Das Weinberg-Paradoxon: Kann es gutes Fehlverhalten geben? Ein Essay über nicht-normative Ethik 3534403185, 9783534403189

Dieser Essay der nicht-normative Ethik handelt von solchen guten Taten, die sich nicht durch Normen, Gesetze und Gebote

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Der Prolog motiviert und erläutert, wovon die Rede ist
Einige Beispiele für paradoxe Szenen, die das Phänomen der nicht- normativen Ethik im Alltag zeigen
Die bekannte Parabel der Arbeiter im Weinberg schildert ein Paradoxon, ein Prärogativ und einen Protest
Normative Ethiken entsprechen einer generellen Neigung des Menschen
Die Schrift – das wirkungsvolle „Es steht geschrieben“ – ist wesentlich für die Modellierung normativer Gesetze und Gebote
Alle Normen haben einen endlichen Geltungsbereich, sie privilegieren die Folgsamen und diskriminieren die Unbotmäßigen
Das lokale „pseudo-gute“ Wohlergehen und der vergnügliche Hedonismus
Normen können absurd und schädlich sein, daher ist eine Normenkritik erforderlich
Die Prärogative, wie Gnade und Kulanz, begegnen den Unzulänglichkeiten der Rechtssysteme
Das göttliche Prärogativ ist ein Attribut absoluter göttlicher Herrschaft, die den Geboten nicht untertan ist
Der von Kant formulierte kategorische Imperativ erscheint als eine inhaltslose Formel
Die drei zentralen Elemente der nicht-normativen Ethik
Frühe Schilderungen nicht-normativer Ethik finden sich bei Aischylos in der Orestie
Die nicht-normative Ethik ist keine Normenverschiebung, wie sie die Fälle von Judith und Holofernes und Wilhelm Tell zeigen
Die Evangelien enthalten eine ganze Reihe von Parabeln und Episoden, die von nicht-normativer Ethik handeln
Drei Möglichkeiten der lebenspraktischen Gestaltung im Umgang mit den Paradoxa der nicht-normativen Ethik
Der intensive, aber substanzlose Protest der Vertreter der Norm
Die reaktionäre Revision – am Beispiel des Paulus von Tarsus
Der paradoxe Fall des Wolfgang Daschner
Normativ wirkende digitale Maschinen und die Funktionen OFF und ESC
Der Epilog zeigt mit der Rede von den Lilien auf dem Felde das Ende aller Normen
Eine Zusammenfassung: Die normative Ethik ist nicht vollständig und sie kann es nie sein. Ein ignoramus et ignorabimus existiert
Literatur zum Weiterlesen
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Das Weinberg-Paradoxon: Kann es gutes Fehlverhalten geben? Ein Essay über nicht-normative Ethik
 3534403185, 9783534403189

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Georg Rainer Hofmann

Das Weinberg-Paradoxon

Georg Rainer Hofmann

Das Weinberg-Paradoxon Kann es „gutes Fehlverhalten“ geben? Ein Essay über nicht-normative Ethik.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40318-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40320-2 eBook (epub): 978-3-534-40319-6

Die Sache ist viel zu schwierig, kein Mensch darf es wagen hier ein Urteil zu fällen (…) [alles] bringt nur schweres Unheil, man weiß keinen Rat. Aischylos, Orestie Interventionsbegründung der Athene in den Eumeniden

Ich bin nicht gekommen das Gesetz zu zerstören, sondern vielmehr, um es zu ergänzen. Jesus von Nazareth Matthäus, Kapitel 5, Vers 17

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Rembrandt Harmenszoon van Rijn: Die Arbeiter im Weinberg (um 1648–1650). 15,2 × 19,5 cm. Feder, laviert. Pierpont Morgan Library, New York.

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Inhalt Der Prolog motiviert und erläutert, wovon die Rede ist ...........................................9 Einige Beispiele für paradoxe Szenen, die das Phänomen der nicht-normativen Ethik im Alltag zeigen............................................................14 Die bekannte Parabel der Arbeiter im Weinberg schildert ein Paradoxon, ein Prärogativ und einen Protest ...........................................................19 Normative Ethiken entsprechen einer generellen Neigung des Menschen ................................................................................................................23 Die Schrift – das wirkungsvolle „Es steht geschrieben“ –  ist wesentlich für die Modellierung normativer Gesetze und Gebote ...................26 Alle Normen haben einen endlichen Geltungsbereich, sie privilegieren die Folgsamen und diskriminieren die Unbotmäßigen .............29 Das lokale „pseudo-gute“ Wohlergehen und der vergnügliche Hedonismus ......31 Normen können absurd und schädlich sein, daher ist eine Normenkritik erforderlich ..........................................................................................33 Die Prärogative, wie Gnade und Kulanz, begegnen den Unzulänglichkeiten der Rechtssysteme ........................................................................................................35 Das göttliche Prärogativ ist ein Attribut absoluter göttlicher Herrschaft, die den Geboten nicht untertan ist ............................................................................38 Der von Kant formulierte kategorische Imperativ erscheint als eine inhaltslose Formel ........................................................................................................40 Die drei zentralen Elemente der nicht-normativen Ethik ......................................43 Frühe Schilderungen nicht-normativer Ethik finden sich bei Aischylos in der Orestie ...............................................................................................46 Die nicht-normative Ethik ist keine Normenverschiebung, wie sie die Fälle von Judith und Holofernes und Wilhelm Tell zeigen ....................48 7

Die Evangelien enthalten eine ganze Reihe von Parabeln und Episoden, die von nicht-normativer Ethik handeln ...................................................................51 Drei Möglichkeiten der lebenspraktischen Gestaltung im Umgang mit den Paradoxa der nicht-normativen Ethik ........................................................60 Der intensive, aber substanzlose Protest der Vertreter der Norm .........................63 Die reaktionäre Revision – am Beispiel des Paulus von Tarsus .............................65 Der paradoxe Fall des Wolfgang Daschner ...............................................................69 Normativ wirkende digitale Maschinen und die Funktionen OFF und ESC .......73 Der Epilog zeigt mit der Rede von den Lilien auf dem Felde das Ende aller Normen ................................................................................................81 Eine Zusammenfassung: Die normative Ethik ist nicht vollständig und sie kann es nie sein. Ein ignoramus et ignorabimus existiert. .........................85 Literatur zum Weiterlesen ...........................................................................................91

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Der Prolog motiviert und erläutert, wovon die Rede ist Die Frage „Was soll ich tun?“ ist die zentrale Daseinsfrage für den Menschen. Das Planen und die Sorge um das richtige und gute Tun sind für die praktische Lebensgestaltung äußerst bedeutsam. Die Leserschaft weiß, dass die genannte Frage von der Disziplin der Ethik beantwortet wird, beziehungsweise beantwortet werden sollte. Die Ethik versucht seit Anbeginn der Zivilisation, das richtige und das gute Handeln (den oder das Ethos – aus dem Griechischen εθος „Wesen, Charakter“ und ηθος „Sitte, Brauch, Gewohnheit“) so in Normen zu fassen, dass man den damit definierten ethischen Vorgaben in der Lebenspraxis folgen kann. Die normativen Vorgaben können explizit formuliert werden; es sind Verhaltensregeln, herrschaftliche Gesetze und religiöse Gebote. Oder es werden konkrete vorbildliche Personen identifiziert, deren Verhalten als implizite Orientierung für das sogenannte „richtige Tun“ dienen kann. Aktuell erscheinen ethische Normen auch in Gestalt von normativ wirkenden Maschinen und digitalen Automaten, Algorithmen und Prozessen, die den Menschen zum „richtigen“ Handeln anleiten – oder ihn gar dazu zwingen. Wird gegen solche normativen Vorgaben verstoßen, so ist von „Fehlverhalten“ die Rede. Das Fehlverhalten erscheint im Alltag in vielfältiger Form: als Verbrechen, Missetat, Vergehen, Ordnungswidrigkeit, Frevel, Sünde, Lapsus, schlechtes Benehmen etc. pp. Wir wollen uns nun der Problemstellung „Warum sich das gute Handeln nicht vollständig durch Gesetze und Gebote regeln lässt“ mit vier Leitfragen nähern, um quasi die „Grenzen“ der formalen Gesetze und Gebote für das gute Handeln zu erkennen. Diese Fragen sind: 1. Ist der Mensch in der Lage, gute Taten zu vollbringen? 2. Lassen sich als „gut“ erkannte Handlungen in ethische Normen fassen und beschreiben? 9

3. Kann das konsequente Befolgen einer „Norm des richtigen Tuns“ ungute Folgen haben? 4. Lassen sich die als „gut“ erkannten Handlungen durch Normen vollständig beschreiben? Die beiden ersten Fragen haben ziemlich triviale Antworten, auch die Antwort auf die dritte Frage erschließt sich aus der Alltagserfahrung und der juristischen Praxis relativ schnell. Die Antwort auf die vierte Frage ist nicht so ganz einfach – sie ist der Gegenstand unseres eigentlichen Interesses. Wir wollen zeigen, dass sich das gute Handeln nicht komplett durch Gebote und Gesetze fassen lässt. Die Frage „Was soll ich tun?“ ist – normativ – nicht abschließend zu beantworten. Leitfrage 1: Ist der Mensch in der Lage, gute Taten zu vollbringen? Das ist trivialerweise zu bejahen: Der zivilisierte Mensch kann Hilfeleistungen für andere Menschen erbringen, Wohltaten leisten, Almosen geben, Nutzen stiften, einen ehrenden und respektvollen Umgang pflegen – diese und andere Handlungen wird man unbestreitbar als „gute Taten“ einordnen. Mathematisch gesprochen gibt es eine „Menge der guten Taten“ als eine Teilmenge aller Handlungen, die dem Menschen möglich sind. Man mag einwenden, dass man die Eigenschaft „gut“ für die Elemente der „Menge der guten Taten“ zunächst genau definieren müsste, damit diese Menge eine präzise Gestalt erhalten könnte. Aber wir wollen uns zunächst lediglich auf den Aspekt konzentrieren, dass diese „Menge der guten Taten“ eine Teilmenge aller möglichen Taten ist. Das kann man mit der Situation vergleichen, wenn Grundschüler im Unterricht zur Mengenlehre aus einer Grundmenge von bunten Bauklötzchen die „Menge aller roten Bauklötzchen“ selektieren sollen. Es mag Streitfälle geben, ob violette und rosafarbene Klötzchen noch zu den „Roten“ zu zählen wären. Die Existenz einer Teilmenge „Menge aller roten Bauklötzchen“ als solcher ist trotzdem nicht zu bestreiten. Leitfrage 2: Lassen sich als „gut“ erkannte Handlungen in ethische Normen fassen und beschreiben? Dies ist wiederum trivialerweise zu bejahen: Das richtige Tun wird durch Normen – wie Gebote, Gesetze, Verordnungen, Sitten, standardisierte Prozesse und dergleichen – beschrieben. Mit solchen Normen versucht der Mensch seit vielen Jahrhunderten, die „normativ richtigen Taten“ zu definieren. Die richtigen Taten sind das den ethischen Normen entsprechende Handeln. Wir können von einer „Menge der normativ beschreibbaren guten Taten“ reden, die wiederum eine Teilmenge aller möglichen Handlungen ist. 10

Leitfrage 3: Kann das konsequente Befolgen einer „Norm des richtigen Tuns“ auch ungute Folgen haben? Die Alltagserfahrung und die juristische Praxis bejahen diese Frage. Ein der ethischen Norm und dem geltenden Gesetz entsprechendes – und dahingehend „richtiges“ – Verhalten kann anderen Menschen allerdings schaden. Dieser Umstand wurde bereits in der Antike erkannt und beschrieben. Bei Markus, Kapitel 12, Verse 38 bis 40, werden Angehörige des – der Norm genügenden – Establishments scharf kritisiert, wir lesen in deutscher Übersetzung: […] Hütet euch vor den Akademikern, die in feinen Kleidern herumlaufen und in der Öffentlichkeit jeden freundlich grüßen. Diese sitzen in der Synagoge ganz vorne und haben bei Empfängen immer die besten Plätze. Sie sprechen scheinheilig lange Gebete – aber sie fressen den Witwen die Häuser weg: Diese Leute werden über die Maßen verurteilt werden.

Diese Verurteilung adressiert den damaligen Akademiker (den Schrift- und damit Gesetzkundigen γραμματικος – grammatikos), als Angehörigen des herrschenden politisch-normativen Systems. Im Allgemeinen können Normen, die bedingungslos und unabhängig von ihren Konsequenzen formuliert wurden, in konkreten Situationen absurd oder gar schädlich sein. Beispielsweise trifft die juristisch korrekte Anwendung von massenhaften Abmahnungen zum Teil auf Unverständnis in der Gesellschaft. Klassisch ist auch das normative Verletzungs- und Tötungsverbot zu nennen, das zum Beispiel für Polizeikräfte relativiert werden muss, wenn es gilt, einen bewaffneten Verbrecher zu bekämpfen. Auch automatische Prozesse, in bester Absicht konstruiert und realisiert, können in konkreten Situationen mit neu auftretenden Randbedingungen den Menschen schaden. Als Beispiel könnten Navigationssysteme und Autopiloten genannt werden, bei denen bestimmte Situationen im normativ wirksamen Programm nicht berücksichtigt wurden und die dadurch – im schlimmsten Fall – ein Flugzeug zum Absturz bringen könnten. Man könnte sagen, dass die „Menge der normativ beschreibbaren guten Taten“ ihren Gegenstand nicht genau trifft, wenn die gut gemeinten Normen auch solche Taten zulassen können, die als alles andere als „gut“ zu bezeichnen wären. Die systematische Beantwortung der Frage 3 ist der Gegenstand der Normenkritik. 11

Die Normenkritik hat die Aufgabe, negative Folgen von Normen aufzuspüren und zu eliminieren. Dazu erweitert und korrigiert sie bestehende Normen, oder sie schafft neue bessere Normen. Das Ziel der Normenkritik ist es, die „Normen des richtigen Tuns“ so zu verbessern, dass sie – künftig – möglichst keine unerwünschten „unguten“ Taten mehr umfassen oder zulassen. Wir werden sehen, dass die Normenkritik ihr Endziel – das Schaffen einer dahingehend perfekten ethischen Norm – nicht erreichen kann. Leitfrage 4, eine Erweiterung von Frage 2: Lassen sich die als „gut“ erkannten Handlungen durch Normen vollständig beschreiben? Wir werden im Zuge unserer Überlegungen sehen, dass diese Frage in der Tat zu verneinen ist. Aufbauend auf der Erörterung des Weinberg-Paradoxons wollen wir zeigen, dass es kein komplettes und vollständiges Modell des Guten geben kann – das gute Handeln lässt sich nicht in seiner Gesamtheit normativ erfassen. Das Weinberg-Paradoxon ist allerdings kein singuläres Beispiel eines Widerspruchsbeweises, wir finden eine ganze Reihe weiterer ähnlicher Paradoxa in der Literatur und im Alltag. Die hypothetische Menge der „Normen des guten Tuns“ – jede normative Ethik – ist insofern unvollständig. Es gibt gutes Handeln, das sich einer Normierung durch Gebote und Gesetze entzieht. Die Normenkritik versucht zwar einerseits, bestehende Normen zu verbessern und zu erneuern. Andererseits: Wenn notwendiges gutes Handeln von den Normen nicht vollständig beschrieben und erfasst werden kann, dann sehen wir die humanitäre Notwendigkeit einer nicht-normativen Ergänzung der Normen – das ist der Gegenstand einer nicht-normativen Ethik. Bei Matthäus, Kapitel  5, Vers  17 bis 20, lesen wir als zentrales Anliegen eines humanitären anthropozentrischen Programms, das Jesus von Nazareth selbst zugeschrieben wird: Ich bin nicht gekommen das Gesetz zu zerstören, sondern vielmehr, um es zu ergänzen. Es wäre falsch, von mir anzunehmen, dass ich kam, um das Gesetz oder die Propheten anzuzweifeln. […] Nicht ein einziger winziger Buchstabe oder ein einziges Satzzeichen wird im Gesetz gelöscht werden. […] Ich sage euch aber: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weiter reicht als das Gesetz der Schriftkundigen und der Pharisäer, so werdet ihr das himmlische Reich hier auf der Erde nicht erleben. 12

Man sollte erkennen können: Der Ethos des guten Handelns ist nicht per definitionem normativ! Wir wollen in der Folge zeigen, dass die „Gesamt-Ethik“ einer anthropozentrischen humanitären Zivilisation über die Normen der Gebote und Gesetze des guten Tuns hinaus der Ergänzung – durch eine nicht-normative Ethik – bedarf. Um die nicht-normative Ethik zu erläutern, greifen wir in unseren Überlegungen einige maßgebende – literarische und reale – Beispiele auf. Sie zeigen, dass das Phänomen des nicht-normativ fassbaren guten Handelns quasi „schon immer“ von Interesse war: Die griechische Tragödie kannte es bereits, und wir sehen Jesus von Nazareth als praktischen Philosophen, von dem die Parabel mit dem Weinberg-Paradoxon stammt. Einige Bezüge der nicht-normativen Ethik zum Alltag und zur politischen Debatte der Jetztzeit sind absolut evident und werden ebenfalls dargelegt und erörtert. Im vorliegenden Essay wird allerdings auf „wissenschaftliche Lesehemmnisse“ wie Zitate, Fußnoten, Originalzitate in Fremdsprachen etc. weitgehend verzichtet. Für Interessierte wird insbesondere auf die Abhandlung Impulse nicht-normativer Ethik für die Ökonomie verwiesen  –  sie und weitere wissenschaftliche Literatur zum Weiterlesen sind im Anhang aufgelistet; die Referenzen können leicht aus dem Text erschlossen werden. Es ist zu hoffen, dass die Leserschaft das Bemühen um nachvollziehbare Formulierungen und separat lesbare Kapitel zu schätzen weiß. Die Ausführungen und Folgerungen sind eigentlich sehr selbstverständlich und naheliegend. Bei der Lektüre dürfte man sich durchaus an ähnliche eigene Gedanken erinnert sehen.

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Einige Beispiele für paradoxe Szenen, die das Phänomen der nicht-normativen Ethik im Alltag zeigen Ein Paradoxon ist ein objektiv beobachtbares Phänomen, das dem allgemein Erwarteten oder dem Akzeptierten zuwiderläuft. Ein Paradoxon kann auch zu einer Antinomie und einem Widerspruch zu bisher gängigen Theorien und Modellen führen. Die mutige Analyse von Paradoxa kann sehr lohnend sein; sie hat in vielfältigen akademischen Diskursen zu einem neuen Verständnis der Realität geführt. Nicht immer gelingt die Auflösung des (paradoxen) Widerspruchs, in den meisten Fällen finden sich aber nützliche Hinweise für eine kritisch-rationale Erweiterung des Weltverständnisses. Wir kennen berühmte Beispiele aus der Physik. Das in Experimenten beobachtete paradoxe Phänomen der konstanten Lichtgeschwindigkeit führte zur Entwicklung der Relativitätstheorie, die wiederum in eine Neubewertung der klassischen Kategorien Raum und Zeit mündete. Die konsequente Analyse des Paradoxons, dass sich das Licht je nach Experimentaufbau dualistisch sowohl als Teilchen als auch als Welle verhält, führte zur Entwicklung der Quantenphysik. Wir betrachten zunächst einige verwandte, isomorphe Paradoxa in alltäglichen Szenen. Sie haben gemeinsam, dass man ein als „gut“ erkanntes Tun nicht als eine allgemeine Norm formulieren und etablieren kann. Das gute Tun wäre als allgemeine Verhaltensnorm nicht brauchbar oder würde als allgemeine Verhaltensnorm gar zu Schäden führen – es handelt sich paradoxerweise um ein gutes Fehlverhalten. Dieses gute Handeln, das sich derart einer Normierung entzieht, kann daher als ein nicht-normatives ethisches Handeln bezeichnet werden. 14

Erste Szene: In der S-Bahn erscheint ein Fahrkartenkontrolleur. Er trifft auf eine Dame, die in arger Verlegenheit ist. Sie hat keine Fahrkarte und gibt als Begründung an, sie komme von auswärts und habe den komplizierten Fahrkartenautomaten hier am Bahnhof nicht verstanden. Das Ertappen der Schwarzfahrerin ruft die Aufmerksamkeit der Mitreisenden hervor. Nach einigem Hin und Her erlässt der Kontrolleur der Dame die eigentlich fällige – nicht unerhebliche – Geldstrafe. Der gnädige Kontrolleur lässt es „für diesmal“ gut sein. Das ruft den lautstarken Protest eines mitreisenden älteren Herrn hervor: Da könne ja jeder kommen, sich dumm stellen und dreist behaupten, man verstehe den Automaten nicht. Er selbst habe ja schließlich auch eine Fahrkarte am Automaten gekauft und bezahlt – so wie das vorgeschrieben sei. Zweite Szene: An der Kasse im Verbrauchermarkt quengelt ein Schulkind. Es begehrt von seiner Mutter, die bereits sichtlich genervt ist, den Erwerb eines an der Kasse im Display platzierten Comic-Hefts. Das Quengeln des Kindes steigert sich, es scheint so, als ob das künftige Lebensglück des Kindes vom Erwerb eben dieses Comic-Hefts und seiner Lektüre abhängt. Die Mutter wirkt überfordert, ihr ist das laute Lärmen ihres Nachwuchses nicht gerade willkommen. An der Nachbarkasse steht – der Zufall will es so – die Großmutter des Kindes an. Sie wird aufmerksam, erbarmt sich, kauft das Heft und schenkt es dem Kind mit den Worten: „Ich kann meinem Enkelkind ja auch einmal einen Gefallen tun.“ Das Kind ist selig, aber es erhebt sich nun ein vehementer Protest der Mutter: Ihre Schwiegermutter könne doch dem Kind nicht „einfach so“ einen derartigen Schund schenken. Das verbitte sie sich, denn es untergrabe ihre Autorität. In einer ersten Zwischenbilanz sehen wir einen Fahrkartenkontrolleur und eine Großmutter. Die beiden bewirken für die Schwarzfahrerin eine Kulanz oder Gnade, beziehungsweise für das Schulkind eine Wohltat – das sind jeweils „gute Taten“. Wir sehen aber als ein Paradoxon, dass wir diese (an sich guten) Taten nicht als Norm etablieren können. Sie stellen paradoxerweise ein gutes Fehlverhalten dar. Die normative Folge wäre ja, dass die vorgebliche Unfähigkeit einen Fahrkartenautomaten zu bedienen zum Schwarzfahren berechtigt, und dass hinreichend lautes Quengeln zur Erfüllung aller kindlichen Konsumwünsche führt. Das ist 15

offenbar abwegig. Der Fahrkartenkontrolleur und die Großmutter ignorieren zudem die Verordnungslage zur Schwarzfahrtbestrafung und das Gestaltungsrecht der elterlichen Erziehung; sie nehmen sich quasi ein Prärogativ (praerogatio – das Vorrecht) heraus. Sie sehen sich situativ als legibus solutus: von den Gesetzen und der Norm entbunden. Ein solches Paradoxon zeigen auch andere gute Taten; es lassen sich leicht einige weitere Beispiele finden: 1  –  Wenn hilfsbereite Tierfreunde hungrige Tauben in der Stadt füttern, so ist das zunächst eine gute Tat. Allerdings dürfte diese Form der wohlmeinenden Tierliebe, normativ und wiederholt ausgeübt, neue Tauben anlocken. Die Population wächst, die permanent gefütterten Tauben vermehren sich unkontrolliert. Die Folgen sind Schäden an Gebäuden durch Nisttätigkeit, Übertragung von Krankheiten, Belästigung von Passanten und dergleichen mehr. Wird ein Verbot gegen das gut gemeinte Taubenfüttern verhängt, so stößt das durchaus auf Unverständnis bei den Tierfreunden. 2 – Wird einem offenbar bedürftigen Menschen, der an der Haustür um ein Almosen bittet, dieses großzügig gewährt, dann ist dies per se eine gute Tat. Nun könnte es aber sein, dass es sich in den entsprechenden Kreisen herumspricht, dass ein bestimmtes Haus von besonders spendierfreudigen Leuten bewohnt wird. Es könnte sein, dass die Lokalität bald von echten und unechten Hilfsbedürftigen häufiger frequentiert wird. Sollen dann die Almosen situativ verweigert werden? Sollen sie zufällig oder nach Willkür gewährt werden? Oder immer gegeben werden, wenn danach gefragt wird? Eine Norm lässt sich offenbar nicht finden. 3 – Die moderne Bergwacht ist in der Lage, in Not geratene Personen ziemlich zuverlässig zu finden und zu retten. Diese Hilfe ist ohne Zweifel eine gute Tat. Entsprechende Hilferufe können bequem mit einem einfachen Mobiltelefon abgesetzt werden. Nun könnte es natürlich sein, dass die Verfügbarkeit der Hilfe auch Unkundige und Unfähige dazu verlockt, sich leichtfertig in Gefahr zu bringen, indem sich auf übermäßig waghalsige Touren begeben. Dadurch steigt wiederum die Zahl der von der Bergwacht zu erledigenden Einsätze. 16

