einzigen Individuums widersprechen. Nach dieser Erörterung des zweiten Elements einer adäquaten normativen Ethik ist es nun möglich, das Prinzip des normativen Individualismus weiter zu konkretisieren: Alle Handlungen, die Andere betreffen, finden ihre letzte Rechtfertigung ausschließlich in den aktuellen konkreten, generellen abstrakten, früheren, mutmaßlichen oder hypothetischen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen (in dieser Reihenfolge), also den intern widerspruchsfreien Belangen bzw. Interessen aller von der jeweiligen Handlung betroffenen Individuen.

7. Menschenwürde und Autonomie Als moralisch relevante Eigenschaft werden nicht selten auch die Menschenwürde und die Autonomie angesehen. Deshalb muss man sich die Frage stellen, wie ihr Verhältnis zu den bereits bejahten moralisch relevanten Eigenschaften der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, also der Belange bzw. Interessen ist? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, den Begriff der Würde zu analysieren.32

a) Zufällige und notwendige Würde Zunächst lässt sich eine zufällige (kontingente, externe) von einer notwendigen (inhärenten, internen) Würde unterscheiden.33 In der Literatur wird vergleichbar von „Leistung“ und „Mitgift“ gesprochen.34 Die zufällige (kontingente), auf der Leistung des Würdeinhabers 32 Vgl. zum Folgenden: Verf., Tierwürde nach Analogie der Menschenwürde, in: Michael Brenner (Hg.), Tiere beschreiben, Erlangen 2003, 105–123. 33 Vgl. dazu Philipp Balzer / Klaus P. Rippe / Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Be­ griffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, Freiburg 1998, S. 17. 34 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, Archiv für öffentliches Recht 118 (1993), S. 353–377.

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beruhende Würde bzw. Anerkennungswürdigkeit ist eine veränderliche Eigenschaft. Sie besteht in dem Ausdruck der Gelassenheit, der inneren Unabhängigkeit, des In-sichselbst-Ruhens gegenüber äußeren Veränderungen und Anfechtungen.35 Dabei ist in unterschiedlichen Situationen verschieden würdevolles Verhalten möglich. Im Laufe eines Lebens kann man eine solche kontingente Anerkennungswürdigkeit erwerben, aber auch wieder verlieren. Daraus folgt praktisch, dass die Eigenschaft der zufälligen Würde ungleich verteilt ist und ungleich ausgeübt wird.36 Die kontingente Würde umfasst einen ästhetischen Teil, etwa die Gravität, Monumentalität und das In-Sich-Ruhen einer Person, einen institutionell-sozialen Teil, etwa die Würde eines Amtes als Minister oder Bischof oder der öffentlichen Stellung (dies war die Urbedeutung von lat. „dignitas“37), und einen expressiven Teil des würdevollen Verhaltens, etwa die Hinnahme einer Niederlage oder eines Verlustes mit Gelassenheit und innerer Unabhängigkeit. Dabei ist allerdings klar zwischen der zufälligen Eigenschaft der kontingenten Würde und der Fassung dieser Würde als ethischem Belang zu unterscheiden. Die kontingente Würde kann als bloße faktische Eigenschaft nicht selbst normative Quelle ethischer Verpflichtungen sein. Man kann die Rolle der bloß faktischen Eigenschaft der kontingenten Würde mit der des Hungers vergleichen. Eine ethische Hilfspflicht besteht gegenüber tatsächlich Hungernden. Der Hunger ist also eine notwendige Bedingung der ethischen Hilfspflicht. Er ist aber nicht selbst die normative Quelle der Verpflichtung. Die kontingente Würde kann in ähnlicher Weise Bedingung und damit Inhalt einer ethischen Verpflichtung sein. Wer etwa in seinem Amt nicht die amtsgemäße Würde wahrt, kann von Anderen nicht verlangen, seine Würde als Amtsinhaber zu achten. Die Verpflichtung zum Respekt gegenüber dem Amtsinhaber resultiert aber nicht aus seinem zufälligen Verhalten. Das kontingente Würdeverhalten als solches kann also nicht Teil der letzten normativ-ethisch relevanten Eigenschaften sein. Die letzten normativ-ethisch relevanten Eigenschaften können – sieht man von einer transzendent-religiösen Ebene ab – nur die Belange bzw. Interessen der betroffenen Individuen sein. Diese Belange bzw. Interessen bedürfen eines Inhalts. Und ein möglicher Inhalt ist auch die kontingente Würde. Allerdings ist die veränderliche Eigenschaft der kontingenten Würde nur ein ethischer Inhalt unter vielen und keinesfalls der wichtigste. Vorrangig ist zu verhindern, dass Menschen getötet, verletzt oder geschä-

35 Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Robert Spaemann / Ernst-Wolfgang Böcken­ förde (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen  – säkulare ­Gestalt  – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, S. 295–313, S. 299. Vgl. zu einer prägnanten phänomenalen Analyse: Aurel Kolnai, Dignity, in: Robin S. Dillon (Hg.), Dignity, Character, and Self-Respect, New York 1995, S. 53–75, S. 66: „Undignified is everything antithetic to distance, discretion, boundaries, articulation, individuation and autonomy.“ 36 Philipp Balzer / Klaus P. Rippe / Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S. 19. Ebenso: Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, S. 304. 37 Vgl. Bernhard Giese, Das Würde-Konzept. Eine normfunktionale Explikation des Begriffs Würde in Art. 1 Abs. 1 GG, Berlin 1975, S. 23 ff.

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digt werden, weil dies wichtigere Belange missachtet. Die veränderliche Eigenschaft der Würde ist also als Interesse ethisch zu berücksichtigen. Sie stellt dann aber regelmäßig nur einen mittelwichtigen Belang unter vielen dar. Diese Einsicht findet eine Parallele in der rechtsphilosophischen und verfassungsrechtlichen Diskussion. Die Qualifikation der Würde als „Leistung“ konnte sich als Interpretation des Würdeschutzes in Art. 1 des Deutschen Grundgesetzes nicht durchsetzen. Sie wird im Wesentlichen nur von Sozialwissenschaftlern vertreten, die jede normative Ethik ablehnen.38

b) Die notwendige Würde Angesichts der Schwäche der kontingenten Würde in der Menge ethischer Belange muss der Schwerpunkt der Frage nach der Menschenwürde auf der anderen Möglichkeit eines Würdeschutzes liegen, auf der notwendigen (inhärenten) Würde bzw. der Würde als „Mitgift“. Damit ist allerdings selbstredend nicht die noch bis ins 18. Jahrhundert bei Burke und selbst noch an einigen peripheren Stellen bei Kant mit „dignitas“ bezeichnete soziale Würde der Mitglieder höherer Stände gemeint,39 sondern die in der christlichen Tradition, aber auch seit der Renaissance angenommene, allen Menschen zukommende Menschenwürde.40 Dabei lassen sich prinzipiell drei Alternativen unterscheiden: Nach der ersten Alternative findet die ethische Verpflichtung zur Berücksichtigung des Menschen ihre Quelle in der Menschenwürde. Nach der zweiten Alternative ergibt sich mit der inhärenten Menschenwürde quasi ein zusätzlicher Aspekt der ethischen Verpflichtung zur Berücksichtigung des Menschen. Die dritte Auffassung lehnt schließlich die Menschenwürde als eigenständige Quelle oder auch nur eigenständigen Aspekt ethischer Verpflichtung ab. Sie verzichtet dann entweder ganz auf die Berücksichtigung der Menschenwürde in der Ethik oder sie behauptet, dass die ethische Verpflichtung zur Berücksichtigung des Menschen und seiner Menschenwürde identisch sind, womit sich eine eigenständige Berücksichtigung der Menschenwürde ebenfalls erübrigt. Für die Auffassung, dass die Menschenwürde die Quelle ethischer Verpflichtung sei, lassen sich überraschenderweise kaum signifikante Vertreter finden. Im Rahmen religiös inspirierter Ethiken ist die Menschenwürde zwar wichtig. Quelle der ethischen Verpflichtung sind aber göttliche Gebote oder zumindest eine gottgegebene Eigenschaft des Menschen, etwa die Gottesebenbildlichkeit, nicht aber eine rein inhärente Qualität.

38 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 1965, S. 53 ff. 39 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 328. Vgl. dazu Michael J. Meyer, Kant’s Concept of Dignity and Modern Political Thought, History of European Ideas 8 (1987), S. 319–332. 40 Vgl. dazu Kurt Bayertz, Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 81 (1995), S. 465–481; ders., Human Dignity: Philosophical Origin and Scientific Erosion of an Idea, in: ders. (Hg.), Sanctity of Life and Human Dignity, Dordrecht / Boston / London 1996, S. 73–90.

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Deshalb wird die dignitas in der Ethik des Thomas von Aquin zur essentiellen Eigenschaft und spielt eine gewisse, aber keine alles fundierende Rolle.41 Folgerichtig formuliert Spae­mann: „Weil der Mensch als sittliches Wesen Repräsentation des Absoluten ist, darum und nur darum kommt ihm das zu, was wir ‚menschliche Würde‘ nennen.“42 Die Renaissance hat dann zwar die Würde des Menschen unabhängig von unmittelbaren religiösen Bezugnahmen zu einem wesentlichen Faktor ihrer Anthropologie gemacht. Aber sie hat keine wirkmächtige Ethik auf dieser Grundlage entfaltet. Kant hat schließlich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 die Würde des Menschen betont.43 Dies hat manche Interpreten dazu veranlasst, der Würde des Menschen eine zentrale Rolle in der kantschen Ethik zuzuerkennen.44 Dabei erscheint jedoch schon philosophiehistorisch Vorsicht geboten.45 Zunächst spricht gegen diese zentrale Rolle, dass der Begriff der Würde in Kants Ausarbeitung der Ethik, in der Kritik der praktischen Vernunft von 1788, nicht mehr auftaucht. Er erscheint erst wieder 1798 in der Metaphysik der Sitten und zwar dort ausschließlich im zweiten Teil, in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre. Aber auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird der Begriff der Würde erst sehr spät eingeführt, nämlich im Rahmen der Entfaltung der dritten Formel des Kategorischen Imperativs. Der Würdebegriff wird zwar nicht selten mit der zweiten Formel des Kategorischen Imperativs „Handle so, dass Du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“46 in Verbindung gebracht.47 Dies geschieht im Übrigen auch in der von vielen akzeptierten Interpretation48 des Menschenwürdegebots in Art. 1 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht als 41 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, qu. 29 a 3; vgl. Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, Tübingen 1997, S. 180–184; Bernhard Giese, Das Würde-Konzept. Eine normfuktionale Explikation des Begriffs Würde in Art. 1 Abs. 1 GG, S. 27; J. Lenz, Die Personwürde des Menschen bei Thomas von Aquin, Philosophisches Jahrbuch 49 (1936), S. 139–166. 42 Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, S. 304. 43 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 434 ff. 44 Neil Roughley, Artikel „Würde“, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. 4, Sp-Z, Stuttgart / Weimar 1996, S. 784–787, S. 784; Josef Santeler, Die Grundlegung der Menschenwürde bei I. Kant, Innsbruck 1962. 45 Vgl. zum Folgenden ausführlich: Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant, in: Recht und Sittlichkeit bei Kant, Jahrbuch für Recht und Ethik 14, hg. von Sharon Byrd u. a., Stuttgart 2006, S. 501–517. 46 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 429. 47 Beat Sitter-Liver, „Würde der Kreatur“: Grundlegung, Bedeutung und Funktion eines neuen Verfassungsprinzips, in: Julian Nida-Rümelin / Dietmar von der Pfordten (Hg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, 2. Aufl. Baden-Baden 2002, S. 355–364, S. 359. Auch Norbert Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, Juristische Schulung 23 (1983), S. 93–96, S. 93, setzt ohne Bezug auf die zweite Formel „Würde“ und „Selbstzweckhaftigkeit“ gleich. 48 Urheber ist Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, Archiv des öffentlichen Rechts 81 / 2 (1956), S. 117–157, S. 128: „Es verstößt gegen die Menschenwürde als solche, wenn der konkrete Mensch zum Objekt eines staatlichen Verfahrens gemacht wird.“; ders., in: Theodor Maunz / Günter Dürig (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 2001, Art. 1, Rn 28. Vgl. Tatjana Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, Berlin 1990, S. 31 ff.

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Verbot der Verobjektivierung des Menschen (sog. Objektformel).49 Aber Kant erwähnt im Rahmen der Entfaltung dieser zweiten Formel des Kategorischen Imperativs den Würdebegriff gar nicht.50 Das kann kein Zufall sein, sondern lässt sich erklären. Die zweite Formel des Kategorischen Imperativs gebietet zwar die Anerkennung Anderer und des Handelnden selbst als Zweck. Aber dies geschieht aus der Perspektive des einzelnen Handelnden. Erst im Rahmen der Betrachtung des Reichs der Zwecke wird die Perspektive eines nicht selbst verpflichteten, gottgleichen Beobachters eingenommen, der nicht explizit Adressat des Kategorischen Imperativs ist. Nur im Rahmen dieser gottgleichen Perspektive, der Kant im Gegensatz zur Kategorie der „Vielheit“ für die zweite Formel die Kategorie der „Allheit“ zuordnet,51 erwähnt er die Würde des Menschen.52 Worin besteht nun aber der Unterschied zwischen Zweckhaftigkeit an sich und Würde des Menschen? Kant bestimmt die Würde als Eigenschaft eines vernünftigen Wesens, „das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“.53 Entscheidend ist also, dass jedes würdebegabte Wesen selbst Autor seiner ethischen Einschränkungen ist. Dies ist mit der Selbstzweckformel noch nicht notwendig ausgesagt, denn die Selbstzweckformel behauptet nur, dass der Handelnde andere nicht zum beliebigen Mittel machen darf. Warum er Andere nicht zum beliebigen Mittel machen darf, aus welcher Quelle also die Verpflichtung zur Berücksichtigung der eigen­ständigen Zwecke Anderer resultiert, ist damit nicht festgelegt. Denn es ist ja nicht notwendig, dass die Pflicht zur Beachtung eigenständiger Zwecke Anderer von dem Anderen als Inhaber dieser Zwecke selbst herrührt. Denkbar wäre etwa auch eine Verpflichtung durch göttliche Gebote. Die Selbstzweckformel als zweite Formel des Kategorischen Imperativs behauptet also nichts anderes als die Notwendigkeit der ethischen Berücksichtigung des Menschen um seiner selbst willen.

49 BVerfGE 5, 85 (204); 7, 198 (205); 27, 1 (6): „Es widerspricht der Menschenwürde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen.“; 28, 386 (391); 45, 187 (228); 50, 166 (175); 56, 37 (43). Vgl. Christian Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, Juristenzeitung 36 (1981), 457–464. 50 Insofern unverständlich bzw. unzutreffend: Philipp Balzer / Klaus P. Rippe / Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S. 23. Die angegebene Stelle BA 79, 80 enthält die zweite Formel gar nicht, sondern den Rest der dritten Formel und eine Zusammenfassung aller Formeln. Im Rahmen der zweiten Formel bei BA 66 ff. wird die Würde definitiv nicht erwähnt. 51 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 436. 52 Allerdings erfolgt 14 Jahre später in der Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, eine Identifizierung von Würde und Selbstzweckhaftigkeit: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 462: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt.“ Der Klammerzusatz „die Persönlichkeit“ hinter der Erwähnung der Würde deutet aber an, dass der Würdebegriff hier anders als in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ gebraucht wird. Norbert Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, S. 96, lässt den Klammerzusatz „(die Persönlichkeit)“ bezeichnenderweise weg. 53 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 434.

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Erst die Einordnung des Menschen in das Reich der Zwecke schließt andere normative Quellen aus, etwa die Quelle der ethischen Verpflichtung jenseits des jeweils Betroffenen in Gott. Dies geschieht auf zweifache Weise: Zum einen ermöglicht die Einordnung des einzelnen Menschen in das Reich der Zwecke die Behauptung der Vollständigkeit der zwecksetzenden Wesen. Das Reich der Zwecke stellt ein „Ganzes aller Zwecke“ dar.54 Zum anderen wird in das Reich der Zwecke auch Gott als Möglichkeit integriert. Während sich die Selbstzweckformel eindeutig nur auf die „Menschheit“ bezieht, so besteht nach Kant das „Reich der Zwecke“ nicht nur aus „Gliedern“, die zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen sind, sondern auch aus einem „Oberhaupt“, das als gesetzgebend keinem Willen eines Anderen unterliegt.55 Während in der christlichen Tradition die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott als Quelle der Menschenwürde angesehen worden war,56 konstruiert Kant die Würde des Menschen nunmehr als Gleichheit der Menschen mit Gott als moralische Gesetzgeber in einem gemeinsamen Reich der Zwecke. Allerdings führt diese Konstruk­ tion des Reichs der Zwecke zum Postulat, dass nur vernünftige Wesen in ihm gesetzgebend sein können. Da Tiere nicht in diesem anspruchsvollen Sinne vernünftig sind, kann ihnen die Stellung eines gesetzgebenden Gliedes im Reich der Zwecke nicht zugebilligt werden. Sie können also nach Kant nicht wie die Menschen eine inhärente, moralisch relevante Würde in Anspruch nehmen. Für Kant besteht keine direkte ethische Verpflichtung gegenüber Tieren, sondern nur gegenüber Menschen.57 Die Differenz zwischen der Eigenschaft der Selbstzweckhaftigkeit und der Selbstgesetzgebung als Voraussetzung der Würde wird an verschiedenen Stellen deutlich. So schreibt Kant: „das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde.“58 Die Würde wird hier also als „Bedingung“ der Selbstzweckhaftigkeit angesehen. Und an einer anderen Stelle heißt es: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“59 Die Selbstgesetzgebung, die Autonomie des Menschen, ist somit das Fundament der kantschen Ethik. Im Zusammenhang eines Reichs der Zwecke konstituiert diese Selbstgesetzgebung die Würde des Menschen. Sie führt in der einzelnen ethischen Konfliktsituation zur Verpflichtung, die Selbstgesetzgebung des anderen oder seiner selbst als Teil der Menschheit zu achten. Für Kant sind von den Lebewesen nur Menschen um ihrer selbst willen zu berücksichtigen und nur Menschen kommt Würde zu. Aber die Würde ist nicht der letzte Grund der ethischen Verpflichtung. Der letzte Grund 54 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 433. 55 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 433. 56 Vgl. für eine Formulierung dieser Auffassung Josef Santeler, Die Grundlegung der Menschenwürde bei I. Kant, S. 282. 57 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S. 442. Vgl. Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S. 42 ff. 58 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 435. 59 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 436.

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der ethischen Verpflichtung liegt vielmehr in der Fähigkeit des Menschen zur Selbstgesetzgebung, im „Faktum der Vernunft“60 bzw. im „moralischen Gesetz in mir“61. Die Würde ist ein Resultat dieses letzten Grundes der ethischen Verpflichtung, nämlich der Stellung des Menschen im Reich der Zwecke als gesetzgebend. Die Verpflichtung zum Respekt gegenüber der Selbstzweckhaftigkeit gemäß der zweiten Formel des Kategorischen Imperativs ist dagegen ein Resultat dieses letzten Grundes aus der Perspektive der unmittelbaren Handlungsnormierung im einzelnen Konfliktfall. Diese Auffassung Kants von der Grundlage ethischer Verpflichtung ist aber sachlich zweifelhaft.62 Die Annahme des moralischen Gesetzes im Menschen und damit seiner Autonomie in einem starken Sinne ist hoch metaphysisch und damit problematisch. Der Mensch besitzt zwar im Gegensatz zu Tieren Vernunft. Er allein ist in der Lage, seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele umfassend vernünftig zu relativieren, indem er auf einer zweiten Stufe Ziele und Wünsche bezüglich Bedürfnissen, Wünschen und Zielen der ersten Stufe bildet. Deshalb kann er im Gegensatz zu Tieren moralisch handeln, also ethischer bzw. moralischer Akteur (moral agent) sein, nicht nur ethisch bzw. moralisch Betroffener (moral patient). Er ist nicht nur selbst ethisch bzw. moralisch zu berücksichtigen, sondern muss auch andere Wesen ethisch bzw. moralisch berücksichtigen. Er ist in der Lage, seine Bedürfnisse, Wünsche und Ziele der ersten Stufe zugunsten ethischer Gesichtspunkte zu relativieren. Aber damit ist nicht begründet, warum nur die Interessen auf der zweiten Stufe oder die Inhaber derartiger Interessen zweiter Stufe ethische Berücksichtigung verdienen. Auch die Belange zweiter Stufe sind nur normativ zu berücksichtigende Eigenschaften im moralischen Konflikt wie die Belange erster Stufe. Sie verdienen deshalb ethisch keine alleinige oder auch nur generell bevorzugende Behandlung.

c) Kritik weiterer Konzeptionen Externe bzw. intersubjektive Deutungen der Menschenwürde verringern ihre Gewichtigkeit im Vergleich zu unseren höchstrangigen Belangen wie Leben, Gesundheit sowie geistiger und körperlicher Unversehrtheit. Sie machen die Menschenwürde damit zu einem Interesse, das wie die kontingente Würde stark relativierbar ist. Dies gilt etwa für die Auffassung, die Menschenwürde werde durch die Anerkennung von Seiten Anderer konstituiert63 oder sie bestehe in der äußeren Repräsentation von Selbstrespekt64 60 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 56, S. 31. 61 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 288, S. 161. 62 Vgl. Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S. 42 ff., zu einer Kritik. 63 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde; Peter Baumann, Menschenwürde und das Bedürfnis nach Respekt, in: Ralf Stoecker (Hg.), Menschenwürde. Annäherung an einen Begriff, Wien 2003, S. 19–34, S. 26–29. 64 Vgl. Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge 1996, S.  51 ff.; Julian Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005, S. 131 ff.

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und führe daher zur Forderung nach nichtdemütigender, die Selbstachtung wahrender Behandlung durch Andere. Niemand wird bestreiten, dass wir ein berechtigtes Interesse haben, von Anderen anerkannt und respektvoll behandelt zu werden. Dieses ohne Frage berechtigte und hochrangige Interesse mit der Menschenwürde zu identifizieren, erscheint aber doch aus drei Gründen problematisch: Zum Ersten kennen wir respektloses Verhalten Anderer, von dem wir nicht annehmen, es verletze unsere Menschenwürde. Stibitzt etwa jemand einem Anderen ohne weiteres etwas vom Teller, so wird man das als respektlos und in bestimmten Fällen demütigend ansehen, ohne ernsthaft eine Verletzung der Menschenwürde annehmen zu können. Oder wenn jemand abfällige Bemerkungen über einen nichtanwesenden Dritten macht, so ist das respektlos, tangiert aber im Normalfall nicht dessen Menschenwürde. Zum Zweiten hat eine derartige externe und intersubjektive Auffassung der Menschenwürde Schwierigkeiten, die Bejahung der Menschenwürde in bestimmten Lebensstufen bzw. Lebensformen zu erklären, etwa bei geistig Schwerstbehinderten, Komatösen und Neugeborenen. Diese Menschen haben kein aktuelles und bewusstes Bedürfnis nach Anerkennung oder Respekt (bei der ersten Gruppe muss das natürlich jeweils im Einzelfall geprüft werden). Zum Dritten steht eine derartige externe bzw. intersubjektive Deutung der Menschenwürde, welche diese zu einem Belang der in Kapitel V noch zu erläuternden Relativzone unserer Interessen herabstuft, zu unseren Grundannahmen über ihren Status im Gefüge unserer Belange im Widerspruch. Zum einen glauben wir, dass die Menschenwürde in der Wertigkeit zumindest auf einer Ebene mit Leben, Gesundheit und geistiger wie körperlicher Unversehrtheit liegt (was nichts über ihre eventuelle Abwägbarkeit aussagt). Zum anderen stellen alle neueren Verfassungs- bzw. Menschenrechtsordnungen die Menschenwürde entweder über oder zumindest neben diese wichtigsten Belange der Menschen.65 Man muss aus diesen drei Einwänden den Schluss ziehen, dass die Menschenwürde nicht extern bzw. intersubjektiv, sondern intern und individuell zu verstehen ist. Sie ist unseren wichtigsten Belangen wie Leib und Leben wenigstens gleichzustellen. Nach einer anderen Auffassung66 soll die Menschenwürde mit einer Gruppe unabdingbarer Rechte verbunden sein, erstens einer Versorgung mit den zur biologischen Existenz notwendigen Gütern, zweitens einer Freiheit von starken und andauernden Schmerzen, drittens einer minimalen allgemeinen Freiheit, viertens einem minimalen Selbstrespekt. Es dürfte nicht zweifelhaft sein, dass diese Belange bzw. Rechte wesentlich sind und Berücksichtigung verdienen. Aber es ist doch fraglich, warum gerade diese Rechte unter der Bezeichnung „Menschenwürde“ zusammengeführt werden sollen. Das Gemeinsame und gleichzeitig Spezifische der Menschenwürde scheint damit nicht getroffen.67 65 Vgl. Art. 1 I des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ UN-Charta; EUGrundrechtecharta. 66 Dieter Birnbacher, Ambiguities in the Concept of Menschenwürde, in: Kurt Bayertz (Hg.), Sanctity of Life and Human Dignity, Dordrecht / Boston / London 1996, S. 107–121, S. 110 ff. 67 Vgl. zu einer Kritik auch Philipp Balzer / Klaus P. Rippe / Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S. 27.

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

Dagegen wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass die Verletzung der Menschenwürde eine besondere Erniedrigung und Herabsetzung erfordert.68 Die Menschenwürde impliziert ein Recht, nicht erniedrigt zu werden. Aber was heißt das genauer? Jemand ist erniedrigt, wenn er sich selbst nicht achten kann. Die Würde eines Menschen besteht also in seiner Selbstachtung. Das erscheint einleuchtend. Allerdings reicht diese Bestimmung nicht hin. Die Selbstachtung ist ja nichts anderes als eine Selbstbewertung. Diese Selbstbewertung kann sich aber auf alles Mögliche beziehen. Jemand kann zum Beispiel seine Selbstachtung verlieren, wenn er ein Examen nicht besteht oder eine Sportart nicht so erfolgreich ausübt, wie er sich das wünscht. In diesen Fällen wird man aber nicht davon sprechen wollen, dass er in seiner Menschenwürde verletzt wurde. Die Erniedrigung und Herabsetzung muss sich deshalb auf eine bestimmte zentrale Eigenschaft des Menschen richten, die bei jedem Menschen einen wesentlichen und unabdingbaren Teil der Selbstachtung ausmacht.

d) Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange Die Antwort auf die Frage nach der Menschenwürde sollte von der ethischen Grundeinsicht des normativen Indi­vi­dualis­mus ausgehen: Wenn ausschließlich Individuen die letzte ethisch rechtfertigende Instanz sein können und wenn sie über die rechtfertigenden Eigenschaften im Prinzip autonom entscheiden, dann können und dürfen konkretere typisierte Belange wie Leib, Leben sowie körperliche und geistige Unversehrtheit usw. die Menge der möglichen Belange nicht ausschöpfen. Der erste und wichtigste Belang ist vielmehr auf einer sekundären Ebene das Ziel und der Wunsch bzw. das Interesse, primäre Belange, das heißt Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen zu haben. Der Schlüssel zum Verständnis der notwendigen (inhärenten) Menschenwürde liegt damit in einer wichtigen Einsicht, die schon en passant in Kapitel II, 2 bei der Frage nach den moralisch relevanten Eigenschaften erwähnt wurde. Dort war festgestellt worden, dass es zwischen den vier moralisch relevanten Eigenschaften, also den Zielen, den Wünschen, den Bedürfnissen und den Strebungen einen fundamentalen Unterschied gibt: Strebungen und Bedürfnisse können sich nicht auf andere Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele beziehen. Es gibt also keine Strebungen nach Strebungen und keine Bedürfnisse nach Strebungen oder Bedürfnissen. Aber es gibt sekundäre Wünsche und Ziele mit Bezug auf primäre Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele. Wir können also etwa den Wunsch entwickeln, häufiger das Bedürfnis nach Sport zu haben oder den Wunsch nach schöner Musik zu entfalten. Und wir können das Ziel ausprägen, unser Bedürfnis nach Schlaf zu verringern, unseren Wunsch nach Süßspeisen einzuschränken und uns ehrgeizigere ökologische Ziele zu stecken. Wünsche und Ziele sind somit im Gegensatz zu Bedürfnissen und Strebungen iterierbar bzw. mögliche Eigenschaften zweiter 68 Philipp Balzer / Klaus P. Rippe / Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur: Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, S. 29.

7. Menschenwürde und Autonomie

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Ordnung gegenüber anderen moralisch relevanten Eigenschaften. Ein Grund liegt vielleicht darin, dass nur Wünsche und Ziele immer notwendig intentional sind, während die Intentionalität bei Bedürfnissen zweifelhaft bzw. kontingent ist. Nur weil Wünsche und Ziele intentional sind, können sie sich auf andere moralisch relevante Eigenschaften beziehen. Die Intentionalität ist dabei nicht nur eine repräsentierende, sondern auch eine bewertende. Wir haben also mit unseren Wünschen und Zielen die Fähigkeit, uns nicht nur repräsentierend auf die anderen moralisch relevanten Eigenschaften zu beziehen, sondern auch bewertend. Wir können auf diese Weise zwischen unseren moralisch relevanten Eigenschaften eine eigene, subjektive Rangordnung herstellen. Wir können etwa das Ziel, einen Brief zu beenden, dem Bedürfnis, etwas zu essen, überordnen. Die Menschenwürde besteht in der Selbstbestimmtheit und Offenheit der Entscheidung, das heißt dem Verhältnis der Wünsche und Ziele zweiter und gegebenenfalls höherer Ordnung hinsichtlich der eigenen Belange erster bzw. niederer Ordnung.69 Ein wesentlicher Teil unseres Selbstverständnisses und unserer Selbstachtung beruht auf dieser Selbstbestimmtheit und Offenheit unserer Entscheidungen über unsere Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Das Bedürfnis nach Anerkennung dieses Selbstverständnisses und dieser Selbstachtung ist dann nur eine sekundäre Folge der solchermaßen verstandenen Menschenwürde, nicht jedoch ihre Grundlage. Die Auffassung der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange passt sehr gut zur häufigen – wenn auch textinterpretatorisch für Kant zur Zeit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht gerechtfertigten70 – Identifikation des Menschenwürdebegriffs mit dem Verbot der ausschließlichen Instrumentalisierung des Menschen in Kants zweiter Formel des Kategorischen Imperativs.71 Fragt man sich, was es überhaupt bedeuten kann, den Anderen ausschließlich als Mittel anzusehen, so wird es hierfür nicht genügen, einzelne ethisch relevante Eigenschaften, das heißt Belange erster Stufe zu missachten. Werden dagegen die aktuellen oder wenigstens potentiellen Wünsche und Ziele hinsichtlich eigener Belange, also die ethischen Eigenschaften zweiter Stufe negiert, dann impliziert das auch eine vollständige Missachtung aller Belange erster Stufe, denn wenn jemand nicht einmal mehr über seine Wünsche und Ziele bezüglich seiner eigenen Belange entscheiden darf, dann sind auch alle Belange erster Stufe als eigenständige entwertet. Wer also die Belange zweiter Stufe negiert, verneint auch alle Belange erster Stufe, selbst wenn er dies nicht für jeden einzelnen Belang erster Stufe selbständig und direkt tut. Auf diese Weise wird verständlich, wie ein Anderer vollständig instrumentalisiert werden kann.

69 Harry Frankfurt, Freedom Of the Will and the Concept of a Person, in: ders., The Importance Of What We Care About, Cambridge 1988, S. 11–25, hat für den Begriff der Person Wünsche zweiter Ordnung für kennzeichnend gehalten, die sich auf handlungsmotivierende Wünsche erster Ordnung beziehen, also einen Willen (second-order volitions). 70 Vgl. oben und Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant. 71 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 429: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

Die Interpretation der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange kann auch sehr gut erklären, warum die Menschenwürde in den Normen und Regeln der Moral und des Rechts, etwa den Verfassungen, erst sehr viel später als der Schutz von primären Belangen wie Leben, Leib, Freiheit und Eigentum auftritt. Wie bei allen Metaphänomenen ist auch beim Phänomen der Selbstbestimmung über die eigenen Belange eine abstraktere und damit weiter gehende Reflexion erforderlich, die zunächst die Erkenntnis und den Schutz der konkreteren Belange der ersten Stufe, wie Leben, Leib, Freiheit und Eigentum voraussetzt. Die Würde als die Fähigkeit des Menschen (oder anderer Lebewesen), sich gegenüber den eigenen Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen noch einmal auf einer Metaebene vernünftig bzw. potentiell vernünftig bewertend verhalten zu können, ist als wesentliche Grundlage der Selbstachtung eine Fähigkeit des In-Sich-Ruhens und der inneren Unabhängigkeit besonderer Art. Diese Fähigkeit erschöpft sich zwar nicht im Vermögen, moralisch zu handeln, weil die Bedürfnisse, Wünsche und Ziele erster Stufe nicht unbedingt Andere betreffen müssen, sondern sich auch praktisch ausschließlich auf den Akteur beziehen können. Aber sie ist doch eine notwendige Voraussetzung, um moralisch zu agieren, weil jedes genuin moralische Handeln eine derartige Einschränkung eigener Triebe und Neigungen auf einer Metaebene der Bewertung eigener und fremder Wünsche und Interessen voraussetzt. Die Bestimmung der Würde als Bewertungsfähigkeit auf der Meta­ebene gegenüber eigenen und fremden Wünschen und Interessen hat den Vorteil, dass sie keiner starken metaphysischen oder religiösen Annahmen bedarf. Sie kann also auch von metaphysischen Skeptikern und Agnostikern akzeptiert werden. Christen oder anderen Gläubigen wird aber gleichzeitig die Möglichkeit eröffnet, diese Würdebegabung religiös zu interpretieren. Ein wesentlicher Aspekt der spezifischen Gottesebenbildlichkeit bestünde dann in der einzigartigen Fähigkeit des Menschen, Belange auf einer Meta­ebene gegenüber eigenen und fremden Belangen erster Stufe zu entwickeln.

e) Typische Verletzungen: Zwangsernährung, Lügendetektoren, Folter, Sklaverei Fasst man die notwendige, inhärente Würde des Menschen derart als seine aktuelle oder wenigstens potentielle Fähigkeit zum vernünftigen oder wenigstens potentiell vernünftigen Verhalten gegenüber eigenen und fremden Belangen erster Stufe, so lassen sich typische Verletzungen der Würde, wie Zwangsernährung, die Verwendung von Lügen­ detektoren, die Folter und die Sklaverei erklären. Wenn Häftlinge in Hungerstreik treten, so haben sie eine sehr ungewöhnliche und damit eigenständige Bewertung ihrer Bedürfnisse und Wünsche der ersten Stufe vorgenommen. Sie haben das Höchstbedürfnis der Nahrungsaufnahme zum Lebenserhalt, das normalerweise alle anderen Bedürfnisse überragt, dem sekundären Wunsch nach politischem oder humanitärem Protest untergeordnet. Dies ist ein Akt, der in starkem Maße die Fähigkeit zur Relativierung eigener Bedürfnisse und Wünsche der ersten Stufe

7. Menschenwürde und Autonomie

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auf einer zweiten, übergeordneten Entscheidungsstufe verdeutlicht, also ein Akt, der die eigene Würde, die innere Unabhängigkeit der Gefangenen eminent manifestiert. Die Zwangsernährung unterdrückt diese eigenständige Würdeausübung und Würdemanifestation der Gefangenen und verletzt deshalb deren Menschenwürde – zumindest solange die Gefangenen bei Bewusstsein sind. Verlieren sie dagegen das Bewusstsein, so verstößt ihre künstliche Ernährung nicht gegen die Menschenwürde, denn dann handelt es sich nicht mehr um eine Zwangsernährung im natürlichen Wortsinn, da kein Zwang mehr ausgeübt werden muss. Allerdings ist auch der einfache Wunsch, selbst im Falle der Bewusstlosigkeit nicht künstlich ernährt zu werden, ethisch, moralisch und rechtlich zu beachten. Vergleichbar wirkt der Einsatz eines Lügendetektors. Wenn Angeklagte lügen, so bewerten sie die eigenen Belange und die Interessen der Anklagebehörde auf einer Metaebene. Sie entscheiden sich gegen die Zusammenarbeit mit der Anklagebehörde und nehmen das Risiko in Kauf, der Unwahrhaftigkeit überführt zu werden. Diese Möglichkeit der Bewertung zweiter Stufe und damit der Ausübung der Menschenwürde wird durch den Lügendetektor abgeschnitten. Deshalb verletzt sein Gebrauch oder der Gebrauch ähnlicher Mittel wie Psychopharmaka die Menschenwürde. Was macht die Folter zu einer Verletzung der Menschenwürde? Sowohl die Zufügung von Leid ohne die Zustimmung des Betroffenen als auch der Zweck der Willensbrechung widersprechen wichtigen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen des Betroffenen und sind deshalb schon als solche negativ zu bewerten. Aber es kann bestimmte Situationen geben, in denen eine dieser Formen der negativen Einwirkung auf den einzelnen als gerechtfertigt angesehen werden muss, etwa die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wegen einer Straftat (Zufügung von Leid) oder der unmittelbare Zwang der Polizei zur Gefahrenabwehr (Brechung des Willens). Das Besondere der Folter liegt in der zweckgerichteten Verbindung beider grundsätzlich negativ zu bewertender Arten der Einwirkung, also der instrumentellen Verbindung von physischer oder psychischer Leidzufügung mit der Willensbrechung: Das physische oder psychische Leid wird zugefügt, um den Willen auf einer sekundären Ebene zu brechen. Durch das Leid und den Schmerz drückt der eigene Körper oder die Psyche des Gefolterten dabei nicht wie im Normalfall den eigenen, sondern quasi den fremden Willen des Folterers aus. Der Wille des Gefolterten, nichts preiszugeben, und sein eigener Körper oder seine eigene Psyche, welche das Leid und den Schmerz für den Betroffenen unerträglich machen und so die Preisgabe erzwingen, werden auf diese Weise zueinander in einen für den Betroffenen zerstörerischen Widerspruch gezwungen. Die natürliche Verbindung von Wille und Körper bzw. Psyche wird „auseinandergerissen“. Der Gefolterte erlebt sich durch die Folter in seiner normalen Einheit als freies, willensbestimmtes Geistwesen und als leid- und schmerzempfindliches Körper- und Seelenwesen negiert. Die natürliche Fähigkeit, durch Wünsche und Ziele über die eigenen körperlichen Strebungen und Bedürfnisse zu entscheiden, wird so eliminiert. Im Fall der Sklaverei wird dem Betroffenen jede Möglichkeit genommen, auf einer sekundären Ebene seine primären Belange zu bestimmen.

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

f ) Grenzfälle Man mag an dieser Stelle fragen, ob angesichts dieser Begriffsbestimmung auch Embryonen und Säuglingen sowie geistig Verwirrten inhärente Würde zukommt. Fasst man die Menschenwürde in der soeben erläuterten engen Art und Weise, so kann bei diesen Menschen eine direkte, gegenwärtige Verletzung der tatsächlich bestehenden Fähigkeit zur Bewertung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen auf einer zweiten Stufe nicht eintreten. Die Belange dieser Menschen sind ethisch zu berücksichtigen, etwa ihr Interesse, am Leben zu bleiben, oder ihr Wunsch nach Freiheit von Schmerzen. Aber sie können nicht in ihrer tatsächlich bestehenden Selbstbestimmung zweiter Stufe beeinträchtigt werden. Allerdings muss man eine Vor- und Nachwirkung der Fähigkeiten zweiter Stufe annehmen. So wie Handlungen, die erst in der Zukunft jemanden schädigen, bereits gegenwärtig moralisch falsch sind, so ist auch bereits bei Embryonen und Säuglingen die künftige Aktualisierung der Fähigkeit zu Bewertungen zweiter Stufe verletzbar, etwa wenn sie konstruiert und selektiert werden. Ebenso wirkt bei geistig Verwirrten und Komatösen die inhärente Würde als Anspruch an andere fort, weil sie ihre Selbstbestimmung jeweils auch auf die Zukunft bis zu ihrem Lebensende und in einigen Aspekten sogar darüber hinaus gerichtet haben. Im Übrigen ist es praktisch nie sicher, dass ein Mensch nicht wieder die Fähigkeit erlangt, seine Selbstbestimmung über seine primären Belange auszuüben. Man muss deshalb annehmen, dass allen Menschen vom Lebensanfang, das heißt auch schon vor der Geburt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, bis zum Lebensende und in einigen Aspekten darüber hinaus eine inhärente Würde zukommt. Die weitergehende Frage, ob die Würde über die Gattung Mensch hinausreicht, wird an anderer Stelle erörtert (Kapitel XIII, 4).

g) Autonomie Sehr komplex und schwierig ist schließlich der Begriff der Autonomie. Er ist zum einen mit dem Begriff der Menschenwürde verbunden, denn wer die Würde eines Anderen beeinträchtigt, schränkt auch dessen Autonomie ein. Aber der Begriff der Autonomie erschöpft sich nicht in einer Beeinträchtigung der Menschenwürde, denn auch wer einfache Ziele, Wünsche und Bedürfnisse Anderer missachtet, beeinträchtigt deren Autonomie. Anders als der Begriff der Menschenwürde ist der Begriff der Autonomie also nicht auf Belange, das heißt Wünsche und Ziele zweiter Stufe im Verhältnis zu Belangen erster Stufe beschränkt. Er umfasst alle bewussten Belange erster und zweiter Stufe eines Lebewesens. Dies impliziert natürlich auch eine Zusammenfassung und Abwägung zwischen diesen Belangen erster und zweiter Stufe. Jede Beeinträchtigung des Willens ist auch eine solche der Autonomie. Aber hier gilt Vergleichbares wie beim Interessenbegriff. Während man beim Willen wie beim Interesse einen Willen erster und einen Willen zweiter Stufe unterscheiden kann, fasst der Autonomiebegriff beide Stufen zusammen.

8. Die zu berücksichtigenden Eigenschaften und die Handlungsmotivation

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Die bloße Nichtbefriedigung eines Bedürfnisses, die Nichterfüllung eines Wunsches oder die Nichterreichung eines Ziels erster oder zweiter Stufe eines Anderen stellt noch keine Beeinträchtigung seiner Autonomie dar, denn eine solche muss ständig erfolgen, wenn moralisch, rechtlich oder ethisch abgewogen und dann entsprechend gehandelt wird. Wer etwa auf die Einhaltung eines Versprechens verzichten muss, weil der Versprechensgeber einem in Lebensgefahr schwebenden Unfallopfer zu helfen hat, erlebt die Nichterfüllung seines Wunsches, ohne dass seine Autonomie beeinträchtigt wird. Die Beeinträchtigung der Autonomie erfordert also mehr als die bloße inhaltliche Nichterfüllung. Sie setzt die komplette prinzipielle Negation von Bedürfnissen, Wünschen oder Zielen voraus. Wer etwa die Belange eines Anderen bei seinem Handeln nicht einmal berücksichtigt, der schränkt dessen Autonomie ein, weil er diese Belange komplett negiert. Die Autonomie ist schließlich von der Handlungsfreiheit zu unterscheiden. Die Handlungsfreiheit kann auch durch äußere Ereignisse beeinträchtigt werden, etwa durch einen Erdrutsch, der vor einem Autofahrer die Straße blockiert. Der Erdrutsch raubt dem Autofahrer aber nicht seine Autonomie, weil seine Belange nicht komplett formal negiert werden. Er kann etwa wenden und zurückfahren oder aussteigen.

8. Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften und die Handlungsmotivation Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften der Individuen, also deren Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen (Belange bzw. Interessen) liefern – dies muss betont werden – isoliert noch keinen guten Grund für eine moralische Handlung. Sie können allein noch keinen Akteur zu einer moralischen Handlung motivieren. Die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften der Individuen sind vielmehr zunächst lediglich Teil einer adäquaten ethischen Begründung bzw. Theorie. Nur diese ethische Begründung bzw. Theorie als Ganzes kann sich normativ, das heißt bewertend und verpflichtend, also rechtfertigend und kritisierend, auf die tatsächlich bestehenden Normen, Regeln und Wertungen der Moral beziehen, welche ihrerseits die faktischen Gründe und Motive unserer realen moralischen Einstellungen und unseres realen Handelns bilden. Wenn also beispielsweise Anna ein Versprechen einhält, so tut sie dies häufig, wenn vielleicht auch nicht immer, auch aus Gründen und Motiven der Moral, etwa weil sie der Auffassung ist, dass es moralisch richtig ist, Versprechen einzuhalten (interner Grund), oder weil sie den moralischen Normen ihrer Gesellschaft folgt, die gebieten, Versprechen einzuhalten (externer Grund). Erst wenn sie nach der über das bloße Bestehen einer primären Norm hinausgehenden Verbindlichkeit, das heißt nach der Rechtfertigung oder Kritik ihrer moralischen Auffassung oder der moralischen Normen ihrer Gesellschaft fragt, wird die ethische Begründung bzw. Theorie unmittelbar für ihre Moral und mittelbar für ihre Handlung relevant. Relevant ist dann aber auch die Begründung bzw. ethische Theorie als Ganzes, das heißt alle fünf Elemente als eine Einheit (Einleitung, 3), wovon die moralisch zu berücksichtigenden Eigenschaften dann wiederum ein nicht isolierbarer Teil sind. Man darf die normativ zu berücksichtigenden Eigenschaften der Ethik also nicht mit tatsäch-

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II. Die entscheidenden Eigenschaften der zu berücksichtigenden Individuen

lich wirksamen Motiven einer Handlung, seien diese moralische oder nichtmoralische, verwechseln. Erst vermittelt über das kaum bestreitbare Faktum der moralischen Bestimmung menschlicher Handlungen wird die Ethik ihrerseits bestimmend.

9. Eine Bestätigung des normativen Individualismus Am Schluss dieses Kapitels soll eine Reflektion des Zusammenhangs zwischen dem ersten und zweiten Element der hier entfalteten normativen Ethik stehen. Warum können wir nur mit Bezug auf Einzelne fragen, ob eine Handlung wirklich in letzter Instanz gerechtfertigt ist? Ein wesentlicher Grund liegt auch darin, dass Gemeinschaften offensichtlich keine moralisch und ethisch relevanten normativen Eigenschaften wie Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele in einem letzten natürlichen Sinn aufweisen. Niemand würde etwa annehmen, dass ein Unternehmen Strebungen hat, wie etwa ein Mensch, ein Tier oder eine Pflanze. Niemand würde auch behaupten, dass ein Unternehmen als solches Bedürfnisse im natürlichen Sinne hat, so wie wir vom Bedürfnis eines Menschen oder eines Tieres ausgehen. Bedürfnisse sind nun aber ohne Zweifel moralisch relevant (was nicht heißt, dass sie unmittelbar moralische Pflichten erzeugen oder gar allein und ohne weitere Abwägung moralische Tatsachen sind). Und wenn ein Individuum sie oder andere moralisch relevante Eigenschaften nicht aufweist, so kann es selbst nicht moralisch relevant sein. Vergleichbares gilt für Wünsche. Niemand würde annehmen, dass ein Unternehmen eigene letzte Wünsche in einem natürlichen Sinne hat, so wie wir annehmen, dass ein Mensch Wünsche hat. Wünsche setzen immer auch eine konkrete subjektive mentale Verfassung voraus, die wir für Gemeinschaften wie Unternehmen nicht konstatieren können. Das einzige, was man manchen strukturierten und mit Organen versehenen Kollektiven wie Unternehmen, Vereinen, Staaten  – nicht aber etwa Gesellschaften oder Rassen – zuschreiben kann, sind Ziele, vermutlich weil Ziele als solche keine körperliche Komponente erfordern. Man spricht etwa von den „Zielen eines Unternehmens“ bzw. den „Unternehmenszielen“. Und Ziele sind nun nach den bisherigen Überlegungen dieses Kapitels durchaus moralisch relevant. Aber bei den Zielen eines derartigen Kollektivs ist es ganz eindeutig, dass sie vollständig von den Zielen der Mitglieder des Kollektivs abhängen, also rein faktisch nicht unabhängig von den Zielen der hinter dem Kollektiv stehenden Individuen sind. Es kann keine „Ziele eines Unternehmens“ geben, die nicht von den Inhabern und Arbeitnehmern des Unternehmens oder in Vertretung dieser Inhaber und Arbeitnehmer von bestimmten Repräsentanten wie der Mitgliederversammlung, dem Aufsichtsrat, dem Vorstand usw. formuliert werden, weil Ziele im eigentlichen Sinne zumindest subjektive mentale Eigenschaften voraussetzen. Die Annahme zugeschriebener, abhängiger Ziele eines Kollektivs kann also die Annahme des normativen Individualismus nicht entkräften, sondern bestätigt sie vielmehr. In letzter Instanz sind nur Einzelne mit ihren unabhängigen Zielen moralisch bzw. ethisch relevant. Die Rede von Belangen bzw. Interessen einer Gemeinschaft, etwa eines Unternehmens oder eines Staates stützt sich also auf abhängige und nicht auf unabhängige Ziele.

9. Eine Bestätigung des normativen Individualismus

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Es handelt sich damit auch nur um abhängige und nicht um unabhängige Belange bzw. Interessen. Der Begriff des Belangs bzw. Interesses leistet schon auf einer begrifflichen Ebene eine Zusammenfassung der natürlichen Eigenschaften auf der primären Ebene. Es ist deshalb nicht überraschend, dass der Zusammenfassungsbegriff des Belangs bzw. Interesses, anders als die stärker natürlichen Eigenschaftsbegriffe Strebung, Bedürfnis oder Wunsch, ohne Weiteres auch auf Gemeinschaften anwendbar ist. Nun könnte man als letzten Ausweg argumentieren, dass Kollektive wie Unternehmen, Vereine oder Staaten zwar weder Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen oder unabhängige Ziele aufweisen, aber andere moralisch relevante Eigenschaften. Aber welche sollten das sein? Ein Unternehmen empfindet weder Lust noch Leid und auch kein Glück. Der Bestand eines Unternehmens ist kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck derjenigen, die es für ihre Zwecke gegründet haben bzw. es weiterführen und unterstützen, also der Aktionäre bzw. Inhaber, der Arbeitnehmer und der regional und überregional betroffenen Bevölkerung. Mit dem Ausschluss dieser möglichen moralisch relevanten Eigenschaften von Kollektiven verschiebt sich die Argumentationslast immer weiter zulasten des normativen Kollektivismus. Es ist auch keine eindeutige und unabhängige ethisch relevante Eigenschaft ersichtlich. Und solange diese nicht aufgewiesen ist, wie dies für Individuen geschah, ist der normative Individualismus nicht widerlegt.

III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen: grundsätzliche Pluralität Hat man die ethisch relevante Eigenschaft der Individuen aufgeklärt, so erhebt sich die weitere Frage, worauf in der moralischen Interaktion sich diese Eigenschaft bezieht. Die Frage stellt sich ähnlich für denjenigen, der eine der anderen diskutierten Eigenschaften wie etwa Lust und Leid für entscheidend hält. Auch diese anderen Eigenschaften müssen nämlich, wenn schon nicht intentional, so doch notwendig zweiwertig relational auf die moralische Interaktion bezogen werden, sollen sie überhaupt ethisch relevant sein. Eine nicht zweiwertig relationale Eigenschaft, die nur im Verhältnis zum fraglichen Individuum steht und keinerlei Bezug auf sonstige Tatsachen in der Welt hat, wäre für eine normativ-ethische Theorie ungeeignet. Auch der klassische Hedonismus muss also etwa fragen: Welche Tatsachen in der Welt erzeugen Lust und Leid? Aber es wird sich erweisen, dass die im vorigen Kapitel vorgeschlagenen ethisch relevanten Eigenschaften der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen (Belange bzw. Interessen) für die Frage des Bezugs beim dritten Element der Ethik einem ganz bestimmten Ergebnis zum Vorzug verhelfen. Von den Tatsachen der Welt, auf die sich die ethisch relevanten Eigenschaften der Individuen beziehen, kommen für Moral und Ethik nur solche in Betracht, die entweder in menschlichem Handeln bestehen oder durch menschliches Handeln wenigstens irgendwie beeinflussbar sind oder waren, indem sie die beeinflussbaren Bedingungen oder Konsequenzen derartigen Handelns darstellen (bei „waren“ kommen nur Werturteile, keine Verpflichtungen in Frage).1 Die normative Ethik benötigt also einen sehr weiten Handlungsbegriff, der neben dem Handeln im engeren Sinn sowohl die beeinflussbaren Bedingungen als auch die beeinflussbaren Konsequenzen von Handlungen umfasst.2

1

2

Die Handlungstheorie zählt verschiedentlich die tatsächlichen Konsequenzen nicht zur Handlung in einem deskriptiven Sinne. In moralischer Hinsicht sind die beeinflussbaren Konsequenzen aber selbstredend relevant. Deshalb ist es sinnvoll, sie in einen umfassenden ethischen Handlungsbegriff einzubeziehen. Dieser Handlungsbegriff ist vom Begriff des Verhaltens abzugrenzen, der die mentalen Teile der Handlung unberücksichtigt lässt.

1. Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn

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1. Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn Innerhalb einer ethisch relevanten Handlung im weiteren Sinn lassen sich dann wenigstens sieben mögliche und regelmäßig vorhandene Teile unterscheiden, wobei es natürlich auch einzelne Handlungen gibt, die nicht alle diese Teile umfassen oder bei denen einzelne dieser Teile zusammenfallen: (1) die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen des Handelns im engeren Sinn, also sein Kontext, das heißt als innere Bedingungen: Werte, Gefühle, Gedanken, Gewohnheiten, Tugenden, Gemütszustände, Strebungen, Bedürfnisse und allgemeine Überzeugungen des Akteurs; als äußere Bedingungen: die Umgebung, in der der Akteur lebt, seine Fähigkeiten, sein Beruf, sein Vermögen, sein bisheriges Verhalten, etwa die Abgabe von Versprechen; als allgemeine Bedingungen: die moralische Lage in der Gesellschaft usw. (2) die allgemeinen handlungsorientierten Überzeugungen (a) und Wünsche (b) des Akteurs, die im Rahmen eines Überlegungsprozesses zur Fixierung einer handlungsleitenden Absicht bzw. eines Ziels führen, also abstrakter ausgedrückt: der kognitive und der volitive Teil seines Denkens bzw. seiner Seele. Dazu gehören auch externe Vorgänge wie Gespräche und Beratungen. Die entscheidenden Überzeugungen werden regelmäßig evaluativ oder normativ sein. Aber auch deskriptive Überzeugungen sind relevant. (3) das spezifische handlungsleitende Ziel bzw. die Absicht (Intention), die der Akteur fasst, wobei mehrstufige Absichten möglich sind. (4) der Prozess der Suche nach Mitteln zur Realisierung dieser spezifischen Absicht und die Wahl zwischen mehreren möglichen Mitteln, das heißt der Entscheidungsweg zum konkreten Handlungswillen. Eine Rolle spielen hier deskriptive Zweck-Mittel-Annahmen und evaluative Verhältnismäßigkeitsbewertungen,3 die vom handlungsleitenden Ziel mittels Auswahl eines effektiven (geeigneten), effizienten (erforderlichen) und angemessenen (verhältnismäßigen) Mittels zur Bildung des konkreten Handlungswillens führen. Die schon unter (1) erwähnten Bedingungen können hier erneut eine Rolle spielen, zum Beispiel Vorlieben, die einen eher zum einen als zum anderen Mittel greifen lassen. Zum Willensbildungsprozess gehören abermals auch externe Vorgänge wie Gespräche und Beratungen. (5) der aus dem Willensbildungsprozess als Auswahl eines Mittels erwachsende konkrete Handlungswille, der das Handeln unmittelbar steuert. Nicht selten werden sich mehrere

3

Deskriptiv: Mittel und Ziel müssen für sich möglich sowie das Mittel zur Zielerreichung geeignet sein; evaluativ: Das Mittel muss erforderlich, also das beste bzw. mildeste sein; das Mittel darf nicht außer Verhältnis zum Ziel stehen. Vgl. Kapitel XIV, 4.

92

III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Teilwillen ergeben, weil mehrere Teilhandlungen zur Erreichung des er­strebten Ziels erforderlich sind. (6) das tatsächliche, willentlich gesteuerte Handeln des Akteurs im engsten Sinn als unmittelbares Ergebnis des Überlegungsprozesses, das von diesem verschieden ist, also die innere oder äußere Handlungsausführung bzw. anders ausgedrückt: die Realisierung der Mittel zur Erreichung des Ziels. Das Handeln des Akteurs kann innerlich oder äußerlich sein, also etwa in einem Vergessen oder einer Armbewegung bestehen. Es kann – wie in Kapitel III, 11 noch näher zu erläutern sein wird – ein aktives Tun oder ein passives Unterlassen sein. (7) die Konsequenzen der Handlung oder die Quasikonsequenzen des Unterlassens. Man kann hier innerhalb eines Kontinuums der Bezugnahmen der Teile eins und zwei (Wissen) und der Teile drei und fünf (Wollen im weiteren Sinn) unterscheiden zwischen den a) beabsichtigten, b) den gewollten, c) den vorhergesehenen, d) den vorhersehbaren und e) den unvorhersehbaren Folgen der Handlung.4 Die beabsichtigten Folgen sind solche, auf die sich das Handlungselement drei der Absicht bezieht, die gewollten Folgen solche, auf die sich das Handlungselement fünf des Handlungswillens bezieht, die vorhergesehenen Folgen solche, auf die sich der kognitive Teil der Handlungselemente eins und zwei bezieht, die vorhersehbaren solche, auf die sich nach den tatsächlichen Bedingungen des Handlungselements eins das Handlungselement zwei hätte beziehen können, die unvorhersehbaren schließlich solche, auf die sich nach den tatsächlichen Bedingungen des Handlungselements eins das Handlungselement zwei nicht hätte beziehen können. Diese sieben Teile sind in der regelmäßigen zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens in einer konkreten Handlung geordnet. (1) Aus den Bedingungen des Lebens eines Akteurs erwachsen im Rah­men eines Überlegungsprozesses, (2) unter Bildung von Überzeugungen und / oder Wünschen, (3) bestimmte Ziele bzw. Absichten, zu deren Ver­wirklichung der Akteur (4) Zweck-Mittel-Überlegungen und Verhältnismäßigkeitsbewertungen anstellt, die (5) in einem Handlungswillen ihren Abschluss finden, der dann (6) eine Handlungsausführung steuert, also zum Tun oder Unter­lassen führt, woraus sich schließlich (7) Konsequenzen bzw. Quasikonsequenzen ergeben. Dabei kann es aber natürlich auch zu „Rückkopplungseffekten“ kommen. Sieht etwa jemand ein, dass es für ihn keine Mittel zur Realisierung eines Wunsches gibt, so besteht eine mögliche Reaktion darin, den Wunsch aufzugeben.

4

Das deutsche Strafrecht kennt eine vergleichbare Unterscheidung zwischen der Absicht (dolus directus 1. Grades), dem direkten Vorsatz (dolus directus 2. Grades), dem bedingten Vorsatz (dolus eventualis), der Fahrlässigkeit und der Nichtfahrlässigkeit. Vgl. Kapitel III, 11.

93

1. Die sieben Teile der Handlung im weiteren Sinn

Teile der Handlung im weiteren Sinne:

1

2

3

4

5

6

7

Bedingungen Überzeugungen Absicht Suche u. Wahl Handlungswille Handeln Konsequenzen (innere: Wünsche Werte, Gefühle, Tugenden; äußere: Gemeinschaft, Beruf; allgemeine: Sozialverhältnisse

Gründe

Ziel/Zweck der Mittel

im eng. Sinn

instrumentelle Gründe

Ein Beispiel für eine allgemeine, zunächst einmal moralisch nicht signifikante Handlung: Weil Peter sich gerne mit Literatur beschäftigt, aber arm ist, bittet er Paula, ihm ein teures Buch zu leihen, damit er es lesen kann. Paula leiht Peter das Buch: (1)

Bedingungen:

Innere: Peter liest gerne. Er hat ein Bedürfnis zu lesen. Er glaubt, dass Lesen bildet. Er nimmt an, dass Paula das Buch hat; äußere: Peter ist arm. Er hat seiner Mutter versprochen, regelmäßig Bücher zu lesen. Er kennt Paula; allgemeine: Es ist üblich, dass Bekannte sich Din­ge des Alltags wie Bücher leihen. (2) a) Überzeugung /  Peter hat die Überzeugung, dass es gut wäre, das b) Wunsch: Buch zu lesen. Und er hat den Wunsch, es zu lesen. (3) Absicht / Zweck / Ziel: Peter entwickelt die Absicht, das Buch zu lesen. (4) Suche nach Mitteln / Wahl Peter glaubt, dass er seine Absicht realisieren kann, eines Mittels: wenn Paula ihm das Buch leiht, und dass sein Vorteil durch die Lektüre größer ist als Paulas Nachteil durch den kurzzeitigen Verzicht auf das Buch. (5) Handlungswille: Peter will das Buch von Paula leihen. (6) Handlungsausführung / Peter bittet Paula, ihm das Buch zu geben, Realisation des Mittels: und nimmt es von ihr entgegen. (7) Konsequenzen: Peter liest das Buch (beabsichtigte Konsequenz). Peter hat das Buch von Paula erhalten und ist nun in seinem Besitz (gewollte Konsequenz). Peter benötigt einen Platz für das Buch (vorhergesehene Konsequenz). Peter ist verpflichtet, das Buch zurückzugeben usw. (vorhergesehene Konsequenz). Das Buch

94

III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

wird durch den Gebrauch etwas abgegriffen (vorhersehbare Konsequenz). Zwischen den Zeilen des Buches findet Peter etwas mit Geheimschrift Geschriebenes (im Normalfall unvorhersehbare Konsequenz). Als Beispiel für eine moralische Handlung nehme man den anschließenden Vorgang der versprochenen Rückgabe des Buches. (1) Der Charakter, die Emotionen, die Gedanken, die Tatsache der Versprechensabgabe, die präsumtiven Erwartungen desjenigen, dem das Versprechen gegeben wurde usw. bilden die entscheidenden inneren und äußeren Bedingungen. Aus diesen inneren und äußeren Bedingungen ergibt sich (2) unter Formung bzw. Hinzuziehung von Überzeugungen (Peter ist überzeugt, dass Versprechen gehalten werden müssen) und Wünschen (er will das Versprechen erfüllen) im Wege eines Überlegungsprozesses (3) eine Absicht, das Versprechen einzuhalten; diese Absicht geht (4) in einen Willensbildungsprozess von Zweck-Mittel-Erwägungen ein, der schließlich (5) zum Willen führt, das Buch zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort an Paula zurückzugeben, woran sich (6) die tatsächliche Handlungsausführung der Rückgabe anschließt, die bei Paula und möglicherweise auch bei anderen Personen (7) zu bestimmten Konsequenzen führt: Paula hat das Buch wieder in ihrem Besitz. Sie freut sich. Sie liest das Buch noch einmal. Die Kette von Konsequenzen ist prinzipiell endlos, muss aber im Rahmen ethischer Überlegungen aus praktischen Gründen auf die intendierten, gewollten, vorausgesehenen und voraussehbaren Folgen begrenzt werden. Diese sieben Elemente sind – so kann man vielleicht annehmen – in den meisten Handlungen im weitesten Sinne anzutreffen. In manchen Handlungen können allerdings einzelne Elemente auch zusammenfallen, zum Beispiel die Absicht, die ZweckMittel-Erwägung und der Wille, etwa wenn man sich mit jemandem unterhält, ohne damit eine über die Unterhaltung hinausgehende Absicht zu verfolgen. In anderen Handlungen können einzelne Elemente fehlen. Es mag etwa Handlungen, wie das Indie-Luft-Schauen, geben, die keine über das Handeln in signifikanter Form hinausgehenden Folgen haben. Oder es kann vielleicht absichtsloses Handeln geben. Und es gibt möglicherweise ein Handeln ohne Überzeugungen und Wünsche. Trotz dieser Möglichkeiten des Zusammen- und Ausfallens einzelner der Elemente ist es wichtig, die sieben möglichen Teile der Handlung im weiten Sinn so detailliert wie möglich aufzuschlüsseln, um die mögliche Bezugnahme der Belange und Interessen auf die Handlung adäquat zu verstehen.

2. Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion

95

Man erhält dann folgende Verfeinerung des moralischen Grundverhältnisses: A

(1) Bedingungen

A

K

(2) Überzeugung / Wunsch

N

T

(3) Ziele /Absichten

E

(4) Mittelwahl

E

U

(5) Handlungswille

R

R

(6) Handlungsausführung

E

(7) Konsequenzen

R

Belange / Interessen

D

Man könnte nun natürlich aus handlungstheoretischer Sicht einzelne dieser Elemente genauer diskutieren oder die Differenzierung noch verfeinern und vielleicht auch in Zweifel ziehen. Für die normative Ethik ist eine derartige Detaildiskussion aber – mit der noch zu erörternden Ausnahme der Handlungsformen des Tuns und Unterlassens – nicht notwendig. Ihr geht es nicht um eine detaillierte Handlungstheorie als Teil einer umfassenden praktischen Philosophie, sondern nur um eine grundsätzliche Bestimmung des Bezugs der moralisch relevanten Eigenschaft der Belange bzw. Interessen auf die Handlung, und zwar genauer um die Frage, ob generell einem Element oder einzelnen Elementen der Handlung im weiteren Sinn im Rahmen von Moral und Ethik eine besondere Bedeutung zukommt oder ob sie grundsätzlich alle gleich wichtig sind. Ein Versuch, die grundsätzliche Pluralität dieser Handlungselemente zu reduzieren, kann wenigstens auf zwei verschiedenen Ebenen stattfinden. Die erste, grundlegendere Ebene ist eine psychologisch-handlungstheoretische, das heißt motivationale, die zweite, weniger grundlegende Ebene ist eine ethische.

2. Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion: Gründe und Motive Als Menschen sind wir ab einem bestimmten Alter und im Gegensatz zu Tieren, Pflanzen und unbelebten Gegenständen in der Lage, in gewissem Umfang einsichtsfähig zu handeln. Dies ist eine der grundlegenden Überzeugungen, die unser Leben bestimmen. Sie mag aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive zweifelhaft, naiv oder verkürzend sein. Solange sich diese grundlegende Überzeugung jedoch nicht wandelt, bleibt sie auf der Sinn-Ebene für alle weiteren Überlegungen einer normativen Ethik elementar. Einsichtsfähiges Handeln bedeutet, dass der Mensch selbst bestimmt, was er tut. Aber wie geschieht das? Die Antwort lautet: mittels Gründen. Die Einsichtsfähigkeit des Handelnden und die Gründe seines Handelns sind wie zwei Seiten einer Medaille. Die eine Seite ist die dem Handelnden, die andere ist die der Handlung zugewandte. Weil

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

der Handelnde einsichtsfähig ist, handelt er aus Gründen, und weil er aus Gründen handelt, ist er einsichtsfähig, das heißt vernünftig. Dann stellt sich die Frage, was Gründe des Handelns sind. Zunächst wird man zwischen realen, tatsächlich im Akteur wirksamen Gründen und idealen, „guten“, nicht tatsächlich wirksamen Gründen unterscheiden müssen. Reale, tatsächlich im Akteur wirksame Gründe sind „motivationale Gründe“ oder kurz „Motive“. Ideale, „gute“ Gründe sind „normative, gedankliche Gründe“. „Gute“ Gründe werden häufig nicht zu Motiven. Verurteilen wir etwa einen Verbrecher, so werfen wir ihm vor, dass er die guten Gründe, die gegen das Verbrechen sprechen, in der einzelnen Situation nicht zu seinen handlungsleitenden Motiven gemacht hat. Welche Phänomene kommen als Gründe, seien es motivierend-reale oder normativideale, in Betracht? Eine Ansicht, die häufig auf David Hume zurückgeführt wird,5 lautet, dass nur Überzeugungen (beliefs) und Wünsche (desires), also interne Gründe, zu Motiven unseres Handelns werden können, wobei die Wünsche dominieren sollen. Das ist die Auffassung einer reduktionistisch-internalistischen Handlungstheorie.6 Die Wünsche des Handelnden sollen gleichsam als kausal-mechanisches Instrument notwendig, aber auch allein entscheidend sein, um die Handlung in Gang zu bringen. Die Kritik wendet sich in verschiedenen Stufen von diesem Modell der Dominanz von Wünschen als Motiven ab. Nach einer Auffassung sind Wünsche zwar regelmäßig trivialerweise zur Motivation erforderlich, aber nicht notwendig dominierend, weil manche Wünsche auf Überzeugungen und damit auf anderen Gründen beruhen.7 Nach einer etwas weiter gehenden Ansicht können auch bloße Überzeugungen ohne eine Beteiligung von Wünschen motivieren.8 Noch weiter geht die Auffassung, dass praktisch ausschließlich Überzeugungen motivieren, nicht aber Wünsche.9 Am radikalsten ist schließlich die antipsychologistische, vollständig externalistische Meinung, dass selbst Überzeugungen nicht motivieren, sondern nur die Tatsachen, die Überzeugungen zugrunde liegen.10 So soll etwa die Not eines Ertrinkenden unsere Rettungshandlung unmittelbar veranlassen, nicht aber unsere Überzeugung hinsichtlich des Notfalls oder unser Wunsch zu helfen. Die soeben verwandten Begriffe des Grundes und des Motivs müssen nun der obigen verfeinerten Analyse der Handlung im weiteren Sinne zugeordnet werden. Dabei 5

David Hume, Enquiries. Enquiry Concerning the Principles of Morals, hg. von L. A. Selby-Bigge, Nachdr. der 2. Aufl. Oxford 1951, S. 293 f.; ders., A Treatise of Human Nature, S. 415, 457. 6 Bernard Williams, Internal and External Reasons, in: ders., Moral Luck, Cambridge 1981, S. 101–113. Auf S. 105 definiert Williams Wünsche allerdings in einem weiten Sinn, der auch Wertungsdispositionen, Strukturen emotionaler Reaktionen, persönliche Loyalitäten und verschiedene Projekte, die Verpflichtungen des Akteurs enthalten, umfasst. 7 Thomas Nagel, The Possibility of Altruism, Princeton 1970, S. 30 ff. 8 Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart 2001, S. 30 ff. 9 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 8, 18, 33 ff. 10 Jonathan Dancy, Practical Reality, Oxford 2000, passim; Rüdiger Bittner, Doing Things for Reasons, New York 2001, dt.: Aus Gründen handeln, Berlin 2005.

