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German Pages 356 [355] Year 2021
Christian Jansen Marianne Zepp (Hg.)
Kann es demokratischen Nationalismus geben?
Christian Jansen Marianne Zepp (Hg.)
Kann es demokratischen Nationalismus geben? Über den Zusammenhang zwischen Nationalismus, Zugehörigkeit und Gleichheit in Europa von 1789 bis heute
Der Band geht zurück auf eine Tagung „Kann es ‚linken‘ Nationalismus geben? Eine historische Annäherung an den Zusammenhang zwischen Demokratie und Nationalismus“, die am 2.–4.3.2016 in der Katholischen Akademie Schwerte stattfand (Tagungsbericht: H-Soz-Kult 14.05.2016 https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6521).
An
der Vorbereitung waren außer den beiden Herausgeber*innen dieses Bandes Pina Bock (Leipzig) und Stefanie Schüler-Springorum (Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin) beteiligt. Dank gebührt der Heinrich-Böll-Stiftung für die gute Zusammenarbeit und die Unterstützung sowohl der Tagung wie auch des vorliegenden Bandes. Außerdem danken die Herausgeber/in Mira Wagner und Pia Breit (Trier) für engagierte Hilfe bei der Vereinheitlichung und Korrektur der Beiträge sowie Lea Eggers (wbg) für die vorzügliche Zusammenarbeit bei der Drucklegung!
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar
wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlagsabbildung: wikimedia (c) Allonsenfants Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40501-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40503-9 eBook (epub): 978-3-534-40502-2
Inhaltsverzeichnis Marianne Zepp/Christian Jansen: Einleitung................................................................ 7
I. Nationalismus und Demokratie: Typologie und Grenzen der Inklusion Christian Jansen: Demokratie und Nationalismus: Die deutsche und die französische Konstellation bis 1914.......................................22 Gabriele Kämper: Versprechen und falsche Freunde. Frauen im Imaginierten von Demokratie und Nation..............................................54 Gideon Botsch: Der rekonstruktive Nationalismus und die Demokratie. Zur Typologie des Nationalismus im 21. Jahrhundert..............................................87
II. Demokratische Nationsbildungen und ihre Begründungen Siegfried Weichlein: SPD und Nationalismus in der Weimarer Republik............118 Marianne Zepp: Die Neuerfindung der Nation. Westdeutscher Staatsaufbau nach 1945......................................................................153 Jan Palmowski: Arisen from Ruins: Socialist Nationalism in the GDR................187 Matthias Waechter: Frankreichs republikanischer Nationalismus und die Kolonisierung. Widersprüche und Konflikte.............................................221 Thomas Etzemüller: Nationalismus, Demokratie und Exklusion im schwedischen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts.........................................243 Daniel Mahla: Jüdisch und demokratisch? Der Zionismus und die israelische Staatsbildung....................................................276 Thorsten Mense: Nationalismus als Ideologie ethnischer Identifikation. Peripherer Nationalismus und Nationale Befreiungsbewegungen in Spanien....... 304
III. Ausblick Die Zukunft der Nation. Ein Gespräch mit Dieter Langewiesche.........................344 Autor*innenverzeichnis................................................................................................352 5