Die gute Tat der Rettung ist eine verpflichtende Norm, die aber offenbar sehr spezielle Begleiteffekte mit sich bringt. Die Situationen sind jeweils paradox, denn auch das konsequente Ignorieren von hungrigen Tieren, bedürftigen Bettlern oder in Bergnot Geratenen kann ebenfalls kaum ein normativer Maßstab sein. Dritte Szene: In einem Seminar erteilt der Professor zum Semesterende allen Studierenden – einfach so – eine „1,3“ als Note. Mit einer Ausnahme: Es wird eine einzige „1,0“ vergeben. Eigentlich könnten ja alle Studierenden mit diesen – an sich – sehr guten Noten zufrieden sein. Sie sind es aber wahrscheinlich nicht, weil der Unterschied in der Entlohnung eine wesentliche Komponente der subjektiv empfundenen Gerechtigkeit darstellt. Einige der „1,3“-Kandidaten wollen auch eine „1,0“, andere fordern schlechtere Zensuren für diejenigen, die erkennbar weniger engagiert im Seminar mitgearbeitet haben. Die Wohltat, allen Studierenden unabhängig von der Leistung sehr gute Noten zu erteilen, führt zudem zu einer völligen Überfüllung des Seminars in den nächsten Semestern. Eine zweite Zwischenbilanz zeigt, dass die dritte Szene kein echtes Prärogativ schildert. Diese exotische Notengebung des Professors ist zwar nicht ganz so üblich, aber auch nicht ungesetzlich. Die drohende Überfüllung des Seminars ist nicht paradox, man kann dieses nicht völlig unbekannte Problem wohl bewältigen. Besonders interessant ist hier aber der Protest der Studierenden. Nicht der Norm entsprechende Wohltaten an Menschen, „die das gar nicht verdient haben“, rufen Proteste hervor. Der Fahrkarteninhaber protestiert gegen die Begnadigung der Schwarzfahrerin. Die Mutter protestiert gegen das Geschenk für das Kind. Diese Art von Protest gegen gute Taten und gegen „Empfänger unverdienter Wohltaten“ ist im politischen Raum von erheblicher Bedeutung. Dieser Protest richtet sich gegen vermeintlich zu hohe Sozialleistungen, gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen, gegen eine vermeintlich zu komfortable Versorgung von Flüchtlingen und dergleichen mehr. Der Protest ist sogar geeignet, die parlamentarischen Kräfteverhältnisse zu beeinflussen. Eigens gegründete „Protestparteien“ 17

erhalten einen nicht unerheblichen Wählerzuspruch. Demonstrationszüge von „Wutbürgern“ gegen Wohltaten für die „falschen Leute“ erhalten Zulauf und politische Aufmerksamkeit. Nach Maßgabe der offenbaren politischen und philosophischen Bedeutung haben die drei Phänomene Paradoxon, Prärogativ und Protest unsere Aufmerksamkeit und eine genauere Untersuchung verdient.

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Die bekannte Parabel der Arbeiter im Weinberg schildert ein Paradoxon, ein Prärogativ und einen Protest Die Parabel (die Bezeichnung παραβολη  –  parabole  –  übersetzt Luther mit „Gleichnis“) von den Arbeitern im Weinberg im Matthäus-Evangelium dürfte der Leserschaft allgemein bekannt sein. Sie wurde bereits in der Antike aufgeschrieben und enthält das – für unsere Betrachtung titelgebende –  Weinberg-Paradoxon. Es ist an dieser Stelle völlig unerheblich, ob die Parabel von den Arbeitern im Weinberg textkritisch auf eine tatsächliche Rede des historischen Jesus von Nazareth zurückgeführt werden kann. Es geht hier um den Inhalt des Textes; das geschilderte Paradoxon existiert von seiner Quelle völlig unabhängig. Wir lesen den griechischen Text als deutsche Übersetzung und aus einer rational-ökonomischen Perspektive. Er ist als letzter Vers (das ist eigentlich die Überschrift) des Kapitels 19 und als die Verse 1 bis 15 des Kapitels 20 im Matthäus-Evangelium enthalten; der abschließende Vers 16 in Kapitel 20 wiederholt die Überschrift resümierend: Aber es werden viele Erste die Letzten sein, und viele Letzte werden Erste. Der Himmel kann auf der Erde verstanden werden – indem wir einen Unternehmer betrachten, den Besitzer eines Weinbergs. Dieser heuerte bei Tagesanbruch Tagelöhner für seinen Weinberg an. Er vereinbarte mit den Arbeitern einen Denar als Lohn für den ganzen Tag, und er schickte sie in den Weinberg. Im Laufe des Vormittags sah der Weinbergbesitzer weitere Arbeiter, die noch auf dem Marktplatz herumstanden und die nach Arbeit suchten. Zu diesen sagte er: „Geht ihr auch noch in den Weinberg, es wird euch der gerechte Tageslohn gegeben werden!“ Die Arbeiter folgten dem Angebot und begannen so verspätet mit der Arbeit. Das Anwerben neuer 19

Arbeiter wiederholte sich in gleicher Form um die Mittagszeit, und noch einmal am Nachmittag. Eine Stunde vor Feierabend fand der Weinbergbesitzer immer noch Untätige, und er sagte ihnen: „Warum habt ihr denn den ganzen Tag hier so untätig herumgestanden?“ Sie antworteten ihm: „Weil uns keiner beauftragt hat.“ Der Weinbergbesitzer entgegnete ihnen: „Geht ihr auch noch in den Weinberg!“ Am Abend dann sagte der Weinbergbesitzer zu seinem Verwalter: „Hole die Arbeiter zusammen und erstatte ihnen den Lohn, beginnend bei den Letzten bis hin zu den Ersten!“ Und die, die erst eine Stunde vor Feierabend gekommen waren, empfingen jeweils einen Denar Tageslohn. Da erwarteten diejenigen, die schon vom Morgen an dabei waren, dass sie mehr Lohn erhalten sollten, aber auch sie empfingen jeweils nur einen Denar. Da protestierten sie beim Weinbergbesitzer: „Diese Letzten arbeiteten nur eine einzige Stunde, und du stellst sie uns gleich, die wir die Last und die Hitze des Tages ertragen haben.“ Der Herr des Weinbergs aber antworte ihnen jeweils: „Mein lieber Kamerad, ich tue dir kein Unrecht; denn es war ja dieser eine Denar mit dir so vereinbart. Nimm das Deine und gehe heim! Ich will aber diesem Letzten das Gleiche geben wie dir. Oder sollte es mir nicht erlaubt sein, mit meinem Geld und meinen Tagelöhnern zu tun, was ich will? Wollt ihr mir einen bösen Vorwurf daraus machen, dass ich ein gutes Werk getan habe?“ So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.

Die Parabel kann  –  und sollte wohl auch  –  vor allem allegorisch interpretiert werden. Wir sehen sie aber aus einer rational-ökonomischen Perspektive. Das erscheint uns zulässig, denn man muss sehen, dass der Text den konkreten Realitätsbezug nicht verlässt. Die geschilderte Handlung könnte in Wirklichkeit genauso gewesen sein: Es treten keine Phantasiewesen wie Drachen, Engel, sprechende Tiere oder andere bekannte allegorische Elemente auf. Wir haben es hier weder mit einer Fabel noch mit einer Komödie zu tun. Keinesfalls soll bei der Parabel von den Arbeitern im Weinberg die ökonomische Dummheit des Weinbergbesitzers quasi komödiantisch in den Vordergrund gestellt werden, allen Arbeitern den gleichen Lohn zu zahlen, auch wenn einige von ihnen fast nichts gearbeitet haben. Die Parabel handelt von den in der Antike sozial schwächsten Wirtschaftssubjekten, den Tagelöhnern. Ein Tagelöhner musste jeden Tag aufs Neue zusehen, wie er 20

den Tagessatz eines Denars verdient, der zum Lebensunterhalt der Familie nötig war. Damit unterschieden sich Tagelöhner wesentlich von den Sklaven. Sklaven wurden quasi „komplett erworben“, damit gehörten sie zum produktiven Kapital des sie besitzenden Betriebs. Qualifizierte Sklaven waren zum Teil teuer und stellten daher eine wertvolle Investition dar. Die soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Absicherung qualifizierter, hochwertiger Sklaven war daher bedeutend besser als die der quasi „freiberuflich selbstständigen“ Tagelöhner; die Letzteren bildeten ein frühes kapitalistisches Prekariat. Der geschilderte vermögende Weinbergbesitzer ist wörtlich ein οικοδεσποτης (ökodespotes), ein „Beherrscher des Wirtschaftsbetriebs“; das wäre heute der geschäftsführende Alleingesellschafter des Unternehmens. Der Weinbergbesitzer handelte souverän und nicht der Norm entsprechend. Er zeigte objektiv ein Fehlverhalten, denn es wäre normativ einwandfrei  –  und den Gepflogenheiten entsprechend – gewesen, die Tagelöhner, die erst später am Tag die Arbeit aufnahmen, mit dem entsprechenden Bruchteil des Tageslohns nach Hause zu schicken. Das normativ korrekte Verhalten des Weinbergbesitzers hätte allerdings die wirtschaftliche Existenz der Tagelöhner gefährdet, da der Bruchteil des Lohns deren Lebensunterhalt nicht zu sichern vermochte. Daher kann man hier ein wohltätiges – aber paradoxes – gutes Fehlverhalten des Weinbergbesitzers identifizieren. Wir interessieren uns nicht weiter dafür, dass gleiche Löhne für ungleiche Arbeiten bekanntermaßen irritieren können – und wären diese Löhne auch noch so hoch angesetzt. Das uns interessierende eigentliche Paradoxon resultiert aus der in der Parabel beschriebenen Lohnwohltat, die zwar einerseits eine – auch vom Weinbergbesitzer so verstandene – „gute Tat“ ist, andererseits aber nicht als eine allgemeine normative Regelung taugt. Denn was würde passieren, wenn der Weinbergbesitzer an einem neuen Arbeitstag noch einmal den gleichen Lohn zahlte, egal wann die Arbeit aufgenommen worden wäre, und dies gar zum allgemeinen Prinzip, zur Norm, erheben würde? Rational-ökonomisch würden künftig alle Arbeiter natürlich danach streben, erst kurz vor Feierabend mit der Arbeit zu beginnen, denn es würde ja sowieso der gesamte Tageslohn gezahlt. Die guten Lohnwohltaten – das Zahlen des vollen Lohns für einen Bruchteil der Arbeit – des Weinbergbesitzers würden unweigerlich zu 21

dessen wirtschaftlichem Ruin führen, etablierte man sie zum Vorbild und zu einer (neuen) Norm. Wir können uns in der Phantasie sogar ausmalen, was die Kollegen des Weinbergbesitzers von dessen Wohltaten halten würden: Wahrscheinlich würden sie nicht gerade begeistert sein und protestieren, dass die bewährten Gepflogenheiten der Entlohnung derart sinnlos zerstört würden. Das Weinberg-Paradoxon zeigt uns eine Unvollständigkeit der normativen Ethik: Es gibt das ethisch „gut“ zu nennende Handeln, das sich einer Normierung entzieht – das ist der Ethos der nicht-normative Ethik. Das Paradoxon in der Parabel vom Weinberg wird von zwei weiteren – bei „guten Taten gegen die Norm“ typisch zu nennenden – Phänomenen begleitet, nämlich dem Prärogativ und dem Protest. Zum Prärogativ stellen wir fest, dass sich der Weinbergbesitzer die nicht der Norm entsprechende Wohltat despotisch und autokratisch herausnimmt. Er reklamiert für sich, dass er ja mit seinem eigenen Geld und mit seinen eigenen Leuten nach Belieben umgehen könne, auch wenn es eine ziemlich übertriebene Kulanz ist. Er fordert für sich das souveräne Prärogativ ein, eine Ausnahme von der gängigen Norm realisieren zu dürfen. Einen Protest erheben diejenigen Arbeiter, die sich durch die (an den anderen Arbeitern) begangene Wohltat des Weinbergbesitzers benachteiligt sehen. Ihnen hält der Hausherr entgegen, er könne nicht als böse angesehen werden, wenn er Gutes tue. Die bekannte Luther-Übersetzung mit „Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?“ ist etwas freier, aber prägnant. Wir kennen die Zeichnung von Rembrandt, wo einer der Tagelöhner dem Weinbergbesitzer verwundert und enttäuscht protestierend „einen Vogel zeigt“ – womit der Weinbergbesitzer als nicht ganz zurechnungsfähig und die Situation als absurd gekennzeichnet werden soll. Die Weinberg-Parabel mit dem Paradoxon, dem Prärogativ und Protest wie auch andere verwandte isomorphe Paradoxa fordern unsere Aufmerksamkeit. Worin ist der Sinn der Paradoxa zu suchen? Wir müssen für ein besseres Verständnis einige Strukturen der normativen Ethik erneut anschauen.

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Normative Ethiken entsprechen einer generellen Neigung des Menschen Wo können wir den Ursprung der normativen Ethik verorten? Könnte es denn sein, dass die Moral schlechthin „nichts als Illusion“ ist? Und die Ethik von daher den Gegenstand einer bloßen Fiktion lehrt? Michael Roth argumentiert, dass der Moral in der Tat ein schlüssiger rationaler Grund fehlt. Ein egoistisches Verhalten, aus einer Position der Überlegenheit heraus, ist rational begründet – weit mehr, als es ein empathisches „gutes“ Verhalten ist. Dies trifft sich mit Friedrich Nietzsches Diktum von der „Tüchtigkeit als neuer Tugend“, die das Glück des überlegenen Menschen in dessen Überwindung der „Moralen“ sieht. Könnte es aber andererseits sein, dass die Setzung von Handlungsnormen als ein Attribut der Macht verstanden werden muss? Irdische Gesetze gelten in einem staatlichen herrschaftlichen Machtbereich, auch religiöse Gebote sind an die Offenbarung einer göttlichen Macht geknüpft. Hans Kelsen sieht in seiner „Reinen Rechtslehre“ die Gestaltung von Gesetzen durch Herrschende als einen Vorgang, der beliebige normative Inhalte produzieren kann. Kelsen lehnt die Existenz eines „Naturgesetzes“ ab: Insbesondere die Setzung von Normen in den sogenannten Unrechtsstaaten zeige die Beliebigkeit und Willkür des Vorgangs. In der Konsequenz könnten wir die Entstehung von normativen Vorgaben an das Auftreten von herrschenden Personen knüpfen. Wie aber entsteht eine „Herrschaft“? Betrachten wir eine Gruppe begabter junger Menschen in einem sie herausfordernden Umfeld. Wir sehen etwa vier bis sieben Studierende, die sich in einem Seminar in Gruppenarbeit einer Aufgabenstellung widmen. Die Gruppe wurde durch das Los zusammengesetzt, die Leute kennen sich untereinander nicht oder kaum. Sie sind gemeinsam externen Normen verpflichtet, etwa einem Sorgfaltsgebot bei der Erstellung der Arbeit, einem Abgabetermin, etc. Die Frage ist, wie sich ihre gruppeninterne Kollaboration regelt. In der zunächst herrschaftsfrei23

en Gruppe („Wir sind ein gleichberechtigtes Team“) zeigen sich beim Auftreten komplizierter Situationen sehr bald Norm- und Hierarchiestrukturen. Wer der Studierenden kann in der Gruppe im Konfliktfall einen sinnvollen Kompromissvorschlag unterbreiten – als „Bestimmer“, wie er von Grundschülern bezeichnet würde? Wer kann beim nächsten Präsentationstermin im Seminar welchen Teil der Arbeit am besten vorstellen und gegenüber dem Auditorium vertreten? Die erfahrene Leserschaft dürfte in vergleichbaren Situationen – im Berufsleben, in Vereinen, in der gemeinsam verbrachten Freizeit – bemerkt haben, dass sich Führungsrollen quasi natürlich in einer Gruppe herausbilden. Biologisch könnte man formulieren, dass eine kleine Gruppe von Individuen der Art homo sapiens in einer Herausforderung sich fast immer ein Alpha-Individuum sucht. Der Mechanismus der Suche und das Finden von maßgebenden Personen scheint dem Menschen angeboren zu sein. Die den handelnden Menschen fortwährend begleitende ethische Frage „Was soll ich tun?“ sucht ihre offenbar natürliche Antwort in der normgebenden Hierarchie, die durch das Auftreten von Führungspersonen definiert wird. Dieser einfachste normativ-ethische Mechanismus braucht für seine Funktion keine geschriebenen und ausformulierten Gesetze. Die Ethik definiert sich über eine Führungsperson, die sagt, „was zu tun ist“. Diese Art Ethik ist damit aber auch abhängig von der zeitlichen und örtlichen Präsenz und Verfügbarkeit der jeweiligen Führungsperson. Unterstellen wir weiter, dass die in einer Gruppe gefundene natürliche Führungsperson sehr erfolgreich ist, aber leider irgendwann ausfällt. Dies ist im Berufsleben etwa der Fall, wenn der Gründer und „Übervater“ eines Unternehmens aus dem Betrieb ausscheidet. Das wird natürlicherweise früher oder später der Fall sein. Die nachfolgende Führungsperson wird angesichts der Erfolge des Vorgängers an diesem gemessen werden – sich gar messen lassen müssen. Wir sehen diese einfachste Form des Traditionalismus als eine weitere naheliegende ethische Normsetzung. Eine Erinnerungskultur an ehemalige führende Personen als Leitlinie für das aktuelle Handeln („Wir werden das Unternehmen in seinem Sinn weiterführen“) ist in allen menschlichen Kulturen und weltweit präsent. Wir dürfen annehmen, dass dieser Traditionalismus dem homo sapiens ebenfalls quasi angeboren ist. Selbstverständlich muss für eine solche einfache traditionalistische Ethik die Erinnerung an die ehemalige Führungsperson bewahrt werden. Dies gelingt zu24

nächst nach Maßgabe mündlicher Überlieferung im Sinne der fiktiven Beantwortung der Frage „Was hätte der Seniorchef dazu gesagt?“; diese wird aber irgendwann verblassen, wenn sie nicht explizit als normgebende Chronik verschriftlicht wird.

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Die Schrift – das wirkungsvolle „Es steht geschrieben“ –  ist wesentlich für die Modellierung normativer Gesetze und Gebote Mit der Verfügbarkeit der Schrift war und ist eine effektive Unterstützung der menschlichen Gedächtnisleistung gegeben. Die frühesten schriftlichen Aufzeichnungen waren wohl ökonomisch motiviert; es waren möglicherweise Listen und Tabellen, die für eine Art Buchführung gebraucht werden konnten. Hinzu kamen schon vor circa 4000  Jahren die ersten Aufzeichnungen von Erinnerungen an herausragende Führungspersonen. Sehr bekannt ist die sumerische Schilderung Gilgamesch; sie handelt von einem König von Uruk, seinen Taten und Erlebnissen. Ebenfalls in sumerischer Sprache abgefasst ist der Codex Ur-Nammu als die wohl älteste schriftlich erhaltene und überlieferte ethische Normsetzung. Die einzelnen Normen, die „Gesetze“, werden in Form von Konditionen dargestellt: „wenn Fehlverhalten, dann Sanktion“. Die Vergehen und die dazugehörigen Strafen werden aufzählend normativ festgesetzt. Algorithmisch gesehen handelt es sich bei diesen Gesetzen um bedingte Anweisungen (also Gesetze in Form von „Konditionen“) zur Programmierung der sozialen „Megamaschine Gesamtgesellschaft“. Man könnte in aktueller Fassung sogar so weit gehen, dass ein Fehlverhalten automatisch erkannt und auch automatisch sanktioniert werden kann – womit eine (Teil-)Automatisierung des Rechtswesens realisiert werden könnte. Wir kommen auf diesen Aspekt und den Begriff der „Megamaschine“ später zurück. Die schriftlich notierten Gesetze und Gebote repräsentieren ein Modell des richtigen – und hoffentlich guten – Handelns. Aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive sehen wir, dass sich der Modellbegriff aus der Mathematik und Physik heraus entwickelt hat und in andere akademische Disziplinen übernommen wur26

de. Klassisch ist die Diskussion der Atommodelle in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Zu großer ökonomischer Bedeutung sind physikalische Modelle für Wetterphänomene und die Wettervorhersage gelangt. Modelle in der Naturwissenschaft und Mathematik sind notwendigerweise abstrakte und vereinfachende Darstellungen der Realität; sie sind weniger komplex als die Realität selbst. Sie zeigen Teilaspekte der komplexen Realität und stellen nur eine Approximation der Wirklichkeit dar. Wir erkennen, dass die – frühen wie aktuellen – normativen Gesetze und Regelungen des formal richtigen Handelns einen Modellcharakter haben; wir sehen drei für Modelle typische Eigenschaften: Sie sind erstens abstrakt. Die Normen folgen einem Modell, das einfacher ist als die adressierte Realität selbst, es werden nur synoptisch die wesentlichen Eigenschaften des Fehlverhaltens aufgenommen. Dies ist eine Notwendigkeit, denn um zum Ziel zu gelangen, müssen die konditionalen Regelungen der Form „wenn Fehlverhalten, dann Sanktion“ notwendigerweise – und damit abstrahierend und vereinfachend – Nebenbedingungen weglassen. Sie sind zweitens funktional: Die Normen haben prädiktive und prognostische Eigenschaften; es sind ex ante Aussagen möglich, wie künftiges Fehlverhalten erkannt werden kann und wie dann per Sanktionierung zu verfahren ist. Sie sind drittens vermittelbar: Die Norm ist verständlich für die Betroffenen, für die sie gelten soll. Ein unverständliches Gesetz oder Gebot ist trivialerweise sinnlos. Es muss für eine Norm klar erkennbar sein, wie sie befolgt werden soll. Wenn ein Gesetz nicht verstanden werden kann, dann leidet darunter logischerweise das (Un-)Rechtsbewusstsein. Damit zeigen ethisch-normative Gesetze und Gebote, denen jeweils ein Modell der Gerechtigkeit zugrunde liegen muss, drei bekannte Eigenschaften, die generell allen Modellen zukommen. Das der Gesetzgebung zugrundeliegende Modell der Gesellschaft kann sich im kritisch-rationalen Sinn allerdings als falsch erweisen. Wenn neue bislang unbekannte Delikte auftreten, neue Randbedingungen berücksichtigt werden müssen oder gar Widersprüche im Gesetz entdeckt werden – dann muss man das Gesetz ergänzen oder ändern. Die permanente „Verbesserung“ der normativen Gesetze ist die bekannte Aufgabe der Normenkritik. Wir sehen eine Analogie: Der Falsifikation und Erweiterung von naturwissen27

schaftlichen Modellen im Rahmen des Kritischen Rationalismus entspricht die normenkritische Änderung oder Erweiterung von ethischen Normen. Bis auf ganz wenige Ausnahmen – das sind dahingehend keine kritisch-rationalen „Offenen Gesellschaften“ im Sinne von Karl Raimund Popper – kennen moderne Rechtssysteme und Gesetzgebungsverfahren die Möglichkeit, die gültige Gesetzeslage normenkritisch zu ändern und zu „verbessern“. Die Normenkritik hat ad infinitum immer zu tun. Diese permanente Normenkritik der falsifizierbaren normativen Gesetze ist die ständige Aufgabe der Legislative und der damit verbunden parlamentarischen Diskurse moderner Staaten und Gesellschaften.