2. Versuche einer psychologisch-handlungstheoretischen Reduktion

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kommen als fundierende Gründe und Motive die Elemente eins und zwei in Frage, also sowohl die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen, als auch die auf die einzelne Handlung bezogenen Überzeugungen und Wünsche des Akteurs. Wir können etwa sagen, dass jemand eine Revolution plante, weil die Regierung korrupt war (Element eins), weil er die Überzeugung hatte, dass die Regierung korrupt war, oder weil er den Wunsch hatte, die Regierung zu stürzen (Elemente zwei a und b). Daneben gibt es auch instrumentelle Gründe bzw. Motive im Rahmen der Mittelwahl für ein angestrebtes Ziel, also im Rahmen des Elements vier. Derartige instrumentelle Gründe bzw. Motive sind unbestritten. Sie taugen aber in keinem Fall dazu, die Bildung der Handlungsabsicht bzw. des Handlungsziels, also des Elements drei, zu erklären, denn diese muss zumindest in groben Umrissen abgeschlossen sein, bevor wir nach Mitteln zu ihrer Realisation suchen. Im Rahmen dieser Untersuchung zur normativen Ethik ist keine umfassende Diskussion der verschiedenen oben aufgeführten motivationstheoretischen Alternativen erforderlich. Es genügt die Zurückweisung der ersten Alternative, der engen internalistischen Handlungstheorie, die Wünsche immer für notwendige und dominante Motive hält. Denn wären die Wünsche des Akteurs nicht nur beteiligt, sondern stets allein faktisch handlungswirksam, so wäre die Annahme einer anderen Quelle der Normativität sinnlos. Der Akteur würde immer nur gemäß seiner Wünsche handeln. Die Ziele, Bedürfnisse und Strebungen des Anderen könnten nur im Falle einer zufälligen Parallelität mit den Akteurswünschen oder vermittelt durch die Akteurswünsche handlungsrelevant werden. Dies würde ein allgemeines, genuin moralisches Handeln ausschließen, da in vielen Fällen die Wünsche des Akteurs und die Belange des Anderen nicht übereinstimmen werden. Die Zurückweisung der These der engen internalistischen Handlungstheorie könnte prinzipiell auf zwei divergente Weisen erfolgen. Zum einen könnte man diese Auffassung auf einer logischen oder apriorischen Ebene als inkonsistent aufzeigen. Zum anderen könnte man ihre empirisch-phänomenale Überzeugungskraft angreifen. Die erste logische oder apriorische Ebene erscheint kaum erfolgversprechend. Es ist nicht logisch oder apriorisch widersprüchlich, anzunehmen, dass Wesen nur durch ihre Wünsche motiviert werden. Sähe man Wünsche verengend als Direktiven für die Auswahl von Bewegung an und schränkte man die Anforderungen an Intentionen im Rahmen einer Handlung ein, so könnte man glauben, dass ein Roboter nur seinen Wünschen „folgt“, nicht aber anderen Gründen. Es wäre nicht logisch oder apriorisch widersprüchlich, die Menschen als derartige wunschgesteuerte „Roboter“ aufzufassen. Die enge internalistische Interpretation erscheint aber auf einer zweiten, empirischphänomenalen Ebene kaum überzeugend. Sieht man Wünsche nicht in einem sehr weiten und trivialen Sinne als „Pro-Haltungen“ an und setzt man sie auch nicht einfach mit unseren Absichten gleich, so bilden Wünsche zwar eine eigenständige interne Quelle der Handlungsnormativität. Aber die Vorstellung, dass wir allein und ausschließlich gemäß dieser einzelnen, internen Quelle handeln, erscheint bizarr. Fragt man den Revolutionär, warum er den Umsturz plant, so genügt es vollständig, wenn er auf die Korruptheit der bestehenden Regierung oder seine Überzeugung, die bestehende Regierung sei korrupt,

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

verweist. Der Versicherung, er wünsche den Umsturz, würde man in diesem Fall kaum eine zusätzliche begründende bzw. motivationale Kraft zuerkennen. Noch signifikanter sind aber Fälle des Konflikts zwischen Wünschen und sonstigen, verpflichtenden Gründen. So kümmern wir uns zum Beispiel gelegentlich um Angehörige, obwohl dies unseren Wünschen, die Zeit angenehmer zu verbringen, zuwiderläuft. Der Anhänger eines strikten Internalismus wird an dieser Stelle behaupten, dass wir eben einen dominanten Wunsch hatten, uns um unsere Angehörigen zu kümmern. Dies nimmt aber dem Begriff „Wunsch“ sein spezifisch subjektiv-voluntatives Verständnis, denn hier wäre die Charakterisierung der Motivation als „Überzeugung, eine Pflicht zu haben“ viel angemessener. Der deliberative Anteil dominiert in diesen Fällen den subjektiv-volun­ta­ti­ven eindeutig. Ist dies aber der Fall, so ist der Weg für eine unmittelbare Berücksichtigung der Interessen Anderer und damit für einen genuinen Altruismus frei. Manche Handlungen eines Akteurs werden ausschließlich oder weit überwiegend von seinen Wünschen bestimmt, etwa regelmäßig Kaufentscheidungen. Es gibt aber offensichtlich auch Handlungen, bei denen bestimmte Überzeugungen unmittelbar eine Zielabsicht hervorrufen. So führt etwa eine Überzeugung, dass es erforderlich und richtig ist, Prüfungsarbeiten zu bewerten, zu der Absicht, diese Arbeiten zu korrigieren. Fragt man nach den Gründen für diese Absicht, so wird man kaum sagen, dass man den „Wunsch“ hatte, Prüfungsarbeiten zu korrigieren. Es handelt sich vielmehr um eine externe Notwendigkeit, von der man überzeugt ist. Deshalb bildet man eine Zielabsicht und einen Handlungswillen aus. Man braucht keinen Wunsch, die Prüfungsarbeiten zu korrigieren, um einen motivierenden Grund für die Korrektur zu entwickeln. Das bedeutet im Hinblick auf die normative Ethik, dass die Belange Anderer auch ohne Wünsche des Akteurs Teil seiner guten und motivierenden Handlungsgründe werden können. Es genügt, dass diese Belange eines Anderen bestehen, der Akteur von ihrer Existenz überzeugt ist und ihre Berechtigung in einem Prozess der Abwägung mit eigenen Interessen einsieht. Die hier vertretene zentrale These lautet also: Moralische bzw. ethische Verpflichtungen durch Andere unterscheiden sich von allen anderen Handlungsgründen darin, dass sie nicht als bloßer Teil von Bewertungen in einem internen Abwägungsprozess des Akteurs gebildet werden können und so seine Überzeugung formen. Sie können nicht rein intern als besser oder schlechter bestimmt werden. Das bedeutet nicht, dass tatsächliche Ver­pflich­tungen durch Andere vom Akteur immer zu befolgen wären. Die Qualifikation als „moralisch“ erfordert einen Abwägungsprozess. Aber dieser Abwägungsprozess unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht fundamental vom internen Abwägungsprozess der Bewertung des guten Lebens oder richtigen Handelns. Zum einen stehen sich nicht Wertungen gegenüber, sondern Belange bzw. Interessen. Zum anderen ist dieser Abwägungsprozess immer notwendig extern, das heißt er bezieht die Belange Anderer und eine angenommene Objektivität der Bewertung dieses Prozesses mit ein. Der Akteur kann keine vollständig eigene und interne Bewertung vornehmen, wie etwa bei der Entscheidung, Beethoven statt Bartók zu hören. Er muss vielmehr eine potentiell objektive, externe Abwägung für sich akzeptieren. Seine Überzeugung von der Richtigkeit der Handlung ergibt sich also unmittelbar als Resultat eines als objektiv oder zumindest objektivierbar aufgefassten Abwägungsprozesses, den

3. Versuche einer ethischen Reduktion

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er subjektiv nachvollzieht, weil das Resultat einen guten normativen Grund für sein Handeln erzeugt. Dazu wird in Kapitel VI noch mehr zu sagen sein.

3. Versuche einer ethischen Reduktion Aber nicht nur in der psychologisch-motivationalen Handlungstheorie, sondern auch in der Ethik wurde immer wieder der Versuch unternommen, eines der Handlungselemente grundsätzlich als primär oder gar ausschließlich auszuzeichnen, auf das sich moralische Normen stützen: in der klassischen Tugendethik die Tugenden, im Kon­ sequen­tia­lismus die Konsequenzen.11 Und nach Kant soll nichts ohne Einschränkung gut sein als ein guter Wille,12 woraus man schließen kann, dass der Wille grundsätzlich ethisch primär ist. Die Maximen als subjektive Prinzipien des Wollens sollen dem Test der Verallgemeinerung unterworfen werden.13 Die Welt moralischer Normen ist jedoch nicht so einfach strukturiert, wie das zur Konstruktion einer möglichst abstrakten und sparsamen ethischen Theorie wünschenswert wäre. Keiner der Versuche zur Beschränkung moralischer Normen auf einen primären Typus des Handlungsbezugs konnte allgemein und auf Dauer überzeugen.14 Dies gilt in doppelter Hinsicht: faktisch und normativ. Faktisch lässt sich feststellen, dass in den bestehenden Moralsystemen etwa für die moralische Beurteilung einer Handlung Tugenden nicht grundsätzlich weniger wichtig sind als der gute Wille des Handelnden oder die Konsequenzen der Handlung. Normativ-theoretisch konnte nicht begründet werden, warum nur ein Handlungselement moralisch und ethisch primär relevant sein soll, warum sich also eine Ethik vor allem auf die Tugenden, den Willen des Handelnden oder die Konsequenzen der Handlung beschränken soll. Die Tugendethik, der Kantianismus bzw. deontologische Positionen und der Konsequentialismus, die jeweils einen solchen Vorrang implizieren, stehen sich nach wie vor – neben einigen weiteren Alternativen – unversöhnlich und ohne erkennbare Verdrängung der anderen Positionen gegenüber. Deutlich wird

11 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S. 70. „The general tendency of an act is more or less pernicious, according to the sum total of its consequences: that is according to the difference between the sum of such as are good, and the sum of such as are evil.“ Vgl. auch S. 6. J. J. C. Smart, An Outline of a System of Utilitarian Ethics, in: J. J. C. Smart und Bernard Williams, Utilitarianism. For and Against, Cambridge 1973, S. 4: „Roughly speaking act-utilitarianism is the view that the rightness or wrongness of an action depends only on the total goodness or badness of its consequences, […].“ 12 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 393. 13 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 400, Anm.*: „Maxime ist das subjektive Prinzip des Wollens“; S.  421: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ 14 Vgl. zu einer Kritik an der Unterscheidung zwischen Deontologie und Teleologie: Verf., Die fünf Strukturmerkmale normativ-ethischer Theorien. Vgl. zu einer umfassenden, wenn auch in verschiedener Hinsicht anders begründeten Kritik des Konsequentialismus: Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

dies etwa in Falltypen wie dem sog. „Jim-Fall“:15 Jim wird in einer südamerikanischen Stadt vom Anführer einer Bande vor folgende Alternative gestellt: Entweder er tötet – als geehrter Gast – selbst einen von zwanzig gefangenen Indios oder alle zwanzig werden umgebracht. Während der Konsequentialismus hier eine Tötungsverpflichtung Jims mit Blick auf die Konsequenzen für die zwanzig gefangenen Indios bejaht, wird diese von Anhängern einer deontologischen Ethik zum Beispiel mit dem Argument, dass jeder in erster Linie selbst für das verantwortlich ist, was er tut, also vor allem der eigene Wille zählt, abgelehnt. Beide extremen Lösungen erscheinen aber wenig befriedigend, um alle in diesem Fall relevanten Gesichtspunkte aller Betroffenen zu erfassen (vgl. zu diesem Fall  eingehender Kapitel XII, 4). Gelingt es somit nicht, die Pluralität der Typen moralisch relevanter Handlungselemente zu reduzieren,16 dann besteht ein Ausweg darin, zu erklären, warum diese Pluralität offenbar unhintergehbar ist. Dazu wird man zunächst akzeptieren müssen, dass nicht nur faktisch manchmal einzelne dieser Elemente nicht Teil einer Handlung sind, sondern dass sich auch normativ moralische Wertungen, aber auch moralische Verpflichtungen gelegentlich nur auf eines oder einige dieser sieben Elemente einer voll entfalteten Handlung im weiten Sinne beziehen können. Wir bewerten etwa manchmal nur Charaktereigenschaften einer Person oder deren Wünsche. Oder wir halten bestimmte Handlungen im engeren Sinne für falsch, etwa Folter, ohne überhaupt nach anderen Teilen der Folterhandlung im weiteren Sinn, etwa den der Folter zugrunde liegenden Absichten oder den Konsequenzen der Folterhandlung zu fragen. Zu betonen ist weiterhin, dass der Anfangs- und der Endpunkt der Handlung im weiteren Sinne, also die Bedingungen sowie die Konsequenzen, selbstredend in einem kausalen Verständnis quasi unbestimmt ausgedehnt werden können und in extremster Form viele Teile der vergangenen und zukünftigen Welt umfassen (wobei die Existenz des Handelnden naturgemäß den Anfang begrenzt). Davon kann nur ein kleiner Teil für die Bewertungen und Verpflichtungen von Moral und Ethik relevant sein. So wird man – wie bereits erwähnt wurde – bei den Bedingungen und Eigenschaften zunächst prinzipiell nur diejenigen für moralisch relevant ansehen können, die der Handelnde in seinem Leben irgendwann einmal in einem praktischen Sinne beeinflussen konnte. Es mag etwa in einem kausalen Sinne bedeutsam sein, dass ein Akteur in sozial zerrütteten Verhältnissen aufwuchs. Diese äußere Tatsache rechtfertigt aber nur eine negative Bewertung des Handelns der Eltern oder der Erzieher, nicht aber des Akteurs – jedenfalls solange er seine Situation selbst nicht verbessern konnte. Auf der anderen Seite werden von modernen Versionen des Konsequentialismus alternativ nur die beabsichtigten, vorausgesehenen oder zumindest individuell oder allgemein voraussehbaren Folgen eines 15 Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, in: J. J. C. Smart / Bernard Williams, Utilitarianism For and Against, Cambridge 1973, S. 98 f. 16 Vgl. zu einer leichten Erweiterung des konsequentialistischen Modells: Rainer W. Trapp, „Nicht-klassischer“ Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 317. Trapp konstatiert, dass auch Handlungen selbst sowie das Gewahrwerden ihrer Umstände unabhängig von den Folgen interessenbefriedigend sein können. Allerdings spricht er auf S. 300 bei der Interpretation des gerechtigkeitsutilitaristischen Prinzips „GU“ wiederum von den „Nutzenniveaus“ der „konsequentiell“ Betroffenen.

4. Die deskriptive Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs

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Handelns berücksichtigt.17 Trotz dieser beiden Einschränkungen lässt sich die grundsätzliche Pluralität des Handlungsbezugs auf zwei Ebenen und folglich mit zwei Erklärungen begründen.

4. Die deskriptive Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs Zunächst gilt deskriptiv: Die Moral, also die tatsächlich in einer Gesellschaft bestehenden Verpflichtungen, Wertungen und Überzeugungen mit den in der Einleitung genannten weiteren Eigenschaften, sind nicht auf eine oder mehrere der soeben analysierten Elemente einer Handlung im weiteren Sinne beschränkt. Man nehme als Beispiel folgende bekannte Episode aus dem Alten Testament: Kain tötet Abel aus Missgunst. In diesem Fall beurteilen wir sämtliche Aspekte der Handlung moralisch negativ. Wir halten Missgunst für eine schlechte Charaktereigenschaft. Wir verurteilen Kains Wunsch, einen anderen Menschen zu töten, und auch eventuelle weitere Gründe, etwa seinen Bruder loswerden zu wollen. Wir schätzen jede Tötungsabsicht grundsätzlich negativ ein, es sei denn, es bestünden spezielle Umstände, etwa eine Notwehrsituation. Da der Zweck moralisch verwerflich ist, kann die Mittelwahl von vornherein nicht gut sein. Manche glauben zwar – fehlerhafterweise – an das jede Mittelbewertung ausschließende Prinzip „Der Zweck heiligt die Mittel“. Aber niemand würde behaupten: „Die Mittel heiligen den Zweck“. Auch der Handlungswille, einen unschuldigen Menschen zu töten, ist moralisch schlecht, ebenso wie die Handlung des Tötens und deren Konsequenz, also in diesem Fall Kains unnatürlicher Tod ohne spezielle Rechtfertigung, wie sie eine Notwehrsituation darstellt. Um zu einer Untermauerung der ersten deskriptiven Behauptung zu gelangen, dass tatsächlich bestehende Moralsysteme alle Elemente der Handlung im weiteren Sinne bewerten, müsste man selbstredend entsprechende empirische Untersuchungen anstellen. Man kann vermuten, dass sich dabei durchaus kulturell bedingte Wertungsakzentuierungen zwischen stärker tugendorientierten Gesellschaften, etwa den antiken Poleis, stärker deontologisch orientierten Gesellschaften, etwa den Gesellschaften des christlichen Mittelalters, und stärker konsequentialistisch orientierten Gesellschaften, etwa den heutigen materialistisch geprägten Gesellschaften der westlichen Welt, ergeben würden. Aber man wird kaum finden, dass in einer Gesellschaft Tugenden, gute Absichten oder gute Konsequenzen eine ausschließliche oder dezidiert primäre Rolle spielen. Die Feststellung einer tatsächlichen Pluralität der Bezugnahmen der Belange im Konflikt gilt im Übrigen auch für andere primäre Normordnungen. Auch im Recht lässt sich etwa feststellen, dass weder allein die Konsequenzen noch allein der gute Wille entscheidend sind. Die verschiedenen Voraussetzungen einer Bestrafung etwa wegen Körperverletzung, die subjektive Tatbestands­mäßigkeit (Vorsatz, Fahrlässigkeit), objek17 Vgl. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 178 ff.; William H. Shaw, Contemporary Ethics. Taking Account of Utilitarianism, Oxford 1999, S. 29.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

tive Tatbestandsmäßigkeit (Verletzungshandlung), Rechtswidrigkeit und Schuld decken praktisch alle der oben genannten sieben Teile der Handlung ab.

5. Die normative Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs Die zweite, normativ-ethische Begründung lautet, dass es auch keinen guten ethischen Grund gibt, den Bezug moralischer Normen und dann in der Konsequenz auch den Bezug ethischer Analysen und Rechtfertigungen grundsätzlich primär oder gar ausschließlich auf eines der oben genannten sieben Handlungselemente zu richten. Um dies zu zeigen, soll zunächst kurz die Unhaltbarkeit verschiedener Reduktionsversuche dargelegt werden. Zum Abschluss wird dann ein positiver Grund genannt, warum alle Reduktionsversuche notwendig scheitern müssen. Tugenden sind zwar ein möglicher Gegenstand moralischer Bewertungen und Verpflichtungen. Aber sie sind nicht deren einziger Gegenstand. Denn Tugenden haben zwar einen Einfluss auf Handlungen. Aber dieser Einfluss ist lediglich ein empirischprobabilistischer. Zwar mag es sein, dass jemand, der tugendhaft ist, häufig auch gut handelt. Aber dies ist nicht notwendig so. Auch der Tugendhafte kann gelegentlich schlecht oder moralisch neutral handeln. Und daraus können sich katastrophale Interessenverletzungen ergeben. So mag derjenige, der einen Verbrecher aus Mitleid oder Menschenliebe früher als geboten aus der Haft entlässt, weitere Verbrechen mit schrecklichen Folgen für die Opfer ermöglichen. Umgekehrt kann ein ansonsten wenig tugendhafter Mensch sich in einer bestimmten Notsituation vorbildlich verhalten, etwa weil gerade diese spezifische Situation ihm einen Anstoß gibt, endlich einmal richtig zu handeln. Kants These, dass nur ein guter Wille ohne Einschränkung gut ist, und die Folgerung, dass nur die subjektiven Prinzipien des Wollens, die Maximen, der Verallgemeinerungsprüfung zu unterwerfen sind, genügt zwar einer ins Extrem gesteigerten ethischen Sicherheitserwartung des Akteurs, weil eine fehlgehende Handlung und insbesondere schlechte Konsequenzen dann nicht auf den Akteur zurückfallen, berücksichtigt aber den je konkreten Anderen, der von einer Handlung betroffen ist, nicht hinreichend (die Verallgemeinerbarkeitsbedingung bezieht dann Andere aber zumindest auch ein). Die Ansprüche dieses Anderen sind zwar nicht allein ausschlaggebend für die Beurteilung einer Handlung. Aber ihre Existenz und normative Kraft machen die Beurteilung der Handlung eines Akteurs erst zu einer umfassenden ethischen. Beurteilt der Akteur sein Handeln in letzter Instanz nur im Hinblick auf sich selbst, seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche oder sein Wollen, so bleiben zentrale Teile von Moral und Ethik in einem gehaltvollen Sinne unerklärt. Man hat dann allenfalls eine erweiterte Rationalitätstheorie, einen strikten ethischen Subjektivismus, wonach etwa altruistisches Handeln lediglich als Handeln aus Angst vor Sanktionen aufzufassen wäre.18 Berücksichtigt man aber auch den 18 Ein solcher ethischer Subjektivismus wird allerdings immer wieder vertreten: Vgl. John L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong; Peter Stemmer, Handeln zugunsten anderer. Eine moralphilosophische Un-

5. Die normative Begründung der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs

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von der Handlung betroffenen Anderen mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen, so vermag Kants Annahme, dass nur der gute Wille des Akteurs absolut gut ist, nicht zu überzeugen. Denn für den Anderen kann selbst ein guter Wille des Akteurs schlecht sein, das heißt, seine Belange ohne eine faire Abwägung missachten. Man denke an eine Mutter, die zwar das objektiv Beste für ihr Kind will, dabei aber dessen vielleicht sogar irrationale Wünsche vollkommen unberücksichtigt lässt. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Belange des von der Handlung betroffenen Anderen für die ethische Bewertung allein ausschlaggebend sind. Aber sie müssen bei der Bewertung einer Handlung in ihrer tatsächlichen Ausprägung beachtet werden, so dass der bloße gute Wille des Akteurs ohne Berücksichtigung der faktischen Interessen der Anderen in einem moralischen Sinn nicht absolut gut sein kann. Dies gilt selbst dann, wenn man „Wille“ wie Kant nicht in einem psychologischen Sinn versteht, sondern auf das „moralische Gesetz in mir“ bezieht, denn auch dieses muss die realen Belange der betroffenen Anderen mit einbeziehen, wenn wirklich eine adäquate Rechtfertigung moralischer Kon­fliktlösungen stattfinden soll. Ein vergleichbares Argument lässt sich auch gegen die Beschränkung des Bezugs moralischer Normen auf die Konsequenzen durch den Konsequentialismus vorbringen. Wird mit der Perspektive des betroffenen Anderen ein externer Standpunkt eingenommen, so ist kein Grund ersichtlich, warum dessen Interessen auf die Konsequenzen der Handlung des Akteurs beschränkt werden sollten.19 Die Konsequenzen einer Handlung mögen für uns in manchen Fällen gravierender sein als der schlechte Wunsch, die schlechte Absicht, die schlechte Zweck-Mittel-Wahl, der schlechte Handlungswille oder die schlechte Handlung im engeren Sinn. Aber in vielen Fällen beurteilen wir bereits unabhängig von den negativen Konsequenzen den Wunsch, die Absicht, die Zweck-MittelVerbindung, den Handlungswillen und / oder die Handlung im engeren Sinn als negativ. Wenn jemand sich unrechtmäßig bereichern möchte und dazu jemanden hintergehen will und täuscht, so ist das im Normalfall bereits moralisch verwerflich, unabhängig davon, welche Folgen intendiert sind und daraus letztlich resultieren. Daran ändert sich auch nichts, wenn sich im Endeffekt aus dem Betrug, wie beabsichtigt, positive Folgen ergeben, etwa wenn der Betrügende mit dem Erlös eine Hilfsorganisation unterstützt, während wir den durch den Betrug erlangten Betrag sonst für Luxusgüter ausgegeben hätten. Nur in speziellen Fällen führen weit überwiegende positive Folgen dazu, dass schlechte Wünsche, Absichten und Handlungsausführungen im Rahmen einer Gesamtbewertung der Handlung im weiteren Sinn in Kauf genommen werden dürfen. Dies wäre etwa wohl dann der Fall, wenn eine leichte Täuschung dazu dienen soll, ein lebenswichtiges und nicht anders erlangbares Medikament für einen Sterbenskranken von einem Apotheker zu erlangen und der Apotheker mit seiner Weigerung, das Medikament herauszugeben, seiner eigenen Pflicht zur Hilfeleistung nicht nachkommt, also seinerseits unmoralisch handelt (dazu näher Kapitel XII, 3). tersuchung, Berlin 2000, S. 101, 118 f.; ders., Normativität, Berlin 2008. 19 In der Literatur findet sich immer wieder die nicht weiter begründete und sachlich unberechtigte Gleichsetzung der Berücksichtigung von Interessen mit der Beschränkung auf Konsequenzen. Vgl. etwa Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, in: Manfred Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie Bd. II, Freiburg 1974, S. 455–475, S. 474.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Moderne Utilitaristen haben eine Zwei-Ebenen-Strategie entwickelt, um bestimmten Einwänden, insbesondere dem Einwand der Überforderung, zu begegnen. En passant wird dabei auch die Beschränkung der Berücksichtigung auf die Konsequenzen relativiert. Unter konsequentialistischen Primärprinzipien sollen unmittelbar handlungsregelnde, nichtkonsequentialistische Sekundärprinzipien rangieren. Diese Hierarchisierung wirft aber zwangsläufig die Frage auf: Was soll im Konfliktfall entscheidend sein, die konsequentialistischen Primärprinzipien, wie ein modifizierter Aktkonsequentialismus annimmt,20 oder die Sekundärprinzipien, wie es der Regelkonsequentialismus vertritt?21 Beide Alternativen sind, wie sich in Kapitel V, 4 noch zeigen wird, unbefriedigend. Beim modifizierten Aktkonsequentialismus sind letztlich doch die Konsequenzen in Form des Primärprinzips entscheidend. Die Sekundärprinzipien sind nur erste allgemeine primafacie-Regeln. Er erlaubt überdies keine verbindliche Ausprägung von Tugenden und habituellen Regelbefolgungen. Beim Regelkonsequentialismus gelten dagegen die Regeln auch im Einzelfall unabhängig von den Konsequenzen der jeweiligen Handlung. Damit liegt aber kein wirklicher Konsequentialismus mehr vor. Man muss sich vielmehr fragen, auf welcher ethischen Grundlage die Einzelfallgeltung der Regeln gerechtfertigt sein soll. Einen interessanten Mittelweg hat in Form eines sog. „indirekten Konsequentialismus“ Dieter Birnbacher vorgeschlagen.22 Danach soll den Sekundärprinzipien eine weitergehende Autorität als beim modifizierten Aktkonsequentialismus zukommen. Diese Autorität ist allerdings nicht unbegrenzt, sondern wird durch eine Generalklausel eingeschränkt, die analog zum rechtfertigenden Notstand im Strafrecht in Situationen eines schwerwiegenden Konflikts mit dem Primärprinzip Ausnahmen zulässt und in Einzelfällen von der Befolgung der Sekundärprinzipien entbindet. Die Sekundärprinzipien sollen auch viel stärker als beim Aktkonsequentialismus emotional im Individuum verankert sein. Sie sollen selbst dann gelten, wenn ihre Begründbarkeit durch das Primärprinzip nicht unmittelbar einsehbar ist. Dieser Kompromissvorschlag hat den Verdienst, sowohl die Berücksichtigung der Konsequenzen als auch der Tugenden und des regelgeleiteten Handelns zu integrieren. Er kommt also einer Pluralität des Handlungsbezugs moralischer Verpflichtungen bereits sehr nahe. Allerdings bleibt der Konsequentialismus als Primärprinzip erhalten. Das Problem liegt in der Entscheidung, wann zwischen Primär- und Sekundärprinzipien ein „schwerwiegender Konflikt“ anzunehmen ist. Und es stellt sich die weitere Frage: Quis judicabit? Wer entscheidet? Im Übrigen sollen sich nach Birnbacher in schwerwiegenden Konflikten letztlich doch die Konsequenzen durchsetzen. Das lässt sich aber mit unseren grundlegenden Überzeugungen nicht in Einklang bringen. Man erinnere sich an bekannte Beispiele, wie dasjenige der Entnahme der Organe eines nur leicht erkrankten Patienten, um mit diesen Organen fünf andere Patienten zu retten. Hier liegt ohne Zweifel ein schwerwiegender Konflikt zwischen dem nichtkonsequentialistischen Sekundärprinzip des Lebensschutzes 20 So Richard M. Hare, Moral Thinking. Its Levels, Method and Point, S. 192. 21 Richard B. Brandt, Toward a Credible Form of Rule-Utilitarianism, in: Hector-Neri Castaneda / George Nakhnikian (Hg.), Morality and the Language of Conduct, Detroit 1965, S. 107–143. 22 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 213 f.

6. Der Grund für das Scheitern der Beschränkung des Bezugs

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Unschuldiger und dem konsequentialistischen Primärprinzip der allgemeinen Leidminimierung vor. Trotzdem würde hier niemand ernsthaft die Superiorität der konsequentialistischen Lösung behaupten. Auch Birnbachers Versuch, den prinzipiellen Vorrang der Konsequenzen gegenüber den anderen Teilen der Handlung zu rechtfertigen, kann also letztlich nicht überzeugen.

6. Der Grund für das Scheitern der Beschränkung des Bezugs Aus welchem Grund scheitert nun aber der Versuch einer Beschränkung des Bezugs ethischer Normen auf ein einziges Element der Handlung im weiteren Sinne? Jede adäquate Ethik setzt notwendig die Berücksichtigung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen der von der Handlung eines Akteurs betroffenen Anderen voraus, also jedenfalls der betroffenen Menschen, möglicherweise aber auch der Tiere und anderen Lebewesen. Diese Interessen der Anderen beschränken sich nun aber faktisch nicht auf einzelne Aspekte der Handlung des Akteurs. Sie können und werden sich regelmäßig auf alle Elemente der Handlung im weiteren Sinn erstrecken. Für den betroffenen Anderen mögen etwa neben den Konsequenzen einer Handlung auch die Tugenden und sonstigen Eigenschaften des Akteurs, aber auch sein Wille wichtig sein. Es kann mir nicht gleichgültig sein, wenn mein Partner ein habitueller Mörder ist, selbst sofern er aktuell keinen konkreten Handlungswillen oder auch nur eine abstrakte Handlungsmaxime zur Tötung hat. Es kann mir aber auch nicht gleichgültig sein, wenn mein Partner zwar immer das Beste will, seine Handlungen aber meine Belange – etwa weil sie ungewöhnlich sind – nicht berücksichtigen oder wegen fahrlässig verursachter Unfähigkeit der Konsequenzbeherrschung regelmäßig oder auch nur einmalig in katastrophalen Konsequenzen für mich enden. Wenn ich die Verwirklichung meiner Belange ernsthaft will, so will ich nicht nur die guten Konsequenzen, sondern im Normalfall alle Vorstufen der Handlung bis zur Realisierung dieser Konsequenzen. Die einzig plausible Schlussfolgerung kann deshalb lauten: Alle Teile der Handlung im weiteren Sinne sind grundsätzlich gleichwertiger Gegenstand moralischer Normen und ethischer Rechtfertigungen, weil sie alle zu dem führen können, was der Ausgangspunkt der Moral ist: zu möglichen Konflikten im weiteren Sinn einer Interessendivergenz. Deshalb werden sich die Belange der einzelnen am Konflikt Beteiligten auf alle möglichen Teile der Handlungen Anderer richten. Keine der oben analysierten sieben Teile der Handlung im weiteren Sinne ist also absolut gut oder schlecht. Alle Teile der Handlung können nur relativ gut oder schlecht im Rahmen einer Gesamtbewertung des moralischen Konflikts sein. Um zu einer adäquaten Beurteilung einer moralischen Konfliktsituation zu gelangen, sind folglich prinzipiell immer alle oben analysierten sieben Teile der Handlung im weiteren Sinne zu berücksichtigen. Wie kann nun das Verhältnis von Teil- und Gesamtbewertung der Handlung aussehen? Sind alle Teile der Handlung im weiteren Sinne entweder als gut, schlecht oder neutral zu bewerten, so ist die Gesamthandlung im weiteren Sinne ebenfalls ohne Weiteres als gut, schlecht oder neutral zu bewerten. Sind einzelne Teile der Handlung im weiteren Sinne einheitlich als gut oder schlecht und andere Teile als neutral zu bewerten,

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

so ist die Gesamthandlung gut oder schlecht, weil neutrale Bewertungen an der guten oder schlechten Bewertung einzelner Handlungselemente und in der Folge auch an der Gesamtbewertung nichts ändern. Problematisch sind die Fälle, bei denen eine Handlung im weiteren Sinne sowohl gute als auch schlechte Teile enthält, also den Interessen der Beteiligten sowohl ent- als auch widerspricht. Man denke also zum Beispiel an Fälle, bei denen die Mutter subjektiv und objektiv gute Absichten für ihr Kind hat, diese aber wegen divergierender Wünsche des Kindes zu schlechten Konsequenzen (Missachtung und Verärgerung des Kindes) und damit zu paternalistischen (oder vielmehr: maternalistischen) Konflikten führen. Man denke umgekehrt an Fälle wie den oben geschilderten Betrug des Apothekers, in denen schlechte Absichten und Handlungen gute Konsequenzen bewirken. In derartigen Fällen muss eine Abwägung zwischen der Bewertung der einzelnen Teile der Handlung im weiteren Sinne stattfinden. Dabei wird ein schlechter Teil nur dann nicht zur Gesamtbewertung der Gesamthandlung als schlecht führen, wenn er durch wenigstens einen guten und gleichzeitig im konkreten Fall sehr viel gewichtigeren Teil ausgeglichen wird. Für die beiden soeben genannten Beispielfälle führt dies zu folgenden Resultaten: Die subjektiv und objektiv guten Absichten der Mutter rechtfertigen die maternalistische Durchsetzung der Handlung nur dann, wenn die drohenden negativen Konsequenzen für das Kind gewichtiger und die erzeugte Missachtung und Verärgerung des Kindes lediglich marginal und kurzzeitig sind. Das bedeutet: Mit zunehmendem Alter und zunehmender geistiger und voluntativer Eigenständigkeit des Kindes wird der Gesichtspunkt der Miss­achtung seiner Wünsche und der Verärgerung immer gewichtiger werden.23 Die maternalistische Durchsetzung des elterlichen Willens wird sich in immer weniger Fällen begründen lassen. Die Täuschung des Apothekers lässt sich nur rechtfertigen, weil die gute Konsequenz der Lebensrettung des Patienten sehr gewichtig und der Apotheker seinerseits zur Hilfeleistung verpflichtet ist. Die Täuschung wäre sicher nicht zu begründen, wenn es nur um die Erlangung eines Kopfschmerzmittels ginge, selbst wenn der Apotheker seinerseits zur Herausgabe des Mittels moralisch oder rechtlich verpflichtet wäre. Im Rahmen der Gesamtbewertung einer Handlung im weiteren Sinn können also nur erheblich gewichtige gute Teile schlechte Teile kompensieren und die Gesamthandlung zu einer guten oder zumindest neutralen werden lassen. Dies entspricht im Übrigen den Regeln des Notstandes, wie sie im deutschen Recht, etwa in den §§ 34 StGB, 228 BGB, niedergelegt sind: Man darf dem Anderen dessen Spazierstock nicht gegen dessen Willen aus der Hand nehmen, um eine lästige Fliege abzuwehren. Aber man darf den Spazierstock an sich reißen, um sich gegen einen tollwütigen Fuchs zu verteidigen, der einen in Lebensgefahr bringt.24

23 Dies entspricht übrigens auch der gesetzlichen Regelung des elterlichen Erziehungsrechts: § 1626 II S. 1 BGB: „Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln.“ 24 § 34 Strafgesetzbuch (StGB): „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden

7. Handlungen und Normen bzw. Regeln

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Divergieren die einzelnen Teile einer Gesamthandlung, so hat das auch Konsequenzen für das Verhältnis zwischen der Bewertung dieser Handlung und der Verpflichtung, sie auszuführen. Während man zu guten Handlungen, sofern weitere Bedingungen wie die Erheblichkeit gegenüber der Autonomiebeschränkung des Verpflichteten erfüllt sind, im Normalfall verpflichtet ist, kann das nicht gelten, wenn eine derartige Handlung nur deswegen insgesamt als gut anzusehen ist, weil schlechte Elemente der Handlung im Rahmen der Gesamtbewertung durch erheblich gewichtigere gute Elemente kompensiert werden. Nur in den seltensten Fällen wird man annehmen können, dass jemand verpflichtet ist, etwas Schlechtes zu wollen oder zu tun, um erheblich gewichtigere gute Konsequenzen zu realisieren. Im Regelfall wird eine derartige Handlung allenfalls erlaubt, nicht aber geboten sein. Nur im Falle einer überragenden Disproportionalität der Bewertung divergierender Teile der Handlung kann sich ein Gebot oder Verbot ergeben.

7. Handlungen und Normen bzw. Regeln Die potentiell widerstreitenden Belange können sich nach den Überlegungen dieses Kapitels gleichermaßen auf alle Teile der Handlung im weiteren Sinne beziehen. Dies gilt dann auch für alle spezielleren Formen von Handlungen. Neben einfachen tatsächlichen Handlungen sind dies etwa sprachliche Handlungen und unter diesen wiederum Normen, also normative Sprechakte. Innerhalb der Normen gilt es weiterhin für allgemeine Normen, also Regeln. Wie eine einzelne einfache Handlung ist also auch eine Regel als Handlung dem potentiellen Widerstreit divergierender Belange ausgesetzt, der sich auf alle ihre Teile erstreckt: ihre Bedingungen, die Wünsche und Überzeugungen, die ihr zugrunde liegen, die Ziele, die Mittelwahl, der Regelungswille, die Regelsetzung und die Konsequenzen. Allerdings kann natürlich der spezifische Charakter von Regeln zu spezifischen Gewichtungen führen. Wenn Regeln etwa eine allgemeine und diffuse Quelle haben, so werden die ihnen zu Grunde liegenden Überzeugungen ebenfalls diffus sein und können deshalb nicht im Zentrum des moralischen Interesses stehen. Dies gilt umso mehr, wenn Regeln, wie etwa Regeln des positiven Rechts, schon sehr lange gelten und ein möglicher personaler Urheber, der sie vielleicht einst aufgestellt hat, nicht mehr existiert. Auch die Absichten werden dann eine beschränkte Rolle spielen. Das bedeutet, dass die Ausführung und die Konsequenzen der Regeln ein stärkeres Gewicht erlangen.

8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt Die Frage nach der Singularität oder Pluralität der ethisch relevanten Handlungsteile hat ihren Niederschlag in verschiedenen Doktrinen, Thesen und Problemen gefunden, von denen einige wesentliche nachfolgend erörtert werden sollen, um die grundlegenInteressen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.“

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

de These der Pluralität des Bezugs auf die verschiedenen Handlungsteile plastischer werden zu lassen. Die älteste dieser Doktrinen ist die Doktrin vom doppelten Effekt.25 Nach ihr soll eine Handlung, die außer guten auch schlechte Folgen hat, zulässig sein, sofern vier Bedingungen erfüllt sind:26 (1) Die Handlung ist moralisch gut oder wenigstens indifferent. (2) Die Handlungsabsicht ist gut, weil sie sich nur auf die guten Folgen richtet. Die schlechten Folgen sind nicht beabsichtigt bzw. bezweckt, sondern allenfalls vorausgesehen. (3) Die schlechten Folgen sind nicht Mittel zum Zweck der Handlung, sondern nur ein möglicher Nebeneffekt. (4) Die schlechten Folgen sind den guten Folgen angemessen / proportional.27 Eine mögliche Kritik oder Rechtfertigung der Doktrin vom doppelten Effekt lässt sich am besten anhand einzelner Fälle diskutieren:

a) Einzelne Fälle Fall 1 (Selbstverteidigung gegen den Einbrecher): A ertappt den Einbrecher E auf frischer Tat und schießt auf ihn, um sich zu verteidigen und ihn zu vertreiben. Der Einbrecher wird verletzt, was A nicht beabsichtigt, aber für möglich gehalten hat. A hat die gute Absicht der Selbstverteidigung bzw. Vertreibung des Einbrechers. Die schlechte Folge der Verletzung des Einbrechers ist nicht beabsichtigt, sondern allenfalls vorausgesehen. Die schlechte Folge der Verletzung des Einbrechers ist nicht Mittel zur Erreichung des guten Zwecks seiner Vertreibung, weil der Einbrecher prinzipiell auch ohne diese Verletzung hätte vertrieben werden können, etwa durch das Anschalten des Lichts, das Aufheulen der Alarmanlage oder das Auftauchen der Polizei. Die schlechten Konsequenzen der Verletzung des Einbrechers sind den guten Konsequenzen der Ver25 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II, qu. 64, 7. Ob Thomas das Prinzip hier tatsächlich vertritt, ist umstritten: Joseph T. Mangan, An Historical Analysis of the Principle of Double Effect, Theological Studies 10 (1949), S. 41–61; Thomas A. Cavanaugh, Aquinas’s Account of Double Effect, The Thomist 61 (1977), S. 107–127; Gareth B. Matthews, Saint Thomas and the Principle of Double Effect, in: Scott MacDonald / Elonore Stump (Hg.), Aquinas’s Moral Theory, Ithaca 1999, S. 63–78; Gregory M. Reichberg, Aquinas on Defensive Killing: A Case of Double Effect?, The Thomist 69 (2005), S. 341–370; zur allgemeinen Geschichte des Prinzips: Lucius I. Ugorji, The Principle of Double Effect: A Critical ­Appraisal of its Traditional Understanding and its Modern Reinterpretation, Frankfurt a. M. 1985. 26 Vgl. zur vorliegenden Formulierung: Tom. L. Beauchamp / James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S. 162 f., wobei sie „Proportionalität“ im Sinne eines „Überwiegens“ („outweigh“) verstehen. Aber dies ist zweifelhaft, denn dann wäre ein maximierender Konsequentialismus gefordert und das Prinzip vom doppelten Effekt wäre nur seine Verschärfung. 27 Etwas anders formuliert Joseph M. Boyle, Jr., Toward Understanding the Principle of Double Effect, Ethics 90 (1980), S. 527–538, S. 528: „(1) the agent’s end must be morally acceptable (honestus), (2) the cause must be good or at least indifferent, (3) the good effect must be immediate, and (4) there must be a grave reason for positing the cause.“ Der Unterschied betrifft also vor allem das vierte Merkmal.

8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt

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treibung und Sicherung der gefährdeten Güter wohl auch angemessen (das ist umstritten). Nach der Doktrin vom doppelten Effekt wäre die Selbstverteidigung des A also erlaubt (nicht aber wohl die Tötung des Einbrechers). Fall 2 (Strategische Bombardierung der Munitionsfabrik): Im Rahmen eines legitimen Verteidigungskriegs wird eine Munitionsfabrik des angreifenden Landes bombardiert, um den Krieg zu verkürzen. Dabei sterben jedoch, was allgemein vorherzusehen, aber nicht zu vermeiden war, einige in der Nähe wohnende Zivilisten. Die Verkürzung des Kriegs ist ein gutes Ziel einer legitimen Kriegshandlung. Die Zerstörung der Munitionsfabrik ist ein legitimes Zwischenziel bzw. Mittel, sofern der Krieg selbst legitim ist. Die Tötung der Zivilisten ist nicht beabsichtigt, sondern nur vorausgesehen. Sie ist kein Mittel zum Zweck der Zerstörung der Munitionsfabrik, weil diese prinzipiell auch so zerstört werden könnte. Die schlechten Konsequenzen sind den guten nicht unangemessen, sofern der Krieg signifikant verkürzt werden kann und dadurch viele andere Menschen gerettet werden. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt darf die Munitionsfabrik somit bombardiert werden. Fall  2a (Terroristische Bombardierung Unschuldiger): Wie Fall  2, aber es wird keine Munitionsfabrik bombardiert, sondern eine vergleichbare Anzahl nicht kämpfender, also unschuldiger Personen, um die Zivilbevölkerung zu demoralisieren, was den Krieg allerdings wie im Fall 2 verkürzen und viele andere Menschen retten würde. Die Verkürzung des Kriegs ist ein legitimes Ziel. Die Tötung der Zivilisten ist dagegen kein legitimes Ziel. Sie könnte allenfalls als nichtbeabsichtigter Nebeneffekt erlaubt sein. Hier ist aber die Tötung der Zivilisten anders als in Fall 2 nicht nur vorhergesehen, sondern zumindest gewollt, wenn nicht sogar beabsichtigt. Die zweite Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt ist also nicht erfüllt. Die Zivilisten werden im Übrigen als Mittel zur Erreichung des legitimen Ziels der Kriegsverkürzung gebraucht. Ihr Tod könnte nicht hinweggedacht werden, ohne die Erreichung des Ziels zu vereiteln. Auch die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt ist somit nicht gegeben. Die Zivilisten dürfen nicht bombardiert werden. Derartiger Terror ist unzulässig. Fall 3 (Rettung einer Schwangeren durch Entfernung der Gebärmutter): Die schwangere Frau F hat Gebärmutterkrebs. Um ihr Leben zu retten, muss die Gebärmutter entfernt werden, was zum Tod des Kindes führt. Die Rettung der F ist eine gute Handlung und die entsprechende Absicht legitim. Die Tötung des Kindes ist nicht beabsichtigt, sondern nur vorhergesehen. Sie ist auch nicht Mittel, weil die Rettung allein auf der Entfernung der Gebärmutter beruht und deshalb prinzipiell auch ohne Tötung des Kindes geschehen könnte. Die schlechten Konsequenzen sind den guten angemessen. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt darf die Gebärmutter entfernt werden.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Fall 4 (Rettung der Mutter durch Entfernung des im Gebärmutterhals feststeckenden Kindes): Die schwangere Frau G kann nur überleben, wenn das beim Geburtsvorgang im Gebärmutterhals stecken gebliebene Kind getötet wird. Die Rettung der G ist eine legitime Absicht. Die Tötung des Kindes ist nicht beabsichtigt. Sie ist aber Mittel zum beabsichtigten Zweck, weil die Rettung die Tötung des Kindes voraussetzt. Man muss deshalb davon ausgehen, dass sie zumindest gewollt und nicht nur vorhergesehen ist. Die schlechten Konsequenzen sind den guten wohl noch angemessen (bestreitbar). Nach der Doktrin vom doppelten Effekt darf das Kind in diesem Fall nicht getötet werden, um die Mutter zu retten. Hier stellt sich die Frage, ob der Unterschied zu Fall 3 so gravierend ist, dass er eine abweichende Entscheidung zu rechtfertigen vermag.28 Fall 5 (Indirekte Sterbehilfe): Der sterbenskranke S leidet unter unerträglichen Schmer­ zen. Zur Linderung dieser Schmerzen ist die Gabe von Morphium notwendig, was sein Leben allerdings verkürzen kann, also eine sog. indirekte Sterbehilfe darstellen würde. Die Linderung der Schmerzen des S ist ein legitimes Ziel. Die Verkürzung des Lebens ist nicht beabsichtigt, aber vorhergesehen. Sie ist nicht Mittel zum beabsichtigten Zweck der Schmerzlinderung, da diese nicht notwendig davon abhängt. Eine mögliche nicht gravierende Lebensverkürzung erscheint zu diesem Zweck angemessen. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt ist die Linderung der Schmerzen zulässig. Fall 6 (Rettung der Höhlenforscher):29 Eine Gruppe von Höhlenforschern kann eine Höhle nicht verlassen, weil ein Mitglied ihrer Gruppe, ein sehr dicker Mann, der als Erster hinaussteigen wollte, den Eingang blockiert. Die Flut steigt und alle drohen zu ertrinken. Die Höhlenforscher sprengen – was faktisch die einzige Rettungsmöglichkeit darstellt – den Eingang frei und nehmen den Tod des sehr dicken Mannes in Kauf. Das Rettungsziel der Höhlenforscher ist legitim. Die Tötung des sehr dicken Mannes ist aber – so wird angenommen – notwendiges Mittel zur Rettung, so dass das Instrumentalisierungsverbot der dritten Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt nicht beachtet ist. Im Übrigen ist die Tötung des sehr dicken Mannes zwar nicht beabsichtigt, aber zumindest gewollt und nicht nur vorausgesehen, so dass auch die zweite Bedingung nicht erfüllt ist. Angesichts der größeren Anzahl Geretteter kann man die Konsequenzen vielleicht als angemessen ansehen. Trotzdem wäre hier die Tötung nach der Doktrin vom doppelten Effekt nicht zulässig, da der sehr dicke Mann bewusst und gewollt zum 28 Dies ist verschiedentlich bezweifelt worden, etwa von H. L. A. Hart, Intention and Punishment, in: ders., Punishment and Responsibility, Oxford 1968, S.  113–135; Tom L. Beauchamp / James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S. 163 ff. 29 Dieser Fall stammt von Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, in: dies., Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy, Oxford 1978, S. 19–32, S. 21.

8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt

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Mittel der Rettung gemacht wird. Ohne seine Tötung ist die Rettung nicht möglich. Hier stellt sich die Frage, ob die Rettung der vielen Höhlenforscher nicht den Tod des einen, im Ausgang stecken gebliebenen Höhlenforschers rechtfertigt. Fall 7 (Verurteilung des Unschuldigen): Richter R kann Massenunruhen mit vielen Toten verhindern, wenn er den – wie ihm bekannt ist – unschuldigen U verurteilt. Die Verhinderung von Massenunruhen ist eine legitime Absicht. Die Verurteilung des U wird von R nicht beabsichtigt. Aber sie ist Mittel zur Verhinderung der Massenunruhen und deshalb gewollt und nicht nur vorhergesehen. Selbst wenn man dieses Mittel als angemessen ansehen würde, wäre die Verurteilung des R daher nicht erlaubt, da er instrumentalisiert wird.

b) Einbettung in die allgemeine Theorie Wie lässt sich die Doktrin vom doppelten Effekt in die allgemeine normativ-ethische Theorie einbetten? Die wichtigste Einsicht besteht zunächst darin, dass die Doktrin vom doppelten Effekt zwischen einem strikten Konsequentialismus und einer strikt deontologischen Auffassung angesiedelt ist und damit beide, jeweils eines der Handlungselemente vereinseiti­genden Theorien, ein Stück weit relativiert bzw. transzendiert. Sie nähert sich also zumindest der hier vertretenen These der grundsätzlichen Pluralität des Bezugs der Belange bzw. Interessen auf die Handlungselemente an und ist deshalb in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse. Für den Konsequentialismus ist die Relativierung leicht zu erkennen. Er würde die ersten drei Bedingungen der Doktrin vom doppelten Effekt weglassen und sich auf die vierte Bedingung der Angemessenheit der Folgen beschränken, dort allerdings – sofern es sich um die gängige Version der Verbindung von Konsequentialismus und Maximierungsprinzip handelt – die Angemessenheit bzw. Proportionalität als Überwiegen der guten Konsequenzen interpretieren bzw. fordern. So wäre im Fall 1 die Selbstverteidigung nur zulässig, wenn die möglichen Verletzungen des Einbrechers nicht schwerwiegender wären als der Wert der Sicherung. Im Fall 2 wäre die Bombardierung nur erlaubt, wenn die durch sie herbeigeführte Beschleunigung des Kriegsverlaufs mehr Menschen retten würde, als durch die Bombardierung sterben würden. Für eine strikt deontologische Ethik ist die Relativierung dagegen nicht so leicht zu erkennen. Kants primäre Auszeichnung des guten Willens setzt  – in einer starken Lesart – wohl voraus, dass alle Willenselemente in einem weiteren Sinne von „Wille“ gut sind. Die Unterscheidung einer enger verstandenen Absicht der Handlung von einer bloßen Voraussicht weiterer schlechter Nebeneffekte wäre deshalb vermutlich nach Kant unzulässig. Eine strikt deontologische Ethik würde sich also auf die erste und dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt beschränken und insbesondere die zweite und vierte Bedingung als Einschränkung der ersten Bedingung ablehnen. Soweit ersichtlich hat Kant die Doktrin vom doppelten Effekt nie diskutiert. Auch seine Beispiele

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

lassen sich mit ihrer Hilfe nicht in seinem Sinne interpretieren. Im Gegenteil: Hätte er die Doktrin akzeptiert, so hätte er an verschiedenen Stellen anders entscheiden müssen. Dies wird besonders im berühmten Beispiel des Verbots der Lüge zur Rettung eines Verfolgten deutlich:30 Ein Mörder kommt an die Haustüre und fragt, ob sich der verfolgte Freund des Hausherrn in das Haus geflüchtet hat. Selbst in dieser Situation soll der Hausherr nach Kants Überzeugung wahrheitsgemäß Auskunft erteilen, also den Tod des Freundes in Kauf nehmen. Nach der Doktrin vom doppelten Effekt wäre die wahrheitswidrige Auskunft dagegen gerechtfertigt: Die Rettung des Opfers vor dem Mörder ist ein legitimes Ziel. Die Täuschung des Mörders ist nicht beabsichtigt, sondern nur vorhergesehen. Sie ist im Übrigen wohl kein notwendiges Mittel, um die Rettung des Opfers zu erreichen, denn prinzipiell könnte der Mörder auch mit anderen Mitteln von der Tat abgehalten werden, etwa indem der Hausherr einfach nicht aufmacht oder die Polizei ruft. Schließlich ist die Täuschung selbstredend angemessen, um das Opfer vor dem Mord zu retten. Die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt, also die Bedingung des Ausschlusses der Instrumentalisierung, stellt  – wie sich ergab  – eine Einschränkung des Konsequentialismus dar. Fraglich ist allerdings, ob diese Einschränkung einer strikt deontologischen Theorie wie derjenigen Kants genügen würde. Das hängt von der Interpretation der Kantischen Theorie ab. Kant fordert bekanntlich in der zweiten Explikationsformel des Kategorischen Imperativs, der sog. Zweck-Mittel-Formel, man solle immer so handeln, dass man die Menschheit sowohl in der eigenen Person als auch in jeder anderen Person niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck „brauche“.31 Lässt man einmal die Tatsache, dass nach Kant nur Maximen dem Verallgemeinerungstest unterworfen werden sollen, außer Betracht, so stellen sich zwei Fragen. Erstens: Lässt sich die Zweck-Mittel-Formel auf einen einzigen Handlungskontext, in dem immer nur eine einzige Instrumentalisierung in Rede stehen kann, beschränken? Nur insofern man dies bejaht, kann die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt das Erfordernis der Zweck-Mittel-Formel erfüllen. Zweitens: Ist das Gebot, den Einzelnen immer auch als Zweck zu „brauchen“, bereits dadurch und immer dann erfüllt, dass und wenn man ihn nicht nur als Mittel benutzt, oder setzt die Zweck-MittelFormel eine zusätzliche Anerkennung als zweckhaftes Wesen voraus?32 Nur im Falle der ersten, schwächeren Lesart der Zweck-Mittel-Formel würde die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt den strikt-deontologischen Anforderungen Kants genügen. Entschiede man sich dagegen für eine stärkere Lesart der Zweck-Mittel-Formel, wonach eine zusätzliche Anerkennung als zweckhaftes Wesen notwendig wäre, so würde

30 Immanuel Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin 1912, S. 423 ff. 31 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 429. 32 Vgl. zu dieser Differenzierung: Warren S. Quinn, Actions, Intentions, and Consequences: The Doctrine of Double Effect, in: Philosophy and Public Affairs 18 (1989), S. 334–351, S. 350, Fn. 25. Quinn lehnt ein eventuelles Erfordernis der zusätzlichen Berücksichtigung als Zweck nach der stärkeren Lesart ab.

8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt

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die Doktrin vom doppelten Effekt eine Abschwächung gegenüber dem kantschen Erfordernis der notwendigen Berücksichtigung des Anderen als Zweck bedeuten. Für die hier verfolgten systematischen Zwecke kann die Frage des historisch richtigen Verständnisses der kantschen Zweck-Mittel-Formel allerdings dahinstehen. Jedenfalls zeigt sich in der Doktrin vom doppelten Effekt eine grundsätzliche Pluralität der Bezugnahme auf die sieben oben erwähnten Teile der Handlung im umfassenden Sinne, in dem nun neben der Absicht (Element drei) und den Konsequenzen (Element sieben) auch die Mittelwahl (Element vier) und der Wille zur Mittelausführung (Element fünf ) sowie das Element des tatsächlichen Handelns (Element sechs) Berücksichtigung finden. Dabei wird allerdings ebenfalls deutlich, dass diese Pluralität der Bezugnahme im Rahmen der Doktrin vom doppelten Effekt noch eine eingeschränkte und damit nicht hinreichende ist, und zwar aus zwei Gründen: zum einen, weil statt aller sieben Elemente nur fünf Elemente für relevant erklärt werden, denn die Elemente eins und zwei der inneren und äußeren Bedingungen und der Überzeugungen und Wünsche werden nicht berücksichtigt. Zum anderen, weil die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt, also das Instrumentalisierungsverbot, ihrerseits absolut gesetzt wird. Während das Erfordernis der guten Absicht, wie es sich in der zweiten Bedingung ausdrückt, durch die Erlaubtheit der voraussehbar negativen Konsequenzen, also die Bedingungen zwei und drei und die alleinige Berücksichtigung der Konsequenzen durch die Bedingungen eins bis drei eingeschränkt werden, gilt das Verbot der Instrumentalisierung nach der klassischen Formulierung der Doktrin vom doppelten Effekt absolut. Dieses Verbot wird in vielen Fällen zu Recht den Ausschlag geben, etwa im Fall  7 der Verurteilung eines Unschuldigen. Aber es scheinen doch Situationen vorzukommen, in denen das Instrumentalisierungsverbot der Doktrin vom doppelten Effekt durch einen zusätzlichen Gesichtspunkt relativiert werden muss, etwa im Fall 4 des Schwangerschaftsabbruchs zur Rettung des Lebens der Mutter und im Fall 6 der Rettung der Höhlenforscher durch die Opferung des sehr dicken Manns. In beiden Fällen sind Opfer bzw. Instrumentalisierter und Handelnde(r) bzw. Begünstigte(r) zu einer Art Schicksalsgemeinschaft verbunden. Im Fall  4 der Schwangerschaft sind sie körperlich eins. Im Fall  6 der Höhlenforscher sind sie in einer Situation gemeinsam als Gruppe und gleichermaßen durch eine einzige Gefahr bedroht. Das Verbot der Instrumentalisierung anderer selbständig zu berücksichtigender Individuen durch die dritte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt kann als legitime Konkretisierung der Grundforderung nach Berücksichtigung aller moralisch relevanten Individuen, also als zentrale Doktrin des normativen Individualismus verstanden werden. Diese Konkretisierung des normativen Individualismus zum Verbot der Instrumentalisierung muss allerdings dort ihre Grenze finden, wo spezielle Grundbedingungen der Situation die absolute normative Trennung in zwei sich selbständig gegenüberstehende Individuen nicht zulassen. Dies ist vor allem in den beiden soeben genannten Ausprägungen einer Schicksalsgemeinschaft der Fall, in der speziellen Situation der körperlichen Verschränkung, wie sie im Rahmen einer Schwangerschaft vorliegt, und in der Situation einer gemeinschaftlichen, gleichermaßen drohenden Gefahr. In beiden Fällen führt eine spezifische Bedingung, also das spezifische Handlungselement eins dazu, dass das Instrumentalisierungsverbot mit Bezug auf die Handlungselemente vier und

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

fünf nicht absolut gelten kann. Das Handlungsverbot durch die Doktrin vom doppelten Effekt wird hier also durch zusätzliche Bedingungen relativiert. Umgekehrt können zusätzliche Bedingungen jedoch auch zum Verbot einer nach der Doktrin vom doppelten Effekt erlaubten Handlung führen.33 So kann etwa das Versprechen, kein Morphium zu nehmen oder zu geben, die im Fall 5 nach der Doktrin vom doppelten Effekt an sich erlaubte indirekte Sterbehilfe verbieten. Man kann also festhalten: Die Doktrin vom doppelten Effekt führt gegenüber Theorien, die ein einzelnes Handlungselement absolut oder zumindest primär setzen, wie dem Konsequentialismus und einer strikt deontologischen Ethik, zu einem großen Fortschritt, weil sie mehrere verschiedene Handlungselemente berücksichtigt. Sie geht allerdings zum einen in dieser Pluralisierung des Bezugs auf verschiedene Handlungselemente noch nicht weit genug, denn sie bezieht noch nicht alle Teile der Handlung in die Berücksichtigung der Interessen ein. Zum anderen ist sie zu strikt, weil sie das Instrumentalisierungsverbot absolut setzt. Eine erweiterte Version, welche das Instrumentalisierungsverbot relativiert, würde also etwa lauten: (1) Die Handlung ist moralisch gut oder wenigstens indifferent. (2) Die Handlungsabsicht ist gut, weil sie sich nur auf die guten Folgen richtet. Die schlechten Folgen sind nicht beabsichtigt bzw. bezweckt, sondern allenfalls vorausgesehen. (3) Die schlechten Folgen sind nicht einmal Mittel zum Zweck der Handlung, sondern nur ein möglicher Nebeneffekt, es sei denn, Begünstigter und Benachteiligter befinden sich in einer nicht anders auflösbaren Schicksalsgemeinschaft oder andere spezielle Bedingungen der Situation schließen die Einschränkung aus. (4) Die schlechten Folgen sind den guten Folgen angemessen / proportional. In den oben erläuterten Fällen ist deutlich geworden, dass man zwischen wenigstens drei mentalen Stufen unterscheiden muss: (1) der Absicht, (2) dem Gewolltsein und (3) dem bloßen Vorhersehen einer Konsequenz. Die Absicht entspricht dem Handlungselement drei des Handlungsziels. Das bloße Gewolltsein entspricht dem Handlungselement fünf des Willens zur Handlungsausführung, also dem Willen zur Verwirklichung des Mittels als subjektivem Ergebnis der Mittelauswahl im Handlungselement vier, um das Ziel zu erreichen. Die zweite Stufe des Gewollt­seins wird sowohl in der Formulierung der Doktrin vom doppelten Effekt als auch in der allgemeinen Diskussion regelmäßig vernachlässigt. Dies führt dazu, dass Gegner wie Befürworter der Doktrin vom doppelten Effekt die subjektive Komponente häufig fehlerhaft, nämlich dem Element der Absicht oder dem nur Vorhergesehenen zuordnen. So soll etwa jemand, der wissentlich und willent-

33 Frances M. Kamm, Intricate Ethics, Oxford 2007, S. 21, betont, dass auch andere Gründe als die Doktrin vom doppelten Effekt zum Verbot einer Handlung führen können. Aber mit dieser Einsicht ist nur eine Hälfte der Relativierung der Doktrin vom doppelten Effekt erfasst. Denn es kann auch Elemente geben, die eine eigentlich durch die Doktrin vom doppelten Effekt verbotene Handlung erlaubt machen, wie in der Diskussion der Fälle 4 und 6 deutlich wurde.