Einleitung Marianne Zepp/Christian Jansen „Solange es keine Möglichkeit gibt, praktische Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie auf einer höheren als der nationalen Ebene umzusetzen, bleibt die Nation die politisch relevante Bezugsgröße.“1 Damit erklärte der Politologe Francis Fukuyama den unmittelbaren Zusammenhang von demokratischer Ordnung und Nationalstaat. Dass dieser Zusammenhang nicht voraussetzungslos ist, zeigt sich an den pejorativen Aufladungen, die den Begriff in der öffentlichen Diskussion begleiten. Hannah Arendt identifizierte die Französische Revolution als den Ursprung des Nationalstaates, der deren „einzige unbezweifelbare Errungenschaft“ sei.2 Legt man Arendts emphatische Definition von Demokratie zugrunde, nämlich die „aktive Mitbestimmung öffentlicher Angelegenheiten“ durch das Volk als Souverän, so zeigt die Entwicklung im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass im Laufe der Nationalstaatsbildung nicht Demokratie, sondern eher Gewaltherrschaft, autoritäre Systeme und Kriege3 die Regel waren. Die Bindung des Nationalstaats an ein Territorium besagte und besagt bis heute, dass die Zugehörigkeit auf eine bestimmte, meist ethnisch definierte Gruppe von Menschen begrenzt ist. Wiederum nach Arendt ist der moderne Nationalstaat dann vollendet, wenn die staatlichen Institutionen, das Rechts- und Verwaltungswesen wie die Verfassung durch die Nation übernommen und durch die Nation repräsentiert werden. Die ältere Nationalismusforschung sah sie noch als eine „quasi-natürliche Einheit in der europäischen Geschichte“ (H.-U. Wehler) an und leitete daraus den Anspruch auf eine Staatsgründung ab.4 Nach den Erfahrungen von Diktatur
Francis Fukuyama im Interview. Süddeutsche Zeitung v. 15. März 2019. Hannah Arendt, Nationalstaat und Demokratie (1963) http://www.hannaharendt.net/ index.php/han/article/view/94/154. 3 So zum Zusammenhang von Krieg und Nationenbildung: Langewiesche, Lehrer. 4 Wehler, Nationalismus, S. 9f. 1 2
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und rassistischen Klassifizierungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im 20. Jahrhundert muss der Gedanke der Vereinbarkeit zwischen der auf Gleichheit fußenden Demokratie und Nationalismus, der auf Exklusion, also Ungleichheit basiert, jedoch fragwürdig erscheinen. Daher setzte sich ein pejorativer Nationalismusbegriff in der öffentlichen Wahrnehmung der meisten demokratischen Staaten durch. Nationalismus wurde meist gleichgesetzt mit Aggression nach außen, Abwehr des Fremden, Überlegenheitsgefühlen und einer rassistisch grundierten Definition von Zugehörigkeit. Noch angesichts der kriegerischen Konflikte auf dem Balkan im Zuge antagonistischer Nationsbildungen schrieb der britische Historiker Eric Hobsbawn: „Ein ethnisch und/oder sprachlich begründeter Nationalismus, der für jede `Nation´ einen eigenen souveränen Staat anstrebt, ist als allgemeines Programm nicht praktikabel, ist für die politischen und selbst für die ethnischen und sprachlichen Probleme am Ausgang des 20. Jahrhunderts irrelevant und hat mit hoher Wahrscheinlichkeit schlimme Folgen, wenn tatsächlich der Versuch unternommen wird, ihn in die Praxis umzusetzen.“5 Aus der analytischen Perspektive der internationalen Forschung hingegen sind „Nation“ und „Nationalismus“ ein Konglomerat politischer Ideen und ein inzwischen weltumspannendes politisches Legitimationsmuster, das sich im 19. Jahrhundert herausbildete und seit der Jahrtausendwende wieder an Einfluss gewinnt.6 Ideologische Komponenten wie Homogenitätsbehauptungen, Konstruktion ethnischer Kontinuitäten von der Antike bis in die Gegenwart, Stolz auf die eigene Geschichte und Erfolge der eigenen Nation, verbindende Symboliken und staatliche Repräsentation7 garantieren nach wie vor, und verstärkt in Krisen, die Wirksamkeit des Konzepts. Das der Idee des Nationalismus inhärente Versprechen von demokratischer Volkssouveränität trat realgeschichtlich hingegen oft in den Hintergrund. Ähnlich wie der Nationalismus geriet die liberale Demokratie westlicher Prägung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine Krise. Mit den sozialen Bewegungen, die anstelle des Glaubens an Regulierungsfähigkeit und dem Ideal gesellschaftlicher Planbarkeit eine neue Selbstermächtigung „von unten“ forderten und, teilweise, umsetzten, setzte aber eine neue Demokratisierungswelle ein.8 Gleichzei 7 8 5 6
Hobsbawm, Nationen, S. 8. Jansen, Borggräfe, Nation, S. 9. Jansen, Borggräfe, Nation, S. 21. Müller, Zeitalter, S. 343–347.