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Alle Normen haben einen endlichen Geltungsbereich, sie privilegieren die Folgsamen und diskriminieren die Unbotmäßigen Eine normative Regelung – ein Gesetz oder ein Gebot – ist nur mit der Angabe eines Geltungsbereichs sinnvoll. Dieser Geltungsbereich hat typischerweise drei Dimensionen: zum einen die Geographie, meistens die Grenzen eines Staatsgebiets, oder auch der Einflussbereich einer Herrschaft, zum zweiten einen Zeitraum, ab wann die Norm gilt, beziehungsweise wieder ungültig wird, und drittens eine soziale Dimension, für wen die Norm gilt. Die Norm regelt und beansprucht für einzelne Personen die Zugehörigkeit zum – als dreidimensional erkannten – Gültigkeitsraum. Geschriebene und ungeschriebene normative Vorgaben für das individuelle Verhalten regeln die privilegierte Zugehörigkeit der Individuen zu Gruppen und sozialen Verbänden. Und umgekehrt sehen Gruppen das Einhalten normativer Vorgaben als Bedingung zu ihrer Zugehörigkeit. Auch hier erkennen wir das Prinzip in alltäglichen Phänomenen. Ungeschrieben, aber wirksam, ist die Einhaltung von Kleidungsgewohnheiten und Verhaltensweisen in Cliquen und Freizeitgruppen. Bei Schulkindern kann „falsches“ Verhalten, wie das Benutzen des falschen Spielzeugs, das Tragen der falschen Kleidung oder das Verletzen vereinbarter Tabus zum Ausschluss aus sozialen Gruppen führen – bis hin zum Mobbing mit entsprechenden katastrophalen Folgen. Bei bestimmten Berufen, bei der Polizei und beim Militär, auch beim Handwerk, ist eine Uniformierung das Zeichen für die Zugehörigkeit zum Berufsstand. In Sportvereinen ist das Tragen einheitlicher Trikots und Kleidung ein Kennzeichen des Teams. In studentischen Verbindungen fordert man von den Mitgliedern die Einhaltung eines sogenannten „Comments“ für Benehmen und Kleidung. 29

Die Einhaltung solcher normativen Vorgaben signalisiert das Privileg der Zugehörigkeit. Die unbotmäßige Nichteinhaltung hingegen schließt Individuen per Diskriminierung von der Gruppenzugehörigkeit aus. Das Beachten von Normen kann für den einzelnen Menschen erhebliche Vorteile haben. Die normativen Vorgaben bedeuten für das Individuum in den meisten Gesellschaften einen hohen sozialen Schutz. Das Individuum wird durch die Normen des richtigen Tuns vor Handlungen anderer Individuen geschützt, die ihm schädlich sein könnten. Wenn ein sogenannter „guter Bürger“ die Gesetze seines Landes achtet oder ein Gläubiger die Gesetze seiner Religion, dann stellt er sich in den Geltungsbereich der Gesetze und Gebote – und er erhofft sich davon Vorteile: Denn die gängigen Normen der Zivilgesellschaften sanktionieren Körperverletzung, Betrug, Diebstahl und andere Delikte. Die entsprechenden Vergehen werden zum Schutz der potenziell Betroffenen mit Sanktionen bewehrt. Generell gefährdet jedes Individuum, das sich nicht an „Recht und Gesetz“ hält, die soziale Gemeinschaft. Die gute Tat des Weinbergbesitzers in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg entspricht nicht der gängigen Norm. Der Weinbergbesitzer verlässt damit nicht nur die Gepflogenheiten, er stellt sich auch außerhalb des sozialen Geltungsbereichs der normativen Vorgaben. Ihn trifft der Protest der „Normal-Tagelöhner“, auch der Protest seiner Weinbergbesitzerkollegen dürfte nicht lange auf sich warten lassen. Der sehr kulante und humane Ansatz, allen Arbeitern den gleichen Lohn zu zahlen, hat eine sehr begrenzte gesellschaftliche Akzeptanz. Der Weinbergbesitzer argumentiert zwar, es könne ja nicht verkehrt sein, wenn er Gutes tue. Nichtsdestoweniger findet sich der gütige Weinbergbesitzer außerhalb der gängigen Norm wieder; er grenzt sich aus der normalen sozialen Gemeinschaft aus und ist damit ein outlaw spezieller Prägung. Die mangelnde allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz seiner Wohltaten könnte dem gütigen Weinbergbesitzer sogar gefährlich werden, sollte der Protest der normalen Arbeiter – der einschlägigen „Wutbürger“ – eskalieren.

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Das lokale „pseudo-gute“ Wohlergehen und der vergnügliche Hedonismus Die eingangs betrachtete zweite Szene handelt von einem quengelnden Schulkind im Verbrauchermarkt. Die Großmutter schenkt dem Enkel als „Wohltat“ ein Comic-Heft – gegen den Willen der Mutter. Wir sehen das als nicht-normatives gutes Handeln und unterstellen dabei, dass das Geschenk dem Enkelkind keine weiteren Nachteile bringt. Wir betrachten nun eine Variante der Szene, in der dem – im Übrigen leicht übergewichtigen – quengelnden Enkelkind kein Comic-Heft, sondern eine Süßigkeit geschenkt wird. Den Verzehr dieser Süßigkeit sieht das Kind in der begrenzten lokalen Situation zwar als schön und gut an, aber auf weitere Sicht wäre es besser gewesen, wenn das Kind verzichtet hätte, beziehungsweise ihm die Süßigkeit gar nicht erst geschenkt worden wäre. Der Protest der Mutter, die mit dem Kind ansonsten einen sorgfältigen Diätplan realisiert, hätte dann sehr wohl eine Berechtigung. Die modifizierte Szene zeigt, dass es ein nicht der Norm entsprechendes „pseudo-gutes“ Handeln gibt (wie das ausnahmsweise Beschenken des Kindes mit einer Süßigkeit). Es ist nur lokal als „gut“ zu taxieren. Über den begrenzten Genuss hinaus ist die Tat eher skeptisch zu beurteilen und – wie in unserem konkreten Beispiel – wegen ihrer langfristigen Schädlichkeit für den Diätplan abzulehnen. Wir erkennen, dass ein „gutes Handeln“ sehr wohl in einem gewissen – hinreichend großen – zeitlichen und örtlichen Horizont und Kontext beurteilt werden muss. Damit grenzen sich die Normenkritik und die nicht-normative Ethik vom Hedonismus und seinen Varianten ab. Unter dem Begriff „Hedonismus“ (von ηδονη – hedone – Vergnügen, Genuss) wird zum einen die Ethik des Epikur verstanden, dass aus der konsequenten Vermeidung von Mühen und Leiden die anzustrebenden Gemütszustände Vergnü31

gen und Genuss zu erreichen sind. Der Begriff „Hedonismus“ bezeichnet aber landläufig auch eine an Genüssen orientierte – mitunter egoistische und gar dekadente – Lebenshaltung. Die hedonistischen Pseudo-Wohltaten stehen manchmal unter dem Motto „Heute gönnen wir uns ausnahmsweise einmal etwas Gutes!“ – entgegen der allgemeinen Norm. Es wäre aber Verzicht geboten, da längerfristig die negativen Folgen des Vergnügens dasselbe zu schmälern vermögen. Normative Verzichtsethiken sind aktuell vielfach motiviert, sie verfolgen in aller Regel quasi „nicht-lokale“ und langfristige Ziele. Sie erscheinen zum Beispiel als Investition in die eigene Gesundheit. Selbstredend ist das permanente Verzehren üppiger Mahlzeiten, das Genießen alkoholischer Getränke etc. auf Dauer eher nicht nützlich. Die Verzichtsethiken verfolgen auch höhere Ziele, wie eine Bekämpfung des Klimawandels oder den Schutz der Umwelt. Verzichtsethiken adressieren den Aspekt der Mäßigung und der Reduktion der Kompliziertheit der Lebensumstände. Der hedonistische Philosoph Epikur erscheint nicht zuletzt auch als ein Philosoph des Maßhaltens: Zum carpe diem der hedonistischen Lebenskünstler gehört auch Friedrich Nietzsches Erkenntnis, wonach „ein Gärtchen, Feigen, ein kleiner Käse und dazu drei oder vier gute Freunde“ bereits die ganze „Üppigkeit des Epikur“ darstellen. Der Hedonismus grenzt sich von der nicht-normativen Ethik ab. Einerseits zeigt der Hedonismus keine Prärogative im engeren Sinn. Andererseits ist die nicht-normative Ethik kein Grund für Ausnahmen aller Art, sie erteilt kein Mandat für die sinnlose – situative – Maximierung von Genuss und Vergnügen, entgegen den allgemeinen Normen.

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Normen können absurd und schädlich sein, daher ist eine Normenkritik erforderlich Normative Vorgaben und Gesetze sind Modelle; sie werden durch die Anwendung von Abstraktion formuliert – und damit fallen Randbedingungen der konkreten Anwendungssituation notwendigerweise weg. Denn die normative Aufzählung aller Einzelfälle und potenziellen Ausnahmen ist unmöglich. Man könnte beispielsweise eine normative Vorgabe darin sehen, dass man keine fremden Sachen stehlen darf. Diese Vorgabe abstrahiert vom konkreten (gestohlenen) Gegenstand und gilt zunächst bedingungslos für alle Sachen und Situationen. Treten nicht berücksichtigte Randbedingungen doch ein, dann wird das normative Gesetz absurd oder schädlich. Wir wissen, dass die Konsequenzen einer Handlung in der Bewertung derselben bedeutsam sein können. Daher können allgemeine Normen, die bedingungslos und unabhängig von ihren Konsequenzen formuliert wurden, absurd sein. Beispielsweise muss der normativen Ethik, nicht zu stehlen, situativ im Einzelfall – daher normenkritisch – entgegengestellt werden, dass es eine gute Handlung sein kann, einem prospektiven Attentäter das Tatwerkzeug präventiv zu entwenden. Die spezifischen Randbedingungen müssten eine Rolle bei der Bewertung des Fehlverhaltens „Diebstahl“ spielen. Dass das Entwenden eines Tatwerkzeugs entgegen der Norm straflos bleibt, ist auf den ersten Blick nicht paradox. Interessant wird es, wenn man versucht, eine normative Vorgabe zu finden, wie ein prospektiver Attentäter sicher zu erkennen wäre, der straffrei bestohlen werden dürfte. Das Letztere wäre aber die Bedingung, um einen dergestalt erlaubten Diebstahl normativ juristisch fassbar zu machen und ex ante zu rechtfertigen. Die Norm, das Tatwerkzeug gar nicht oder erst nach vollzogener Tat dem Täter entwenden zu dürfen, ist offenbar absurd.

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Die Bobachtung, dass normative Ethik in Absurditäten münden kann, denen man normenkritisch zu begegnen hat, gilt auch für die normativen Vorgaben technischer Systeme und Automaten. Beispielsweise regelt das technische System Fußgängerampel per Lichtsignal, ob eine öffentliche Straße überquert werden darf. Eine singuläre Person müsste nun normativ korrekt auch nachts, wenn es regnet und kalt ist, eine rote Fußgängerampel beachten. Die vom technischen System vorgegebene Verhaltensregel ist aber absurd, denn für diese spezielle Situation – und diese Randbedingungen – wurde die Ampel offenbar nicht konstruiert. Die Fußgängerampel soll ja das reibungslose Zusammenwirken mehrerer Verkehrsteilnehmer regeln. Der Fußgänger in unserem Beispiel ist aber allein unterwegs. Vernünftigerweise sollte die Person daher besser entgegen der normativen Vorschrift das Ampelsignal ignorieren und ihren Weg fortsetzen. Woraus sich keinesfalls kasuistisch eine neue normative Regel für das generelle Missachten von Verkehrsregeln ergibt. Vielmehr wäre normenkritisch eine sinnvolle Verbesserung der Norm darin zu sehen, dass singuläre Verkehrsteilnehmer Regelungen der allgemeinen Verkehrssituation ignorieren könnten. Fassen wir den Aspekt der technischen Systeme etwas weiter, dann sehen wir in der alltäglichen sogenannten „digitalen Transformation“ in zunehmendem Maße normativ wirksame technische Systeme und Automaten. Die potenzielle Absurdität dieser quasi „normativ wirksamen“ Maschinen hat unsere besondere Aufmerksamkeit verdient. Wir kommen darauf zurück.

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Die Prärogative, wie Gnade und Kulanz, begegnen den Unzulänglichkeiten der Rechtssysteme Ein Prärogativ ist ein Vorrecht von (absoluten) Herrschern, Monarchen, generell von Führungskräften, das ihnen zusteht, oder das sie sich nehmen, ohne dass dies eine explizite gesetzliche normative Grundlage hätte. Die im Prärogativ handelnde Person macht damit deutlich, dass sie sich über dem Gesetz stehend sieht oder in einer Ausnahmehandlung die gegebene Norm nicht zu beachten gedenkt. Da die normative Grundlage fehlt oder missachtet wird, sind Prärogative nicht der Norm entsprechend. Ein schon vorgeschichtlich bekanntes Prärogativ und von Bedeutung auch in der aktuellen Rechtspraxis ist die Gnade. In modernen Rechtssystemen sind Gnadenbefugnisse und Gnadenerlasse Elemente einer nicht-normativen Ethik. Es kann kein normatives Recht auf Gnade geben – denn mit einem solchen Recht wäre die Gnade wieder eine (entgegen der Annahme) normative Instanz. Recht und Gnade stehen sich daher gegenüber – die Dialektik wird in der Redewendung „Gnade vor Recht“ erkennbar. Bezeichnenderweise hieß das italienische Justizministerium von 1932 bis 1999 offiziell „Ministero di Grazia e Giustizia“ (Ministerium für Gnade und Justiz), was den Gegensatz und die orthogonale Relation von Gnade und Recht betont. Gnade bedeutet, dass die nicht-normative Ausnahme höher gewichtet werden soll als die normative Anwendung des regulären Gesetzes. Das nicht-normative Prärogativ setzt eine souveräne Autorität voraus, die freiwillig, gar willkürlich, nach freiem Ermessen in ihren Entscheidungen agiert. Das Prärogativ ist situationsbezogen und kann nicht eingefordert werden wie eine vertraglich vereinbarte Leistung – es gibt „kein Recht auf Gnade“. Jeder Versuch einer juristischen Fassung der Gnadenpraxis ist per se untauglich und muss notwendigerweise scheitern. 35

Es gibt historische Beispiele, die zeigen, wie sehr „Gnade“ und „Recht“ auf direktem Konfrontationskurs sind. Im einem der Majdanek-Prozesse wurde 1981 die ehemalige Konzentrationslager-Aufseherin Hermine Braunsteiner-Ryan (1919–1999) wegen Beihilfe zu vielfachem Mord zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie zeigte vor Gericht keinerlei Reue. Im Jahr 1996 wurde Hermine Braunsteiner-Ryan – nun 77 Jahre alt – aufgrund ihrer schlechten Gesundheit von Ministerpräsident Johannes Rau begnadigt. Man kann lange darüber streiten, ob dieser Gnadenerlass sozusagen „verdient“ gewesen war – Frau Braunsteiner-Ryan war selbst weder gnädig noch einsichtig. Man kann weiter darüber streiten, ob die Gnade wirklich eine „Gnade“ war, die die Lebensumstände von Frau Braunsteiner-Ryan wesentlich verbessert hat. Man wird kaum zu einer juristisch sinnvollen Beurteilung eines solchen Falls kommen können. In einigen Staaten werden die gewährten herrschaftlichen Gnadenerweise geheim gehalten. Dies geschieht vor allem aus zwei Gründen: einerseits, um eventuellen Protesten gegen den Gnadenerlass keine Nahrung zu geben, und andererseits, damit die nicht-normativen Gnadenerlasse keine kasuistische Vorbildfunktion für spätere Fälle und Entscheidungen erlangen. Ein Prärogativ in der praktischen gewerblichen Wirtschaft ist die Anwendung von Kulanz. Darunter versteht man das Entgegenkommen zwischen Vertragspartnern, typischerweise kommt der überlegene dem unterlegenen Partner souverän entgegen. Für eine Kulanz besteht keine besondere normative Rechtsgrundlage oder Pflicht. Ein Kulanzfall kann von daher kein Gegenstand von Geschäftsbedingungen oder Verträgen sein, Kulanz ist kein Rechtsbegriff im engeren Sinn. Eine „Regelung per Kulanz“ ist sinnvoll – der Begriff der „Regelung der Kulanz“ ist hingegen eine Kontradiktion. Um eine kulante Erledigung ihres Anliegens ersuchen typischerweise Kunden, die gegenüber einem Händler oder Dienstleister eine unbillige Härte reklamieren, die dieser mit relativ geringen Kosten vermeiden oder mildern könnte. Wird eine Kulanz abgelehnt, so kann dagegen kein normativer Rechtsweg bestritten werden. Vergleichbar den Gnadenerlassen der Staatsoberhäupter werden auch Kulanzleistungen von den Kaufleuten nicht „an die große Glocke gehängt“. Man möchte sich einerseits nicht den Protest und den Unmut der normalen Kunden zuziehen, die sich benachteiligt sehen könnten, andererseits sollen auch hier keine kasuistischen Präzedenzfälle geschaffen werden. 36

Wird ein Kulanz-ähnliches Verhalten normativ festgeschrieben, etwa als vollumfängliches bedingungsloses Waren-Rückgaberecht der Kunden, so führt das unter Umständen zu wahllosen Käufen und darauf folgenden Rückgaben der – dann – gebrauchten Waren. Dies kann für den Händler aufwendig und teuer, gar ruinös sein. Wir erkennen daher die wohltätige Kulanz als ein normativ nicht sinnvoll fassbares Paradoxon.