8. Die ethische Doktrin vom doppelten Effekt

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lich eine Folge hervorbringt, diese auch beabsichtigen.34 Oder eine eindeutig als Mittel zur Erreichung des Ziels eingesetzte Folge soll nicht gewollt, sondern nur vorausgesehen sein. Das moderne Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft sind insofern deutlich differenzierter.35 Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Ethik hinter diese Differenzierung zurückfallen sollte, die abwägungs- und damit konfliktlösungsrelevant ist. In der Sache stellt sich die Frage, wie mit derartigen nicht beabsichtigten, aber doch gewollten Folgen umgegangen werden soll. Die Doktrin vom doppelten Effekt zeigt dies ganz deutlich in ihrer dritten Bedingung. Man muss dabei voraussetzen, dass ein Mittel, das vom Akteur als notwendig für die Erreichung des Ziels erkannt und realisiert wird, auch gewollt wird, nicht jede gewollte Folge aber notwendiges Mittel ist. Sofern die schlechten Folgen Mittel zur Erreichung des Zwecks sind, ist die Handlung grundsätzlich unzulässig, sofern nicht  – wie oben in den Fällen 4 und 6 der Schicksalsgemeinschaft – zusätzliche Faktoren hinzutreten.36 Sofern die schlechten Folgen dagegen keine Mittel sind, wäre die Handlung als solche zulässig, wenn der Akteur die Folgen nicht will. Die Gesamthandlung wird also durch die subjektive Haltung des Akteurs schlecht, denn der Betroffene muss es nicht akzeptieren, dass jemand schlechte Folgen, die er zwar an sich um des guten Zwecks willen herbeiführen dürfte, nicht nur toleriert, sondern sogar weiter gehend will.

c) Einwände Gegen die Doktrin vom doppelten Effekt ist eingewandt worden, dass der bloße Unterschied in der Absicht keine unterschiedliche Bewertung der Handlung rechtfertigen könne.37 Rachels versucht dies mit Hilfe des folgenden Falls zu erläutern: Jack und Jill besuchen ihre kranke Großmutter, die bald ihr Testament verfassen wird, Jack weil er sie gern hat, Jill weil sie im Testament berücksichtigt werden will.38 Wenn beide mit dem Besuch ihrer Großmutter eine Freude bereiten, so soll man nach Rachels nicht sagen können, dass die Handlung von Jack richtig war, die von Jill jedoch falsch. Jede Handlung soll gleich bewertet werden. Die Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung ergebe sich aus den Gründen bzw. Konsequenzen, und die Absichten seien nicht Teil der 34 Vgl. Tom L. Beauchamp / James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, S. 164, und schon Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S. 20. Vgl. dagegen überzeugend Frances M. Kamm, Intricate Ethics, S. 106. 35 Vgl. § 15 StGB und Peter Cramer / Detlev Sternberg-Lieben, in: Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, 27. Aufl. München 2006, § 15, Rn 64 ff.: Es wird zwischen Absicht, Willen im Sinne sicheren Wissens, Eventualwillen und Fahrlässigkeit unterschieden. 36 Anderer Meinung ist Frances M. Kamm, Intricate Ethics, S. 100, 107. Hier soll die Doktrin vom doppelten Effekt anwendbar sein. Aber sie missachtet die Bedingung (3) des Instrumentalisierungsverbots und auch die Korrelation von Mittel und Wollen. 37 Vgl. zu dieser Frage ausführlich: Alec Walen, Intention and Permissibility. Learning from the Failure of the DDE, unveröffentlichtes Manuskript. 38 James Rachels, More Impertinent Distinctions and a Defense of Active Euthanasia, in: Bonnie Steinbock / Alastair Norcross (Hg.), Killing and Letting Die, 2. Aufl. New York 1994, S. 139–154, S. 140 f.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Gründe. Aber das ist nach den bisherigen Überlegungen nicht zutreffend. Berücksichtigt man die betroffenen Anderen, dann können und werden sich ihre Belange nicht nur auf die Handlungsausführung im engeren Sinn und die Konsequenzen richten, sondern auch auf die Absichten des Handelnden. Das Beispiel zeigt den Unterschied ganz deutlich: Die Großmutter möchte natürlich im Regelfall aus Zuneigung oder wenigstens verwandtschaftlicher Verbundenheit besucht werden und nicht aus Geldgier. Die gute Absicht macht die Handlung Jacks für sie gut, die schlechte Absicht die Handlung Jills für sie schlecht. Ihr Interesse an den Absichten von Jack und Jill ist zwar nicht allein ausschlaggebend für die Bewertung der Gesamthandlung. Es ist aber im Normalfall, der mangels weiterer Kenntnisse der Situation unsere ethische Bewertung bestimmen muss, ein wesentlicher Faktor, der nicht unberücksichtigt bleiben darf. Man kann insofern die äußere Handlung auch nicht einfach von der mit ihr verfolgten Absicht trennen, weil die Handlung nur als Ganze einschließlich der sie motivierenden Absicht verstehbar und bewertbar ist. Judith J. Thomson verweist auf eine spezifische Variante der Fälle 2 und 2a, also des strategischen und des terroristischen Bombardements, in der ein Kinderkrankenhaus neben der Munitionsfabrik liegt.39 Sie fragt, ob es für die Bewertung denn wirklich darauf ankommen soll, ob der Pilot im einen Fall die Zerstörung der Munitionsfabrik beabsichtigt und die des Kinderkrankenhauses nur voraussieht und im anderen Fall die Zerstörung des Kinderkrankenhauses beabsichtigt? Soll der Pilot wirklich entscheiden, indem er in sein Inneres und damit auf seine Absichten sieht, mit denen er die Bomben abwirft? Entscheidend sind nach Thomson nicht die Absichten, sondern die Konsequenzen. Natürlich setzt die Unterscheidung von beabsichtigten und nur vorhergesehenen Effekten voraus, dass die Divergenz in der volitiven Situation des Akteurs auch handlungswirksam werden kann, sofern dies nach den Umständen faktisch möglich ist. Es wird also vorausgesetzt, dass der Pilot im einen Fall auf die Munitionsfabrik zielt und im anderen Fall  auf das Kinderkrankenhaus. Kann sich dieses unterschiedliche „Zielen“ auch auswirken, weil der Pilot die Bomben jeweils anders platziert, so dass die Bombardierung des Kinderkrankenhauses mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz oder zum größten Teil vermieden wird, so rechtfertigt dies eine unterschiedliche Bewertung. Der Pilot darf dann die Bombardierung durchführen, wenn er nur auf die Munitionsfabrik zielt und nicht auf das Kinderkrankenhaus. Oder anders ausgedrückt: Er darf nur auf die Munitionsfabrik zielen und nicht auf das Kinderkrankenhaus. Aber was ist, wenn die Größe der Bombe und die Lage von Munitionsfabrik und Kinderkrankenhaus eine Differenzierung des „Zielens“ nicht zulassen, wenn die Bombe also in jedem Fall für den Piloten klar erkennbar die Munitionsfabrik und das Kinderkrankenhaus gleichermaßen und gleich wahrscheinlich oder fast gleich wahrscheinlich treffen wird? Auch in diesem Fall würde die unterschiedliche Absicht einen Unterschied bewirken, aber dieser Unterschied würde im Ergebnis nicht entscheidungsrelevant sein,

39 Judith J. Thomson, Self-Defense, Philosophy and Public Affairs 20 (1991), S. 283–310, S. 293.

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denn die dritte und vor allem die vierte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt wären nicht erfüllt. Die Bombardierung des Kinderkrankenhauses wäre als Mittel unzulässig und in der Abwägung der Folgen unangemessen. Hier liegt der Unterschied zum Fall 3, der Entfernung der Gebärmutter mit der sicheren Folge der Tötung des Fötus. In diesem Fall kann man – wie sich oben ergab – die dritte und vierte Bedingung der Doktrin vom doppelten Effekt bejahen, so dass es auf die gute oder schlechte Absicht des Arztes ankommt. Thomsons Gegenbeispiel überzeugt also nicht, weil es nicht klar spezifiziert, ob der Unterschied der Absicht für das Handeln überhaupt relevant werden kann. Kann der Unterschied der Absicht für das Handeln relevant werden, dann vermag er auch eine unterschiedliche ethische Bewertung zu rechtfertigen, kann er dagegen für das Handeln nicht relevant werden, dann schließen schon andere Faktoren die Zulässigkeit der Handlung aus, etwa die Instrumentalisierung der unschuldigen Opfer oder die Unangemessenheit. Man muss somit nicht auf den Vorschlag von FitzPatrick zurückgreifen, wonach es für die moralische Zulässigkeit einer typischen Gesamthandlung nicht auf die tatsächliche und damit zufällige Handlungsabsicht eines tatsächlichen und damit zufälligen Akteurs in einer speziellen Situation ankommt, sondern darauf, ob eine entsprechende Handlung grundsätzlich unter den Bedingungen der Doktrin vom doppelten Effekt rechtfertigbar ist.40 Das Problem dieses Vorschlags liegt darin, dass die tatsächliche, wenn auch in der allgemeinen Diskussion natürlich typisierte Handlungsabsicht für die Beurteilung der Gesamthandlung relevant sein muss, will man die Doktrin vom doppelten Effekt und generell die These der Pluralität der Bezugnahme der Belange auf alle Handlungsteile nicht aufgeben.

9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problem / trolley problem) Eine stärker intuitionistische, fallorientierte und die erste, zweite und dritte Bedingung der Unterscheidung von Absicht, gewolltem Mittel und bloß vorausgesehenem Effekt weitgehend außer Betracht lassende Renaissance hat die Doktrin vom doppelten Effekt und damit der berechtigte Widerstand gegen die Reduktion des Konsequentialismus und der strikt deontologischen Doktrin mit der neueren Diskussion um das sog. „Straßenbahnproblem“ (runaway-tram-problem / trolley problem) erfahren.

40 Vgl. die Zurückweisung entsprechender Einwände bei William J. FitzPatrick, Acts, Intentions, and Moral Permissibility. In Defence of the Doctrine of Double Effect, in: Analysis 63 (2003), S. 317–321.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

a) Der Ausgangsfall Der Ausgangsfall wurde bereits von Philippa Foot formuliert:41 Fall 8 (Ablenkung der Straßenbahn): Eine Straßenbahn rast mit versagenden Bremsen auf eine Gruppe von fünf Gleisarbeitern zu und würde sie bei unveränderter Weiterfahrt töten. Der Fahrer der Straßenbahn könnte die fünf Gleisarbeiter nur retten, wenn er die Bahn auf ein Neben­gleis lenkt. Auf dem Nebengleis steht allerdings ein anderer Gleisarbeiter, der dann getötet würde. In derartigen Fällen soll es nach der Auffassung einiger Autoren unsere Intuition dem Fahrer erlauben, die Straßenbahn auf das Nebengleis zu lenken, oder dies sogar gebieten.42 Um fünf Menschen zu retten, ist es also offenbar erlaubt oder sogar geboten, einen Menschen zu opfern. Dieses Prinzip wird aber durch gegenläufige Überzeugungen in folgenden Fällen relativiert: Fall  9 (Organtransplantation):43 Ein Chirurg könnte fünf sterbende Patienten mit sehr seltener Blutgruppe dann und nur dann retten, wenn er ihnen die Organe eines weiteren Patienten mit derselben Blutgruppe, der fast gesund ist und kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus steht, transplantiert. Keiner der fünf sterbenden Patienten kommt dagegen für eine Organspende in Frage, weil ihre Organe schon zu sehr beeinträchtigt sind. Kaum jemand wird bezweifeln, dass die Tötung des einen Patienten zur Rettung der anderen fünf Patienten ethisch nicht rechtfertigbar ist. Aber worin liegt der relevante Unterschied, der es erlaubt, die Fälle 8 und 9 verschieden zu bewerten, nämlich einmal so zu handeln, dass fünf Menschen überleben und ein Mensch stirbt, und ein andermal so, dass fünf Menschen sterben und ein Mensch überlebt? Der Unterschied liegt sicher nicht im spezifischen Handlungsmodus des Unterlassens oder Tuns, wie Foot annahm,44 dass man also den Gleisarbeiter im Fall 8 sterben lässt, während der Patient im Fall 9 aktiv getötet wird. Ob die Unterscheidung von Tun und Unterlassen ethisch signifikant ist, wird im Abschnitt 11 dieses Kapitels noch zu erörtern sein. Im vorliegenden Fall kann sie nicht wesentlich sein, weil der Fahrer der Straßenbahn, wenn er diese auf das Nebengleis lenkt, jedenfalls ebenso aktiv tätig wird wie der transplantierende Chirurg.45 41 Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S. 23. Vgl. daran anknüpfend: Judith J. Thomson, Killing, Letting Die, and the Trolley Problem, in: dies., Rights, Restitution and Risk. Essays in Moral Theory, Cambridge 1986, S. 78–93; dies., The Trolley Problem, in: dies., Rights, Restitution and Risk. Essays in Moral Theory, S. 94–116. Vergleichbare Fälle werden bereits lange als sog. „Weichenstellerfälle“ im Strafrecht diskutiert. 42 So Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S.  23, und Judith J. Thomson, The Trolley Problem; Frances M. Kamm, Intricate Ethics, S. 25, 92. 43 Judith J. Thomson, The Trolley Problem, S. 95. 44 Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, S. 25 ff. 45 Vgl. zu diesem Einwand gegen Foots These: Judith J. Thomson, The Trolley Problem, S. 95 ff.

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Ein Unterschied könnte jedoch darin liegen, dass der eine getötete Gleisarbeiter im Fall 8 der Ablenkung der Straßenbahn nicht als Mittel zur Rettung der fünf anderen Gleisarbeiter eingesetzt wird, während dies bei dem getöteten Patienten im Fall 9 der Transplantation der Fall ist. Dass der Patient, dessen Organe den anderen fünf Patienten eingesetzt werden, als Mittel zum Zweck der Rettung dieser anderen fünf Patienten gebraucht wird, ist nicht zu bezweifeln, denn seine Körperteile werden unmittelbar zum Ersatz versagender Organe der fünf anderen Patienten benutzt. Seine Tötung ist notwendig, um die anderen fünf Patienten zu retten. Im Fall der Ablenkung der Straßenbahn ist die Situation bezüglich des einen getöteten Gleisarbeiters zweifelhafter. Das primäre Mittel zur Rettung der fünf Gleisarbeiter ist das Umlenken des sie bedrohenden Zugs auf das andere Gleis. Ob dort noch ein weiterer Gleisarbeiter steht oder nicht, ist für die Verwirklichung des Ziels der Rettung unerheblich. Die Rettung würde auch gelingen, wenn der Gleisarbeiter nicht auf dem anderen Gleis stünde. Seine Existenz kann also ohne Schwierigkeiten hinweggedacht werden, ohne den Rettungserfolg zu gefährden. Auch nach der Doktrin vom doppelten Effekt wäre im Fall 8 der Straßenbahnablenkung die Rettung der fünf Gleisarbeiter somit erlaubt, während die Instrumentalisierung des einen Patienten im Fall 9 der Organtransplantation verboten wäre.

b) Varianten der Instrumentalisierung und die Verbindung zu einer Schicksalsgemeinschaft Aber auch im Fall 8 der Ablenkung der Straßenbahn kann man sich fragen, ob diese Lösung wirklich ethisch überzeugt. Kann es dem einen unschuldigen und an sich nicht bedrohten Gleisarbeiter wirklich zugemutet werden, sich töten zu lassen, um die Rettung der anderen fünf Gleisarbeiter zu ermöglichen? Die klassische deontologische Auffassung, wonach die Tötung Unschuldiger absolut verboten ist, würde dies verneinen. Aber selbst wenn man diese Auffassung nicht als absolutes ethisches Prinzip akzeptieren würde, bliebe ein Zweifel. Kant hätte hier vermutlich eine Instrumentalisierung des Gleisarbeiters behauptet und wäre – zumindest in der oben erwähnten strikteren Lesart – über das Standardverständnis der Doktrin vom doppelten Effekt hinausgegangen. Die Opferung des einen Gleisarbeiters zur Rettung der fünf anderen wäre also nicht zulässig. Man kann nämlich auch eine Instrumentalisierung annehmen, wenn eine Handlung zu einem anderen Zweck voraussehbar den sicheren Tod eines individualisierten Menschen verursacht (indirekte Instrumentalisierung). Worin unterscheidet sich dann aber dieser Fall  von den Fällen 1 (Selbstverteidigung gegenüber dem Einbrecher), 2 (Strategische Bombardierung der Munitionsfabrik), 3 (Rettung der Schwangeren durch Entfernung der Gebärmutter), 4 (Rettung der Schwangeren durch Tötung des im Gebärmutterhals feststeckenden Fötus), 5 (Indirekte Sterbehilfe) und 6 (Rettung der Höhlenforscher), bei denen die Opferung einer Person zur Rettung einer oder mehrerer anderer für zulässig gehalten wurde? Dazu ein weiterer Fall:

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Fall 10 (Ablenkung der Lawine): Eine Lawine geht zu Tal und rollt gleichzeitig auf eine Gruppe von sechs Bergsteigern zu, fünf am rechten Rand und einen Nachzügler am linken Rand einer Schlucht. Durch schnelles Vorschieben eines Lawinengatters könnte die Lawine von einem weiter oben stehenden siebten und letzten Bergsteiger der Gruppe so nach rechts oder links abgelenkt werden, dass statt aller sechs entweder die fünf Bergsteiger am rechten oder der eine Bergsteiger am linken Rand der Schlucht ums Leben kämen. Angesichts dieser Situation der gleichzeitigen gemeinsamen Bedrohung einer Gruppe durch ein Naturereignis wird man wohl kaum bezweifeln können, dass es zumindest zulässig, wenn nicht sogar geboten ist, die Lawine so abzulenken, dass nicht alle sechs Bergsteiger sterben, sondern nur der eine. Dabei wird der eine Bergsteiger wie im Fall  8 der Straßenbahn zwar nicht nach der engeren Interpretation der Doktrin vom doppelten Effekt als Mittel benutzt, also direkt instrumentalisiert, aber nach der strikteren Interpretation der zweiten Explikationsformel des Kategorischen Imperativs, der Zweck-Mittel-Formel, zumindest indirekt instrumentalisiert. Worin liegt der Unterschied zum Straßenbahnfall? Im Lawinenfall 10 sind alle sechs Bergsteiger in gleicher Weise, gemeinsam und gleichzeitig vom identischen Naturereignis bedroht. Sie bilden also das, was man eine „Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten“ nennen könnte. Innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten kann es zumindest dann nicht verboten sein, die Zahl der Opfer zu reduzieren, wenn die Betroffenen nicht direkt zum Mittel gemacht werden, wie etwa im folgenden, anders gelagerten Fall: Fall 11 (Kannibalismus unter Schiffbrüchigen):46 Sechs Schiffbrüchige sind bereits seit Wochen auf hoher See in ihrem Rettungsboot. Sie haben zwar Wasservorräte, werden aber verhungern, wenn sie nicht einen von ihnen töten und verspeisen. Hier besteht eine Schicksalsgemeinschaft wie im Lawinenfall. Innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft ist es nun aber wohl nicht erlaubt – wenn auch vielleicht moralisch und strafrechtlich entschuldbar – einen der Schiffbrüchigen zur Sicherung des Überlebens der anderen gegen seinen Willen zu töten und zu essen. Der Grund liegt darin, dass die anderen Todgeweihten ihn in Abweichung vom Lawinenfall direkt instrumentalisieren. Der Unterschied zwischen dem Fall  8 der Ablenkung der Straßenbahn und dem Fall 10 der Ablenkung der Lawine besteht also nicht in der Instrumentalisierung, sondern im Charakter der Schicksalsgemeinschaft. Im Fall 10 der Ablenkung der Lawine sind alle sechs durch dasselbe Naturereignis gleichzeitig und gemeinsam dem Tode geweiht, während dies im Fall  8 der Ablenkung der Straßenbahn nicht gilt. Greift der Fahrer im Fall 8 der Ablenkung der Straßenbahn nicht ein, so wird die Straßenbahn nur die fünf Arbeiter auf dem einen Gleis erfassen, nicht aber den einen Arbeiter auf dem anderen Gleis. Im Fall der Lawine ist der eine Bergsteiger am linken Rand selbst 46 Dies ist ein realer Fall, vgl. das Urteil Regina von Dudley & Stephens 14 Q. B. 273 (1884).

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todgeweiht, im Fall der Straßenbahn der eine Gleisarbeiter auf dem Nebengleis nicht, sofern das Ereignis sich so wie bisher weiter entwickelt. Der eine Gleisarbeiter auf dem Nebengleis befindet sich nur in Gefahrennähe, ist aber selbst nicht Teil der Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten. Dies wird deutlicher, wenn man den Straßenbahnfall etwas anders formuliert: Fall 8a (Ablenkung der Straßenbahn mit Fernwirkung): Der Fahrer einer Straßenbahn fährt mit versagenden Bremsen auf eine Gruppe von fünf Gleisarbeitern zu und würde sie bei unveränderter Weiterfahrt töten. Er könnte die Bahn jedoch auf ein Nebengleis lenken. Dann würde der Zug allerdings einen Prellbock durchbrechen und in einen kleinen Fluss stürzen. Während der Fahrer sich vorher durch einen Sprung aus dem Zug retten könnte, würde – was voraussehbar ist – die durch die herabstürzende Bahn verursachte Flutwelle einen Angler, der mehrere hundert Meter weiter unten am Fluss steht, mitreißen und töten. In dieser Variante ist der Angler eindeutig nicht Teil der Schicksalsgemeinschaft der Gleisarbeiter, sondern ein unbeteiligter Dritter, der durch die Ablenkung der Bahn zwar nicht direkt, aber doch indirekt instrumentalisiert würde, so dass man die Ablenkung nicht für zulässig halten wird. Man kann zusammenfassen: Die Schicksalsgemeinschaft relativiert als äußere Bedingung im Rahmen des Handlungselements eins die durch den normativen Individualismus gebotene individuelle Berücksichtigung der Individuen derart, dass – wie der Fall 10 der Ablenkung der Lawine zeigt – beim Handlungselement vier der Mittelwahl eine ansonsten verbotene indirekte Instrumentalisierung zulässig wird. Die direkte Instrumentalisierung ist aber – wie der Fall 11 des Kannibalismus unter Schiffbrüchigen erkennen lässt – auch innerhalb der Schicksalsgemeinschaft nicht zulässig. Ohne das Bestehen einer derartigen Schicksalsgemeinschaft, also einer relativierenden Bedingung im Rahmen des Handlungselements eins, ist, wie Fall 8 der Ablenkung der Straßenbahn und noch klarer Fall 8a der Ablenkung der Straßenbahn mit Fernwirkung verdeutlichen, und anders als Thomson und andere meinen, nicht einmal eine indirekte Instrumentalisierung zulässig. Hier setzt sich das an das Handlungselement vier der Mittelauswahl anknüpfende Verbot der Instrumentalisierung mangels einer Relativierung durch eine spezifische Bedingung des Handlungsteils eins durch. Die im Rahmen der Fälle zur Doktrin vom doppelten Effekts diskutierten ethisch gerecht­fertigten Handlungen sind nun alle Handlungen, bei denen auch im Rahmen des Handlungselements eins der Bedingungen der Handlung eine Besonderheit vorliegt, welche die normativ-individualistische Stellung des einzelnen Betroffenen relativiert und damit zumindest eine indirekte, wenn nicht sogar eine direkte Instrumentalisierung gestattet: Im Fall 1 der Verteidigung gegenüber dem Einbrecher hat dieser durch sein verbrecherisches Handeln die Notwehrsituation selbst als äußere Bedingung herbeigeführt, so dass er sich nicht nur eine indirekte, sondern sogar eine direkte Instrumentalisierung gefallen lassen muss.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Im Fall 2 der strategischen Bombardierung der Munitionsfabrik sind die Zivilisten zwar nicht selbst Angreifer, aber doch Teil des angreifenden Landes. Sie unterstützen durch ihre Arbeitsleistung zumindest indirekt die Kriegsfähigkeit und Kriegsführung des Angreifers. Diese Unterstützung und die dadurch herbeigeführte Gemeinschaft des kriegsführenden Staates relativiert ihre normativ-individualistische Unabhängigkeit und erlaubt zumindest ihre indirekte Instrumentalisierung. Im Fall 3 der Rettung der Schwangeren durch Entfernung der Gebärmutter führt die Schicksalsgemeinschaft der körperlichen Verschränkung von Mutter und Kind im Sinn des Handlungselements eins zur Zulässigkeit von dessen indirekter Instrumentalisierung. Im Fall  4 der Rettung der Schwangeren durch Tötung des Fötus im Gebärmutterhals ist über die bloße Schicksalsgemeinschaft hinaus das Leben der Mutter gerade durch den Fötus selbst bedroht. Dies stellt eine besondere Bedingung im Rahmen des Handlungsteils eins dar und recht­fertigt wie im Fall 1 der Selbstverteidigung gegen den Einbrecher sogar die direkte Instrumentalisierung des Fötus. Im Fall 5 der indirekten Sterbehilfe liegt die besondere Bedingung des Handlungselements eins darin, dass Veranlasser der Handlung und Betroffener identisch und damit per se in so etwas wie einer unauflöslichen Schicksalsgemeinschaft verbunden sind, welche zumindest die Selbstgefährdung des einzelnen durch sich selbst erlaubt. Im Fall 6 der Tötung des feststeckenden Höhlenforschers besteht eine Schicksalsgemeinschaft der Höhlenforscher als Todgeweihter. Dies würde wie im Fall 10 der Ablenkung der Lawine auf jeden Fall seine indirekte Instrumentalisierung zur Rettung anderer Todgeweihter erlauben. Die Tötung des sehr dicken Höhlenforschers ist nun aber nicht nur eine indirekte, sondern eine direkte Instrumentalisierung. Insofern ähnelt der Fall nicht dem Lawinenfall 10, sondern – was die Rettungshandlung anbelangt – dem Fall 11 des Kannibalismus unter Schiffbrüchigen. Warum würde man hier aber anders als im Fall 11 wohl die Opferung des feststeckenden Höhlenforschers für erlaubt halten können? Der Unterschied in den äußeren Bedingungen des Handlungselements eins besteht darin, dass im Fall 6 der Rettung der Höhlenforscher nicht nur eine Schicksalsgemeinschaft besteht, sondern dass der eine sehr dicke Mann zusätzlich eine spezifische Ursache der Bedrohung darstellt, denn allein er blockiert ja den rettenden Ausgang. Es liegen also kumulativ zwei besondere Bedingungen im Rahmen des Handlungselements eins vor, welche das Handlungselement vier relativieren: die Schicksalsgemeinschaft und die spezifische Bedrohung wie im Fall 1 der Selbstverteidigung gegen den Einbrecher und im Fall 4 der Rettung der Mutter durch Tötung des im Gebärmutterhals feststeckenden Fötus. Wie in diesen Fällen wird man deshalb hier auch die direkte Instrumentalisierung für ethisch zulässig halten müssen.

c) Weitere äußere Bedingungen Weitere äußere Bedingungen im Rahmen des Handlungselements eins können die Entscheidung beeinflussen. Thomson sieht etwa in folgendem Fall die Ablenkung der Straßenbahn von den fünf Gleisarbeitern auf ein Opfer als nicht gerechtfertigt an:

9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problem / trolley problem)

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Fall 8b (Ablenkung der Straßenbahn auf Speisende):47 Wie Fall 8 der Ablenkung der Straßenbahn, mit dem Unterschied, dass das Nebengleis ein Abstellgleis ist, das seit zehn Jahren nicht mehr benutzt wurde. Der Bürgermeister des Ortes, der auch für die Straßenbahn verantwortlich ist, hat dort Picknicktische aufstellen lassen und die Genesenden des nahen Krankenhauses zum Essen eingeladen. Er hat ihnen feierlich versprochen und garantiert, dass das Straßenbahngleis auf keinen Fall befahren wird, weil der Verkehr dort durch die Stadtwerke eingestellt wurde. Der eine Genesende hätte sich niemals an einen Tisch auf dem Gleis gesetzt, wenn der Bürgermeister diese Einladung nicht ausgesprochen und die Garantie nicht abgegeben hätte. Nun ist der Fahrer der Straßenbahn bewusstlos geworden. Darf der Bürgermeister, der an der Weiche steht, die Weiche umstellen und die Straßenbahn auf das Nebengleis lenken, um die fünf Gleisarbeiter zu retten? Selbst wenn man im Fall 8 die Ablenkung der Straßenbahn wie Thomson und andere als zulässig ansieht, wäre es im Fall 8b nicht erlaubt, den Zug abzulenken, weil hier als zusätzliche äußere Bedingung im Rahmen des Handlungselements eins ein feierliches Versprechen seitens des zuständigen Bürgermeisters gegenüber den Betroffenen abgegeben wurde. Ein solches feierliches Versprechen schließt aber die Relativierung durch eine Schicksalsgemeinschaft Todgeweihter aus. Hätte im Fall 10 der Ablenkung der Lawine der oben am Gatter stehende Bergsteiger dem einen Todgeweihten am linken Rand der Schlucht versprochen, seinen Tod unter keinen Umständen zu beeinflussen, so würde dieses Versprechen die Ablenkung der Lawine auf ihn ethisch verbieten. Das ist nicht unproblematisch, weil damit auch die Rettung der anderen Bergsteiger unterbleiben müsste. Damit könnten sich zwei zum Nachteil Anderer einigen. Im Recht gibt es ein Parallelproblem: Das Recht erklärt Verträge mit Verbindlichkeit zulasten Dritter für unzulässig.48 Man fragt sich, warum in der Ethik und Moral eine Einigung bzw. ein Versprechen zum Nachteil Anderer zulässig sein soll. Grundsätzlich gilt natürlich auch in der Ethik und Moral, dass Einigungen nicht zulasten Dritter getroffen werden dürfen. Und wenn sie getroffen werden, dann rechtfertigen sie nicht eine Handlung, die Dritte beschwert. Wenn A dem B verspricht, den C zu beleidigen, macht das die Beleidigung des C durch A nicht weniger verwerflich als ohne das Versprechen. Ein derartiges Versprechen ist im Übrigen – da auf ein erkennbar verbotenes Handeln gerichtet – sowieso nicht bindend, denn derjenige, dem das Versprechen gegeben wurde, kann nicht erwarten, dass der Versprechensgeber eine verbotene Handlung ausführt. Im Fall 8b der Ablenkung der Straßenbahn auf Speisende und der Versprechensabgabe im Lawinenfall 10 ist die Situation jedoch eine spezielle: Zum einen wird hier etwas Positives und Erlaubtes versprochen, nämlich der Schutz bzw. die Sicherung des Betroffenen. Zum anderen ist die Tötung eines Unschuldigen zur Rettung Anderer im Prinzip ohnehin unzulässig. Nur die besonderen äußeren Bedingungen der Schicksalsgemeinschaft können dieses Prinzip relativieren. 47 Judith J. Thomson, The Trolley Problem, S. 111 f. 48 Umkehrschluss aus § 328 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs. Vgl. BGH 54, 247; 58, 219; 61, 351; 78, 374 f. Grüneberg in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 68. Aufl. München 2009, Einf. vor § 328, 5c.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Im Fall 8b der Ablenkung der Straßenbahn besteht nun wie im Ausgangsfall 8 gar keine solche Schicksalsgemeinschaft. Im Fall 10 der Ablenkung der Lawine liegt zwar eine solche Schicksalsgemeinschaft vor, aber auf die durch sie herbeigeführte Relativierung des normativ-individualistischen Status des einzelnen Betroffenen darf der Handelnde als Ergebnis seiner allgemeinen Freiheit zur Lebensgestaltung vor dem unwahrscheinlichen Eintritt einer Notlage auch mit Wirkung gegenüber den Mitgliedern der Schicksalsgemeinschaft verzichten. Der Hilfsanspruch der Anderen geht nicht so weit, dass sie eine derartige individuelle Freiheit des Handelnden bzw. Sicherung eines Betroffenen nicht hinnehmen müssten, sofern sich diese Sicherung nicht direkt und bewusst gegen sie richtet. Die Sicherung durch ein solches Versprechen ist der Vorsorge durch materielle Sicherungsmittel vergleichbar. Jeder darf etwa sein Auto durch eine Wegfahrsperre besonders gegen Diebstahl sichern, selbst wenn dies in sehr seltenen Notfällen dazu führen mag, dass ein Unfallopfer durch Dritte nicht schnell genug ins Krankenhaus gebracht werden kann, weil die Wegfahrsperre die Nutzung des Autos zu diesem Zweck verhindert. Während das Versprechen gegenüber jemandem, ihn nicht zu schädigen, die einschränkende Bedingung der Schicksalsgemeinschaft relativiert, führt der gegenüber diesem Versprechen gegenteilige Akt der Einwilligung, sich im Zweifel zur Rettung Anderer schädigen zu lassen, dazu, dass auch ohne Schicksalsgemeinschaft die Opferung des Einwilligenden erlaubt ist. Hat also im Fall 8 der Ablenkung der Straßenbahn der eine Gleisarbeiter auf dem Nebengleis – aus welchen Gründen auch immer – vorher eingewilligt, in vergleichbaren Fällen sein Leben zu opfern, so ist die Ablenkung anders als im Ausgangsfall 8 ethisch erlaubt. Die Einwilligung stellt wie das Versprechen eine äußere Bedingung im Sinne des Handlungsteils eins dar, die das Verbot der Instrumentalisierung relativiert: Wer einwilligt, wird nicht instrumentalisiert.

d) Das Erfordernis der Individualisierung Fall 8 der Ablenkung der Straßenbahn ist von einem scheinbar sehr ähnlichen Fall abzugrenzen: Fall 12 (Ablenkung eines abstürzenden Flugzeugs): Die Triebwerke eines Verkehrsflugzeugs fallen aus. Es droht in ein belebtes Stadtzentrum zu stürzen. Viele Tote und Verletzte sind zu befürchten. Der Flugzeugführer könnte das Flugzeug allerdings noch in ein Industriegebiet am Stadtrand lenken, in dem nur sehr wenige Menschen leben. Hier scheint die Situation derjenigen der Ablenkung der Straßenbahn im Fall  8 zu gleichen: Eine indirekte Instrumentalisierung ist mangels weiterer relativierender Faktoren beim Handlungselement eins wie des Bestehens einer Schicksalsgemeinschaft, einer körperlichen Nähe, einer eigenen Gefahrverursachung oder einer Einwilligung unzulässig. Insbesondere besteht hier keine Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten, denn das abstürzende Flugzeug bedroht ebenso wenig die im Industriegebiet lebenden Menschen, wie im Fall 8 die Straßenbahn den einen Gleisarbeiter auf dem Nebengleis bedroht. Der

9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problem / trolley problem)

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Flugzeugführer dürfte also die wenigen Menschen im Industriegebiet prinzipiell nicht zugunsten der vielen Menschen im Stadtzentrum opfern. Die meisten würden in einem derartigen Fall aber doch zumindest eine Erlaubnis des Flugzeugführers annehmen, das Flugzeug in das Industriegebiet zu steuern. Worin liegt der Unterschied zur Ablenkung der Straßenbahn im Fall 8? Der Unterschied liegt darin, dass der Ausschluss einer Rettungshandlung wegen der Instrumentalisierung Dritter die Individualisierung dieser Dritten voraussetzt, also die Möglichkeit, die Nichterfüllung einzelner Belange einigermaßen sicher einzelnen Individuen im sozial bzw. ethisch relevanten Sinn zuzuordnen. Dieser Aspekt der Individualisierung ist eine weitere Konsequenz des Grundprinzips des normativen Individualismus. Sind die Betroffenen für den Handelnden nicht individualisiert oder zumindest nicht ohne Weiteres individualisierbar, so hat ihre Instrumentalisierung in der Abwägung ein geringeres Gewicht, weil es dann ja Beliebige treffen kann. Die Ablenkung ist dann eher eine allgemeine Risikoerhöhung. Eine derartige allgemeine Risikoerhöhung ist aber zulässig, sofern sie der Verminderung des Risikos einer signifikant größeren Anzahl anderer ethisch zu berücksichtigender Individuen dient und sofern das Gewicht der Belange in der Abwägung vergleichbar ist. Der Flugzeugführer darf also das allgemeine Risiko von den vielen Menschen im Stadtzentrum auf die wenigen Menschen im Industriegebiet ablenken, weil hier mangels Individualisierung der wenigen Betroffenen der Aspekt der Instrumentalisierung weit weniger gewichtig ist. Die Handlung des Flugzeugführers gleicht hier der Verwirklichung eines Naturereignisses. So wie jeder einem gewissen Risiko ausgesetzt ist, durch Blitzschlag umzukommen, so ist er auch dem Risiko ausgesetzt, durch Rettungshandlungen Dritter geschädigt zu werden, die der allgemeinen Risikominderung dienen und somit allen ohne Ansehen der einzelnen Person zugutekommen. Man kann dies mit der Einschränkung einiger Verkehrsregeln beim Einsatz des Blaulichts durch Rettungsfahrzeuge vergleichen. Um die Rettungschancen der Unfallopfer signifikant zu erhöhen, nimmt man in Kauf, andere unschuldige, aber nicht individualisierte Verkehrsteilnehmer durch nicht ganz ungefährliche Blaulichtfahrten etwas stärker zu gefährden. Schwierig ist aber folgender Fall 13, der nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 praktisch relevant wurde:49 Fall 13 (Abschuss des gekidnappten Flugzeugs): Terroristen haben ein Verkehrsflugzeug entführt und drohen es mitsamt seinen Passagieren in eine Stadt zu stürzen. Darf der Pilot eines Kampfjets das Verkehrsflugzeug über einem freien Feld abschießen, um die Bewohner der Stadt zu retten? Fraglich ist zunächst, ob diese Konstellation dem Fall  10 der Ablenkung der Lawine gleicht. Man könnte argumentieren, dass die Passagiere in dem Verkehrsflugzeug und die Bewohner der Stadt hier eine Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten bilden. Wie 49 In § 14 III des Luftsicherheitsgesetzes wurde der Abschuss von Verkehrsmaschinen zu derartigen Rettungszwecken erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung wegen Verstoß gegen die Menschenwürde nach Art. 1 I GG für verfassungswidrig erklärt: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 115, S. 118 f.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

im Fall 10 der Ablenkung der Lawine wäre es dann zulässig, innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft die Zahl der Getöteten zu reduzieren. Die Passagiere des Verkehrsflugzeugs werden nicht direkt instrumentalisiert, weil ihre Tötung als solche nicht für die Rettung der Bewohner der Stadt notwendig ist. Das Verkehrsflugzeug könnte auch leer sein.50 Die indirekte Instrumentalisierung wäre also wie beim Fall 10 der Ablenkung der Lawine aufgrund der Schicksalsgemeinschaft zulässig. Im Fall 13 bestehen aber drei signifikante Unterschiede zum Fall 10, welche die Zulässigkeit des Abschusses fraglich erscheinen lassen. Erstens: Die Bewohner der Stadt sind nicht individualisiert und damit nicht individuell bedroht, sondern nur abstrakt gefährdet. Die Anzahl und Identität der Todgeweihten in der Stadt steht nicht fest. Die Passagiere des Verkehrsflugzeugs sind dagegen zumindest über die Passagierlisten individualisiert und damit individuell bedroht, weil sicher ist, dass alle Passagiere im Flugzeug ums Leben kommen werden. Die Todgeweihten im Flugzeug stehen hinsichtlich Anzahl und Identität fest. Für den Piloten des Kampfflugzeugs ist diese Individualisierung allerdings nicht konkret nachvollziehbar, sondern nur abstrakt, da er ja allenfalls einige Passagiere aus der Ferne am Fenster sehen kann. Fraglich ist, ob zwei so unterschiedliche Gruppen wie die Passagiere und die Bewohner der Stadt eine einzige Schicksalsgemeinschaft der Todgeweihten bilden. Zweitens: Die Bewohner der Stadt sind bloße Opfer, während die Passagiere des Verkehrsflugzeugs zwar unfreiwillig, aber doch faktisch Teil des gefährdenden Objekts sind. Fraglich ist wieder, ob dieser Unterschied der beiden Gruppen die Zusammenfassung zu einer Schicksalsgemeinschaft ausschließt. Drittens: Der Tod der Passagiere in dem Verkehrsflugzeug hängt von menschlichen Handlungen bzw. Entscheidungen ab und ist zwar sehr wahrscheinlich, aber keinesfalls sicher. Während im Fall  10 der Lawine das Naturereignis mit naturgesetzlicher Sicherheit seinen Lauf nehmen wird, könnten sich die Flugzeugentführer in der Passagiermaschine aus welchen Gründen auch immer, etwa aus Mitleid mit den Passagieren oder Furcht vor dem eigenen Tod, noch anders entscheiden und darauf verzichten, das Flugzeug zum Absturz zu bringen. Oder sie könnten von den Passagieren in letzter Minute überwältigt werden. Alle drei Aspekte, die eine Schicksalsgemeinschaft zwischen den Passagieren und den Stadtbewohnern fragwürdig erscheinen lassen, wirken überdies kumulativ. Andererseits ist zu bedenken, dass die Passagiere selbst Teil des die Stadtbewohner bedrohenden Objekts als Ganzes sind. Dadurch wird das Verbot der Instrumentalisierung zusätzlich zum Aspekt der eventuellen Schicksalsgemeinschaft relativiert. Insofern besteht eine Parallele zum Fall  1 der Selbstverteidigung gegen den Einbrecher, zum Fall 4 der Rettung der Mutter durch Tötung des im Gebärmutterhals feststeckenden Fötus und zum Fall 6 der Rettung der Höhlenforscher. Der Fall des Abschusses des Verkehrsflugzeugs ist insofern ein echter Grenzfall, bei dem eine Qualifizierung als ethisch erlaubt oder nicht erlaubt schwierig ist. In einer

50 Damit wird hier das Sonderproblem der Piloten und Flugbegleiter des Verkehrsflugzeugs beiseitegelassen.

9. Das Straßenbahnproblem (runaway-tram problem / trolley problem)

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derartigen Pattsituation kann dann die Ethik keine Entscheidung mehr für die eine oder die andere Alternative treffen. Allerdings sollte diese offene allgemeinethische bzw. moralische Bewertung nicht zum voreiligen Schluss auf die Zulässigkeit einer rechtlichen Erlaubnis des Abschusses führen. Wie noch zu erörtern sein wird, hat das Recht spezielle Bedingungen, die es in derartigen Zweifelsfällen nicht rechtfertigen, eine generelle Ermächtigung zur Tötung Unschuldiger auszusprechen.51 Zwischen den klaren Lösungen des Verbots der Ablenkung der Straßenbahn im Fall  8 und der Erlaubnis der Ablenkung der Lawine im Fall  10 liegt auch folgende Fallkonstellation: Fall  14 (Steuerung des Lastwagens): Bei einem Lastwagen versagen auf abschüssiger Straße die Bremsen. Er rast auf eine Weggabelung zu, an welcher der Fahrer entweder nach rechts oder nach links steuern kann. Auf der Straße nach rechts stehen fünf Menschen, auf der Straße nach links stehen fünf Menschen. Sie würden jeweils durch den Lastwagen getötet werden, würde er in diese Straße gelenkt. Fall 14 unterscheidet sich von der Ablenkung der Lawine im Fall 10 dadurch, dass das drohende Ereignis alle involvierten Menschen nicht kumulativ zu Bedrohten macht, sondern nur alternativ. Wer tatsächlich von den alternativ Bedrohten getötet wird, hängt von der Entscheidung und Handlung des Lastwagenfahrers ab. Allerdings sind anders als im Fall 8 der Ablenkung der Straßenbahn alle tatsächlich bedroht, wenn auch eben nur alternativ. Man scheut sich hier im Gegensatz zum Fall 10 der Ablenkung der Lawine von „Todgeweihten“ zu sprechen, weil der Tod hier erst durch die Entscheidung und Handlung des Lastwagenfahrers herbeigeführt wird, der sich aber für die eine oder die andere Straße entscheiden muss. Im Gegensatz zum Straßenbahnfall 8 sind die Betroffenen aber Teil einer Schicksalsgemeinschaft. Sie sind jeweils unter die Notwendigkeit der Entscheidung des Lastwagenfahrers über Leben und Tod gezwungen. Der natürliche Verlauf hat hier keine eindeutige Richtung, so dass er nur die fünf Menschen auf der einen Straße oder der anderen Straße bedroht. Man wird deshalb jede Entscheidung des Lastwagenfahrers für ethisch erlaubt halten.

e) Besteht ein Gebot zur Rettung? Bisher waren vor allem Erlaubnisse Thema. Fraglich ist weiterhin, ob in einigen der erörterten Fälle nicht sogar ein Gebot zur Rettung besteht. Ein solches Gebot zur Rettung wird man in der­artigen Konfliktsituationen allenfalls unter zwei Bedingungen annehmen können: zum einen, wenn es um die Rettung Anderer geht, nicht nur um 51 Zum vergleichbaren Fall  der Frage nach staatlicher Folter: Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?, in: Wolfgang Lenzen (Hg.), Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Paderborn 2006, S. 149–172.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

die Rettung des Akteurs durch sich selbst. Anders wäre hier nur dann zu entscheiden, wenn man – was in Kapitel VIII noch zu erörtern sein wird – Pflichten gegen sich selbst annähme. Zum anderen, wenn die Abwägung völlig eindeutig ist. Vor diesem Hintergrund erscheint die Verschärfung der Erlaubtheit zur Gebotenheit allenfalls im Fall 10 der Ablenkung der Lawine gerechtfertigt: Wer hier die Anzahl der Todgeweihten nicht reduziert, handelt unethisch (dazu im folgenden Abschnitt mehr). In allen anderen Fällen geht es um mehr als um eine rein interne Reduktion der Anzahl der Todgeweihten. Nicht notwendig Todgeweihte werden entweder indirekt oder sogar direkt zur Rettung Anderer instrumentalisiert. Diese Instrumentalisierung bedeutet in jedem Fall  einen ethisch problematischen Eingriff in die Lebenssphäre Anderer und kann deshalb von Helfenden nicht ohne Weiteres erwartet werden.

10. Sollen die Zahlen zählen? Folgender Fall wurde Ausgangspunkt einer Diskussion über die Bedeutung der Anzahl geretteter Personen: Fall 15 (Verteilung eines lebensrettenden Medikaments):52 Ein Arzt könnte mit einer Dosis eines schwer zu beschaffenden Medikaments entweder fünf Patienten mit jeweils einem Fünftel der Dosis oder einen Patienten, der einen fünffachen Bedarf hat, mit der ganzen Dosis retten. Die Rettung der fünf Patienten statt des einen Patienten soll nach Meinung John Taurecks nicht schon aufgrund der größeren Anzahl, also der besseren Konsequenzen, moralisch erlaubt sein.53 Beschränkt man den Fokus in derartigen Fällen – wie dies in der Diskussion zum Teil geschieht – auf die größere oder geringere Anzahl, so reduziert man die Fragestellung auf die Konsequenzen, also auf das Handlungselement sieben. Hierfür ist kein Grund ersichtlich. Entscheidend sind vielmehr auch in derartigen Konstellationen die Belange der jeweils Betroffenen, die sich auf alle Handlungselemente beziehen können. Um dies zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, weitere Fälle zu betrachten. Fall 16 (Verteilung des Medikaments an David oder andere Patienten): wie Fall 15, aber der Arzt, der über die Vergabe des Medikaments entscheiden muss, ist mit dem einen Patienten (David) eng befreundet, während die fünf anderen Patienten Unbekannte sind. Fall 17 (Verteilung des Medikaments an sich selbst oder andere): wie Fall 15, aber der eine Patient, der das Medikament benötigt, ist der Arzt selbst. 52 Der Fall wird ebenfalls schon bei Philippa Foot, Abortion and the Doctrine of Double Effect, S. 24, erwähnt. Bekannt wurde er durch John M. Taureck, Should the Numbers Count?, Philosophy and Public Affairs 6 (1977), S. 293–316, S. 294. Vgl. die Rekonstruktion und Kritik durch Derek Parfit, Innumerate Ethics, Philosophy and Public Affairs 6 (1977), S. 285–301. 53 John M. Taureck, Should the Numbers Count?

10. Sollen die Zahlen zählen?

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Fall 18 (Rettungsschiff ):54 Der Kapitän eines Rettungsschiffs kann entweder eine kleinere Anzahl von Personen auf der Südspitze einer Insel oder eine größere Anzahl von Personen auf der Nordspitze einer Insel vor einem ausbrechenden Vulkan retten. John Taureck gesteht zu, dass der Kapitän im Fall 18 verpflichtet ist, die größere Anzahl von Personen zu retten. Dies folgt aber seiner Meinung nach nicht aus den besseren Konsequenzen der Rettungshandlung, sondern aus der besonderen Pflichtbindung des Kapitäns. Der Kapitän müsse wegen seiner spezifischen Berufspflicht als Führer eines Rettungsschiffs die größere Anzahl retten. Die Grundlage dieser Pflicht liege in der Übereinkunft, durch die er sich bereit erklärt habe, das Schiff zu führen, um Menschen zu retten. Das erscheint überzeugend. Bei der Übereinkunft handelt es sich um eine äußere Bedingung, also das Handlungselement eins. Fraglich ist aber, ob nicht jeder Kapitän jedes beliebigen anderen Schiffes ebenso handeln müsste. Im Fall  16 besteht aufgrund der Freundschaft des Arztes zu David eine spezifische Verpflichtung gegenüber dem Freund, also eine spezifische äußere Bedingung als Handlungselement eins. Der­artige spezifische äußere Bedingungen wie Übereinkünfte oder besondere Näheverhältnisse erzeugen besondere Hilfspflichten. Allerdings gelten diese selbstredend nicht absolut. Und sie schließen weder logisch noch praktisch aus, neben den äußeren Bedingungen des Hand­lungs­elements eins auch die Konsequenzen einer Handlung, also das Handlungselement sieben zu berücksichtigen. Dabei ist allerdings die Formulierung „Anzahl“ bzw. „Zahl“ irreführend. Die bloße Anzahl von Individuen oder Fakten ist ethisch natürlich irrelevant. Relevant ist allein die Abwägung zwischen den Belangen der Betroffenen, also den Belangen des Akteurs und den Belangen der von der Handlung des Akteurs betroffenen, ethisch zu berücksichtigenden Anderen. Das Interesse der von einer Handlung Betroffenen kann sich nun aber auf alle möglichen Handlungselemente richten. Die Konsequenzen können auch darunter sein. Richtet sich das Interesse nur auf die Konsequenzen, so kann dieses Interesse den Ausschlag geben. Steht jemand vor der Alternative, nichts zu tun oder ohne größere Anstrengung und Gefahr jemand anderem zu helfen, wodurch dessen Tod vermieden wird, so wird das dringende Interesse des Betroffenen, den Tod zu vermeiden, den Ausschlag geben. Was gilt nun aber in den Fällen 15 bis 18? Im Fall 18 des Rettungsschiffs ist der Kapitän in jedem Fall durch das Interesse der Betroffenen, seine Zusage zu erfüllen, gebunden. Er muss deshalb die größere Anzahl retten. Im Fall 16 der Verteilung des Medikaments an David oder andere ergibt sich aufgrund der engen Freundschaft als äußere Bedingung bzw. Handlungselement eins sowohl beim Arzt als auch bei David ein besonderes Interesse an der Hilfeleistung und damit eine besondere Pflicht des Arztes, David zu helfen. Wäre gleichzeitig nur eine einzige andere unbekannte Person zu retten, der gegenüber lediglich eine allgemeine Hilfspflicht gegenüber Unbekannten bestünde, so wäre die Entscheidung eindeutig: Das Interesse, dem Freund zu helfen, wäre sowohl beim Handelnden als auch beim 54 John M. Taureck, Should the Numbers Count?, S. 310.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Freund gewichtiger und deshalb auch die Pflicht des Handelnden. Der Arzt müsste den Freund retten und nicht den Fremden. Fraglich ist aber, was gilt, wenn es möglich ist, statt David fünf Unbekannte zu retten? Insofern ist der Grundfall 15 einfacher als der Fall 16, weil im Fall 15 der Verteilung des lebensrettenden Medikaments keine besondere Nähebeziehung zu dem einen Patienten besteht. Der Grundfall 15 soll deshalb zuerst erörtert werden. Die entscheidende Frage lautet dann, ob die Verfünffachung der Anzahl der Personen und damit die Verfünffachung der auf die rettende Hilfe gerichteten Interessen ausschlaggebend sein soll. Dabei ist die pure Anzahl, wie gesagt, per se ethisch irrelevant. Die wesentliche Frage ist auch nicht, ob die Konsequenzen zählen. Sie zählen grundsätzlich als Gegenstand, auf den sich Belange beziehen können, sind aber nicht allein ausschlaggebend, weil sich die Belange auch auf andere Elemente der ethisch problematischen Handlung beziehen können. Die entscheidende Frage lautet vielmehr, auf welche Weise die in der konkreten Situation widerstreitenden Belange hier eine Rolle spielen: Der Arzt ist von Berufs wegen zur Lebensrettung verpflichtet. Die Verabreichung des Medikaments stellt für ihn weder einen großen Aufwand noch ein Risiko dar, so dass seine Belange vernachlässigt werden können. Es stehen sich also die Belange des einen Patienten und die Belange der fünf anderen Patienten gegenüber. Fraglich ist, ob die Tatsache, dass auf der einen Seite fünf Belange von fünf Patienten stehen, ethisch relevant sein kann. Man wird diese Frage nicht beantworten können, ohne zu erwägen, was überhaupt die Grundlage derartiger Hilfeleistungspflichten ist. Die Grundlage derartiger Hilfeleistungspflichten ist – wie in Kapitel IX, 2 noch näher zu erläutern sein wird – unsere Gemeinschaft mit Anderen. Weil wir mit Anderen in Kontakt stehen – sei dieser auch noch so indirekt, etwa als Teil der Menschheit auf der Erde – sind wir verpflichtet, uns wechselseitig Hilfe zu gewähren. Die jeweiligen Belange der Anderen werden dann in konkreten Situationen nach erfolgter Abwägung zu berechtigten Belangen. Diese Belange sind nicht einfach addierbar. Andererseits stehen sie aber auch nicht völlig isoliert, sofern eine einzige Handlung bzw. die durch diese Handlung implizierte Unterlassung mehrere dieser Belange betrifft. Die Belange kommen dann zwangsläufig zueinander in eine Situation der Abwägung und Zusammenfassung. Würde man sie nicht zusammenfassen, so würde man die Individuen als Individuen nicht ernst nehmen und nicht berücksichtigen. Zunächst gilt dann, wie sich oben ergab, dass die Belange alle in grundsätzlich gleicher Weise Beachtung verdienen. Das bedeutet: Stehen sich zwei exakt gleichrangige, aber gegenläufige Belange gegenüber, so neutralisieren sie sich in der Abwägung. Deshalb gibt ein zusätzlicher Belang von nicht ganz unerheblichem Gewicht den Ausschlag. Im Fall 15 stehen sich das Interesse des einen Patienten, das Medikament zu erhalten, und das Interesse eines jeden der fünf anderen Patienten, das Medikament zu bekommen, als exakt gleichrangige, aber gegenläufige Belange gegenüber und neutralisieren sich somit wechselseitig. Stünden in der fraglichen Situation keine weiteren Belange in Rede, so könnte der Arzt beliebig wählen, wen er retten will, oder tatsächlich, wie Taureck meint, das Los entscheiden lassen. Im Fall 15 kommen aber zu den beiden sich wechselseitig neutralisierenden, exakt gleichrangigen Belangen die Belange der vier anderen Patienten aus der Gruppe der fünf Patienten hinzu. Würde der Arzt hier frei wählen, wen er retten

10. Sollen die Zahlen zählen?

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will, oder würde er das Los entscheiden lassen, so würde er die Belange der weiteren vier Patienten nicht angemessen berücksichtigen, weil sie neben dem neutralisierten Belang des fünften Patienten nicht zählen würden. Ihre angemessene Berücksichtigung entscheidet damit die Pattsituation als zusätzliche, gewichtige Belange.55 Der Arzt muss deshalb das Medikament an die fünf Patienten geben. Es gibt in derartigen tragischen Situationen auch keinen guten Grund, wie vorgeschlagen wurde,56 eine gewichtete Lotterie entscheiden zu lassen, in welcher der einzelne Patient eine Chance von einem Sechstel und die fünf Patienten eine Chance von fünf Sechsteln haben oder anders ausgedrückt, bei der jeder Patient eine Chance von einem Sechstel hat, denn wenn die Belange der vier zusätzlichen Patienten aus der Gruppe der fünf Patienten zu berücksichtigen sind, dann bedeutet dies, dass es möglich sein muss, dass sie den Ausschlag geben. Wenn sie aber den Ausschlag geben können, dann ist nicht einsehbar, warum ihre Berücksichtigung nur zu einer Chancenerhöhung und nicht zu einer Entscheidung der Pattsituation führen soll.57 Gegen die Zusammenfassung der überwiegenden Belange ist eingewandt worden, dass hier dann doch nicht die Individuen als einzelne zählen, sondern die größere Gruppe.58 Es erfolge eine Aggregation, die ähnlich wie die Maximierung des Utilitarismus die größere Anzahl der Gruppe den Ausschlag geben lasse. Aber dieser Einwand überzeugt nicht, denn man muss klar zwischen der Berücksichtigung der Interessen einer Gruppe, dem Zusammenfassungsprinzip der Maximierung der Konsequenzen und der prinzipiellen Abwägung bzw. Zusammenfassung von Belangen in einer einzigen, nicht anders lösbaren Konfliktsituation unterscheiden. Die Berücksichtigung der Interessen einer Gruppe steht hier gar nicht in Rede, weil die fünf Patienten über die Tatsache hinaus, dass sie alle in einer einzigen Situation ein ähnliches Interesse an einem Fünftel der Dosis haben, nichts verbindet. Sie können etwa alle auf unterschiedlichen Kontinenten leben und nichts voneinander wissen, so dass sie keine Gruppe bilden. Die Berücksichtigung von Interessen einer Gruppe wurde oben in Kapitel I auch als letzte Rechtfertigung ausgeschlossen. Der normative Individualismus verdient – wie sich ergab – vor einem normativen Kollektivismus den Vorzug. Die Forderung, die Belange der fünf Patienten in einer Situation der Entscheidung gleichermaßen zu berücksichtigen, konstituiert auch keine Gruppe und impliziert deshalb keinen normativen Kollektivismus, denn es ist vollkommen arbiträr, dass die unterschiedlichen, eine bestimmte Handlung recht­fertigenden Belange von mehreren Individuen geltend gemacht werden. Man denke sich folgenden Fall: 55 Vgl. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 232 ff., und Rahul Kumar, Contractualism on Saving the Many, Analysis 61 (2001), S. 165–170, zu einer kontraktualistischen Begründung, die zum selben Ergebnis kommt. 56 John Broome, Selecting People Randomly, Ethics 95 (1984), S. 38–55, der die Lösung aber nur erwähnt und nicht vertritt. Für diese Lösung: Jens Timmermann, The Individualist Lottery: How People Count, but not their Numbers, Analysis 64 (2004), S. 106–112, S. 110 ff. 57 Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 234. 58 Michael Otsuka, Scanlon and the Claims of the Many Versus the One, Analysis 60 (2000), S. 288–293, S. 291, und Jens Timmermann, The Individualist Lottery: How People Count, but not their Numbers, S. 107, 110.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Fall 19: Ein Arzt kann mit einer Dosis eines seltenen Medikaments entweder A Schmerzen ersparen und B vor einer schweren Erkältung bewahren oder C, der älter und gebrechlicher ist, vergleichbare Schmerzen wie A ersparen, ihn vor einer ähnlichen Erkältung wie B bewahren und schließlich auch noch vor dem fast sicheren Verlust eines wichtigen Körperglieds retten. Obwohl hier auf der einen Seite A und B mit ihren Belangen die größere Anzahl von Personen bilden, ist der Arzt ohne Zweifel verpflichtet, die Dosis dem C als Einzelperson zu geben, weil seine Belange zusammengenommen weit gewichtiger sind als diejenigen von A und B. Die Tatsache, dass die zusammen gewichtigeren Belange im Ausgangsfall 15 von fünf verschiedenen Individuen geltend gemacht werden, ist also für die Abwägung irrelevant. Entscheidend ist nur, dass eine der in Rede stehenden Handlungsalternativen sie gleichermaßen erfüllen kann, was sie in der Abwägung dieser Handlungsalternative mit der anderen Handlungsalternative faktisch und dann auch normativ relevant auf einer Seite der Abwägung positioniert. Mit der kollektiven Berücksichtigung der Träger dieser Belange als Gruppe größerer Anzahl hat diese Positionierung der fünf Belange auf einer Seite der Abwägung nichts zu tun. Die Abwägung zugunsten der fünf Belange der fünf Patienten impliziert auch weder einen Konsequentialismus noch eine Anerkennung des Maximierungsprinzips. Der Konsequentialismus wird durch diese Lösung nicht anerkannt, weil die anderen möglichen Handlungselemente eins bis sechs neben den Konsequenzen relevant bleiben und prinzipiell zu einer anderen Lösung führen könnten, also etwa ein vorheriges Versprechen des Arztes, die Dosis dem einen Patienten zu geben, ein Verzicht der fünf Patienten zugunsten des einen Patienten usw. Im Fall 15 sind derartige weitere Gesichtspunkte nur nicht ersichtlich. Wenn sich aber in einer Situation die relevanten Belange der zu berücksichtigenden Individuen zufällig ausschließlich auf die Konsequenzen einer Handlung, also das Handlungselement sieben richten, so fordert der normative Individualismus, diese Entscheidung der betroffenen Individuen ernst zu nehmen. Dann dürfen auch keine weiteren Handlungselemente außer den Konsequenzen Berücksichtigung finden. Der normative Individualismus postuliert einen grundsätzlichen Pluralismus der zu berücksichtigenden Handlungselemente und schließt den Konsequentialismus als allgemeines Prinzip der Beschränkung des Bezugs der Belange auf die Konsequenzen aus. Aber er fordert auch, dass die Konsequenzen grundsätzlich wie die anderen Handlungselemente zu beachten sind. Das bedeutet: Sind in einer spezifischen Situation die Belange der beteiligten Betroffenen zufällig so ausgestaltet, dass sie sich nur auf die Konsequenzen der fraglichen Handlungsalternativen richten, so verlangt er logischerweise, dass in dieser spezifischen Situation auch nur diese Belange, die sich ausschließlich auf die Konsequenzen beziehen, ausschlaggebend sein sollen. Die Abwägung der gleichartigen Belange im Rahmen der obigen Lösung impliziert im Übrigen keine Anerkennung des Maximierungsprinzips, denn es kommt nicht auf die Maximierung eines hinter den Belangen stehenden Wertes wie Lust, Freude, Wohlbefinden oder ähnliches an. Die Gewichtung und Zusammenfassung der Belange aufgrund der faktisch möglichen Handlungsalternativen stellt keine Maximierung dar.

10. Sollen die Zahlen zählen?

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Allerdings findet eine Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange statt. Wie sich im nächsten und übernächsten Kapitel noch zeigen wird, ist eine solche Abwägung bzw. Zusammenfassung auch notwendig, wenn Verpflichtungen und Wertungen ethisch gerechtfertigt werden sollen. Sie kann nicht vermieden werden, will man überhaupt zu einer rationalen Ethik gelangen und die einzelnen Individuen mit ihren Belangen gemäß dem Prinzip des normativen Individualismus berücksichtigen. Schließt man – was alle Autoren tun – aus, dass der Arzt im Fall 15 gar nichts tun darf, so muss er zu einer Entscheidung kommen, wem er das Medikament gibt. Muss er aber zu einer Entscheidung kommen, wem er das Medikament gibt, so implizieren alle vorgeschlagenen Lösungen eine Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange der in der Situation von der Entscheidung betroffenen Patienten. Wenn John Taureck zugesteht, dass der Arzt das Medikament an den einen Patienten geben müsste, sofern die fünf anderen Patienten nicht da wären, so verändern die zusätzlichen Belange der fünf anderen Patienten die normativen Anforderungen, weil nun, statt das Medikament an den einen zu geben, das Los entscheiden soll. Die Belange der fünf Patienten werden also berücksichtigt und damit im Vergleich zum Belang des einen Patienten zusammengefasst bzw. abgewogen, allerdings in einer bestimmten Art und Weise, die eine Berücksichtigung mehrerer gleichartiger Belange auf der Seite der einen Handlungsalternative ausschließt. Noch deutlicher wird die Zusammenfassung beim Vorschlag der gewichteten Lotterie. Hier wird mit der gewichteten Lotterie ein kompliziertes Verfahren angewandt, um zu einer Zusammenfassung bzw. Abwägung zu kommen. Dieses Verfahren stellt nun zwar tatsächlich neben Taurecks Nichtgewichtung und der vollen Gewichtung eine dritte, im Ergebnis dazwischen liegende Möglichkeit dar. Aber man kann diesen Vorschlag nicht mit der Behauptung recht­­fertigen, hier fände keine Abwägung bzw. Zusammenfassung der Belange statt,59 weil die beiden Handlungsalternativen mit der jeweils möglichen Befriedigung der Belange des einen Patienten auf der einen Seite oder der fünf Patienten auf der anderen Seite ja zu der Lotterie als prozeduralem Abwägungs- und Zusammenfassungsmechanismus führen. Sind aber alle drei denkbaren Lösungen – die Taurecksche nichtgewichtete Lotterie, die gewichtete Lotterie und die hier favorisierte Neutralisierung gegenläufiger Belange mit der ausschlaggebenden Berücksichtigung zusätzlicher Belange auf der einen Seite – mögliche Formen der Abwägung bzw. Zusammenfassung, dann muss man sich fragen, worin das besser begründete bzw. begründbare Prinzip der Zusammenfassung liegt. Mit den bereits erwähnten Argumenten kann dies nur das Prinzip der Neutralisierung gleicher gegenläufiger Belange mit dem Ausschlag zusätzlicher einigermaßen gewichtiger Belange auf einer Seite sein, denn nur durch dieses Prinzip werden alle in der Situation betroffenen Individuen mit ihren jeweils in Rede stehenden Belangen gleich berücksichtigt. Im Fall 17 der Verteilung des lebensrettenden Medikaments durch den Arzt an sich selbst oder die fünf Patienten gilt dagegen: Die Belange Anderer verpflichten uns, ihnen zu helfen. Aber sie verpflichten niemanden zur Selbstaufopferung, also zum Verzicht auf 59 So aber Jens Timmermann, The Individualist Lottery: How People Count, but not Their Numbers, S. 111.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

das eigene Weiterleben. Die „Gemeinschaft“, die jeder Einzelne mit sich selbst hat, ist für ihn die wichtigste aller Gemeinschaften. Ohne sie wäre sein Leben als Bedingung alles weiteren Handelns unmöglich. Er ist deshalb – zumindest wenn man sich auf eine immanente Bewertung beschränkt und religiös-transzendente Gründe ausklammert – befugt, diese „Gemeinschaft“ mit sich selbst im Fall eigener gewichtiger Belange in der Abwägung von Rettungspflichten allen Belangen und damit Pflichten gegenüber Anderen überzuordnen. Es gibt also gute Gründe, warum der Einzelne das Medikament nicht an die fünf Anderen herausgeben muss. Niemand muss sein Leben – beschränkt man sich auf eine immanente Bewertung – ohne spezifische weiter gehende Gründe für Andere opfern, denn dieses Leben ist die Bedingung aller seiner Handlungen und Belange. Nicht ausgeschlossen wird damit selbstredend die Pflicht, gewisse Gefährdungen des eigenen Lebens im gewichtigen Interesse Anderer in Kauf zu nehmen, etwa Andere zu retten, falls die Rettungshandlung zumutbar ist, oder Andere bzw. das eigene Volk im Krieg zu verteidigen. Am zweifelhaftesten ist Fall 16 der Entscheidung zwischen David und den anderen fünf Patienten. Die enge Freundschaft zwischen dem Arzt und David erzeugt gewichtige Belange auf beiden Seiten. Daraus ergibt sich eine gesteigerte Pflicht zur Hilfeleistung des Arztes gegenüber David. Würde auf der anderen Seite nur ein einziger Fremder stehen, so dürfte – wie bereits erwähnt – der Arzt das Medikament auf jeden Fall an David herausgeben, ja er müsste es aufgrund der gesteigerten Pflicht gegenüber David sogar. Aber welche Folgen hat die Tatsache der zusätzlichen Personen auf der anderen Seite? Ihre Belange müssen jeweils berücksichtigt werden. Aber wie hat die Abwägung zwischen den gesteigerten Belangen unter engen Freunden und den zusätzlichen Belangen Dritter auszusehen? Darf der Arzt seinen Freund David den fünf Unbekannten vorziehen oder muss er deren Belange höher gewichten? Diese Frage ist deshalb so schwer zu beantworten, weil hier Belange mit Bezug auf zwei verschiedene Handlungselemente im Widerstreit stehen: zum einen das Interesse an der Freundschaft als äußere Bedingung bzw. Handlungselement eins bei David, zum anderen das Interesse an den Konsequenzen der Handlung als Handlungselement sieben bei fünf Fremden. Die gesteigerte Pflicht gegenüber David wiegt grundsätzlich viele andere Pflichten gegenüber Dritten auf, weil die spezifische Gemeinschaft zwischen dem Arzt und David zu berücksichtigen ist. Aber die Lebenserhaltung ist für die meisten Menschen der wichtigste Belang und die Pflicht zur Lebenserhaltung – vorbehaltlich weiterer im übernächsten Kapitel noch zu erörternder Prinzipien – eine der wichtigsten Pflichten. Deshalb wird man annehmen müssen, dass das Interesse an der Lebenserhaltung den Vorzug vor der Erhaltung und Förderung der Freundschaft verdient. Die jeweiligen Pflichten der Lebenserhaltung gegenüber den fünf zusätzlichen Patienten sind also wichtiger als die Freundschaftspflicht. Der Arzt muss demnach die fünf Fremden retten. Sollte er sich allerdings für die Rettung Davids entscheiden, dann würde man ihn zwar nicht für gerechtfertigt halten. Aber es bietet sich an, auch in Moral und Ethik ebenso wie im deutschen Strafrecht zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung zu unterscheiden. Im Strafrecht führt die Entschuldigung dazu, dass eine Strafe unterbleibt. In der Moral ist es gerechtfertigt, auf moralische Sanktionen zu verzichten.