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Einleitung
tig wuchs die Hoffnung, durch supranationale Institutionen Demokratie und Menschenrechte universell durchsetzen zu können. Mit dem fundamentalen Einschnitt, den 1989/90 der Zusammenbruch des Staatssozialismus in der Sowjetunion und ihrem Einflussbereich bewirkte, gewann der Nationalstaatsgedanke in diesen früher sozialistischen Gesellschaften große Attraktivität. Er war zwar überwiegend mit der Erwartung an die liberale Demokratie als Staatsform der Zukunft verbunden, folgte aber, darauf weist Mense in seinem Beitrag in diesem Buch hin, denselben Prinzipien kollektiver Identitätsbildung wie ältere Nationalismen. Er barg somit dieselben Gefahren autoritärer Übernahme und kriegerischer Eskalationen, wie die Balkankriege der 90er Jahre auf eine in Europa nicht mehr für möglich gehaltenen Weise bewiesen haben. Allerdings wendet sich Thomas Etzemüller in seinem Beitrag über Schweden gegen die Reduktion einer binär strukturierten Erzählung über das 20. Jahrhundert zwischen „Höllensturz“ (Ian Kershaw) oder demokratischer Verheißung. Vielmehr plädiert er für ambivalente Urteile und mit Foucault für Konzepte der „Normalisierung“, nach denen Regime der Sicherheit die Grenzen des Normalen zwischen Herrschenden und Beherrschten auszutarieren und empirisch begründete Lösungen in einer „vernünftigen“ Gesellschaft zu finden versuchen. Die im ersten Teil unseres Buchs vorgestellten Typologien analysieren das Spannungsfeld von Gleichheitsangeboten und Exklusionsmechanismen aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Im zweiten Teil werden am Beispiel der Weimarer Republik, der deutschen Nachkriegsstaaten, Spaniens, Schwedens und Israels die Wechselwirkungen zwischen Volkssouveränität, Exklusions- und Inklusionsmechanismen und nationalistischen Legitimationsstrategien unter unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen vorgestellt. Christian Jansen untersucht in seinem Vergleich zwischen dem deutschen und französischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts die den Begriffen Nation und Demokratie inhärenten Versprechen von Partizipation und Gleichheit. Mit der Differenzierung von subjektiv-politischen und „objektiven“ Kriterien von nationaler Zugehörigkeit lassen sich die unterschiedlichen Nationsbildungen in beiden Ländern idealtypisch einander gegenüberstellen. Welche strukturellen Voraussetzungen und historischen Kontingenzen diesen unterschiedlichen Entwicklungen zugrunde liegen und wie sich dies bis 1914 auswirkte, analysiert dieser Beitrag. Er wendet sich auch gegen allzu glatte Vorstellungen in der älteren Forschung, ein harmloser, 9
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liberaler Frühnationalismus, der auch als Patriotismus bezeichnet wird, habe sich im Kontext der Demokratisierung und „Nationalisierung der Massen“ (George E. Mosse) in einen aggressiv, xenophoben, antisemitischen „integralen“ Nationalismus verwandelt. Vielmehr betont Jansen die Ambivalenz jedes Nationalismus. Daran schließt der Beitrag von Mathias Waechter ergänzend an. Er untersucht die Auswirkungen des spezifischen französischen Nationalismus auf den Kolonialismus und das Verhältnis zwischen Mutterland und den Kolonien. Zwar sollten die republikanischen Werte auch in den Kolonien gelten. Aber das mit dem Republikanismus verbundene Versprechen staatsbürgerlicher Gleichstellung blieb den Bewohnern der Kolonien verwehrt. Während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg formierte sich im Widerstand unter der Führung de Gaulles ein „synthetischer Nationalismus“, der auf alle Versatzstücke des Heroismus in der französischen Geschichte zurückgriff und die Fortsetzung der zivilisatorischen Mission Frankreichs in den Kolonien proklamierte. Mit der Unabhängigkeit Algeriens, so die Schlussfolgerung Waechters, scheiterte der republikanische Kolonialismus endgültig. Sein inhärenter Widerspruch, nämlich die Propagierung eines universellen Republikanismus und der Gleichheit aller auf der einen und der Unterdrückung und des Ausschlusses der Kolonialisierten auf der anderen Seite, speiste den Widerstand gegen die französische Herren in allen Kolonien. Die kolonialistische Ungleichbehandlung setzt sich im nachkolonialen Frankreich fort durch die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Diskriminierung der