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Das göttliche Prärogativ ist ein Attribut absoluter göttlicher Herrschaft, die den Geboten nicht untertan ist Über Prärogative in der Form von Gnadenbefugnissen verfügen typischerweise absolute, aber gnädige Herrscher. Es muss nicht verwundern, dass in diversen Religionen eine nicht normativ fassbare Gnade ein Attribut des – ansonsten gerechten – allmächtigen und die Welt beherrschenden Göttlichen ist. Recht und Gnade erscheinen in einem dualistischen orthogonal-komplementären Verhältnis. Die Frage nach den Attributen des Göttlichen in den Abrahamitischen monotheistischen Religionen sollte allerdings den erheblichen grammatikalischen Unterschied zwischen semitischen und indogermanischen Sprachen beachten. Wir sehen uns erinnert an die bekannte These von Benjamin L. Whorf, nach der die Grammatik den Gedanken formt: Das Hebräische kennt kein Verb für „sein“ im Sinne der indogermanischen Sprachen. Man schildert nicht den Zustand, sondern die Handlung, die zu diesem Ergebnis geführt hat. Die griechische Ontologie fragt, was hinter den Phänomenen „ist“. Die jüdische Ontologie fragt, welche Handlung zu diesem Sein „geführt“ hat und mit welcher Bedeutung für das menschliche Leben es versehen ist. Etwas verkürzt könnte man sich den Unterschied mit „kausal versus teleologisch“ verdeutlichen. Das Bild des „säenden Sämanns“ in der Parabel bei Markus, Kapitel 4 beschreibt einen solchen Handlungsmodus: Die Investition in eine Aussaat – als „Impuls nicht-normativer Ethik“ – erfolgt mit einem gewissen Ziel: der teleologisch zu sehenden Rendite des gedeihenden und wachsenden Getreides. Mit einer ähnlichen teleologischen Diktion sehen wir die Jesuanischen Sprüche, die mit der Wendung „Ich bin gekommen, um …“ beziehungsweise „Ich bin nicht gekommen, um …“ eingeleitet werden, etwa bei Matthäus, Kapitel 5. 38

So erscheinen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit nicht als Attribute Gottes, sondern als göttliche Handlungsmodalitäten. Die göttliche Modalität Middat haDin heißt „streng gesetzestreu“, die göttliche Modalität Middat ha-Rahamin heißt „allbarmherzig“. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, damit der Mensch sowohl gerecht als auch gnädig sei – ganz wie Gott selbst. Im Denken rabbinischer Prediger findet sich die feine Ironie, wie auch Gott seine Schwierigkeiten hat, beide gegensätzliche Middot, die strenge Gerechtigkeit und verzeihende Gnade, ins Lot zu bringen. Gott tendiert in skandalöser Weise dazu, das Erbarmen inkonsequent wichtiger zu nehmen als die Gesetztreue. Der Mensch befindet sich also auch  –  im Bestreben, ein „gutes Leben“ zu führen – stets zwischen den beiden sich widerstreitenden Ansprüchen von Rechtsprinzip und Barmherzigkeit. In dieser Spannung muss er sich ebenso wie Gott bewähren, um beides in einem die Welt erhaltenden Gleichgewicht zu halten. Das wäre der rabbinische Sinn, wenn Jesus zur Ehebrecherin sagt: „So verdamme auch ich dich nicht, aber sündige hinfort nicht mehr.“

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Der von Kant formulierte kategorische Imperativ erscheint als eine inhaltslose Formel Die Geschichte der Ethik gelangt bei Immanuel Kant an einen beachtenswerten Punkt. Kant formuliert den sogenannten „kategorischen Imperativ“. Er nennt das von ihm gefundene Ergebnis eine „Entdeckung“ und meint, damit das allgemeine und grundlegende Prinzip aller Ethik gefunden zu haben. Der kategorische Imperativ lässt sich ungefähr so formulieren: „Handle allein nach denjenigen Prinzipien und Werten (Maximen), für die du zugleich annehmen kannst, dass sie für ein allgemeines Gesetz taugen.“ Damit wird allen Menschen geboten, ihre Handlungen darauf zu prüfen, ob ihre normativen Grundlagen prinzipiell für alle und jederzeit gelten könnten. Der kategorische Imperativ ist für Kant das einzige relevante Handlungsprüfsystem: Um zu beurteilen, ob eine Handlung ethisch vertretbar ist, muss man diese Handlung quasi „nur noch“ durch Abstraktion in eine allgemeine Regel verwandeln. Dann wird beurteilt, ob die Regel als allgemeines Gesetz  –  ohne Widerspruch – gedacht und gewollt werden kann. Die schlechten Handlungen sind an einer Widersprüchlichkeit erkennbar, die auftritt, wenn sich alle handelnden Menschen an der gefundenen zugrunde liegenden abstrakten Norm orientieren wollten – dies aber nicht möglich ist. Die von Kant gemeinte Widersprüchlichkeit müsste nicht zuletzt so interpretiert werden: Durch das Paradoxon in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg muss die Tat des Weinbergbesitzers als „schlecht“ klassifiziert werden, da das Paradoxon ja einen Widerspruch darstellt und die Tat keine allgemeine Norm werden kann. Das hätte in ähnlicher Form für andere identifizierte Paradoxa im Kontext guter Handlungen zu gelten. Wir werden später sehen, dass einige der Jesus von Nazareth zugeschriebenen Parabeln und Episoden Paradoxa zeigen. Wir dürfen daraus schließen, dass die nicht der Norm entsprechenden Jesuanischen ethischen 40

Modelle eben nicht von Kants Modell des kategorischen Imperativs umfasst werden können, da sie keine allgemeine Maxime darstellen; Kants Anspruch an ein universelles ethisches Modell erfüllen sie also nicht. Eine Norm, die ein gutes Leben allgemein zu regeln in der Lage ist, wäre ein harmonisches „Kant’sches Idyll“: Die menschliche Gemeinschaft wäre in einem beschaulichen und friedlichen Zustand angelangt; die Normen müssten für ein quasi „allgemein gutes Leben“ nur noch akzeptiert und befolgt werden. Schon in klassischer Zeit wirft Arthur Schopenhauer Kant vor, dass dessen Ethik kein ausreichend gerechtfertigtes Fundament habe. Schopenhauer sieht bei Kant das Muster einer theologischen Moral (die der Zehn Gebote), die auf einer göttlichen Instanz aufbaut. Da Kant aber eine solche göttliche Instanz für den kategorischen Imperativ explizit ausschließt, beraube er sich selbst seiner Grundlage. Kant unterscheide nicht zwischen der Form einer Ethik und ihrer Begründung. In der Mitte des 20. Jahrhunderts spricht Hans Kelsen von den „inhaltslosen Formeln der Gerechtigkeit“. Es sei in vielen Jahrhunderten intensiven Philosophierens offenbar nicht gelungen, die Prinzipien einer „absoluten Gerechtigkeit“ als Maßstab einer allgemein gültigen Ethik zu finden und zu formulieren. Es bleibe bei einer „relativen Gerechtigkeit“ als Ausgleich der in der Debatte situativ vorgebrachten (Macht-)Interessen. Diesen Ausgleich versuchte in antiker Zeit Aristoteles zwar mathematisch formal (als „Mesotesformel“) zu finden, indem er davon sprach, dass die Tugend das genaue Mittel zwischen den Extremen „Unrecht-Tun“ und „Unrecht-Erleiden“ wäre. Freilich läuft Aristoteles damit in eine Tautologie, da er die Extrema als bekannt voraussetzt – die es erst zulassen, die gesellschaftlich akzeptierte „Mitte“ zu konstruieren. Kants kategorischen Imperativ nennt Hans Kelsen ebenfalls „inhaltslos“. Mit dem kategorischen Imperativ sei ja jede beliebige normative Gesellschaftsordnung vereinbar – Kant sage ja nichts anderes, als dass jeder Mensch im Einklang mit einer allgemeinen Norm zu handeln habe. Dies stellt den kategorischen Imperativ in eine Reihe mit dem Jedem das Seine (dem ins infame – wie die Torinschrift am Konzentrationslager Buchenwald – dehnbaren suum cuique) und der Goldenen Regel quod tibi non vis fieri, alteri ne feceris, also: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.“ Alle diese Ansätze vermögen beliebige Gesellschaftsordnungen im Allgemeinen und generelle Vorschriften im 41

Besonderen zu rechtfertigen. Diese Möglichkeiten erklären, so Hans Kelsen, warum diese „inhaltslosen Formeln der Gerechtigkeit“  –  gerade wegen ihrer universell verwendbaren völligen Leerheit – als scheinbar befriedigende Antworten auf die Frage nach Gerechtigkeit und nach einer „kompletten universellen Ethik“ hingenommen werden. Aus Kants Kategorischem Imperativ ist das paradoxe gute Fehlverhalten nicht ableitbar: Kants Anspruch, eine komplette universelle Ethik gefunden zu haben, wird nicht zuletzt durch die Strukturen widerlegt, die das Weinberg-Paradoxon zeigt.

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Die drei zentralen Elemente der nicht-normativen Ethik Mit diesen Überlegungen können wir drei Elemente der nicht-normativen Ethik identifizieren, das Prärogativ, das Paradoxon und den Protest: Zum Ersten: Ein Fehlverhalten wird – im Prärogativ – nicht sanktioniert, weil die Einhaltung der Norm zu absurden oder gar schädlichen Ergebnissen geführt hat. Es wird erkannt, dass die Verurteilung des Fehlverhaltens – wegen noch nicht hinreichend beachteter – impliziter oder expliziter Randbedingungen nicht ethisch vertretbar ist. Die eigentlich zu verhängende normative Strafe wird daher erlassen. Die nicht-normative Ethik äußert sich etwa in Gnadenerlassen, wo das Fehlverhalten eines Täters nicht weiter belangt wird. Wir sehen nicht-normative Prärogative, die vom Motto „Gnade vor Recht“ geleitet werden. Zum Zweiten: Ein Verhalten (oder Fehlverhalten – das ist wegen des Paradoxons egal!) wird als „gut“ erkannt, es entzieht sich aber einer normativen Fassung. Das (Fehl-)Verhalten ist kein kasuistisches Vorbild, es ist paradoxerweise keinesfalls künftig normativ brauchbar. Wie das Weinberg-Paradoxon zeigt, ist es sogar möglich, dass Wohltaten, in normative Vorgaben umgesetzt, schädliche Folgen haben können – wie den sicheren Ruin des Weinbergbesitzers. Das Paradoxon kann so weit gehen, dass die gute Tat simultan ein Vergehen gegen eine bestehende (andere) Norm mit sich bringt. Zum Dritten: Eine Wohltat oder Gnade gegenüber Personen, die diese „eigentlich gar nicht verdient haben“ ruft den Protest der Vertreter des Normativen hervor. Die eigentlich per se gute Tat wird verurteilt. Im politischen Raum sehen wir diesen Protest typischerweise von reaktionären Kräften vertreten, die offenbar fürchten, eine nicht-normative Wohltat würde das bewährte Sozial- und Rechtsgefüge ruinieren. Die nicht-normative Ethik zeigt quasi den Unvollständigkeitssatz der normativen Ethik. Es kann nur ex post gesagt werden, dass eine eben bereits geschehene Tat eine „gute Tat“ war. Wegen des Paradoxons kann die „gute Tat“ keine sinnvollen ex ante Vorgaben für künftiges formal richtiges Verhalten geben. 43

Wir sehen als ersten Aspekt ein Prärogativ, das eine bestehende Norm relativiert. Im zweiten Aspekt der Paradoxa lässt sich eine Norm gar nicht erst finden. Der dritte Aspekt des reaktionären Protests ist eigentlich substanzlos; die Protestierenden können in der Regel weder einen schlüssigen Grund für ihren Unmut vorbringen, noch sind sie in der Lage, eine sinnvolle Handlungsalternative zu entwerfen – es bleibt bei der bloßen destruktiven Opposition. Die drei Aspekte finden sich par excellence in der Parabel vom Weinberg: 1. Der Weinbergbesitzer fordert für sich als Prärogativ das nicht der Norm entsprechende Zahlen gleichen Lohns für ungleiche Arbeit. 2. Dem Weinbergbesitzer dürfte klar sein, dass die paradoxe Zahlung kein Maßstab für eine künftige Lohnpolitik in seinem Unternehmen sein kann. 3. Der Weinbergbesitzer akzeptiert den Protest der „normativen“ Arbeiter nicht und begründet dies. Im Sinne einer Nebenbemerkung zu unserem Untersuchungsgegenstand lässt sich zum „guten Fehlverhalten“ (wie es der Weinbergbesitzer zeigt) symmetrisch ein „schlechtes Wohlverhalten“ identifizieren. Ein der Norm der richtigen Taten und dem geltenden Gesetz entsprechendes Verhalten kann anderen Menschen schaden. Bei Markus, Kapitel 12, Verse 38 bis 40, werden Angehörige des der Norm genügenden Establishments von Jesus von Nazareth verurteilt; wir lesen: Und er lehrte: „Hütet euch vor den Akademikern, die in feinen Kleidern herumlaufen und in der Öffentlichkeit jeden freundlich grüßen. Diese sitzen in der Synagoge ganz vorne und haben bei Empfängen immer die besten Plätze. Sie sprechen scheinheilig lange Gebete – aber sie fressen den Witwen die Häuser weg: Diese Leute werden über die Maßen verurteilt werden.“

Diese Verurteilung adressiert die Akademiker als die Vertreter des herrschenden normativen Systems. Sie legen auf ihre soziale Stellung großen Wert, ansonsten schaden sie skrupellos den sozial Schwachen zur Mehrung ihres eigenen Vermögens. Sie bewegen sich im Rahmen des gesetzlich Möglichen, man kann ihnen daher normativ weiter nichts anhaben. Das „schlechte Wohlverhalten“ in 44

der Jetztzeit erscheint in Gestalt von – jeweils juristisch völlig korrekten – Kredit-Übervorteilungen, überzogenen Mieterhöhungen, wahllosen Abmahnungen und dergleichen mehr. Wir sehen, dass das gemeinsame Auftreten von Paradoxa, Prärogativen und Protest im Metier der nicht-normativen Ethik durchaus häufiger der Fall ist. Nichtsdestoweniger ist das, was wir unter der nicht-normativen Ethik verstehen wollen, schon in der Antike bemerkt und literarisch aufgegriffen worden.

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Frühe Schilderungen nicht-normativer Ethik finden sich bei Aischylos in der Orestie Der griechische Tragödiendichter Aischylos schildert vor circa 2500  Jahren in seiner dreiteiligen Orestie als einer der ersten die grundlegende Problematik der Unvollständigkeit normativer Rechtssysteme – und zeigt durch Anwendung einer nicht-normativen Ethik den Ausweg aus einer akut kritischen Situation. Wir rufen uns einige Elemente aus der Handlung der Orestie in Erinnerung: Agamemnon, der Sieger im zehnjährigen Trojanischen Krieg, opfert auf eine göttliche Weisung hin seine Tochter Iphigenie für günstige Winde für die Heimfahrt. Zu Hause angekommen, mit seiner aus Troja mitgebrachten Begleiterin Kassandra, tötet ihn dafür seine Frau Klytaimnestra, die dafür ihrerseits – samt ihres Geliebten – von ihrem Sohn Orestes (dessen Vater Agamemnon war) ermordet wird. Dieser wiederum wird dafür von den Rachegöttinnen (Erinnyen – Furien) verfolgt und in einem Gerichtsverfahren des Mordes an der Mutter angeklagt. Das Gericht ist sich nicht einig, wie zu verfahren sei. Einige Richter fordern normativ die Todesstrafe für Orestes wegen Muttermordes, andere wollen ihn freisprechen, um nicht eine unendliche Kette gegenseitiger und fortgesetzter Racheakte zu fördern. Die Erinnyen protestieren und warnen zornig vor einem Freispruch – das würde das traditionelle Rechtssystem, das eine Todesstrafe für Mord an direkten Blutsverwandten zwingend fordert, schwer beschädigen. Die Stimmengleichheit der Richter löst die Göttin der Weisheit, Athene, auf: Sie greift in den Prozess ein, und mit ihrer Stimme lautet das Urteil dann mehrheitlich „Freispruch“. Athene begründet ihr Eingreifen damit, dass es in diesem schwierigen Fall den Menschen unmöglich sei, über die Schuld befinden zu können. Die Kette von Gewalt und Rache und erneuter Rache ist mit dem Freispruch – entgegen der Norm – durchbrochen. 46

Die Tragödie des Aischylos fasziniert  –  und wurde wohl gerade deshalb über all die Jahrhunderte in der Überlieferung weitergegeben und damit bewahrt. Sie schildert mit dem Freispruch für Orestes ein sehr frühes Beispiel typischer nicht-normativer Ethik: 1. Das gnädige Urteil ist paradox, denn es ist sicher kein kasuistisches, normatives und generelles Gutheißen von Muttermord. 2. Das Urteil der Athene kann als ein Prärogativ der über dem irdischen Gerichtswesen stehenden souveränen Göttlichkeit gesehen werden. 3. Typisch auch der Protest der Erinnyen. Der tragische Orestes wird situativ freigesprochen, ex post, nur für die spezifische Situation. Der Vorgang entzieht sich jeder normativen Fassung, denn es geht von der Gnade der Athene keine ex ante verwertbare kasuistisch-ethische Weisung aus, dass ein Mord gutgeheißen werden könnte. Es bleibt bei der Erbauung der Zuschauer durch die im Schauspiel miterlebte Tragik.

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Die nicht-normative Ethik ist keine Normenverschiebung, wie sie die Fälle von Judith und Holofernes und Wilhelm Tell zeigen Das Buch Judith wurde vor gut 2000 Jahren verfasst und von Martin Luther als Apokryphe eingeordnet. Das Buch ist nicht zuletzt wegen der Holofernes-Episode sehr bekannt. Die Judith mit dem Haupt des Holofernes ist unzählige Male ein Motiv in der Malerei gewesen. Holofernes, der militärische Führer der Assyrer, belagert die Stadt Betulia. Die Einwohner hoffen auf göttliche Rettung. Judith ist eine fromme, reiche und attraktive Witwe aus Betulia. Sie geht mit ihrer Magd und einer Menge Wein zu den Truppen des Holofernes, wo sie wegen ihrer Schönheit bis in das Zelt von Holofernes vorgelassen wird. Holofernes lädt sie zu einem Gelage ein, in Erwartung einer Liebesnacht. Judith hingegen macht Holofernes mit dem mitgebrachten Wein völlig betrunken und bringt den Wehrlosen dann um – sie enthauptet ihn. Judith kehrt mit dem Kopf des Holofernes nach Betulia zurück. In der Folge bricht unter den assyrischen Angreifern eine Panik aus, und die Bewohner der Stadt Betulia sind die Sieger. Die Geschichte handelt von einem besonders heimtückischen Mord – das Opfer hat sich unter Einfluss sexueller Begierde mit dem angebotenen Wein betrunken und ist faktisch völlig wehrlos. Für Holofernes besonders ehrabschneidend ist, dass er ausgerechnet von einer Frau getötet wurde. Die Tat der Judith ist als Mord normativ zu verurteilen, denn sie ist keine Soldatin, die unter speziellen militärischen Bedingungen – etwa einer Kriegserklärung – operiert. Eine Anklage und Verurteilung unterbleiben, weil das Ergebnis der Tat für die Stadt Betulia von erkennbar hohem Nutzen ist. 48

Die Gestalt des Wilhelm Tell ist nicht exakt historisch, sondern nur legendär zu fassen. Seit vielen Jahren gilt Tell als der Nationalheld der Schweiz. In der Legende Wilhelm Tell befestigt der sprichwörtlich „böse Landvogt“ Geßler in der Ortschaft Altdorf in der Innerschweiz seinen Hut (den ebenfalls sprichwörtlichen „Geßlerhut“) auf einer Stange und ordnet an, diesen Hut jedes Mal – als Referenz an die Herrschaft Habsburg – zu grüßen, wenn man daran vorbei geht. Wilhelm Tell verweigert den Gruß. Zur Strafe muss Tell einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schießen. Tell trifft den Apfel. Er bekennt aber, wenn er sein Kind getroffen hätte, wäre ein vorrätiger zweiter Pfeil für den Vogt bestimmt gewesen. Der Vogt lässt Tell darauf festnehmen und will ihn gefesselt auf seine Burg nach Küssnacht überführen. Auf dem Weg dorthin, per Boot über den Vierwaldstättersee, bringt ein Sturm Gefahr und Tell wird entfesselt, um das Boot zu lenken. Geschickt steuert er zum Ufer und springt dort vom Boot. Er eilt nach Küssnacht voraus und erwartet den Vogt in einem Hohlweg – und erschießt ihn aus sicherem Hinterhalt. Tell wird so zum Tyrannenmörder. Die Geschichte des Wilhelm Tell zeigt nicht zuletzt auch ein Beispiel für die Absurdität des Normativen. So fragt Friedrich Schiller rhetorisch: „Was für ein Fastnachtsaufzug und was soll der Hut?“ in seinem Drama Wilhelm Tell. Max Frisch weist darauf hin, dass das Beachten der normativen Vorgabe des „Hut-Grüßens“ den erheblichen Vorteil gehabt hätte, dass der damalige mittelalterliche Sommertag in der Innerschweiz wohl ruhiger verlaufen wäre. Das Missachten der normativen Vorgaben hingegen bedeutete öffentlichen Anstoß und Aufsehen. Das Fehlverhalten Tells sollte daher sanktioniert werden – Tell entzieht sich freilich der Sanktion. Max Frisch legt schlüssig dar, dass der Aufstand um Wilhelm Tell kein Aufstand von Entrechteten war; die frühen Eidgenossen waren durchaus etablierte grundbesitzende Bauern. Der Aufstand ist eher als ein Protest gegen die Absurdität des Normativen zu werten. Die Geschichte des Wilhelm Tell und das Buch Judith erzählen jeweils von besonders heimtückischen Morden. In beiden Fällen ist das Opfer faktisch völlig wehrlos, weil der Gegner nicht offen erkennbar ist. Judith agiert heimtückisch, auch Wilhelm Tell handelt aus einem Hinterhalt. 49

Die Tat des Wilhelm Tell ist daher – wie die der Judith – als ein Mord normativ zu verurteilen. Aber auch die Verurteilung Tells unterbleibt, weil das Ergebnis der Tat für die gesamte Konstitution der Schweizer Eidgenossenschaft von essentiellem Nutzen war – und immer noch ist. Wir können anhand der Fälle des Buchs Judith und der Legende Wilhelm Tell eine wichtige Abgrenzung der Normenverschiebung zur nicht-normativen Ethik verdeutlichen. Beide schildern keine Prärogative, auch keinen Protest, und beide zeigen keine Paradoxa. Sie schildern „nur“ eine normenkritische Verschiebung der gültigen Norm; es entsteht ein neues (Teil-)Normensystem. Die Tötungen werden nur wegen der nützlichen Folgen der Tat und nach Maßgabe der (neuen) Machtverhältnisse nicht geahndet. Die Norm „Tötungsverbot“ existiert nach wie vor, und sie wäre angewendet worden: Denn wäre es den Truppen des Holofernes gelungen, sich neu zu arrangieren, oder hätte es eine Habsburger Polizeiaktion in der damaligen Innerschweiz gegeben, dann wäre die normative Bestrafung der jeweiligen Täter – Judith und Wilhelm Tell – nach der eigentlich herrschenden Norm ziemlich sicher gewesen. Prägnante Normverschiebungen zeigen sich selbstverständlich auch in der Neuzeit, wie dies etwa das Schicksal von Nelson Mandela (1918–2013) zeigt, der sich im Widerstand gegen die Apartheidpolitik seines Landes engagierte. Mandela hat aufgrund seiner – nach der damals herrschenden Norm kriminellen – Aktivitäten von 1963 bis 1990 insgesamt 27 Jahre in Haft verbracht. Mandela war ein Wegbereiter zu einem neuen demokratischen Staat in Südafrika: Nachdem sich die Herrschaftsverhältnisse und damit die gültigen Rechtsnormen in der Republik Südafrika grundlegend geändert und verschoben hatten, war der ehemalige Häftling Mandela von 1994 bis 1999 der Präsident der Republik. Der Gegenstand der nicht-normativen Ethik grenzt sich von einem „nützlichen Fehlverhalten“ ab, das lediglich deshalb nicht sanktioniert wird, weil es eine lokale Verschiebung der Normen bewirkt, die den Täter schützt. Revolutionäre werden – je nach Erfolg und daraus resultierenden Verschiebungen der herrschenden Normen – entweder als Verbrecher verurteilt oder als Helden gefeiert. 50

Die Evangelien enthalten eine ganze Reihe von Parabeln und Episoden, die von nicht-normativer Ethik handeln Die vier Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) haben für fast die gesamte Weltkultur  –  wenigstens indirekt  –  eine fulminante Bedeutung. Die Schriften überliefern biographische Skizzen zur Person des Jesus von Nazareth und sie berichten – nicht zuletzt – von seiner diesseitigen Lehre als praktischer Philosoph. Jesus von Nazareth wird einige Jahre „vor Christus“ in Nazareth geboren, einem ansonsten unbedeutenden Dorf südwestlich des Sees Genezareth. Jesus und seine Familie waren als Handwerker auf dem Bau tätig (mit der Berufsbezeichnung τεκτων – tekton). Luther übersetzte den Begriff „tekton“ mit „Zimmermann“. Jesus übte von Hause aus einen handwerklich-technischen Beruf aus; er war in eine konkrete ökonomische Situation eingebunden. Jesus und seine Familie kannten beruflich Kunden, die sich eine Bautätigkeit leisten konnten, darunter waren wohl auch solche, die dem römischen und hellenistischen Kulturkreis verbunden waren. Auch die damaligen Bauhandwerker brauchten einen relativ großen Kundenkreis: Denn von nur wenigen Kunden konnten – und können bis heute – Handwerker kaum leben. Jesus kannte also viele Leute, und diese dürften in der Regel nicht völlig arm gewesen sein. Er dürfte damit trotz seiner provinziellen Herkunft über einen gewissen sozialen Horizont verfügt haben. Jesus von Nazareth war von Hause aus nicht mittellos, und er hatte später als Wanderprediger ökonomische Unterstützer und finanzielle Förderer. Es ist in den Evangelien nie die Rede davon, dass Jesus und seine Schüler als Bettler aufgetreten wären. Im Gegenteil besaßen Jesus und seine Leute offenbar Geld. Wenn bei Johannes, Kapitel 4, Vers 8, gesagt wird, dass man in die Stadt ging, um Nahrungsmittel zu kaufen, dann lässt dieser Umstand auf verfügbare Geldmittel schließen. 51

Ungefähr die Hälfte der von und über Jesus überlieferten Parabeln und Episoden haben irgendetwas mit Ökonomie zu tun; es ist von Geld, Unternehmern, Schulden etc. die Rede. Aus all dem können wir schließen, dass Jesus durchaus ein von der damaligen ökonomischen Lebenspraxis geprägter praktischer Philosoph war. Der historische Jesus hat allerdings selbst keine eigenen philosophischen Schriften verfasst, die uns bekannt wären. Nach der Überlieferung der Evangelien propagiert Jesus in seinen Parabeln und Episoden eine neue und wünschenswerte diesseitige gesellschaftliche Ordnung, ein weltliches „Reich Gottes“ (die βασιλεια – basileia). Die berühmte Formulierung in Matthäus, Kapitel 6, Vers 10, hat einen sehr diesseitigen Anspruch im Hier und Heute. Geraten soll dein Königtum; erfüllt werden soll dein Wille im Himmel, und auf der Erde.