11. Handeln als Tun und Unterlassen

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11. Handeln als Tun und Unterlassen Von den sieben Teilen der Handlung im weiteren Sinn soll nun das sechste Element, also das Element der tatsächlichen Handlungsausführung näher untersucht werden.60 Es umfasst zwei, nicht selten für ethisch und moralisch unterschiedlich signifikant gehaltene Teilformen: Tun und Unterlassen. Einen anderen Menschen zu belügen oder zu betrügen, also durch aktives Tun bei ihm einen Irrtum hervorzurufen, wird etwa von vielen für unmoralischer gehalten, als seinen schon bestehenden Irrtum nicht aufzuklären, also durch passives Unterlassen zu perpetuieren, mag der durch die unterlassene Aufklärung erwachsende Schaden auch genauso groß oder sogar größer sein. Im Recht findet man vergleichbare Wertungen: Wer einen Nichtschwimmer in einen See stößt, damit er ertrinkt, wird in Deutschland wegen Totschlags oder Mordes mit Freiheitsentzug bis zu fünfzehn Jahren oder sogar lebenslänglicher Inhaftierung bestraft. Unterlässt er dagegen die Rettung eines schon im See Ertrinkenden, so kann er, sofern keine speziellen Hilfspflichten aus Verwandtschaft, schuldhaftem Vorverhalten oder Vertrag bestehen, allenfalls wegen unterlassener Hilfeleistung mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe belangt werden (§ 323 c StGB). Die Bestrafung wegen unterlassener Hilfeleistung setzt überdies voraus, dass die Hilfeleistung zumutbar ist, der Retter also zum Beispiel schwimmen kann und sich nicht selbst in Lebensgefahr bringt. In Österreich ist die unterlassene Hilfeleistung sogar ganz straflos. Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen ist für tatsächlich bestehende primäre Normordnungen wie Recht und Moral also außerordentlich wichtig. Aber worin liegt der Unterschied?

a) Die physische oder psychische Veränderung als Kriterium der Unterscheidung Zunächst sollte man sich klarmachen, dass die Zuordnung zu einer der beiden Kategorien in der Wahrnehmung des Alltags verschiedentlich nicht nur mit Rekurs auf eine isolierte natürliche Grundlage, das heißt rein beschreibend erfolgt. Wie jede andere Tatsache ist das Handeln vielmehr Teil umfassender faktischer Zusammenhänge und als umfassender faktischer Zusammenhang umgekehrt auch in Teile zerlegbar. Das Handeln kann folglich auf verschiedenen Abstraktionsstufen unserer Weltbeschreibung verschieden erfasst und verstanden werden. Bewegt etwa ein Unternehmer Daumen und Zeigefinger, kann das als Führen eines Stifts (Tun), Leisten einer Unterschrift (Tun), Abschluss eines Schriftstücks (Tun), Verzicht auf das Einlegen eines Rechtsmittels (Unterlassen), Nichtrealisieren einer vermögenssichernden Handlung (Unterlassen), Zulassen der Insolvenz des eigenen Unternehmens (Tun oder Unterlassen?) und Zerstörung 60 Vgl. grundsätzlich: Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995; Armin Berger, Unterlassungen. Eine philosophische Untersuchung, Paderborn 2004. Berger unterscheidet zwar auch zwischen „Handlung“ und „Handeln“ (S. 22 ff.), versteht unter „Handeln“ aber nicht nur die tatsächliche Handlungsausführung im Sinne des Elements sechs, sondern alle mentalen Elemente. „Handeln“ ist für ihn das, was wir unmittelbar tun, „Handlung“ dasjenige, was wir mit dem Tun in der Welt hervorbringen (S. 33).

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

der eigenen ökonomischen Lebensgrundlagen (Tun oder Unterlassen?) interpretiert werden. Vergisst jemand, die Herdplatte abzustellen (Unterlassen), so setzt er damit möglicherweise das Haus in Brand (Tun) und verspielt angesichts der hohen Schadensersatzforderungen seine Zukunft (Tun).61 Die Zuordnung des Alltags scheint sich also nicht nur an natürlich-beschreibenden Kriterien zu orientieren, sondern ist offenbar darauf gerichtet, bestimmte interpretative Aspekte des tatsächlichen Handelns zu berücksichtigen, die funktional und normativ wesentlich sind.62 Trotz dieser wesentlichen Einschränkung kann man davon ausgehen, dass der Differenzierung von Tun und Unterlassen auf den grundlegenderen Stufen der Handlungsbeschreibung zumindest die Überzeugung von einer natürlichen oder wenigstens naturnah inter­ pretierbaren Unterscheidung zu Grunde liegt. Arthur C. Danto hat sog. „Basishandlungen“ als Ergebnis einer möglichst weit gehenden Analyse komplexerer Handlungen identifiziert: Da wir durch ein „Handeln“ handeln können, etwa grüßen, indem wir die Hand heben, muss es auch atomares Handeln geben, dem kein weiteres Handeln zu Grunde liegt.63 Das lässt sich für die Unterscheidung von Tun und Unterlassen folgendermaßen konkretisieren: Tun erfordert entweder eine äußere Körper­bewegung oder einen inneren mentalen Akt im Sinne einer über Wünsche, Überzeugungen, Absichten, die Mittelwahl und den Handlungswillen hinausgehenden psychischen Veränderung.64 Unterlassen setzt das Fehlen der äußeren Körperbewegung oder der soeben spezifizierten inneren psychischen Veränderung voraus. Dabei sind wie beim Tun alle vorhergehenden Handlungsteile zumindest rudimentär vorhanden, also, lässt man einmal die Fahrlässigkeit als noch zu erörternde Sonderfrage beider Handlungsformen außer Betracht, der Wunsch bzw. die Überzeugung, die Absicht, die Wahl der Mittel zur Realisierung der Absicht und der Handlungswille. Beim Unterlassen wird aber als sechster Teil der Handlungsausführung der Handlungswille, also der Teil fünf, festgehalten bzw. perpetuiert. Der Handlungswille schlägt also anders als beim Tun nicht in eine äußere oder innere Veränderung um. Wer etwa einen Ertrinkenden sieht und dessen Rettung unterlässt, der hat bestimmte Wünsche und Überzeugungen, bildet eine dem Tun vergleichbare Absicht, wählt das Mittel des Nicht-ins-Wasser-Springens und fasst den entsprechenden Willen, nicht ins Wasser zu springen. Dann hält er an diesem Willen bis zum Ende der faktischen Rettungsmöglichkeit, also bis zum Verschwinden des Ertrinkenden oder bis zum Verlassen des Unglücksorts, fest. Im Fall eines inneren Akts des Unterlassens ist die Feststellung naturgemäß erheblich schwieriger als im Fall eines äußeren Tuns. Wer den Arm hebt, tut etwas äußerlich, wer 61 Vgl. zu diesem Beispiel Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 27. 62 Vgl. Armin Berger, Unterlassungen, S. 18, 160, 188, 254 ff., 302 ff., der dann aber Unterlassungen vollständig von Normen abhängig auffasst. 63 Arthur C. Danto, Analytical Philosophy of Action, Cambridge 1973, S. 28 ff. 64 Vgl. Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 34 ff., wobei Birnbacher zwar im Titel Tun und Unterlassen kontrastiert, hier aber Handeln und Unterlassen. Armin Berger, Unterlassungen, S.  15, 109 ff., 212 ff., wendet sich zwar gegen die Körperbewegung als Unterscheidungskriterium, berücksichtigt aber innere Akte nicht. Sein eigener Vorschlag der absichtlichen Verwirklichung oder Nichtverwirklichung einer Handlungsmöglichkeit (S. 110 ff.) ist zwar anders formuliert, aber in der Sache mit der hier vertretenen Ansicht vergleichbar, denn wenn „(Nicht-)Verwirklichen“ nicht nur das fünfte Element der Mittelwahl meint, dann muss es sich um das sechste Element der Handlungsausführung handeln.

11. Handeln als Tun und Unterlassen

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ihn nicht hebt, unterlässt etwas äußerlich. Wer sich eine Äußerung mit Absicht merkt, tut etwas innerlich, wer sie sich mit Absicht nicht merkt, unterlässt etwas innerlich, nämlich das Merken. Er bildet eine Absicht, wählt das Mittel des Nichtmerkens, fasst den Willen, sich die Äußerung nicht zu merken, und hält dann an diesem Entschluss so lange fest, bis die Verankerung im Gedächtnis nicht mehr möglich ist. Lag etwa in Kants berühmtem, in seinem „Gedächtnisbüchlein“ niedergelegten Entschluss „Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden!“65 ein Tun oder ein Unterlassen, wenn Kant seinen wegen Unbotmäßigkeit entlassenen Diener tatsächlich vergaß? Sein Entschluss, Lampe zu vergessen, war wohl anders als die soeben erwähnte Entscheidung, sich etwas nicht zu merken, ein Tun, denn der bereits fest im Gedächtnis verankerte Name „Lampe“ sollte aus dem Gedächtnis verbannt werden. Die Realisierung dieser Absicht setzte eine zusätzliche psychische Veränderung voraus, nämlich die Aufhebung der Verankerung des Namens „Lampe“ in Kants Gedächtnis. Ob man eine derartige Verankerung bzw. Aufhebung der Verankerung tatsächlich absichtlich bzw. willentlich herbeiführen kann, ist eine empirisch-psychologische Frage, keine philosophische. Kant glaubte offenbar daran. Und auch im Alltag sehen wir es regelmäßig nicht als sinnlos an, wenn man jemanden oder etwas vergessen will, etwa einen ehemaligen Partner oder ein schreckliches Ereignis. „Aus den Augen, aus dem Sinn.“ rät der Volks­mund zur Verwirklichung.

b) Die Bedingung der Möglichkeit Das Unterlassen hat eine weitere Eigenschaft zur Bedingung, die wir für das Tun ohne weiteres als notwendig ansehen. Jedes Tun erfordert seine Möglichkeit, und zwar nicht nur seine logische und physikalische Möglichkeit, sondern weiter gehend auch seine praktische Möglich­keit, also die Fähigkeit und Gelegenheit des Akteurs, das Tun zu realisieren.66 Das Unterlassen verlangt nun nicht nur vergleichbar dem Tun modallogisch die Möglichkeit seiner selbst, also die Möglichkeit des Unterlassens, das heißt des Nicht-Tuns, sondern darüber hinaus auch die logische, physikalische und praktische Möglichkeit des Tuns.67 Ist es jemandem etwa praktisch unmöglich, einen Ertrinkenden zu retten, weil dieser sich unerreichbar auf einem anderen Kontinent befindet, so wäre es – obwohl ihm zwar das Unterlassen möglich war – absurd anzunehmen, er hätte die Rettung unterlassen. Nur wenn er selbst am Rande des Sees steht und den Ertrinkenden faktisch retten kann, ihm also auch das Tun möglich ist, kann sein Nichtstun als Unterlassen qualifiziert werden. Was man dann in speziellen Konstellationen noch als möglich oder nicht möglich ansieht, wie strikt man also die praktischen Anforderun65 Vgl. Immanuel Kant, zitiert in Karl Vorländer, Immanuel Kants Leben, neu hg. von Rudolf Malter, Hamburg 1974, S.  201. Der in der Akademieausgabe herausgegebene handschriftliche Nachlass verzeichnet die Äußerung dagegen nicht, wohl weil sie im „Gedächtnisbüchlein“ eingetragen war. 66 Vgl. dazu Armin Berger, Unterlassungen, S. 88 ff. 67 Dies konstatiert bereits Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II, qu. 79, ad 2; Georg Henrik von Wright, Norm and Action. A Logical Inquiry, 2. Aufl. London 1971, S. 45; Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 32 f.; Walter Stree, in: Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, Vorbem. § 13, Rn. 141 ff.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

gen subjektiv und objektiv fasst, überschreitet ab einer gewissen Konkretisierungsstufe allerdings die Grenze der allgemeinen philosophischen Begriffsbildung und ist von den spezifischen Normen- und Bewertungsordnungen abhängig, die eine Normierung und Bewertung des Unterlassens aussprechen.68 Sowohl für das Tun als auch für das Unterlassen gilt also gleichermaßen die Bedingung der Möglichkeit des Tuns, wobei diese Bedingung nur für das Unterlassen eine spezifizierende Wirkung gegenüber weiteren möglichen Veränderungen in der Welt hat, weil die Klassifikation eines Handelns als Tun seine Möglichkeit, wie erwähnt, bereits modallogisch voraussetzt. Da die Möglichkeit des Tuns gleichermaßen für das Tun wie für das Unterlassen notwendig ist, kann diese Bedingung aber nicht zur Differenzierung beider Handlungsformen taugen. Tun und Unterlassen unterscheiden sich also zunächst nur in der äußeren Körperbewegung oder der zusätzlichen inneren mentalen Veränderung, die beim Unterlassen fehlen.

c) Wissen und Wollen des Handelnden Die äußere Körperbewegung oder der innere mentale Akt sind zwar notwendige Bedingungen des Tuns. Sie sind aber bereits auf einer phänomenal-begrifflichen Ebene noch nicht hinreichend, denn die Körperbewegung kann auch ein bloßer Reflex sein oder durch Naturereignisse bzw. andere Menschen herbeigeführt werden, ohne dass der Betroffene handelt. Und der innere mentale Akt kann äußerlich bewirkt werden, wie etwa ein Schreck durch einen Knall. Handeln in den Formen des Tuns und Unterlassens setzt deshalb bereits auf der phänomenal-begrifflichen Ebene ein gewisses Maß an Wissen und Wollen des Handelnden voraus. Mit diesem Erfordernis wird aber das sechste Element der Handlung im umfassenden Sinn überschritten. Das Wissen ist eine innere Bedingung im Sinne der Handlungselemente eins und zwei und das Wollen in seiner konkretisierten Form nichts anderes als das Handlungselement fünf des Handlungswillens und als Absicht bzw. Ziel das Handlungselement drei. Wissen und Wollen sind dabei in ihrer Stärke Kontinua. Und es stellt sich die Frage, wie stark Wissen und Wollen ausgeprägt sein müssen, damit man von einem Handeln sprechen kann. Zu dieser Frage wurde mit den bisherigen Überlegungen schon in abstracto eine Antwort gegeben. Aber die Gründe sollen nun noch etwas eingehender auch unter Berücksichtigung des Rechts und der Rechtswissenschaft, in denen diese Fragen eine wesentliche Rolle spielen und die deshalb eine besondere Sensibilität gegenüber den Phänomenen entwickelt haben, erläutert werden. Das Recht und die Rechtswissenschaft haben zur Frage des Wissens und Wollens beim Handeln einen großen Reichtum an Differenzierungen hervorgebracht. Allerdings 68 Vgl. zur entsprechenden Diskussion im Strafrecht etwa Bernd Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte. Zugleich ein Beitrag zur strafrechtlichen Methodenlehre, Göttingen 1971, S. 20–22, 30 ff. Schünemann setzt enger als Birnbacher keine Kenntnis aller relevanten Situationsumstände voraus; Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, Besondere Erscheinungsformen der Straftat, München 2003, § 31 II, Rn 8 ff.

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wird dabei der Kontinuitätscharakter beider Eigenschaften häufig missachtet und vor allem auf den Erfolg rekurriert, wodurch die klare Unterscheidung zwischen Handeln, das heißt dem Handlungselement sechs, und den Konsequenzen des Handelns, das heißt dem Handlungselement sieben, verwischt wird. Recht und Rechtswissenschaft unterscheiden zwischen Absicht als direktem Vorsatz 1. Grades, direktem Vorsatz 2. Grades, bedingtem Vorsatz und Fahrlässigkeit.69 Eine Absicht ist gegeben, wenn es dem Täter auf den Erfolg ankommt, sei dies auch nur ein Zwischenziel. Die Absicht entspricht also dem Handlungselement drei. Beim direkten Vorsatz 2. Grades weiß der Täter oder betrachtet es als gesichert, dass er den Tatbestand verwirklichen wird. Da er die Handlung will, will er auch deren sichere Folgen, hat also das Handlungselement fünf vollständig oder fast vollständig realisiert. Beim bedingten Vorsatz herrscht Uneinigkeit. Die deutsche Rechtsprechung folgt weitgehend der sog. „Einwilligungstheorie“. Danach ist kognitiv zunächst erforderlich, dass der Täter den Erfolgseintritt als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt. Das genügt jedoch noch nicht. Voluntativ muss er darüber hinaus den Erfolg auch „billigend in Kauf nehmen“, also seinen Eintritt hinnehmen.70 In der juristischen Literatur wird das voluntative Element dagegen von manchen abgeschwächt. Nötig soll nur sein, dass der Täter dem Erfolgseintritt gleichgültig gegenübersteht (Gleichgültigkeitstheorie).71 Andere Autoren stellen dagegen ausschließlich oder fast ausschließlich auf das kognitive Element ab. In verschiedenen Varianten soll der Täter den Eintritt des Erfolgs entweder für wahrscheinlich72 oder gar nur für möglich73 halten. Fahrlässig handelt der Täter, wenn er zwar den Erfolgseintritt voluntativ nicht will und auch nicht billigend in Kauf nimmt, aber kognitiv voraussehen konnte und sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhält.74 Problematisch ist bei diesen Abgrenzungen generell, dass nicht immer klar genug zwischen der Zuordnung von Wissen und Wollen zum Handeln im Sinne des Handlungselements sechs und zu den Konsequenzen des Handelns im Sinne des Handlungselements sieben unterschieden wird. Bei der Fahrlässigkeit will der Akteur zwar den Erfolg, also die Konsequenzen als Handlungselement sieben nicht. Aber ein zumindest minimales Wollen im Sinne eines Akzeptierens des Handelns als Handlungselement sechs ist erforderlich, sonst kann keine Handlung im umfassenden Sinn angenommen werden. Wessen Körperbewegung oder innere Veränderung nicht einmal mit einem Minimum an Wissen und Wollen, also Fahrlässigkeit, erfolgt, der kann nicht als Urheber eines Tuns gel­ten. Das bloße Wissen genügt dabei nicht. Es muss ein mindestens minimales Wollen des Tuns im Sinne eines Akzeptierens des Handelns (nicht jedoch 69 § 15 StGB. Vgl. Peter Cramer / Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 64 ff.; Tröndle-Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Aufl. München 2007, § 15, Rn. 5 ff. 70 BGH Entscheidungen in Strafsachen Bd. 7, S. 363; 21, S. 283; 36, S. 9; 46, S. 35. 71 Vgl. Peter Cramer / Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 84. 72 Z. B. Hellmuth Mayer, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Stuttgart 1967, S. 121. 73 Z. B. Rudolf Schmidhäuser, Die Grenze zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Straftat („dolus eventualis“ und „bewußte Fahrlässigkeit“), Juristische Schulung 20 (1980), S. 241–252, S. 242. 74 Peter Cramer / Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 118–127.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

des Erfolgs) hinzukommen. Reißt etwa eine Flutwelle dem badenden A den Arm mit seinem klaren Wissen, aber vollständig gegen oder ohne sein Wollen hoch, so kann man weder vorsätzliches noch fahrlässiges Handeln des A annehmen. Dem A geschieht etwas, aber er handelt nicht. Das Handlungselement sechs kann also beim Tun nicht ohne zumindest rudimentäre Wollensformen des Handlungselements fünf realisiert werden. Gilt für das Unterlassen das gleiche Erfordernis des wenigstens minimalen Wissens und Wollens?75 Oder ist ein Unterlassen ohne jegliches Wissen und Wollen der NichtKörperbewegung bzw. der inneren Nichtveränderung möglich? Bedarf es also, wie oben behauptet wurde, der kognitiven und volitiven Pendants zur Nicht-Körperbewegung oder zur inneren Nichtveränderung? Oder genügt beim Unterlassen anders als beim Tun vielleicht wenigstens das bloße Wissen als notwendige Bedingung des Handelns, ohne dass auch ein nur minimales Wollen hinzukommen müsste?76 Angenommen der A schluckt versehentlich ein tödliches Gift, das zunächst nicht zu äußeren Veränderungen führt. Der Arzt B kommt zufällig hinzu und könnte A durch ein Gegengift retten. Aber er weiß nichts von der Vergiftung des A und hat auch keinen Anhaltspunkt für eine Vergiftung, der eine Aufklärung erforderlich machen würde. Er gibt ihm deshalb das Gegengift nicht. Kann man hier behaupten, B habe es unterlassen, den A zu retten? Sicher nicht. Ohne ein handlungsrelevantes Wissen um die Situation oder um Faktoren, die eine Aufklärung erfordern, kann B die Handlungsalternative des Unterlassens nicht verwirklichen. Er hilft A zwar in diesem Fall nicht. Aber man kann nicht behaupten, er habe es „unterlassen“, ihm zu helfen. Die bloße Negation des aktiven Tuns als Handlung kann neben der Körperbewegung auch das notwendige Wissen und Wollen negieren. Das Unterlassen unterscheidet sich aber von dieser bloßen Negation des aktiven Tuns als Handlung. Dieser Unterschied liegt im Erfordernis einer zumindest minimalen Kenntnis der Situation oder zumindest der situationsrelevanten Faktoren. Man kann zwar einen ganz weiten Unterlassensbegriff ohne ein derartiges Wissen definieren,77 widerspricht damit aber zum einen unserem allgemeinen Verständnis vom Handeln als kognitiv gesteuertem Verhalten und gewinnt zum anderen auch keinen tauglichen Ansatzpunkt für primäre und sekundäre Normen, weil ohne ein wenigstens rudimentäres Wissen über die relevanten Faktoren der Situation und die Handlungsmöglichkeiten keine Normierung des Unterlassens möglich ist. Auch hier gilt der Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“ (Jenseits seines Könnens ist niemand verpflichtet). Das Strafrecht verlangt für die Begehungsweise der Fahrlässigkeit kein unmittelbares Wissen um die konkreten Umstände der Situation. Erforderlich sind aber zumindest ein abstraktes Wissen und ein Wissen um Umstände, die eine Aufklärungshandlung nahe legen.

75 Bejahend für den Vorsatz etwa Peter Cramer / Detlev Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 98; Michael Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung zur Theorie des personalen Handelns, Frankfurt a. M. 2001, S. 268. 76 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 37–42. 77 Georg Henrik von Wright, Norm and Action. A Logical Inquiry, S. 45 ff.

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Birnbacher bejaht zwar das Erfordernis des Wissens für den Unterlassensbegriff, sieht in diesem Wissen aber keine selbständige zusätzliche Bedingung, sondern lediglich einen Aspekt der psychischen Handlungsmöglichkeit des Akteurs.78 Man kann sich fragen, ob hier der Begriff der Möglichkeit zum Handeln bzw. der Fähigkeit nicht zu weit gefasst wird. Aber letztlich ist das nur eine Frage der Kategorisierung. Am sachlichen Erfordernis des zumindest rudimentären Wissens für ein Tun wie für ein Unterlassen besteht kein Zweifel. Fraglich ist nun zweitens, ob dieses wenigstens rudimentäre Wissen beim Unterlassen genügt oder ob nicht auch eine zumindest minimale Realisierung des Handlungselements fünf, also ein zumindest minimales Wollen im Sinne eines Akzeptierens hinzukommen muss, um ein Unterlassen zu bejahen. Was ist, wenn der Arzt B im soeben geschilderten Fall zwar alles in der fraglichen Situation Wesentliche weiß, also weiß, dass A das tödliche Gift geschluckt hat und durch das Gegengift gerettet werden könnte, die Rettung aber trotzdem nicht durchführt, und zwar gegen seinen Willen, wobei dies entweder geschieht, a) weil ihn ein Anderer physisch daran hindert, oder b) weil er von einem Anderen in ein wichtiges Gespräch verwickelt wird? Kann man in diesem Fall annehmen, dass B die Rettung unterlassen hat? Im Fall a) der physischen Hinderung durch einen Anderen ist schon die oben erwähnte grundsätzliche Bedingung der Möglichkeit des Tuns zu verneinen. Es kommt also gar nicht darauf an, dass die Nichtinjektion des Gegengiftes ohne oder gegen seinen Willen geschieht. In keinem Fall liegt ein Unterlassen vor. Im Fall b) hat der Arzt B dagegen die Möglichkeit, dem A das Gegengift zu verabreichen, also das Erforderliche zu tun. Aber er ist so in das wichtige Gespräch vertieft, dass er die Injektion des Gegengifts versäumt, obwohl er – wie er hinterher beteuert – A retten wollte. Man kann natürlich fragen, ob der Arzt B A wirklich retten wollte, wenn er die Rettung trotz prinzipieller Möglichkeit wegen eines bloßen Gesprächs mit einem Dritten nicht ausführt. Dies ist besonders zweifelhaft, wenn B weiß, dass die Rettung nur noch kurze Zeit möglich sein wird, also Eile geboten ist. Hat B zwei Handlungsmöglichkeiten, nämlich die Rettung und das Gespräch und wählt er das Gespräch im vollen Bewusstsein der Rettungsmöglichkeit, so ist kaum vorstellbar, dass er das Nicht-Tun der Rettung nicht akzeptiert. Sind also die bisherigen drei spezifischen Anforderungen an das Unterlassen – das Nicht-Tun, das heißt die Nicht-Körperbewegung bzw. Nicht-Änderung des zusätzlichen inneren Zustands, die Möglichkeit des Unterlassens und Tuns und das wenigstens rudimentäre Wissen um die relevanten Aspekte der Situation – verwirklicht, so sind kaum realistische Fälle denkbar, in denen man nicht davon ausgehen kann, dass der fragliche Akteur das Nicht-Tun zumindest in einem sehr schwachen Sinn akzeptiert, also zumindest ein rudimentäres Wollen im Sinne des Handlungselements fünf des Handlungsentschlusses hat. Die menschliche Psyche ist jedoch vielfach widerspruchsvoll. Und es ist nicht auszuschließen, dass der Arzt in der geschilderten Situation tatsächlich glaubhaft beteuern kann, dass er den A retten wollte. Man kann nun diese Beteuerung bezweifeln und im Rahmen der strafrechtlichen Bewertung zumindest ein Akzeptieren der Nichtrettung vermuten.

78 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 37 ff.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Aber beides, Bs Beteuerung und die strafrechtliche Bewertung des vorsätzlichen Unterlassens zeigen, dass auch das Unterlassen in gleicher Weise wie das Tun ein zumindest rudimentäres Wollen im Sinne eines Akzeptierens des Unterlassens voraussetzt. Auch beim Unterlassen kann also das Handlungselement fünf des Wollens nicht ganz wegfallen. Man kann dieses Ergebnis auch theoretisch rechtfertigen: Die einzelnen Elemente der Handlung können nur dann zur Handlung als Ganzer beitragen, wenn sie nicht vollständig von der Natur oder anderen Menschen bestimmt werden. Ein Verhalten, das reflexhaft oder gänzlich von anderen bestimmt abläuft, ist kein Tun und damit kein tatsächliches Handeln als taugliches Element sechs der Handlung im weiteren Sinn. Für ein Unterlassen ist nicht einsehbar, warum diese Anforderung schwächer ausfallen sollte, warum also ein bloß reflexhaftes oder gänzlich von anderen bestimmtes Nicht-Tun zur Konstitution des Unterlassens als eine Form des Handelns im Sinne des Handlungselements sechs ausreichen sollte. Man könnte nun argumentieren, dass die soeben aufgestellten Bedingungen ja nur für die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen auf der Basisebene des natürlichen Handelns tauglich seien, während auf abstrakteren Ebenen der Handlungskategorisierung die zu Beginn dieses Abschnitts erwähnte normativ geleitete Pluralität der Verständnisse eines Geschehens herrsche. Aber es gibt gute Gründe, auch für die übergeordneten Ebenen eine gewisse Einschränkung der normativen Zuordnung zu den Handlungsalternativen Tun und Unterlassen anzunehmen. Zum Ersten bleibt die soeben erläuterte Differenzierung auf der Basisebene auch nicht ohne Bedeutung für die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen auf abstrak­teren Ebenen, da die Basisebene einschränkend bzw. bestimmend wirkt. Besteht etwa auf der Basisebene ein Tun, so kann nur eine starke Determination auf einer abstrakteren Ebene zur Bewertung als Unterlassen führen. Zum Zweiten liefert die Einbettung des tatsächlichen Handelns als sechstes Element der sieben Handlungselemente Unterscheidungskriterien. Beim obigen Beispiel stellt sich etwa die Frage, ob der Handelnde die Absicht hatte, die eigene Insolvenz herbeizuführen und sein Leben zu ruinieren oder ob er zumindest fahrlässig gehandelt hat, wie also die Handlungselemente drei und fünf verfasst sind. Hat er etwa Frau und Kinder, die er versorgen muss, so sind die beiden abstraktesten Handlungsebenen ethisch und moralisch bedeutsam, sonst nicht. Der Verzicht auf das Rechtsmittel kann auch aus anderen Gründen ethisch relevant sein, etwa wenn er mit Alleinver­tretungsmacht ausgestattet war und dem Mitinhaber seines Unternehmens die Einlegung des Rechtsmittels versprochen hatte. Dann würde die Bedingung des Versprechens, also ein wichtiger Aspekt des Handlungselements eins, zur Relevanz einer bestimmten Beschreibungsebene des Handelns, also des Handlungselements sechs führen, nämlich der Relevanz des Handelns als Unterlassen der Rechtsmittelverfolgung. Zum Dritten sind alle sieben Teile der Handlung im weiten Sinn nur insofern moralisch wesentlich, als sich Belange anderer Betroffener auf sie beziehen. Dies gilt natürlich auch für die verschiedenen möglichen Beschreibungsebenen des Handelns. Für die Frau und die Kinder des Unternehmers ist es moralisch nicht relevant, dass er seinen Daumen und Zeigefinger bewegt oder ein Schriftstück unterzeichnet. Moralisch relevant sind

11. Handeln als Tun und Unterlassen

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für sie die Insolvenz des Unternehmens und damit der Verlust ihrer ökonomischen Lebensgrundlage. Für den Kompagnon ist dagegen der Bruch des Versprechens durch den Rechtsmittelverzicht und die Insolvenz des Unternehmens relevant, nicht aber – sofern es sich nicht um einen Freund oder Verwandten handelt – der Verlust der wirtschaftlichen Basis seines Partners als Individualperson. In der strafrechtlichen Literatur ist umstritten, ob nur die Körperbewegung,79 der Energieeinsatz,80 die Kausalität81 oder eine Kombination dieser Aspekte82 bei der Bestimmung der Handlungsmodalität wesentlich sein sollen. Die These der Pluralität der Handlungselemente stützt hier die Berücksichtigung aller möglichen Anknüpfungspunkte und – auf einer zweiten Stufe und erweitert um normative Gesichtspunkte – die Auffassung der Rechtsprechung, die zur Abgrenzung bei normativer Betrachtung und unter Berücksichtigung des sozialen Handlungssinns danach fragt, wo der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens liegt.83

d) Das Verhältnis zu den Folgen Zweifelhaft und umstritten sind beim Unterlassen nicht nur das Verhältnis des Handlungselements sechs zu den Handlungselementen eins, zwei sowie drei und fünf, sondern auch das Verhältnis zum Handlungselement sieben, also das Verhältnis zu den Folgen des Handelns. Das Tun erzeugt derartige Folgen im Normalfall kausal.84 Worin kann dann eine Art Kausalität oder Quasikausalität des Unterlassens liegen?85 Für eine Antwort sind zwei Einsichten wesentlich. Einerseits wirkt das Unterlassen mangels äußerer Körperbewegung oder inneren, mentalen Akts auf der Ebene der fundamentalsten Beschreibung tatsächlich nicht in gleicher Weise natürlich-kausal im Sinne einer

79 Karl Heinz Gössel, Zur Lehre vom Unterlassungsdelikt, ZStW 96 (1984), S. 321–335, S. 326 ff. 80 Joerg Brammsen, Tun oder Unterlassen? Die Bestimmung der strafrechtlichen Verhaltensformen, Goltdammer’s Archiv (GA) 149 (2002), S. 193–213, S. 200 ff.; Karl Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, Tübingen 1931, S. 29 ff.; ders., Tun und Unterlassen, in: Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag, hg. von Karl Lackner u. a., Berlin 1973, S. 163–196, S. 170 ff. 81 Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31, Rn 78 ff.; Erich Samson, Begehung und Unterlassung, in: Festschrift für Hans Welzel, hg. von Günther Stratenwerth u. a., Berlin 1974, S. 579–603, S. 587 ff. 82 Gunnar Duttge, in: Münchener-Kommentar zum Strafgesetzbuch, München 2003, § 15, Rn. 207; Rolf D. Herzberg, Die Differenz zwischen Unterlassen und Handeln im Strafrecht, in: Stefan Machura (Hg.), Recht-Gesellschaft-Kommunikation, Festschrift für Klaus F. Röhl, Baden-Baden 2003, S.  270–286, S. 282, 284. 83 BGH Entscheidungen in Strafsachen Bd. 6, S. 46, S. 59; 40, S. 257, S. 265 f.; BGH, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 1999, S. 607. Kristian F. Stoffers, Die Formel „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen?, Berlin 1992. 84 Es stellt sich aber natürlich die Frage, was darunter zu verstehen ist. Ich lasse probabilistische Deutungen außer Betracht. 85 Vgl. dazu: H. L. A. Hart / A. M. Honoré, Causation in the Law, 2. Aufl. Oxford 1985; Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 65 ff.; Armin Berger, Unterlassungen, S. 165–188.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

­ nergie- bzw. Bewegungsübertragung wie das Tun.86 Andererseits bewertet die AlltagsE auffassung das Unterlassen wie das Tun ohne weitere Zweifel als ursächlich. Die schuldhaft unterlassene Unwetterwarnung wird etwa als ursächlich für das Schiffsunglück angesehen, die unterlassene Aufsicht der Eltern als ursächlich für den Sturz des Kindes vom Balkon. Aber wie kann diese Diskrepanz zwischen natürlich-kausaler Beschreibung und alltäglicher Beurteilung erklärt und gerechtfertigt werden? Birnbacher hat einen erweiterten Kausalitätsbegriff vorgeschlagen, bei dem nicht nur positive Ursachen und Randbedingungen, sondern auch negative Randbedingungen wie das Unterlassen im Rahmen einer für ein Wirkungsereignis w hinreichenden Gesamtursache als notwendig angesehen werden.87 Danach sind Kausalfaktoren alle Komponenten von kausal hinreichenden Gesamtursachen, die für sich genommen für das Wirkungsereignis w nicht kausal hinreichend, aber in dem Sinne nicht-redundant sind, dass sie aus der Gesamtursache nicht herausgekürzt werden können, ohne ihr den kausal hinreichenden Charakter zu nehmen. Das Unterlassen, den Ertrinkenden aus dem See zu ziehen, ist in diesem Sinne im Rahmen der hinreichenden Gesamtursache, die zum Ertrinken führt, eine nicht-redundante Bedingung, denn wenn der Ertrinkende aus dem Wasser gezogen worden wäre, so wäre das Wirkungsereignis w des Ertrinkens nicht eingetreten und die anderen Kausalfaktoren wären im Rahmen des Gesamtgeschehens nicht hinreichend gewesen. Man kann den Kausalitätsbegriff natürlich in diesem weiten Sinn verstehen, muss sich aber klar vor Augen führen, dass derartige nicht-redundante, negative Randbedingungen sich von einer Kausalität im engeren Sinn einer Energie- bzw. Bewegungsübertragung fundamental unterscheiden. Fasst man den Kausalbegriff in einem derart weiten Sinn der nicht-re­dun­danten und zusammen hinreichenden Bedingungen, so bezieht man sich nicht mehr auf eine natürliche Realität, die durch äußere Körperbewegungen und innere mentale Akte zumindest beeinflusst wird, sondern nur noch auf die abstrakten modallogischen Kategorien der notwendigen bzw. hinreichenden Bedingungen. Diese Erweiterung des Kausalbegriffs lässt die Differenz in der enger verstandenen Wirksamkeit von Tun und Unterlassen verblassen. Zur Klarstellung der unterschiedlichen Begriffsverständnisse erscheint es sinnvoll, dann nicht mehr von Kausalität, sondern von „Quasikausalität“ oder von „Zurechnung“ zu sprechen. Für die normativ-ethische Relevanz des Unterlassens ist es sekundär, ob man es im Sinne aller notwendigen Elemente einer hinreichenden Gesamtbedingung für vergleich86 Vgl. Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S.  66 ff., zu einer überzeugenden Kritik aller Versuche einer Angleichung. Arthur Kaufmann, Die Bedeutung hypothetischer Erfolgsursachen im Strafrecht, in: Paul Bockelmann (Hg.), Festschrift für Eberhardt Schmidt zum 70. Geburtstag, Göttingen 1961, S. 200–231. 87 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 73–79, v. a. 77 f. Das strafrechtliche Pendant zu dieser Auffassung ist die Lehre von der Kausalität als „gesetzmäßiger Bedingung“. Vgl. Karl Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, S. 29 ff.; Ingeborg Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 92 (1980), S. 863–911, S.  895 ff., 899 ff.; Eric Hilgendorf, Fragen der Kausalität bei Gremienentscheidungen am Beispiel des Lederspray-Urteils, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 14 (1994), S. 561–566, S. 564; Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 V, Rn. 42, S. 640.

11. Handeln als Tun und Unterlassen

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bar kausal hält. Ausreichend für die normativ-ethische Relevanz ist, dass die Verhinderung der Folgen bzw. Zustände für den fraglichen Akteur möglich war und ihm eine Pflicht zur Verhinderung eben dieser Folgen bzw. Zustände oblag. Praktisch bedeutsam ist allerdings, wie hoch die Verhinderungschance des Akteurs gewesen sein muss. Die deutsche Rechtsprechung fordert für das Strafrecht nach wie vor eine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, während für manche Autoren schon eine Risikominderung genügt.88 Birnbacher hat neben den Handlungsformen des Tuns und Unterlassens noch eine komplexere Handlungsform des „Geschehenlassens“ vorgeschlagen.89 Damit sollen Unterlassungen bezeichnet werden, welche die Rolle von Ursachen oder Teilursachen ethisch relevanter Güter oder Übel spielen. Entscheidend sei nicht, dass A es unterlasse, ins Wasser zu springen, sondern dass der Ertrinkende B nicht gerettet werde. Der Begriff des „Geschehenlassens“ lenkt den Blick also vor allem auf die Konsequenzen des Unterlassens. Dabei soll es dann aber auch ein Geschehenlassen durch Handeln geben, etwa das Abstellen des Beatmungsgeräts durch den Arzt. Ein solches Geschehenlassen des A liegt nach Birnbacher immer dann vor, wenn das Handeln eine von A oder einem Anderen initiierte Handlungskette beendet, die ein andernfalls wahrscheinliches Ereignis verhindert, das nicht seinerseits von A verursacht ist, und das Ereignis daraufhin eintritt.90 Dieser Vorschlag begegnet mehreren Bedenken: Das Alltagsverständnis unterscheidet nicht trennscharf oder auch nur vage zwischen den Begriffen des Unterlassens und des Geschehenlassens. Das würde zwar noch nicht dagegen sprechen, eine solche neue Unterscheidung durch die normative Ethik vorzuschlagen. Aber ein Problem liegt darin, dass der Begriff des Geschehenlassens nicht mehr derart natürlich ist wie die Begriffe des Tuns und Unterlassens. Er operiert schon auf einer abstrakt-theoretischen, stärker normativ bestimmten Ebene, suggeriert aber eine faktische Differenzierung auf derselben Ebene wie Tun und Unterlassen. Im Übrigen ist die besondere Beachtung der Folgen bereits Ausfluss einer bestimmten ethischen Theorie, nämlich der Theorie des Konsequentialismus. Der Begriff ist also schon in starkem Maß theoriebestimmt. Lehnt man wie hier den Konsequentialismus ab und hält man eine grundsätzlich gleiche Berücksichtigung der Handlungselemente im Rahmen einer ethischen Theorie für geboten, so entfällt ein wesentlicher Grund, die Einführung dieses konsequentialistischen Be­griffs zu befürworten. Das hindert nicht daran, in bestimmten Fällen, etwa einer unrettbar tödlichen Krankheit, dem natürlichen Ablauf der Ereignisse eine besondere Bedeutung bei der Bewertung zuzubilligen, so dass die Nichteinleitung oder der Abbruch der Behandlung wertungsmäßig kaum von der handlungstheoretischen Alternative Tun oder Unterlassen abhängen (vgl. Kapitel XIV, 2). Aber diese Wertung sollte als solche deutlich bleiben und nicht durch Einführung einer weiteren, scheinbar ebenso natürlichen Handlungskategorie verschleiert werden.

88 Wilhelm Gallas, Studien zum Unterlassungsdelikt, Heidelberg 1989, S. 24 ff.; Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 V, Rn. 46 ff., S. 642 ff. 89 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 100 ff. 90 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 114.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

Neben den erörterten Handlungselementen eins, drei, fünf und sieben sind natürlich alle weiteren Handlungsteile, die beim Tun beteiligt sind, auch beim Unterlassen zu berücksichtigen. Wie dem Tun liegen etwa auch dem Unterlassen regelmäßig bestimmte Wünsche im Sinne des Handlungselements zwei zu Grunde. Und sofern mit dem Handeln ein bestimmtes Ziel verfolgt wird, muss auch beim Unterlassen eine ZweckMittelauswahl im Sinne des Handlungselements vier erfolgen. Dabei können gleichzeitig Formen des Tuns und des Unterlassens als mögliche Mittel zur Erreichung des Ziels in Erwägung gezogen werden. Wer etwa das Ziel hat, seinem Partner zu verdeutlichen, dass er manche seiner Verhaltensweisen missbilligt, kann entweder das Mittel einer deutlichen Erklärung, also eines Tuns, oder das Mittel eines weniger deutlichen Unterlassens einzelner Aufmerksamkeiten wählen. Beide Mittel haben Vor- und Nachteile. Das Tun ist eindeutiger, aber auch verletzender und konfliktträchtiger. Das Unterlassen ist weniger eindeutig, aber auch weniger verletzend und weniger kon­fliktträchtig, weil dem Anderen keine expliziten Vorhaltungen gemacht werden. Zusammenfassend wird man also davon ausgehen können, dass wie beim Tun auch beim Unterlassen regelmäßig alle anderen Handlungselemente verwirklicht sind, sofern sie nicht wegen des speziellen Charakters der Handlung aus- oder zusammenfallen. Es ist also irreführend, das Unterlassen als „Nichts“ oder als „Nicht-Tun“ zu charakterisieren.91 Das Unterlassen ist vielmehr prinzipiell eine Handlung im weiteren Sinn mit all den sieben Elementen der normalen Handlung im weiteren Sinn, von denen die Elemente eins bis fünf sowie sieben denen des Tuns grundsätzlich gleichen, während das Element sechs verändert ist, aber im Zusammenhang der Gesamthandlung auch nicht als völlig fehlend angesehen werden kann, da sich die kognitiven Elemente eins, zwei, drei und fünf auf es beziehen. Nicht unerwähnt bleiben soll zum Abschluss dieser Erörterung des Unterlassensbegriffs, dass einzelne Normordnungen weitere Erfordernisse an das Unterlassen statuieren können und das auch faktisch tun. So soll im deutschen Recht etwa eine Handlungserwartung als notwendige Voraussetzung des Unterlassens anzunehmen sein.92 Hierbei handelt es sich aber nicht mehr um allgemeine phänomenologisch-begriffliche Voraussetzungen der jeweiligen Handlungsform, sondern um zusätzliche normative Anforderungen der Interpretation einzelner kontingenter Normensysteme. Diese zusätzlichen Anforderungen können systemintern ethisch gerechtfertigt sein oder auch nicht. Sie stellen aber keine notwendigen Merkmale des allgemeinen Unterlassungsbegriffs dar und müssen deshalb der Erörterung einzelner Bereichsethiken überlassen bleiben.

91 Im zweiten Sinn: Gustav Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, Berlin 1904, S. 140 ff.; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, Göttingen 1959, S. 87 ff.; Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung, 11. Aufl. Berlin 1969, S. 203. Dagegen Bernd Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte. Zugleich ein Beitrag zur strafrechtlichen Methodenlehre, S.  12. Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 II, Rn. 3, S. 628. 92 Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 I, Rn. 6, S. 629.

11. Handeln als Tun und Unterlassen

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e) Die Frage nach der ethischen Signifikanz der Unterscheidung Nachdem Tun und Unterlassen nun zumindest auf einer Basisebene phänomenal unterschieden wurden, stellt sich die Frage, ob sie auch ethisch und dann auch moralisch und rechtlich grundsätzlich unterschiedlich zu bewerten sind93 oder ob die sog. „Äquivalenzthese von Tun und Unterlassen“ akzeptabel ist, wonach es keine grundsätzliche Rechtfertigung für eine normative Differenzierung gibt. Für den Akteur können die Handlungselemente eins bis drei als Ausdruck seiner Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele, also seiner Belange, in grundsätzlich gleicher Weise zu einem Unterlassen wie zu einem Tun führen. Für den von der Handlung des Akteurs betroffenen Anderen gilt, dass sich seine Belange nicht nur grundsätzlich gleich auf alle sieben Handlungselemente des Akteurs, sondern auch gleichermaßen auf die beiden Alternativen im Rahmen des Elements sechs, also auf Tun und Unterlassen, richten können. Dabei ist die Differenzierung des Bezugs auf Tun und Unterlassen allerdings in einem konkreten Konflikt grundsätzlich nur von partieller Relevanz, weil sich die Belange des Anderen prinzipiell nicht nur auf das Element sechs, sondern auf alle Handlungselemente richten (können). Ein potentielles Opfer will – wie sich oben ergab  – nicht nur vermeiden, dass A es aktiv tötet, sondern auch, dass A dies plant, die Mittel dazu auswählt, einen Tötungswillen fasst und dann das Ergebnis des Todes herbeiführt. Ebenso will das potentielle Opfer nicht nur, dass A es aus der Todesgefahr rettet, sondern auch, dass er die Absicht ausprägt, es zu retten, dass er die Mittel dazu auswählt, dass er den konkreten Rettungswillen fasst und schließlich den Erfolg der Rettung herbeiführt. Das bedeutet, dass die Unterscheidung von Tun und Unterlassen allenfalls dort besonders relevant sein kann, wo das Handlungselement sechs in seinen beiden unterschiedlichen Modi selbst besonders relevant ist. Bedeutet dies, dass das Tun gegenüber dem Unterlassen nicht als solches, sondern allenfalls wegen einer faktisch höheren Bedrohungswahrnehmung aufgrund der äußeren Körperbewegung oder der inneren Veränderung eine strengere Bewertung verdient?94 Oder haben die tatsächlich feststellbaren Unterschiede in der äußeren Körperbewegung und im inneren, mentalen Akt, also im Element sechs, und dann als Folge im Element sieben, also der Kausalität im engeren Sinn einer Energie- bzw. Bewegungsübertragung, eine grundsätzliche ethische Signifikanz? Eine solche grundsätzliche ethische Signifikanz ist auf einer sehr fundamentalen Ebene in einer bestimmten nicht ganz marginalen, aber auch nicht sehr prinzipiellen Hinsicht zu kon­statieren, ohne als Grundlage für eine alles entscheidende oder auch nur sehr tief greifende Differenzierung der normativen Bewertung zu taugen. Trifft der normative Individualismus zu, dann stehen sich in den potentiellen Konflikten individueller Belange, deren Lösung durch primäre Normen 93 Im Strafrecht wurde dieser Unterschied von einigen Autoren sogar zu einem „Umkehrprinzip“ gesteigert, wonach das Tun das komplette Gegenteil des Unterlassens sein soll. Vgl. Armin Kaufmann, Die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, S. 87 ff.; Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung, S. 203. Die weit überwiegende Auffassung lehnt diese Zuspitzung heute jedoch zu Recht ab. Vgl. etwa Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. II, § 31 I, Rn. 3, S. 628. 94 So Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 127, 200–212, 231 ff.

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III. Die sieben Teile der Handlung, auf die sich die Belange beziehen

die Ethik zu beurteilen hat, letztlich zwei oder mehrere Individuen gegenüber. Diese Individuen konstituieren durch ihre Belange mit Wirkung für sich und für alle anderen Räume der Betroffenheit um sich. Die primären und sekundären Normordnungen von Moral und Recht versuchen, faire Grenzen zwischen diesen Räumen der Betroffenheit zu ziehen. Die äußere Körperbewegung des Tuns kann nun im engeren Sinne der Kausalität, also im Sinne einer Energie- bzw. Bewegungsübertragung, diese Grenze der Betroffenheitsräume zwischen den ethisch zu berücksichtigenden Individuen ohne weitere normative Pflichten eher rein faktisch überschreiten, als dies das Unterlassen kann. Für die Überschreitung dieser Grenze zwischen den Betroffenheitsräumen durch Unterlassen muss immer eine Handlungspflicht normiert werden, die von zusätzlichen Bedingungen abhängt und durch unterschiedliche Normensysteme unterschiedlich ausgestaltet werden kann. Wenn Ethik, Moral und Recht das Ziel der Vermittlung zwischen möglichen widerstreitenden Belangen haben, dann wird dieses Ziel durch aktives Tun also tendenziell eher gefährdet als durch Unterlassen. Insofern erscheint das Tun gegenüber dem Unterlassen prinzipiell ethisch gefahrvoller, weil konfliktträchtiger. Entsprechende prinzipielle Differenzierungen im Rahmen der abstrakten Regeln einzelner Normensysteme wie im Strafrecht sind also gerechtfertigt. Diese Differenzierungen beruhen aber lediglich auf einer grundsätzlichen Tendenz. Im konkreten Fall bzw. in konkretisierten Konflikttypen kann das Unterlassen natürlich einer viel stärkeren Bewertung und Verpflichtung unterliegen als das Tun. Das Gebot, einem Verhungernden Nahrung zu geben, um sein Leben zu retten, ist selbstredend ethisch erheblich gewichtiger als das Verbot, ihn zu beleidigen. Entsprechend ist die schärfere Sanktionierung des Unterlassens, den Verhungernden zu retten, die zumindest Personen mit einer direkten Garantenpflicht – etwa Verwandte – trifft, gerechtfertigt. Diese abstrakte Bewertung der ethischen Signifikanz von Tun und Unterlassen bedarf allerdings sofort der Qualifizierung. Man kann feststellen, dass die Unterscheidung von Tun und Unterlassen in Fällen verschiedener sozialer Distanz unterschiedlich bedeutsam ist.95 Im absoluten Nahbereich zwischen Personen, also etwa zwischen Mutter und Kind, und im absoluten Fernbereich, also etwa zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen und Generationen ohne persönliche Bekanntschaft, spielt die Unterscheidung allenfalls eine geringe Rolle. Nur im mittleren Entfernungsbereich des Verhältnisses zwischen Bekannten, Anwesenden sowie Mitgliedern von Gemeinschaften lässt sich eine größere Signifikanz konstatieren. Diese Differenzierung kann gut mit Hilfe der Unterscheidung zwischen den sieben Elementen der Handlung erklärt werden: In Nähebeziehungen spielen ein bestimmter Aspekt des Handlungselements eins, eben die Nähebeziehung als äußere Bedingung, und die Bezugnahme der Belange auf dieses Handlungselement eins eine zentrale Rolle. Alle anderen Bezugnahmen der Belange auf andere Handlungselemente werden dadurch relativiert und zwar offenbar um so stärker, je weiter sie sich in der Abfolge der Handlungselemente eins bis sieben vom alles dominierenden Gesichtspunkt der Nähebeziehung als Teil des Handlungs­elements eins entfernen. 95 Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, S. 21, 306, 312 ff.

11. Handeln als Tun und Unterlassen

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Für Fernbeziehungen gilt nun genau das Umgekehrte – allerdings mit vergleichbarer Wirkung für das Handlungselement sechs. In Fernbeziehungen ist praktisch ausschließlich relevant, was an Folgen bei den Betroffenen „ankommt“. Entscheidend ist also der Bezug der Belange auf das Handlungselement sieben der Konsequenzen. Bestimmte Handlungsbedingungen beim Akteur, seine Wünsche und Gründe, seine Absichten, seine Mittelwahl, sein Wollen und schließlich die spezifische Form des Handelns spielen mangels direkter Wahrnehmung der einzelnen Elemente der Handlung durch weit entfernte Betroffene keine wesentliche Rolle. Für die Hungernden in den ärmsten Ländern der Welt ist es zum Beispiel praktisch wenig relevant, ob die Hebung ihres Lebensstandards seitens der Industrieländer durch aktives Tun  – etwa durch das Einführen von Schutzzöllen – oder durch passives Unterlassen – etwa das Versäumen von Hilfslieferungen – vereitelt wird.

IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange: Vollständigkeit Die drei bisher erörterten Elemente einer adäquaten normativen Ethik haben aus den seienden Dingen dieser Welt diejenigen ausgewählt, die letztlich normativ-ethisch und damit für eine begründete Moral und andere primäre Normordnungen relevant, das heißt normativ bedeutsam sind: Individuen mit ihren Eigenschaften der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen (Belangen bzw. Interessen), die sich auf alle sieben möglichen Teile einer Handlung im weiten Sinn beziehen können: Bedingungen, Wünsche / Überzeugungen, Ziele, Mittel, Handlungswille, Handlungsausführung, Konsequenzen. Da die Moral, wie in der Einleitung vorausgesetzt, die Aufgabe hat, zwischen potentiell widerstreitenden Belangen zu vermitteln, um unsere Handlungen und Entscheidungen zu bestimmen, muss die normative Ethik nunmehr die Frage beantworten, ob und wie die in einem potentiellen oder aktuellen Konflikt stehenden Belange zusammengefasst bzw. abgewogen werden können. Sind die in einer Situation relevanten Belange vollständig gleichlaufend oder sind sie zwar nicht gleichlaufend, können aber nicht konfligieren, so ist keine Vermittlung durch die Moral nötig und entsprechend auch keine normativ-ethische Kritik bzw. Rechtfertigung dieser Vermittlung. Mit diesem vierten Element einer Verbindung potentiell widerstreitender Belange bzw. Interessen verlässt man das Feld der Eigenschaften und Tatsachen, deren zumindest partiell in Raum oder Zeit lokalisierbare Wirklichkeit mit Bezug auf die tatsächlich bestehenden Individuen und die tatsächlich bestehende Konfliktsituation vorausgesetzt werden kann. Man erreicht nunmehr ein Element menschlicher Findung, das heißt des rekonstruierenden menschlichen Tätigseins. Die in Frage stehende Zusammenfassung bzw. Abwägung ist – wie schon die Substantivierungen der Tätigkeitsverben zeigen – keine einfache Eigenschaft eines moralisch relevanten Individuums oder des moralischen Widerstreits, sondern eine Eigenschaft der Lösung dieses Widerstreits. Wir müssen den moralischen Konflikt lösen – was, wie sich in Kapitel VI noch zeigen wird, keinesfalls impliziert, dass die von uns gefundene Lösung in Weg oder Ergebnis beliebig wäre. Man denke an die geometrische Teilung eines Kreises in zwei gleich große Hälften. Für die Teilung ist eine geometrische Konstruktion erforderlich. Aber diese Konstruktion und ihre Resultate sind keinesfalls beliebig. Es gibt vielmehr einige eindeutig bestimmbare Wege und nur ein einziges notwendiges Resultat. Hat man anerkannt, dass es sich bei der Verbindung bzw. Abwägung der in Frage stehenden Belange um eine menschliche Findung handelt, so stellt sich die Frage nach deren modalem Status. Fraglich ist also, ob die Verbindung bzw. Abwägung der Belange möglich, wirklich oder sogar notwendig ist.

1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung

151

Bei dieser modalen Frage könnte man mit der Untersuchung der Notwendigkeit anfangen. Wäre die Notwendigkeit im Sinne der metaphysisch-ontologischen Notwendigkeit gemeint, so würde dies die Bejahung der schwächeren modalen Alternativen der Wirklichkeit und Möglichkeit implizieren. Weitere Erörterungen zu den anderen beiden Fragen wären dann nicht mehr nötig. Es ist aber offensichtlich, dass man eine metaphysisch-ontologische Notwendigkeit der Abwägung, also ein notwendiges Bestehen einer Zusammenfassung unter allen Umständen prinzipiell nicht zeigen kann. Bei der Abwägung handelt es sich um eine menschliche Findung. Und diese ist zwar in ihrer Ausgestaltung und ihren Ergebnissen nicht beliebig. In ihrer tatsächlichen Durchführung steht sie den Menschen aber frei und ist nicht metaphysisch-ontologisch notwendig. Wir können uns prinzipiell eine Welt vorstellen, in der moralische Belange niemals und von niemandem abgewogen werden, etwa eine Welt der durchgängigen Lösung moralischer Konflikte mittels physischer Gewalt. Eine solche Welt wäre nicht wünschenswert und moralisch wie ethisch verwerflich, aber sie ist metaphysisch-ontologisch nicht unmöglich. Ist dies aber so, dann muss umgekehrt vorgegangen und es müssen zunächst die Möglichkeit und Wirklichkeit der Abwägung gezeigt werden, um danach noch einmal zu fragen, was die Notwendigkeit im vorliegenden Zusammenhang anderes als metaphysisch-onto­logische Notwendigkeit heißen könnte.

1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung Verschiedentlich bezweifelt wird bereits die Möglichkeit einer Zusammenfassung widerstreitender Belange im Einzelfall oder zumindest die Verallgemeinerung einer solchen Zusammenfassung zu einem abstrakten Prinzip, das als Element einer normativen Ethik tauglich wäre. Eine Begründung für diese Zweifel lautet, dass die Belange bzw. Interessen der Betroffenen grundsätzlich unvergleichbar sind. Sollten die Belange bzw. Interessen der in einem moralischen Konflikt betroffenen Individuen tatsächlich grundsätzlich unvergleichbar sein, so wäre eine rationale moralische bzw. normativ-ethische Zusammenfassung unmöglich.

a) Der Einwand der Unvergleichbarkeit Zur Frage der Unvergleichbarkeit („incommensurability“ / „incompa­ra­bility“) hat sich eine verzweigte Diskussion entwickelt.1 Dabei fällt auf, dass regelmäßig die Unvergleichbarkeit von „Werten“ oder „Optionen“ in Frage gestellt wird,2 und zwar nicht nur interpersonal in moralischen Konfliktsituationen, sondern auch und vor allem in1 2

Vgl. Ruth Chang (Hg.), Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason, Harvard 1997. Ruth Chang, Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason. Introduction, S. 1 ff.; Joseph Raz, The Morality of Freedom, S.  322 ff.; James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, S. 79 ff.

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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

trapersonal im Fall von Entscheidungen des guten Lebens. So wird etwa gefragt, ob es unvergleichbar ist, eine Karriere als Arzt oder als Klarinettist zu wählen. Es dürfte nach den bisherigen Überlegungen zur Berücksichtigung Anderer einleuchtend sein, dass für die Frage der Moral vor allem die interpersonale Unvergleichbarkeit in Rede steht. Ob in Konflikt stehende Interessen jeweils intrapersonal unvergleichbar sind, kann für den moralischen Konflikt nur eine Rolle spielen, wenn man die abzulehnenden Pflichten gegen sich selbst bejaht (vgl. VIII). Im Folgenden wird im Vorgriff auf diese Ablehnung der Pflichten gegen sich selbst vom unbe­streitbaren moralischen Hauptfall potentiell widerstreitender Belange zwischen mehreren Individuen ausgegangen. Dann fällt aber ein wesentlicher Einwand,3 das Problem der mangelnden Transitivität von Interessen innerhalb eines einzigen Interessenträgers, von vornherein weg. Versteht man den moralischen Konflikt letztlich als Widerstreit der betroffenen Individuen mit ihren Belangen und Interessen, so kann es – dies sollte man sich vorab vergegenwärtigen – bei der fraglichen Unvergleichbarkeit zumindest im Falle des moralischen Konflikts nicht primär um Werte gehen. Es geht vielmehr um Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, also um Belange bzw. Interessen. Manchmal werden hinter den Zielen und Wünschen zwar auch Wertungen bzw. Werte stehen. Aber für Strebungen ist das auszuschließen und für Bedürfnisse zweifelhaft. Und selbst wenn den Zielen, Wünschen und Bedürfnissen Werte zu Grunde liegen, so müssen diese nicht wie die Interessen konfli­gieren. So mögen etwa zwei Personen gleichermaßen den Wert der Freiheit bejahen und trotzdem im Falle einer Beleidigung über die Grenze zwischen der Freiheit der Rede und der Freiheit der Ehre ganz verschiedener Meinung sein. Und umgekehrt lässt sich das gleiche Interesse an der Freiheit der Rede mit Hilfe unterschiedlicher Werte begründen, etwa den Werten der Freiheit, der Gleichheit, des Friedens usw. Werte bzw. Wertungen sind regelmäßig abstrakter und weit weniger handlungsbezogen, während Belange bzw. Interessen konkreter und handlungsbezogener sind und regelmäßig direkt in einen Widerstreit geraten, sofern sie in einer Situation divergieren. Solange zwei Personen über Werte uneins sind, liegt noch kein moralischer Konflikt vor, sondern eine abstrakte Meinungsverschiedenheit der Weltanschauung. Erst, wenn sich aus den Werten, seien sie nun von beiden geteilt oder nicht, widerstreitende Belange bzw. Interessen ergeben, die handlungsrelevant werden und sich in unterschiedlichen Willensäußerungen ausprägen, setzt der moralische Widerstreit ein. Die moralische Konfliktlösung muss deshalb zunächst bei Belangen bzw. Interessen ihren Ausgangspunkt nehmen, wenn auch bei der Abwägung Werte indirekt eine Rolle spielen können. Man kann zwischen kardinaler und ordinaler Unvergleichbarkeit unterscheiden, also zwischen der Unvergleichbarkeit im Sinne einer quantitativen Skala (sog. „incommensurability“) und Unvergleichbarkeit im Sinne einer Besser-schlechter-Reihung (sog. „incomparability“).4 Ein kardinaler Vergleich von Interessen mag im Einzelfall möglich sein, etwa wenn bei einer Versteigerung ein Bieter € 1000 für ein Kunstwerk bietet und der andere € 1100, sofern man annimmt, dass diese Gebote jeweils auch das kardinale 3 4

Joseph Raz, The Morality of Freedom, S. 325 ff. Ruth Chang, Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason. Introduction, S. 1 ff.

1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung

153

Verhältnis der Belange ausdrücken. Und aus Gründen der Exakt­heit und rationalen Nachvollziehbarkeit wird man einen derartigen kardinalen Vergleich auch regelmäßig als wünschenswert ansehen, sofern er erreichbar ist. Aber die Annahme, die kardinale Vergleichbarkeit wäre in moralischen Konflikten immer oder auch nur regelmäßig möglich, ist nicht zu rechtfertigen. Alle Versuche, ein gemeinsames Maß, etwa der Übersetzung in Geldeinheiten, zu finden, sind bisher unbefriedigend geblieben. So sind etwa die Interessen, eine Freundschaft zu erhalten und seine Ehre zu bewahren, niemals in Geldeinheiten übersetzbar, weil sowohl der Belang der Freundschaft als auch der Belang der Ehre jede monetäre Bewertung ausschließen. Wer danach fragt, wie viel ihm jemand zahlen würde, um die Freundschaft zu erhalten oder die Ehre zu bewahren, hat bereits gezeigt, dass genuine Freundschaft bzw. Ehre nicht in Rede steht. Für die moralische Konfliktlösung und die dazu nötige Vergleichbarkeit der Interessen genügt aber eine bloße Besser-schlechter-Reihung der Belange, also ihre ordinale Vergleichbarkeit. Es reicht aus, festzustellen, dass es moralisch besser ist, dass A die B nicht beleidigt, um den moralischen Konflikt zwischen beiden zu lösen. Um wie viel es quantitativ besser ist, spielt für die moralische Konfliktlösung zumindest in derart einfachen Fällen keine Rolle. Im Folgenden wird die Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Vergleichs deshalb in ihrer schwächeren Deutung der Besser-schlechter-Reihung, also der ordinalen Vergleichbarkeit (sog. „comparability“ oder „incomparability“) gestellt. Dabei soll aus den eben erwähnten Gründen nicht versucht werden, Einwände gegen die Vergleichbarkeit zu widerlegen, die sich auf einen Vergleich von Werten beziehen. Es soll vielmehr verdeutlicht werden, wie der Vergleich moralisch relevanter Belange aussehen kann.

b) Der gemeinsame Referenzpunkt Die Tatsache des moralischen Widerstreits führt zunächst anders als bei möglichen Vergleichen des guten Lebens dazu, dass mit dem Gegenstand des Konflikts jedenfalls ein gemeinsamer Vergleichspunkt der widerstreitenden Belange vorhanden ist. Liegen Handelnder und Betroffener in einem moralischen Konflikt – im sehr weiten Sinn potentiellen Widerstreits – so muss sich dieser Konflikt auf die gemeinsame Frage des Konflikts beziehen, nämlich die Frage der Gebotenheit, Verbotenheit, Erlaubtheit oder Freistellung der fraglichen Handlung des Akteurs, zum Beispiel der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Beleidigung des Betroffenen. Ohne gemeinsamen Kon­fliktpunkt gibt es keinen Widerstreit und damit keine Moral und dann auch kein Problem der interpersonalen moralischen Vergleichbarkeit und der ethischen Begründung. Existiert aber ein gemeinsamer Punkt des Konflikts und damit ein gemeinsamer Relationspunkt, auf den sich die widerstreitenden Belange bzw. Interessen beziehen, so können – das wird sogleich gezeigt – die widerstreitenden Interessen nicht vollständig unvergleichbar sein. Der gemeinsame Referenzpunkt des Konflikts ist zunächst ein faktischer, etwa die potentielle Beleidigung des B seitens des A. Jenseits dieses gemeinsamen faktischen Referenzpunkts setzt aber jeder moralische Vergleich auch einen gemeinsamen normativen

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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

Referenzpunkt voraus.5 Widerstreitende Belange müssen im Hinblick auf eine gemeinsame Wertung vergleichbar sein. Aber welche kommt dafür in Frage? Die ultimative Wertung des Vergleichs ist die Wichtigkeit bzw. Gewichtigkeit der in Rede stehenden Belange. Ein Widerstreit zwischen zwei Belangen bzw. Interessen wird dadurch zusammengefasst, abgewogen und entschieden, dass begründet behauptet werden kann, dass der eine Belang wichtiger als der andere ist. Unabhängig von der natürlich nicht ganz einfachen, umstrittenen und noch zu erörternden Frage, was unter der „Wichtigkeit“ eines Belangs zu verstehen ist, lassen sich bereits an dieser Stelle einige Unterscheidungen treffen: Zunächst gilt, dass im Hinblick auf die Relation der Wichtigkeit zwischen zwei Belangen A und B genau zwei Typen von Lösungen möglich sind. Beide Belange können entweder (1) gleich wichtig sein oder (2) ein Belang kann wichtiger als der andere sein, wobei sich im letzteren Fall dann wiederum zwei Möglichkeiten ergeben: A kann wichtiger sein als B oder B wichtiger als A. Aber die letztere Unterscheidung ist für die prinzipielle Erörterung irrelevant. Beide Hauptmöglichkeiten sollen nun diskutiert werden, wobei vorausgesetzt wird, dass überhaupt ein moralischer Konflikt besteht, dass also beide Belange nicht gleich laufen oder zugleich voll zu verwirklichen sind: (1) Sind in einem Konflikt beide Belange gleich wichtig, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: (a) Beide Belange sind zugleich realisierbar, aber nur teilweise, das Resultat der Befriedigungshandlung ist also teilbar. Beispiel: Zwei gleich Durstige finden gleichzeitig eine Oase mit einer sehr kleinen Wasserquelle. Dann müssen die Belange beider jeweils zur Hälfte befriedigt werden. Das bedeutet: Beide dürfen je zur Hälfte aus der Quelle trinken, was allerdings ihren Durst nicht vollständig stillen kann (sonst läge ja gar kein moralischer Konflikt vor). (b) Beide Belange sind nicht zugleich realisierbar, das Resultat der Befriedigungshandlung ist also nicht teilbar. Beispiel: A und B benötigen in gleicher Weise eine lebensrettende Notfallbehandlung, die aber nur einmal verfügbar ist. In solchen Fällen kann es keine ethisch begründete Entscheidung geben und man muss entweder eine ethisch unbegründete Entscheidung nach Neigungsgesichtspunkten treffen oder losen. Die Anwendung des Prioritätsprinzips wäre hier auch eine Form der ethisch unbegründeten Entscheidung, denn es ist sachlich irrelevant, wer die Notfallbehandlung zuerst benötigt hat. Das bloße zeitliche Auseinanderfallen der Belange determiniert in diesem Fall nicht ihre Wichtigkeit. Anders ist die Situation, wenn etwa A und B beide die letzte Theaterkarte wollen. Dann wird man das Prioritätsprinzip anwenden und die Karte dem überlassen, der sich früher angestellt hat. Das zeitigere Anstellen ist in diesem Fall ein gewisses Indiz dafür, dass die Interessen doch nicht gleich wichtig sind. Wer sich eher um Karten bemüht, 5

Dies betont Ruth Chang, Incommensurability, Incomparability and Practical Reason. Introduction, S. 6, zu Recht.