eingewanderten ehemals Kolonialisierten. Hier erweisen sich die Gleichheitsversprechen der französischen Revolution und des Republikanismus als bis heute uneingelöst. Im Gegensatz zu dem in Frankreich geltenden „ius soli“, der an das Territorium gebundenen Staatsangehörigkeit, und einem im 20. Jahrhundert ausgeprägten demokratisch-republikanischen Nationalismus hatte die deutsche Entwicklung andere Voraussetzung und vollzog sich oft im bewussten Gegensatz zu Frankreich. Jansen verweist im zweiten Teil seines Beitrags zur deutschen Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert auf eine auf den Volksbegriff fokussierte nationale Zugehörigkeit hin. Ihre Grundlage war die ethnische Fundierung der Nation. Dieses auf „Volk“ und „Kultur“ beruhende Konstrukt bereitete im 19. Jahrhundert den Weg für einen Nationalismus, bestehend aus revolutionären, demokratischen, antisemitischen und deutschtümelnden Elementen, die zu aggressiver Abwehr gegen Frankreich und zur Exklusion der als „anders“ definierten Minderheiten, besonders der Juden, führten. 10
Einleitung
Demokratisch-republikanische Strömungen, die einen politischen Nationsbegriff vertraten, blieben in der Minderheit. Daran anschließend thematisiert Siegfried Weichlein die Sozialdemokratie nach 1918 und den Nationalismus innerhalb der demokratischen Linken in der Weimarer Republik. Am Beginn des Ersten Weltkriegs übernahmen nicht allein die deutschen Sozialdemokraten ein nationalistisches Weltbild. Am revolutionären Internationalismus hielten lediglich die sich abspaltenden Unabhängigen fest, während die Mehrheitssozialdemokraten mehr und mehr Regierungsverantwortung beanspruchten, die sie dann in der Novemberrevolution auch offiziell übernahmen. Als wichtigste Regierungspartei im Reich (und vielleicht wichtiger noch: in Preußen) identifizierten sich die Sozialdemokraten nun (wie 50 Jahre zuvor die Liberalen) mit dem deutschen Nationalstaat, den sie sozialer und demokratischer machten. Die Verbindung von Sozialismus, Demokratie und Nationalismus war eine der großen Debatten in der Partei, die Weichlein auf den drei Ebenen „Parteibasis“, Regierungsmitglieder und „Parteiintellektuelle“ exemplarisch nachzeichnet und analysiert. Da das politische Feld des Nationalen überwiegend von der verfassungsfeindlichen Opposition besetzt wurde, versuchten viele Sozialdemokraten mit Konzepten wie der „Volksgemeinschaft“ einen republikanischen Nationalismus dagegen zu stellen. Zur Abwehr der NSDAP und gegen ihre Angriffe auf die sozialdemokratischen „Vaterlandsverräter“ formulierten führende Sozialdemokraten einen dezidierten nationalistisch motivierten Widerstand, der für viele von ihnen im Dritten Reich Verfolgung und Lebensgefahr bedeutete. Nach 1945 stand die deutsche Nation grundsätzlich zur Disposition. In den Beiträgen zur Konstituierung Westdeutschlands und der DDR von Marianne Zepp und Jan Palmowski werden die beiden unterschiedlichen Legitimationsstrategien in beiden deutschen Staaten deutlich. Auch in dem besetzten und besiegten Westdeutschland wurde der Widerspruch zwischen Nation und Staat nicht gelöst. Ein heroisch aufgeladener Nationalismus war obsolet geworden. Vielmehr griffen die westdeutschen Historiker in ihrer selbstdefinierten Rolle als öffentliche Lehrer des Gemeinwesens auf die Kulturnation als neu zu begründende nationale Gemeinschaft zurück. Im politischen Raum hingegen rief man demokratische Traditionen auf, die mit dem Bezug auf die Revolutionen von 1848 durch die Entscheidung für bestimmte staatliche Symbole wie die Flagge Gleichheit und Teilhabe versprachen. Der Staatsaufbau folgte dem – gebrochenen – Beispiel der Weimarer Republik und war geleitet von den Vorgaben 11
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und dem Vorbild der westlichen, besonders der US-amerikanischen Besatzer. Das Volk blieb als Begriff, der diese Gemeinschaft begründete, allerdings erhalten, Exklusion und Inklusion wurden entlang dieser ethnisch definierten Zugehörigkeit begründet. Die durch die Kriegsfolgen geschaffene, nun durch einen (ethnischen) Volksbegriff definierte Opfergemeinschaft stellte das Pathos des eigenen Leidens in den Mittelpunkt. Sie verzögerte die Auseinandersetzung mit der persönlichen und nationalen Schuld in der unmittelbaren Nachkriegszeit. In den Jahrzehnten, die folgten, wuchs die Skepsis gegenüber Nationalismus, und die Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit der deutschen Nation wurde zum Indikator für den Grad der Demokratisierung. Im Gegensatz dazu betonte die DDR in ihrer Gründungszeit das kulturelle Erbe, mit dem Anspruch, einen Neubeginn als besseres Deutschland durch den Sozialismus zu begründen. Palmowski arbeitet in seinem Beitrag das Spannungsfeld zwischen revolutionärem Internationalismus und nationalem Staatsaufbau heraus, das bereits die Linke in der Weimarer Republik gekennzeichnet hatte. Die Umdeutung der deutschen Geschichte im Sinne des Klassenkampfes begleitete die DDR auf allen Ebenen, während sie ihre nationale Identität in Abgrenzung zu dem Weststaat betonte. Internationale Solidarität wurde durch Großveranstaltungen zelebriert und war, neben wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Fortschritt, Indikator für den Erfolg des östlichen Deutschland. Erst nach dem Ende der DDR wurde deutlich, dass die unterschiedlichen Entwicklungen in beiden Teilen Deutschlands ihre Spuren hinterlassen hatten und beide Bevölkerungen von unterschiedlichen Vorstellungen und Bezügen zur Nation ausgingen. Der bald vom demokratischen „Wir sind das Volk“ zum nationalistischen „Wir sind ein Volk“ abgewandelte Ruf verweist einerseits bereits auf die Erwartungen an einen erstarkten Nationalstaat und drückte andererseits die unaufgearbeiteten völkischen Vorstellungen aus, die in den folgenden Jahrzehnten ihre Virulenz zeigten. Für den Nationalismus im 21. Jahrhundert unterscheidet Gideon Botsch in seiner hier erstmals publizierten Typologie vier Formen, die er auf ihre Demokratiefähigkeit hin untersucht. Am Anfang seiner Ausführungen steht der Befund, dass die Berufung auf die Nation als ein interessengeleiteter Patriotismus einerseits und als ein neuer Populismus andererseits wieder an Einfluss gewinnt. Zugleich stellt die historische und kulturwissenschaftliche Forschung inzwischen ein differenziertes Bild der ideologischen Grundierung von Nationalismus zur Verfügung. So wurde im Prozess neuerer Nationalstaatsgründungen um die Jahrtausendwende die Beru12
Einleitung
fung auf Demokratie zu einem entscheidenden Legitimierungsgrund. In ihrer Berufung auf den Volksbegriff, mit dem sie „wahre Demokratie“ begründen, stellen sie in Zeiten von Migration und Globalisierung ein verfängliches Gegenmodell zur Verfügung. Botsch bezieht sich mit seiner Typologie auf eine Definition von Nationalismus, die sowohl eine politische Ideologie wie auch eine Praxeologie umfasst. Referenzpunkt dafür ist die Entwicklung des modernen Staats, die in Anlehnung an Habermas in drei Phasen unterteilt wird: prä-nationalstaatlich, nationalstaatlich und post-nationalstaatlich. Dazu gehören drei Typen von Nationalismus: der „konstruktive“, der „reproduktive“ und der „rekonstruktive Nationalismus“. Diese als Idealtypen im Weberschen Sinn unterschiedenen Formen lassen Raum für Kontingenz in den empirisch zu untersuchenden Ausprägungen. Der jüngste, rekonstruktive Typus will die durch Migration und durch die Einflüsse von internationalen Institutionen eingeschränkte Souveränität des Nationalstaates in vollem Umfang wiederherstellen. Das Spannungsfeld zwischen Demokratie und Nationalstaat charakterisiert Botsch mit Bezug auf Habermas dadurch, dass sich zwar alle Demokratien nach westlichem Zuschnitt als Nationalstaaten organisiert haben, sich aber viele Nationalstaaten zu autoritären und undemokratischen Regimen entwickelt haben. Die in einigen europäischen Ländern sich aktuell ausbreitenden autoritären Strömungen berufen sich auf einen mythologisierten Volkswillen, der mit plebiszitären Elementen den bestehenden staatlichen Institutionen und ihren TrägerInnen eine „wahre Demokratie“ entgegensetzen soll. Seine Virulenz zieht der aktuelle Nationalismus aus den Folgen von Migration und den Veränderungen in der Definition von Zugehörigkeit, indem Homogenität „rekonstruiert“ werden soll. Beispiele wie die britische Brexit-Entscheidung, das Orban-Regime in Ungarn oder das Aufkommen der AfD zeugen von dieser Abwehr gegen die als Bedrohung gerahmten sozialen Herausforderungen. Sie zielen auf eine plebiszitär gerechtfertigte ethnonationalistische Grundierung, auf die die Eliten in Europa bisher eher hilflos reagieren. In seinem Beitrag über die katalanische und die baskische Unabhängigkeitsbewegung und den spanischen Zentralismus untersucht Thorsten Mense separatistische Bewegungen, die auf Krisenerscheinungen mit zunehmendem Nationalismus reagieren. Das Mobilisierungs- und Konfliktpotenzial, das sie freisetzen, eignet sich als Beleg für die jedem Nationalismus inhärente Ambivalenz von Emanzipation und Regression und verweist auf die aktuelle Wirkmächtigkeit des Nationalismus als globale Ordnungsidee. Die analysierten katalanischen und baskischen Nationalismen entstanden als Reaktion auf den zentralistischen autoritären Nationalismus 13