Jesus tritt nicht nur normenkritisch auf, indem er sich radikal gegen die Privilegierten wendet und Partei für die Diskriminierten ergreift. Er ist darüber hinaus der Lehrer einer nicht-normativen Ethik, die er mittels der in den Parabeln dargestellten Analogien fallbasiert vermittelt. Er erfährt mit seiner Lehre eine hohe Akzeptanz und sammelt in Galiläa eine nennenswerte und aufsehenerregende Anhängerschaft um sich. Wir können heute nicht mehr ergründen, wieso ausgerechnet ein gelernter Bauhandwerker als philosophischer Lehrer einer neuen humanitären Gesellschaftsordnung auftritt. Das ist quasi ein Wunder auf eigene Weise. Es ist für unsere Betrachtungen allerdings nicht entscheidend, ob die Parabeln und Episoden in den Evangelien textkritisch auf tatsächliche Reden und Taten des historischen Jesus von Nazareth zurückgeführt werden können. Es geht uns hier lediglich positivistisch um den überlieferten Inhalt der Texte. Die Parabel von den Arbeitern im Weinberg mit ihrer Typik von Prärogativ, Protest und Paradoxon haben wir schon gelesen. Die Episode von der Ehebrecherin zeigt ein zweites wichtiges Beispiel der Jesuanischen nicht-normativen Ethik. Die Episode findet sich im Johannes-Evangelium, Kapitel 8, Verse 1 bis 11. Es geht um eine prospektive Steinigung als eine der da52

maligen Norm entsprechende und juristisch korrekte  –  allerdings höchst menschenverachtende – Strafe. Die Episode hat sich am Morgen auf dem Tempelgelände in Jerusalem zugetragen. Es treten Schriftgelehrte und Pharisäer auf und bringen eine Frau mit sich, die beim Ehebruch ergriffen worden ist. Die Schriftgelehrten wollen anhand dieses Falls von Ehebruch (als einem Fehlverhalten) ergründen, wie Jesus zum Alten Gesetz des Moses steht und fragen daher „Mose hat geboten, solche zu steinigen – was sagst du?“ Jesus aber bückt sich und schreibt oder zeichnet mit dem Finger etwas in den Sand. Nach hartnäckigem weiteren Nachfragen richtet sich Jesus kurz auf und sagt: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als Erster einen Stein auf sie.“ Dann bückt er sich wieder und schreibt weiter. Als die Schriftgelehrten dies hören und sehen, gehen sie weg – nacheinander, die Ältesten zuerst. Jesus ist nun allein mit der Frau, und er sagt ihr „[…] ich verurteile dich auch nicht. Geh hin und sündige von jetzt an nicht mehr!“ Das Prärogativ erscheint in der Episode von der Ehebrecherin nur indirekt. Es wird kein Urteil explizit aufgehoben, sondern lediglich ein Urteil und eine Exekution verhindert. Jesus erledigt das in geradezu lässiger Geste – kurz seine Konzentration unterbrechend – indem er den selbsternannten Richtern mit dem berühmten „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“ ihre Berechtigung abspricht. Die sich privilegiert wähnenden Schriftgelehrten und Pharisäer werden derart förmlich vorgeführt und gedemütigt, sie gehen der Reihe nach hinaus. Der Protest lässt sich ebenfalls nur indirekt verorten – die derart Gedemütigten und Hinauskomplimentierten werden wohl kaum frohen Mutes gegangen sein. Der Text der Episode von der Ehebrecherin hat nicht sofort den Weg in die schriftliche Überlieferung der Evangelien gefunden; sie wurde erst später in das Johannesevangelium eingefügt. Das Paradoxon (in der Episode) irritiert: Die Episode kann ja kaum bedeuten und normativ vorgeben, dass – von Jesus legitimiert – Sünden und Verbrechen generell gutzuheißen sind. Das Paradoxon der nicht-normativen Ethik ist mit dem abschließenden Satz hinreichend adressiert, wenn ex post keine Verurteilung erfolgt, aber ex ante von der Frau – und damit von allen Lesern – gefordert wird, künftig nicht mehr zu sündigen. Es muss bei der Wohltat als Ausnahme „für diesmal“ und in der konkreten Situation bleiben; 53

von Jesus gibt es keine Generalamnestie für künftiges Fehlverhalten gegen das Gesetz des Moses. In der Parabel vom Barmherzigen Samariter (Lukas, Kapitel 10, Verse 25 bis 37) unterscheidet sich der Samariter vom Priester und vom Tempeldiener. Während Priester und Tempeldiener quasi „juristisch korrekt“ ihre rituelle Verunreinigung mit dem scheinbar bereits toten Überfallenen vermeiden wollen, hilft der Samariter situativ und insofern entgegen der Norm. Er kümmert sich aus Mitgefühl um den Überfallenen, und er finanziert dessen Pflege. Er gibt sogar eine Zusage der Re-Finanzierung. Er würde Geld nachschießen, wenn die hinterlassenen beiden Denare für die Pflege des Überfallenen nicht ausreichen sollten. Allerdings kennen wir das von James Buchanan dargestellte „Samariterdilemma“ als Paradoxon: Die unbedingte Hilfe und permanente vollumfängliche Nachfinanzierung für Hilfesuchende hat notwendigerweise den Ruin des Hilfeleistenden zur Folge. Es gibt Bedürftigkeit, die sich für die Geldgeber als ein „Fass ohne Boden“ darstellt – jede Hilfe hat weitere Forderungen zur Folge. Daher kann das aus der Samariter-Parabel abgeleitete unbedingte Hilfegebot keine sinnvolle normative Relevanz haben; es ist ein Gegenstand der nicht-normativen Ethik. Die modernen Nachfolger des Samariters, die Pflegedienste der Diakonie und der Caritas, sehen sich nicht selten im Dilemma zwischen begrenzter Finanzierbarkeit ihrer Dienste und der ethisch notwendigen Zusage unbegrenzter Fürsorge. In der Parabel vom Verlorenen Sohn (bei Lukas, Kapitel 15, Verse 11 bis 32) wird der perfekte soziale Abstieg des Sohnes geschildert. Nach dem sinnlosen Vergeuden seines ausbezahlten Erbteils muss er sich in einem fremden Land, in einem Dienstverhältnis bei einem Nicht-Juden, um die Schweine kümmern und sie füttern. Ein Jude würde niemals Schweine halten, schließlich ist ihr Verzehr streng verboten, und einen sonstigen Nutzen haben sie nicht. Der ausgewanderte Sohn wird also zu einem Diener unreiner Tiere, die er zu füttern hat. Als er aus blankem Hunger vom Schweinefutter essen will, so wird ihm dieses verwehrt. Schlimmer kann es für einen gesetzestreuen Juden nicht kommen: Der Sohn steht sowohl sozial, als ein Diener unreiner Tiere, als auch ökonomisch im absoluten Tiefpunkt. Er ist förmlich „tot“. Dennoch wird der Sohn vom Vater – entgegen der Norm – rehabilitiert, um ihn aus der völligen ökonomischen und sozialen Verelendung zu retten. Wir sehen die 54

komplette Typik der nicht-normativen Ethik: das Paradoxon, denn das gute und wohltätige Erbarmen des Vaters kann nicht bedeuten, dass der ruinöse Hedonismus des „verlorenen“ Sohnes ex ante zu einer Norm wird. Die Episode gibt ja nicht die Handlungsempfehlung, dass man seinen Erbteil verschleudern solle. Wir sehen das Handeln des Vaters als ein souveränes Prärogativ, da sich dieser per Gnadenerweis für den „verlorenen“ Sohn über die gültigen Normen hinwegsetzt. Und wir sehen den Protest des – sich bislang immer ordentlich benehmenden – älteren Sohnes, der sich durch die dem jüngeren Sohn erwiesene väterliche Gnade und Großzügigkeit nun seinerseits ungerecht behandelt sieht. In der Episode von der Verleugnung des Petrus (in der wohl ersten Fassung bei Markus, Kapitel  14, Verse  27 bis 31, Vers  54, Verse  66 bis 72) sehen wir einen sich selbst völlig überschätzenden Petrus, der als sich Erster der Jünger hervortun will und Jesus seine ewige Gefolgschaft schwört. Als sich die Szene im Hof des Hohepriesters tragisch wandelt und Petrus von einer Magd und anderen als Jesus-Schüler erkannt wird, flüchtet er sich – notgedrungen – in eine hartnäckige Verleugnung und distanziert sich von Jesus. Petrus kollabiert unter dem psychischen Druck seiner Notlüge und scheitert tragisch. Die Episode zeigt die fünf Stilelemente der klassischen griechischen Tragödie, wie sie Gustav Freytag identifiziert hat: Erstes Element ist die Exposition, indem Jesus Petrus die Verleugnung ankündigt, zweites die Komplikation, als Petrus heftig seine Treue schwört, und das dritte die Peripetie, wenn Petrus dem Trupp in den Hof des Hohepriesters folgt und sich unter die Leute am Feuer mischt. Als viertes Element erkennen wir die Retardation, als Petrus, befragt von der Magd und den Umstehenden, dreimal leugnet, Jesus überhaupt zu kennen, und als fünftes die Katastrophe: Nach dem zweiten Hahnenschrei kollabiert Petrus. Es gibt ein  –  nicht ausformuliertes  –  Prärogativ, denn Petrus wird später als Führungskraft für die entstehende Kirche bestätigt, dazu wird aber kein Protest der anderen Jünger geschildert. Die Episode ist paradox, denn es kann keine Norm konstituiert werden, die ein tragisches Scheitern zwingend normativ als eine Qualifikation für künftige Führungsaufgaben vorschreibt. Die radikale Position der Parabeln und Episoden hat sofort eine entsprechende Debatte hervorgebracht. Schon in den Evangelien wird eine Diskussion zur Stel55

lung der Jesuanischen nicht-normativen Ethik zum geltenden normativen Gesetz geschildert. Wir lesen als Episode das Ährenraufen am Sabbat (bei Markus, Kapitel 2, Verse 23 bis 27) in deutscher Übersetzung: Und sie kamen am Sabbat zu einem Feld mit reifem Getreide, und sie begannen, Ähren zu rupfen und die Körner zu essen. Und die gesetzestreuen Pharisäer sagten dazu: „Diese tun doch offenbar etwas am Sabbat Verbotenes – Erntearbeit, ist das etwa erlaubt?“ […] Und Jesus sagte zu ihnen: „Das Gesetz ist wegen des Menschen entstanden und nicht der Mensch wegen des Gesetzes geschaffen worden.“

Und bei Matthäus, Kapitel  5, Verse  17 bis 20, findet man eine weitere zentrale Äußerung, die Jesus selbst zugeschrieben wird: Es wäre falsch, von mir anzunehmen, dass ich kam, um das Gesetz oder die Propheten anzuzweifeln. […] Nicht ein einziger winziger Buchstabe oder ein einziges Satzzeichen wird im Gesetz gelöscht werden. […] Ich sage euch aber: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weiter reicht als das Gesetz der Schriftkundigen und der Pharisäer, so werdet ihr das himmlische Reich nicht erleben.

Diese – exemplarischen – Textstellen belegen die bereits von den Zeitgenossen des Jesus von Nazareth wahrgenommene Dichotomie der nicht-normativen Ethik, die in den Jesus zugeschriebenen Parabeln und Episoden als Praktische Philosophie gelehrt wird. Bis in die heutige Zeit steht die Exegese der Evangelien vor dem Problem, dass einige der von Jesus geschilderten guten Handlungen offenbar nicht als ein normatives kasuistisches Vorbild taugen. Peter Noll hat in seiner juristischen Analyse („Jesus und das Gesetz“) die Lehre des Jesus von Nazareth dahingehend untersucht. Das normative Gesetz kann bekannter weise bei konsequenter Auslegung und Anwendung „den Buchstaben des Gesetzes nach“ menschenverachtende Effekte zeigen. Es wird durch Jesus ergänzt durch eine radikale Anthropozentrik, die anhand von exemplarischen Analogien in den Parabeln und Episoden Wege aufzeigt, wie ein gescheiterter Mensch wieder rehabilitiert wird. Peter Noll nennt es die „Ersetzung der Normativität“, wenn er 56

Jesus zuschreibt, dass dieser im Sinne seiner Anthropozentrik eine „radikal normenkritische Haltung“ einnimmt, da er die mit den Normen verbundenen Sanktionen als „privilegierend und diskriminierend“ erkannt hat. Man kann sich weiter die Frage stellen, ob sich die anthropozentrische nicht-normative Ethik der Evangelien in entsprechende Novellen des Alten Gesetzes einbringen ließe. Damit würde aus den Jesuanischen Ansätzen doch wieder eine juristische Norm, die man formal auf ihre Einhaltung überprüfen könnte – Gerechtigkeit und Gnade wären dann endlich wieder versöhnt. Wenn man die antiken Beispiele in den Evangelien aufgreift, dann erkennt man sofort, dass das nichts Gescheites werden kann: Man kann schlecht sagen, dass jede Ehebrecherin begnadigt werden soll. Man kann nicht allen Arbeitern, die erst kurz vor Feierabend kommen, den vollen Lohn zahlen. Man kann nicht die Pflege aller Verletzten oder Kranken mit unbegrenztem Aufwand finanzieren. Man kann nicht alle finanziell ruinierten Menschen voll rehabilitieren. Man kann nicht alle versagenden Führungskräfte weiter mit zentralen Leitungspositionen betrauen. Wir kommen später auf die lebenspraktische Gestaltung dieser offenen Fragen zurück. In den Evangelien wird wiederholt geschildert, dass die Lehren und das Gebaren des Jesus von Nazareth den Protest der Pharisäer und Gesetzeskundigen auf sich gezogen haben. Wir dürfen uns die Pharisäer nicht unbedingt als große Übeltäter, gar Verbrecher, vorstellen. Sie sahen sich einer formal korrekten, normativen – fast pedantischen – Auslegung des Alten Gesetzes sehr verpflichtet. Das Verhalten von Jesus wird intensiv diskutiert, so wie bei Johannes, Kapitel 9, Vers 16, dargestellt: Einige der Pharisäer sagten dann: „Dieser Mensch ist nicht von Gott, denn er hält den Sabbat nicht ein.“ Und andere: „Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun?“ Und es entstand eine Zwietracht unter ihnen.

In der heutigen Gesellschaft wäre ihre Rolle am ehesten die der gesetzestreuen normalen Bürger, mit einem gewissen Hang zu einer reaktionären Gesinnung. Von den Pharisäern und den Juristen wird Jesus immer wieder mit Testfragen traktiert, um ihm objektiv Fehlverhalten gegen das Gesetz des Moses vorwerfen zu können. Immer wieder weicht Jesus rhetorisch äußerst geschickt aus. Am Ende ist es die Aggression von Jesus gegen die Händler im Tempel (unter anderem bei 57

Markus, Kapitel 11, Verse 15 bis 18), die den Anlass für den Prozess darstellt, der dann zu seiner Verurteilung führt. Diese Verurteilung und Hinrichtung ist nur möglich, weil die gesetzestreuen, gar reaktionären Kräfte aus dem Kreis des Establishments die „Wutbürger“ im gemeinen Volk jener Zeit hinreichend stimuliert haben. Man könnte meinen, dass die Versuche von Steinigungen, wie zum Beispiel kurz erwähnt bei Johannes, Kapitel 8, Vers 59, gescheitert sind, weil die normalen Leute nicht reagiert haben: Da nahmen sie Steine, um ihn damit zu bewerfen. Jesus aber entzog sich, indem er aus dem Tempel hinausging, mitten durch sie hindurch.

Es ist Jesus möglich, die gefährliche Situation zu verlassen, in dem er „mitten durch“ die Menge weggeht. Später beugt sich Pilatus der Wut dieser Leute. Wir lesen bei Markus, Kapitel 15, Verse 11 bis 15, in deutscher Übersetzung: Die Hohepriester hetzten das Volk auf […], und das Volk schrie wieder: „Kreuzige ihn!“ Pilatus aber fragte: „Was hat er Schlechtes getan?“ Die Leute schrien völlig außer sich: „Kreuzige ihn!“ Pilatus wollte der Volksmenge aber entgegenkommen.

Die Parabeln und biographischen Episoden in den synoptischen Evangelien überliefern fallbasiert Erinnerungen an den historischen Jesus von Nazareth, der als ein praktischer Philosoph mit der Vermittlung nicht-normativer Ethik auftritt. Er ergänzt damit das bestehende Alte Gesetz, das Gefahr läuft, menschenverachtend zu sein, durch einen nicht der Norm entsprechenden Anthropozentrismus. Dieser entzieht sich per definitionem einer Normierung. Das ist das große Dilemma der nicht-normativen Ethik: Sie kann nicht Teil eines normativen herrschenden Systems werden, welches das Zusammenleben in der Gesellschaft verbindlich regelt. Es bleibt bei einer Anwendung in der konkreten Situation, wo die nicht-normative Ethik für eine menschenwürdige Gesellschaft von grundlegender Bedeutung ist. Die nicht-normative Ethik der Evangelien zeigt Wege der Rehabilitierung gescheiterter Menschen als ein unmittelbares und situativ gebundenes galiläisches Project enhancing life – eine diesseitige bessere Welt mit besseren Lebensumständen auf58

zeigend. Die nicht-normative Ethik weist den Weg, wie ein gescheiterter Mensch wieder gerettet und rehabilitiert wird. Die nicht-normative Ethik erscheint in den Evangelien als eine fallbasierte Theorie (damit als eine „Theorie mittlerer Reichweite“); sie wird als Synopse über eine Sammlung von Analogien aus Parabeln und Analogien vermittelt und entzieht sich ihrer Natur nach einer geschlossenen normativen Darstellung: Aus dem Umstand ihrer Unvollständigkeit folgt, dass es keine geschlossene Grand Theory der Ethik geben kann. Durch die fehlende Norm kann keine formal-algorithmische Lösung für eine generelle „Jesuanische“ Lebensverbesserung gefunden werden.

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Drei Möglichkeiten der lebenspraktischen Gestaltung im Umgang mit den Paradoxa der nicht-normativen Ethik Der handelnde Mensch hat angesichts der Paradoxa der nicht-normativen Ethik drei Möglichkeiten einer konkreten lebenspraktischen Vorgehensweise: Man kann zum einen solche guten Taten ablehnen oder gar verbieten und bestrafen, von denen man annimmt, dass sie – normativ angewandt – eher zu einem allgemeinen Schaden werden würden. Das ist die Vorgehensweise, wenn das tierliebe Füttern von Tauben in der Stadt verboten wird. Oder wenn man an bestimmten öffentlichen Plätzen das Betteln – und damit das wohlwollende Gewähren von Almosen – verbietet. Besonders signifikant war der Fall des Rettungsschiffs SeaWatch 3, das im Sommer 2019 aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge in Italien an Land brachte. Die Wohltat der Rettung von Flüchtlingen wurde kriminalisiert. Schlussendlich wird damit Barmherzigkeit unter Strafe gestellt. Man kann zum Zweiten die nicht der Norm entsprechenden guten Taten „für diesmal“ ausnahmsweise tolerieren, weil die dahinterstehende gute Absicht oder die damit unmittelbar abgewendete Notlage, die geleistete erforderliche Hilfe etc. direkt evident sind. Aber man betont und fordert, dass diese Art von Taten keinesfalls kasuistisch für eine normative Regelung in der Zukunft brauchbar ist und verwendet werden soll. Daher werden diese Wohltaten vielfach geheim gehalten. Es soll jedenfalls bei der Ausnahme bleiben, eine Wiederholung ist zu vermeiden. Das würde man für einmalige Wohltaten als einschlägig ansehen, wie das Gewähren des gleichen Lohns für ungleiche Arbeit bei den Arbeitern im Weinberg. Wir sehen eine solche Struktur im Fall des eigentlich hilfswilligen, aber objektiv-normativ kriminellen Wolfgang Daschner, auf den wir noch zu sprechen kommen werden. 60

§§§

§

Gesetze, Gebote, Verordnungen, Richtlinien, normative Prozesse

versus Anthropozentrik

Wohltaten werden verboten, da „gesellschaftlich“ nicht gewünscht

Mensch im Mittelpunkt

Folgen

Wohltaten werden als große Ausnahme geheimgehalten

Mensch handelt korrekt: Gesetz im Mittelpunkt

Wohltaten werden zugelassen, sind aber sehr aufwendig und teuer

Wohltaten der nichtnormativen Ethik zur Vermeidung einer gesetzesund systemkonformen Menschenverachtung

Man kann zum Dritten gute Taten zulassen, obwohl klar ist, dass ihre normative Anwendung im Allgemeinen (sehr) hohe Kosten verursachen wird – von „Schaden“ würde man hier eher nicht reden wollen. Im Fall der Bergrettung müssen selbstverständlich alle Hilfesuchenden gerettet werden, in der Flüchtlingshilfe muss allen Menschen ein vollumfängliches soziales Hilfsprogramm angeboten werden. Es ist völlig klar, dass das System der unbegrenzten Hilfeleistung überlastet werden kann – irgendwann ist seine Kapazität erschöpft. Allerdings definiert das Maß der gegenseitigen humanitären Hilfe das Ausmaß der durch sie gebildeten menschlichen Gemeinschaft. Der Barmherzige Samariter nach Lukas, Kapitel 10, ist kein Nächster per definitionem, sondern er wird erst zum Nächsten durch seine tätige und finanzielle Hilfe. Dadurch wird die „Gemeinschaft“ völlig neu definiert. Der soziale Außenseiter Samariter ist der Nächste des Überfallenen „geworden“. Ruben Zimmermann weist darauf hin, dass die hier verwendete Originalvokabel besser mit „geworden“ zu übersetzen ist. Das πλησιον γεγονεναι – plesion ge61

gonenai – „zum Nächsten geworden sein“ – ist im Original weitaus dynamischer als ein statisches „Nächster sein“, wie es die Lutherübersetzung ausdrückt. Es wird so über das dynamische „ein Nächster Werden“ der Weg aus der traditionellen geschlossenen Gesellschaft hinaus in eine offene Gemeinschaft gewiesen: Nicht die Gesellschaft definiert – normativ – den „Nächsten“, per Privilegierung der Dazugehörigen und per Diskriminierung der Außenstehenden, sondern das aufwendige „Nächster werden“ definiert die Gemeinschaft.