1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung

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hat in der Regel einen stärkeren Wunsch, das Theaterstück zu sehen. Es liegt also in Wirklichkeit der andere Fall ungleich wichtiger Belange vor. (2) Sind beide Belange nicht gleich wichtig, dann gibt es wiederum nur zwei Möglichkeiten: (a) Beide Belange sind nicht zugleich realisierbar, das Resultat der Befriedigungshandlung ist also nicht teilbar. Beispiel: A und B benötigen eine Notfallbehandlung, die nur einmal verfügbar ist. Diese Notfallbehandlung ist bei A notwendig, um sein Leben zu retten, bei B, der nicht in Lebensgefahr schwebt, ist sie nur notwendig, um schneller gesund zu werden. In derartigen Konflikten ist eindeutig, dass der wichtigere Belang verwirklicht werden muss, also – weitere Gesichtspunkte einmal außen vor gelassen – A die Notfallbehandlung zu erhalten hat. Dies ist bereits begrifflich notwendig, wenn man entschieden hat, welcher Belang wichtiger ist, denn „wichtiger“ impliziert notwendig „prinzipiell bevorzugt zu verwirklichen“. (b) Beide Belange sind zugleich befriedigbar, das Resultat der Befriedigungshandlung ist also teilbar. Beispiel: Zwei unterschiedlich Durstige finden gleichzeitig eine sehr kleine Quelle in einer Oase. Dann muss die unterschiedliche Wichtigkeit der Belange zu ihrer unterschiedlichen Berücksichtigung führen.

c) Der Bewertungsmaßstab der Wichtigkeit Wie lässt sich nun der Bewertungsmaßstab der Wichtigkeit verstehen? Dafür gibt es zwei grundsätzliche Alternativen: eine subjektive und eine objektive. Die subjektive Interpretation sieht für die Wichtigkeit den jeweiligen Träger des zu bewertenden Belangs selbst als entscheidend an, die objektive Interpretation Andere, seien es reale andere Personen oder der Träger des Belangs von einem fiktiven unparteiischen Standpunkt. Das Prinzip des normativen Individualismus scheint es zunächst nahezulegen, nicht nur die primären Interessen, sondern vor allem auch die sekundären Interessen der Betroffenen an diesen primären Interessen, also die jeweils eigene Bewertung der eigenen Belange auf einer sekundären Ebene heranzuziehen. Gegen die Annahme, dass diese subjektive Interpretation der Wichtigkeit der Belange ausschlaggebend sein soll, spricht aber folgendes Argument: Dann könnte sich der Einzelne durch die Entwicklung besonderer sekundärer Interessen an den eigenen primären Interessen einen Sondervorteil in der Abwägung verschaffen. Die Abwägung wäre subjektiv beeinflussbar und würde keine faire Vermittlung zwischen den primären Interessen der Individuen mehr bedeuten. Ließe man zu, dass der Träger eines Interesses selbst bestimmt, wie wichtig dieses Interesse in der Abwägung mit anderen Interessen ist, so könnte jeder die Abwägung beliebig für sich entscheiden und die anderen Betroffenen hätten im Konflikt das Nachsehen, oder – falls sie ihren Belangen ebenfalls eine besondere Wichtigkeit zuerkennen – es würde eine Konkurrenz der Bewertungen der jeweils eigenen Belange auf der Metaebene entstehen. Jeder würde den Anderen mit seiner Bewertung

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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

zu übertrumpfen suchen. Beide Alternativen führen nicht zu einer akzeptablen Lösung des moralischen Konflikts. Die subjektive Interpretation der Wichtigkeit von Belangen kann also nicht ausschlaggebend sein. Somit muss die objektive Interpretation der Wichtigkeit entscheiden. Im Folgenden wird genauer zu fragen sein, was das heißt. Nicht ausgeschlossen ist damit jedenfalls, dass subjektive Bewertungen der eigenen Belange durch die jeweils Betroffenen eine gewisse, wenn auch beschränkte Rolle spielen können. Denn für diese beschränkte Rolle gibt es ein gewichtiges Argument: Verlangt das Prinzip des normativen Individualismus, dass die Individuen beim zweiten Element der rechtfertigenden Eigenschaft im Prinzip selbst entscheiden, welche Eigenschaften für sie wesentlich sind, ist also ein gewisses Maß an individueller Normativität notwendig, um zu einer ethischen Rechtfertigung zu gelangen, so ist nicht einzusehen, warum zwar die Wünsche auf der ersten Ebene, nicht aber die Wünsche bzw. Bewertungen auf der zweiten Ebene bezüglich der Bedürfnisse, Wünsche und Ziele auf der ersten Ebene eine Rolle spielen sollen. Die Menschenwürde war ja genau derart verstanden worden. Der subjektiven Bewertung eines Belangs als wichtig kommt also eine gewisse, gleich noch näher zu erläuternde Bedeutung der Verstärkung bzw. Abschwächung der grundsätzlich objektiv zu interpretierenden Wichtigkeit zu. Wie kann nun die objektive Bewertung der Wichtigkeit genauer verstanden werden? Die jeweils in einem moralischen Widerstreit befindlichen Betroffenen, im einfachsten Fall ein Akteur und ein Anderer, konstituieren, sieht man von Pflichten gegen sich selbst ab, um sich einen Quasi-Raum ihrer Belange und In­teressen und demgemäß der Betroffenheit: einen Betroffenheitsraum.6 Dieser Quasi-Raum ihrer Interessen mani­festiert sich teilweise tatsächlich räumlich, etwa im ei­genen Zimmer, in der eigenen Wohnung, im eige­nen Auto, am eigenen Ar­beitsplatz. Entscheidend ist dabei nicht das rechtliche Ei­ gen­tum, sondern die Konstituie­rung des je eigenen Belang- bzw. Inter­essenbereichs. Sie drückt sich etwa in dem Satz „My home is my castle“ metaphori­sch aus. Natürlich sind solche Räume auch Sozialräume. Und wir belächeln denjenigen, der dies nicht wahrha­ ben will. Aber im Kern pochen wir auf die Beachtung der Individualzuordnung. Der Vermieter darf etwa die Wohnung des Mieters nicht ohne dessen Zustimmung betreten. Entscheidend ist nun, dass den Belangen bzw. Interessen im Betroffenheitsraum jeweils unter­schiedliche objektive Wichtigkeit zu­gemessen wird. Man kann insofern generalisierend von einer zwiebelartigen Struktur mit einem Kernbereich und verschiede­nen radialen Schalen sprechen. Den Kern des Be­troffen­heits­raums bilden regelmäßig Leben und Würde, wobei das Verhältnis dieser Kerninteressen bei ver­schiedenen Menschen unterschiedlich ausge­prägt ist. Eine extreme Persönlichkeit ist in dieser Hinsicht etwa der Selbstmörder. Er verzichtet auf sein Leben. Konstatieren lässt sich darüber hinaus, dass die empirisch-statistisch feststellbaren Unter­schie­­de gra­duell zunehmen, je weiter die Interessen an den Randbereich des je eigenen Be­troffen­­heitsraums rücken. Rapmu­ sik-Beschallung durch sog. Ghettoblaster auf Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln empfindet der Eine als ex­trem störend und als reine Lärmbelästigung, wäh­rend der 6

Vgl. zu den folgenden Überlegungen bereits: Verf., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S. 221 ff.

1. Die Möglichkeit einer Zusammenfassung

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Andere sie als Ausdruck pulsierender Lebensfreude willkommen heißt. Die Gefährdungen des modernen Straßenverkehrs ängstigt die Eine furchtbar, während die Andere sie als Herausforderung der mobilen Gesellschaft begreift. Das Modell wird weiter verkompliziert, weil sich die individuel­len Betroffenheitsräume an verschiedenen Stellen auch ohne irgendwelche usurpierenden Aktionen scheinbar untrennbar überlappen. Dies ist in jedem Alltagsgespräch der Fall, wenn etwa A etwas sagen möchte, was B nicht hören will. Man sollte derartige Fälle der Überlappung aber nicht überbewerten. Sie stellen nur einen Teil der Interaktionssituationen dar. Und auch bei diesem Teil lässt sich eine zumindest tentative Grenze der Betroffenheitsräume markieren. Man muss Anderen zwar zuhören, wenn sie etwas sagen. Aber es gibt keine grundsätzliche Verpflichtung, Gespräche immer und überall zu führen oder endlos weiterzuführen. Jeder darf ein Ge­spräch, das seine Belange mehr als nur marginal beeinträchtigt, (höflich) beenden und damit auch die Über­lap­pung der Betroffenheitsräume. Solange jeder Akteur seine Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen zu erreichen bzw. zu befriedigen sucht, ohne in den Betroffenheitsraum des Anderen einzudringen, bleiben die je­wei­ligen Interessen des Anderen und ihre Verfolgung bloßes Faktum. Man beobachtet, dass der Andere atmet, isst, trinkt, schläft usw. Sobald ein Akteur aber die Grenze zum Betroffenheitsraum des Anderen überschreitet, ergeben sich für beide normative Wirkungen. Solange sich etwa beide Akteure nur aus ihrem eigenen Kühlschrank versorgen, bleibt dies für den je anderen eine bloß äußerliche Tatsache. Sobald ein Akteur aber den Kühlschrank des Anderen leert, zwingt er den Betroffenen durch sein Verhalten zur Duldung. Dieser muss in seiner Interessen­verfolgung zurückstehen. Gleichzeitig sieht sich aber auch der Akteur einer Präskription gegenüber. Die Belange des betroffenen Anderen weisen ihn ab. Eine spezielle Form der Überschreitung der Be­troffen­heitsgrenze der Belange zwischen Akteuren ist die explizite verbale Aufforderung zu einem Tun oder Unter­lassen. Der Andere wird zu einem bestimmten Ver­halten verpflichtet und muss auf die ent­­sprechende Entfaltung seiner eigenen Belange verzichten. In der möglichen normativen Wirkung des Überschreitens der Betroffenheitsgrenze des Anderen durch tat­sächliches Verhalten oder verbale Vorschriften liegt der Grund für die Suche nach norma­tiv-ethischen Recht­fertigungen: Der Betroffene verwehrt die Über­schreitung der Betroffenheitsgrenze und sucht dafür – falls er selbst kognitiv dazu in der Lage ist – nach Rechtfertigungen. Der Akteur will diese Grenze nicht anerkennen und sucht seiner­seits nach Rechtfertigungen für ihre Über­schreitung. Diese Konstitution und Abwägung jeweiliger Betroffenheitsräume ist eine, für die gute Gründe bestehen können und die deshalb objektiv zu beurteilen ist. Es ist nicht ersichtlich, warum es für die relative Wichtigkeit der Belange keine derartigen guten Gründe geben sollte. Wir erkennen derartige gute Gründe täglich an, etwa wenn wir das Interesse am Schutz des Lebens marginalen ökonomischen Vorteilen überordnen. Natürlich mag es in Grenzfällen Meinungsverschiedenheiten geben. Aber sie sind nicht Ausdruck einer grundsätzlichen Unmöglichkeit, die relative Wichtigkeit von Belangen mit guten Gründen zu bewerten, sondern entweder Ergebnis eines vollständigen oder annähernden Patts der Wichtigkeit oder eine Frage der Wahl des richtigen inhaltlichen Abwägungsprinzips, die im nächsten Kapitel beim fünften Element der normativen Ethik noch zu erörtern sein wird.

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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

d) Arrows Unmöglichkeitstheorem Steht der Möglichkeit einer Abwägung der in einer Situation widerstreitenden Belange das von Kenneth Arrow formulierte sog. Unmöglichkeitstheorem entgegen, sofern man es auf das hier vorgeschlagene Modell der Abwägung von Belangen übertragen kann? Nach dem Unmöglichkeitstheorem lassen sich indivi­duelle Präferenzordnungen nicht in eine den logischen Bedingungen der Re­flexivität, Transitivität und Voll­ständigkeit genügenden kollektiven Wohlfahrtsfunktion – also eine Gemeinschaftsentscheidung – integrieren, wenn drei Be­dingungen erfüllt sind: (1) der Ausschluss der Diktatur, das heißt, es darf kein Individuum geben, dessen sämtliche strik­te Prä­fe­ren­zen die kol­lektiven strikten Präferenzen determinieren; (2) das Paretoprinzip, das heißt, wenn alle Individuen einer Gemeinschaft eine strikte Präferenz haben, so muss sich auch ei­ne gleichlautende kollek­tive strikte Präferenz ergeben; (3) die Unab­hängig­keit von irre­le­­van­ten Alternativen, das heißt, das kollektive Resultat für eine Präfe­renz darf nur von den individuellen Entscheidungen hin­sichtlich dieser spezifischen Präfe­renz ab­hängig sein, nicht von anderen Präferenzen.7 Das Unmöglichkeitstheorem von Arrow setzt mindestens drei Entscheidungsbeteiligte und drei Entscheidungsalternativen voraus.8 Bereits diese Voraussetzung verhindert seine Anwendbarkeit auf die meisten moralischen Konflikte der Individualethik, weil entweder nur zwei Personen betroffen sind oder nur zwei Handlungsalternativen in Rede stehen. Nur in Fällen mit drei oder mehr Betroffenen und drei oder mehr Entscheidungsalternativen kann das Unmöglichkeitstheorem also überhaupt zur Anwendung kommen. Dann erfordert es aber des Weiteren die Übernahme des Präferenzbegriffs. Der Präferenzbegriff wurde oben in Kapitel II, 5 bereits als problematisch kritisiert. Ob das Theorem auch für Belange bzw. Interessen gilt, ist fraglich und müsste detailliert untersucht werden, was hier nicht geleistet werden kann.9 Schließlich verlangt das Unmöglichkeitstheorem, dass die individuellen Präferenzen in Form einer Ordnung vorliegen, also reflexiv, vollständig und transitiv sind. Das ist jedoch für empirisch erfahrbare Präferenzen unrealistisch.10 Aber selbst wenn in einer moralischen Konfliktsituation individuelle Präferenzordnungen gegeben wären, so gälte, dass die dritte Bedingung des Theorems, also die Bedingung der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, durch die inhaltlich differenzierende Gewichtung der Interessen bzw. Präferenzen seitens einer normativ-ethischen Begründung konterkariert wird. Das fünfte Element der Abwägung bzw. die im nächsten Kapitel entfaltete normativ-ethische Theorie führt gerade zu einer solchen inhaltlich differenzierenden Gewichtung. Für die politische Ethik und die Rechtsethik wurde das an 7

Vgl. Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values, S. 46 ff.; Amartya K. Sen, Collective Choice and Social Welfare, S.  37 ff.; Lucian Kern / Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S. 32 ff. Arrow hatte das Theorem ursprünglich „possibility theorem“ genannt und war von fünf Bedingungen ausgegangen. Ich folge hier der moderneren Darstellung in Lucian Kern / Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen. 8 Lucian Kern / Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S. 27. 9 Vgl. für eine Übertragung auf den, vom Interessenbegriff zu unterscheidenden allgemeinen Nutzenbegriff: John E. Roemer, Theories of Distributive Justice, Cambridge 1996, S. 4, 14 ff. und passim. 10 Vgl. die obige Kritik in Kapitel II, 5.

2. Die Wirklichkeit einer Zusammenfassung

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anderer Stelle genauer gezeigt.11 Darauf soll hier verwiesen werden. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass das Unmöglichkeitstheorem von Arrow die Zusammenfassung und Abwägung der Belange im Rahmen einer inhaltlich gehaltvollen, die individuellen Belange gewichtenden normativen Ethik nicht generell ausschließt.

2. Die Wirklichkeit einer Zusammenfassung Die Wirklichkeit der Zusammenfassung bzw. Abwägung individueller Belange lässt sich als empirisches Faktum konstatieren. Wir lernen von klein auf, unsere eigenen Belange im Hinblick auf weitere eigene Belange und die Belange Anderer einzuschränken. Wir verzichten etwa darauf, Andere zu gefährden, zu belästigen, zu schädigen usw. Wir machen keinen Lärm, damit kleine Kinder schlafen können. Wir unterstützen Hungernde. Wir helfen Verletzten in Notfällen. In all diesen Situationen stellen wir eigene, weniger wichtige Belange gegenüber den wichtigeren Belangen Anderer zurück. Die Realität derartiger Abwägungen ist also empirisch nicht bestreitbar. Dies impliziert allerdings nicht, dass in allen Situationen, in denen ein moralischer Konflikt besteht, der Akteur dann auch tatsächlich abwägt oder, falls er abwägt, dass er das in gut begründeter Art und Weise tut, denn die Missachtung moralischer Anforderungen ist ubiquitär. Es impliziert auch nicht notwendig, dass jeder einzelne Handelnde wenigstens von Fall zu Fall abwägt. Der vollständige Amoralist ist prinzipiell denkbar, wenn auch praktisch kaum real. Selbst der größte Verbrecher nimmt regelmäßig Rücksicht auf andere Lebewesen.

3. Die Notwendigkeit einer Zusammenfassung Eine metaphysisch-ontologische Notwendigkeit der Zusammenfassung der individuellen Belange ist auszuschließen. Das war das Ergebnis der ersten Abschnitte dieses Kapitels. Was kann dann aber anderes unter der „Notwendigkeit“ einer Zusammenfassung der Belange verstanden werden? Notwendigkeit meint hier praktische Gefordertheit, das heißt normative Notwendigkeit zur Erreichung einer moralischen oder sonstigen primären Konfliktlösung. Wenn erstens die Individuen mit ihren Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen, also ihren Belangen bzw. Interessen, die letzte normative Quelle der Ethik und Moral sind, wie dies der normative Individualismus annimmt, und diese Interessen zweitens im Rahmen eines jeden moralischen Konflikts unabdingbar wenigstens potentiell im Widerstreit stehen, so ist zur Kon­fliktlösung für jede Ethik und Moral eine Zusammenfassung der Interessen notwendig, und zwar in jedem Einzelfall, zum Zweck der Rechtfertigung aber auch allgemein. Moral und Ethik bestehen wesentlich und unabdingbar in einer solchen Zusammenfassung. Sie erfordern begrifflich notwendig eine Konfliktlösung. Da die11 Verf., Rechtsethik, S. 503 ff.

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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

se Konfliktlösung aber nachhaltig und legitim nur mittels der Zusammenfassung der Interessen gelingt, folgt die normative Notwendigkeit einer derartigen Zusammenfassung. Zur Rechtfertigung der Moral und zur Konstruktion der Ethik müssen die konkreten Zusammenfassungen in einzelnen Konflikten zu einem Prinzip der Zusammenfassung vereint werden. Dabei sollte man sich aber darüber im Klaren sein, dass sowohl der tatsächliche Konflikt der konkret betroffenen Individuen als auch die tatsächlichen Belange mit ihrer normativen Kraft nur im konkreten Fall bestehen. Die Normativität der Belange erwächst also ausschließlich aus kon­kreten Eigenschaften im Einzelfall. Das Allprinzip des normativen Individualismus entfaltet eine negative Dimension. Es gilt nicht bloß, dass alle Betroffenen zu berücksichtigen sind, sondern auch, dass nur alle Betroffenen zu berücksichtigen sind. Wer von einem moralischen Konflikt nicht betroffen ist, also keine eigenen Belange geltend machen kann, kann nicht erwarten, dass seine bloß abstrakte Meinung zu diesem Konflikt eine Rolle bei der Abwägung spielt. Die Betroffenheit in moralischen Konflikten bleibt nun aber in der Individualmoral – anders als etwa in der politischen und rechtlichen Moral – häufig lokal begrenzt. Wenn A die B beleidigt oder körperlich verletzt, so sind zunächst einmal nur A und B in diesem moralischen Konflikt betroffen. Natürlich mag es auch sekundär Betroffene geben, etwa Bs Kinder, Eltern, sonstige Angehörige und Freunde. Wenn B wegen der Verletzung ins Krankenhaus eingeliefert werden muss, so kann sie etwa nicht mehr für ihre Kinder sorgen. Diese sind dann auch tangiert. Sie müssen als sekundär Betroffene – allerdings regelmäßig schwächer – berücksichtigt werden. Es kann aber zum Beispiel keine Rolle spielen, dass C, der zufällig vorbeikommt, der Meinung ist, der schon lange offenbaren Impertinenz der B wäre eine Beleidigung durch A gerade angemessen. Die bloße Meinung eines Dritten, und sei es auch die einer „moralischen Autorität“ oder eines Religionsführers, kann wegen des normativen Individualismus keine Form der Betroffenheit sein und darf somit in der Abwägung keine Rolle spielen, denn sonst würden letztlich nicht die betroffenen Individuen, sondern besonders bevorzugte Personen oder die anonyme Öffentlichkeit derjenigen, die abstrakte Meinungen über das richtige oder falsche Verhalten Anderer entwickeln, entscheiden. Es gibt zwar vor allem von Vertretern des Utilitarismus Versuche, externe Präferenzen, das heißt Präferenzen Dritter hinsichtlich der Präferenzen Betroffener als abwägungsrelevant anzusehen.12 Dies wird deshalb für gerechtfertigt gehalten, weil die Befriedigungszustände entscheidend sein sollen. Auch ein Dritter werde frustriert, wenn seine Meinungen bzw. externen Präferenzen missachtet werden. So seien etwa die externen Präferenzen von nicht selbst als Eltern betroffenen Abtreibungsgegnern relevant, weil sie befriedigt oder nicht befriedigt werden könnten. Auf diese Weise ist es aber jeder beliebigen Person möglich, sich selbst in den Angelegenheiten anderer zum relevanten Mitentscheider zu erheben. Derjenige, der für sich selbst ein besonders hohes Frustrations- oder Befriedigungspotential in Angelegenheiten Dritter aufbaut, müsste dann besonders berücksichtigt werden, während derjenige, der sich nicht in die Angelegenheiten anderer mischt, weil er vor deren persönlichen Lebensentscheidungen Respekt hat, nicht zu berücksichtigen wäre. Man sieht 12 Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, Stuttgart 2003, S. 57 ff.

3. Die Notwendigkeit einer Zusammenfassung

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sofort, dass das nicht überzeugen kann, weil es der Willkür Tür und Tor öffnet und die Individualberücksichtigung im konkreten Konflikt der Belange kollektiviert. Moralische Konflikte werden dann durch willkürliche Entscheidungen Dritter, an sich nicht Betroffener entschieden oder zumindest mit entschieden. Daran zeigt sich, dass der Utilitarismus zwar einen normativ-individualistischen Ausgangspunkt hat, bei der Durchführung der Gesamtmaximierung im Ergebnis den normativen Individualismus aber missachtet. Man könnte allerdings weiter argumentieren, jede Form der Interaktion zwischen A und B betreffe alle anderen Menschen oder wenigstens alle anderen Mitglieder der politischen Gemeinschaft, in der beide leben. Wenn A die B beleidige und die Allgemeinheit oder die politische Gemeinschaft das zulasse, so müsse sie es auch im Falle anderer Beleidigungen zulassen. Wir lebten dann in einer Gemeinschaft, in der regelmäßig Beleidigungen stattfänden, was für alle schlecht wäre. Deshalb müsste die Allgemeinheit bzw. politische Gemeinschaft ein Zusammenfassungsprinzip „Beleidigungen Unschuldiger sind verboten!“ annehmen und durchsetzen. Wer so argumentiert, wechselt aber schon von der Individualmoral und Individualethik zur politischen Moral und politischen Ethik. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass zur tatsächlichen Verringerung mancher moralisch inakzeptabler Verhaltensweisen politische und rechtliche Normen sowie Sanktionen notwendig sind. Es mag etwa sein, dass sich A von Beleidigungen gegenüber B nur durch das Risiko einer gerichtlichen Verurteilung und einer staatlichen Strafe abhalten lässt. Aber die sekundäre Frage nach der tatsächlichen Verringerung moralisch inakzeptabler Verhaltensweisen darf die primäre Frage nach dem Inhalt und der Normativität moralischer Konfliktlösungen und ihrer ethischen Rechtfertigung nicht ersetzen. Entscheidend müssen zunächst nach dem Prinzip des normativen Individualismus die vom Konflikt primär Betroffenen sein. Die gesamte Menschheit und die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft sind dann allenfalls ganz peripher und sekundär über die allgemeine Etablierung bestimmter Praxen tangiert. Diese periphere und sekundäre Betroffenheit kann nur in speziellen und gravierenden Ausnahmefällen – wenn überhaupt – die Freiheit der Entscheidung der primär Betroffenen und damit die primäre moralische Konfliktlösung im Einzelfall einschränken. Das Verbot der Tötung auf Verlangen oder der sittenwidrigen Körperverletzung sind umstrittene und auf die Höchstinteressen von Leib und Leben beschränkte kollektive Regelungen allgemeiner Praxen gegen den Willen einiger unmittelbar Betroffener. Daraus muss man aber den Umkehrschluss ziehen, dass für die weitaus überwiegende Zahl der moralischen Konflikte die Interessen der primär und konkret Betroffenen entscheidend sein müssen. Sie durch kollektive Regelungen zu überspielen würde dem normativen Individualismus widersprechen und wäre Ausdruck eines normativen Kollektivismus der Menschheit, eines Volkes oder einer sonstigen Gemeinschaft. Man sollte sich im Übrigen vor Augen halten, dass politische und rechtliche Konfliktlösungen aus rein praktischen Gründen immer nur einen sehr kleinen, wenn vielleicht auch wichtigen Teil des moralisch zweifelhaften Verhaltens normieren und sanktionieren können. Es gibt etwa keine Rechtsordnung, die ein allgemeines Lügenverbot erfolgreich normiert und sanktioniert hätte. Viele moralisch problematische Verhaltensweisen des Alltags, etwa Unfreundlichkeit und Unaufmerksamkeit, sind nicht rechtlich normier- und sanktionierbar. Das Strafrecht kann nur einen geringen Teil sehr gravierender Konflikte regeln.

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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

4. Gut, richtig und gerecht als Begriffe der Abwägung bzw. Zusammen­fassung Die Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit der Abwägung bzw. Zusammen­ fassung der individuellen Belange wird durch verschiedene bewertende und normativ bestimmende Be­griffe ausgedrückt. Deshalb sollen die wesentlichen dieser Begriffe hier kurz erörtert werden. Dabei gibt es jeweils ein grundlegendes Adjektiv und ein davon abgeleitetes Substantiv, das als sekundäre, von der Alltagsverwendung schon erheblich weiter entfernte und damit künstlichere, nicht selten von Philosophen erfundene Sub­ stantivierung erheblich problematischer ist als das grundlegende Adjektiv.

a) Gut Der allgemeinste dieser Begriff ist der Begriff „gut“.13 Die Abwägung mit Hilfe des Begriffs „gut“ umfasst dabei nicht nur Fragen der normativen Ethik im engeren Sinn, also Fragen der Moral, sondern auch solche aller anderen möglichen Bewertungen, Normen und Regeln unserer Einstellungen und unseres Handelns, also auch solche der Religion, des Rechts, der Konventionen, der Empfehlungen des guten Lebens usw. (vgl. Einleitung, 1). Man würde etwa eine Handlung nicht in einem umfassenden Sinne als gut bezeichnen, wenn sie zwar moralisch erlaubt und als überpflichtgemäßes Handeln vielleicht sogar moralisch positiv zu bewerten, vom Standpunkt der Religion oder des glücklichen Lebens aber negativ einzuschätzen wäre. Wer sich zum Beispiel eines pflegebedürftigen Angehörigen weit über das normale und erforderliche Maß hinaus annimmt, mit der Folge, dass er sein eigenes Lebensglück vollständig zerstört, dessen Handeln würden wir zwar als moralisch hochstehend bewerten, denn es wäre moralisch überpflichtgemäß. Wir würden also sagen, er handelt „moralisch gut“. Wir würden uns aber scheuen, sein Handeln in einem ganz umfassenden Sinne als „gut“ zu bezeichnen, da dies auch eine Berücksichtigung des guten Lebens erfordert. Bei moralischen Helden wie Mutter Theresa gehen wir regelmäßig davon aus, dass sie in ihrem überpflichtgemäßen moralischen Engagement auch eine mögliche und ihnen angemessene Form der Lebenserfüllung finden, sonst können wir ihr Leben als Ganzes nicht als insgesamt gut qualifizieren. Will man die Bezeichnung der Abwägung mit Hilfe des Begriffs „gut“ auf die Belange der Moral begrenzen, so muss man den weiten Begriff von „gut“ also einschränken und von „moralisch gut“ sprechen. Henry Sidgwick hat „good“ bzw. „ultimate good“ mit „well-being“ gleichgesetzt, und manche sind ihm – insbesondere auch zur Ermöglichung einer Quantifizierung – darin gefolgt und sehen das „Wohl“, das „Wohlbefinden“ oder „Wohlergehen“ als moralisch bzw. ethisch umfassendstes Ziel und damit als ethisch entscheidend an.14 Aber das ist 13 Vgl. zur Abwägungsfunktion von „gut“: Verf., Deskription, Evaluation, Präskription, S. 260 ff. 14 Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S. 3, 392; James Griffin, Well-Being. Its Meaning, Measurement and Moral Importance, S. 40 ff.; Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls. Be-

4. Gut, richtig und gerecht als Begriffe der Abwägung bzw. Zusammen­fassung

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von vornherein limitierend und deshalb außerordentlich problematisch, denn selbst wenn etwas unser Wohlbefinden steigert oder sogar optimiert, muss es nicht in einem umfassenden Sinne gut sein. Die Steigerung des Wohlbefindens kann etwa zu einer geringer entfalteten, oberflächlichen Persönlichkeit, das heißt zu einem Verlust an Lebenserfahrung, Wahrnehmungsfähigkeit, emotionaler Empfindsamkeit, Religiosität oder Intelligenz führen, den wir nicht wollen und der deshalb nicht unseren reflektierten und grundlegenden Belangen bzw. Interessen entspricht. Es gibt offensichtlich Belange wie die soeben genannten, die jenseits des bloßen Wohlbefindens gut sind. Das Wohlbefinden ist somit nur ein Aspekt des Guten unter mehreren. Weil wir über diese Aspekte in einer normativen Ethik aber nicht von vornherein vom Lehnstuhl aus entscheiden können, ohne gegen das Prinzip des normativen Individualismus zu verstoßen, bleiben nur die Belange bzw. Interessen als ultimative Eigenschaft der zu berücksichtigenden Individuen und damit der moralischen bzw. ethischen Rechtfertigung.

b) Richtig Während sich der Begriff „gut“ auf alle möglichen Gegenstände beziehen kann, also Charakterzüge, Tugenden, Absichten, Zweck-Mittel-Abwägungen, den Willen, Handlungen, Zustände, Konsequenzen, ist der Begriff „richtig“ eher auf das Handeln begrenzt. Man würde wohl kaum von einem „richtigen Zustand“ sprechen, und auch ein „richtiger Charakter“, eine „richtige Tugend“, ein „richtiger Wunsch“ oder eine „richtige Konsequenz“ klingen zumindest ungewöhnlich. Der Grund liegt darin, dass „richtig“ auf die Handlung im engeren Sinn, also die Handlungsausführung fokussiert ist. Nun kann ein sehr weiter Handlungsbegriff – wie sich in Kapitel III ergab – auch die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen der Handlung, also etwa die Charakterzüge und Tugenden, sowie die Wünsche, die der Handlung zu Grunde liegen, und die Konsequenzen der Handlung umfassen. Man könnte dann einen im Gegenstand weiteren und einen im Gegen­stand engeren Begriff von „richtig“ unterscheiden, je nachdem, ob er alle Handlungselemente eins bis sieben einschließt oder auf die Handlungselemente drei bis sechs beschränkt bleibt. Jedenfalls kann man auch von einer Handlung als „richtig“ sprechen, sofern sie jenseits der Moral in einem technischen Sinn zweckmäßig ist. Der Begriff erreicht insofern fast den Umfang von „gut“. Man kann den Begriff dadurch einschränken, dass man nur von „moralisch richtig“ spricht. Dann wäre er allerdings im Gegenstand immer noch enger als „moralisch gut“.

gründung und Anwendung eines modernen Moralprinzips, S. 203–207; John Broome, Weighing Lives, Oxford 2004, S. 2, 12 ff.

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IV. Der modale Status der Zusammenfassung bzw. Abwägung der Belange

c) Gerecht bzw. das Gerechte oder die Gerechtigkeit „Gerecht“ können Tugenden, aber auch Handlungen und Konsequenzen sein. Allerdings ist Gerechtigkeit immer nur gegenüber Anderen möglich. Gegenüber einer Lawine kann man sich etwa tapfer oder besonnen verhalten, nicht aber „gerecht“. Und auch gegenüber sich selbst kann man nicht gerecht sein. „Selbstgerechtigkeit“ ist ein Fall falscher Selbstentschuldigung, aber keine begriffliche Form von Gerechtigkeit. Der Begriff der Gerechtigkeit schließt also in jedem Fall Pflichten gegen sich selbst aus. Dabei ist er aber ähnlich wie „gut“ und „richtig“ nicht auf die Moral beschränkt, sondern kann auch alle anderen Arten von primären und unmittelbaren Normen, Regeln und Bewertungen qualifizieren, etwa das Recht, Konventionen usw. In den Kapiteln XIV, 2 und XV, 3 wird der Begriff der Gerechtigkeit noch näher erläutert werden.

V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange: das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschafts­abhängigkeit Das fünfte und letzte Elements einer adäquaten normativen Ethik muss zeigen, wie die Zusammenfassung bzw. Abwägung der ethisch relevanten, das heißt potentiell divergierenden Belange nun tatsächlich inhaltlich vonstattengehen soll. Bevor dazu einzelne Kriterien bzw. Prinzipien diskutiert werden, ist es sinnvoll, den grundsätzlichen Fokus der Zusammenfassung zu klären, also deutlicher herauszuarbeiten, auf welcher Ebene die Abwägung überhaupt stattfindet.

1. Der Fokus der Zusammenfassung Die im Rahmen der Zusammenfassung zu berücksichtigenden Belange des in einer Situation handelnden Akteurs und der betroffenen Anderen beziehen sich notwendig auf die potentielle Handlung dieses Akteurs mit ihren sieben Teilen. Dabei sind die Belange des Akteurs und der betroffenen Anderen selbst Aspekte ihrer eigenen Handlung, genauer der eigenen Handlungsteile eins bis drei, das heißt der inneren Bedingungen (Strebungen und Bedürfnisse, eins), der Wünsche und Überzeugungen (zwei) sowie der Ziele (drei). Bevor die Belange aber überhaupt abgewogen werden können, müssen bestimmte für die Rechtfertigung grundlegende Voraussetzungen erfüllt sein. Man kann insofern wenigstens vier, sich erweiternde Radien im Hin­blick auf die Handlung des Akteurs unterscheiden:

a) Interne Handlungskonsistenz Der erste Radius ist der einer internen Konsistenz der Einzelteile der Handlung des Akteurs. Es kommt also zunächst darauf an, dass die Handlung mit ihren Komponenten als solche nicht in sich widersprüchlich ist. Ein Beispiel für einen handlungsinternen Widerspruch wäre, dass der Akteur etwas über seine Handlung denkt oder sagt und gleichzeitig etwas mit diesem Gedachten oder Gesagten Unverträgliches verwirklicht. Der Akteur kann etwa ein nach seiner eigenen Auffassung ungeeignetes Mittel (Element 4) zur Verfolgung seines Ziels (Element 3) wählen, etwa wenn er jemand anderen durch bloße böse Gedanken körperlich verletzen will. Oder er kann den Willen haben, einem Anderen etwas Angenehmes zu tun (Element 5) und ihm gleichzeitig Schmerz zufügen (Element 6). In

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

diesen Fällen handelt er schon auf einer ersten, rein tatsächlichen Ebene der internen Handlungskonsistenz widersprüchlich. Eine derart selbstwidersprüchliche Handlung kann aus logischen Gründen von vornherein keine ethisch und moralisch gerecht­fertigte Handlung sein, so wie ein rundes Quadrat schon aus begrifflich-logischen Gründen unmöglich ist, so dass sich die Frage nach seiner tatsächlichen Existenz gar nicht stellt. Für den Ausschluss derartiger begrifflich-logischer Handlungswidersprüche benötigt man kein Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip der Belange. Es genügt die Forderung nach interner Konsistenz der Handlung.1 Diese Forderung nach interner Konsistenz bezieht sich auf alle sieben Elemente der im dritten Kapitel analysierten Handlung im weiteren Sinne, also (1) auf die äußeren, inneren und allgemeinen Bedingungen, (2) auf die Überzeugungen und Wünsche, (3) auf die Ziele bzw. Absichten, (4) auf die Zweck-Mittel-Abwägung, (5) auf die Fassung des konkreten Handlungswillens, (6) auf die Handlungsausführung und (7) auf die beabsichtigten, gewollten, vorausgesehenen oder zumindest voraussehbaren Konsequenzen. Eine interne Inkonsistenz der Handlung führt dazu, dass die Handlung nicht als Ganzes bewertet werden kann, sondern regelmäßig nur die einzelnen Teile der Bewertung isoliert unterliegen. So ist das Ziel, anderen Angenehmes zu tun, positiv, das Handeln ihnen Schmerzen zu bereiten dagegen negativ. Die Handlung gelangt mangels interner Konsistenz nicht als Ganzes auf die Ebene der Abwägung mit den Belangen anderer.

b) Interne Kohärenz der Belange des Akteurs Der zweite Radius ist der einer internen Kohärenz der Belange des Akteurs. Belange des Akteurs, die sich auf die in Frage stehende Handlung beziehen oder mit ihr realisiert werden, können einzelnen, über die Handlung hinausgehenden Belangen des Akteurs widersprechen. Dann bestehen gute, akteursinterne Gründe, die Handlung zu unterlassen. Der Akteur kann etwa das Bedürfnis nach einem Gespräch haben, gleichzeitig aber den generellen Wunsch verspüren, mehr für sich selbst zu sein. Es kann nicht strittig sein, dass es in der Realität solche Inkohärenzen der Belange beim Akteur gibt. Strittig ist nur ihre Interpretation. Diese Interpretation fällt auch in den Bereich der sog. Pflichten gegen sich selbst und wird in Kapitel VIII erörtert. Für die hier in Rede stehende intersubjektive Abwägung zählt von inkohärenten Belangen natürlich hauptsächlich derjenige Belang, der vom Individuum schließlich gewollt wird und sich in der Handlungsausführung realisiert. Im soeben erwähnten Beispiel wäre das also das Bedürfnis nach einem Gespräch, nicht der generelle Wunsch, mehr für sich selbst zu sein. Aber die Pluralität des Bezugs der Interessen Anderer auf alle Handlungsteile eröffnet auch den Bezug dieser Interessen auf nicht handlungs­wirksame Belange.

1

Vgl. für eine detailliertere Aufschlüsselung derartiger Inkonsistenzen rationalen Handelns: ­Onora O’Neill, Consistency in Action, in: Paul Guyer (Hg.), Kant’s Groundwork of the Metaphysics of ­Morals. Critical Essays, Lanham 1998, S. 103–131, S. 114 ff.

1. Der Fokus der Zusammenfassung

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c) Widerspruch des Handlungswillens oder der Handlungsausführung zu sozialen Institutionen oder Konventionen Der dritte Radius ist der eines Widerspruchs des Handlungswillens oder der Handlungsausführung, also der Handlungselemente fünf und sechs eines Akteurs, zu sozialen In­ stitutionen oder Konventionen, die der Akteur mit seinem Handeln selbst in Anspruch nimmt, denen er also zumindest implizit zustimmt. Bei diesem Radius handelt es sich etwa um den von Kant als Ausschlusskriterium vorgeschlagenen und noch näher zu diskutierenden Widerspruch der Maxime eines Handelns im Denken.2 Wer in Not ein falsches Versprechen gibt, wohl wissend, dass er es nicht wird halten können, handelt nach Kant selbstwidersprüchlich, weil er mit seinem Versprechen die allgemeine Annahme, dass Versprechen regelmäßig nicht ohne Erfüllungsabsicht gegeben werden, voraussetzt. Es ist aber natürlich rein faktisch möglich, dass sich der Einzelne derart als „Trittbrettfahrer“ einer sozialen Institution wie dem allgemeinen Vertrauen auf die Ernsthaftigkeit eines Versprechens verhält. Der signifikante Widerspruch besteht also zwischen dem äußeren Verlautbarungscharakter des Handelns und dem inneren Willen. Auch hier spielen wie beim ersten Radius daher die Belange des Akteurs und der betroffenen Anderen keine direkte Rolle.3 Nicht die aus Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen, also den Handlungsteilen (1–3) synthetisierten Belange treten direkt zueinander in Widerspruch, sondern der konkrete Handlungswille (5) und / oder die Handlungsausführung (6) beim Akteur im Verhältnis zur sozialen Institution oder Konvention. Allerdings findet hier zumindest indirekt eine Entscheidung zwischen divergierenden Belangen statt, denn hinter jedem konkreten Handlungswillen und jeder konkreten Handlungsausführung stehen als Rechtfertigung die Belange des Akteurs und jede soziale Institution und Konvention verkörpert ihrerseits eine Lösung der Abwägungsfrage hinsichtlich der Belange aller Beteiligten. Insofern ist es gerechtfertigt, diesen dritten Radius – wie es nachfolgend geschehen wird – wenigstens indirekt als eine Form der Abwägung zwischen den Belangen der Betroffenen anzusehen. Wie sich noch erweisen wird, hat Kant auch eine Inkonsistenz der Handlungsziele im Rahmen eines „Widerspruchs im Wollen“ vorgeschlagen. Mit den Zielen ist dann aber bereits ein  – bzw. bei rationalen Wesen sogar das wichtigste  – Teilelement der Belange miteinbezogen. Man erreicht damit also schon den vierten Radius, weil sich die Ziele nicht von ihrer Bewertung und Relativierung der Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen ablösen lassen.

2 3

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 421. Vgl. dazu Onora O’Neill, Consistency in Action, S. 103 ff.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

d) Divergenz der Belange zweier moralisch relevanter Individuen bezüglich einer Handlung Der vierte Radius betrifft schließlich die Hauptfälle der Ethik und Moral, in denen die Belange zweier oder mehrerer jeweils eigenständig moralisch zu berücksichtigender Individuen direkt bezüglich der Handlung des Akteurs divergieren, also zum Beispiel der Fall der gezielten Tötung, Verletzung oder sonstigen Schädigung eines anderen moralisch zu berücksichtigenden Wesens oder der Hilfeleistung für dieses Wesen.

e) Verschiedene Prinzipien Im Folgenden wird nur die Zusammenfassung der Belange in den letzten beiden Radien als zentrale Frage der Moral bzw. Ethik diskutiert. Beim ersten Radius handelt es sich lediglich um handlungstheoretische Voraussetzungen der moralischen bzw. normativethischen Abwägung, die eher in das Gebiet der Handlungsphilosophie fallen. Auf die Frage nach den Pflichten gegen sich selbst, also den Radius zwei, wird im Kapitel VIII eingegangen. In Theorien der Ethik sind viele verschiedene Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzipien der Belange bzw. Interessen der Betroffenen vorgeschlagen worden: das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip, das Diskursprinzip, das Verallgemeinerungsprinzip, das Maximierungsprinzip, das Gleichheits­prinzip, das Genügensprinzip (satisficingprinciple), das Paretoprinzip, das Aufopferungsprinzip / Kaldor-Hicks-Prinzip, das Maximinprinzip (Differenzprinzip), das Utilexprinzip, das Leistungsprinzip, das Prioritätsprinzip usw. Im Folgenden wird die Grundthese vertreten, dass allen diesen ernsthaft vorgeschlagenen Prinzipien eine gewisse partielle Berechtigung zukommt. Aber sie zerfallen in zwei Klassen, deren Mitglieder aus unterschiedlichen Gründen die jeweils an das fünfte Element gestellte Aufgabe der Abwägung bzw. Zusammenfassung der Individualbelange allein nicht adäquat zu erfüllen vermögen: Die Prinzipien sind entweder zu abstrakt und formulieren deshalb mehr oder minder nur alle oder wenigstens die wesentlichen der hier bereits erläuterten und akzeptierten vier Elemente einer adäquaten normativen Ethik. Sie können deshalb die Abwägung nicht inhaltlich und damit kon­kret steuern (Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip, Diskursprinzip). Oder sie sind zu konkret und deshalb allenfalls in bestimmten Fallkonstellationen als allei­niges oder auch nur hauptsächliches Prinzip der Abwägung überzeugend (Verallgemeinerungsprinzip, Maximierungsprinzip, Gleichheitsprinzip, Paretoprinzip, Genügensprinzip, Maximinprinzip, Aufopferungsprinzip / Kaldor-Hicks-Prinzip, Utilexprinzip, Leistungsprinzip usw.). Diese kritische Grundthese kann hier für die einzelnen erwähnten Prinzipien nur skizziert werden, bevor dann mit dem Prinzip der relativen Individual-, Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange ein Metaprinzip vorgeschlagen wird, das als fünftes Element und allgemeines Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip einer adäquaten normativen Ethik weder zu abstrakt noch zu konkret ist und deshalb die zu

2. Kritik des Vertragsprinzips / Diskursprinzips

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abstrakten Prinzipien zum einen konkretisieren und die zu konkreten Prinzipien zum anderen bis zu einem gewissen Grade bestimmen kann.

2. Kritik des Vertragsprinzips / Diskursprinzips a) Vertragsprinzip / Zustimmungsprinzip Das Vertragsprinzip bzw. Zustimmungsprinzip war sowohl in seiner klassischen Fassung bei Hobbes, Locke, Rousseau und Kant als auch in seiner modernen Fassung bei Rawls zunächst auf die Rechtfertigung politischer oder gesellschaftlicher Konfliktlösungen beschränkt.4 In neueren Theorien findet sich aber der Versuch, seinen Anwendungsbereich auszuweiten und es zum allgemeinen Abwägungsgrundsatz der normativen Ethik, also zum generellen Prinzip der Lösung aller individuellen und sozialen Konflikte der Moral und anderer primärer Normordnungen zu erheben. Nach einer Version des Vertragsbzw. Zustimmungsprinzips, die Thomas Scanlon vorgeschlagen hat,5 soll eine Handlung genau dann moralisch falsch sein, wenn ihre Durchführung unter den gegebenen Umständen von jeder Menge von Prinzipien zur Regelung des Verhaltens verboten würde, die niemand als Basis informierter, ungezwungener und allgemeiner Zustimmung vernünftigerweise zurückweisen könnte.6 „Vernünftig“ („reasonable“) wird dabei nicht wie bei manchen anderen Theoretikern als „zweckrational“ im Verhältnis zu den Zielen des Akteurs verstanden, sondern setzt beim jeweils zu Berücksichtigenden eine gewisse Menge an Informationen und relevanten Gründen voraus.7 Scanlon gesteht allerdings von vornherein zu, dass das Vertragsprinzip nicht alle primären Normordnungen rechtfertigen kann, sondern nur den Teil, in dem wir anderen etwas „schulden“ („what we owe to each other“), in dem es also um „richtig“ oder „falsch“ geht, nicht um Werte und Lebensideale.8 Im Übrigen entfaltet er das Prinzip zunächst als Prinzip der Motivation,9 erstreckt es dann aber auch auf die normative Rechtfertigung und den Inhalt moralischer Konfliktlösungen.10 Bereits im Rahmen der Diskussion des normativen Individualismus als erstem Element einer adäquaten normativen Ethik wurde darauf hingewiesen, dass das Ver4 5 6

7 8 9 10

Vgl. zu einer Darstellung neuerer Theorien: Peter Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1998. Eine andere erweiterte Version des Vertragsprinzips findet sich bei David Gauthier, Morals by Agreement, Oxford 1986. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 153: „It holds that an act is wrong if its performance under the circumstances would be disallowed by any set of principles for the general regulation of behavior that no one could reasonably reject as a basis for informed, unforced general agreement.“ Vgl. zu einer ersten Version dieser Formulierung des Prinzips: ders., Contractualism and Utilitarianism, in: Amartya K. Sen / Bernard Williams, Utilitarianism and Beyond, Cambridge 1982, S. 103–128, S. 116. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 192. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 6 ff., 171 ff., 342 ff. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 148 ff. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 189.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

tragsprinzip, zumindest so wie es von allen wichtigen klassischen und modernen Vertragstheoretikern verstanden wurde, dieses erste Element des normativen Individualismus grundsätzlich enthält.11 Allerdings gilt dies uneingeschränkt nur für das erste Teilprinzip des normativen Individualismus, also das Individualprinzip. Im Hinblick auf das zweite Teilprinzip des normativen Individualismus, also das Allprinzip, fordert das Vertragsprinzip zwei Einschränkungen. Diese resultieren aus der Annahme, dass die mögliche Zustimmung bzw. die unmögliche Zurückweisung durch andere entscheidend sein soll. Zum einen wird von vornherein ausgeschlossen, dass der Akteur und der Andere identisch sind, dass es also Pflichten gegen sich selbst gibt, was mit dem Allprinzip prinzipiell vereinbar wäre. Zum zweiten werden Individuen, die niemals zu einer sprachlich-kommunikativen Zustimmung in der Lage sein werden, also Tiere und Pflanzen, grundsätzlich nicht wie Menschen als selbständige, moralisch relevante Wesen berücksichtigt.12 Das dritte Teilprinzip des normativen Individualismus – also das Prinzip der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung – scheint dagegen wieder im Vertragsprinzip enthalten zu sein. Hinsichtlich des zweiten Elements der moralisch relevanten Eigenschaft wird dagegen eine Vorauswahl getroffen, indem die Eigenschaft der potentiellen Zustimmung als entscheidend angesehen wird, wobei Scanlon aber verschiedentlich auch in einem offenbar weiteren Sinn von „Belastungen“ („burdens“) und „Kosten“ („costs“) spricht.13 Beim dritten Element des Bezugs der Belange auf die Handlung des Akteurs impliziert das Vertragsprinzip grundsätzlich – wie oben sachlich vorgeschlagen – keine Bevorzugung eines Handlungselements, weil die potentielle Zustimmung durch die Betroffenen sich ja prinzipiell auf alle möglichen Teile der Handlung des Akteurs erstrecken kann. Scanlon spricht aber wie schon Rawls14 an verschiedenen Stellen ohne weitere Erläuterung von den „Konsequenzen“ bzw. „Effekten“ der Handlung als entscheidend15  – scheinbar ohne sich zu verdeutlichen, dass diese Beschränkung der potentiellen Zustimmung auf die Konsequenzen vom Vertragsprinzip als solchem nicht gefordert wird. Schließlich impliziert das Vertragsprinzip hinsichtlich des vierten Elements der Modalität der Zusammenfassung wie oben die Annahme der normativen Notwendigkeit, weil es impliziert, dass die im Konflikt stehenden Belange abgewogen werden müssen. Man kann also zusammenfassen, dass das Vertragsprinzip mit den bereits diskutierten und bejahten vier Elementen einer adäquaten normativen Ethik teils übereinstimmt, teils restriktiver ist. Wichtig ist aber nun: Zwar fordert das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip wie die bisher bejahten vier Elemente – abgesehen von den erwähnten Einschränkungen – eine Abwägung der individuellen Belange. Es kann aber nicht zeigen, wie diese Abwägung bzw. Zusammenfassung konkret vonstatten gehen soll. Das Vertragsprinzip verlangt also zwar eine Zusammenfassung der individuellen Belange und ist somit gemäß den bisheri11 12 13 14 15

Vgl. Kapitel II, 2 c). Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 177 ff. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 195, 208, 205. John Rawls, A Theory of Justice, S. 30. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 203, 213.

2. Kritik des Vertragsprinzips / Diskursprinzips

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gen Überlegungen – sieht man von seinen Restriktionen ab – berechtigt, liefert aber selbst kein konkreteres Prinzip, das eine derartige Zusammenfassung der individuellen Belange steuern oder strukturieren könnte. Es bleibt somit als fünftes Element einer adäquaten normativen Ethik zu abstrakt und damit unterbestimmt. Die Bewertung, dass eine Handlung nur dann falsch sein soll, wenn sie von jeder Menge von Prinzipien verboten würde, die niemand vernünftigerweise zurückweisen könnte, ist mit allen möglichen konkreteren Prinzipien der Zusammenfassung – die im Fortgang noch näher erläutert werden – kompatibel, etwa mit dem Maximierungsprinzip des Utilitarismus,16 dem Gleichheitsprinzip, dem Genügensprinzip, dem Paretoprinzip oder dem Maximinprinzip, je nachdem, was man als Grund für eine vernünftige Verneinung eines dieser konkreteren Prinzipien akzeptiert. John Rawls glaubte etwa, dass das Vertragsprinzip im Rahmen der politischen Ethik das Maximinprinzip begründet,17 während Scanlon als Rawls’ Schüler bezeichnenderweise eine Rechtfertigung des Maximinprinzips als allgemeines Prinzip der Ethik ablehnt.18 Dabei kann eine tatsächliche Durchführung des Vertrags- bzw. Übereinstimmungsprozesses, die für konkrete Fälle selbstredend zu eindeutigen Ergebnissen führen könnte, nicht entscheidend sein,19 denn sie ermöglicht zwar eine faktische Lösung des Konflikts im Einzelfall. Sie kann aber diese faktische Lösung des Konflikts im Einzelfall nicht als allgemeines Prinzip der Lösung aller anderen einzelnen Konflikte und damit als allgemeines normativ-ethisches Prinzip rechtfertigen, denn warum sollten andere Individuen durch die zufällige individuelle Standfestigkeit oder Nachgiebigkeit, also das zufällige Verhandlungsgeschick der Vertragspartner normativ-ethisch gebunden sein? Scanlon bewertet die Offenheit des Vertragsprinzips als Vorzug.20 Aber auch wenn man diesen Vorzug anerkennt, bleibt festzuhalten, dass das Prinzip zu abstrakt und damit zu unbe­stimmt ist, um hinsichtlich des fünften Elements der Abwägung zu einer inhaltlichen Bestimmung zu gelangen. Auf eine derartige inhaltliche Bestimmung der Abwägung kann die normative Ethik aber nicht verzichten, soll sie ihre Funktion der Rechtfertigung und Kritik der Moral und anderer primärer Normordnungen erfüllen.

b) Das Diskursprinzip Das Diskursprinzip „D“ lautet nach Jürgen Habermas: „Jede gültige Norm müsste die Zustimmung aller Betroffenen, wenn diese nur an einem praktischen Diskurs teilnehmen würden, finden können.“21 Während Scanlon nur die hypothetische Unmöglich-

16 17 18 19 20 21

Dies gesteht Scanlon selbst zu: Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 189. John Rawls, A Theory of Justice, S. 152 ff., 175 ff. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 223, 228 ff. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 394, Fn. 5, 395, Fn. 18, 168. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 216. Jürgen Habermas, Was macht eine Lebensform rational?, S. 32; vgl. ders., Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, S. 103.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

keit der Zurückweisung seitens aller Betroffenen als Kriterium ansieht, fordert Habermas also die hypothetische Zustimmung. Ob dies in der Sache einen Unterschied ergibt, hängt von der Frage ab, ob die hypothetische Zurückweisung und Zustimmung kontradiktorisch oder nur konträr zueinander stehen. Von dieser etwas unterschiedlichen Formulierung abgesehen, ist ein wesentlicher sachlicher Unterschied zum Vertragsprinzip im Hinblick auf die hier interessierende Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsfunktion aber nicht erkennbar.22 Die soeben wiedergegebene Einschätzung des Vertragsprinzips gilt somit in grundsätzlich gleicher Weise auch für das Diskursprinzip. Allerdings führt Habermas noch einen Universalisierungsgrundsatz „U“ als „Argumentationsregel“ ein, der als Ausgangspunkt für die „sparsame Formel“ D dienen soll: „Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können.“ Diese Formel ist restriktiver als das Diskursprinzip, weil sie sich auf die „Folgen und Nebenwirkungen“ beschränkt. Eine derartige Beschränkung auf die Konsequenzen wurde im Rahmen der Erörterung des dritten Elements aber bereits kritisiert und abgelehnt. Sie wird sogleich noch einmal beim inhaltlich vergleichbaren „Argument der Verallgemeinerung“ Marcus George Singers erörtert. Sieht man von dieser konsequentialistischen Einschränkung durch den Universalisierungsgrundsatz U ab, so geht die Diskursethik offensichtlich nur in ihrer Forderung nach tatsächlichen Diskursen und Konsensen und nach legitimen Diskursbedingungen über das Vertragsprinzip hinaus. Diese Forderung nach Diskursen und Konsensen lässt sich als praktische Forderung auch durch den normativen Individualismus rechtfertigen, sofern man sie als Konkretisierung der Verpflichtung zur Berücksichtigung aller betroffenen Individuen versteht. Diese Verpflichtung zur Berücksichtigung aller betroffenen Individuen führt zur Pflicht, im konkreten moralischen Konflikt alle kommunikativen Mittel zu ergreifen, um die Belange der Betroffenen zu erkennen, zur Gel­tung zu bringen und zu harmonisieren. Damit ist aber die Frage nach einem adäquaten ethischen Abwägungsprinzip noch nicht beantwortet. Die tatsächliche Durchführung eines Diskurses und die tatsächliche Erzielung eines Konsenses können einen moralischen Konflikt zwar faktisch lösen. Dann aber braucht man jenseits des Gebots zur Suche nach faktischen Konfliktlösungen weder Moral noch Ethik. Moral und Ethik werden also überhaupt nur relevant, wenn sich ein moralischer Konflikt nicht durch faktische Prozeduren und einen faktischen Konsens lösen lässt, etwa weil beide Konfliktparteien einfach auf ihrem Standpunkt beharren. Der Konflikt zwischen dem Mörder, der morden will, und dem Opfer, das nicht ermordet werden will, lässt sich nicht durch einen faktischen Diskurs

22

Ein Unterschied liegt allerdings darin, dass Scanlon von „Handlungen“ und „Prinzipien“ spricht, Habermas von „Normen“. Aber „Prinzipien“ sind in diesem Zusammenhang sicherlich „normative Prinzipien“. Und mangels einer eindeutigen Unterscheidung von Moral und Ethik bei Scanlon kann das Vertragsprinzip nicht auf ein bloßes Metaprinzip ethischer Prinzipien beschränkt werden. Die weitere kommunikationstheoretische Einbettung des Diskursprinzips, etwa die Begründung durch das oben erwähnte Prinzip „U“, kann für die hier zu erörternde spezifische Frage der Abwägung unerörtert bleiben.

2. Kritik des Vertragsprinzips / Diskursprinzips

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oder Konsens lösen, sondern nur durch ein kategorisches moralisches und rechtliches Gebot, außer in Fällen der Notwehr nicht zu töten. Dieses Tötungsverbot kann nun aber seinerseits nicht durch faktischen Diskurs und Konsens gerechtfertigt werden, weil es im Falle eines Konsenses keines kategorischen Verbots bedarf. Somit bleibt nur der hypothetische Diskurs bzw. Konsens als Kriterium der Abwägung. Das Kriterium des hypothetischen Diskurses bzw. Konsenses ist nun aber nichts anderes als das oben erörterte Prinzip der möglichen Zustimmung bzw. Nichtzurückweisung einer Lösung, also das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip. Das bedeutet: Der faktische Diskurs und Konsens kann zwar konkret konfliktlösend wirken, ist aber ethisch und moralisch nicht universell rechtfertigend, der hypothetische Diskurs und Konsens kann zwar prinzipiell universell rechtfertigend sein, ist aber mangels eines spezifischeren Abwägungsprinzips nicht konkret konfliktlösend. Es ist also nicht erstaunlich, dass Habermas sein zu abstraktes Diskursprinzip sofort um das regelkonsequentialistische Prinzip U ergänzen muss, das nun aber wiederum zu speziell ist und dessen Probleme in Kapitel V, 4 noch erörtert werden. Diese sofortige Ergänzung des zu abstrakten Diskursprinzips durch ein zu konkretes bzw. spezielles Abwägungsprinzip entspricht im Übrigen genau dem Vorgehen Rawls’, der das abstrakte Vertragsprinzip sofort um das Prinzip der Gleichberücksichtigung von Freiheiten und das Maximinprinzip ergänzen muss und große Schwierigkeiten hat, zu begründen, dass diese konkreten Abwägungsprinzipien aus dem abstrakten Vertragsprinzip folgen. All dies zeigt, dass das Zustimmungsprinzip als solches die Aufgabe einer inhaltlichen Abwägung nicht bewältigen kann.

c) Annahme der Zustimmung auf der Basis gemeinsam geteilter Interessen Weitere Versuche der Ergänzung und Konkretisierung des Zustimmungsprinzips finden sich bei einigen Theoretikern, die in der Nachfolge von Hobbes für eine Minimalmoral plädieren.23 Danach soll man eine hypothetische Zustimmung und damit eine ethische Rechtfertigung der Moral nur insofern annehmen können, als sich zeigen lässt, dass die Moral Interessen dient, die so elementar sind, dass sie so gut wie jeder Mensch besitzt, dass sie uns also allen gemeinsam sind. Das soll sich nur für fundamentale Interessen, wie etwa die Interessen, nicht getötet, verletzt, gezwungen, bestohlen, belogen und betrogen zu werden, annehmen lassen. Grundsätzlich verdient diese Konkretisierung des Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzips im Hinblick auf die genannten fundamentalen Interessen Unterstützung. Niemand wird bestreiten, dass ein moralischer Schutz dieser grundlegenden Belange in 23

Vgl. Richard B. Brandt, A Theory of the Good and the Right, S. 219; Norbert Hoerster, Moralbegründung ohne Metaphysik, Erkenntnis 19 (1983), S. 225–238; ders., Ethik und Interesse, Stuttgart 2003, S.  162 ff.; ders., Was ist Moral? Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2008, S.  57 ff.; Bernard Gert, Morality. Its Nature and Justification, New York / Oxford 1998, S. 157 ff.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

jedermanns besonderem Interesse liegt. Das Problem dieser Auffassung besteht aber im Ausschluss von Interessen, die nicht alle gemeinsam haben oder die gar nur ein Einzelner aufweist. Man fragt sich: Warum soll es zur Lösung eines konkreten moralischen Konflikts mit konkreten Interessen konkreter Personen entscheidend sein, dass alle anderen Nichtbeteiligten die gleichen Interessen haben? Was berühren die je in einem Widerstreit Betroffenen die Interessen der Nichtbeteiligten? Müssen die Moral und die Rechtfertigung der Ethik nicht auch dazu dienen, gerade in einem Konflikt mit einem ganz einmaligen und singulären Interesse einer einzelnen konkreten Person zu einer Lösung zu gelangen? Verdient etwa das Interesse an einer ungewöhnlichen Lebensführung, das vielleicht nur ein einziger Mensch hat, keine Berücksichtigung, weil es nicht von allen geteilt wird, etwa das offenbar zunehmend verschwindende Interesse, nicht überall vom Geräusch und den Bildern öffentlicher Fernsehübertragungen („Public Viewing“) behelligt zu werden (wobei meine Hoffnung weiterbesteht, dass dieses Interesse noch andere teilen)? Die minimalmoralische Auffassung differenziert nicht hinreichend zwischen der Moral als Ganzer, die natürlich nur gerechtfertigt sein kann, sofern sie ihrem grundsätzlichen, von allen geteilten Ziel der Vermittlung widerstreitender Belange genügt, und der konkreteren Recht­fertigung einzelner Teile bzw. Normen der Moral, die nicht in jedem Fall gemeinsame Interessen voraussetzen kann, soll sie dem Prinzip des normativen Individualismus genügen und nicht in einen normativen Kollektivismus der Beschränkung auf das „gemeinsam Geteilte“ verfallen. Es vermag also nicht zu überzeugen, das Prinzip der notwendigen allgemeinen Zustimmung auf diejenigen Interessen zu beschränken, die uns allen oder auch nur einer großen Mehrheit gemeinsam sind. Im Übrigen ist damit ja selbst für die zu berücksichtigenden gemeinsamen Interessen noch nicht gezeigt, wie nun die Abwägung im Konfliktfall aussehen soll, ob man etwa den Mörder belügen darf, um das Leben des Opfers zu retten. Die abstrakte Beschränkung der Menge der Interessen liefert kein inhaltliches Abwägungsprinzip für die Lösung zwischen konkret konfligierenden Interessen. Die Beschränkung der Moral auf gemeinsam geteilte Interessen scheint aber noch aus einem anderen Grund zu restriktiv. Selbst wenn man den rationalistischen Ausgangspunkt der Notwendigkeit einer konkreten individuellen Zustimmung Einzelner akzeptierte, könnte es für den Einzelnen notwendig sein, um des Schutzes seiner eigenen hochrangigen Interessen willen auch Moralnormen zuzustimmen, welche Interessen dienen, die er selbst nicht teilt. Um etwa Schutz vor der Tötung durch Andere mittels eines moralischen Tötungsverbots zu erlangen, könnten die Anderen prinzipiell etwa auch den Respekt vor spezifischen religiösen Kulthandlungen oder beliebige andere Belange zur Bedingung erheben. Den Einzelnen mag dieses Interesse gleichgültig lassen. Aber es kann für ihn rational sein, neben dem Verzicht auf die Tötung Anderer diese geringe zusätzliche Einschränkung seiner Handlungsfreiheit in Kauf zu nehmen, um den ihm so wichtigen Schutz des eigenen Lebens durch ein allgemeines Tötungsverbot zu erlangen. Ein Grund, warum die Freiheit und das Bestreben der Individuen, alle ihre Belange auch auf diesem Weg so weit als möglich zu realisieren, eingeschränkt werden sollte, ist nicht ersichtlich.

3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips

175

3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips Um das Verallgemeinerungsprinzip zu kritisieren, muss es zunächst vom Prinzip der Generalisierung abgegrenzt werden.

a) Der Unterschied zwischen dem Prinzip der Verallgemeinerung und dem Prinzip der Generalisierung Das Prinzip bzw. Argument der Verallgemeinerung unterscheidet sich in seinem Anspruch, moralisch und ethisch signifikantes Abwägungskriterium zu sein, von einem logischen oder quasi-logischen und damit für die ethische Abwägung nicht signifikanten Prinzip der Generalisierung, Universalisierung bzw. Gleichheit einzelner Handlungen oder Zustände.24 Das Prinzip der Generalisierung bzw. Universalisierung lautet etwa: „Wenn die Handlung a für A gut ist, so ist sie auch für jede andere ähnliche Person B in ähnlichen Umständen gut.“ Mit Hilfe dieses Prinzips kann die Frage, ob die Handlung a für A gut ist, aber nicht beantwortet werden, denn diese Annahme wird in ihm ja bereits als Bedingung vorausgesetzt. Das Prinzip der Generalisierung ist also als ethisches Abwägungsprinzip divergierender Belange nicht tauglich. Für die ethische Abwägung allein tauglich kann das Prinzip bzw. Argument der Verallgemeinerung sein. Es existiert in vielen Versionen, von denen nachfolgend zwei diskutiert werden sollen:

b) Kants Verallgemeinerungsprinzip Am bekanntesten ist die kantsche Formulierung als Kategorischer Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“25 Dieses Kriterium soll nach Kant im Fall der Unmöglichkeit der Verallgemeinerung eines Tuns zu dessen Verbot und im Fall der Unmöglichkeit der Verallgemeinerung eines Unterlassens zu dessen Gebot führen.26 24

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26

Vgl. Richard B. Brandt, Ethical Theory, S.  19 ff.; „Prinzip der Gleichheit“ findet sich bei Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 2. Aufl. Freiburg 1977, S. 52, 56 ff. Vgl. auch Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, Frankfurt a. M. 1980, S. 231–235; Jörg Schroth, Die Universalisierbarkeit moralischer Urteile, Paderborn 2001, S. 11 ff. Die Terminologie ist uneinheitlich. Teilweise wird auch das moralisch signifikante Verallgemeinerungsprinzip „Universalisierungsprinzip“ genannt. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 421. Ich beschränke mich im Folgenden aus Raumgründen auf die allgemeine Formel und die Berücksichtigung der Naturgesetzformel. Die Formeln sollen nach Kant äquivalent sein. Die Möglichkeit der Verallgemeinerung eines Tuns führt also nicht zu seinem Gebot, sondern nur zu seiner Erlaubnis, die Möglichkeit der Verallgemeinerung eines Unterlassens nicht zum Verbot des Tuns, sondern zu seiner Erlaubnis. Es gibt somit auch moralisch indifferente Handlungen, die allenfalls den Regeln der Klugheit unterfallen. Vgl. H. B. Acton, Kant’s Moral Philosophy, London 1970, S. 21; Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, in: Manfred Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie Bd. II, Freiburg 1974, S. 456; Marcus G. Singer,

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Mit der Verallgemeinerung wird dabei nicht direkt die einzelne Handlung oder ein Teil der einzelnen Handlung beurteilt, sondern nur indirekt über eine Prüfung ihrer Maxime als „subjektives Prinzip“.27 Zwischen die einzelne konkrete Handlung sowie den einzelnen konkreten Willen und die abstrakte Verallgemeinerung wird also die mehr oder minder abstrakte Maxime eingeschoben. Fraglich ist nun zunächst, welchem Teil oder welchen Teilen der Handlung im Sinne der im Kapitel III unterschiedenen sieben Handlungselemente die Maxime entspricht, welchen Teil oder welche Teile der Handlung Kant also überhaupt der Verallgemeinerung und damit der Maximenbildung unterwerfen wollte. Prinzipiell in Frage kommen nach dem oben Gesagten (1) die äußeren, inneren und allgemeinen Bedingungen, (2) die Überzeugungen und Wünsche, (3) die Ziele bzw. Absichten, (4) die Zweck-Mittel-Abwägung, (5) die Fassung des konkreten Handlungswillens, (6) die Handlungsausführung oder (7) die Konsequenzen. Kant beginnt den ersten Abschnitt seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mit dem Satz „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“28 Er macht anschließend deutlich, dass nur die Beurteilung dieses „guten Willens“ für die Moralität einer Handlung entscheidend sein kann. Die inneren und äußeren Bedingungen einer Handlung, etwa die des inneren Charakters oder die äußerer „Glücksgaben“ wie Macht, Reichtum oder Ehre, also Faktoren, die das Handlungselement eins konstituieren, können zu schlechten Handlungen führen und sind deshalb nicht Teil des „guten Willens“. Ebenso nicht Teil des „guten Willens“ sind die rein tatsächlichen Konsequenzen der Handlung, also das Element sieben, da diese dem Zufall äußerer Einwirkungen unterworfen sind.29 Auch der bloße Wunsch, also das Element zwei, kann nach Kant nicht entscheidend sein. Nötig ist vielmehr „die Aufbietung aller Mittel, sofern sie in unserer Gewalt sind“.30 Damit verbleiben die Elemente drei bis sechs, also das Handlungsziel bzw. die Absicht, die Mittelwahl, der konkrete Handlungswille und die Ausführung der Handlung. Die Ausführung der Handlung ist als äußeres Geschehen vom Handlungswillen als ihrem inneren Antrieb abhängig. Es gibt also keine äußere Handlung ohne einen sie steuernden konkreten Handlungswillen. Kant sagt überdies: „Es kommt bei der Ethik nicht auf die Handlungen, die ich tun soll, sondern das principium an, woraus ich sie tun soll. Maxime.“31 Die tatsächliche

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30 31

Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt a. M. 1975, S. 279; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 139. Ich übergehe hier die historisch-exegetische Frage, ob Kant sein Kriterium wirklich als Testverfahren verstanden wissen wollte. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 420 Fußnote. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 393. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.  394. Dies betont auch Otfried Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, Zeitschrift für philosophische Forschung 1977, S. 354–384, S. 359. Damit sind aber natürlich die beabsichtigten Folgen als Teil des Handlungsziels nicht ausgeschlossen. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 394. Immanuel Kant, Reflexion 119, in: Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie, aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen hg. von Benno Erdmann und Norbert Hinske, Stuttgart / Bad Cannstatt 1992 (Neudruck der Ausgabe Leipzig 1882 / 1884).