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Spaniens und suchten Antworten auf die Herausforderungen von Modernisierung und Industrialisierung. Ihre klassenmässige Ausprägung war die ideologische Antwort auf die unterschiedlichen Entwicklungen in den beiden Nationalitäten. So manifestierte sich in Katalonien der Nationalismus mit kulturalistischen Begründungen durch sozialistische Inhalte und revolutionäre Forderungen als linke Unabhängigkeitsbewegung in der Tradition des Antikolonialismus. Mense interpretiert den Übergang von der faschistischen Diktatur in die Demokratie als eine Phase der ideologischen Reorganisation: einerseits endete die politische Repression, andererseits blieben die ökonomischen Verhältnisse als abstraktes Abhängigkeitsverhältnis erhalten. Der periphere Linksnationalismus ethnisierte sich, so dass die Identifikation mit „Volk“, Sprache und Kultur als Widerstand gegen den Zentralstaat und als Antwort auf soziale Ungleichheit und die Komplexität moderner Gesellschaften gesehen wird. Mense sieht auch in anderen aktuellen Beispielen des Ethnonationalismus (Balkan, Schottland, Norditalien, Flandern, Süd-Tirol) Reaktionen auf die Krisen des globalen Kapitalismus und den Verlust sozialistischer Traditionen. Auch die mit diesen Bewegungen verbundenen demokratischen Forderungen werden durch den ethnisierten Begriff des „Volkes“ an eine vermeintlich naturgegebene vorpolitische Gemeinschaft gebunden. Das dem Nationalismus inhärente demokratische Gleichheits- und Freiheitsversprechen wird auch in diesem Fall zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch die In- und Exklusionsmechanismen entlang völkischer Vorstellungen konterkariert. Die als Ideologie wirksame nationale Identität stellt nach Mense die Reaktion auf die globalisierte, das Individuum und kleinere Kollektive entmachtende kapitalistische Ordnung dar. Die Regression in ein angeblich widerspruchsfreies Kollektiv ist die Reaktion auf das Scheitern linker Befreiungsversprechen. Einer anderen zentralen Problematik geht der Beitrag von Gabriele Kämper nach: Wie Frauen sich in das Konzept der Nation einschreiben, bzw. wie sie auf die unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte reagieren und vor allem, wie Frauen sich in die Imaginationen und Mythen, die mit jeder Nationenbildung einhergehen, in Beziehung setzen und setzten. Dieter Langewiesche hat in dem Interview am Ende des Bandes die Frage nach der der Nation zugrundeliegenden Geschlechterordnung den Kriegsdienst als Zugehörigkeitsmerkmal gekennzeichnet. Die „Nation in Waffen“ verhinderte für lange Zeit formale Beteiligungsrechte für Frauen. Erst im Zuge gesellschaftlicher Demokratisierung begannen einzelne Frauen und Frauenverbände ihre Rechte durchzusetzen. Am Beispiel der (west) 14
Einleitung
deutschen Nachkriegslage macht Zepp deutlich, wie die politischen Frauenorganisationen in einer spezifischen Situation in der Beharrung auf Geschlechterdualität politische Teilhabe einforderten. Sie knüpften ihre Forderungen an die Frage der Demokratisierung, stellten aber zugleich die völkische Ausrichtung einer deutschen Leidensgemeinschaft nicht in Frage. Die durchgesetzte rechtliche Gleichheitsgarantie korrelierte dann allerdings keineswegs mehr mit der politischen und sozialen Gleichstellung von Frauen in der beginnenden Bundesrepublik. Diese Ambivalenz von Demokratieversprechen und Nationalismus untersucht Kämper anhand aktueller Diskurse, wobei sie die feministische Kritik an Nationalstaat und Nationalismus in den Mittelpunkt stellt. Die – auch feministisch begründete – Hoffnung, durch das Gleichheitsversprechen, das dem Konstrukt des Nationalstaats inhärent ist, Teilhabe einfordern zu können, wird durch die historischen Erfahrungen der in staatliche Macht gegossenen (patriarchalen) Autoritäten konterkariert. Dennoch, so