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Der intensive, aber substanzlose Protest der Vertreter der Norm Die Parabel von den Arbeitern im Weinberg zeigt den Protest der normalen Arbeiter, die den ganzen Tag gearbeitet haben. Sie sehen sich benachteiligt gegenüber denjenigen Arbeitern, die fast nichts geleistet haben und dennoch einen ganzen Tageslohn von einem Denar als „bedingungsloses Grundeinkommen“ erhalten. Die Vertreter der Norm – die normalen Leute – protestieren gegen eine Lohnzahlung für Personen, die diese gar nicht verdient haben, und damit money for nothing mit nach Hause nehmen können. Wir wollen in einer knappen Überlegung drei Aspekte herausstellen. Zum einen sehen wir, dass sich der Protest gegen die Wohltat des Weinbergbesitzers richtet. Dieses Element einer ethischen Beurteilung tritt in der Lebenspraxis häufiger auf. Es ist in der Tat bedeutend leichter, eine Anti-Position zu einer Entscheidung oder Handlung zu formulieren, als umgekehrt zu sagen, wie denn eine wünschenswerte und gute Tat zu gestalten wäre. Die ethischen Störgefühle in Bezug auf schlechtes Handeln entstehen sehr leicht – als eine quasi „negative Reaktion“. Es ist aber viel schwieriger, zu erkennen und positiv zu definieren, was unter „gutem Handeln“ zu verstehen wäre. In der damaligen Vorrede zur ersten Auflage zu Die Räuber formuliert es Friedrich Schiller treffend: „Eine edle Seele erträgt so wenig anhaltende moralische Dissonanzen, als das Ohr das Gekritzel eines Messers auf Glas.“ In der politischen Debatte sind diese negativen Beurteilungen nicht ganz ungefährlich. Viel leichter findet sich eine Abstimmungsmehrheit gegen einen Umstand, als dass sich eine solche Mehrheit für eine konstruktive Lösung bilden ließe. Im Jahr 2018 fand sich schnell in der Europäischen Union eine Stimmenmehrheit für eine Abschaffung der Zeitumstellung der Uhren – leider folgt daraus nicht, ob man künftig die Sommer- oder Winterzeit bevorzugt. Das eigentlich deutliche Abstimmungsergebnis ist nur negativ, von daher nicht weiter brauchbar. 63

Zum anderen sehen wir, dass der Protest substanzlos ist. In der Parabel von den Arbeitern im Weinberg fordern die protestierenden „Arbeiter der ersten Stunde“ recht pauschal, dass sie irgendwie „mehr“ (πλεον – pleon) empfangen sollten als die später Gekommenen. Eine Konkretisierung dieser unspezifischen Forderung unterbleibt freilich. Denkbar wäre eine lineare nachträgliche Lohnerhöhung in Form der Zahlung des zwölffachen Lohns nach Maßgabe der zwölffachen Arbeitszeit – gegenüber den kurz vor Schluss gekommenen Arbeitern. Dies ist aber eher unrealistisch, gar verwegen. Zum dritten kann es passieren, dass sich ein (substanzloser) Protest derjenigen erhebt, die zwar die Empfänger der Wohltat waren, aber nun noch größere Wohltaten verlangen, beziehungsweise das Erlangen der  –  nicht-normativ gewährten  –  Wohltat in ein permanent-normatives Recht umzumünzen versuchen. Phantasie-basiert wäre das in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg dann so, dass die Arbeiter, die erst zur letzten Stunde gekommen sind, zu allem Überfluss mit dem (großzügig) gewährten einen Denar nicht zufrieden wären – und unter Protest noch mehr Lohn verlangten. Oder diese Arbeiter würden aus der einmal gewährten Wohltat ein Recht für sich ableiten, auch künftig die Arbeit erst kurz vor Feierabend aufnehmen zu dürfen. Im Alltag ist diese Art von Protest sichtbar, wenn einem Bettler ein gewährtes Almosen als zu gering erscheint, und er den Geber zu allem Überfluss nicht dankbar, sondern böse anschaut. In der politischen Debatte kann der Weinbergbesitzer mit seiner treffenden Antwort als Vorbild dienen. Er reklamiert souverän sein Recht, mit seinen Leuten und seinem Geld tun zu können, wie ihm beliebt. Schließlich halte er sich an die vereinbarte Vertragslage, und eine gute Tat könne nicht als böse angesehen werden. Analog muss jede Regierung das meta-ethische Recht (als Prärogativ) haben, bei guter Versorgungslage der normalen Bürger den Notleidenden eine außerplanmäßige Hilfe zukommen zu lassen. Eine Wohltat gegenüber Personen, die diese „eigentlich gar nicht verdient“ und damit money for nothing erhalten haben, ruft den Protest der Vertreter des Normativen hervor. Reaktionäre Kräfte fürchten den Ruin des bewährten Rechtsgefüges durch nicht-normative Wohltaten. Die politische Reaktion versucht konsequent, die gesellschaftlichen Verhältnisse gegen Reformen oder Neuerungen zu verteidigen. 64

Die reaktionäre Revision –  am Beispiel des Paulus von Tarsus Wir greifen noch einmal den Protest der normalen Arbeiter in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg auf. Sie haben den ganzen Tag gearbeitet und sehen sich gegenüber denjenigen Arbeitern benachteiligt, die erst kurz vor Arbeitsschluss gekommen sind – und doch den gleichen Lohn erhalten. Unserer Phantasie folgend können wir in zwei Richtungen weiterdenken: Einerseits dürften auch die Kollegen des Weinbergbesitzers von dessen Wohltaten nicht gerade begeistert gewesen sein, da er doch die bewährte Praxis der Marktpreise für Tagelöhner sinnloserweise zerstört. Andererseits könnten wir uns vorstellen, dass der Weinbergbesitzer nach Feierabend noch ein letztes Mal auf dem Marktplatz erscheint und auch denjenigen, die überhaupt nichts geleistet haben, einen Denar als „bedingungsloses Grundeinkommen“ zukommen lässt. In den Evangelien wird wiederholt geschildert, dass die Lehren und das Gebaren des Jesus von Nazareth den Protest der Pharisäer und Gesetzeskundigen – als Vertreter der Norm – auf sich gezogen hat. Pharisäer und Juristen versuchen, Jesus wiederholt Fehlverhalten gegen das Gesetz des Moses nachzuweisen. Eine Verurteilung von Jesus wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht reaktionäre Kräfte die „Wutbürger“ im Volk stimuliert hätten. Pilatus beugt sich schließlich der Wut dieser Leute – was wiederum Jesus zum Verhängnis wird. Der historische lehrende Jesus hat keine uns bekannten eigenen Schriften verfasst. Die schriftliche Überlieferung beginnt ca. 10  Jahre nach der Hinrichtung von Jesus. Es ist die Briefliteratur des – in der Szene neu auftretenden – Paulus von Tarsus. Paulus hat Jesus nicht mehr selbst kennengelernt. Paulus kommt zu spät, er kann vom diesseitigen Jesus nicht mehr in den Kreis der Apostel aufgenommen werden. Paulus sieht sich aber dennoch als „echter Apostel“, weil ihm der auferstandene Jesus begegnet sei. In den Schriften des Paulus tritt der irdische Lehrer „Jesus von Nazareth“ hinter dem spirituell besetzten „Jesus Christus“ zurück, aus 65

dem irdischen Philosophen wird ein überirdischer Heilsbringer. Paulus interessiert offenbar weniger der philosophische Lehrer „Jesus“, sondern der als Sühneopfer gekreuzigte „Christus“. Paulus formuliert im Römerbrief eine spirituelle Abgrenzung von der diesseitigen Welt. Er bezieht sogar spirituelle Positionen, die als eine direkte Negation der praktischen Philosophie des Jesus von Nazareth erscheinen. Jesus geht auf die realen Menschen in der realen Welt zu. Wenn die biographischen Evangelien einen geselligen Jesus zeichnen, der „isst und trinkt“, dann ist dies mit dem paulinischen „Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen“ (im Römerbrief, Kapitel 8, Vers 8) nicht vereinbar. Paulus erklärt – gegen die Jesuanische gesetzestreue Lehre – Teile des Alten Gesetzes, insbesondere die Beschneidung und die Speisevorschriften, als nicht weiter relevant. Paulus sagt grosso modo, es sei nicht weiter der alte ortho-praktische Ansatz vom richtigen Handeln von Bedeutung, sondern eine neue ortho-doxe und spirituell geprägte Ethik der richtigen Geisteshaltung und der richtigen Denkweise. Die Urheberschaft des Paulus und die Authentizität des Römerbriefs sind unumstritten. Paulus präsentiert mit ihm seine Theologie der christlichen Heilsbotschaft. In Kapitel  13, Verse  1 bis 7, lesen wir allerdings einen revisionistischen Versuch, die nicht-normative ethische Lehre und anthropozentrische Position des Jesus von Nazareth nicht nur infrage zu stellen, sondern in das Gegenteil umzudeuten. Wir lesen in deutscher Übersetzung: Jeder muss sich den herrschenden Mächten unterordnen, da alle bestehenden herrschenden Mächte von Gott eingesetzt worden sind. Wer sich der irdischen Macht entgegenstellt, der stellt sich damit auch den Anordnungen Gottes entgegen; und das ist zu verurteilen. Wegen der irdischen Führer müssen wir uns um gutes Handeln keine Sorgen machen; denn sie sind keine schlechten Leute. Wenn du Gutes tust, so musst du die irdische Macht nicht fürchten: Tue das Gute, und du wirst von der irdischen Macht gelobt werden. Die irdische Macht ist eine Dienerin Gottes, und sie dient dir zum Guten. Fürchte dich aber davor, Schlechtes zu tun. Die irdische Macht ist eine Dienerin Gottes, und sie rächt zornig mit dem Schwert die schlechten Taten und die Vergehen. 66

Die Notwendigkeit, sich der irdischen Macht unterzuordnen, besteht nicht nur wegen dieses Zorns und der Strafen, sondern es ist auch eine Frage eures Gewissens. Darum müsst ihr auch Steuern zahlen, denn die Führung und die Verwaltung sind Diener Gottes, sie repräsentieren ihn. Gebt allen das Gebührende: Zahlt der Finanzverwaltung die Steuer, der Zollverwaltung den Zoll, fürchtet die Furchtbaren und ehrt die Ehrbaren.

Möglicherweise muss die damalige politische Lage in eine Interpretation miteinbezogen werden. Die Situation war durch die Vertreibung der Juden aus Rom angespannt – Paulus könnte von daher guten Grund zur Loyalität, gar Anbiederung gegenüber dem römischen Staat gehabt haben. Die Botschaft ist, dass die Macht der irdischen (römischen) Herrscher und Beamten als Diener Gottes zum Schutz der Guten und zur Bestrafung der Bösen zu sehen ist, daher hat jeder der römischen Herrschaft zu gehorchen. Da Paulus die Regierungsform und ihre Legitimation der Herrschaft nicht weiter betrachtet, hat der Text seit der Antike immer wieder als Rechtfertigung jeglicher Form von staatlicher Gewalt und Willkürherrschaft herhalten müssen. Man muss wohl diesen Abschnitt des Römerbriefs als „besonders umstritten“ taxieren – nichtsdestoweniger redet er normativen Vorgaben par excellence das Wort: Die irdische Macht ist ein Spiegel der himmlischen Macht; von der Jesuanischen Normkritik, von der anthropozentrischen nicht-normativen Ethik, gar von den sorgenfreien Lilien auf dem Felde, sehen wir hier nichts mehr. Im zweiten Thessalonicherbrief wird zwar angegeben, dass dieser vom Apostel Paulus selbst geschrieben worden sei. Zweifel an der paulinischen Verfasserschaft wurden aber verschiedentlich geäußert; die Meinungen zum Verfasser sind gegenwärtig nicht ganz einheitlich. In diesem zweiten Thessalonicherbrief ist im dritten Kapitel eine Mahnpredigt – Paränese – enthalten. In ihr wendet sich (Pseudo-)Paulus gegen alle, die ein unordentliches Leben führen. Wir lesen das Plädoyer für eine normative Ethik in den Versen 6 bis 13: Im Namen des Herrn Jesus Christus gebieten wir euch, fernzubleiben von jedem, der ungeordnet und nicht nach der Überlieferung lebt […]. 67

Ihr sollt nicht das Brot essen, das ihr gratis von jemandem erhalten habt. In Mühe und Anstrengung, nachts und tags, sollt ihr arbeiten, um nicht einem anderen von euch zur Last zu fallen. […] Wir geboten euch, als wir bei euch waren: Wenn einer nicht arbeiten will, so soll er auch nicht essen. Denn wir hören, dass einige von euch unordentlich leben, nicht arbeiten, sondern unnütze Dinge tun. Diese ermahnen wir im Namen des Herrn Jesus Christus, dass sie ruhig und friedlich arbeiten und ihr eigenes Brot essen. Ihr Brüder – werdet nicht müde, nach dem Recht zu handeln!

Der dann folgende Schluss des Textes (Verse 13 bis 16) betont die Verbindlichkeit der Mahnrede des Briefes. Der Satz „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“ aus dem zweiten Thessalonicherbrief war und ist die Parole diverser politischer Programme, gerade von solchen im religionsfernen Spektrum. Die Aussage wird normativ-reaktionär, wenn das „will“ weggelassen wird und die Parole zu einem „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ mutiert. Dies entzieht auch Kranken und Arbeitsunfähigen die Lebensgrundlage. Wir sind hier von der humanitären Anthropozentrik des Jesus von Nazareth sehr weit entfernt. Es ist nicht der Gegenstand dieser Abhandlung, die paulinische Theologie weiter zu erörtern. Der hinterhältige Prozess und die grausame Hinrichtung des Jesus von Nazareth werden von Paulus in den Triumph der Auferstehung transformiert; der weltzugewandte Philosoph Jesus (der diesseitige, sich selbst so bezeichnende „Sohn des Menschen“) weicht bei Paulus der spirituellen Figur des „Christus“. Hinter dem paulinischen Auferstehungsparadigma tritt die Lehre der alltagsund praxisbezogenen Parabeln und Episoden aus der Erinnerung an Jesus etwas zurück. Die praktische Jesuanische Philosophie wird allerdings – wiederum erst einige Jahrzehnte später, nach der Abfassung der Briefe des Paulus – in den biographischen Skizzen der Evangelien doch noch dokumentiert.

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Der paradoxe Fall des Wolfgang Daschner Wir haben anhand einer Reihe von Fällen gesehen, dass es das „gute Fehlverhalten“ gibt, das Gegenstand der nicht-normativen Ethik ist. Das normative Gesetz und die normativen Systeme können bei konsequenter buchstabengetreuer Auslegung und Anwendung menschenverachtende Effekte zeigen. Wir wollen nun mit einem Fall aus der Jetztzeit die Strukturen zeigen, die eine radikale Anthropozentrik und eine Aussetzung der juristischen Normativität im Extremfall mit sich bringen können. Im Jahr 2002 erregte der Entführungsfall des Frankfurter Schulkindes Jakob von Metzler großes Aufsehen. Der Entführer Magnus Gäfgen, ein Bekannter der Familie von Metzler, wollte für die Freilassung des Entführungsopfers eine größere Summe an Lösegeld erpressen, um seinen sehr aufwendigen Lebensstil weiter finanzieren zu können. Magnus Gäfgen wurde jedoch bald nach der Tat festgenommen und gestand diese auch. Von daher konnte eigentlich nicht mehr von einem „mutmaßlichen Täter“ gesprochen werden. In Vernehmungen versuchte die Frankfurter Polizei, Magnus Gäfgen dazu zu bewegen, den Aufenthaltsort des entführten Kindes preiszugeben. Man ging davon aus, dass das Entführungsopfer irgendwo gefangen gehalten wurde und man ihm durch eine Polizeiaktion zu Hilfe kommen müsste. Man fürchtete um das Leben des Opfers. Magnus Gäfgen hatte die Tat zwar schon gestanden, er weigerte sich aber, den Aufenthaltsort des entführten Kindes zu nennen. Der damalige stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Wolfgang Daschner drohte daraufhin als ultima ratio dem Täter Magnus Gäfgen Gewalt, gar Folter, an, beziehungsweise ließ dies androhen, sollte dieser nicht bereit sein, anzugeben, wo das Entführungsopfer festgehalten wird. Magnus Gäfgen sagte später aus, er wäre mit „Schmerzen, wie er sie noch nie erlebt habe“ bedroht worden. Derart mit einer Folterandrohung unter Druck gesetzt, machte er die erwünschten Angaben; das entführte Schulkind Jakob von Metzler konnte aber nur noch in seinem Versteck tot aufgefunden werden. Markus Gäfgen hatte allerdings schon vorher ge69

wusst, dass Jakob von Metzler nicht mehr lebte. Wolfgang Daschner fertigte selbst einen Aktenvermerk über sein Vorgehen an. Durch diesen Vermerk erfuhr die Öffentlichkeit von der Vorgehensweise der Frankfurter Polizei, und er gab auch den Anstoß zur Eröffnung des gegen Daschner gerichteten Strafverfahrens. Gegen Ende des Jahres 2004 kam es dann zu einem Strafprozess gegen Wolfgang Daschner. Ihm wurde Nötigung in einem besonders schweren Fall vorgeworfen und der Verstoß gegen die in der deutschen Rechtsordnung garantierten Rechte des Angeklagten, insbesondere gegen den unbedingten Schutz der Menschenwürde jedes Bürgers. Die Verteidigung argumentierte mit dem Dilemma, zwischen der Menschenwürde des entführten Kindes und der des Entführers abwägen zu müssen. Daschner hätte sich letztlich für das Entführungsopfer entschieden. Der Täter wäre nicht zu schonen gewesen, denn sonst hätte sich der Staat selbst zum Mordgehilfen gemacht. Im Urteil argumentierten die Richter normativ mit Verweis auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Eine Anwendung von Folter wäre unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Neben dem Schuldspruch verwarnte das Gericht Wolfgang Daschner mit Strafvorbehalt. Für die verhängten Geldstrafen wurde eine Bewährungszeit von einem Jahr festgesetzt. Damit wurde ein sehr mildes Urteil gefällt; das Gesetz sieht in vergleichbaren Fällen Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren vor. Das Gericht sah in diesem Fall „mildernde Umstände, die ein erhöhtes Strafmaß unangemessen erscheinen lassen“. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt setzt einen Schuldspruch voraus, ist aber zunächst (und bei Bewährung endgültig) nicht die Verhängung der vorbehaltenen Strafe. Nach Ablauf der Frist wird das Urteil faktisch erlassen. Wolfgang Daschner ist von daher nicht (mehr) vorbestraft. Das Urteil und seine Begründung waren alles andere als unumstritten. Wir können nach Maßgabe unserer bisherigen Erkenntnisse die vorgebrachten Argumente taxieren: Eine Position argumentierte „radikal normativ“ und sah in Daschners Fehlverhalten einen schweren Verstoß gegen ein Grundprinzip der Rechtsordnung. Der Entführungsfall Jakob von Metzler zeigte, in all seiner Tragik, dass das Freiheitsrecht des absoluten Folterverbots einen Preis hätte, der gegebenenfalls von Opfern von Verbrechern bezahlt werden müsste. Die gegen Daschner vom Gericht verhängte Strafe wäre von daher viel zu mild ausgefallen. 70

Eine zweite Position argumentierte „normenkritisch“. Das Fehlverhalten Daschners offenbarte neue Bedingungen und wäre daher gerechtfertigt. Der Staat hätte ein Recht, sich von Verbrechern nicht zwingen zu lassen, seine Bürger nicht mehr schützen zu können. Man bräuchte in Extremsituationen eine ultimative Waffe zum Wohle der Opfer. Vergleichbar dem „finalen Rettungsschuss“ müsste es eine „Rettungsfolter“ geben. Hierfür müsste im Rahmen der Normenkritik ein entsprechendes neues Gesetz geschaffen werden. Eine dritte Position argumentierte mit einer „verschiebbaren Norm“. Der Mensch hätte ein Recht, in „Normen relativierenden“, situativen Ausnahmen sein Gewissen über das geltende Gesetz zu stellen. Es wurde auf Normverschiebungen in der Vergangenheit verwiesen, wie sie die menschenverachtende, aber gesetzestreue, damals „juristisch einwandfreie“ Grenzsicherung in der ehemaligen DDR erfordert hätte. Eine vierte Position brachte dagegen wiederum „normativ“ und im Sinne einer „nicht verschiebbaren Norm“ vor, dass nach ihrem Gewissen handelnde Personen für den Polizeidienst prinzipiell ungeeignet wären. Auch „humanitäre Gesetzesverletzungen“ wären rigoros zu bestrafen. Abschließend entschied das Oberlandesgericht Frankfurt im Jahr 2012, zehn Jahre nach dem Mord an Jakob von Metzler, dass Magnus Gäfgen wegen der Folterdrohung im Polizeiverhör eine Entschädigung zusteht. Das Landgericht beachtete damit die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; dieser hatte festgestellt, dass die Androhung von Folter ausnahmslos verboten ist. Wie ist der Fall nach Maßgabe einer nicht-normativen Ethik zu deuten? Wir sehen das Paradoxon im guten Fehlverhalten Daschners. Der an sich guten Tat, ein Entführungsopfer durch die Bedrohung des geständigen Täters retten zu wollen, steht die Unmöglichkeit entgegen, die angewandte Vernehmungsmethode zu einer künftigen Norm zu erheben. Die anthropozentrische Haltung Daschners wäre mit dem „Der Mensch ist wichtiger als das Gesetz“ – allerdings nicht-normativ – ex post ethisch vertretbar. Wir sehen quasi zwei Prärogative, eines davon ist partiell. Wolfgang Daschner nahm sich einerseits das Vorrecht heraus, zur Rettung eines Entführungsopfers eine verbotene Verhörmethode anzuwenden. Zum anderen gab es ein sehr mildes Urteil des zuständigen Gerichts, das die speziellen Umstände des Fehlverhaltens Daschners würdigte. Aus der Sicht einer nicht-normativen Ethik wäre die ex post 71

Gewährung eines Gnadenerlasses durch die zuständige Regierung nicht unangebracht gewesen, mit der Betonung, dass ein solcher Gnadenerlass keinerlei kasuistisch-normative Bedeutung hätte. Das gesprochene Gerichtsurteil könnte dagegen einen Präzedenzfall für eine „fast erlaubte Folterandrohung“ konstituieren – was aber kaum wünschenswert sein kann. Es gab intensiven Protest im Umfeld des Daschner-Prozesses. In der öffentlichen Debatte wurde einerseits eine harte Strafe für Wolfgang Daschner und die anderen beteiligten Polizisten gefordert, weil sie gegen die grundgesetzlich garantierte Menschenwürde des Täters Gäfgen verstoßen hätten: Sie hätten ihm Gewalt angedroht, um sein Schweigen zu brechen. Andererseits gab es die vehement geäußerte Meinung, es wäre absurd, Wolfgang Daschner für sein Handeln zu verurteilen. Die damalige Absicht der Frankfurter Polizei, das Leben eines entführten Kindes nicht-normativ zu retten, ist ex post als eine gute Tat zu nennen, aber ex ante und normativ ist das Vorgehen nicht brauchbar. Dies führt direkt zur Metaphorik der Weinberg-Parabel „Oder siehst du mich böse an, weil ich ein gutes Werk getan habe?“ – die unlösbare Problematik der Normierung des nicht-normativen Vorgehens ist evident. Der anthropozentrische Humanismus sieht für den individuellen Menschen – trotz eines Fehlverhaltens – ein weiteres Leben vor; er soll es gemäß einer neuen Würde zu verwirklichen in der Lage sein. Der Mensch darf juristischen Gegebenheiten und den „Systemen“ nicht ohne anthropozentrische Rahmenbedingungen untertan gemacht werden. In ein normatives Gesetz kann man die Regelung zur Verletzung des Gesetzes nicht als regulären Fall einfügen. Die nicht-normative Ethik entzieht sich per definitionem einer Normierung. Das ist das große Dilemma der nicht-normativen Ethik – sie kann nicht Teil des normativen Systems werden, das das Zusammenleben in der Gesellschaft verbindlich regelt. Es bleibt bei einer Anwendung in der konkreten Situation. Dies zeigt nicht zuletzt auch der Fall des Wolfgang Daschner.