3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips

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Handlungsausführung kann daher zunächst einmal außer Betracht bleiben. Übrig sind dann die Handlungselemente drei bis fünf, also das Handlungsziel, die Mittelwahl und der konkrete Handlungswille, der zur Ausführung der Handlung führt. Alle drei Elemente lassen sich sprachlich gut unter dem weit verstandenen Terminus des „guten Willens“ fassen, denn das Handlungsziel kann man auch als „Zielabsicht“ bzw. „Zielwillen“ bezeichnen. Wie lässt sich nun zwischen diesen drei Elementen entscheiden? Oder vielleicht muss man das überhaupt nicht, weil Kant alle drei Elemente im Rahmen der Verallgemeinerung berücksichtigen wollte? Zu einer Antwort ist es hilfreich, Kants nachfolgende Unterscheidung zwischen einem Widerspruch im Denken und einem Widerspruch im Wollen, die jeweils zu einer vollkommenen und einer unvollkommenen Pflicht führen sollen, zu berücksichtigen (vgl. zu einer Erläuterung sogleich).32 Soll diese Unterscheidung sinnvoll sein, so kann der zweite Fall des Widerspruchs im Wollen nur ein Unterfall der generell möglichen Inkohärenz des „guten Willens“, also der Elemente drei bis fünf der Handlung im weitesten Sinn sein. Denn wären „guter Wille“ und das Wollen des Widerspruchs im Wollen identisch, dann wäre – vorausgesetzt der „gute Wille“ umfaßt den ethisch relevanten Bereich – der Widerspruch im Denken kein eigenständiger Fall. Das bedeutet also, dass der allgemeine „gute Wille“ aus dem ersten Abschnitt der Grundlegung und der Wille, der beim Widerspruch im Wollen geprüft wird, nicht identisch sein können. Der Wille beim Widerspruch im Wollen muss vielmehr ein Teil des allgemeinen „guten Willens“ sein. Aber welcher? Dies lässt sich mit Hilfe der Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten klären. Kant schreibt: „Übrigens verstehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung verstattet, […]“33 Bei vollkommenen Pflichten, das heißt bei einem Widerspruch im Denken, kann also die Neigung keine Rolle spielen, während sie bei unvollkommenen Pflichten, also bei einem Widerspruch im Wollen, bedeutsam zu werden vermag. Wo kann die Neigung im Rahmen der Handlungselemente drei bis fünf nun eine Rolle spielen? Die Antwort lautet: bei der Auswahl der Mittel, also beim Handlungselement vier. Ist ein Akteur nur auf ein bestimmtes Handlungsziel (Element drei) moralisch verpflichtet, so steht ihm gemäß seinen Neigungen die Auswahl der Mittel (Element vier) frei, vorausgesetzt die Mittel sind zur Erreichung des Ziels im Wesentlichen gleich gut geeignet. Wer etwa einen Verdurstenden in der Wüste findet, kann ihm von seinen beiden Wasserflaschen entweder die eine oder die andere reichen, er kann also einer Neigung, eine der beiden Wasserflaschen lieber für sich zu behalten, etwa weil sie schöner verziert ist, nachgeben. Ist dagegen der konkrete Handlungswille (Element fünf ) moralisch verpflichtend, so hat der Akteur keinen wesentlichen Spielraum mehr, gemäß seinen 32

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Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 421 ff., 424: „Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde.“ Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 421, Fußnote.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Neigungen zwischen verschiedenen möglichen Mitteln zu wählen. Wer etwa verpflichtet ist, kein lügenhaftes Versprechen abzugeben, hat keine Möglichkeit der Mittelwahl beim Handlungselement vier. Damit ist erklärt, auf welches Element der Handlungselemente drei bis fünf sich das Verallgemeinerungskriterium bezieht: Der allgemeine „gute Wille“, der moralisch entscheidend ist, umfasst sowohl den Zielwillen als auch die Mittelwahl und den Handlungswillen. Dabei bezieht sich ein möglicher Widerspruch im Denken, der zu einer vollkommenen Pflicht führt, auf den konkreten Handlungswillen, also das Handlungselement fünf und damit auch notwendig auf die Mittelwahl, also das Handlungselement vier, die im Falle einer pflichtmäßigen Bestimmung des Handlungswillens nicht beliebig sein kann. Ein möglicher Widerspruch im Wollen, der eine unvollkommene Pflicht erzeugt, welche die Auswahl der Mittel zur Berücksichtigung der Neigungen offen lässt, richtet sich dagegen nur auf die Fassung des Handlungsziels, also das Handlungselement drei. Damit ist auch die Zwei­stufigkeit des Verallgemeinerungstests erklärt. Zunächst muss man bei der Prüfung des allgemeinen „guten Willens“ als Steuerungskern einer Handlung auf einer ersten Stufe fragen, ob nicht schon der Handlungswille (Element fünf ) als Konkretisierung der Mittelwahl (Element vier) in seiner durch die Maxime typisierten Form gedanklich widersprüchlich ist, so dass eine vollkommene Pflicht gerechtfertigt wäre. Ist dies nicht der Fall, dann ist auf einer zweiten Stufe zu prüfen, ob nicht wenigstens das hinter dem Handlungswillen und der Mittelwahl stehende Handlungsziel (Element drei) in seiner durch die Maxime typisierten Form, also das verallgemeinerte Handlungsziel, zu einem Widerspruch im Wollen und damit zu einer unvollkommenen Pflicht führt. Der Handlungswille, also das Handlungselement fünf, wäre in Kants Beispielen etwa der Wille des A in der typisierten Situation S, sich selbst zu töten oder ein falsches Versprechen abzugeben, Dieser Wille wird auf seinen Widerspruch im Denken überprüft. Hinter all diesen relativ konkreten Handlungswillen steht aber auch ein Handlungsziel, weil jedes Handeln ein Ziel hat.34 Dieses Ziel ist aber als typisiertes Ziel nur für den möglichen Widerspruch im Wollen, nicht für den möglichen Widerspruch im Denken entscheidend. Kant nennt als Beispiele, seine Talente brachliegen zu lassen und einem anderen in Not nicht zu helfen. Auf der ersten Stufe des Verallgemeinerungstests werden also der Handlungswille und die Mittelwahl als Elemente fünf und vier auf ihren Widerspruch im Denken überprüft, also etwa die Absicht sich selbst zu töten oder ein falsches Versprechen abzugeben. Auf der zweiten Stufe des Verallgemeinerungstests, beim Widerspruch im Wollen, wird dann das hinter dem Handlungswillen stehende ty34

Bereits Aristoteles hat das bekanntlich konstatiert, vgl. Nikomachische Ethik, I 1, und Kant wiederholt es: Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S.  385.  – Christine M. Korsgaard, Kant’s Analysis of Obligation. The Argument of Groundwork I, in: dies., Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996, S. 43–76, S. 57 f., schließt allerdings fälschlich aus der zutreffenden Tatsache, dass ein Handeln ohne Ziel nicht möglich ist, dass das jeweilige Handlungsziel nicht nur immer als solches in die Maximen eingeht, sondern auch immer dem Verallgemeinerungstest unterfällt. Im Übrigen können Handlungsziel und Handlungswille in einigen speziellen Situationen vermutlich auch zusammenfallen, etwa wenn jemand einen Spaziergang macht, ohne damit weitere Ziele – etwa der Entspannung, Naturerfahrung oder Gesunderhaltung – zu verbinden, oder wenn jemand tief einatmet, ohne weitere Ziele damit zu verfolgen.

3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips

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pisierte Handlungsziel dem Verallgemeinerungstest unterworfen, also etwa das typisierte Handlungsziel, seine Talente brachliegen zu lassen oder einem anderen in Not nicht zu helfen, ganz gleich welche Mittel zur Erreichung dieses Ziels eingesetzt werden. Wie sieht nun die Maximenbildung als Voraussetzung der Verallgemeinerung genauer aus? Bei der Maximenbildung treten an die Stelle der konkreten Handlung h und der konkreten Situation s der verallgemeinerte Handlungstyp H und der verallgemeinerte Situationstyp S. Damit wird aber auch der konkrete Handlungswille hw, in der Situation s die Handlung h auszuführen, zum generellen Handlungswillen HW, in der Situation S die Handlung H auszuführen. Die konkrete Mittelwahl mw wird zur generellen Mittelwahl MW. Schließlich wird – nimmt man an, dass alles Handeln zielgerichtet ist – auch das konkrete Handlungsziel hz notwendig zum generellen Handlungsziel HZ.35 Dies impliziert, wie sich aus dem soeben Gesagten ergibt, aber nicht, dass der Verallgemeinerungstest immer auch das Handlungsziel HZ umfasst. Maximen haben nach Kant selbst „noch Regeln unter sich“,36 sind also keine bloßen einfachen Vorsätze oder Regeln, sondern letzte, allgemeinste Bestimmungsgründe bzw. eine allgemeine Willensrichtung unseres Handelns und Lebens.37 Lässt man die Fälle von Pflichten gegen sich selbst außer Betracht, so führt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zwei Beispiele für eine moralische Konfliktlösung mit Hilfe eines Verallgemeinerungstests der Maximen durch den Kategorischen Imperativ an:

c) Das Beispiel des lügenhaften Versprechens Beim ersten Beispiel eines Widerspruchs im Denken, der zu einer vollkommenen Pflicht gegenüber Anderen führen soll, sieht sich jemand „durch Noth gedrungen“, Geld mit der Versicherung zu borgen, es zurückzuzahlen, obwohl er weiß, dass er es nicht zurückzahlen kann und deshalb auch nicht zurückzahlen wird. Er gibt also ein lügenhaftes Versprechen ab. Nach Kant wäre die Maxime eines entsprechenden Handlungswillens und folglich einer entsprechenden Handlung nicht verallgemeinerbar, „denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, dass jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, dass ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als eitles Vorgehen lachen würde“.38

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Maximen enthalten zwar notwendig Ziele bzw. Intentionen, vgl. Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S. 283 f., sind aber keine bloßen Intentionen, wie Singer, S. 287, anzunehmen scheint. Sie sind auch keine bloßen „obersten Zwecksetzungen“, wie Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 333, formuliert. Für eine umfassendere Auffassung: Onora O’Neill, Consistency in Action, S. 106 f. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 19. Otfried Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S. 359–362. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 423.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Die einzelnen Schritte des Verallgemeinerungstests lassen sich folgendermaßen präzisieren: (1) Wille / Handlung des lügenhaften Versprechens: A fasst den konkreten Handlungswillen hw (Element fünf ), sich in der konkreten Situation s der Geldnot als Mittel (mw) Geld zu leihen (h, Element sechs), um sich aus dieser Notsituation zu befreien (hz, Element drei), wohl wissend, dass er es nicht zurückzahlen kann. (2) Maxime des lügenhaften Versprechens: A fasst den generellen Handlungswillen HW, sich in typisierten Situationen S der Geldnot als generelles Mittel (MW) Geld zu leihen (H), um sich aus solchen Notsituationen zu befreien (HZ), wohl wissend, dass er es nicht zurückzahlen kann. (3) Hypothetische Verallgemeinerung der Maxime des lügenhaften Versprechens: Jeder fasst den generellen Handlungswillen HW, sich in typisierten Situationen S der Geldnot als Mittel (MW) Geld zu leihen (H), um sich aus solchen Notsituationen zu befreien (HZ), wohl wissend, dass er es nicht zurückzahlen kann. Das allgemeine Vertrauen auf die Ernsthaftigkeit von Versprechen, geliehenes Geld zurückzuzahlen, ist eine tatsächlich bestehende gesellschaftliche Institution. Der Verstoß gegen diese tatsächlich bestehende gesellschaftliche Institution ist dem A weder logisch noch faktisch unmöglich. Jeder Einzelne kann logisch widerspruchsfrei ein derartiges lügenhaftes Versprechen abgeben. Aber das ist nicht entscheidend, weil der Nichtwiderspruch ja nicht in der einzelnen Handlung (1), sondern zwischen der Maxime dieser Handlung (2) und ihrer hypothetischen Verallgemeinerung (3) liegen soll. Im Übrigen ist es auch nicht entscheidend, dass die gesellschaftliche Institution des Vertrauens auf die Ernsthaftigkeit eines Versprechens, geliehenes Geld zurückzuzahlen, durch massenhafte lügenhafte Versprechen erodieren und rein faktisch widerspruchsfrei verschwinden kann.39 Für die Frage der Verallgemeinerungsfähigkeit der Handlung des A ist die Notwendigkeit der im möglichen Widerspruch stehenden gesellschaftlichen Institution irrelevant. Es genügt ihr tatsächliches Bestehen. Die zentrale Frage lautet also, ob die Maxime (2) zur hypothetischen Verallgemeinerung (3) im Widerspruch steht. Nimmt man an, dass die allgemeine Praktik des lügenhaften Versprechens die gesellschaftliche Institution des Vertrauens auf die Ernsthaftigkeit des Versprechens, geliehenes Geld zurückzuzahlen, ausschließen würde,40 so bestünde zwischen Maxime (2) und Verallgemeinerung (3) tatsächlich ein gedanklicher 39 40

Dieser Einwand findet sich bei Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 149. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 147, scheint anzunehmen, dass allgemeines lügenhaftes Versprechen in Notsituationen die gesellschaftliche Institution des Vertrauens auf die Ernsthaftigkeit nicht zerstört. Aber man muss annehmen, dass der Geldgeber die konkrete Situation kennt, also weiß, dass sich der Versprechende in einer Notsituation befindet. Das Vertrauen auf Versprechen in Notsituationen wird dann unweigerlich zerstört. Es ist also für den Verallgemeinerungstest gleichgültig, wie eng oder weit der Situationstyp gefasst wird.

3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips

181

Widerspruch.41 Es ist gedanklich unmöglich, dass alle im Falle der Geldnot selbst lügenhafte Versprechen abgeben sowie dies auch von sich und allen anderen wissen und gleichzeitig auf die Ernsthaftigkeit der Versprechen Anderer vertrauen.42 Derartige Versprechen können dann nicht mehr als Versprechen abgegeben werden, denn sie haben keine Aussicht, beim Anderen Vertrauen als notwendige Bedingung für die Bereitschaft, Geld zu verleihen, zu erzeugen. Das bedeutet also, dass die Maxime gedanklich nicht verallgemeinerbar ist.43 Dabei kommt es für den Widerspruch im Denken nicht darauf an, mit welchem Handlungsziel HW (Element drei) A das lügenhafte Versprechen abgegeben hat. Kant erwähnt dieses Handlungsziel zwar zum Zweck der Situationsbeschreibung, nämlich um sich „aus Not zu helfen“.44 Aber entscheidend für den Widerspruch in der Verallgemeinerung ist hier nicht das abstraktere Handlungsziel (Element drei), sondern der typisierte Handlungswille (Element fünf ) und die typisierte Mittelwahl (Element vier) bzw. die durch beide gesteuerte typisierte Handlung (Element sechs). Das Handlungsziel bzw. der Zielwille, also das Element drei, könnten auch ganz andere sein, etwa sich ein schönes Leben zu machen oder andere zu unterstützen. Das würde zwar den Situationstyp ändern, wäre aber für den Widerspruch des verallgemeinerten Handlungswillens des lügenhaften Versprechens im Denken nicht entscheidend.45 41

42

43

44 45

Der gedankliche Widerspruch ist kein formallogischer, aber auch kein bloß empirischer. Die Möglichkeit eines derartigen gedanklichen Widerspruchs bleibt bei Korsgaards Unterscheidung zwischen einem logischen, einem teleologischen und einem praktischen Widerspruch unberücksichtigt. Vgl. Christine M. Korsgaard, Kant’s Formula of Universal Law, in: dies., Creating the Kingdom of Ends, S. 77–105, S. 78 ff. Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S. 458 ff., geht dagegen von der Suche nach einem logischen Widerspruch aus, nennt aber dann auch einen pragmatischen Widerspruch. Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 339, unterscheidet einen logischen und einen transzendentalpragmatischen Widerspruch und bejaht nur letzteren. Einen Widerspruch bejahen auch Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.  295–299, Günther Patzig, Der Kategorische Imperativ in der Ethik-Diskussion der Gegenwart, S. 156, Otfried Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S. 376–378, William K. Frankena, Ethics, S. 31, und Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S. 465, während Richard B. Brandt, Ethical Theory, S. 32, und Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 149 ff., zwar den Widerspruch im Denken ablehnen, den Widerspruch im Wollen aber akzeptieren, der allerdings lediglich zu einer unvollkommenen Pflicht führt. Auch Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 347, bejaht nur einen transzendentalpragmatischen Widerspruch im Wollen, der überdies kein Kriterium der Moralität ist. Joachim Aul, Aspekte des Universalisierungspostulats in Kants Ethik, Neue Hefte für Philosophie 22 (1983), S.  62–94, S.  73, hält dies mit folgendem Argument nur in der empirischen, nicht in jeder möglichen Welt für zutreffend: In einer Welt, deren Bewohner immer wieder vergessen, dass bisher alle ihre Versprechen lügenhaft gewesen sind, würde man Versprechen allgemein Glauben schenken. Aber das allgemeine Glaubenschenken setzt ja die Annahme voraus, dass man sich an die Abgabe der Versprechen erinnern kann. Wie die Bewohner dann immer wieder vergessen sollen, dass die Versprechen lügenhaft waren, ist nicht einsehbar. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 422. Allerdings sieht Kant beim ersten Beispiel einer vollkommenen Pflicht gegen sich selbst, dem Verbot des Suizids aus Selbstliebe, den Widerspruch nicht im Willen zur Tötungshandlung als solcher, sondern in der Selbstwidersprüchlichkeit einer Selbstliebe, die gleichzeitig das Leben befördert und zerstört (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 422). Hier wird die Selbstliebe aber nicht als Handlungsziel bzw. Zielwille relevant, sondern als Faktum der natürlichen Selbsterhaltung, das zum typisierten

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Beim Widerspruch des verallgemeinerten lügenhaften Versprechens kommt es nach Kant auch nicht darauf an, ob wir die soziale Institution des Vertrauens auf die Ernsthaftigkeit von Versprechen, geliehenes Geld zurückzuzahlen, für gut oder schlecht halten, denn sie wird bei der in Rede stehenden Handlung des falschen Versprechens einfach vorausgesetzt. Aber kann das überzeugen? Es ist eingewandt worden, dass der Kategorische Imperativ nicht nur die Erhaltung von wünschenswerten, sondern auch von nicht wünschenswerten Institutionen unterstützt, denn der Wert der Institution ist für den hypothetischen Widerspruch zwischen der Maxime und ihrer Verallgemeinerung irrelevant.46 Daran ist zutreffend, dass der Verallgemeinerungstest die Recht­fertigung der sozialen Institution selbst nicht begründen kann. Insofern ist er nicht in der Lage, eine vollständige Antwort auf die Frage nach der Moralität einer Handlung zu geben. Er sichert zwar die prinzipielle Gleichberücksichtigung aller, setzt aber die Belange, welche die Handlung des Akteurs rechtfertigen, und die Belange, welche die soziale Institution legitimieren, voraus. Beim Verallgemeinerungskriterium des Widerspruchs im Denken liegt ein weiteres Problem in der Nichtberücksichtigung der jeweiligen Ziele jenseits der Situationsbeschreibung. Ihr genuiner moralischer Wert ist damit ohne Bedeutung. So mag man sich fragen, ob das lügenhafte Versprechen oder die Lüge generell nicht vielleicht doch in extremen Notsituationen der Lebensrettung erlaubt sein müssten, wie es ja bereits der Begriff der „Notlüge“ nahelegt. Kant selbst war sicher nicht dieser Auffassung, wie seine strikte Ablehnung der Lüge zur Verhinderung eines Mordes bzw. Totschlags in seinem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen zeigt. Aber die Verallgemeinerung der Maxime, in Situationen der Irreführung eines Mörders aus Notwehr zu lügen, würde allenfalls ein mögliches Vertrauen von Mördern und anderen Straftätern, keine Notwehr erwarten zu müssen, untergraben. Ob auf diese Weise die Kollision zweier grundsätzlicher moralischer Pflichten, der Pflicht, die Wahrheit zu sagen, und der Pflicht, nicht zur Tötung Unschuldiger beizutragen, in einem Konflikt angemessen gelöst wird, erscheint außerordentlich zweifelhaft. Wie sich in Kapitel III ergab, ist der vollständige Verzicht auf die Berücksichtigung der voraussehbaren Folgen einer Handlung auch auf der abstrakten Ebene der Bestimmung allgemeiner Prinzipien der Moral ebenso wenig zu rechtfertigen wie die Beschränkung auf die Berücksichtigung dieser Folgen oder deren Primärsetzung durch den Konsequentialismus. Das bedeutet in Kants Beispiel: Das Verallgemeinerungskriterium des Widerspruchs im Denken enthält als Anerkennung der hypothetischen Möglichkeit eines gleichen Handelns aller ein wichtiges Element ethischer Beurteilung und konkretisiert damit das Allprinzip des normativen Individualismus in begründeter Weise. Aber es ist nicht in der Lage, allein die vollständige ethische Rechtfertigung einer Handlung zu garantieren, weil es zum einen die beim möglichen Widerspruch vorausgesetzten sozialen Institu-

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Willen des Suizids in Widerspruch treten soll. Da eine soziale Tatsache hier nicht zur Verfügung steht, muss Kant ein natürliches Faktum im Akteur finden, um einen – kaum überzeugenden – Widerspruch annehmen zu können. Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S. 468; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 151.

3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips

183

tionen nicht ihrerseits adäquat bewerten und zum anderen Pflichtenkollisionen nicht immer umfassend und deshalb allgemein lösen kann.

d) Das Beispiel der unterlassenen Hilfe Beim zweiten Beispiel eines Widerspruchs im Wollen und damit einer unvollkommenen Pflicht gegenüber Anderen weigert sich ein Akteur, zum Wohlbefinden eines Anderen oder zu dessen Hilfe in Not beizutragen, obwohl er dies ohne Schwierigkeiten tun könnte, ihm also eine Hilfeleistung zumutbar wäre. Die Erwägung hinter dem Unterlassen der Hilfe lautet: „Mag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, …“47 Die entsprechende Maxime, die Hilfeleistung zu unterlassen, würde nach Kant zwar nicht zu einem Widerspruch im Denken, aber zu einem Widerspruch im Wollen führen und wäre deshalb nicht verallgemeinerbar. Kant begründet dies folgendermaßen: „Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche ereignen können, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf, und wo er durch ein solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz, sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde.“48 Man kann die einzelnen Schritte dieses Verallgemeinerungstests folgendermaßen präzisieren: (1) Wille / Handlung der unterlassenen Hilfe: A fasst den konkreten Handlungswillen hw (Element fünf ), einem Anderen in der konkreten Situation s seiner Not nicht zu helfen (mw, h), obwohl er ohne Weiteres helfen könnte, damit jeder so glücklich ist „als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann“ (hz) (Element drei). (2) Maxime der unterlassenen Hilfe: A fasst den generellen Handlungswillen HW, einem Anderen in der typisierten Situation S seiner Not stets nicht zu helfen (MW, H), obwohl er ohne weiteres helfen könnte, damit jeder so glücklich ist „als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann“ (HZ). (3) Hypothetische Verallgemeinerung der Maxime der unterlassenen Hilfe: Jeder fasst den generellen Handlungswillen HW, einem Anderen in der typisierten Situation S seiner Not nicht zu helfen (MW, H), obwohl er ohne weiteres helfen könnte, damit jeder so glücklich ist „als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann“ (HZ). Anders als beim ersten Beispiel gibt es hier keine soziale Institution, zu der das verallgemeinerte Handeln, also die Maxime bzw. der verallgemeinerte Handlungswille aller in 47 48

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 423. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 423.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Widerspruch treten könnte. Fraglich ist deshalb kein Widerspruch zum Handlungswillen bzw. der Mittelwahl, also zu den Handlungselementen fünf und vier, sondern nur ein Widerspruch, der das Handlungsziel, also das Handlungselement drei betrifft. Das Handlungsziel umfaßt nun aber, dass jeder so glücklich sein soll „als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann“.49 Fraglich ist also, ob die verallgemeinerte Maxime dieses Handlungsziels in sich widersprüchlich ist. Dafür wurde ins Feld geführt, dass jemand, der den Willen hat, in der Not ohne Hilfe zu sein, nicht seine eigene Glückseligkeit zum Zweck haben kann und also sein eigenes Unglück will, was unmöglich ist.50 Dies sei eine analytisch-apriorische Wahrheit. Allerdings wird damit zum einen schon wie von Kant die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit als notwendiger Wille und damit als naturteleologische Tatsache vorausgesetzt. Zum anderen setzt die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit nicht analytisch-apriorisch notwendig die Inanspruchnahme fremder Hilfe voraus. Im Begriff der Glückseligkeit ist die Inanspruchnahme fremder Hilfe nicht bereits begrifflich enthalten, denn man kann folgende Überlegung anstellen: Wer in schwierigen Situationen von vornherein auf die Hilfe Anderer setzt, wird sein Leben sicherlich mit geringerer Aufmerksamkeit auf Risiken führen und verzichtet überdies auf die Kultivierung eigener Fähigkeiten, was ein unglücklicheres Leben nach sich zöge. Insgesamt wären also alle vielleicht glücklicher, wenn auf eine generelle Hilfeleistung in Not verzichtet würde. Das mag angesichts der conditio humana eine wenig realistische Erwägung sein, aber sie ist durch den Glücksbegriff nicht apriorisch-analytisch ausgeschlossen. Weiterhin wurde für Kants Lösung folgendermaßen argumentiert:51 Im Unterschied zum Be­griff des Wünschens rechne es Kant analytisch zum Begriff des Willens, sich nicht bloß Ziele zu setzen, sondern diese Ziele auch mit den erforderlichen und dem Wollenden zu Gebote stehenden Mitteln zu verfolgen. Es gehöre aber zum Begriff der Notlage, dass man gewisse lebenswichtige Ziele wolle und sie gleichwohl nicht aus eigener Kraft realisieren könne. Dann könne es eine Person aber nicht als Naturgesetz wollen, einerseits lebenswichtige Ziele zu wollen und den einzigen Weg der Realisierung in der Hilfe anderer zu sehen, diesen Weg der Realisierung seiner Ziele aber nicht zu wollen. Es dürfte nicht zweifelhaft sein, dass jemand, der im Einzelfall lebenswichtige Ziele will und diese nur mit Hilfe Anderer realisieren kann, allen Grund hat, deren Hilfe zu wollen. Problematisch ist hier aber die Bewertung der Verallgemeinerung. Die Verknüpfung von Zielen und Mitteln ist in einer empirisch-kontingenten Welt immer auch empirisch-kontingent und deshalb subjektiven Einschätzungen und Wertungen unterworfen. Es kann deshalb gute Gründe geben, ein Mittel nicht zu wollen, welches als einziges 49

50 51

Verschiedentlich wird dieses Ziel anders bestimmt. So meint Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S. 308, allerdings ohne textliche Grundlage, die Gründe, sich so zu entscheiden, seien „ganz klar die, dass er die Unbequemlichkeiten und Opfer vermeiden will, die die Hilfe für andere mit sich bringen würde“. Julius Ebbinghaus, Deutung und Mißdeutung des Kategorischen Imperativs, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, S. 80–96, S. 94. Otfried Höffe, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S. 382 ff. Vgl. zu einer ähnlichen Argumentation: Onora O’Neill, Consistency in Action, S. 123.

3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips

185

Mittel das gewollte Ziel realisieren könnte. Im Beispielsfall mag zwar die fremde Hilfe das einzige denkbare Mittel in einer konkreten Notlage sein. Aber eine hypothetisch verallgemeinernde Überlegung wird berücksichtigen müssen, dass die generelle Akzeptanz der Hilfe Anderer zur sinkenden Aufmerksamkeit auf Risiken und zur Abnahme der Kultivierung eigener Kräfte führen wird. Ob die allgemeine Inanspruchnahme der Hilfe Anderer unseren Zielen generell besser entspricht oder nicht, ist eine kontingente Frage der Einschätzung und Bewertung. Im Übrigen kann die Prüfung der typisierten Mittelwahl nach dem oben Gesagten allenfalls zu einem Widerspruch im Denken führen, nicht aber zu einem Widerspruch im Wollen, wie er von Kant für diese Beispiel angenommen wird. Mit der Verweigerung der Hilfeleistung setzt sich der Akteur anders als beim falschen Versprechen nicht zu einer selbst in Anspruch genommenen sozialen Praxis in Widerspruch, denn er nimmt damit selbst keine Hilfe in Anspruch. Er kann also ohne Weiteres die Hilfe verweigern und für sich selbst auf Hilfe verzichten. Das wäre sicher sehr unklug. Aber ein prinzipieller Widerspruch wie beim falschen Versprechen liegt darin nicht.52 Ein Widerspruch entstünde allenfalls, sofern man einen von zwei möglichen zusätzlichen Faktoren ins Spiel brächte: Der eine mögliche zusätzliche Faktor wäre die Annahme einer teleologischen Natur des Akteurs, die ihn zur Erhaltung seines Lebens mit allen denkbaren geeigneten und notwendigen Mitteln verpflichtete.53 Da die Inanspruchnahme der Hilfe Anderer wohl ein solches Mittel wäre, würde die Verweigerung der Hilfeleistung für Andere bei grundsätzlicher notwendiger Bereitschaft, selbst Hilfe anzunehmen, einen Widerspruch darstellen. Dieser Widerspruch kann aber nur auf der Grundlage der stark metaphysischen Annahme einer derartigen teleologischen Natur des Menschen zu Stande kommen. Da derartige Annahmen in einer säkular-immanenten Ethik jedoch nicht vorausgesetzt werden können, darf man diesen Faktor in einer derartigen Ethik nicht zur allgemeinverbindlichen Rechtfertigung eines Widerspruchs heranziehen. Der andere mögliche zusätzliche Faktor wäre, die Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen des Akteurs ins Feld zu führen, kurz, seine Belange, die ihn dazu bestimmen, fremde Hilfe zu akzeptieren. Und diese Bestimmung besteht tatsächlich: Die Belange der Menschen sind vielfach auf die eigene Erhaltung und das eigene Lebensglück gerichtet. Sie beziehen sich dann aber auch auf mögliche Mittel zur Realisierung dieser Ziele, also auf das wohl nötige Mittel, die Hilfe Anderer anzunehmen. Aber das Ziel der Selbsterhaltung ist, sofern man es nicht mit der ersten Alternative teleologisch fasst, 52

53

Einen Widerspruch verneinen bei diesem Beispiel auch Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S. 389 f.; William K. Frankena, Ethics, S. 33, und Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 153 f., bejaht wird er außer von Ebbinghaus und Höffe etwa von Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S.  307–316, Barbara Herman, Mutual Aid and Respect for Persons, in: Paul Guyer (Hg.), Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. Critical Essays, S. 133–164, und Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 353 ff., allerdings von letzterem nur als transzendentalpragmatischer Widerspruch, der lediglich die fehlende Zweckrationalität, nicht das moralische Verbot erweisen soll. Für eine teleologische Interpretation vgl. H. J. Paton, The Categorical Imperative. A Study in Kant’s Moral Philosophy, 3. Aufl. London 1958, S. 108 ff., 149 ff., 261 ff., Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 336, 355 ff.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

bloß ein empirisch-kontingentes. Jeder einzelne Mensch kann sich ohne Weiteres dagegen entscheiden. Der Selbstmörder tut dies per definitionem. Ist dies möglich, so kann er sich aber auch für das Prinzip entscheiden, dass generell keine Hilfe geleistet werden soll. Die eigenen Belange können dieses Prinzip nicht allgemein widersprüchlich machen, sondern führen in einen wenig überzeugenden Relativismus, je nachdem, ob der Einzelne selbst Hilfe wünscht oder nicht.54 Man hat bei diesem Beispiel also nur zwei gleichermaßen unbefriedigende Optionen: starke metaphysische Annahmen oder ein Überschreiten der kantschen Grundvoraussetzungen unter Hinzuziehung empirisch-kontingenter Belange, was aber auch nicht zu einem Widerspruch führt. Kant selbst wählt selbstredend die erste Option. Aber diese Wahl stößt vor dem Hintergrund einer säkular-immanenten normativ-individualisti­ schen Ethik auf Bedenken. Die Folge ist, dass das zweite Beispiel als Konkretisierung des Prinzips der Verallgemeinerung nicht überzeugen kann. Es gibt also offenbar Normen wie das Gebot zur Hilfeleistung, die wir allgemein als ethisch gerechtfertigt ansehen, die sich aber nicht mit Hilfe des Verallgemeinerungskriteriums in der kantschen Version begründen lassen.

e) Ist der Verallgemeinerungstest bei vollkommenen Pflichten begründet? Man könnte allerdings vermuten, die Zweifelhaftigkeit des Verallgemeinerungskriteriums entstehe nur für Fälle einer positiven Hilfspflicht. Fraglich ist also, ob das Verallgemeinerungskriterium wie beim Beispiel des lügnerischen Versprechens wenigstens für alle Fälle unzweifelhafter Handlungsverbote bzw. für alle vollkommenen Pflichten zu einer begründeten Abwägung führt. Das allgemeine Tötungsverbot müsste etwa als grundlegendes moralisches Verbot durch einen solchen Widerspruch begründbar sein. Man nehme folgendes Beispiel: Der A überlegt, ob er den B aus Rache für eine Ehrverletzung töten darf. Wille, Maxime und Verallgemeinerung lassen sich dann folgendermaßen präzisieren: (1) Wille / Handlung der Tötung: A fasst den konkreten Handlungswillen hw, den B in der konkreten Situation s zu töten (mw, h), um sich für eine Ehrverletzung des B zu rächen (hz). (2) Maxime der Tötung: A fasst den generellen Handlungswillen HW, einen anderen X in der typisierten Situation S zu töten (MW, H), um sich für dessen Ehrverletzung zu rächen (HZ). (3) Hypothetische Verallgemeinerung der Maxime der Tötung: Jeder fasst den generellen Handlungswillen HW, einen anderen X in der typisierten Situation S zu töten (MW, H), um sich für dessen Ehrverletzung zu rächen (HZ). 54

Vgl. Norbert Hoerster, Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, S. 472 f.

3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips

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Die Verallgemeinerung (3) wäre sicher dann widersprüchlich, wenn alle getötet würden, denn dann würde auch A getötet und könnte selbst niemanden töten. Aber die hypothetische Verallgemeinerung führt nur dazu, dass jeder in seiner Ehre Verletzte den Ehrverletzer aus Rache tötet. Dies ist aber widerspruchsfrei annehmbar, weil man nicht voraussetzen kann, dass alle in der Ehre Verletzte auch Ehrverletzer sind. Ein Widerspruch im Denken entsteht also nicht.55 Um hinsichtlich der Tötungsmaxime wenigstens einen Widerspruch im Wollen anzunehmen, ist angeführt worden, dass man als rationaler Akteur alles wolle, was notwendig ist, um ein rational Handelnder zu sein. Deshalb wolle man am Leben bleiben. Man könne also nicht widerspruchsfrei zum Willen, am Leben zu bleiben, die verallgemeinerte Maxime wollen, aus Rache zu töten.56 Aber davon einmal abgesehen, dass ein bloßer Widerspruch im Wollen nur zu einer unvollkommenen Pflicht führt, die unseren Annahmen hinsicht­lich der ethischen Bewertung des Tötungsverbots kaum entspräche, kann diese Überlegung aus folgendem Grund nicht überzeugen: Entscheidend ist hier die Bedingung der Ehrverletzung in der Maxime und ihre hypothetische Verallgemeinerung. Nur der andere, der per definitionem Ehrverletzer ist, wird also hypothetisch getötet. Das ist aber ohne Weiteres mit dem Willen jedes rationalen Agenten vereinbar, am Leben zu bleiben, denn er ist ja nicht notwendig oder auch nur wahrscheinlich gezwungen, selbst ein Ehrverletzer zu sein. Auch ein Widerspruch im Wollen ist also nicht ersichtlich. Das Handlungsziel bzw. der Zielwille, Ehrverletzer aus Rache für Ehrverletzungen zu töten, würde zwar zu einer gewalttätigen Gesellschaft führen, ist aber nicht widersprüchlich, sofern man keine teleologischen Zusatzannahmen des notwendigen Strebens nach Selbsterhaltung oder empirisch-kontingen­te Belange einer stärkeren Sicherung gegen Tötungen aus Gründen der Ehrverletzung hinzunimmt. Eine Gesellschaft wechselseitiger privater Tötungen aus Rache für Ehrverletzungen würde zwar grundlegenden Belangen der meisten Mitglieder zuwiderlaufen. Sie ist aber nicht nur im Hinblick auf den Handlungswillen, sondern auch im Hinblick auf das Handlungsziel bzw. den Zielwillen einzelner Tötungen nicht prinzipiell widersprüchlich. Der Verallgemeinerungstest kann also insgesamt das Verbot der Tötung aus Rache für Ehrverletzungen nicht begründen. Onora O’Neill führt verschiedene weitere scheinbar sehr einfache Beispiele der Anwendung des Verallgemeinerungstests an:57 Die Maxime, ein Sklave zu werden, sei nicht verallgemeinerbar, denn wenn jeder ein Sklave würde, so gäbe es niemanden mit Eigentumsrechten, also keine Sklavenhalter, so dass niemand ein Sklave werden könnte. Das gleiche gelte umgekehrt für die Maxime, ein Sklavenhalter zu werden, denn wenn jeder ein Sklavenhalter würde, so gäbe es keine Sklaven, also auch keine Sklavenhalter. Vergleichbares gilt für Maximen des Zwangs, der Täuschung oder der Abhängigmachung der eigenen Urteile von den Urteilen anderer. Wenn alle zwingen, kann niemand ge55 56 57

Selbst Kantianer bzw. Kantianerinnen gestehen dies zu, etwa Marcia W. Baron, Kantian Ethics, S. 73 ff.; Christine M. Korsgaard, Kant’s Formula of Universal Law, S. 100. Marcia W. Baron, Kantian Ethics, S. 73 ff. Onora O’Neill, Consistency in Action, S. 119 ff. Als weiteres Beispiel dieser Art findet sich bei Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S. 305, das Beispiel eines Vergewaltigten bzw. Vergewaltigers.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

zwungen werden. Wenn alle täuschen, kann niemand getäuscht werden. Und wenn alle ihre Urteile von den Urteilen anderer abhängig machen, dann kann niemand dies tun, weil es dann keine unabhängigen Urteile mehr gibt, von denen er sein Urteil abhängig machen könnte. In all diesen Fällen scheitert die Verallgemeinerung an der Tatsache, dass jeweils asymmetrisch relationale Handlungen vorliegen, die zwei Personen mit unterschiedlichem Status als Relationsglieder voraussetzen. Wenn der Status einer Person, das heißt eines Relationsglieds wie dem Sklaven oder dem Sklavenhalter, universalisiert wird, so schließt das aus, dass noch Personen übrigbleiben, die den Status des anderen Relationsglieds einnehmen können. Die Folge ist, dass die Relation als solche unmöglich wird und damit auch die Verallgemeinerung der Handlung der einzelnen Relationsglieder. Aber es stellt sich die Frage, ob damit dann auch die ethisch bzw. moralisch negative Bewertung der jeweiligen Relation bzw. des Tuns der Relationsglieder erwiesen ist. Man nehme folgendes Beispiel: Arzt A will den B mit dessen Einverständnis unter Narkose operieren. Die Maxime würde dann lauten: A operiert einen Anderen mit dessen Einverständnis unter Narkose. Die Verallgemeinerung der Maxime wäre: Alle operieren einen Anderen mit dessen Einverständnis unter Narkose. Unter der Voraussetzung, dass es unmöglich ist, gleichzeitig einen Anderen mit dessen Einverständnis unter Narkose zu operieren und selbst unter Narkose operiert zu werden, wäre diese Verallgemeinerung unmöglich. Die Folge wäre, dass es Ärzten verboten wäre, Andere mit deren Einverständnis unter Narkose zu operieren – ein Ergebnis, das niemand im Ernst für akzeptabel halten würde. Wie lässt sich dies erklären? Die bloße Asymmetrie von Handlungen, welche die Verallgemeinerung ausschließt, rechtfertigt für sich allein noch keine ethische Bewertung der Handlung. Denn es handelt sich schlichtweg um die ethisch bzw. moralisch vollkommen neutrale Notwendigkeit des Unterschieds zweier Relationsglieder einer asymmetrischen Relation, weil sonst ein Widerspruch zur Voraussetzung der Asymmetrie auftreten würde. Wendet man nun das Asymmetriekriterium so an, dass alle Relationsglieder wie eines der beiden Relationsglieder sein sollen, so ist der Widerspruch zur Voraussetzung der Asymmetrie unvermeidlich. Das Phänomen zeigt sich aber auch bei einer so ethisch vollkommen insignifikanten Relation wie der Relation zwischen einem größeren und einem kleineren Stein. Es ist unter Annahme dieser faktischen Größer-Kleiner-Relation unmöglich, sich alle Steine als größere oder kleinere oder in der Größe identisch mit dem größeren oder kleineren Stein zu denken. Das zeigt aber, dass eine solche Unmöglichkeit der Verallgemeinerung nicht hinreichend ist, um die ethische Negativität einer Handlung zu erweisen. Nötig ist vielmehr zusätzlich der Widerspruch zu einer sozialen Institution oder weitere, außerhalb des Verallgemeinerungstests liegende Gründe. Man kann zusammenfassen: Das Verallgemeinerungsprinzip des Kategorischen Imperativs eignet sich zum Ausschluss einiger spezieller Handlungen, wie dem lügenhaften Versprechen, die bestimmten sozialen Institutionen zuwiderlaufen.58 Es kann aber selbst 58

Eine andere Handlung, die gegen eine soziale Institution verstößt, sie aber gleichzeitig voraussetzt, ist der Dieb­stahl von Eigentum. Man kann es nicht als allgemeines Gesetz wollen, dass jeder beliebig steh-

3. Kritik des Verallgemeinerungsprinzips

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bei diesen Handlungen nicht alle Aspekte der moralischen Beurteilung erfassen, weil die sozialen Institutionen und ihre Bewertung ihrerseits vorausgesetzt werden müssen. Das Verallgemeinerungsprinzip des Kategorischen Imperativs kann aber verschiedene sonstige, allgemein akzeptierte moralische Normen wie das Tötungsverbot aus Rache und das allgemeine Hilfsgebot nicht ethisch rechtfertigen, weil insofern eine Verallgemeinerung möglich ist. Umgekehrt bestehen manche ethisch neutrale oder sogar positive Handlungen den Verallgemeinerungstest nicht. Das Verallgemeinerungsprinzip kann also in einzelnen Fällen zu einer ethischen Bewertung führen. Es ist aber als generelles Prinzip der Zusammenfassung weder hinreichend noch notwendig für die ethische Abwägung. Es eignet sich deshalb nicht als einziges Prinzip zur Lösung aller ethischen bzw. moralischen Konflikte.59 Erforderlich sind vielmehr weitere Prinzipien der Abwägung bzw. Zusammenfassung und ein Metaprinzip, das den jeweiligen Einsatz der verschiedenen konkreteren Prinzipien steuert.

f ) Singers Argument der Verallgemeinerung Marcus George Singer hat folgendes „Argument der Verallgemeinerung“60 vorgeschlagen: „Wenn jeder x tun würde und die Folgen wären negativ, so sollte niemand x tun“. Singers Argument der Verallgemeinerung ist also auf die konsequentialistische Bewertung der Folgen eingeschränkt.61 Akzeptiert man die Kritik am Konsequentialismus in Kapitel III, so ist das Argument der Verallgemeinerung schon allein deshalb als allgemeines Abwägungsprinzip untauglich. Allenfalls in gewissen Fällen der Beschränkung der relevanten Belange auf die Folgen könnte es zum Einsatz kommen. Gilt es wenigstens in diesen Fällen der Beschränkung auf die Folgenbewertung allgemein? Ein Beispiel: Professor A hat lange gearbeitet und überlegt spät abends, zur Abkürzung des Weges von seinem Büro zur S-Bahn die liebevoll gepflegte und deshalb für die allgemeine Betretung gesperrte Rasenfläche der Universität zu überqueren. Unter der Voraussetzung, dass in der Dunkelheit niemand zur Nachahmung angeregt würde, wären die Folgen dieser Handlung positiv, denn A würde einige Minuten sparen und

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60 61

len kann, denn dann würde es kein Eigentum mehr geben und ein Diebstahl wäre unmöglich. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass der Zweck des Diebstahls beim Widerspruch im Denken bezüglich des Handlungswillens gleichgültig ist. Vgl. zu einer Bejahung der Unmöglichkeit der Verallgemeinerung des Diebstahls: Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S. 292. Diese Folgerung lässt sich wohl durchaus als allgemeines Ergebnis der Diskussion der kantschen Theorie in den letzten Jahrzehnten ansehen. Man kann feststellen, dass auch nichtkantianische Theoretiker wie Birnbacher und Frankena Kants Beispiel des lügenhaften Versprechens anerkennen, während selbst Kantianer(innen) wie Baron und Korsgaard einräumen, dass der Verallgemeinerungstest bei Tötungshandlungen aus Rache versagt. Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S. 86. Singer leitet das Argument der Verallgemeinerung aus dem Prinzip des Handlungsutilitarismus („Prinzip der Folgen“) und dem Prinzip der Gleichheit („Prinzip der Universalisierung“) ab: Marcus G. ­Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S. 87 ff. Vgl. zu einer sehr detaillierten und überzeugenden Kritik: Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, S. 41–108.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

der Rasen würde nicht dauerhaft bzw. wesentlich geschädigt, sofern ihn nur eine einzige Person betritt. Aus einer handlungsutilitaristischen Warte wäre es dem A also erlaubt, die gesperrte Rasenfläche zu überqueren. Das Argument der Verallgemeinerung führt dagegen zu einem Verbot, über den Rasen zu gehen, da bei ihm nicht die realen Folgen der einzelnen Handlung, sondern die hypothetischen Folgen der allgemeinen Ausführung dieser einzelnen Handlung entscheidend sein sollen. Diese hypothetischen Folgen der allgemeinen Ausführung wären – so sei angenommen – negativ: Der Rasen würde durch das Betreten aller Universitätsangehörigen zerstört, was – so die Voraussetzung des Beispiels  – in der Gesamtbilanz schlechter ist als der summierte Zeitgewinn für diejenigen, die den Rasen überqueren. Nun gilt aber selbst in derartigen Fällen der Beschränkung auf die Folgenbewertung die konsequentialistische Version des Verallgemeinerungsprinzips nicht allgemein. Manche Handlungen hätten zwar negative Folgen, wenn alle entsprechend handelten. Haben aber gar nicht alle ein Interesse an der Ausführung der Handlung, muss das berücksichtigt werden. Dann ist nicht ersichtlich, warum die Handlung einigen verwehrt bleiben sollte:62 Wären etwa die Gesamtfolgen negativ, wenn alle Golf spielten, etwa wegen des unverhältnismäßigen Flächenverbrauchs und des Ausfalls an Arbeitsleistung, so würde das nicht recht­fertigen, einigen das Golfspiel zu untersagen, wenn ohnehin nur wenige spielen wollen und durch deren Spiel keine gravierenden negativen Folgen eintreten. Selbst im eingeschränkten Bereich der Folgenbewertung kann das Prinzip also nur unter der Bedingung gelten, dass die negativen Folgen bereits eintreten, wenn alle, die dies können, die Handlung vermutlich auch ausführen wollen (was natürlich manchmal schwer vorhersagbar ist). Oder allgemeiner formuliert: Das Argument der Verallgemeinerung kann nur in denjenigen Fällen der folgenbeschränkten Unfairness überzeugen, in denen so viele eine Handlung ausführen wollen, dass ihr Handeln negative Folgen hätte. Maßt sich dann jemand eine Ausnahmestellung an und hält er sich auf Kosten der Anderen nicht an die Verpflichtung, um sich einen Vorteil zu sichern, so handelt er unfair, das heißt unethisch.63 Das Beispiel des Verbots, den Rasen zu überqueren, zeigt ganz deutlich, in welchen Fällen das Argument der Verallgemeinerung zu einer begründeten Abwägung führt: in den Fällen der Inanspruchnahme allgemeiner Güter, Einrichtungen oder Institutionen, die für eine größere anonyme Gruppe möglich und gewollt ist, und die allgemein praktiziert diese Güter, Einrichtungen oder Institutionen, deren positiver Wert wie beim kantschen Verallgemeinerungskriterium vorausgesetzt werden muss, schädigen oder erschöpfen würde. In diesen speziellen Fällen kommt es nicht auf eine umfassende Abwägung aller Aspekte der je individuellen Belange an. Es kommt also nicht darauf an festzustellen, warum jemand über den Rasen gehen will oder ob es in der individuellen Abwägung sinnvoll ist, den Rasen zu erhalten, statt kürzere Wege zu ermöglichen. Es genügen die negativen Konsequenzen des hypothetisch verallgemeinerten Handelns, die alle vermeiden wollen, um das Handeln als grundsätzlich unfair zu kennzeichnen. 62 63

Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 157 ff. Vgl. Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, S. 111–115.

4. Kritik des Maximierungsprinzips

191

Aber selbst wenn die Konsequenzen des hypothetisch verallgemeinerten Handelns negativ sind, so dass das Argument der Verallgemeinerung Anwendung findet und ein allgemeines Verbot rechtfertigt, kann auch dieser Verallgemeinerungstest nur zu einer partiellen ethischen Beurteilung der Handlung führen. Denn zum einen muss die Folgenbewertung immer vervollständigt werden: Wenn etwa am anderen Ende des Rasens jemand zusammengebrochen ist und dringend erste Hilfe zur Rettung seines Lebens benötigt, so wird das Betretungsverbot ohne Zweifel durch das Hilfsgebot gegenüber dem Verletzten relativiert und man darf den Rasen überqueren. Zum anderen lässt sich die ethische Beurteilung einer Situation – wie sich in Kapitel III ergab – prinzipiell nicht auf die Folgenbewertung begrenzen: Hat man etwa dem Universitätspräsidenten hoch und heilig versprochen, zu einer genau angegebenen Uhrzeit bei ihm zu einem außerordentlich wichtigen Termin zu erscheinen und ist das nur durch Überquerung der gesperrten Rasenfläche möglich, so relativiert das die hypothetische Folgenbewertung durch das Argument der Verallgemeinerung.

g) Zusammenfassung Sowohl die Fälle, in denen die kantsche Form des Verallgemeinerungstests der Hand­ lungs­maxime eine Handlung als unethisch erweist, als auch die Fälle, in denen das Singersche Argument der Verallgemeinerung eine Handlung wegen der negativen Folgenbilanz ethisch verwirft, ähneln sich: Vorausgesetzt sind soziale Institutionen wie das Vertrauen auf Versprechen oder öffentliche Güter bzw. Einrichtungen wie Rasenflächen, bei denen die individuelle Missachtung oder Inanspruchnahme und die kollektive Erhaltung in einen Widerspruch geraten können. Das Prinzip der Verallgemeinerung kann in derartigen speziellen Fällen unter Beachtung der oben genannten Einschränkungen zu einer begründeten Abwägung der betroffenen Interessen führen. Es genügt aber nicht als einziges allgemeines Abwägungsprinzip der Ethik.

4. Kritik des Maximierungsprinzips Das Maximierungsprinzip fordert, dass der entscheidende Wert oder das entscheidende Gut maximiert wird.64 Das Maximierungsprinzip wird außer vom sog. Perfektionismus65 vor allem vom Utilitarismus vertreten.66 Der Utilitarismus verbindet das Maximierungs­ prinzip mit dem Konsequentialismus im engeren Sinn, also der Beschränkung der Maximierung auf die Folgen der Handlung einerseits sowie einer bestimmten Werttheorie 64

65 66

Gelegentlich wird statt von Maximierung auch von „Optimierung“ gesprochen. Aber das ist nicht durchgehend der Fall. Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls, S. 191–202, versteht unter „Optimierung“ etwa ein Prinzip, das nicht dem Maximierungs-, sondern dem Rawlsschen Differenzprinzip entspricht. Thomas Hurka, Perfectionism, Oxford 1993. Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S. 1 ff.

192

V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

(Lust, Glück, Wohlergehen usw.) andererseits.67 Diejenige Handlung soll dann ethisch bzw. moralisch geboten sein, deren Folgen die Summe der fraglichen Werte für alle Betroffenen maximiert, also den positiven Wert bzw. Nutzen möglichst erhöht und den negativen Wert bzw. Schaden möglichst verringert. Wie sich im dritten Kapitel ergab, ist die Beschränkung der Abwägung auf die Folgen der Handlung zu restriktiv und deshalb nicht zu rechtfertigen. Dies gilt auch dann, wenn man – wie viele Utilitaristen – nicht die tatsächlich realisierten, sondern nur die bezweckten Folgen für entscheidend hält, denn außer den bezweckten Folgen können auch die hinter der Zweckwahl stehenden Bedingungen, die Tugenden, die Wünsche, die Absichten, die Mittelwahl und die Handlungsausführung für die in einer moralischen Konfliktsituation Stehenden Bezugspunkt ihrer Belange und damit ethisch relevant sein. Aber da das Maximierungsprinzip nicht begrifflich-analytisch mit der Beschränkung auf die Folgen, das heißt dem Konsequentialismus im engeren Sinn verknüpft ist, sondern auch als Teil einer perfektionistischen oder auf alle Handlungselemente bezogenen Ethik auftreten kann, muss seine Berechtigung als allgemeines Prinzip der Abwägung der Belange unabhängig von den in Kapitel III erhobenen Einwänden gegen den Konsequentialismus im engeren Sinn geprüft werden. Für die Moral und ihre Ethik kann dabei allerdings nur ein kollektiver Perfektionismus relevant sein, da es der Moral ja – sofern man die in Kapitel VIII noch zu kritisierenden Pflichten gegen sich selbst außer Betracht lässt – ausschließlich um die Lösung intersubjektiver Konflikte geht. Also stellt sich die Frage, ob in allen Fällen der moralischen bzw. ethischen Abwägung der Belange in einem Konflikt deren kollektive Maximierung im Hinblick auf alle ethisch zu berücksichtigenden Individuen zu fordern ist.

a) Widerspruch zum normativen Individualismus Das Maximierungsprinzip nimmt, allgemein angewandt, die von der fraglichen Handlung betroffenen Individuen mit ihren Interessen zwar als Ausgangspunkt, nicht aber als Ziel der Abwägung ernst. Es erlaubt, dass um des größten Gesamtnutzens willen einzelne Individuen im Hinblick auf die je individuelle Befriedigung ihrer Belange stark benachteiligt oder sogar ganz übergangen werden. Es negiert damit die normativ-individualistische Separierung der Individuen, die nur dann hinreichend als Einzelne berücksichtigt werden, wenn sie mehr als nur Faktoren in einer Gesamtrechnung sind.68 Bei Anwendung des Maximierungsprinzips werden die Individuen quasi als bloße einzelne „Gefäße“ des zu maximierenden Gutes angesehen. Diese einzelnen „Gefäße“ können zur Gesamtmaximierung des Inhalts des „Gesamtgefäßes“ quasi beliebig gefüllt oder gelehrt werden. Das Maximierungsprinzip nimmt somit keine Rücksicht auf die interne Verteilung der Güter bzw. die je individuelle Berücksichtigung der Interessen, wenn die 67 68

Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S. 6, 70. John Rawls, A Theory of Justice, S. 29: „[…] utilitarianism is not individualistic […].“

4. Kritik des Maximierungsprinzips

193

Maximierung nicht von der Verteilung abhängt.69 Als einziges Abwägungskriterium für alle Fälle gerät das Maximierungsprinzip deshalb zum ersten Teil des Grundprinzips des normativen Individualismus in Widerspruch. Die Individuen werden nur im Ausgangspunkt, nicht aber im Ziel einer größtmöglichen individuellen Befriedigung der Belange als letzter Relationspunkt der normativ-ethischen Rechtfertigung beachtet. Die Beispiele, die das illustrieren, in denen das Maximierungsprinzip also zu Ergebnissen führt, welche die Individuen als Individuen mit ihren individuellen Belangen zwar als Ausgangspunkt, nicht aber in hinreichendem Maße als Ziel berücksichtigen, sind zahlreich. Zwei seien hier erwähnt:70 A hat B am Freitag versprochen, am Samstagnachmittag in einem Café mit ihm Schach zu spielen. Am Samstagmorgen bittet C seinen guten Freund A, ihm am Nachmittag beim Umzug zu helfen. A kann B nicht mehr erreichen, um die Schachpartie abzusagen. A würde, so kann man annehmen, durch seine Hilfe beim Umzug des C mehr Gutes tun, nämlich einer Familie Kosten ersparen, als durch sein Schachspiel mit C, das A und B nur etwas Freude bereitet und wenig gewichtige Belange befriedigt. Insbesondere wäre Bs Enttäuschung über As Nichterscheinen durch As Beitrag zum Umzug mehr als aufgewogen. Trotzdem ist A – so nehmen wir allgemein an – verpflichtet, seine Verabredung einzuhalten und damit die Interessen des B als Individuum bzw. Versprechensempfänger zu erfüllen, auch wenn dies das Gesamtwohl bzw. die Gesamtfreude nicht maximiert. Versprechen im Interesse anderer Individuen verpflichten unabhängig von einer Maximierung des Gesamtwohls bzw. der Gesamtfreude. Das bedeutet nicht, dass derartige Versprechen und damit die Belange des Versprechensempfängers der Abwägung der Belange in einer Konfliktsituation ganz entzogen wären. B müsste etwa auf die Erfüllung des Versprechens verzichten, wenn ein schwerverletztes Unfallopfer dringend As Hilfe benötigte. Versprechen können also in der Abwägung relativiert, dürfen aber keiner einfachen Maximierung des Gesamtwohls unterworfen werden. Oder man denke an den oben im Kapitel III, 9 erwähnten Fall 9 einer Organentnahme bei einem fast gesunden Patienten, um fünf andere Patienten zu retten. Selbst wenn man alle externen Effekte unberücksichtigt ließe, also sicherstellen könnte, dass niemand anderes von dieser Handlung erführe und verunsichert würde, bliebe die Maximierung der Folgen durch die „Ausweidung“ des gesunden Patienten grundsätzlich unzulässig. Beim Widerspruch des Maximierungsprinzips zum normativen Individualismus handelt es sich auch nicht nur um eine kognitive Überforderung,71 die durch eine Zweiebenenstrategie, wie sie etwa R. M. Hare mit einer ersten Regel- und einer zweiten Maximierungsebene vorgeschlagen hat,72 vermieden werden könnte. Die kollektive Maximierung der Belange ist vielmehr als einziges Abwägungsprinzip in vielen moralischen 69 70 71 72

William K. Frankena, Ethics, S. 41. Vgl. zu diesem und weiteren Gegenbeispielen: Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, S. 21 f. So aber Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 194 ff. Richard M. Hare, Moral Thinking. Its Levels, Method and Point.

194

V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Konfliktsituationen, in denen kein Grund ersichtlich ist, die Individuen mit ihren je individuellen Belangen der Maximierung unterzuordnen, prinzipiell unethisch. Es gibt etwa Fälle, die – wie sich noch ergeben wird – eine grundsätzliche Gleichverteilung verlangen, etwa wenn mehrere in gleicher Weise ein gemeinsames Projekt realisiert haben. Und es gibt Fälle, in denen eine Einschränkung grundlegender Belange bzw. Rechte, wie Leib, Leben, körperliche und psychische Unversehrtheit zum Zweck der Maximierung des Gesamtwohls nicht als gerechtfertigt angesehen werden kann. Warum etwa ein Mensch Leib, Leben oder körperliche und psychische Unversehrtheit hingeben sollte, um mehreren anderen die Verwirklichung individuell weniger wichtiger oder weniger konkretisierter Interessen wie Sicherheit, Komfort oder gar Luxus zu ermöglichen, ist nicht einsehbar.73 Das grundsätzliche Folterverbot ist etwa Ausfluss dieser Einschränkung der kollektiven Maximierung um jeden Preis. Das Maximierungsprinzip erscheint deshalb nur in einem gewissen Bereich ethischer Fragen, und zwar vor allem bei anonymen gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen ohne Verletzung gravierender individueller Höchstbelange, das heißt insbesondere gravierender individueller Rechte und Vertrauenspositionen aus Vereinbarungen oder Versprechen, als einziges oder hauptsächliches Abwägungsprinzip gerecht­fertigt, etwa der Bewerbung einer Stadt um die Olympischen Spiele, der Verbesserung des Schulsystems, des Ausbaus des Straßennetzes, der Finanzplanung der öffentlichen Hand, der Rationalisierung von Verwaltungsabläufen, der vorteilhafteren Gestaltung internationaler Verkehrswege, der für alle günstigeren Bedingungen des globalen Handels usw.

b) Individuelle Überforderung Das Maximierungsprinzip verlangt vom individuellen Akteur bei jeder einzelnen Entscheidung in jeder einzelnen Situation, die Folgen  – so der Utilitarismus  – oder die sonst maßgeblichen Werte, Güter oder Belange aller Betroffenen – so der Perfektionismus – zu maximieren.74 Diese Pflicht führt dazu, dass sich die Menschen nicht mehr auf eine einfache und vernünftige Führung ihres Lebens konzentrieren können. Sie müssen bei jeder einzelnen Entscheidung das Wohl des gesamten Weltverlaufs berücksichtigen und maximieren. Der einzelne Mensch wird auf diese Weise zum Mittel einer Ideologie der Wertmaximierung der Welt, ohne dass eine ausreichende Begründung für diese extreme Anforderung erkennbar wäre. Der Maximierungsimperativ erlaubt im Übrigen auch keine stabile Verankerung allgemeiner moralischer Prinzipien im Bewusstsein der individuellen Akteure.75 73 74

75

Dies gestehen auch Utilitaristen zu. Vgl. etwa: Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, S. 94, 97, der einen „Stachel“ bzw. eine „Schwachstelle“ anerkennt. Paul E. Hurley, Does Consequentialism Make Too Many Demands, or None at All, Ethics 116 (2006), S.  680–706, bestreitet dies und behauptet, der Konsequentialismus gebe nur Standards vor, keine Handlungsgründe (S. 686 ff.). Aber jede Ethik rechtfertigt per definitionem moralische und sonstige Konfliktlösungen und stellt somit Handlungsgründe bereit. Die Trennung ist künstlich. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 215.

4. Kritik des Maximierungsprinzips

195

Man könnte einwenden: Aber wenn wir handeln, so sind wir doch ethisch bzw. moralisch verpflichtet, gut zu handeln? Und bedeutet „gut“ nicht „möglichst gut“, das heißt „maximierend“? Darauf lässt sich erwidern: Wir sind sicherlich ethisch verpflichtet, in einem moralischen Konflikt in dem Sinne „gut“, das heißt „möglichst gut“ zu handeln, dass wir eine gute, das heißt möglichst gute Abwägung der Belange finden. Aber dieser Forderung nach einer möglichst guten, das heißt besten Lösung des moralischen Konflikts impliziert nicht – obwohl viele Anhänger des Maximierungsprinzips diesen Übergang mehr oder minder stillschweigend vollziehen  – die Forderung nach Maximierung eines bestimmten addierbaren Parameters, sei es die Gesamtsumme des Wohls, des Glücks, der Freude, der Folgen usw. Die möglichst gute und damit beste Abwägung der widerstreitenden Belange in einem moralischen Konflikt kann in der Bewahrung von Leib, Leben oder körperlicher Unversehrtheit eines Individuums liegen, auch wenn diese Bewahrung dazu führt, dass mehrere andere Menschen oder Lebewesen ein Quäntchen weniger Wohl empfinden, mit der Konsequenz, dass die Gesamtsumme des Wohls oder der Lust nicht maximiert wird. Dabei soll nicht bestritten werden, dass es moralische Konflikte gibt, in denen ein derartiger Parameter maximiert werden sollte, etwa in den schon erwähnten allgemeinpolitischen Fragen, zum Beispiel im Rahmen der Fernwirkung globaler Infrastrukturentscheidungen ohne direkte Beeinträchtigung individueller Rechte oder Versprechen. Aber es lässt sich nicht zeigen, dass das Maximierungsprinzip für alle ethischen, moralischen und rechtlichen Konflikte als alleiniges Abwägungskriterium gerechtfertigt ist und nicht zu einer Überforderung führt.

c) Missachtung persönlicher Bindungen Das Maximierungsprinzip nimmt keine spezielle, über die Nutzenmaximierung hinausgehende Rücksicht auf persönliche Bindungen, obwohl diese in der Abwägung für uns eine besonders wichtige Rolle spielen. Persönliche Bindungen dürfen nach dem Maximierungsprinzip per definitionem nur insoweit berücksichtigt werden, als sie den zu maximierenden Wert beeinflussen. Sind etwa zwei Kinder verletzt, müsste man nach dem Maximierungsprinzip zunächst demjenigen Kind helfen, dem man mehr Gutes tun kann, selbst wenn der Vorteil nur marginal ist und es sich bei dem anderen Kind um das eigene Kind handelt. Oder angenommen, A eilt zu einem brennenden Flugzeug, in dem sich das eigene Kind und ein weltberühmter Chirurg befinden. Der Chirurg beherrscht als einziger eine bestimmte, für viele lebensrettende Operationstechnik.76 Das Maximierungsprinzip muss zur Rettung des Chirurgen verpflichten, während uns die allgemeine Akzeptanz und mögliche Rechtfertigung der Berücksichtigung persönlicher Bindungen die Rettung des eigenen Kindes zumindest erlauben, wenn nicht sogar gebieten.

76

Vgl. zu dem Beispiel: Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, S. 98.