argumentiert Kämper, habe der rechtsstaatliche Rahmen, den die deutsche Verfassung gewährleistet, dieser Gleichheitsnorm zur Wirksamkeit verholfen. Die die feministische Bewegung und Theorie seit langem begleitende Dualität zwischen Gleichheit und Differenz wirft das Problem auf, weibliche Lebenswelten und Erfahrungen mit anerkannter kultureller und politischer Repräsentation beider Geschlechter zu vereinbaren. Gleichzeitig führt eine symbolische Geschlechterordnung Zuschreibungen fort, die die Ungleichheit metaphorisch aufladen. Die symbolische Verbindung zwischen Nation und Männlichkeit schufen ein nationales Konstrukt, das dem Weiblichen den Subjektcharakter vorenthielt. Die symbolische Verbindung von Weiblichkeit, Macht und Staat waren in dieser Geschlechterordnung nicht vorgesehen. Feministinnen haben bis in die Gegenwart diesem vor allem von nationalistischen Rechten vertretenen und immer wieder neu belebten Konnex von Männlichkeit und Nation ihre Bemühungen, Frauen in die nationale Geschichte einzuschreiben, entgegengesetzt. Kämper illustriert dies am Beispiel Polens, wo Feministinnen nationalistische Parolen aufgreifen, um sich in die polnische Geschichte einzuschreiben und ihre Anliegen zu formulieren. Auch die nationalistische Welle in Deutschland nach der Vereinigung war begleitet von einer sich geschlechterhierarchisch behauptenden neuen Männlichkeit, die besonders unter männlichen Intellektuellen verbreitet war und ist. Dieser dadurch im Imaginären neu aufgerichteten Mauer zwischen den Geschlechtern setzten Frauen geschlechterdemokratische Forderungen und Symbole entgegen. 15
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Thomas Etzemüller analysiert in seinem bereits erwähnten Beitrag Schweden als einen auf Modernität und Sozialverfassung beruhenden demokratischen Staat, der durch die Exklusion von Teilen seiner Bevölkerung gekennzeichnet ist. Spezifisch schwedisch ist ein über die Jahrhunderte herausgebildeter Volksbegriff, der durch starke Elemente von basisdemokratischer Selbstorganisation geprägt ist. Die Lebenspraxis, die sich daraus entwickelte, gründet auf einem durch den Protestantismus motivierten moralischen Imperativ in einem Land, das lange Zeit ethnisch, kulturell und religiös homogen war. Die Modernisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts ließen sich damit verbinden, u. a. weil auch die Sozialdemokratie in diesen nationalen Kontext eingebettet war. Zu keiner Zeit war die schwedische Sozialdemokratie von dem Konflikt zwischen Internationalismus und Nationalismus gespalten, wie Weichlein das für die deutsche Situation herausgearbeitet hat. Die Sozialstaatsverfassung, die sich in den Krisen des letzten Jahrhunderts bewährte, förderte das Ideal einer „gerechten Gesellschaft“, verbunden mit einem Verantwortungsgefühl für Nation und Gesellschaft. Zugleich war dieser Prozess begleitet von einem rigiden paternalistischen Regime der Auslese und der Eugenik, das von dem Gedanken der „Reinheit“ und der Erbhygiene grundiert wurde. Die damit einhergehenden Exkludierungen, die auch ethnischen Auslesekriterien folgten, gerieten erst am Ende des Jahrhunderts in die Kritik. Die Tradition der Einordnung im Namen einer kollektiven Vernunft, die auf die Zukunft gerichtet, jedem Individuum die Verantwortung für die (Volks‑) Gemeinschaft auferlegt, mündete in ein Modell von Selbstregulierung, Verwaltung von unten und Appellen an Mitverantwortung, die ein Gegenmodell zu den Modernisierungsbrüchen anderer Demokratien in Europa bildet. Israel bietet ebenfalls vielschichtiges historisches Material für die Verbindung von Nationalismus und Demokratie. Es ist zwar aus europäischer Perspektive geographisch peripher, steht aber dennoch in der europäischen Tradition. Das gilt nicht nur für die liberale Verfasstheit der Institutionen, sondern ebenso für den Fundus an Begründungen und Traditionen, die in dem Versuch der Bewältigung der gegenwärtigen Krisen aufgerufen werden, wie Daniel Mahla in seinem Beitrag darlegt. Dass die jüdische Nationalstaatsgründung auf dem Territorium Palästinas unter ähnlichen schwierigen Prämissen wie die Staatenbildung in Europa nach 1918 stattfand, nämlich durch kriegerische Auseinandersetzungen und gewaltsame Umsiedlungen9, stützt diese Sichtweise noch zusätzlich. Dennoch wäre es verkürzt, Israel als einen 9
Vgl. Arendt, Zionismus, S. 130f.