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Normativ wirkende digitale Maschinen und die Funktionen OFF und ESC Wir sehen einerseits die normative Ethik in Gestalt von Gesetzen, Geboten und sozialen Gepflogenheiten. Andererseits können auch Maschinen, Computer und Automaten sowie formale Prozesse die Menschen normativ zu einem bestimmten Handeln bewegen. Die Verhaltensnorm wird durch die Programmierung der Mensch-Maschine-Interaktion formal definiert. In der eingangs betrachteten ersten Szene sahen wir einen Automaten am Bahnhof, der Anweisungen gibt, wie Reisende normativ eine Fahrkarte zu erwerben haben. Der Automat nimmt Geld entgegen, elektronisch oder als Bargeld, und druckt eine entsprechende Fahrkarte aus. Die Konstruktion des Automaten folgt einem abstrakten, formalen und idealen Modell. Das Modell muss vom realen Benutzungsvorgang abstrahieren und einige idealtypische Annahmen treffen: Es wird unterstellt, dass der Benutzer die Anweisungen auf dem Bildschirm des Automaten lesen, verstehen und befolgen kann, dass er über entsprechende Zahlungsmittel verfügt und dergleichen mehr. Die getroffenen idealtypischen Annahmen dienen nicht zuletzt einer Reduktion der Kompliziertheit des Automaten. Versuchten die Konstrukteure, alle möglichen und denkbaren Benutzungssituationen zu berücksichtigen, so würde das einen faktisch unbegrenzten Aufwand für die Konstruktion des Automaten nach sich ziehen. Die in der Szene auftretende Dame hat der Norm des Automaten nicht entsprochen. Der nicht-normativ handelnde, nachsichtige Kontrolleur sieht sich nicht als ein bloßer Erfüllungsgehilfe des automatischen Fahrkartenverkaufs und lässt per Ausnahme „für diesmal“ einen Ausweg aus der automatisierten und daher normierten Situation zu.

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Wir wollen zum weiteren Verständnis der Automatisierung einige historische Gegebenheiten und Phänomene betrachten. Der Begriff „Automat“ bedeutet „sich selbst bewegend“, im Sinne von selbsttätigem Handeln. Die antiken Griechen kannten die Αυτοματια (Automatia) als Göttin der ohne menschliches Zutun eintretenden, glücklichen und nützlichen Ereignisse. Die Automaten können Aufgaben eigenständig erledigen. Die von den Systemen erzielten Lösungen wurden von den Konstrukteuren der Automaten so vorgesehen. Die ersten Automaten wurden bereits in prähistorischer Zeit konstruiert. Es waren Fallgruben für die automatische Erbeutung von Tieren. Die Fallgruben führten zu einem deutlich besseren Jagderfolg. Auch diese ersten primitiven Automaten folgten einem definierten abstrakten Modell der Nutzung: Wenn ein hinreichend schweres Tier auf die getarnte Abdeckung der Fallgrube geriet, dann agierte der Automat entsprechend und bestimmungsgemäß. Der Mechanismus arbeitete nach Inbetriebnahme selbstständig, es musste kein Mensch mehr für das Ergreifen der Beute und den Jagderfolg vor Ort präsent sein. Die Falle war permanent – sinngemäß „rund um die Uhr“ – betriebsbereit; eine ganze Anzahl dieser Vorrichtungen konnte parallel betrieben werden. Der Automat hat die Produktivität der Jagd massiv erhöht. Ein Automat wie die Fallgrube kann aber auch nicht dem abstrakten Modell der Nutzung entsprechen und damit nicht sinnhaft arbeiten. Es konnten Tiere gefangen werden, die als Beute nicht erwünscht waren, oder es gerieten sogar Menschen unbeabsichtigt und unglücklicherweise in die Falle. Der Mensch hat schon früh erkannt, dass Automaten eine Kehrseite haben. In den biblischen Sprüchen (Kapitel  26, Vers  27) findet sich bereits das bekannte Sprichwort „Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“. Selbst primitive Automaten können einerseits eine mächtige Wirkung entfalten – und andererseits gefährlich sein, wenn ihr Agieren nicht dem intendierten Modell entspricht. Wie allgemein bekannt, ist ein Algorithmus eine Prozess- oder Handlungsvorschrift zur Erzielung eines bestimmten Ergebnisses. Er besteht aus – endlich vielen, definierten – einzelnen Anweisungen und Funktionen, die von einem Menschen oder einer Maschine ausgeführt werden können. Algorithmen können als ein Compu74

terprogramm implementiert werden. Die Kompliziertheit eines Algorithmus misst sich in dessen Anzahl funktionaler Einzelanweisungen, bedingten Verzweigungen, Schleifen, Behandlung von Sonderfällen etc. Im Falle einer mechanischen Realisierung zählen die Form und die Anzahl der in der Maschine verbauten Teile. Die Komplexität eines Algorithmus drückt sich aus in dessen Verbrauch an Laufzeit oder anderen Ressourcen. Die Kompliziertheit und die Komplexität eines Algorithmus stehen oft in einem reziproken Verhältnis: Je komplizierter das Verfahren, desto weniger komplex ist es in der Regel. Als Beispiele sind komplizierte Sortier- und Such-Algorithmen zu nennen, deren Laufzeit niedriger ist als die unkomplizierten einfachen Verfahren. Auch ist das Komplexitätsmaß des Kraftstoffverbrauchs bei komplizierteren Triebwerken – in der Regel – relativ niedriger als bei primitiveren. Das menschliche Gehirn kann sehr komplizierte Algorithmen ausführen, wenn sie von überschaubarer Komplexität sind. Maschinen hingegen sind dem menschlichen Gehirn haushoch überlegen, wenn Leistungen hoher Komplexität mit Algorithmen überschaubarer Kompliziertheit erbracht werden sollen. Wir sehen beispielsweise, dass die algorithmische Basis des Schachspiels sehr überschaubar und unkompliziert ist. Die Regeln können von jedem Grundschüler in kurzer Zeit verstanden werden, sie sind relativ einfach als eine Schachspielsoftware zu programmieren. Die Komplexität des Spiels aber, nach Maßgabe der Anzahl der Figuren und der Felder auf dem Schachbrett, verlangt vom Menschen sportlichen Ehrgeiz, wenn er eine Partie gewinnen will. Und der Mensch ist – wie allgemein bekannt – spielerisch in faktisch allen Fällen den heutigen Schachcomputern unterlegen. Der Mensch neigt immer wieder dazu, in einer pseudo-anthropomorphen Beurteilung der Maschinen die Kompliziertheit mit der Komplexität zu verwechseln. Als Ergebnis einer anthropomorphen Projektion billigt der Mensch den Maschinen gar das Attribut eines dem Menschen überlegenen „Superhirns“ zu, er ist von der „Denkleistung“ der Maschinen maßlos beeindruckt. Allerdings sind die „Superhirne“ der 1970er-Jahre heute als Billigst-Taschenrechner und Massenware verfügbar. In den 1990er-Jahren hat erstmals ein Computer (genannt Deep Blue) den damaligen Schachweltmeister Gary Kasparov besiegt  –  diese „Superhirne“ der 1990er werden heute als consumer product Schachcomputer zum Kauf angeboten. 75

Der Fortschritt in der Konstruktion von Maschinen der sogenannten Künstlichen Intelligenz (KI) wird von der Öffentlichkeit als stärker werdender Konkurrenzkampf zwischen Mensch und Maschine betrachtet. Nach dem Schachtriumph von Deep Blue gelang es auch anderen KI-Computern, menschliche Gegner zu schlagen: Ein Computer gewann in der Quizshow Jeopardy und in jüngerer Zeit im unkomplizierten, aber hochkomplexen Brettspiel Go. Die ANN-Software AlphaGo habe sich das Go-Spielen „ganz ohne menschliche Hilfe selbst beigebracht“, wurde der Öffentlichkeit mitgeteilt. Die künstlichen neuronalen Netze (artificial neural networks – ANN) haben ein biologisches Vorbild in den natürlichen neuronalen Netzen, den Nervenzellvernetzungen im Gehirn der diversen Lebewesen. Neuronale Netze sind keine prinzipiell neuen Maschinen, sondern bezüglich des Berechenbarkeitsmodells ein Äquivalent zur bekannten Turing-Maschine. Das ANN-System AlphaGo hat gar nichts „gelernt“, aber es hat die Struktur von Beispielen adaptiert und kann diese nach Maßgabe der – von Menschen organisierten – Programmierung verallgemeinern. Das System hat, von Beispielen abstrahierend, gewisse Gesetzmäßigkeiten nur scheinbar „erkannt“. Das System hat, anders ausgedrückt, das Schema von gewonnenen Go-Partien destilliert und kann dieses Schema nun erfolgreich simulieren. Dem in diesen Systemen verwendeten ANN wird ein Verhalten antrainiert; es ist jedoch kein Einblick in den erlernten algorithmischen Lösungsweg möglich. Dieser ist ein sogenannter „impliziter“ Algorithmus. Das Verhalten dieser impliziten ANN-Algorithmen ist nicht unbedingt einwandfrei vorhersehbar – es erscheint uns dann als nicht-kausal. Denn die Lernbeispiele für das Training hat man nicht immer unter voller Kontrolle. Berüchtigt wurde 2015 ein ANN-Programm, das dunkelhäutige Menschen als Gorillas bezeichnete  –  was schon arg bedenklich ist. Man könnte meinen, das Programm habe eine „schlechte Erziehung“ genossen. Mit der Abrichtung von Tieren, speziell von Hunden, begann der Mensch in prähistorischer Zeit, die ersten nicht-humanen neuronalen Netze zu nutzen. Die Abrichtung eines Hundes (canis lupus familiaris) ist die Programmierung eines nicht-humanen biologischen neuronalen Netzes. Abgerichtete Hunde helfen dem Menschen vielfältig, sie dienen auch zur Unterhaltung und als Sozialpartner des Menschen. Der dressierte Hund entscheidet selbstständig und handelt entspre76

chend bestimmungsgemäß. Nach Maßgabe weiterer Erziehung und Erfahrung lernt ein Hund und entwickelt seine Fähigkeiten weiter. Hunde mit Fehlverhalten können sich als für den Menschen sehr gefährlich erweisen, sie sind zum Teil ohne erkennbaren Anlass aggressiv. Die menschliche Zivilisation hat sich über viele tausend Jahre an die Nützlichkeit und die Gefahren der Automatisierung und des Gebrauchs nicht-humaner neuronaler Netze gewöhnt. Man hat die Modalitäten und die Risiken vollumfänglich adaptiert und akzeptiert. Heute aber tritt eine neue Qualität von Gefahren auf. Zum einen haben heutige Systeme in Ort und Zeit massiv stärkere Auswirkungen als eine prähistorische Fallgrube. Die Automaten, die etwa die Arbeitsplatzcomputer mit den jeweiligen Software-Updates versehen, sind von absolut globaler Ausdehnung. Ihre Lebensdauer ist zum Teil eminent; Teile von einigen Betriebssystemen sollen bereits Jahrzehnte alt sein. Ähnliches gilt für die globale Präsenz der großen Onlinehändler und Social Networks und die Lebensdauer ihrer Dateien mit Kundendaten. Zum anderen ersetzen Automaten und neuronale Netze den direkten sozialen Kontakt. Dienstleistungen werden nicht mehr von Menschen für Menschen, sondern von entsprechenden Maschinen für Menschen erbracht. Das hat massive Auswirkungen auf das, was wir unter „gesellschaftlichem Umgang“ verstehen. Die Normen der KI-Systeme verlangen nach anthropozentrischer Ergänzung. Es werden bekanntermaßen Befürchtungen vorgebracht, dass die maschinelle KI in absehbarer Zeit den Menschen überlegen sein und die Ökonomie und Gesellschaft von Maschinen normativ beherrscht werden wird  –  in einem imperium computatrum. Es ist in der Tat vor einigen Gefahren der nicht-sinnhaften Automatisierung zu warnen. Der Dominanz sinnloser oder unausgereifter Prozesse oder Maschinen muss entgegengetreten werden; man braucht „nicht-normative Auswege“ aus der normativen Bevormundung des Menschen durch die Systeme. Da viele normative Vorgaben bereits als „Wenn Fehlverhalten, dann Sanktion“ formuliert sind, wäre eine algorithmische Fassung und Automatisierung von Teilen der Rechtspflege möglich. Die einfache Zusammenführung der in einem Navigationssystem im Auto verfügbaren Daten – Standort, Fahrgeschwindigkeit, Geschwindigkeitsbegrenzung durch Verkehrsregelung – ermöglicht die automati77

sche Identifikation der Ordnungswidrigkeit „Geschwindigkeitsübertretung“. Die Sanktion könnte per Algorithmus automatisch gefunden werden, das sofortige Abbuchen der fälligen Geldbuße vom Bankkonto des Fahrers oder Halter wäre technisch möglich  –  und damit eine vollautomatische Behandlung von Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr. Wenn Entscheidungen von Computern nicht sinnhaft sind, dann müssen diese erkannt werden können. Es müssen Mechanismen zu deren Verhinderung beziehungsweise zu deren Korrektur verfügbar sein. Ein Problem besteht darin, dass nicht-sinnhafte Maschinen und Prozesse nicht sofort als solche erkannt werden können. Um diesen Aspekt zu illustrieren, betrachten wir einige Beispiele. Personenkraftwagen erfahren seit Jahren einen zunehmenden Grad an Automatisierung. Eine automatische Überwachung von Werkstatt-Servicezyklen entlastet den Fahrer, hat aber Nachteile, wenn der Bordcomputer veranlasst, dass sich der Wagen „zu Ihrer eigenen Sicherheit“ oder „zu Ihrem eigenen Vorteil“ nicht in Betrieb nehmen lässt. Die seitens der Hersteller permanent verordneten „Updates“ der Betriebssysteme der Personal Computer und Smartphones sollen am Ende deren Zuverlässigkeit erhöhen. Vom System dem Nutzer zur Unzeit aufgezwungene und umfangreiche Aktualisierungen sind mehr als ärgerlich, verhindern sie doch das sinnhafte Benutzen dieser Maschinen. Das Setzen von „Cookies“ und andere Datensammlungen im Netz sollen eigentlich dazu dienen, den Nutzwert der Informationssysteme zu erhöhen, führen aber auch zu massiven Belästigungen, wenn auf Basis der gesammelten Daten ein bestimmtes Kundenverhalten vermutet wird und der Nutzer eine Unzahl „maßgeschneiderter individualisierter Werbung“ erhält. Die Konstruktion garantierter Prozesse, die zu einem bestimmten Termin auszuführende Transaktionen (Bestellungen, Überweisungen etc.) definieren, kann mittels Blockchain und Smart Contract sehr sinnvoll sein. Andererseits sind diese Transaktionen nicht mehr korrigierbar, wenn sich die Paradigmen geändert haben sollten, etwa wenn sich die Überweisung eines Geldbetrags als das Resultat eines Betrugs herausstellt. Die Beispiele zeigen auch, dass sich die Nicht-Sinnhaftigkeit einer Automatisierung jeweils kaum vorhersagen lässt. Man dürfte keine Schwierigkeiten haben, aus eigener Erfahrung Situationen zu benennen, wo sich zunächst sinnhafte Automa78

ten später dann bevormundend, einnehmend-totalitär oder fehlerhaft verhalten haben. Diese Nicht-Sinnhaftigkeit  –  oder Fehlerhaftigkeit  –  hat sich erst später ergeben, typischerweise als Defizite in der Modellierung, die der Anwendungssituation zugrunde liegt. Es dürfte kaum einen Ansatz geben, mit dem sich diese Defizite sicher und im Voraus erkennen lassen. Der von Karl Raimund Popper begründete Kritische Rationalismus fragt nicht nach der Beweisbarkeit einer wissenschaftlichen Theorie, sondern danach, wie man deren eventuelle Fehler finden könne und was dann zu tun sei – im Rahmen der sogenannten Falsifikationen und Modifikationen. Wir sehen einen Ansatz des Kritischen Rationalismus auch im Metier der Automatisierung. Es kann nicht entscheidend sein, wie man im Voraus eine sinnvolle Automatisierung konstruiert. Eine umfangreiche Begründung für eine normative Automatisierung ist aus kritisch rationaler Sicht abzulehnen. In den Vordergrund ist stattdessen die Frage zu rücken, wie schlechte und fehlerhafte Automaten erkannt und verbessert werden können. Demzufolge wäre ein kritisch-rationaler, Offener Diskurs für Automaten zu pflegen. Wenn für normativ tätige Automaten deren Korrektheit nicht objektiv bewiesen werden kann, dann kann es höchstens in gewissem Rahmen „bewährte Automaten“ geben. Der Mensch braucht Mechanismen der Falsifikation, mittels derer man einer nicht-sinnhaften Automatisierung ausweichen und entkommen kann: OFF – das kontrollierte Abschalten von Automaten und dadurch die Möglichkeit, einen Prozess manuell anhalten und abschalten zu können, und ESC – das Ausweichen vor den normativen Vorgaben eines Automaten und das Wiedererlangen der manuellen Kontrolle durch handelnde Menschen. Eine Inbetriebnahme von (neuen) Automaten sollte ohne eine systematische Planung dieser beiden Optionen „OFF“ und „ESC“ eigentlich nicht möglich sein dürfen. Das eingangs dargestellte erste Beispiel von der Schwarzfahrerin illustriert deutlich die Notwendigkeit, den normativen Automaten quasi „ausweichen“ zu können. Vor einigen Jahrzehnten wurde – insbesondere von Arno Bamme, Günther Feuerstein und Renate Genth  – der Begriff der „sozialen Megamaschine“ geprägt. 79

Die Megamaschine ist keine technische Maschine im Sinne einer physischen Konstruktion, sondern ein soziales Phänomen in einer programmierten Gesellschaft, deren individuelle Personen sich einem algorithmisch definierten – normativen  –  Regelwerk unterwerfen, zum Zweck der Erreichung eines irgendwie gearteten höheren Ziels. Diese Megamaschinen existieren bereits seit vielen Jahrhunderten. Nur eine algorithmisch programmierte Gesellschaft war in der Lage, personenneutral über viele Jahre hinweg die Pyramiden der Antike oder die Kathedralen des Mittelalters zu erbauen. Eine Megamaschine neueren Datums hat die US-amerikanischen Mondlandungen seit Ende der 1960er-Jahre ermöglicht. Die Argumentation geht dahin, dass sozusagen nur ein abstrakter, über die Fähigkeiten des Individuums (totalitär) verfügender Algorithmus die genannten Großprojekte zu realisieren imstande war. Gemessen am großen Projekt waren der Beitrag und die Arbeitsleistung einzelner Personen marginal – die Mitarbeitenden waren der algorithmischen Macht der sozialen Maschine völlig unterworfen. Gegenüber der normativ wirkenden sozialen Megamaschine ist der einzelne Mensch absolut austauschbar. Es ist das Wesen jeder normativen Vorgabe und gesetzlichen Regelung, dass sie im Kern die Programmierung einer sozialen Megamaschine darstellt. Die Individuen haben den algorithmisch vorgegebenen normativen „Wenn-Dann-Anweisungen“ Folge zu leisten: Ein bestimmtes Fehlverhalten hat eine bestimmte Sanktion zur Folge. Bei Megamaschinen ist dies typischerweise der Ausschluss aus dem Projekt und dem sozialen Gefüge. Akademische und technische Fortschritte sollen zur Wahrung und Verbesserung von Wohlstand und Lebensqualität sinnvoll umgesetzt werden. Es ist zu warnen, wo nicht-sinnhafte Automatisierung umgesetzt wird, die dem Menschen die Handlungsautonomie nimmt, weil sie alternativlose, nicht korrigierbare Prozesse darstellt – dies bedeutet eine Gefahr für die Gesellschaft.