196

V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

d) Desintegration der Persönlichkeit Das Maximierungsprinzip führt zu einer Desintegration der handelnden Personen, da diese bei jeder Handlung den Nutzen maximieren müssen, was zur Folge hat, dass sie ihre länger­fristigen Projekte und Verpflichtungen nicht verwirklichen können. Hat jemand sein Leben einem bestimmten legitimen längerfristigen Projekt gewidmet, will er etwa ein vor allem religiöses, familienorientiertes, wissenschaftliches oder sportliches Leben führen, so erscheint es nicht gerecht­fertigt, nur aufgrund der Tatsache, dass die Handlungen Anderer die allgemeine Situation in einer bestimmten Art und Weise bestimmen, eine utilitaristische Fall-zu-Fall-Maximierung zu verlangen, welche die Unmöglichkeit der Verfolgung seines längerfristigen Projekts zur Konsequenz hätte. Es ist nicht denkbar, dass eine Person ihr persönliches Lebensglück erreichen kann, wenn sie gezwungen ist, immer und überall jede Handlungsoption zu ergreifen, welche die gesellschaftliche Summe des Wohlergehens maximiert.77 Die Anderen könnten im Falle einer allgemeinen Verbindlichkeit des Maximierungsprinzips das Leben jedes einzelnen Menschen in beinahe beliebiger Weise determinieren, weil sich seine Lebenspläne im Rahmen der maximierenden Summierung gegenüber der Vielzahl der Lebenspläne anderer grundsätzlich nicht durchsetzen könnten.78

e) Widerspruch zwischen kollektivem Realisationsimperativ und singulären Handlungspflichten Das Maximierungsprinzip fordert die kollektive Maximierung des fraglichen Wertes. Dieser Imperativ der kollektiven Maximierung kann aber zu den singulären Handlungspflichten in einen unüberbrückbaren Widerspruch geraten, denn es kann sein, dass eine maximierende Handlungseinstellung des Akteurs gerade nicht zur kollektiven Maximierung und damit zur Realisierung des Maximierungsprinzips führt, etwa weil sie sein Lebensglück zerstört, ohne dass dies anderen sehr viel hilft.79 Zur kollektiven Realisierung des Maximierungsprinzips wäre dann aber zu fordern, dass die singulären Handlungspflichten nicht die individuelle Maximierung gebieten. Das würde aber wiederum bedeuten, dass um der kollektiven Maximierung willen konträre singuläre Handlungspflichten verbindlich gemacht werden müssten. Das handelnde Individuum würde auf diese Weise verpflichtet, instrumentell eine Einstellung zu wählen, die dem eigentlichen Ziel der Maximierung und damit dem Gesamtziel des fraglichen Kollektivs nicht entspricht. Diese Spaltung zwischen individuellem und kollektivem Ziel wäre nur durch ein umfassendes System der Täuschung bzw. Propaganda aufrechtzuerhalten, das ethisch nicht akzeptabel ist, weil es die Individuen mit ihrem berechtigten Interesse an Wahrheit missachtet. 77 78 79

Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, S. 89 ff. Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, S. 116 ff. Bernard Williams, A Critique of Utilitarianism, S. 118 ff.

4. Kritik des Maximierungsprinzips

197

f ) Fundamentaler Widerspruch zu unserem System lange reflektierter Moralvorstellungen Das Maximierungsprinzip würde  – allgemein angewandt  – in einen fundamentalen Widerspruch nicht nur zu einigen, sondern zu sehr vielen lange gehegten und vielfach reflektierten moralischen Überzeugungen geraten.80 Natürlich können diese Überzeugungen, da sie ja selbst der ethischen Begründung bedürfen, nicht ihrerseits ethisch begründend wirken. Und die ethische Reflektion kann und muss selbstredend vielfach zur Kritik an bestehenden moralischen Überzeugungen führen. Aber wenn moralische Überzeugungen in einem langen, von ethischer Reflektion begleiteten Prozess entwickelt wurden, dann haben sie die ethische Reflektion dieses Prozesses quasi inkorporiert. In diesem Fall bedarf es gewichtiger Begründungen, warum die gegenwärtigen Überzeugungen und die ihnen zu Grunde liegende lange ethische Reflektion fundamental verfehlt sein sollen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich nicht nur um einzelne moralische Überzeugungen handelt, sondern um das gesamte System unserer, nach vielen Jahrhunderten und Jahrtausenden der Kritik und Diskussion als nicht völlig unaufgeklärt anzusehenden moralischen Überzeugungen. Es ist nicht ersichtlich, wie die Anhänger des Maximierungsprinzips diesen fundamentalen Widerspruch erklären könnten.

g) Maximierung der Regeln bzw. der Regelcodes? Da das Maximierungsprinzip wegen der soeben erwähnten Schwächen als allgemeines Abwägungsprinzip nicht zu rechtfertigen ist, wird es von manchen Vertretern des Konsequentialismus und Utilitarismus auf die Maximierung genereller Regeln, seien es solche der Moral, des Rechts, der Politik, der Konventionen, oder sogar eines gesamten moralischen, rechtlichen, politischen oder konventionellen Regelcodes beschränkt.81 In Verbindung mit einer konsequentialistischen oder utilitaristischen Werttheorie ergibt sich dann der Regelkonsequentialismus oder Regelutilitarismus, der einem Akt- bzw. Handlungskonsequentialismus oder Akt- bzw. Handlungsutilitarismus entgegengestellt wird. Zunächst sollte man sich klarmachen, dass es sich bei dieser Beschränkung auf die allgemeinen Regeln bzw. den Regelcode durch den Regelkonsequentialismus bzw. Regelutilitarismus um ein geschicktes Rückzugsmanöver der Vertreter des Maximierungsprinzips handelt. Im Falle allgemeiner Regeln bzw. ganzer Regelordnungen wie der Moral oder des Rechts wirkt der entindividualisierende Effekt des Maximierungsprinzips auf den ersten Blick nicht so stark, weil die individuellen Belange der einzelnen Menschen in konkreten Situationen nicht notwendig um der Gesamtmaximierung willen geopfert werden müssen. Die Berücksichtigung der einzelnen Menschen mit der 80 81

Das gestehen fast alle Vertreter des Konsequentialismus zu. Vgl. etwa Shelly Kagan, The Limits of Morality, Oxford 1989, S. 1 ff. Richard B. Brandt, A Theory of the Good and the Right, Amherst 1998, S. 200 ff., 208, 217; Brad Hooker, Ideal Code, Real World. A Rule-Consequentialist Theory of Morality, Oxford 2002.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Bezugnahme ihrer Belange auf die verschiedenen Teile der Handlung des Akteurs ist im Rahmen einer solchen Regelbewertung naturgemäß zu typisieren. Regeln, die Individuen starke Rechte einräumen, lassen sich als allgemein nutzenmaximierend begründen. Nähebeziehungen, persönliche Bindungen und individuelle Versprechen können bei typisierenden Regeln per se keine entscheidende Rolle spielen. Die individuelle Überforderung wird abgeschwächt, weil ja nur die Konformität mit den allgemeinen Regeln bzw. dem allgemeinen Regelcode verlangt wird, nicht aber die Maximierung jeder einzelnen Handlung in jedem moralischen Konflikt, koste es, was es wolle. Deshalb ist auch die Verfolgung längerfristiger Projekte durch die Verpflichteten eher möglich, sofern die Regeln diese Projekte berücksichtigen. Der Regelkonsequentialismus ist also auf den ersten Blick erheblich überzeugender als der Handlungskonsequentialismus. Er entspricht auch den ur­sprünglichen Intentionen der klassischen Utilitaristen Jeremy Bentham und John Stuart Mill in viel höherem Maße, denn beiden ging es ja zuvorderst um eine politische Ethik, nicht um eine allgemeine Individualethik. Trotzdem stößt auch die Anwendung des Maximierungsprinzips auf generelle Regeln bzw. einen Regelcode auf grundlegende Bedenken: Bei genauerem Hinsehen zeigt sich zunächst, dass der Regelkonsequentialismus als Abwägungsprinzip in individualethischen Fragen noch viel kollektivistischer ist als der Aktkonsequentialismus. Während beim Aktkonsequentialismus die konkreten Individuen im Einzelfall zumindest im Ausgangspunkt zu berücksichtigen sind, kann der Regelkonsequentialismus im Prinzip beliebige Regeln rechtfertigen, vorausgesetzt, sie maximieren ein kollektives Gut, wie den kollektiven Nutzen usw. Die allgemeine Ersetzung der situativen Handlungsbeurteilung mit Bezug auf wirklich bestehende, konkrete Belange durch die Maximierung abstrakter Regeln mit Bezug auf kollektive Güter gerät somit zum ersten und wichtigsten Prinzip einer gerechtfertigten Ethik, dem Prinzip des normativen Individualismus, in noch stärkeren Widerspruch als der Aktkonsequentialismus. Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Individuen in privaten moralischen Konflikten nicht eine Abwägung ihrer konkreten Interessen (unter Zuhilfenahme typisierender Prinzipien), sondern eine Abwägung aller möglichen Interessen einer großen Gemeinschaft als Grundlage kategorischer Verpflichtungen akzeptieren müssten. Warum sollen abstrakte Regeladressaten und nicht die tatsächlich Betroffenen mit ihren Belangen entscheidend sein? Auf einer fundamentalen Ebene der Problemformulierung ist im Übrigen schon die Entgegensetzung von Akten bzw. Handlungen und Regeln inadäquat. Handlungen sind das Verpflichtungsobjekt primärer Normencodes, also der Moral, des Rechts, der Politik usw., nicht aber unmittelbarer Gegenstand der sekundären Kritik und Rechtfertigung der normativen Ethik. Diese hat – wie sich in der Einleitung ergab – die primären Normen, Wertungen, Regeln und Überzeugungen der Moral, des Rechts, der Politik usw. zum Gegenstand. Bei diesen primären Normen handelt es sich nun aber sowohl um konkrete, auf einzelne Handlungen bezogene aktbestimmende Normen, als auch um abstrakte, auf viele Handlungen bezogene Regeln. Die Ethik kommt also keinesfalls umhin, beide Formen der Handlungsbestimmung, Aktnormen und Regeln, zu untersuchen und zu kritisieren, da beide Formen der Handlungsbestimmung faktisch bestehen. Und sie kommt auch nicht umhin, das tatsächliche Verhältnis zwischen diesen beiden Formen der Handlungs­

4. Kritik des Maximierungsprinzips

199

bestimmung zu beschreiben und zu kritisieren. Dieses tatsächliche Verhältnis ist durch einen grundsätzlichen Anwendungsimperativ der Regeln gegenüber den Handlungsnormen gekennzeichnet. Regeln fordern eo ipso prinzipiell Vorrang vor einzelnen Handlungsnormen, sonst wären sie keine Regeln. Diese Forderung ist auch grundsätzlich gerechtfertigt, weil sich Einzelnormen im Prinzip deduktiv aus Regeln ableiten lassen, nicht aber umgekehrt Regeln aus Einzelnormen. Allerdings sind die verschiedenen Formen der Realisierung des moralischen Ziels der Konfliktvermittlung kein Selbstzweck, sondern bloßes Mittel zum Zweck einer bestmöglichen Konfliktlösung. Das bedeutet, dass sie als Mittel keine Absolutheit für sich in Anspruch nehmen können. Daraus folgt aber, dass der grundsätzliche Vorrang der Regel gegenüber den Einzelnormen – entgegen der Auffassung des Regelutilitarismus – seine Recht­fertigung einbüßt, wenn die Regel zu krass inadäquaten, das heißt sehr ungerechten Ergebnissen der Konfliktlösung im Einzelfall führt. Der Regelkonsequentialismus steht des Weiteren vor dem Dilemma, welche Regeln für die jeweilige Handlung entscheidend sein sollen: die bereits wirklich in einer Gesellschaft bestehenden oder neue, bloß mögliche, das heißt idealische Regeln? Die bereits wirklich in einer Gesellschaft bestehenden Regeln sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht immer folgenmaximierend. Sie unterscheiden sich des Weiteren zumindest teilweise von Gesellschaft zu Gesellschaft und ändern sich auch in der Zeit, so dass nicht erkennbar ist, wie sie den Gesamtnutzen auf der Welt maximieren sollen.82 Im Übrigen können die bereits wirklich bestehenden Regeln seitens einer normativen Ethik nicht von vorn­herein für endgültig erklärt werden, denn sonst würde diese ihre spezifische Funktion der Kritik und Rechtfertigung tatsächlicher moralischer Konfliktlösungen verfehlen. Alle möglichen bzw. idealischen Regeln stehen dagegen vor der grundsätzlichen Frage, warum man sie für verbindlich halten soll, da ihre generelle Etablierung, das heißt allgemeine Befolgung oder Akzeptanz ja keinesfalls gesichert ist. Der Einzelne steht immer vor der Gefahr, sich als einziger an die idealisch optimale Regel zu halten, mit unter Umständen sehr negativen Folgen für ihn, so dass niemandem eine Verbesserung zuteil wird. Wählen etwa fast alle eine Abkürzung des Weges über einen Rasen und wäre deshalb zur Erhaltung des Rasens die ideale Regel des Betretungsverbots gerechtfertigt, so erscheint es sinnlos, von einem Einzelnen die Befolgung dieser Regel zu fordern, wenn zu erwarten ist, dass fast alle Anderen oder wenigstens die große Mehrheit sie nicht befolgen wird, so dass die Befolgung des Einzelnen im Ergebnis irrelevant bleibt. Im Falle idealischer Regeln stellt sich auch immer die Frage der Möglichkeit und des Aufwands ihrer allgemeinen Realisierung im Verhältnis zu den bereits bestehenden Regeln. Diese Frage ist generell schwer abzuschätzen. Man wird also häufig nicht entscheiden können, ob es nicht besser wäre, bei den bisherigen, vielleicht nicht ganz optimalen Regeln zu bleiben. Beide Versionen des Regelkonsequentialismus müssen schließlich – wegen des oben geschilderten grundsätzlichen Verhältnisses von Einzelnorm und Regel – beantworten, was in einem echten Konflikt zwischen direkter Akt- und indirekter Regelmaximierung geschehen soll, wie der Einzelne also handeln soll, wenn die Maximierung im Einzelfall etwas anderes fordert als die allgemeine Regel. Es mag etwa den allgemeinen 82

William K. Frankena, Ethics, S. 40 ff.

200

V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Nutzen maximieren, wenn eine Regel das Lügen verbietet. Wie soll der Einzelne dann aber handeln, wenn die Lüge im konkreten Kon­flikt einem Mörder das Versteck seines Opfers verheimlichen, also den Nutzen maximieren würde? Die Anhänger des Maximierungsprinzips haben hier zwei Möglichkeiten: Entweder sie lassen die Maximierung im Einzelfall, also in unserem Beispiel die Lüge zu, dann handelt es sich um einen einfachen Aktkonsequentialismus, der sich allen oben erwähnten Einwänden ausgesetzt sieht. Oder sie beharren auf der Befolgung der Regel des Lügenverbots um der abstrakten Maximierung durch die allgemeine Regelbefolgung willen. Dann schließen sie die konkrete Maximierung für einzelne Fälle aus und unterwerfen die Individuen einem kollektivistischen Regelregime, das ihre individuellen Belange nur als Faktoren der Gesamtmaximierung eines Regelcodes berücksichtigen kann und das in noch stärkerer Weise als die Maximierung des Aktkonsequentialismus gegen das Grundprinzip des normativen Individualismus verstößt. Um diesem Dilemma zu entgehen, haben die Anhänger des Utilitarismus in den letzten Jahren nach einem dritten Weg zwischen diesen gleichermaßen unattraktiven Alternativen gesucht. Brad Hooker schränkt den Regelutilitarismus etwa durch die Metaregel der „Abwehr von Desastern“ zu Gunsten des Handlungsutilitarismus ein:83 Im Rahmen einzelner Handlungen müssen die allgemeinen Regeln befolgt werden, selbst wenn sich daraus in der konkreten Situation negative Folgen ergeben, es sei denn, es droht ein Desaster. Im Falle eines Desasters ist also die Maximierung im Einzelfall geboten, und es gilt der Handlungskonsequentialismus. In ähnlicher Weise schlägt Dieter Birnbacher einen „indirekten Konsequentialismus“ vor, wonach in Fällen, in denen das von den allgemeinen Regeln Geforderte „in krasser Weise“ von dem nach der Handlungsmaximierung Gebotenen abweicht, der Handlungskonsequentialismus entscheidend sein soll.84 Im Grunde handelt es sich bei beiden Vorschlägen um echte Hybridmodelle zwischen Regel- und Handlungskonsequentialismus. Auch wenn die Bestimmung, wann ein „Desaster“ oder eine „krasse Abweichung“ vorliegt, naturgemäß außerordentlich vage ist und in der Praxis große Interpretationsunsicherheiten erzeugt, stellen diese Hybridmodelle in wenigstens dreifacher Weise einen echten Fortschritt dar: Sie werden erstens dem Faktum gerecht, dass in der Realität primärer Normordnungen immer konkrete Handlungsnormen und allgemeine Regeln nebeneinander existieren und ein Ausgleich zwischen diesen beiden Normtypen gefunden werden muss. Sie nehmen zweitens den oben erwähnten Anwendungsimperativ der Regeln gegenüber den Handlungsnormen auf, der kein absoluter sein kann, weil die Regelungsformen der Handlungsnorm und der Regel ihrerseits nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zur Erreichung des Ziels der Konfliktlösung seitens der Moral sind. Sie kommen damit drittens faktisch bestehenden Not­standsregelungen in Moral und Recht sehr nahe, im Recht etwa Regelungen des strafrechtlichen Notstands, des zivilrechtlichen Notstands oder des staatsrechtlichen

83 84

Brad Hooker, Ideal Code, Real World, S. 86, 98 ff., 121, 124, 129 ff., 133 ff., 146, 165 ff., 173. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 213 ff.

5. Kritik weiterer Prinzipien

201

Notstands in Art. 20 IV Grundgesetz. Auch die im deutschen Recht anerkannte „Radbruchsche Formel“, wonach Rechtsnormen dann nicht gelten bzw. als Recht anzusehen sind, wenn ihr Widerspruch gegenüber der Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreicht oder mit ihnen Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wurde,85 drückt einen vergleichbaren Kompromiss zwischen Regelkonformität und Einzelfallabwägung aus. Das Verhältnis von einzelnen Handlungsnormen und allgemeinen Regeln erscheint durch diese Hybridmodelle einleuchtend erfasst. Allerdings bleiben natürlich die allgemeinen Einwände gegen den Konsequentialismus und das Maximierungsprinzip auch gegen­ über diesen Hybridmodellen erhalten, so dass diese letztlich die Abwägungsaufgabe im Rahmen des fünften Elements der Ethik nicht umfassend lösen können. Es besteht im Übrigen keine begriffliche Notwendigkeit, die Beurteilung von Handlungsnormen und Regeln sowie ihres Verhältnisses zueinander auf die Konsequenzen einerseits und die Maximierung andererseits zu beschränken, so dass die einleuchtende Erfassung des Verhältnisses von Handlungsnormen und Regeln auch mit anderen, adäquateren Abwägungsprinzipien verbunden werden kann.

5. Kritik weiterer Prinzipien: Gleichheit, Genügen / Suffizienz, Pareto, Aufopferung / Kaldor-Hicks, Maximin, Utilex, Leistung, Priorität Neben den erwähnten Prinzipien gibt es viele weitere, von denen nachfolgend einige wichtige skizziert werden sollen:

a) Das Gleichheitsprinzip Ein wesentlicher Aspekt des Prinzips der Gleichheit bestimmt  – so das Ergebnis des ersten Kapitels – als Teil des Grundprinzips des normativen Individualismus Ethik und Moral: Jedes ethisch zu berücksichtigende Individuum muss mit seinen Belangen bzw. Interessen grundsätzlich gleich berücksichtigt werden. Im Rahmen der konkreteren Frage nach dem richtigen Abwägungs- und Zusammenfassungsprinzip dieser Belange steht nun aber nicht diese spezifische Ausprägung der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung jedes ethisch relevanten Individuums in Rede, sondern die weiter gehende Anwendung des Gleichheitsprinzips als Prinzip der Zusammenfassung einzelner Belange. Fraglich ist also, ob die potentiell oder tatsächlich widerstreitenden Belange in jedem einzelnen Fall der Abwägung nicht nur formal grundsätzlich gleich zu berücksichtigen, sondern immer auch inhaltlich gleich zu verwirklichen sind. Zu einer derartigen gleichen

85

BVerfGE 3, S. 119; 3, S. 233; 6, S. 138; 6, S. 414 ff.; 23, S. 106; 54, S. 67 ff.; 95, S. 135 ff.; BGHZ 3, S. 107; 23, S. 181; BGHSt 2, S. 177; 2, S. 238; 3, S. 362 ff.; BGHSt 39, S. 15 ff.; 39, S. 183 ff.; 40, S. 232; 40, S. 244 ff. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: ders., Rechtsphilosophie. Studienausgabe, hg. von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson, 2., überarb.  Aufl. Heidelberg 2003, S. 216.

202

V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Verwirklichung gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Man kann die Betroffenen entweder gleich behandeln oder gleich stellen. Im Fall der Gleichbehandlung wird ohne Ansehen des Ausgangszustands agiert. Jeder wird tatsächlich inhaltlich gleich behandelt, Güter und Lasten werden etwa gleich verteilt. Im Fall der Gleichstellung wird dagegen der Ausgangszustand berücksichtigt und das Ziel verfolgt, ein inhaltlich gleiches Ergebnis herzustellen, erfordere dies auch eine inhaltliche Ungleichbehandlung bis hin zur Wegnahme einiger Güter von Privilegierten. Zahlt etwa eine Aktiengesellschaft auf jede Aktie mit dem gleichen Nennwert die gleiche Dividende, so erfolgt eine Gleichbehandlung. Bekommen dagegen die Ärmsten mehr, damit sie genauso viel wie alle Anderen haben, so liegt eine Gleichstellung vor. Es gibt sicher Fälle, in denen eine Entscheidung nach dem Gleichheitsprinzip im Sinne der Gleichbehandlung gerechtfertigt ist. Wenn etwa mehrere Personen zusammen etwas erarbeitet oder hervorgebracht haben, dann ist das Ergebnis grundsätzlich gleich zu verteilen. Haben zum Beispiel mehrere Mitglieder einer Familie einen Kuchen gebacken, so können prima facie alle Familienmitglieder Anspruch auf ein gleich großes Stück erheben  – zumindest gilt dies, wenn alle den gleichen Beitrag geleistet haben. Man kann also formulieren: Das Gleichheitsprinzip im Sinne des Prinzips der Gleichbehandlung ist als Abwägungsprinzip widerstreitender Belange zumindest immer dann gerechtfertigt, wenn mehrere Individuen gleichermaßen zu einem gemeinsamen Projekt beigetragen haben. Es gibt aber auch moralische Konflikte, bei denen diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind. Ein Beispiel ist bereits der umgekehrte Fall, dass ein Einzelner etwas für sich hervorgebracht hat, was Andere wünschen oder benötigen. Man nehme an, jemand habe ein Kunstwerk geschaffen, das er nun besitzt. Ein Anderer will gleich behandelt werden, also vom Künstler ein vergleichbares Kunstwerk erhalten. Es wäre absurd, hier eine Gleichbehandlung zu fordern, denn die Schöpfung eines Kunstwerks ist etwas so Einmaliges und Persönliches, dass kein Grund ersichtlich ist, warum der Urheber es auch einem Anderen in gleicher Weise verschaffen müsste. Aber selbst wenn es sich nicht um ein höchstpersönliches Gut wie ein Kunstwerk, sondern um allgemeine Güter wie Nahrungsmittel handelt, wird man die Gleichbehandlung nicht unmittelbar für geboten halten können. Der Besitzer ist zur Hilfe gegenüber anderen Bedürftigen verpflichtet, aber allenfalls bis zur Grenze des Genügens für diese Anderen, nicht aber in gleichem Maße wie für sich selbst. Kein Sozialsystem der Welt schreibt eine durchgängige und vollständige wechselseitige Gleichbehandlung aller Bürger vor. Die Forderung nach Anwendung des Gleichheitsprinzips durch Gleichstellung ist viel radikaler, weil sie ein unter Umständen extrem gesellschaftsveränderndes Potenzial enthält. So fordern manche Strömungen des Feminismus nicht nur die Gleichbehandlung, sondern die Gleichstellung der Frau. Gleichstellung würde bedeuten, dass alle schlechter Gestellten auf das Niveau der am besten Gestellten gehoben werden oder – falls das aus faktischen Gründen nicht geht – den Bessergestellten soviel weggenommen wird, wie nötig ist, um alle gleich zu stellen. Letzteres mag vielleicht in engen familiären oder monastischen Gemeinschaften vollständiger Solidarität gerecht­­fertigt sein und viel-

5. Kritik weiterer Prinzipien

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leicht in gewisser Hinsicht auch im Hinblick auf die Gleichheit der Geschlechter. Aber die konkret-individuelle Wegnahme, das heißt die Schädigung bestimmter Personen, um ein gleiches Durchschnittsniveau zu erreichen ist nicht als generelles, alle moralischen, rechtlichen und ethischen Abwägungen bestimmendes Prinzip zu rechtfertigen.86 Das zeigt wieder das obige Beispiel: Ein Künstler ist nicht verpflichtet, alle anderen Personen auf dasselbe Niveau des Besitzes von Kunstwerken zu heben. Und selbst die allgemeine Sozialhilfe hat nirgendwo das Ziel, alle gleichzustellen, weil dadurch jede Selbstverantwortung für das eigene Leben und somit ein großer Teil der individuellen Freiheit des Menschen aufgehoben würde. Auch die von der UNO proklamierte Entwicklungshilfe der reicheren gegenüber den ärmeren Ländern soll keine Gleichheit herstellen, sondern fordert lediglich, 0,7 % des Bruttosozialprodukts zu leisten (was im Übrigen die allermeisten Länder nicht erreichen). Oder man denke sich einen Verhungernden, der von einem Reichen Hilfe benötigt. In diesem Fall steht das Interesse des Verhungernden, Essen zu bekommen, gegen das Interesse des Reichen, sein Vermögen zu behalten. Ein konkretes gemeinsames Projekt mit gleichen Beiträgen, das über das anonyme Zusammenleben in einer Massengesellschaft hinausginge, ist nicht ersichtlich. Trotzdem ist eine Zusammenfassung der divergierenden Belange notwendig. Das adäquate Abwägungsprinzip wird zu der Entscheidung führen, dass hier eine Hilfspflicht besteht. Aber es fordert keine völlige Egalisierung des Vermögens. Eine solche Forderung würde zusätzliche Gründe voraussetzen. Sie ist außer in Fällen gleicher Beiträge zu gemeinsamen Projekten nur auf freiwilliger Basis möglich, etwa im Falle des Eintritts in einen Mönchsorden oder der Vereinbarung einer ehelichen Gütergemeinschaft. Die allgemeine Anwendung des Gleichheitsprinzips ist auch im Fall der Verteilungsabhängigkeit der Summe der zu distribuierenden Güter problematisch. Die Wahl des Abwägungsprinzips kann zu einer Vermehrung oder Verminderung der Gesamtmenge der zu verteilenden Güter führen. Dies ist etwa bei ökonomischen Verteilungen der Fall: Werden gemeinsam erzeugte Güter gleich verteilt, so vermindert sich der Anreiz zu besonderen Anstrengungen, mit dem Ergebnis, dass die Gesamtmenge der zu verteilenden Güter kleiner ausfällt als dies bei Anwendung des Maximierungsprinzips der Fall wäre. Bei einer Güterverteilung, die Ungleichheiten zulässt, können unter Umständen sogar die Schlechtestgestellten besser stehen als bei einer Gleichverteilung, sofern die gemeinsam erzeugte Gesamtmenge der Güter größer als bei der Gleichverteilung ist. Dann wäre das noch zu erörternde Maximin- oder Differenzprinzip dem Gleichheitsprinzip überlegen. Die unabweisbare Folgerung aus dieser Einsicht lautet: Das Gleichheitsprinzip ist in seinen beiden Alternativen der Gleichbehandlung und der Gleichstellung nicht für alle denkbaren Abwägungen ethischer Konflikte adäquat, sondern nur für bestimmte, in denen zusätzliche Gründe eine Gleichbehandlung oder sogar Gleichstellung rechtfertigen können, etwa gemeinsame Beiträge zu Projekten oder ungleiche Startbedingungen.

86

Sog. „leveling down objection“. Vgl. Derek Parfit, Gleichheit und Gerechtigkeit, in: Angelika Krebs (Hg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a. M. 2000, S. 93.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

b) Das Genügensprinzip / Suffizienzprinzip Das Genügensprinzip (Suffizienzprinzip, „satisficing-principle“) stellt eine Abschwächung des Maximierungsprinzips und des Gleichstellungsprinzips und eine Steigerung gegenüber dem Gleichbehandlungsprinzip dar. Danach soll es nicht geboten sein, die Summe des fraglichen Guts zu maximieren oder eine Gleichstellung herbeizuführen. Aber man bleibt auch nicht bloß auf die Gleichbehandlung verpflichtet. Geboten ist vielmehr, ein jeweiliges „Genügen“, eine „Suffizienz“ bei den Schlechtergestellten zu realisieren, das heißt in einer schwächeren Form entweder bessere statt schlechtere Maßnahmen durchzuführen oder, in einer stärkeren und eindeutig konsequentialistischen Form, die schlechter Gestellten möglichst auf einen bestimmten Schwellenwert anzuheben, wobei es dann wieder striktere und weniger strikte Varianten gibt.87 In vielen Fällen ist die Forderung nach Genügen sicherlich gerechtfertigt. So haben wir etwa eine ethische Verpflichtung, unserer Rolle als Vater oder Mutter gegenüber unseren Kindern zu „genügen“. Es besteht hingegen keine Verpflichtung, die Konsequenzen unseres Verhaltens gegenüber unseren Kindern in allen Situationen und unter allen Umständen zu maximieren. Und auch unserer Hilfspflicht gegen­über Anderen müssen wir, wie sich soeben ergab, offensichtlich regelmäßig nur „genügen“, nicht aber deren Wohlergehen unter allen Umständen optimieren. Dies gilt etwa in der gemeinschaftlichen Form der Sozialhilfe. Sie muss den Bedürftigen „genügend“ Hilfe leisten, wobei natürlich umstritten ist, was das bedeutet. In vielen anderen moralischen Konflikten ist dagegen eine über das Genügen hinausgehende Erfüllung möglich und geboten. Wurde etwa ein Versprechen abgegeben und sind keine guten Gründe erkennbar, die gegen seine Einhaltung sprechen, so führt die beste Abwägung zur Verpflichtung, das Versprechen in vollem Umfang einzuhalten. Der Versprechensgeber muss sich nicht auf eine „genügende“ Teilerfüllung beschränken, bei der in vielen Fällen bereits unklar sein wird, worin sie besteht. Der Anspruch einer besten Lösung der Abwägung darf in der Ethik also nicht aufgegeben werden. Wie sich ergab, ist es nicht notwendig, diesen Anspruch immer mit dem Maximierungsprinzip zu verbinden. Das Genügensprinzip kann vielmehr in manchen Fällen eine solche beste Lösung sein. Aber es sind andere moralische Konflikte denkbar, in denen das Genügensprinzips nicht zu einer gut begründeten Abwägung der Belange führt, etwa die bereits erwähnten Fälle, in denen eine Gleichverteilung oder eine Maximierung gefordert ist, also etwa die Fälle gleicher Beiträge zu gemeinsamen Projekten und die Fälle politischer Vorhaben ohne gravierende Beeinträchtigung individueller Belange. Im Fall des gemeinsam gebackenen Kuchens muss sich niemand mit einem „genügenden“ Stück zufriedengeben und im Fall des Neubaus einer Straße darf man nicht nur eine „genügend“ gute Trasse auswählen, sondern muss die entscheidenden Parameter, etwa 87

Michael Slote, Beyond Optimizing. A Study of Rational Choice, Cambridge 1989, S.  138 ff. (mit einem Schwer­punkt auf der Rationalitätstheorie, nicht auf kategorischen Normordnungen und ihrer ethischen Rechtfertigung und mit einer wenig klaren Beschränkung auf die erste Form); Harry Frankfurt, Equality and Respect, Social Research 64 (1999), S. 3–15; Roger Crisp, Equality, Priority, and Compassion, Ethics 113 (2003), S. 745–763; Paula Casal, Why Sufficiency Is Not Enough, Ethics 117, S. 296–326.

5. Kritik weiterer Prinzipien

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Baukosten, Lärmbelästigung, Naturbeeinträchtigung etc. optimieren. Jeder Versuch, das Genügensprinzip als alleiniges Prinzip für alle Fragen der Abwägung von Belangen heranzuziehen, scheitert also.

c) Das Paretoprinzip Auch beim Paretoprinzip handelt es sich um eine Abschwächung des Maximierungsprinzips sowie des Gleichstellungsprinzips und eine Steigerung des Gleichbehandlungsprinzips. Nach dem Paretoprinzip ist eine Handlung geboten oder zumindest erlaubt, wenn sie bewirkt, dass wenigstens einer besser und keiner schlechter steht. Die Ungleichbehandlung und Ungleichstellung wird also zugelassen, anders als beim Maximierungsprinzip aber nur, wenn dadurch niemand einen Nachteil erleidet. Das Paretoprinzip kann vor allem Verträge rechtfertigen, bei denen jede der vertragschließenden Parteien annimmt, nach dem Vertragsschluss je individuell besser oder zumindest gleich gut zu stehen wie vor dem Vertragsschluss. Das Pareto-Prinzip kann also nur in sog. „Win-Win“- bzw. Plus-Summen-Situationen zur Anwendung kommen.88 Allerdings können moralische Konflikte auftreten, bei denen sich die „Win-Win“Frage mangels Verbesserungsmöglichkeit gar nicht stellt, die also keine Plus-SummenSituationen sind. In derartigen Situationen muss nur entschieden werden, ob die Belange mehrerer Betroffener gar nicht, zum Teil oder voll verwirklicht werden sollen. Bei jeder Lösung steht notwendig einer der Betroffenen – relativ zu seinen Interessen – schlechter. Das Paretoprinzip kann hier keine Entscheidung liefern. Es bleibt somit in seiner Reichweite beschränkt. Sein hauptsächlicher Anwendungsfall ist der freiwillige Austausch ökonomischer Güter innerhalb einer ordnungspolitisch strukturierten Wirtschaftsordnung.

d) Das Kaldor-Hicks-Prinzip bzw. Aufopferungsprinzip Das Kaldor-Hicks-Prinzip oder Kaldor-Hicks-Kriterium ist eine Verbindung aus dem Maximierungsprinzip und dem Paretoprinzip. Das Paretoprinzip wird quasi erweitert. Danach soll die Maximierung und damit die Besserstellung einiger über das Paretoprinzip hinaus auch dann erlaubt bzw. geboten sein, wenn zwar nicht alle gleich gut stehen, weil sie faktisch durch die Veränderung tangiert werden, sich aber zumindest wertmäßig nicht verschlechtern, weil sie für einen Eingriff vollständig, das heißt wertgleich entschädigt werden bzw. – in einer weiteren Abschwächung – entschädigt werden könnten. Es handelt sich also um eine Anwendung des Aufopferungsgedankens, der allerdings auf große Wertunterschiede beschränkt bleibt: In bestimmten Fällen muss man im weit überwiegenden Interesse Anderer oder der Allgemeinheit weit weniger wichtige Interessen aufgeben, etwa ein Kleidungsstück oder einen Haushaltsgegenstand 88

Präziser müßte man sagen „Win-No-Loss-Situationen“.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

zur Rettung von Leib oder Leben eines Anderen, hat dann aber Anspruch auf wert- oder sogar sachgleiche Entschädigung. Das Aufopferungsprinzip findet in vielen Normen Anwendung. Um einem Ertrinkenden Hilfe zu leisten, muss der Retter es etwa in Kauf nehmen, dass seine Kleider nass bzw. beschädigt werden, er Zeit verliert oder sich vielleicht sogar erkältet. Er hat aber moralisch und rechtlich Anspruch auf Entschädigung.89 Der Finder ist verpflichtet, die gefundene Sache zu verwahren und zu erhalten sowie die Unannehmlichkeit der Ablieferung auf sich zu nehmen. Dann stehen ihm jedoch ein Ersatz seiner Aufwendungen und der Finderlohn zu.90 Der Anteilseigner einer Aktiengesellschaft, der die weit überwiegende Anzahl der Aktien hält, kann das Unternehmen vollständig übernehmen. Er muss die anderen Eigner jedoch vollständig in Geld entschädigen (sog. „Squeeze Out“).91 Das Sacheigentum darf zum Wohl der Allgemeinheit enteignet werden. Dann muss aber eine vergleichbare Sache beschafft oder eine angemessene Entschädigung gezahlt werden.92 An diesen Beispielen wird allerdings schon die Grenze des Aufopferungsprinzips deutlich. Es kommt vor allem bei weniger wichtigen, ersetzbaren Belangen wie Sacheigentum, Sachbesitz oder kurzzeitigen Handlungen ohne gravierende Gefahr für Leib oder Leben in Betracht. So gibt es etwa keine Befugnis, jemanden zu längerer Zwangsarbeit zu verpflichten, selbst wenn der Vorteil daraus sehr groß wäre.93 Das Aufopferungsprinzip ist nur für einen kleinen Bereich von Fällen positiver Hilfspflichten unter Einsatz weniger wichtiger, ersetzbarer Belange zur Erreichung sehr viel wichtigerer Ziele Anderer gerechtfertigt, taugt aber nicht als allgemeines Abwägungsprinzip in allen moralischen, rechtlichen und ethischen Konflikten mit zum Teil nur geringen Wertunterschieden, wie dies im Kaldor-Hicks-Prinzip ausgeprägt ist.

e) Das Maximinprinzip Das Maximinprinzip (Differenzprinzip) geht in seiner Wirkung für den einzelnen noch stärker über das Paretoprinzip hinaus als das Aufopferungsprinzip. Es sucht nach einem sozialeren Kompromiss zwischen dem Maximierungs- und dem Gleichverteilungsprinzip. Für eine Ungleichverteilung soll es danach anders als beim Paretoprinzip nicht genügen, dass niemand schlechter gestellt wird. Vielmehr ist sie nur dann gerechtfertigt, wenn sich die individuelle Situation der am schlechtesten Gestellten durch die Ungleichverteilung gegenüber der Gleichverteilung soweit wie möglich verbessert.94 Das bedeutet: Nur wenn die zu verteilende Gesamtmenge des fraglichen Guts distributionssensitiv ist, also durch 89 90 91 92 93 94

Vgl. § 683, 670 BGB: Ersatz von Aufwendungen für eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag. §§ 970, 971 BGB. §§ 327a ff. AktG, §§ 39a ff. Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz. Vgl. Art. 14 III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Vgl. Art. 12 II, III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. John Rawls, A Theory of Justice, S. 152 ff.; Thomas Nagel, Equality and Partiality, New York 1991, S. 66; Walter Pfannkuche, Die Moral der Optimierung des Wohls, S. 192 ff.

5. Kritik weiterer Prinzipien

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die Ungleichverteilung erhöht werden kann, ist ein Abweichen vom Gleichheitsprinzip grundsätzlich zulässig. Ansonsten bleibt es bei der Gleichverteilung. Eine gewisse Ungleichbehandlung und Ungleichverteilung wird also in Kauf genommen, um das Ergebnis für jeden Einzelnen zu maximieren, sofern dies gerade durch die Wahl des Differenzprinzips möglich ist, das zum einen von der Gleichverteilung abweicht und zum anderen die Schlechtestgestellten besser stellt. Lassen sich die Schlechtestgestellten bei zwei oder mehr Abwägungsprinzipien gleich gut bzw. gleich schlecht stellen, so ist die möglichst weitgehende Verbesserung der Zweitschlechtestgestellten entscheidend, sind auch hier zwei oder mehr gleichwertige Alternativen möglich, die Verbesserung der Drittschlechtestgestellten usw. Da auf diese Weise eine hierarchische Ordnung der Niveauverbesserungen von unten nach oben entsteht, spricht man auch von einer „lexikographischen Ordnung“ bzw. präziser vom „lexikographischen Maximinprinzip“ oder „Leximinprinzip“. Wie das Paretoprinzip kann das Maximinprinzip nur in Situationen der Güterverteilung zur Anwendung kommen, und zwar nur dann, wenn sich gegenüber einer Gleichverteilung die Situation für alle verbessern lässt, wenn es sich also nicht um eine Null-Summen-, sondern eine Plus-Summen- bzw. Win-Win-Situation handelt. Dies ist in einfachen moralischen Konflikten, etwa der Frage, ob man ein Versprechen auch im Falle schwerer Nachteile halten muss, regelmäßig nicht der Fall. In derartigen Konflikten muss entschieden werden, welche Interessen den Vorzug verdienen, ohne dass die Ungleichbehandlung die zur Interessenbefriedigung vorhandenen Güter vermehren könnte. Das Maximinprinzip ist also zwar unter Umständen für gewisse Fälle der vor allem ökonomischen Güterverteilung, nicht aber als umfassendes Abwägungs- und Zusammenfassungsprinzip der Ethik einsetzbar. So kann es etwa kaum bei der Frage helfen, ob ein Versprechen auch unter der Bedingung eines Unfalls gehalten werden soll, wenn der Versprechensempfänger durch die Nichteinhaltung des Versprechens prinzipiell schlechter gestellt wird. Aber auch in Fällen der Güterverteilung kann das reine Maximinprinzip aus wenigstens zwei Gründen nicht als alleiniges Abwägungsprinzip überzeugen: Es berücksichtigt nur die Bedürftigkeit, nicht aber das eigenverantwortliche Vorverhalten der fraglichen Personen, ist also im Ergebnis nicht normativ-individualistisch genug. Und es kann krass ineffizient sein, etwa wenn zum Zweck einer minimalen Verbesserung der Schlechtestgestellten auf eine eminente Verbesserung der Zweitschlechtest- oder Drittschlechtestgestellten verzichtet werden muss.

f ) Das Utilexprinzip Das Utilexprinzip verbindet Maximierungs- und Differenzprinzip.95 Anders als bei der bloßen Maximierung sind danach das bisherige Niveau und die realisierte Verteilung 95

Christoph Lumer, Utilex – Verteilungsgerechtigkeit auf Empathiebasis, in: P. Koller / K. Puhl (Hg.), Current Issues in Political Philosophy: Justice in Society and World Order, Wien 1997, S. 99–110; ders., Rationaler Altruismus, Osnabrück 2000, S. 616 ff.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

nicht gleichgültig. Die am schlechtest Gestellten sollen wie beim Differenzprinzip bevorzugt werden. Aber diese Bevorzugung soll nicht so weit gehen, jeweils unter allen Umständen das Niveau der Schlechtestgestellten so weit wie möglich zu maximieren, selbst wenn diese Verbesserung nur minimal und eine viel größere Verbesserung bei weniger schlecht Gestellten möglich wäre. Die Verbesserung der Betroffenen soll vielmehr in Abhängigkeit vom bisherigen Niveau gewichtet werden. So erscheint es etwa geboten, einem Schwerverletzten das Leben zu retten, selbst wenn dadurch einem sicher Sterbenden, also einem noch mehr Geschädigten, die ansonsten mögliche leichte Linderung seines Sterbens vorenthalten werden muss. Das Utilexprinzip ist stärker verteilungssensitiv als das Maximierungsprinzip. Und es vermeidet anders als das Differenzprinzip krasse Ineffizienz. Es verdient also in bestimmten Fällen gegenüber dem reinen Maximierungs- und dem reinen Differenzprinzip den Vorzug. Allerdings vermag es auch nicht allen Einwänden gegen diese Prinzipien zu entgehen. So kann es wie diese nur bei Güterverteilungen in Plus-Summen-Situationen zur Anwendung kommen. Im Übrigen wird wie beim Maximierungsprinzip das eigenverantwortliche Vorverhalten der Personen nicht berücksichtigt. Schließlich kommt beim Utilexprinzip alles auf die Wahl des Gewichtungsfaktors an. Wie dieser begründet und realisiert werden soll, ab welcher Grenze also auf eine kleinere Verbesserung der Schlechtestgestellten zu Gunsten einer größeren Verbesserung Bessergestellter verzichtet werden soll, ist nicht entschieden. Man kommt insofern um eine vorherige Gewichtung der Interessen der Betroffenen nicht herum. Auch das Utilexprinzip kann also nicht für sich in Anspruch nehmen, als umfassendes Prinzip in allen ethischen bzw. moralischen Konflikten allein zu einer gerechtfertigten Abwägung zu führen.

g) Das Leistungsprinzip Das Leistungs- bzw. Beitragsprinzip gebietet, die Abwägung zwischen konfligierenden Belangen nach der Leistung bzw. dem Beitrag der einzelnen Betroffenen vorzunehmen. Wenig mitfühlend sagt der Volksmund: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen!“ Das Leistungsprinzip hat seine partielle Berechtigung bei der Verteilung von gemeinsam erarbeiteten Gütern, wenn die Beiträge unterschiedlich hoch waren, sofern dies nicht nur auf natürliche oder individuell unbeeinflussbare Faktoren zurückzuführen ist, sondern auf die je individuelle Leistung. Wer mehr beiträgt, der darf auch mehr erwarten, das heißt seine Belange sollen in höherem Maße befriedigt werden. Deutlich ist aber, dass die Leistung nur ein Aspekt der Vermittlung in einem moralischen Konflikt sein kann. Stehen etwa wie oben Versprechen und Notfall im Konflikt, vermag das Leistungsprinzip nicht zu einer Lösung zu führen. In anderen Fällen ist die alleinige Berücksichtigung der Leistung ungerecht, denn sie kann etwa auf natürlichen Faktoren wie Schönheit oder Intelligenz beruhen, die einer Person nur aufgrund von Glück in der Geburtslotterie der Natur zugefallen sind und die sie nicht durch persönliche Anstrengung erworben hat. Auch das Leistungsprinzip taugt also nicht als alleiniges Abwägungsprinzip.

5. Kritik weiterer Prinzipien

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h) Das Prioritätsprinzip Nach dem Prioritätsprinzip sollen die Belange nach der Priorität ihres Entstehens oder ihrer Artikulation befriedigt werden.96 Opernkarten erhält etwa derjenige zuerst, der sich als Erster an der Kasse anstellt. An der Ladentheke wird der Erste zuerst bedient. Und auch bei der Transplantation von Organen spielt die Reihenfolge der Anmeldung häufig zumindest eine Rolle. Dabei ist grundsätzlich kein guter Grund ersichtlich, warum der bloße, mehr oder minder zufällige Zeitpunkt der Entstehung oder Artikulation eines Belangs seine bevorzugte Realisierung recht­fertigen sollte. Bei der Verteilung von Opernkarten nach Priorität mag das frühzeitige Anstehen einen besonders starken Wunsch, die Oper zu sehen, beglaubigen und die Bevorzugung der Ersten in der Reihe sachlich rechtfertigen. Die Zeitpunkte des Anstellens an der Ladentheke und des Entstehens eines Transplantationsbedürfnisses sind dagegen regelmäßig dem puren Zufall geschuldet. Das Prioritätsprinzip kann dann nicht auf einen sachlichen Grund für die Bevorzugung der früher entstandenen oder artikulierten Belange gestützt werden. Es gewinnt seine Legitimität allein aus dem Vorteil, eine geordnet-rationale Beilegung des Verteilungskonflikts zu ermöglichen. Streit und Unsicherheit über die Lösung des Konflikts der Belange werden so vermieden. Jeder weiß, woran er ist, und kann sich darauf einstellen. Damit ist aber auch deutlich, dass sich das Prioritätsprinzip nicht als allgemeines Abwägungsprinzip eignet, weil die soeben erwähnte sekundäre Rechtfertigung der Vermeidung von Streit und Unsicherheit nicht allein ausschlaggebend sein kann, sofern andere inhaltlich entscheidende Gründe für den Vorrang oder Nachrang einzelner Belange sprechen.

i) Fazit Das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip ist in seiner allgemeinen Form gerechtfertigt, umfasst aber nur die schon in den früheren Kapiteln erörterten Elemente eins bis vier einer adäquaten normativen Ethik, ist also zu abstrakt und leistet deshalb nicht genug für eine notwendige inhaltliche Konkretisierung der Abwägung. Die anderen diskutierten Prinzipien, also das Verallgemeinerungsprinzip, das Maximierungsprinzip, das Gleichheitsprinzip usw., sind nur zur Lösung einzelner Typen ethischer Konflikte gerechtfertigt. Diese Prinzipien sind jeweils zu konkret, um als allgemeines ethisches Abwägungsprinzip akzeptabel zu sein. Nötig ist deshalb ein Prinzip, das einerseits konkreter als das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip und andererseits abstrakter als die anderen erwähnten Prinzipien ist. Es muss in seiner Abstraktionshöhe zwischen diesen beiden Ebenen liegen, um gleichzeitig alle möglichen Konflikte umfassen und als Metaprinzip die Anwendung der konkreteren Prinzipien steuern zu können.

96

Dieses Prinzip ist von dem Prinzip der sog. „priority-view“ als eine Art verbessertem Maximinprinzip zu unterscheiden. Vgl. zu diesem: Derek Parfit, Equality and Priority, Ratio 10 (1997), S. 202–221.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

6. Das Prinzip der relativen Individual- und Anderbzw. Gemeinschafts­abhängigkeit der Belange Ein adäquates ethisches Abwägungsprinzip muss der Vermittlung der potentiell widerstreitenden Belange der Betroffenen im Konflikt dienen. Dann lautet die zentrale Frage: Wie sind diese potentiell widerstreitenden Belange der Betroffenen im Konflikt zu gewichten, das heißt wechselseitig zu bewerten? Die Konfliktvermittlung durch primäre Normordnungen wie Moral, Recht und Politik geschieht vor dem Hintergrund bereits bestehender Akteur-Anderer-Beziehungen bzw. Gemeinschaften im weitesten Sinn, denen die betroffenen Individuen als Akteur und Anderer angehören. Die Bandbreite dieser Gemeinschaften reicht von zwei oder mehr einander vollkommen Fremden, die als Menschen lediglich Teil der relativ schwachen Gemeinschaft der Menschheit als Ganzes sind, bis hin zu den Mitgliedern der engsten Gemeinschaft, die denkbar ist, der Ehe und Familie. Die Konfliktvermittlung dient nicht zuletzt der Ermöglichung und Aufrechterhaltung dieser Gemeinschaften. Die einzelnen Belange, die als normative Eigenschaften für die Konfliktlösung entscheidend sind, hängen nun aber teilweise von diesen faktischen Gemeinschaften ab. Sie sind deshalb für jedes einzelne Individuum in mehr oder minder starkem Maße ein Eigenes oder Fremdes, ein Eigenes seiner selbst oder ein Fremdes der Gemeinschaft der Betroffenen. Dann erscheint es aber gerechtfertigt, dass jeder an einem Konflikt Beteiligte gegenüber den anderen Beteiligten um so stärker die Verwirklichung des im Konflikt stehenden fraglichen Belangs erwarten darf, je stärker dieser Belang sein Eigenes und nicht ein Fremdes der Gemeinschaft ist, je weniger der Belang also von der Gemeinschaft der Beteiligten abhängt. Oder umgekehrt ausge­drückt: Jeder im Widerstreit der Interessen Stehende muss sich eine umso stärkere Relativierung seines Belangs in der Abwägung gefallen lassen, je stärker dieser Belang von Anderen bzw. der Gemeinschaft abhängt, also bereits faktisch-individuell relativiert ist. Das heißt: Die normative Berechtigung eines Individuums, sich mit seinen eigenen Belangen in einem Konflikt der Interessen gegen die gemeinschaftliche Relativierung der individuellen Belange durchzusetzen, nimmt ab, je weiter gehend diese Belange von der Gemeinschaft selbst abhängen. Dieses allgemeine Prinzip der ethischen Abwägung soll „Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Belange“ heißen. Es lautet präzisiert: Je stärker der Belang eines im Konflikt zu berücksichtigenden Individuums von der Gemeinschaft der Betroffenen abhängt, desto eher muss sich das Individuum eine Relativierung dieses Belangs in der Abwägung gefallen lassen. Zum weiteren Verständnis dieses Prinzips der ethischen Abwägung soll erläutert werden, was „Abhängigkeit von der Gemeinschaft der Betroffenen“ bedeutet. Diese Abhängigkeit kann sich unter allen Aspekten ergeben, die prinzipiell Relationen bestimmen können: Die Abhängigkeit des Belangs von der Gemeinschaft kann etwa aus der kausalen oder quasikausalen Verursachung des Belangs beim Einzelnen herrühren, zum Beispiel weil ein Versprechen beim Empfänger die Erwartung seiner Erfüllung erzeugt hat. Sie

6. Das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschafts­abhängigkeit

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kann aber auch final auf die Realisierung des Belangs in der Gemeinschaft gerichtet sein, etwa der Wunsch nach Anerkennung durch die Anderen in gemeinschaftlich etablierten Formen der Belobigung wie der Gewährung von Leistungsprämien, der Vergabe von Orden oder der Berufung in Ämter. Die Abhängigkeit des Belangs von der Gemeinschaft kann eine der Physis sein, etwa aus der sehr starken physischen Abhängigkeit zwischen Mutter und Kind im Mutterleib erwachsen, oder eine solche der Psyche, etwa den starken Gefühlen zwischen Liebenden entspringen. Die Abhängigkeit des Belangs von der Gemeinschaft kann weiterhin vom Gesichtspunkt der Zeit bestimmt werden: (1)  historisch und vergangenheitsorientiert, weil eine bestimmte Praxis mit Anderen in einer Gemeinschaft notwendige Ent­stehungsbedingung der Ausprägung des Belangs beim Beteiligten war, etwa der Bestand öffentlicher Einrichtungen die notwendige Bedingung positiver Erfahrungen und damit in der Folge die Quelle des Wunsches, diese Einrichtungen beizubehalten; (2)  gegenwärtig, weil ein Belang im Zusammenhang mit den Belangen Anderer steht, etwa die wechselseitige Erwartung der Aufrichtigkeit; (3)  zukunftsorientiert, weil ein Belang auch in Zukunft nur in der Praxis mit Anderen oder in einer bestimmten Gemeinschaft mit ihren Einrichtungen realisiert werden kann, etwa das Interesse, auch in Zukunft zusammenzuarbeiten und an den gemeinschaftlichen Einrichtungen der Hilfe und Fürsorge zu partizipieren. Die Abhängigkeit des Belanges von einer Gemeinschaft kann sich aber auch aus dem Gesichtspunkt des Raumes ergeben, etwa weil beide Beteiligte Nachbarn sind und aus dem nachbarschaftlichen Zusammenleben Erwartungen erwachsen. Die Abhängigkeit des Belangs kann eine solche des psychischen Akts selbst sein oder eine solche seines Inhalts. Warum ist das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit als allgemeines Metaprinzip der Abwägung gerechtfertigt? Nach dem Prinzip des normativen Individualismus kann die letzte legitime Quelle für die Rechtfertigung von Normen und Regeln gegenüber Anderen ausschließlich in den betroffenen Individuen selbst liegen. Die Individuen sind – lässt man religiöse Begründungen einmal außer Betracht – der letzte Grund, warum das Handeln einzelner Anderer auch ohne deren konkrete Zustimmung, also kategorisch durch Normen, Bewertungen und Regeln der Moral, des Rechts und anderer primärer Normordnungen eingeschränkt werden darf. Dem Prinzip des normativen Individualismus liegt der Gedanke zu Grunde, dass die Interessen der Individuen so weit wie möglich verwirklicht werden sollen. Die Autonomie der Individuen muss bestmöglich realisiert werden. Jede Nichterfüllung der individuellen Belange ist prima facie negativer als ihre auch nur partielle Erfüllung. Dann bedarf aber jede Einschränkung der Interessenverwirklichung der Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung muss umso stärker ausfallen, je stärker die jeweiligen Belange im konkreten Konflikt eingeschränkt werden. Dies ist aber umso weniger möglich, je stärker die Belange Eigenes und nicht Fremdes sind. Umgekehrt gelingt die Rechtfertigung der Einschränkung der individuellen Belange umso eher, je weniger diese Belange von den Individuen selbst abhängen, je weniger sie also Eigenes der Individuen und je mehr sie Fremdes, von der Gemeinschaft Kommendes darstellen. Denn dann ist der letzte Grund der Berücksichtigung der Belange der Individuen – die Individuen selbst mit ihrer Freiheit als ultimativer Quelle berechtigter Normen – umso weniger faktisch tan-

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

giert und normativ bestimmend. Das hat zur Folge: Die Einschränkung der individuellen Belange darf um so eher stattfinden, je eher ein Belang nicht von dem fraglichen Individuum, sondern von Anderen und / oder der sozialen Gemeinschaft abhängt. Oder anders ausgedrückt: Je mehr dasjenige, was als Eigenes letzte Quelle von Normativität ist, wirklich Eigenes ist, desto stärker ist man berechtigt, darüber zu verfügen, je weniger es dagegen wirklich Eigenes ist und je mehr vielmehr Fremdes, von der Gemeinschaft Kommendes, desto weniger ist man als Individuum berechtigt, darüber zu bestimmen, und umso mehr darf die Gemeinschaft verfügen, weil „Verfügung“ rein begrifflich nichts anderes bedeutet als „wie Seines zu behandeln“. Hinter dem Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit steht also ein Prinzip der Urheber- bzw. Erhalterlegitimität: „Wer etwas hervorgebracht hat und / oder erhält, darf darüber entscheiden oder zumindest – wenn es auch andere hervorgebracht haben und / oder unterhalten – mitentscheiden.“ Weshalb darf derjenige, der etwas hervorgebracht hat oder unterhält, darüber entscheiden bzw. mitentscheiden? Wer etwas hervorgebracht hat oder unterhält, steht in enger zeitlicher, räumlicher, kausaler und sonstiger sachlicher Beziehung zu dem Hervorgebrachten bzw. Unterhaltenen. Setzt man voraus, dass die Hervorbringung bzw. Unterhaltung nicht unethisch ist, ist kein Grund ersichtlich, warum der faktische Zusammenhang von Hervorbringung / Erhaltung und Hervorgebrachtem / Erhalte­nem durch die Intervention Anderer unterbrochen oder eingeschränkt werden dürfte. Die Intervention Anderer bedarf vielmehr ihrerseits der ethischen Recht­fertigung. Warum jemand befugt sein soll, einen ethisch nicht zu beanstandenden Zustand des faktischen Zusammenhangs von Hervorbringung / Erhaltung und Hervorgebrachtem / Er­haltenem zu unterbrechen, ist nicht ersichtlich. Das Prinzip der Urheber- bzw. Erhalterlegitimität ist in vielen alltäglichen Regelungen der Moral und des Rechts wirksam. Wer etwa selber etwas aus anderen Teilen zusammenbaut, erwirbt daran das Eigentum und darf darüber verfügen. Oder wer ein Kunstwerk schafft, hat daran nicht nur das Eigentum, sondern für einen gewissen Zeitraum auch ein Urheberrecht. Wer schließlich eine Erfindung macht und zum Patent anmeldet, darf diese eine gewisse Zeit lang ausschließlich nutzen und verwerten. Das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit und das Prinzip der Urheber- bzw. Erhalterlegitimität sind letzt­lich nichts anderes als konkretisierende Antworten des Grundsatzes des normativen Individualismus in seinem ersten Teil, also des Individualprinzips, auf die spezifische Frage nach einem adäquaten Prinzip der Abwägung. Wer das Prinzip des normativen Individualismus akzeptiert, muss auch diese Konkretisierung auf die Abwägung als Prinzip akzeptieren, weil im Vergleich mit den anderen erörterten Prinzipien nur dieses Prinzip die Freiheit der Individuen in Interessenkonflikten bestmöglich wahrt. Man kann sich fragen, ob die Verknüpfung von faktischer Gemeinschaftsabhängigkeit der Belange und normativer Verpflichtung zu ihrer Berücksichtigung durch das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit nicht einen naturalistischen Fehlschluss darstellt. Das wäre nur dann so, wenn das normative Prinzip der Abwägung selbst auf der faktischen Gemeinschaftsabhängigkeit basieren würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Das Prinzip ist vielmehr Ausfluss der Autonomie

6. Das Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschafts­abhängigkeit

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der Individuen und des Prinzips des normativen Individualismus in Anwendung auf das Abwägungsproblem. Deshalb bestehen keine Bedenken, die normative Gewichtung der Belange von der faktischen Gemeinschaftsbedingtheit abhängig zu machen. Die relative Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange formt ein Kontinuum. An dessen einem Ende stehen Belange, die sehr wenig oder praktisch gar nicht von den jeweils betroffenen Anderen bzw. der konkreten Gemeinschaft der Beteiligten abhängen, sondern durch sie allenfalls indirekt gefördert werden, etwa das Interesse des Einzelnen an seinem physischen Leben, seiner körperlichen Unversehrtheit, seinem Denken und Wollen usw. Diese Belange bestehen in allen Ländern der Erde und in allen Kulturen und Gesellschaften unabhängig von ihrer spezifischen Ausgestaltung durch historisch kontingente Gemeinschaften. Und sie lassen sich in allen Ländern der Erde und in allen Kulturen und Gesellschaften realisieren. Das Interesse, nicht gefoltert zu werden, verbindet zum Beispiel die jeweils kaum gemeinschaftsabhängigen Interessen an der eigenen körperlichen Unversehrtheit und der eigenen Willensentschließung und potenziert damit quasi deren je einzelne starke Individualabhängigkeit. Deshalb muss das Interesse, nicht gefoltert zu werden, in höch­ stem Maße frei von relativierenden Abwägungen bleiben.97 Am anderen Ende dieses Kontinuums der Gemeinschaftsabhängigkeit der Individualbelange stehen fast vollständig von Anderen bzw. Gemeinschaften abhängige Belange, wie etwa das Interesse, mit anderen zusammenzuarbeiten, gemeinsam Sport zu treiben, Familienfeste zu feiern, öffentliche Einrichtungen wie Museen oder Verkehrsmittel zu nutzen, das Interesse an sozialer Unterstützung, an der gemeinsamen Wirtschaft, an natürlichen Ressourcen wie sauberer Luft oder Mineralöl. Zwischen beiden Extremen liegen zum Beispiel Belange der respektvollen Behandlung, der Einhaltung von Versprechen, der Aufklärung über persönlich wichtige Tatsachen, der Erwerbstätigkeit, der freien Meinungsäußerung, der Nutzung eigener Güter usw. Da das Kontinuum der Abhängigkeit der Belange der Individuen von Gemeinschaften in der Abwägung praktisch schwer handhabbar ist, erscheint es sinnvoll, zwischen verschiedenen Abschnitten auf diesem Kontinuum zu unterscheiden. Man kann dann idealtypisch drei Arten oder Zonen von Belangen differenzieren, und zwar: (1) die Belange einer Individualzone, die praktisch nicht von bestimmten Anderen abhängen, nämlich Leben, Leib, physische und psychische Unversehrtheit sowie Gesundheit, also Belange, die innerhalb einer symbolischen Prima-facie-Grenze des Körpers des jeweiligen Individuums lokalisierbar sind, (2) die Belange einer Relativzone, die partiell von Anderen oder einer Gemeinschaft abhängen, etwa die allgemeine Freiheit der Handlung, der Respekt durch Andere, die Erwartung der Erfüllung von Versprechen, die Hilfe seitens Anderer in Notlagen, die Freiheit der Meinung, die Freiheit der Religion, die Freiheit des Berufs, (3) die Belange einer Sozialzone, die weitgehend oder fast vollständig von Anderen oder einer Gemeinschaft abhängen, etwa das Interesse an gemeinsamen Aktivitäten der Familie, der Kultur oder des Sports, an einem System der Anerkennung durch Andere, an einer Praxis der Aufrichtigkeit, an der hoch arbeitsteiligen und von 97

Vgl. Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Infrastruktur abhängigen modernen Wirtschaft, an der Schaffung von Verkehrswegen, an der Nutzung natürlicher Ressourcen, an der Gleichheit sozialer Chancen. Zur praktischen Abwägung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen ist es sinnvoll, das abstrakte Grundprinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit mit Hilfe dieser Typisierung in drei Zonen zu konkretisieren. Man muss dazu die potentiell widerstreitenden Interessen der jeweils in einem Konflikt konkret Betroffenen einer der drei idealtypischen Zonen zuordnen. Dann ist entscheidend, ob sich Belange der gleichen Zone oder unterschiedlicher Zonen widerstreiten. Beide Alternativen werden nachfolgend analysiert. Zuvor wird aber die Zuordnung der Belange zu den einzelnen Zonen näher erläutert.