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Der Epilog zeigt mit der Rede von den Lilien auf dem Felde das Ende aller Normen Die eingangs angeführte ethische Grundfrage „Was soll ich tun?“ markiert die Suche nach dem formal richtigen und auch guten Handeln. Diese Fragestellung ist nur sinnvoll, wenn sie in einem planenden und sorgenden Kontext für das künftige Tun steht. Komplementär zum Planen des richtigen und „guten“ Handelns sehen wir die Sorge des Menschen, möglichst keinerlei Fehlverhalten zu begehen. Im juristischen Metier ziehen ein Fehlverhalten – zivilrechtlich als Schädigung Dritter oder strafrechtlich als Straftat oder eine Ordnungswidrigkeit – entsprechende Sanktionen und Strafen nach sich. Diese möchte man möglichst und sorgfältig vermeiden. Auch im religiösen Metier ist die Sünde gegen göttliche Gebote mit Bestrafungen verbunden. Auch die Vermeidung oder Umgehung jenseitiger höllischer Strafen ist seit der Antike eine stete Sorge der Gläubigen. Die ethischen Fragen sind obsolet und stoßen damit an eine Grenze, wenn es keine Handlungsalternative oder Wahlfreiheit als Grundlage der Planung des Handelns gibt. Für eine von objektivem Sachzwang oder Höherer Gewalt vorgegebene Handlung stellt sich die Frage nach deren ethischer Richtigkeit nicht; das betroffene Subjekt kann mit der „Alternativlosigkeit“ seines Handelns jede weitere Verantwortung von sich weisen. Die ethische Planung setzt zudem einen – wenigstens als so empfundenen – freien Willen voraus, der allerdings – beispielsweise durch eine Krankheit – eingeschränkt sein kann. Sehen wir also die Planung und die Sorge als wesentlich für den handelnden Menschen, dann muss eine überlieferte Rede des Jesus von Nazareth massiv irritieren. In der Rede von den Lilien auf dem Felde wird zur Überwindung des Planens und des Sorgens aufgerufen. Die Rede geht radikal über jede Normenkritik hinaus; es wird nichts weniger als das Ende aller Normen gefordert. 81

Die beiden überlieferten Varianten dieser Rede (bei Matthäus, Kapitel 6, Verse 25 bis 34, und bei Lukas, Kapitel 12, Verse 22 bis 32) sind wahrscheinlich auf die ihnen zugrunde liegende „Spruchquelle Q“ zurückzuführen; eine entsprechende Rekonstruktion der Rede in Q liest sich in deutscher Übersetzung etwa so: Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, was ihr essen könnt. Sorgt euch auch nicht darum, was ihr anziehen könnt. Denn das Leben ist mehr als nur die Nahrung und die Kleidung. Beobachtet bei den Raben, dass sie nicht säen und nicht ernten. Sie sammeln auch keine Vorräte in Scheunen, und Gott ernährt sie doch – aber ihr seid doch viel mehr wert als diese Vögel! Wer von euch kann durch Sorgen sein Leben auch nur im Geringsten verlängern? Und was sorgt ihr euch wegen der Kleidung? Beobachtet bei den Lilien, wie sie wachsen. Sie arbeiten nicht und sie spinnen kein Garn. Ich aber sage euch, dass selbst Salomon in all seiner Herrlichkeit nicht so schön gekleidet war wie sie. Wenn Gott aber die Pflanzen auf dem Feld […] so kleidet, dann wird er euch um vieles besser kleiden, ihr Kleingläubigen. Sorgt euch nicht um Essen, Trinken oder Kleidung. Danach streben die Heiden.

Dieser Rede folgen dann Hinweise, dass man durch das Streben nach dem „himmlischen Reich“ all die genannten materiellen Dinge quasi gratis als Zulage bekomme und dass man die „Schätze im Himmel“ sammeln solle. Denn die Schätze auf der Erde seien bedroht, da „Motten und Rost“ sie fressen und vernichten – und sie von Dieben und Einbrechern gestohlen werden können. Die transkulturelle Parallele zum taoistisch-minimalistischen „Der Weise häuft keinen Besitz auf – Besitz belastet“ scheint offensichtlich zu sein – allerdings ist die Jesuanische Rede von den Lilien auf dem Felde kein Aufruf zur Besitzlosigkeit: In der Antike waren Besitz, eine ökonomische (landwirtschaftliche) Bodennutzung und eine Verwaltung der Immobilien von großer Bedeutung: Das alte jüdische Verständnis von Besitz und Reichtum war realistisch und positiv. Ein reicher 82

Mensch galt als ein gesegneter Mensch – denn niemand könnte gegen Gottes Willen zu Reichtum gelangen. Wenn Jesus das Sorgen um eine materielle Basis den „Heiden“ zuweist, dann trifft er damit seine nächste soziale Umgebung – von der er sehr wohl ökonomisch abhängig gewesen sein dürfte. Seine wichtigsten Unterstützer und Jünger waren arbeitende Menschen wie die Fischer am See Genezareth. Sie gaben ihre reguläre Arbeit auf und vernachlässigten damit ihre Familie, um Jesus zu unterstützen und ihm „nachzufolgen“. Das Lebensunterhaltsmodell des Jesus von Nazareth selbst konnte in der damaligen Gesellschaft nur eine Ausnahme gewesen sein. Jesus war von Haus aus zwar nicht arm, aber er war auch nicht sorgenfrei reich oder in besonders privilegierte Verhältnisse hineingeboren. Er konnte sich kaum einer beschaulichen, ökonomisch unabhängigen vita contemplativa widmen. Er war auch kein seltsamer Heiliger, wie der „dämonische“ Prediger Johannes der Täufer, der wie ein antiker Freak fast mittellos und asketisch in der Wüste hauste. Von einer Mittellosigkeit  –  im Sinne von Nicht-Verfügbarkeit von Vermögen – kann bei Jesus und seinen Nachfolgern nicht die Rede sein. Sie wären sonst auf Bettelei und Almosengaben angewiesen gewesen. Von einer solchen Bettelei berichtet aber das gesamte Neue Testament nichts; hingegen finden wir bei Johannes, Kapitel 4, Vers 8, einen deutlichen Hinweis auf verfügbare Geldmittel: Denn seine Schüler waren in die Stadt gegangen, um Nahrungsmittel zu kaufen.

Nach der Darstellung der Evangelien war Jesus darauf angewiesen, von wirtschaftlich etablierten Gastgebern versorgt und beherbergt zu werden. Der Jesus der Evangelien lehnte Geldmittel – als solche – nicht ab, sondern sah sie als wichtig für die Lebensgestaltung und die Wohltätigkeit an. Verurteilt wurden von ihm aber die Untertänigkeit des Menschen unter geldorientierten Systemen und ein von Geldgier dominierter Lebenswandel. Wir müssen daher die Rede von den Lilien auf dem Felde abstrakt sehen. Es geht hier nicht um idealistische Besitzfeindlichkeit, sondern um eine radikale  –  die denkbar größte – Normenkritik. Jede planerische Sorge und (damit) das daraus zu folgernde richtige Handeln werden als heidnisch abgelehnt. Die Vorbilder in 83

der Rede, die Raben und die Lilien, führen ein sorgenfreies Dasein. Sie stellen sich keine in die Zukunft gerichteten, planerischen ethischen Fragen. In der Jesuanischen Lehre markiert die Rede von den Lilien auf dem Felde das Ende der normativen Ethik.

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Eine Zusammenfassung: Die normative Ethik ist nicht vollständig und sie kann es nie sein. Ein ignoramus et ignorabimus existiert. Unser Diskurs zeigt, dass es gutes Handeln gibt, das sich einer normativen Fassung entzieht. Die an sich gute und kulante Tat der gleichen Entlohnung der Arbeiter für ihre ungleiche Arbeit im Weinberg taugt nicht als Vorbild einer allgemeinen normativen Gehaltsfindung. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die normativen Vorgaben der Gesetze und Verordnungen keine komplette Sammlung des guten Handels sind – und es niemals sein werden. Ein anthropozentrischer Humanismus, der nach einem guten Leben aufgrund guten Handelns (enhancing life) strebt, ist notwendigerweise darauf angewiesen, die Normen geeignet und human zu ergänzen. Die Frage „Was soll ich tun?“ ist normativ nicht abschließend zu beantworten. Wir sehen damit eine prinzipielle Unvollständigkeit jeder normativen Ethik in Bezug auf ein komplettes und geschlossenes Modell des Guten. Das ist wohl der Sinn des Spruchs bei Matthäus, Kapitel 5, Vers 17: [Ich bin] nicht gekommen [das Gesetz] zu zerstören [καταλυσαι – katalysai], sondern vielmehr, um [es] zu ergänzen [πληρωσαι – plerosai].

Wir erlauben uns hier eine Nebenbemerkung: Der Begriff πληρωσαι  –  plerosai – wird oft prophetisch mit „erfüllen“ interpretiert, etwa als „ich bin gekommen, (…) die Schrift zu erfüllen“. Das Wirken von Jesus wird als die Erfüllung prophetischer Weissagungen aufgefasst. Tatsächlich hat das πληρωσαι auch eine quasi „sächliche“ Bedeutung im Sinne von „auffüllen“ und „ergänzen“, auch „vollkommen machen“ wäre möglich. Neugriechisch ist πληρωσαι auch „bezahlen“, 85

im Sinne des Auffüllens eines Schuldenstands. Nicht zuletzt ist unsere Auffassung sehr schlüssig im Kontext des nachfolgenden Verses 20: […] Ich sage euch aber: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weiter reicht als das Gesetz der Schriftkundigen und der Pharisäer, so werdet ihr das himmlische Reich hier auf der Erde nicht erleben.“

Wir können uns fragen, wie man in anderen Wissenschaften mit Paradoxa und den daraus folgenden „Unvollständigkeiten“ der jeweiligen Theorien umgeht. Die Neuformulierung der Weltbilder der Relativitätstheorie und der Quantenphysik wurde eingangs bereits erwähnt. Es ist quasi ein „Meta-Paradoxon“, dass diese beiden Hauptströmungen der neuzeitlichen Physik miteinander unvereinbar sind; eine ganzheitliche kosmologische Theorie wurde bislang nicht gefunden. Im Sommer des Jahres 1900 brachte der Mathematiker David Hilbert eine sehr optimistische erkenntnistheoretische Haltung zum Ausdruck. Er formulierte sinngemäß, dass jedes mathematische (formale) Problem gelöst werden könnte, denn in der Mathematik gäbe es zwar ein ignoramus („Wir wissen es nicht“), aber kein ignorabimus („Wir werden es nicht wissen“). David Hilbert erarbeitete sogar einen Katalog von ungelösten formalen Fragen, von denen er annahm, dass sie in nächster Zukunft von der Mathematik beantwortet werden könnten. Damit bezog David Hilbert Position gegen die prominent von Emil Heinrich Du Bois-Reymond vertretene Skepsis, dass es in den Naturwissenschaften eine „Grenze der Erklärbarkeit“ gäbe. Bereits 1880 erklärte Emil Heinrich Du Bois-Reymond, es gäbe „sieben Welträtsel“. Er vermutete sogar, einige dieser Rätsel wären für den Menschen prinzipiell unlösbar. Seit den 1930er-Jahren wissen wir, dass einige der von David Hilbert formulierten Ziele formal unerreichbar sind. Kurt Gödel entdeckte mit dem Unvollständigkeitssatz quasi „Lücken“ in den formalen Systemen. In der Folge zeigte Alan Turing, dass das (allgemeine, nicht-triviale) Entscheidungsproblem nicht lösbar ist. Damit können wir – zum Beispiel – nicht berechnen und nicht wissen, ob ein beliebiger Algorithmus (mit einer beliebigen Dateneingabe) terminiert, also nur endliche Zeit – und wie lange – rechnet. Wir sind im Umgang mit Computern zu einem lästigen world wide waiting (das WWW) verurteilt. David Hilbert war 86

zu optimistisch – es gibt in der Mathematik das ignoramus et ignorabimus („Wir wissen es nicht und wir werden es nicht wissen“). Wir sehen in weiteren Wissenschaften solche Elemente des ignoramus et ignorabimus. In der Drei-Welten-Lehre von Eccles und Popper wird das die Welt und seine Objekte erkennende psychische Bewusstsein (das „Ich“) als der Erkenntnis unzugänglich angesehen. Es stellt damit quasi ein „Schwarzes Loch“ für die menschliche Erkenntnis dar. Das Subjekt ist per definitionem kein Objekt – und kann damit kein Gegenstand der Erkenntnis sein. Die Forderung des Heraklit nach Selbsterkenntnis und die berühmte Aufforderung der Inschrift γνωθι σεαυτον – gnothi seauton („Erkenne Dich selbst!“) am Apollotempel von Delphi – sie laufen seit zweieinhalbtausend Jahre ins Leere. Niemand hat sich jemals selbst vollständig erkennen können … Im den 1920er-Jahren formulierte der Physiker Werner Heisenberg im Rahmen der Quantenmechanik die sogenannte Unschärferelation (oder Unbestimmtheitsrelation). Sie sagt aus, dass zwei komplementäre Eigenschaften – wie der Ort und der Impuls – eines Teilchens nicht simultan genau bestimmt werden können. Die Unschärferelation ist nicht „technisch“ zu beheben durch bessere Messinstrumente, sondern sie ist prinzipieller Natur. Damit ist das klassische kausale Weltbild, nach dem jede künftige Situation sich aus der genauen Kenntnis der jetzigen Situation berechnen lässt, hinfällig geworden. Unser Diskurs hat nicht dargelegt, dass die normative Ethik als solche – und in ihrer Gänze – hinterfragt werden müsste. Wir sehen, dass ethische Normen sich quasi von selbst bilden, sobald Menschen in Gruppen leben und kooperieren. Die Normsetzung ist dem Menschen sozusagen angeboren. Die Zivilisation gestaltet die Verhaltensnormen als Gesetze und Verordnungen oder als Gepflogenheiten. Die Normativität liefert nützliche Modelle direkter oder indirekter praktischer Handlungsempfehlungen. Die einfache Normenkritik hinterfragt die normativen Systeme und ersetzt sie innovativ (in Reformen) durch andere normative Systeme. Das normsetzende, auch ideologische System wird durch ein anders System ersetzt. Die Bereitschaft zu ei87

ner normenkritischen Reform der Normen und Gesetze ist ein wichtiges Element moderner normsetzender und gesetzgebender Systeme.

„Was soll ich tun?“ – Frage nach dem richtigen, guten Handeln: Mögliche Antworten – „Was zu tun ist“:

Normen des richtigen Handelns:

Verschiebung von Normen:

Gesetze, Gebote, Verordnungen als abstrakte und funktionale Modelle.

- Normensysteme ändern sich nach Maßgabe der Machtverhältnisse.

- Genuss und Vergnügen als Ausnahmen von Verzichtsnormen.

- Prärogative der Gnade, Kulanz, etc.

- Richtiges Handeln wird kriminalisiert.

- Ein „über die Stränge Schlagen“, wird als lokales Handeln toleriert.

- Aufwendig, zum Teil ökonomisch katastrophal.

Normenkritik: Verbesserungen der Normen.

Angenehmer Hedonismus:

- Kriminelles Handeln wird gutgeheißen.

Wohltaten nichtnormativer Ethik:

- Nicht normierbar.

- Verstoß gegen andere Gebote und Gesetze.

Die nicht-normative Ethik geht über die Normenkritik und ihre Forderung nach Reformen hinaus. Sie stellt neben die bestehende Norm und die bestehenden Gebote und Gesetze, die Gefahr laufen, menschenverachtend zu sein, ergänzend eine nicht-normative Anthropozentrik. Dies ist ein Aspekt des unmittelbaren enhancing life – einer menschenwürdigen Zivilisation, einer besserer Gemeinschaft der Menschen schlechthin. Die Gefahren der herrschenden normativen Systeme werden adressiert, damit Auswege aus deren möglicher Dominanz gefunden werden können: Der anthropozentrische, nicht-normative Humanismus erkennt die Menschen und ihre (beschränkten) Fähigkeiten situativ und fordert, dass sie juristischen Gegebenheiten und den sozio-ökonomischen „Systemen“ nicht ohne weitere anthropozentrische Rahmenbedingungen untertan gemacht werden dürfen. Besonders 88

wenn der Mensch – guten oder schlechten Willens handelnd – fehlerhaft gehandelt hat oder gar gescheitert sein sollte, so soll er nicht permanent verurteilt werden. Auch der Gescheiterte soll sein weiteres Leben gemäß seiner neuen Würde zu verwirklichen in der Lage sein. Es stellt sich die permanente Aufgabe zu erkennen, wo Normen und das Gesetz unmenschlich werden – und einer „blinden Anwendung“ entgegengetreten werden muss. Diese Aufgabe hat bereits in der Antike die griechische Tragödie erkannt. Die Parabeln und biographischen Episoden der Evangelien überliefern die praktische Philosophie des historischen Jesus von Nazareth; sie sind von aktueller Bedeutung, denn diese Aufgabe gewinnt besondere Aktualität durch die Vielzahl normsetzender Maschinen und Prozesse. In eine Norm kann man Regeln zu ihrer Verletzung nicht einfügen  –  das wäre widersprüchlich und paradox. Die nicht-normative Ethik entzieht sich per definitionem einer Normierung. Das ist das große Dilemma der nicht-normativen Ethik – sie kann nicht Teil des normativen Systems werden, das das Zusammenleben in der Gesellschaft verbindlich regelt. Es bleibt die Aufgabe der Bewältigung der konkreten humanitären Situation. Im Zentrum einer anthropozentrischen Beantwortung der eingangs gestellten Frage „Was soll ich tun?“ sehen wir gleichsam einen „großen Widerspruch“ als die Grenze der analytisch erfassbaren normativen Ethik. Das ist das Schwarze Loch im Zentrum der Galaxie der normativen Ethik. Dieser Widerspruch wird deutlich in Paradoxa, wie sie die Parabel der Arbeiter im Weinberg zeigt, und sie wird deutlich in der Ablehnung aller ethischen Norm in der Rede von den Lilien auf dem Felde. Eine Auflösung des Weinberg-Paradoxons und der daraus folgenden Unvollständigkeit der normativen Ethik ist im Rahmen der derselben nicht möglich. Wir kommen über die oben dargestellten quasi „Hilfskonstruktionen“ (Verbot, Ausnahme und Geheimhaltung, Tragen des Aufwands) der lebenspraktischen Behandlung der Paradoxa nicht hinaus. In der Mathematik würde man eine solche Unvollständigkeit durch einen Wechsel der grundlegenden Axiome zu adressieren versuchen. Das ist angesichts der Rus89

sellschen Antinomie („die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten“) gelungen, indem man von der Naiven Mengenlehre zu Axiomen-basierten Ansätzen wechselte. Eine Lösung des allgemeinen, nicht-trivialen Entscheidungsproblems ist hingegen bislang nicht gefunden wurden. Das mag damit zusammenhängen, dass es (noch) kein Berechenbarkeitsmodell gibt, das über die Turing-Berechenbarkeit hinausgeht. Es ist eine offene Frage, ob sich in Zukunft etwa Berechenbarkeitsmodelle finden lassen, die nicht auf der Manipulation von Zeichen (den Elementen von vordefinierten Alphabeten) basieren. Vergleichbar wäre in der Ethikdiskussion meta-ethisch zu reflektieren, ob etwa der Anspruch der generell-normativen Ethiken auf Gültigkeit für alle Individuen aufzugeben sei. Die Konsequenz wäre die Konstruktion von Modellen „selektiv-normativer Ethik“. Dann sind ex ante Planungen des „richtigen Handeln“ und die ex post Handlungsbeurteilungen vom jeweiligen Individuum und der jeweiligen Situation abhängig. Womöglich liefe es auf das bekannte geflügelte Motto aliis si licet, tibi non licet des römischen Komödiendichters Terenz hinaus: „Auch wenn es anderen erlaubt sein mag, so doch nicht dir.“ Es erscheint als unauflösbarer Zirkel, wenn wir dann wiederum nach „normativen Bedingungen“ fragen, nach welchen wem was erlaubt sei. Wir kämen dann wieder auf die Ebene der generell-normativen Ansätze zurück, die es gerade zu überwinden galt. Auch die immerwährende Verbesserung der ethischen Normen durch eine geschickte Normenkritik kann eine Menschlichkeit der Gesellschaft nicht formal oder algorithmisch fassen. Das ignoramus et ignorabimus existiert: Die Frage „Was soll ich tun?“ ist normativ nicht abschließend zu beantworten.

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Literatur zum Weiterlesen Aischylos: „Die Orestie des Aischylos“ übersetzt von Peter Stein, 3.  Auflage, C.H.Beck, München, 2014. Bamme, A.; Feuerstein, G.; Genth, R.: „Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen. Grundrisse einer sozialen Beziehung“, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek, 1991. Buchanan, J. M.: „The Samaritan’s Dilemma“, in: Phelps, E. S. (Hrsg.): „Altruism, Morality, and Economic Theory”, S. 75–85, New York, 1975. Freytag, G.: „Die Technik des Dramas“, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1863, Reclam Verlag, Ditzingen, 1983. Frisch, M.: „Wilhelm Tell für die Schule“, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1971. Hoffmann, P.; Heil, Ch. (Hrsg.): „Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch“, 4. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2013. Hofmann, G. R.: „Impulse nicht-normativer Ethik für die Ökonomie. Die Evangelien zu Geld und Ruin, zu Versagen und Neubeginn“, Nomos Verlag, Baden-Baden, 2018. Jens, W.: „Der barmherzige Samariter“, Verlag Kreuz, Stuttgart, 1973. Kelsen, H.: „Was ist Gerechtigkeit?“, Nachdruck der Ausgabe Wien 1953, Reclam Verlag, Ditzingen, 2016. König, F.; Hofmann, G.  R.: „Die Kostenstellen der Barmherzigkeit: Caritative Dienstleistung im Spannungsfeld von Nachhaltigkeit, Professionalität und Finanzierbarkeit“, Lambertus-Verlag, Freiburg, 2017. Misselhorn, C.: „Grundfragen der Maschinenethik“, Reclam Verlag, Ditzingen, 2018. Noll, P.: „Jesus und das Gesetz – Rechtliche Analyse der Normenkritik in der Lehre Jesu“, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 1968. 91

Popper, K. R.; Eccles, J.: „Das Ich und sein Gehirn“, Piper Verlag, München, 1989. Popper, K. R.: „The Open Society and Its Enemies“, Revised Edition, Routledge, 2011. Popper, K. R.: „Alles Leben ist Problemlösen: Über Erkenntnis, Geschichte und Politik“, 8. Aufl., Piper Verlag, München, 1996. Roloff, J.: „Jesus“, 5. Auflage, C.H.Beck, München, 2012. Roth, M.: „Nichts als Illusion? Zur Realität der Moral“, Theologische Interventionen, Kohlhammer, Stuttgart, 2019. Scholl, N.: „Jesus von Nazaret: Was wir wissen, was wir glauben können“, Lambert Schneider, Darmstadt, 2012. Thiede, C. P.: „Der Petrus-Report“, Sankt Ulrich Verlag, Augsburg, 2002. Waldhoff, Ch., (Hrsg.): „Gnade vor Recht  –  Gnade durch Recht?“, Duncker & Humblot, Berlin, 2014. Wilhelm, R.: „Tao Te King“, Diederichs Verlag, München, 2000. Zimmermann, R.: „Die Parabeln Jesu“, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2007. Zimmermann, R.: „Metaphorische Ethik“, Theologische Literaturzeitung, 141 (2016) 4, S. 295ff.

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Georg Rainer Hofmann (geboren 1961) ist seit 1996 Professor und der Direktor des Information Management Instituts an der Technischen Hochschule in Aschaffenburg. Nach dem Studium der Informatik, Nebenfächer Volkswirtschaftslehre und Philosophie, an der Technischen Universität in Darmstadt promovierte er 1991 bei José Luis Encarnação (TU Darmstadt) und Peter Stucki (Universität Zürich) zum technisch-philosophischen Thema des Naturalismus in der Computergraphik. Hofmann verfolgt einen kritisch-rationalen Diskurs der Analyse unmittelbar praxisrelevanter technischer, gesellschaftlicher und ethischer Fragen und ihrer jeweiligen Wechselwirkung.

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