7. Die Belange der Individualzone Einige Individualbelange sind praktisch nicht durch bestimmte Andere oder ei­ne bestimmte Ge­mein­schaft bedingt. Dies gilt am deutlichsten für das Interesse des einzelnen an seinem biologischen Leben bzw. an seiner Le­benserhaltung. Wir verdanken unser biologisches Le­ben zwar der Zeugung durch unsere El­tern – in neuerer Zeit gelegentlich reproduktionsmedizinisch unterstützt. Aber nach der Geburt hängt es als biologischer Metabolismus nur von unse­rer genetischen Aus­stattung und natürlichen Stoff­wech­ sel­vor­gängen wie Atmung und Verdauung ab. Andere und Gemeinschaften bieten zur Sicherung unseres biologischen Lebens zwar Unterstützung, zum Beispiel durch die Nahrungsversorgung, den Bau von Wohnungen usw. Aber diese Sicherung durch eine bestimmte Gemeinschaft ist für unser biologisches Leben nicht notwendige Bedingung, so wie etwa ein bestimmtes Unternehmen oder eine bestimmte Behörde notwendige Bedingung für einen spezifischen Arbeitsplatz ist oder ein bestimmtes System des öffentlichen Nahverkehrs notwendige Bedingung spezifischer Formen von Mobilität. Wir können bestimmte Gemeinschaften jeder­zeit verlassen und unser biologisches Le­ben als im Wesentlichen identisches in einer anderen Gemeinschaft oder im Extremfall sogar außerhalb jeglicher Gemeinschaft führen, während wir den Arbeitsplatz nicht in andere Gemeinschaften mitnehmen können und auch nicht unsere Form der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Ist aber das biologische Leben nicht durch bestimmte Andere oder eine bestimmte Ge­mein­schaft konstituiert oder auch nur wesentlich bedingt und können wir es Letzterer ohne weiteres durch Ortswechsel entziehen, dann ermöglicht dies eine weitgehende Unabhängigkeit des Lebensinteresses. Diese Unabhängigkeit unseres Lebensinteresses von bestimmten Gemeinschaften sehen wir als selbstverständlich an. Besuchen wir etwa fremde Länder, Stämme oder Familien, so gehen wir ohne Weiteres davon aus, dass unser Lebensinteresse in gleichem Maße berücksichtigt wird wie in unserem Heimatland oder unserer Heimatfamilie, anders als etwa bei unserem Interesse an einem Arbeitsplatz oder an der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, die naturgemäß von der Situation in der jeweiligen konkreten Gemeinschaft abhängen, die wir aufsuchen. Wir können etwa nicht erwarten, in jeder fremden Gemeinschaft einen vergleichbaren Arbeitsplatz zu erhalten, denn die Gemeinschaft kann lediglich aus einzelnen selbstän-

7. Die Belange der Individualzone

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digen Bauern bestehen, oder es kann hohe Arbeitslosigkeit herrschen. Und wir können nicht beanspruchen, in jeder fremden Gemeinschaft ein unseren heimischen Ansprüchen in gleichem Maße genügendes System des öffentlichen Nahverkehrs vorzufinden. Ist unser Lebensinteresse nicht von bestimmten Gemeinschaften abhängig, dann dürfen wir er­warten, dass es von allen Anderen und allen Gemeinschaften mit höchster Priorität beachtet wird. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass jeder Einzelne bestimmen dürfte, welche kon­kreten äu­ßeren Maßnahmen Andere oder eine Gemeinschaft zum Schutz des biologischen Lebens jedes Einzelnen ergreifen. Das Interesse an spezifi­ schen positiven Schutzhandlungen – und damit an der spezifischen Hilfe anderer Personen – fällt nicht in die Individualzone, sondern in die Relativzone, weil es in stärkerem Maße von den Gegebenheiten in konkreten Gemeinschaften abhängt. Die relative Unabhängigkeit des biologischen Lebens von bestimmten Anderen und bestimmten Gemeinschaften manifestiert sich auch darin, dass das bloße biologische Leben des einzelnen Mitglieds auf das Leben der Anderen keine direkten Auswirkungen hat. Bestimmte Ver­hal­tensweisen und Handlungen führen zu kon­kreten Kon­sequenzen für Andere und eine Gemeinschaft. Aber diese Verhaltensweisen und Handlungen können die Anderen kanalisieren und limitieren, ohne das biologische Le­ben als Bedingung dieser Handlungen zu zerstören oder ihm ihren Schutz zu versagen. Eine scheinbare Ausnahme sind Nothilfehandlungen, die Mör­der und Gei­selnehmer verletzen. Aber letztes Abwehrziel gegenüber diesen Angreifern muss und darf nicht die Zer­störung des biologischen Lebens als solches sein,98 sondern nur die Verhinderung ihres ver­breche­ri­schen Han­ delns. Ihr auf die Durchführung dieses Handelns gerichtetes Interesse fällt nicht in die Individual­zone, sondern in die Relativzone. Re­präsentanten von Gemeinschaften agieren hier wie private Nothelfer und können im Rahmen einer solchen Verbrechensbekämpfung in äußersten Notfällen auch ein Risiko für das Leben des Täters in Kauf nehmen. Die Tötung des Mörders bzw. Geiselnehmers darf aber nicht ihr letztes Ziel sein, sondern allenfalls ein Mittel zur Rettung des Opfers. Die körperli­che Unver­sehrtheit und die Gesundheit sind als physische Basis des Lebens ebenso von konkreten Gemeinschaften nicht typischerweise wesentlich beeinflusst wie das Leben selbst. Neben dem Interesse am biologischen Leben sind also auch die Interessen an der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit regelmäßig von bestimmten Anderen bzw. einer bestimmten Gemeinschaft kaum bedingt. Zweifelhafter ist dagegen die Einordnung des psychischen Teils des Menschen, also die Qualifikation seiner mentalen Akte, seines Den­kens, seines Wollens, seiner Gefühle, seiner Ge­wis­sensbildung und seiner re­ligiösen Überzeu­gun­g. Wie Wittgenstein in seinem Privatsprachenargument99 gehen heute manche Theoretiker100 davon aus, dass der Einzelne, zumindest im Hinblick auf seine geistige Existenz, durch die Gesellschaft 98 Deshalb muss auch die Todesstrafe ausgeschlossen sein. Vgl. Kapitel V, 11 a). 99 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1977, § 243 ff., S. 139 ff. 100 Vgl. zum Beispiel John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. 222, 277; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1992, S. 640 ff.; Michael Walzer, Liberalism and the Art of Speculation, Political Theory 12 (1984), S. 324.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

konstituiert oder doch wenig­stens stark ge­prägt („vergesellschaftet“) ist. Aber das widerspricht dem Selbstverständnis des mo­dernen Men­schen, das in dem Ruf „Die Gedanken sind frei!“ seinen Ausdruck ge­funden hat, mag dieses Selbstverständnis auch zweifelhaft sein. Im Übrigen muss man bei der Frage der Abhängigkeit unserer Psyche von Anderen oder Gemeinschaften klar zwischen dem Inhalt und der Form bzw. der Tatsache des Denkens als geistigem Akt unterscheiden. Mancher Inhalt ist durch Andere und Gemeinschaften geprägt. Aber die Form und damit die Tatsache des geistigen Akts ist unsere je eigene, die von unseren biologischen Körpervorgängen untrennbar ist. Und mit zunehmendem Alter entwickeln wir auch ein Interesse an der Unabhängigkeit unserer psychischen Akte von Anderen. Wir wollen unser Denken, unser Wollen, unsere Gefühle und unser Gewissen nicht von Anderen beeinflussen oder sogar manipulieren lassen. Wir begreifen unsere Gedanken und Gefühle als zentralen Teil unseres Ichs und damit als unser Eigenes im Gegensatz zum Fremden der Gedanken und Gefühle Anderer und der uns umgebenden Gemeinschaften. Wir erwarten wie bei unserem biologischen Leben, unserer körperlichen Unversehrtheit und unserer Gesundheit, dass die Freiheit unserer geistigen Akte auch in fremden Gemeinschaften respektiert wird. Natürlich wird die Unabhängigkeit unserer geistigen Akte von Anderen immer bis zu einem gewissen Grade ein Ideal bleiben. Aber mit zunehmendem Alter wird diese Abhängigkeit von einzelnen Gemeinschaften immer diffuser. Unsere Werte und Überzeugungen sind in unserer Kindheit selbstredend noch stark von unseren Eltern abhängig. Aber Pubertät und Adoleszenz bestehen in hohem Maße in einer Infragestellung und Verwerfung bzw. Selbstaneignung dieser Werte und Überzeugungen. Auch wenn wir eine Wertung irgendwann einmal von jemand anderem gehört oder gelesen haben, so sind wir doch überzeugt, dass der geistige Akt der Übernahme, Verarbeitung, Einbettung und Rechtfertigung dieser Wertung unsere ureigene Angelegenheit ist und uns selbst als Ich mitkonstituiert. Selbst wenn dieses Selbstverständnis ein Stück weit illusionär sein mag, so ist es entscheidend, denn zum einen lässt die Tatsache, dass nicht unsere geistigen Akte wesentlich sind, sondern sekundär das Interesse an unseren geistigen Akten, den Charakter des Selbstverständnisses noch deutlicher hervortreten. Und zum anderen operiert das System der normativen Konfliktlösung ja seinerseits lediglich auf der Sinnebene unseres Selbst- und Fremdverständnisses und nicht auf einer eventuell darunter liegenden realeren Ebene. Auch die Notwendigkeit der Sprache zur Entwicklung und Artikulation höherer Stufen unserer Psyche kann an diesem Befund nichts ändern. Die Sprache ist zwar notwendig, aber nicht konstitutiv, sondern lediglich ein Mittel, dessen wir uns als Individuen immer souveräner bedienen, je weiter unser psychischer Entwicklungsprozess fortgeschritten ist. Jedes Individuum verwendet die Sprache ganz individuell. Es kann mit ihr spielen und sie verändern. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, die Sprache als umfassenden und unhintergehbaren Faktor der Vergesellschaftung des Individuums anzusehen, was immer man an kollektivistischen Vorstellungen unter „Gesellschaft“ haben mag. Nimmt man die Interessen der Individuen an Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit und das mentale und emotio­nale Innenleben des Menschen zusammen, erscheint es sinnvoll, als symbolische Prima-facie-Grenze, welche die Inter­essen der

7. Die Belange der Individualzone

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Individu­alzone von den Interes­sen der Relativ­zone trennt, die Grenze des Kör­pers jedes einzelnen Menschen anzusehen. Was innerhalb der symbolischen Prima-facie-Körpergrenze besteht oder geschieht, muss das Individuum deshalb nur sehr eingeschränkt der Relativierung durch die Belange Anderer unterwerfen. Erst wenn der einzelne Mensch seine Gedanken und Pläne gegenüber anderen Menschen ausspricht oder in die Tat umsetzt, also mit ihnen und durch sie die symbolische Grenze des je eigenen Körpers überschreitet, gewinnen die Interessen an der Meinungsäußerung und der aktiven Realisierung der Handlung eine andere, stärker gemeinschaftsabhängige und damit der Relativierung unterworfene Qualität. Man mag als Einwand gegen die Auszeichnung der Körpergrenze als symbolische Prima-facie-Grenze zwischen den Interessen der Individual- und den Interessen der Relativzone auf die Problema­tik der moralischen und rechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs verweisen. Aber die Körpergrenze ist wie gesagt nur als Prima-facieRegel zu ver­stehen. Der Konflikt um die moralische und rechtliche Normierung des Schwangerschaftsabbruchs ist soweit ersichtlich die zentrale Ausnahme und gewinnt seine Härte und Tragik gerade aus der Tatsache, dass in diesem speziellen Fall die Primafacie-Regel der Körpergrenze nicht gilt, weil Mutter und ungeborenes Kind zwar körperlich vereint, nicht aber nur ein einziger Körper sind. Andere problematische Fälle lassen sich konstruieren: Welcher Zone sind etwa die Belange eines Schmugglers zuzurechnen, der mit Rausch­gift gefüllte Kondome schluckt? Welcher Zone sind die Belange eines Selbstmordattentäters zuzuordnen, der sich eine Bombe in die Bauchhöhle transplantieren lässt? Welcher Zone gehören die Belange eines Menschen an, der sich eine Beleidigung in die Haut tätowiert? In all diesen Fällen werden andere Menschen erst durch die Überschreitung der Körpergrenze konkret gefährdet bzw. verletzt. Das Rauschgift wird für andere Bürger erst gefährlich, wenn es den Magen wieder verlässt, die Bombe erst tödlich, wenn sie explodiert, die Beleidigung erst ehrverletzend, wenn sie anderen Menschen sichtbar gemacht wird. Auch in diesen Fällen ist die Prima-facie-Grenze des Körpers also nicht aufgehoben. Es besteht lediglich ein pragmatisches Problem, weil die fragliche Person ihren Körper für die Schädigung Anderer jenseits ihrer Körpergrenze nutzt und diese Schädigungen scheinbar kaum anders als durch einen Eingriff in den Körper des Angreifers abgewehrt werden können. Aber eine Abwehr ist möglich. Man kann den Schmuggler, sofern man seiner habhaft geworden ist, so lange inhaftieren, bis das mit Rauschgift gefüllte Kondom den Körper auf natürlichem Wege verlassen hat. Man kann den Selbstmordattentäter so lange isolieren, bis die Bombe ohne Schädigung Anderer explodiert ist (wenn er denn diesen Weg bevorzugt). Man kann schließlich den Beleidiger verpflichten, seine beleidigende Tätowierung zu verhüllen, wenn er sich in die Öffentlichkeit begibt. Welchen Rang nimmt das Interesse an unserer Menschenwürde im Gefüge unserer Belange ein? Dies hängt vom Verständnis der Menschenwürde ab. Externe bzw. intersubjektive Deutungen der Menschenwürde verringern, wie sich in Kapitel III, 7 ergab, deren Wertigkeit im Vergleich zu unseren höchstrangigen Belangen wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Gesundheit und Psyche. Sie machen unser Interesse an der Menschenwürde damit zu einem Belang der Relativzone. Dies gilt etwa für die Auffas-

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

sung, die Menschenwürde werde durch die Anerkennung von Seiten Anderer konstituiert101 oder sie bestehe in der Forderung nach nichtdemütigender, respektvoller Behandlung durch Andere.102 Niemand wird bestreiten, dass wir ein berechtigtes Interesse haben, von anderen anerkannt und nichtdemütigend, das heißt respektvoll behandelt zu werden. Dieses berechtigte Interesse mit der Menschenwürde zu identifizieren, ist aber aus den in Kapitel III, 7 genannten Gründen zweifelhaft. Die notwendige (inhärente) Menschenwürde ist vielmehr nicht extern bzw. intersubjektiv, sondern intern und individuell zu verstehen. Diese inhärente Menschenwürde besteht, wie sich ergab, im Verhältnis zwischen den sekundären Zielen oder Wünschen geistiger Lebewesen bezüglich primärer Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen. Wie bei primären Zielen und Wünschen handelt es sich auch bei diesen sekundären Zielen und Wünschen um geistige Akte, die wie alle geistigen Akte in die Individualzone fallen. Das Interesse an der inhärenten Menschenwürde ist also wie der gesamte Bereich unserer Psyche der Individualzone zuzuordnen. Anderes gilt dagegen für das Interesse an der zufälligen (kontingenten) Menschenwürde des äußeren, würdevollen Verhaltens und der würdevollen Behandlung durch andere: Sie ist ein Belang unter anderen Belangen der Relativzone, allerdings ein sehr wichtiger. Die erwähnten Belange der Individualzone sind nur Typisierungen. Das bedeutet: Diese Belange können als notwendige Folge der individuellen Autonomie vom jeweils betroffenen Einzelnen selbst im konkreten Fall, sofern dies bewusst und freiwillig geschieht, relativiert und sogar negiert werden, weil sich Pflichten gegen sich selbst auf säkularer Grundlage nicht begründen lassen (vgl. Kapitel VIII). Das Indivi­duum darf also zum Beispiel auch Respek­t für die eigene Le­bensverneinung verlan­gen. Es ist Anderen deshalb ver­wehrt, den einzelnen mit Zwang oder Ge­walt am Suizid zu hindern, wenn dieser nicht im Affekt, sondern überlegt, also als sog. „Bi­lanz­­selbst­mord“ erfolgt. Der bewusst und gewollt handelnde, erwachsene Sui­zident darf deshalb nicht über län­ gere Zeit zur Sui­zi­d­­verhinde­rung inhaftiert wer­den, wie dies ver­schie­dentlich ge­sche­hen ist,103 es sei denn, er ist psychisch krank, steht unter Schock oder Drogen usw. Allerdings hat das Individuum keinen grundsätzlichen Anspruch auf die Unterstützung seiner Selbstverletzung oder Selbsttötung durch Andere, denn das Interesse an der Hilfe durch Andere liegt als Interesse an einer äußeren Handlung wie das Interesse an der Hilfe zur Lebenserhaltung jenseits der Prima-facie-Körpergrenze. Das Interesse an derartiger Hilfe durch Andere geht deshalb über den Schutz­bereich der Individualzone hinaus. Fraglich ist des Weiteren, ob der Einzelne auf die Beachtung der Interessen seiner eigenen Individu­alzo­ne ver­zichten darf, ob er also der Tötung oder Verletzung durch Andere oder staatliche Organe wirksam zu­stimmen kann. Dies ist prinzipiell zu bejahen, da die Selbst­be­stim­mung des Menschen ge­rade den Kern des normativen Individualismus und des Interessenbegriffs bildet. Zu be­den­ken ist aber, dass dieser Verzicht auf die 101 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde; Peter Baumann, Menschenwürde und das Bedürfnis nach Respekt, S. 26–29. 102 Vgl. Avishai Margalit, The Decent Society. 103 Vgl. das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, Bayerische Ver­waltungs­blätter 1989, S. 205, 219.

7. Die Belange der Individualzone

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Beachtung der Interessen seiner eigenen Individualzone nur von Seiten des Individuums die Limitation durch die sym­bolische Körper­gren­ze beseitigt, also ein Außerachtlassen dieser symbolischen Körpergrenze durch Andere er­laubt. Für die andere Person oder die staatliche Institution, welche die symbolische Körpergrenze überschreitet, ist diese Überschreitung dagegen nicht Teil des Innenbereichs ihrer symbolischen Körpergrenze, sondern eine äußere Hand­lung. Die Interessen an dieser Handlung fallen nicht in die Indivi­d­ual-, sondern in die Relativ- bzw. gelegentlich sogar in die Sozialzone. Das be­deutet: Der Andere und die Gemeinschaft müssen zum einen entscheiden, ob sie das Angebot des Individuums annehmen wollen, die starke Beschränkung durch die Zuordnung der Interessen zur Individualzone und damit die symbolische Körper­grenze zu überschreiten. Die Überschreitung kann dann zum anderen – wie bei der noch zu erörternden aktiven Euthanasie – als Interessenaktualisierung der Relativzone weiteren Beschränkungen durch Belange der Relativ- oder Sozialzone Anderer unterliegen. Das Interesse des Verzichtenden vermag also nicht allein den Ausschlag zu geben. Der Verzicht beseitigt nur die Beschränkung in der Sphäre des Verzichtenden, nicht aber weitere Beschränkungen des Handelns aufgrund der Interessen der Rela­tiv- und Sozialzone Anderer. Die Anerkennung einer derartigen Individualzone wenig gemeinschaftsabhängiger Belange enthält eine implizite Kritik an allen relativ kollektivistischeren Theorien des wesentlich vergesellschafteten Individuums, also zum Beispiel den Positionen von Habermas, aber auch Rawls und Scanlon, nach denen die Mitglieder einer Gesellschaft bzw. sonstigen Gemeinschaft über alle Belange oder zumindest über alle Güter der Gemeinschaft unterschiedslos entscheiden dürfen.104 Warum ist die Anerkennung einer derartigen Individualzone wenig gemeinschaftsrelativer Interessen berechtigt? Geht man vom Prinzip des normativen Individualismus aus, wonach ausschließlich die Individuen letzter Fluchtpunkt der ethischen Rechtfertigung sein können, und nimmt man an, dass die Individuen zur Realisation ihrer Belange eine bestmögliche Gestaltung der fraglichen Gemeinschaft wählen werden, so ist nicht einsehbar, warum sie sich einer starken Relativierung ihrer wenig gemeinschaftsabhängigen Belange unterwerfen sollten, warum sie also etwa ihr Interesse an ihrem biologischen Leben einfachen Handlungsfreiheiten Anderer oder gar der allgemeinen Wohlstandsmehrung unterordnen sollten. Theoretiker der Vergesellschaftung schließen fälschlicherweise vom unleugbaren Faktum eines gemeinschaftlichen Lebens der Menschen auf eine Berechtigung der Gesellschaft zur Verteilung aller Güter, ohne die Individuen als einzige Quelle normativer Verpflichtungen wirklich ernst zu nehmen. 104 Im Diskursprinzip: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S.  138; ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Moral, Frankfurt a. M. 1996, S. 59; vgl. zu einer Kritik: Verf., Rechtsethische Rechtfertigung – material oder prozedural? in: Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, hg. von Lorenz Schulz, Stuttgart 2000, S. 17–44.; John Rawls, A Theory of Justice, S. 17 ff. Ausdruck findet diese Annahme bei Rawls vor allem in der These, dass die politische Gemeinschaft über alle sozialen Güter entscheiden darf; Thomas M. Scanlon, Contractualism and Utilitarianism, S. 110; vgl. zu Theorien der Vergesellschaftung: Dieter Geulen, Das vergesellschaftete Subjekt. Zur Grundlegung der Sozialisationstheorie, Frankfurt a. M. 1977.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Dem libertären Theoretiker mag dagegen die Ausdehnung der Individualzone nicht weit genug gehen. Er mag fragen: Warum ist nicht auch das Interesse des Einzelnen an äußeren Gütern und insbesondere am Eigentum Teil der Belange der Individualzone? Die Antwort lautet: Versteht man unter Eigentum nicht die Beziehung eines Eigentümers zu seinen eigenen Gütern innerhalb der symbolischen Grenze des Körpers, wie etwa teilweise John Locke,105 sondern nur zu körperexternen Gegenständen, also als Sacheigentum, dann ist für jede Aneignung und jeden Transfer des Eigentums eine Handlung nötig, welche die symbolische Körpergrenze überschreitet. Das Interesse an einer solchen Handlung ist aber regelmäßig relativ gemeinschaftsabhängig, denn es richtet sich auf äußere, normalerweise stärker durch Andere und Gemeinschaften beeinflusste Güter. Da die Menschen regelmäßig in Gemeinschaften leben, ist auch ihre Güterproduktion in vielfältiger Weise gemeinschaftsabhängig. Die nicht nur im deutschen Grundgesetz, sondern auch in vielen anderen Verfassungen und Gesellschaftsordnungen statuierte Sozialpflichtigkeit des Eigentums legt davon beredtes Zeugnis ab.

8. Die Belange der Relativzone Die Relativzone umfasst Belange der Individuen, die partiell individual- und partiell gemeinschaftsabhängig sind. Anders als bei den noch zu erörternden Belangen der Sozialzone ist bei denjenigen der Relativzone eine spezifische Zuord­nung zu einem konkreten Individuum aber noch ohne Weiteres mög­lich und auch signifikant. Zur Relativzone gehören alle In­teressen, die sich auf Lebensumstände des Einzelnen beziehen und die sym­bo­li­sche Prima-facie-Körpergrenze überschrei­ten, das heißt alle Interessen an individuellen Hand­lungen bzw. individuellen Freiheiten zu solchen Handlungen, zum Beispiel das Interesse am Austausch mit Anderen, an der Einhaltung von Versprechen durch Andere, an der Wahrhaftigkeit Anderer, an der Achtung seitens Anderer, an der Wahl eines Partners, an der Freundschaft, an der Freiheit der Reli­gi­onsausübung, an der Freiheit des Berufs, an der körperli­chen Be­we­gung, an der freien Wahl des Aufent­halts­ orts, an der freien Äußerung der eigenen Meinung, an der Bil­dung von Verei­ni­gungen und dem Abhalten von Ver­sammlungen, an der Kunst, an der Wis­sen­schaft, an der Selbst­bestimmung über die eigenen Daten, am Indi­vi­dual­ein­kom­­men und am Privat­ eigentum (mit Ein­­­schränkungen). Die Reichweite der Belange der Relativzone und damit ihre relative Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit kann stark divergieren, ist also relativ inhomogen. Man kann sich dies am Beispiel der Freiheit der Religionsausübung verdeutlichen. Bereits ganz persönliche Formen der Religionsausübung im privaten oder häuslichen Bereich überschreiten die symbolische Körpergrenze, also etwa das Sprechen eines Gebets, das Lesen in einer religiösen Schrift oder das Tragen religiöser Kleidung. Schon etwas weniger individualgeprägt sind gemeinsame religiöse Andachten. Noch stärker gemeinschaftsabhängig ist die Religionsausübung im halböffentlichen Raum, also in 105 Vgl. John Locke, Two Treatises of Government, The Second Treatise, § 123.

9. Die Belange der Sozialzone

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Kirchen, Moscheen, Synagogen oder Tempeln. Schließlich wird die Gemeinschaftsabhängigkeit der Interessen relativ stark, wenn sie sich auf Verlautbarungen in der Öffentlichkeit richten, denen regelmäßig niemand ausweichen kann, also etwa das Kirchengeläut, der Ruf des Muezzins usw. Hier erreicht man schon die Grenze zu Interessen der Sozialzone, welche sich etwa auf die Etablierung oder Vermeidung einer Staatskirche oder Staatsreligion richten.

9. Die Belange der Sozialzone Die Sozialzone umfasst Belange der Individuen, die stark oder fast ausschließlich von Anderen bzw. einer Gemeinschaft abhängen oder bei denen dies anders als bei den Belangen der Relativzone zumindest anzunehmen ist, weil die eindeutige, spezifische Zuordnung des Interesses zu einem konkreten Individuum praktisch nicht möglich oder wenig signifikant ist. Drei Typen von Belangen der Sozialzone sind denkbar: a) Das Interesse an der Verwirklichung gemeinsamer Handlungen, Ziele und Projekte, wenn deren Realisierung nicht ohne weiteres ausschließ­lich einem oder mehreren einzelnen Individuen zuzuordnen ist. Hierzu gehören etwa ein allgemeines Einverständnis des Vertrauens in Versprechen, Ordnungen der wechselseitigen Anerkennung, das Bil­ dungs­­system, die gemeinsame Kultur, gemeinsame Riten und Gebräuche sowie eine gemeinsame Religion, in modernen Industriegesellschaften die hoch­ar­beits­teilige Volkswirtschaft, die Sozialversicherungen und das Verkehrssystem, in tradi­tionellen Stammesgesellschaften gemeinsame Kulte, Tradi­tionen und Religionen, in Familien die Solidarität der Familienmitglieder, Familienfeiern, Familienregeln usw. Nicht not­ wendig für die Qualifikation als gemeinsames Projekt ist eine zen­trale Planung. Nicht notwendig ist auch, dass die Indivi­duen die Verwirklichung des ge­meinsamen Projekts jeweils einzeln erstreben. Die Etablierung eines institutionellen Rahmens, in dem sich der Mechanismus der „unsichtbaren Hand“ oder an­de­re Me­­­cha­­nismen der Koordination entfalten können, genügt. Von der Tatsache, dass diese Projekte mittlerweile häufig nicht mehr nur einer einzelnen Gemeinschaft oder Gesellschaft zuzurechnen sind, sondern im Rahmen einer weltweiten oder wenigstens kontinentalen Arbeits­tei­lung entstehen, muss hier aus Gründen der Vereinfachung abgesehen werden. Auf die abstrakte Konstruktion der einfachen Grundrelation Individual­interes­se-Gemein­schafts­entscheidung hat diese Globalisierung keinen Einfluss. Sie führt lediglich im Rah­men der praktischen Anwendung dieser Konstruktion zu einer Pluralisierung der Gemeinschaften und damit der rechtfertigungsbedürftigen Entscheidungen. b) Das Interesse an der allgemeinen Erhaltung und Nutzung natürlicher, kultureller und sonstiger gemeinschaftlicher Güter, die keinem bestimmten Individuum bzw. kei­ner Gruppe von Individuen zuzuordnen sind, also die Erhaltung und Nutzung der ge­ samten nichtindividuellen Natur, des Wassers, der Luft, des Bo­dens, des Lichts, der

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Vielfalt der Ar­ten, aber auch der Kulturgüter, wie Kunstwerke und Erfindungen, sowie der gemeinschaftlich geschaffenen Güter, wie öffentliche Gebäude, Straßen und sonstige Verkehrswege. Es dürfte klar sein, dass hier mit der Kennzeichnung als natürliche Güter von einem Idealbild aus­gegangen wird. Die Na­tur ist heute in vielfältiger Weise durch menschli­che Eingriffe ge­stal­tet. Auf diese Weise sind Mischformen von natürlichen und kulturellen Gütern entstanden. Ein Beispiel sind Agrarflächen. Sind die Eingriffe in die Natur individuell zure­chen­bar – zum Beispiel im Falle der Melioration ei­nes Feldes durch einen Landwirt – entsteht ein Zwi­schen­zu­stand zwi­schen Belangen der Rela­tivzone und der Sozialzone, der eine differenzierte Bewertung erfor­dert. Das individuelle Interesse des Bauern an der Me­lioration fällt in die Relativzone, das allgemeine Interesse an der Erhaltung des Bodens in die Sozialzone. Das Interesse an der konkret-individuellen Nutzung von Naturgütern, wie der Atemluft, der Beleuchtung, des Trinkwassers sowie der Aneignung wildwachsender Früchte zur Sicherung des bloßen Lebens wird man dagegen nicht den Interessen der Sozialzone, sondern denen der Relativzone zuordnen müssen, weil die Nutzung und Aneignung auch ohne eine entscheidende Mitwirkung einer bestimmten Gemeinschaft erfolgen kann und der Belang regelmäßig relativ unabhängig von bestimmten Gemeinschaften entwickelt wird. c) Situationen mit Gefangenendilemmastruktur, sofern nicht schon von a) oder b) erfasst106 Manche Verhaltensweisen sind eindeutig ei­nem konkreten Menschen zuzuordnen, so dass die Indivi­du ­ al­­inter­essen an ihnen entweder kaum (Individualzone) oder wenig bis mittel (Re­la­tiv­zo­ne) gemeinschaftsabhängig sind. In einigen Fällen würde die ausschließliche tatsächliche Verwirklichung des Verhaltens durch den einzelnen Menschen aber wegen bestimmter struktureller Be­dingungen unwei­gerlich für ihn selbst und alle Betroffenen zu einem schlechteren Ergebnis führen, als wenn von vornherein eine gemeinsame Strategie verfolgt würde (sog. Gefangenendilemma). Fahren zum Beispiel in einer Großstadt alle mit dem Kraft­fahrzeug zur Arbeit, so führt das zu einer derart hohen Stau- und Luftbe­la­stung, dass die Interessen jedes Einzelnen an guter Luft und flüssigem Verkehr vereitelt werden. Trotzdem wäre es für jeden Ein­zelnen nicht rational, zur Verbesserung der Situation mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, weil sich die Stau- und Luft­be­la­stung durch den Verzicht einer einzigen Person auf ihr Auto nur margi­nal verrin­gern würde, die Komfortein­bußen für den Ein­zel­nen  – so kann man annehmen – diese marginalen Vorteile aber weit überwiegen würden. Derartige Einzelverzichte werden also typischerweise selten sein und an der misslichen Gesamtsituation nichts Wesentliches ändern. Sie können deshalb nicht vorausgesetzt werden.107 Regelmäßig vermag hier nur eine gemeinschaftliche Lösung Abhilfe zu schaffen. Die 106 Vgl. dazu: Lucian Kern / Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S. 201 ff. 107 Die Wirkung des „Vorangehens mit gutem Beispiel“ wird hier vernachlässigt. Sie wird in ano­nymen Massengesellschaften oft marginal sein, nicht aber in kleinen, transparenten und re­lativ homogenen Gemeinschaften.

9. Die Belange der Sozialzone

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Suche nach einer möglichst voll­kommenen Befriedigung der Individualinteressen erfordert dabei den vorausschauenden Ver­zicht auf die unmittel­bare Realisierung dieser Interessen. Die Interessen an der besseren Bewältigung solcher Situationen mit Gefangenendilemmastruktur durch Kooperation fallen in die Sozialzone. Situationen mit Gefangenendilemmastruktur können mit kollektiven Projekten oder natürlichen, kulturellen oder gemeinschaftlichen Gütern verbunden sein, also mit den Situationstypen a) und b). In unse­rem Beis­pielfall ist der Stadtverkehr an sich ein kollektives Projekt und die Luft, die un­er­träglich belastet wird, ein natürliches Gut. Die Interessen an der Bewahrung der Groß­stadt vor dem Verkehrs­kollaps werden also durch alle drei Si­tua­ti­ons­ty­pen der So­zialzone zugeordnet. Es gibt aber auch Situationen mit der Struktur des Gefangenendi­lemmas, die weder kollek­tive Projekte noch natürliche oder kulturelle Güter einschließen, sondern in denen nur die bloße Sicherung eines individuell und kollektiv nützlichen Verhaltens der In­dividuen in Frage steht.108 Ein Beispiel wäre die Situa­tion, die dem Gefangenendi­ lemma seinen Namen gab: Zwei voneinander isolierte Gefangene kön­nen gestehen oder nicht gestehen. Sie würden jeweils die geringste Strafe erhal­­ten, falls nur sie selbst gestehen und der Andere nicht (ein Jahr) und eine noch relativ geringe Strafe, falls beide nicht geste­hen (zwei Jahre). Mangels Kooperationsmöglichkeit werden sie aber je­­weils ge­stehen und müssen eine höhere Strafe in Kauf nehmen (vier Jahre), weil es für jeden Ein­zelnen besser ist, wenn er gesteht, gleichgültig, ob der Andere gesteht oder nicht gesteht, denn am schlech­testen wäre es, wenn nur der An­dere gesteht und dann als Kronzeuge gegen einen selbst auftreten kann (sechs Jahre).109 Ein anderes klassi­sches Beispiel ist der Hobbessche Natur­zustand, in dem jeder jeden töten kann. Für alle wäre es besser, wenn sie wechselseitig auf die Möglichkeit, den Anderen zu töten, verzichten würden. Nie­mand kann aber aus seinem Tö­tungsverzicht den Vorteil der Sicherung vor den Tötungsversuchen Anderer gewinnen, solange er nicht der Tatsache gewiss sein kann, dass auch die Anderen auf Tötungen verzichten. Also müssen gemeinsame Institutionen dies soweit als möglich sicherstellen. In allen drei Situationstypen – bei gemeinsamen Projekten, natürlichen und kulturellen Gütern und Situationen mit Gefangenendilemmastruktur – ist eine Zuordnung der Interessen zu einem bestimmten Individuum praktisch nicht möglich und nicht signifikant, weil die Interessen stark gemeinschaftsgeprägt sind. Das hat nicht zur Folge, dass die Individualinteressen bei der Abwägung keine Rolle spielen. Es führt nur dazu, dass kein Interesse eines Indivi­du­ums im Rahmen der Abwägung direkt mit einem bestimmten Individuum verknüpft wird. 108 Für Julian Nida-Rümelin, Der zivile Staat, in: Dissens und Freiheit. Kolloquium Politische Philosophie, hg. von Andreas Luckner, Leipzig 1995, S. 21–32, S. 26, ist sogar jede Kooperation begrifflich mit einer Gefangenendi­lemmastruktur verbunden. Nach Peter Koller hat das menschliche Leben zumindest „in wesentlichen Stücken“ die strukturelle Beschaffenheit des Gefangenendilemmas: Peter Koller, Grundlagen der Legitimität und Kritik menschlicher Herrschaft, in: Dieter Grimm (Hg.), Staatsaufgaben, Baden-Baden 1994, S. 739–769, S. 744. 109 Zur entsprechenden Matrix s. Lucian Kern / Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, S. 201.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Nachdem einzelne typisierte Belange typisierten Zonen der relativen Gemeinschaftsabhängigkeit zugeordnet wurden, stellt sich die Frage, wie nun die Abwägung erfolgen soll. Dabei ist grundsätzlich zwischen einem Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone, also zwischen Belangen grundsätzlich vergleichbarer Gemeinschaftsabhängigkeit, und einem Widerstreit zwischen Belangen unterschiedlicher Zonen, also zwischen Belangen grundsätzlich verschiedener Gemeinschaftsabhängigkeit, zu unterscheiden.

10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone Im Fall eines Konflikts zwischen Belangen der gleichen Zone gibt es entsprechend den drei Zonen drei Möglichkeiten: einen Konflikt zwischen Belangen der Individualzone, der Relativzone oder der Sozialzone.

a) Konflikte zwischen Belangen der Individualzone Stehen sich Belange der Individualzone gegenüber, also etwa Leben gegen Leben oder körperliche Unversehrtheit gegen körperliche Unversehrtheit, so sind die Belange aller Betroffenen grundsätzlich gleich zu bewerten, zumindest sofern man davon ausgeht, dass die Gemeinschaftsabhängigkeit des jeweiligen Lebensinteresses typischerweise nicht divergiert. Es gilt also prinzi­piell das Gebot der Gleichbehandlung, das heißt eine nicht auf die Konsequenzen reduzierte Variante des Gleichheitsprinzips. Allerdings sind die Fälle eines Konflikts Leben gegen Leben selten. Im Falle eines Mordes steht etwa das Interesse des Täters an anderen Zielen, wie Raub, Verdeckung, Beutesicherung oder Beseitigung des Opfers, gegen das Interesse des Opfers an seinem Leben. Es liegt also gar kein Konflikt Leben gegen Leben vor, so dass die Abwägung zu Gunsten des Lebensinteresses des Opfers und das Verbot des Mordes nicht fraglich sein können. Selbst wenn der Täter, was selten vorkommt, ein direktes Interesse an der Auslöschung des biologischen Lebens des Opfers hat, handelt es sich nicht um ein Interesse am eigenen Leben seitens des Täters, also ein Interesse der Individualzone, sondern um ein Interesse an der eigenen Handlung der Tötung des Anderen, dessen zentraler Inhalt jenseits der symbolischen Grenze des Körpers des Täters liegt, so dass sein Interesse in die Relativzone fällt und das Verbot des Mordes nicht bezweifelbar ist. Ein genuiner Konflikt Lebensinteresse gegen Lebensinteresse ergibt sich in Notwehrsituationen, wenn also A sein eigenes Lebensinteresse durch Notwehr gegenüber dem B mittels dessen Tötung verteidigen will, was naturgemäß das Interesse des B an seinem eigenen Leben beein­trächtigt. Fraglich ist dann, ob die Notwehrhandlung des A zulässig ist, ob also A sein Leben über das des B stellen darf. Das grundsätzliche Gebot der Gleichbehandlung der Lebensinteressen führt zunächst dazu, dass A im Rahmen seiner Verteidigung das Leben des B möglichst zu schonen hat, sofern er sich auf andere, vergleichbar wirksame Weise zur Wehr setzen kann. Dies gilt umso mehr, je geringer die Schuld des B ist, etwa weil er betrunken oder minderjährig ist. Aber gesetzt den Fall, A

10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone

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kann sich nur noch durch Tötung des B retten. Dann stellt sich die Frage der Abwägung Lebensinteresse gegen Lebensinteresse in reiner Form. Die Lösung des Konflikts kann wiederum nicht zweifelhaft sein. B muss in einem solchen Fall ein Zurückstehen seines Lebensinteresses als ultima ratio hinnehmen, weil er den Konflikt als Angreifer herbeigeführt hat und den A töten wollte, ohne dass dies gerechtfertigt war. Das Maximierungsprinzip kann dagegen in Fällen des Konflikts Leben gegen Leben nicht zur Anwendung kommen, weil es das Lebensinteresse des Einzelnen als kaum gemeinschaftsabhängiges Interesse in erheblichem Maße zu Gunsten kollektiver Ziele bzw. Güter der Gemeinschaft relativieren würde. Es ist also grundsätzlich nicht erlaubt, einen Menschen zu töten, um mehrere andere zu retten. Nur in ganz speziellen, meist theoretischen Fällen kann – wie sich in Kapitel III, 10 ergab – das Maximierungsprinzip zur Lebensrettung sekundär eine Rolle spielen, nämlich dann, wenn dem Gebot der Gleichbehandlung Genüge getan ist, weil man zu entscheiden hat, wie viele anonymisierte und damit grundsätzlich gleich behandelte Individuen in einer konkreten Unglückssituation aus einer Schicksalsgemeinschaft von Todgeweihten gerettet werden sollen. Hier führt das Maximierungsprinzip auf einer sekundä­ren Ebene zum Gebot, besser mehr als weniger der gemeinsam Todgeweihten zu retten. Allerdings handelt es sich in solchen Fällen eigentlich nicht um reine Konflikte Leben gegen Leben der Individualzone, da die Interessen des Retters an der Rettungshandlung ja solche der Relativzone sind. Aber die Lebensinteressen der jeweils Todgeweihten, die in ihrem Begehr nach Rettung miteinander konkurrieren, sind natürlich Interessen der Individualzone. Es liegt also genau genommen ein Konflikt zwischen verschiedenen Belangen vor: zwischen mehreren Belangen der Individualzone der Todgeweihten an ihrem jeweiligen Leben und einem Belang der Relativzone des Retters an seiner Handlung. Zwischen den einzelnen Belangen der Individualzone gibt es durchaus Unterschiede in der subjektiven Bewertung. So wird der Einzelne sein Leben im Regelfall höher bewerten als seine Gesundheit und seine körperliche Unversehrtheit, weil das Leben die notwendige Bedingung beider ist. Um sein Leben zu retten, wird man im Regelfall auch Be­einträchtigungen seiner Gesundheit und seiner körperlichen Unversehrtheit in Kauf nehmen. So erlauben wir es Ärzten, als ultima ratio ein Glied unseres Körpers zu amputieren, um überleben zu können. Aber diese Unterschiede in der subjektiven Bewertung einzelner Belange der Individualzone schlagen in der für kategorische Normordnungen wie Moral und Recht entscheidenden intersubjektiven Perspektive der Abwägung nicht durch. Niemand muss etwa eine gravierende Schädigung seiner Gesundheit oder seiner körperlichen Unversehrtheit hinnehmen, um das Leben eines Fremden zu retten. Allenfalls marginale, nicht wesentlich ins Gewicht fallende Schädigungen, etwa eine Hautabschürfung oder eine Erkältung, können  – sofern keine andere Rettung möglich ist – in sekundärer Anwendung des Pareto- oder Aufopferungsprinzips nicht gegen eine solche Hilfspflicht stehen. Das Strafrecht verlangt in Unglücksfällen entsprechend nur „zumutbare“ Rettungshandlungen (§ 323c StGB). Dies gilt zumindest dann, wenn nicht zusätzliche Faktoren eine besondere Einstandsobliegenheit begründen, etwa eine besondere Nähebeziehung, eine schuldhafte Verursachung des Unglücksfalls durch den

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

möglichen Retter oder eine freiwillige Übernahme von Rettungsaufgaben durch Polizei, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk oder Notfallambulanz. Die Menschenwürde soll nach der Auffassung mancher als Belang der Individualzone jeder Relativierung entzogen sein. Das würde bedeuten, dass jegliche Verletzung der Menschenwürde ohne weitere Abwägung untersagt wäre.110 Man muss bei dieser Frage sorgsam zwischen der primären Ebene der Normierung durch Moral, Recht, Politik usw. und der sekundären Ebene der Begründung durch die Ethik unterscheiden (hier zeigt sich im Übrigen, wie wichtig diese, in der Einleitung entfaltete Differenzierung ist). Auf der sekundären Ebene der Ethik stellt sich die grundsätzliche Frage, ob jede Abwägung beim Belang der Menschenwürde entfallen kann und – falls dies bejaht wird – entfallen sollte. Auf der primären Ebene der Moral, des Rechts usw. stellt sich die Frage, ob man primäre, einstellungs- und handlungsleitende Normen, Regeln und Bewertungen verwirklichen oder mit Geltungskraft versehen sollte, die eine derartige Abwägung der Menschenwürde ausschließen. Die Ergebnisse können für jede der beiden Ebenen und auf der primären Normierungsebene für jede der einzelnen Normordnungen unterschiedlich ausfallen, ohne dass eine Inkonsistenz eintritt, denn es kann trotz der prinzipiellen Bejahung der ethischen Abwägbarkeit weitere gewichtige, in der Sphäre der spezifischen Normierung und Normverwirklichung liegende Gründe geben, auf moralischer, juridischer, religiöser, erzieherischer oder politischer Ebene die Relativierung der Menschenwürde auszuschließen.111 Hier soll es zunächst nur um die ethische Frage der prinzipiellen Abwägbarkeit gehen. Zu untersuchen ist also, ob es prinzipiell möglich ist, die Menschenwürde der Abwägung bzw. Zusammenfassung der Belange zu entziehen. Dies wäre sicher dann unmöglich, wenn die Interessen zweier unabhängiger Individuen an der Menschenwürde kollidieren könnten. Fraglich ist also, ob derartige Kollisionen denkbar sind, wenn man die Menschenwürde wie in Kapitel II, 7 als sekundäre Selbstbestimmung über die eigenen primären Belange versteht. Ein denkbares Beispiel wäre der Fall der sog. „Rettungsfolter“: Ein Geiselnehmer hält sein Opfer unter menschenunwürdigen Umständen gefangen, negiert also dessen Selbstbestimmung über die eigenen Belange. Nach Festnahme des Geiselnehmers erweist sich als einziges Mittel zur Befreiung des Opfers die Androhung und dann – falls diese wirkungslos bleibt – auch Verwirklichung einer Form von Folter, die Schmerzen hervorruft.112 Überzeugende Gründe sprechen dafür, die staatliche bzw. rechtlich sanktionierte Folter generell zu verbieten

110 So auch zumindest für das Verfassungsrecht die bisher einhellige Meinung zur Interpretation von Art. 1 I des Deutschen Grundgesetzes. Abweichend in jüngerer Zeit: Winfried Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern? in: Der Staat 35 (1996), S. 67–97; Matthias Herdegen, in: Theodor Maunz / Günter Dürig (Hg.), Grundgesetz. Kommentar. Ergänzungslieferung, München 2003, Rdnr. 45. 111 Der umgekehrte Fall der Unabwägbarkeit auf ethischer Ebene und der Abwägbarkeit auf der Ebene der primär verpflichtenden Normen ist dagegen zwar begrifflich, logisch und faktisch ebenfalls möglich, normativ aber nicht zu rechtfertigen, denn die Unabwägbarkeit auf der Begründungsebene fordert auch diejenige auf der Ebene primärer Verpflichtungen. 112 Vgl. zu einem solchen Fall: Winfried Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?

10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone

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und die Abwägung der Menschenwürde verfassungsrechtlich auszuschließen.113 Aber auf der ethischen Ebene ist ein Konflikt zwischen der Menschenwürde des Opfers und der Menschenwürde des Geiselnehmers – so sehr man das bedauern muss – nicht unmöglich. Derartige Fallkonstellationen sind zwar extrem selten, aber nicht begrifflich, logisch oder faktisch ausgeschlossen. Man wird deshalb auf der Ebene der Ethik – allerdings nur auf dieser, nicht auf der des Rechts, der Moral usw. – die Menschenwürde nicht von vornherein jeder Abwägung entziehen können. Für die Abwägung gilt dabei wie bei den anderen Belangen der Individualzone grundsätzlich das Gebot der Gleichbehandlung. Im Übrigen sind auf einer ethischen Ebene auch Konflikte zwischen der Menschenwürde und den anderen überragenden Belangen der Individualzone nicht unmöglich. Man nehme folgenden Fall: Ein Geiselnehmer hält zwei Geiseln unter lebensbedrohenden Umständen gefangen. Eine der Geiseln kann sich befreien. Den Schlüssel zur Befreiung der anderen Geisel kann sie aber nur durch körperverletzende Handlungen gegenüber dem Geiselnehmer erlangen, etwa indem sie ihm den Arm auf den Rücken dreht und so leichte Schmerzen verursacht. Wir würden dies in diesem Fall einer Nothilfe der einen Geisel gegenüber dem Geiselnehmer zu Gunsten von Leben und Freiheit der anderen Geisel kaum ablehnen. Die Rettung des Lebens der Geisel ist wichtiger als eine relativ marginale Einschränkung der Menschenwürde des Geiselnehmers, der seinerseits als Aggressor in die Lebenssphäre der Geisel eingedrungen ist und sich Notwehr- bzw. Nothilfehandlungen deshalb grundsätzlich gefallen lassen muss. Das bedeutet: Es ist nicht von vornherein auszuschließen, dass die Menschenwürde auf einer ethischen Ebene in sehr seltenen Einzelfällen auch gegenüber anderen Belangen der Individualzone wie Leib und Leben relativiert werden muss. Obwohl der Belang der Menschenwürde im Regelfall gewichtiger sein wird, können sich Belange, wie das Interesse an Leib und Leben, in Ausnahmesituationen ethisch auch gegenüber dem Belang der Menschenwürde durchsetzen. Allerdings gibt es, wie gesagt, viele überzeugende Gründe, auf der rechtlichen Ebene des Verfassungsrechts und einfachen Rechts ein absolutes Folterverbot für Angehörige des Staates aufrecht zu erhalten, weil die staatlichen Behörden grundsätzlich institutionell überlegen sowie zu Missbräuchen in der Lage sind und die Form des Rechts extrem hohe bewusstseins- und verhaltensprägende Wirkung für Menschen in Gemeinschaften hat.114 Aus vergleichbaren Gründen lässt sich auch ein absolutes moralisches Folterverbot rechtfertigen, so dass der faktische Gesichtspunkt der Notwendigkeit der Normierung und Normrealisierung in primären Normordnungen die zunächst davon absehende idealische, ethisch-inhaltliche Abwägung nicht praktisch werden lässt. Wie die Abwägung der Belange der Individualzone im Einzelfall weiter vonstattengehen kann, wird noch bei der Diskussion spezifischer moralischer Konflikttypen in Kapitel XII erörtert werden.

113 Vgl. Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt? 114 Vgl. Verf., Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

b) Konflikte zwischen Belangen der Relativzone Im Falle eines Konflikts zwischen Belangen der Relativzone gilt wegen deren vergleichbarer Gemeinschaftsabhängigkeit ebenfalls grundsätzlich das Gebot der Gleichbehandlung. Es ist etwa nicht ersichtlich, warum die Meinungsäußerung des A prinzipiell besser oder wichtiger als die Meinungsäußerung des B sein soll. Und es ist nicht ersichtlich, warum das Versprechen des A gegenüber B mehr wert sein soll als das Versprechen des A gegenüber C. Allerdings treten auch unterschiedliche Wertungen auf. So kommt etwa dem Belang eines Menschen A an der freien Äußerung seiner Meinung prima facie ein stärkeres Gewicht zu als jedem Einzelbelang seiner Mitbürger B, C, D und E, die Meinungsäußerung des A zu beschränken, denn für den A ist sein eigenes Interesse an der eigenen Meinungsfreiheit nur relativ schwach gemeinschaftsabhängig, weil gegenüber beliebigen Anderen bestehend, während umgekehrt das Interesse von B, C, D und E, die Äußerung gerade des A als Anderem zu beschränken, sehr viel stärker gemeinschafts­ abhängig ist, nämlich gerade aus der Gemeinschaft mit A erwachsend und notwendig auf dessen spezifische, vielleicht anstößige oder beleidigende Äußerung bezogen. Das bedeutet, dass das Interesse des A an seiner Meinungsfreiheit im Regelfall in der Abwägung höheres Gewicht haben wird, etwa im Falle einer nicht sehr gravierenden Anstößigkeit seiner Meinungsäußerung, es sei denn, sie verletzt andere zentrale Belange von B, C, D und E, etwa deren Anspruch, nicht durch Beleidigungen mehr als marginal in ihrer Ehre missachtet zu werden. Für die Bestimmung des Maßes des Ungleich­gewichts, mit dem die Interessen der Relativzone zu berücksichtigen sind, muss man sich vor Augen führen, dass die Relativzone – wie bereits erwähnt – an­ders als die Indivi­dual­zone und die Sozialzone als Formulierung der beiden extremen Alternativen der Unabhängigkeit und der Abhängigkeit der jeweiligen Interessen von den Anderen bzw. der Gemeinschaft weniger homogen ist. Sie reicht von Indi­vidual­interes­sen mit relativ schwacher Ge­mein­schafts­bedingtheit bis zu Interessen, die stark ge­mein­schaftsbedingt sind, bei denen also der Indivi­dualanteil geringer als der Gemeinschaftsanteil ist. Die Freiheit der Religionsausübung erstreckt sich etwa vom häuslichen Gebet über das Tragen religiöser Kleidung auf der Straße, den Bau von Kirchen, die Abhaltung öffentlicher Gottesdienste bis hin zum Läuten von Glocken oder dem Ruf des Muezzins. Es dürfte einleuch­tend sein, dass die Ge­mein­ schaftsabhängigkeit der Belange im ersten Fall des häuslichen Gebets er­heblich geringer ist als im letzten Fall des Glockengeläuts. Diese Inhomogenität der Individualbelange in der Relativzone muss bei der Abwägung berücksichtigt werden. Das bedeutet: Für die Abwägung der Belange ist die Aufstellung ordinaler Reihen der zunehmenden Gemeinschafts­abhängigkeit der typisierten Interessen ent­schei­dend. Dann wird jeweils derjenige Belang den Vorzug oder zumindest eine stärkere Berücksichtigung verdienen, der weniger gemeinschaftsabhängig ist. Das individuelle Gebet Andersgläubiger darf etwa durch den Ruf des Muezzins nicht unmöglich gemacht werden. Im Konflikt von Interessen der Relativzone sind anders als bei Interessen der Individualzone viele weitere Gesichtspunkte der Gewichtung zu beachten. So findet etwa das Genügensprinzip Anwendung, wonach jedenfalls eine genügende Befriedigung der

10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone

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Belange für jeden Betroffenen erreicht werden muss. Für den Bereich des privaten Austauschs von Gütern gilt etwa das Paretoprinzip. Niemand darf ohne sein Einverständnis schlechter gestellt werden, aber andere dürfen sich verbessern. Für den Bereich des Interesses an ökonomischen Gütern wird man in modernen Industriegesellschaften bereits eine stärkere Gemeinschaftsprägung annehmen müssen, da die Güter im Rahmen eines stark gemeinschaftsabhängigen Wirtschaftssystems erzeugt wurden. Das führt nicht zu einer vollständigen oder sehr starken Abhängigkeit der Interessen der Individuen an den erwirtschafteten Gütern, aber zu einer signifikanten. Diese rechtfertigt, dass bei derartigen gemeinschaftlich erzeugten ökonomischen Gütern unter bestimmten Voraussetzungen von dem Prinzip einer gleichen Freiheit des individuellen Erwerbs zu effizienteren sowie sozialeren und damit stärker umverteilenden Prinzipien übergegangen werden muss, etwa dem Genügensprinzip, dem Paretoprinzip und dem Maximinprinzip (Differenzprinzip), gegebenenfalls unter Abschwächung durch das Utilexprinzip. Allerdings ist in jedem Fall eine Relativierung dieser Prinzipien durch das Leistungsprinzip notwendig, da der Erfolg der gemein­schaftlichen Schaffung von Gütern von der Leistung jedes Einzelnen abhängt. Auch das Aufopferungsprinzip findet Anwendung: Wenn der Unterschied in der Wertigkeit der Belange sehr groß ist oder wenn Güter wie das Sacheigentum einerseits stark gemeinschafts­geprägt und andererseits regelmäßig relativ leicht ersetzbar sind, so muss ein Betroffener unter Umständen sogar eine Beeinträchtigung seines Status quo zu Gunsten Anderer in Kauf nehmen, vorausgesetzt, er wird angemessen entschädigt, das heißt die Verschlechterung wird hinreichend wertmäßig ausgeglichen. Das Interesse an ökonomischen Gütern steht in hocharbeitsteiligen Volks­wirtschaften schon auf der Grenze zu den Belangen der Sozialzone. Die Zuordnung hängt von der Perspektive ab: Stellt man eher das individuelle Bedürfnis der Lebenssicherung und den Ausgleich für den individuellen Beitrag in den Vordergrund, dann handelt es sich um Belange der Relativzone. Insofern muss man also zum Beispiel fragen, was zur Lebensführung notwendig und welcher Lohn für die geleistete Arbeit gerecht ist.115 Stellt man dagegen den Anteil am gemeinsamen Projekt der hocharbeitsteiligen Volkswirtschaft in den Vordergrund, so muss man die Belange als solche der Sozialzone kategorisieren. Dieser Aspekt wird sogleich noch ausführlicher erörtert werden. Im Falle sehr ungleichartiger Interessen der Relativzone ist die Abwägung naturgemäß schwierig. Wie soll man etwa entscheiden, wenn A den B beleidigt, also das Interesse des A an der freien Rede mit dem Interesse des B auf Achtung kollidiert? Hier hängt viel von den konkreten Umständen ab, etwa wie gravierend das Unwerturteil des A ausfällt, wie empfindlich B normalerweise reagiert, wie die Gepflogenheiten in den jeweiligen Kreisen ausfallen. Was in manchen Kreisen als schwerste Beleidigung angesehen wird, gilt in anderen als normaler Umgangston. Schwierig sind auch Abwägungen, bei denen drei oder mehr Personen beteiligt sind: Wie schwer muss etwa ein Unglücksfall sein und wie gewichtig die sich ergeben115 Vgl. dazu zum Beispiel: Walter Pfannkuche, Wer verdient schon, was er verdient? Fünf Gespräche über Markt und Moral, Stuttgart 2003.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

de Hilfspflicht des A gegenüber dem verunglückten C, damit A das dem B gegebene Versprechen eines Besuchs hintanstellen darf? Hat sich C bei einem Sturz nur die Hose zerrissen oder das Fahrrad demoliert, wird sein Interesse nicht gewichtig genug sein. Anders dagegen im Falle nicht nur marginaler Verletzungen des Körpers, die eine rasche Wundversorgung erfordern.

c) Konflikte zwischen den Belangen der Sozialzone Auch im Falle eines Konflikts zwischen den Interessen der Sozialzone gilt wegen der vergleichbaren Gemeinschaftsabhängigkeit der jeweiligen Belange grundsätzlich das Gebot der Gleichheit. Was heißt nun aber „Gleichheit“? Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, auf die im Kapitel III dargestellten sieben Elemente der Handlung zurückzugreifen: (1) die inneren, äußeren und allgemeinen Bedingungen der Handlung, (2) die konkreten handlungsorientierten Überzeugungen und Wünsche des Akteurs, (3) das handlungsleitende Ziel bzw. die Absicht (Intention, Zielwille), die der Akteur fasst, (4) den Prozess der Suche nach Mitteln zur Realisierung dieser Absicht und die Wahl zwischen mehreren möglichen Mitteln, (5) den aus dem Willensbildungsprozess als Auswahl eines Mittels erwachsende konkrete Handlungswillen, der das Handeln unmittelbar steuert, (6) das tatsächliche, intentional gesteuerte Handeln des Akteurs bzw. anders ausgedrückt, die Realisierung der Mittel zur Erreichung des Ziels, (7) die Konsequenzen der Handlung oder die Quasikonsequenzen des Unterlassens. Die Mitglieder der fraglichen Gemeinschaft müssen in all diesen Elementen gleich berücksichtigt werden. Dabei kann man die drei intentionalen und damit eher individuellen Elemente zwei, drei und fünf zur Vereinfachung weglassen, denn sie werden trotz möglicher leichter Beeinflussungen durch gemeinschaftliche Entscheidungen von den Individuen weitgehend selbst geprägt und fallen – wie sich ergab – in die Individualzone. Man erhält also vier Elemente der äußeren Situation der Mitglieder, auf die sich die Gleichheit oder Ungleichheit einer Ent­scheidung der Gemeinschaft auswirken kann: (1) die Bedingungen des Mitglieds, also sein Ausgangszustand, (2) die Beteiligung des Mitglieds am kollektiven Entscheidungsverfahren, (3) das Handeln des Mitglieds, also sein Beitrag zum gemeinschaftlichen Handeln, (4) die Konsequenzen, die das kollektive Handeln für das einzelne Mitglied hat, also das Ergebnis. Wendet man das Gleichheitsprinzip auf diese vier Elemente an, so ergeben sich folgende grundsätzlichen Abwägungsergebnisse:

10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone

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(1) Gleichbleibender Ausgangszustand, wenn man von der Abnahme durch den eigenen Beitrag (3) und der Veränderung durch das Ergebnis (4) der Zusammenarbeit absieht: Niemand würde sich an einem gemeinsamen Projekt bzw. einer Gemeinschaft beteiligen, die seinen Aus­gangs­zu­stand signifikant verschlechtert. Positive Ergebnisse (4) ver­bessern na­tür­lich im Regel­fall suk­zes­sive den Ausgangszustand. Aber es ist sinn­ voll, diese Verbes­se­run­gen zunächst getrennt zu berücksichtigen, weil sie zum einen mit Teilen des Aus­gangs­zu­stands kar­dinal oder sogar ordinal un­vergleichbar sein können und zum anderen von den Teil­neh­mern eher zur Ver­besserung des Ergebnises riskiert werden. (2)  Einstimmigkeit des Entscheidungsverfahrens: Entscheidungen im Rahmen eines gemeinsamen Projekts der Sozialzone werden zunächst einmal grundsätzlich von al­len Mitgliedern (also plebiszitär) einstimmig getroffen. Jedes Mitglied kann durch diese Vetoposition seine Interessen schützen. Die Anwendung des Mehrheitsprinzips würde die Mitglieder ungleich behandeln, weil sich die Meinung der Minderheit nicht durchsetzen könnte. (3) Gleicher Beitrag: Jedes Mitglied muss grundsätzlich den gleichen Beitrag leisten, sei dies zur Ausführung des gemeinschaftlichen Projekts, zur Schaffung oder Bewahrung der natürl­i­chen oder kulturellen Güter oder zur Überwindung der für alle nachteiligen Struktur des Gefangenen­dilem­ma­s. (4) Gleiche Ergebnisverteilung: Jedes Mitglied erhält den gleichen Anteil am Ergebnis der Zu­sammenarbeit. Ein Pro­blem kann allerdings entstehen, sofern die gleiche Ergebnisverteilung, also eine Gleichbehandlung, aus faktischen Gründen unmöglich ist, wie zum Beispiel bei der Pflege eines Kranken. Als Lösung bietet sich eine temporäre Gleichbehandlung an. Jeder kommt nur für eine gewisse Zeit in den Genuss des knappen Ergebnisses der Zusammenarbeit. Ist auch das nicht möglich oder praktisch wenig sinnvoll, müssen Lösungen gesucht werden, die dem Gedanken der Gleichverteilung – nämlich nie­manden zu bevorzugen – möglichst nahe kommen, also zum Beispiel eine Ent­scheidung durch Priorität oder Lotterie. Die Notwendigkeit, aus pragmatischen Gründen auf weniger befriedigende Lö­­sungen als das Gleichheitsprinzip auszuweichen, ändert aber an seiner normativen Verbindlich­keit nichts. Ist das Ergebnis des gemeinschaftlichen Projekts kein Zuwachs, sondern ein Verlust, so muss auch dieser gleich verteilt werden. Das Prinzip der Gleichverteilung der Ergebnisse führt zur Rechtfertigung der Forderung nach Gleichberechtigung vor den Normen, nicht aber von vornherein und damit ohne zusätzliche Gründe nach einem Ausgleich von Ungleichheiten im Ausgangszustand, also nach einer vollständigen Gleichstellung. Diese vierfache Konkretisierung des Gleichheitsprinzips zur Regelung der Abwägung der Belange in Gemeinschaften würde eine erste, einigermaßen faire Lösung ermöglichen. Allerdings wird kaum eine Gemeinschaft ihre Entscheidungen vollständig am Gleichheitsprinzip orientieren können, denn die Interessen der Individuen sind re­ gelmäßig auf ihre mög­lichst umfassende Ver­wirk­lichung gerichtet. Dem wird die soeben skizzierte reine Anwendung des Gleichheitsprinzips nur par­tiell genügen können. Sie birgt zwei gravierende Nachteile in sich: Sie ist ineffektiv und unsozial.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

Die Ineffektivität zeigt sich in verschiedenen Aspekten. Die Annahme eines gleichen Ausgangszustands geht nicht auf unterschiedliche Bedürfnislagen ein. Das Erfordernis der Einstimmigkeit der Entscheidungen wird einen großen Teil der Entscheidungen blockieren. Das Prinzip des gleichen Beitrags hält überdurchschnittlich leistungsfähige Bürger davon ab, mehr für die Gemeinschaft zu tun als der Durchschnitt. Schließlich verhindert das Prinzip einer gleichen Ergebnisverteilung eine Optimierung der indi­vi­duellen Anteile am Gesamtergebnis. Im Rahmen einer solchen Verwirklichung des Gleich­­ heitsprinzips werden die Individualinteressen zwar formal bestmöglich be­­­rücksichtigt, weil die Ge­mein­schafts­ent­scheidung sie ohne Abstriche integriert, nicht aber inhaltlich. Eine Effizienzsteigerung wird zu einer bestmöglichen Abwägung und Befriedigung der Belange der Individuen in Plus-Summen-Situationen notwendig. Man muss zu effizienteren Prinzipien übergehen, das heißt das Gebot der Gleichbehandlung durch ein Effizienzprinzip ergänzen. Auch die mangelnde Sozialität liegt auf der Hand: Das blanke Prinzip der Gleichheit ist adäquat, wenn unabhängige Geschäftsleute sich treffen, um ein Unternehmen zu gründen und zu betreiben. Dann werden sie  – von den soeben erörterten Effizienznachteilen abgesehen  – von einem gleichen Ausgangszustand, gleichen Beiträgen, gleichem Stimmrecht und gleichen Ergebnisanteilen ausgehen. Aber ein wirtschaftliches Unternehmen ist nur ein sehr spezieller Typ einer Gemeinschaft mit einem sehr eingeschränkten Ziel in einem engen Rahmen der allgemeinen Wirtschaftsordnung. Viele Gemeinschaften sind dagegen Lebensgemeinschaften und dienen nicht oder nicht primär ökonomischen Zielen: Familien, Freundschaften, Kirchen, Clubs, Staaten und andere politische Gemeinschaften. Derartige Lebensgemeinschaften erzeugen Abhängigkeiten und stillschweigende Versprechen. Aus diesen Abhängigkeiten und stillschweigenden Versprechen erwachsen soziale Pflichten der Hilfe und Fürsorge. Sie machen Abweichungen vom bloßen Gleichheitsprinzip erforderlich, etwa Schritte, ursprüngliche Ungleichheiten des Ausgangszustands zu verringern, die Beiträge Benachteiligter zu senken und den Ergebnisanteil speziellen Bedürfnissen anzupassen etc., also Schritte zur Gleichstellung zu unternehmen. Behinderte und die Opfer von Rassen-, Klassen- und Geschlechterdiskriminierung verdienen zum Beispiel eine spezielle Förderung. Deshalb muss das Gleichheitsprinzip durch ein Sozialprinzip ergänzt werden, das weiter gehende Ziele der Gleichstellung realisiert. Das Effizienzprinzip und das Sozialprinzip werden verschiedentlich entgegengesetzte Abweichungen vom Gleichheitsprinzip fordern. Aber es bestehen auch Übereinstimmungen. Eine effiziente Gemeinschaft kann sozialer sein als eine ineffiziente. Allerdings gibt es keine empirische Notwendigkeit, dass eine reichere, effizientere Gemeinschaft in der Realität auch wirklich sozialer ist. Das Gegenteil kann etwa der Fall sein, wenn die höhere Effizienz zu einem größeren Egoismus ihrer Mitglieder und einer größeren Ungleichheit führt. Die im Kapitel V, 4 und V, 5 diskutierten Abwägungsprinzipien lassen sich als Abweichungen vom Gleichheitsprinzip im Sinne des Gleichbehandlungsprinzips verstehen. Sie versuchen, die beiden soeben erläuterten Nachteile des Gleichheitsprinzips – Ineffizienz und Unsozialität  – auszugleichen. Einige Prinzipien machen das Gleichheits-

10. Der Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone

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prinzip effektiver, etwa das Paretoprinzip und das Maximierungs­prin­zip, andere machen es sozialer, wie das Gleichstellungsprinzip und das Genügensprinzip, aber auch das Marxsche Prinzip: „Jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (soweit es realisierbar ist) oder der Vorschlag, die Freiheiten und Fähigkeiten jedes Einzelnen zu verbessern.116 Das Maximinprinzip bzw. Differenzprinzip versucht beiden Forderungen zu genügen. Die kollektive Steigerung der Effizienz kommt in jedem Fall auch den schlechtest Gestellten zugute. Das macht das Maximinprinzip so attraktiv. In Kapitel V, 5 ergab sich aber, dass es trotzdem als alleiniges Abwägungsprinzip auf einige Einwände stößt. Man muss also fragen, welche Abweichungen vom Gleichheits­prinzip sowohl dem Effizienzprinzip als auch dem Sozialprinzip genügen können. Dazu empfiehlt es sich, zuerst einmal ohne Bewertung darzustellen, welche Veränderungen der Verteilung nach dem Gleichheitsprinzip grundsätzlich bei den vier oben erwähnten Elementen der Gleichverwirklichung von Interessen der Sozialzone möglich sind. Diese pro­gressiven Verände­rungen lassen sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – folgender­ma­ßen skizzieren, wobei die Abweichungen im Ausgangszustand (1) und im Beitrag (3) im Wesentlichen der Erhöhung der Sozialität, die Abweichungen im Entscheidungsverfahren (2) und im Ergebnis (4) im Wesentlichen der Erhöhung der Effizienz dienen. Die Pfeile („→“) markieren die Stufe um Stufe zunehmende Abweichung vom Gleichheitsprinzip beim jeweiligen Handlungselement. (1)  Ausgangszustand: Keine Änderung des Ausgangszustands (wenn von der Abnahme durch den Beitrag (3) und der Veränderung durch das Ergebnis (4) ab­ge­sehen wird) →→ (a) Bevorzugung Benachteiligter aus dem allgemeinen Zu­wachs (4) →→ (b) Bevorzugung Benachteiligter aus dem allgemeinen Zu­wachs (4) mit dem weiter gehenden Ziel ei­ner Gleichstellung (2) Entscheidungsverfahren: Einstimmigkeit →→ (a) qualifizierte plebiszitäre Mehrheit (Ab­stu­fung 100–51 %) →→ (b) qualifizierte plebiszitäre Mehrheit der Abstimmenden →→ (c) einfache plebiszitäre Mehrheit, mehr als 50 %117 →→ (d) einfache plebiszitäre Mehrheit der Ab­­stim­menden, mehr als 50% →→ (e) Einstimmigkeit der Repräsentanten →→ (f ) qualifizierte Mehr­­heit der Repräsentanten, etwa 2 / 3 →→ (g) quali­fizierte Mehrheit der abstimmenden Re­prä­sen­tan­ten, etwa 2 / 3 →→ (h) einfache Mehrheit der Repräsentan­ten, mehr als 50 % →→ (i) einfache Mehrheit der ab­stim­men­den Reprä­sentanten, mehr als 50 % →→ (j) Minderheitsent­scheidung durch eine ausgewählte Gruppe →→ (k) Entschei­dung durch eine Person (zum Beispiel den Leiter)

116  Amartya K. Sen, Inequality Reexamined, 3. Aufl. New York 1995, S. 39 ff. 117 Die Reihenfolge zwischen den Abweichungsalternativen (b) und (c) lässt sich anzweifeln. Man muss sich entscheiden, ob man die Mehrheit oder die Menge der Abstimmenden als wichtiger ansieht.

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V. Die inhaltliche Zusammenfassung bzw. Abwägung der divergierenden Belange

(3) Beitrag: Gleicher Beitrag von jedem →→ (a) proportionaler Beitrag von jedem →→ (b) niedrigerer Beitrag einiger, unterproportional zur Schlechter­stell­ung in der Ausgangslage (1) oder im Ergebniszuwachs (4a ff.) →→ (c) niedrigerer Beitrag einiger, proportional zur Schlechter­stell­ung in der Ausgangslage (1) oder im Ergebniszuwachs (4a ff.) →→ (d) niedrigerer Beitrag einiger, überproportional zur Schlechter­stell­ung in der Ausgangslage (1) oder im Ergebniszuwachs (4a ff.) →→ (e) kein Beitrag der Schlechtergestellten in der Ausgangslage (1) oder dem Ergebniszuwachs (4a ff.), bis eine Gleichstellung erreicht ist (4) Ergebnis: Gleicher Ergebniszuwachs aller in jeder Periode (Gleichheitsprinzip, GP) →→ (a)  ungleicher Zuwachs in einer Pe­riode, wenn alle im Ergebnis gegenüber der bloßen Gleichverteilung soweit wie möglich besser stehen und die Ver­besserung derjeniger, die auf diese Weise am wenigsten gewinnen, nicht mehr als um 100 – x % (x