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europäischen Außenposten zu sehen. Durch seine wechselhafte Geschichte, die nicht zuletzt durch die Kriege mit seinen Nachbarn geprägt ist, durch immer wieder in Frage gestellte Grenzen, durch jüdische Einwanderung aus anderen arabischen Ländern und durch die religiöse Identität der Mehrzahl seiner Bewohner, die auch die Gesetzgebung beeinflusst, ist die israelische Gesellschaft ein Teil des Nahen Ostens. Heute changiert die israelische Politik zwischen der ethnonationalistischen Aufladung des Zionismus durch die israelische Rechte und dem Rückgriff auf republikanische Ansätze aus der Zeit vor der Staatsgründung, die die Idee eines binationalen Staates wiederbelebt. Der Widerspruch zwischen liberalen Grundsätzen und der ethnisch-religiösen Begründung der Nation war dem Zionismus von Anfang an eingeschrieben. Die die Besiedlung Palästinas durch hauptsächlich osteuropäische jüdische Auswanderer begleitende Gesellschaftsvorstellung war ein durch die Arbeiterbewegung geprägtes Gleichheitsideal, auch zwischen den Geschlechtern. Obwohl getragen von dem Pathos des europäischen Nationalismus, begleitete auch das Narrativ einer Befreiungsbewegung die Besiedlung Palästinas. Bei der Staatsgründung ging es dann in erster Linie um die Sicherung der jüdischen Mehrheit in Israel. Gewaltenteilung und die Anerkennung staatsbürgerlicher Rechte begründeten die demokratische Verfasstheit des neuen Staates. Dennoch bleibt die Frage nach der Vereinbarung zwischen dem jüdischen Charakter des Staates, seiner ethnonationalistischen Neudefinition sowie liberalen und demokratischen Grundsätzen ungelöst. Die Konflikte entzünden sich nicht nur an dem Sicherheitsbedürfnis des Landes und seiner Bewohner, sondern auch in der Stellung der nichtjüdischen Israelis. Während die Rechte mit einem Gesetz, das Israel als jüdischen Staat definiert, diesen Konflikt verschärft, entwickeln Oppositionelle wieder – wie in den 20er Jahren – Modelle der Konföderation, durch die die demokratischen Grundrechte für alle Bewohner gestärkt werden sollen. Mahla schlussfolgert, dass Israel zwischen nationalethnischen, nationalreligiösen und republikanischen Elementen in einem kaum lösbaren Dilemma gefangen ist, es darin allerdings vielen modernen Demokratien ähnelt. Als Reaktion auf das Erstarken nationalistischer Strömungen und der AfD plädieren in Deutschland viele für „weltoffenen“ (Jens Spahn10), „aufgeklärten, demokra Z. B. in einem Interview in der taz „Zweifellos hat es Leid gegeben. Interview mit Jens Spahn“, in: taz, 12./13.9.20, S. 8f.
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tischen“ (Frank-Walter Steinmeier11) oder „linken“ (Robert Habeck12) Patriotismus und knüpfen an frühere Debatten um Verfassungspatriotismus13 an. Weltweit führt eine Konjunktur des ethnischen Nationalismus zu Konflikten, und Populisten erklären immer häufiger nationalen Egoismus zur handlungsleitenden Maxime der Außen- und Handelspolitik. Angesichts dessen ist es erfreulich, dass in den deutschen Debatten die Nation ganz überwiegend als Wertegemeinschaft begriffen wird, die auch Migrant*innen einschließt, die sich zu den gemeinsamen Werten bekennen. Die Beiträge des Bandes versuchen der aktuellen Debatte mehr historische Tiefenschärfe zu geben und mit verschiedenen Fallbeispielen die oft ebenso vollmundigen wie oberflächlichen Überlegungen in dieser Debatte zu problematisieren. Denn der „weltoffene Patriotismus“ ist nicht so weltoffen, wie er sich in allgemeinen Erklärungen und Wertediskussionen gibt. Die Grenzen der Weltoffenheit jedes auch noch so aufgeklärten und demokratischen Patriotismus verweisen auf die Dialektik von Inklusion und Exklusion, auf das „Doppelgesicht“ jeder Nation und jedes Nationalismus, auch wenn er mit allerlei inklusiven, egalitären und emanzipatorischen Adjektiven als „Patriotismus“ positiv konnotiert werden soll: „Nach außen hingegen grenzt jeder Staat ab. Dies zu tun, ist eine seiner zentralen Aufgaben. Als Rechts- und Sozialgemeinschaft funktioniert er nur, weil er klare Grenzen zieht. Im Nationalstaat kommt hinzu, dass die Idee Nation ebenfalls angelegt ist auf Inklusion und Exklusion“, sagt Dieter Langewiesche in dem Interview zur Zukunft der Nation, das unser Buch abschließt. Von ihm stammt auch die nüchterne Feststellung: „Wer Nationalismus sagt, meint die dunkle Seite. Wer das helle Gegenbild als Vorbild und Entwicklungsziel leuchten lassen will, spricht von Nation, Vaterland, Patriotismus. Die Ergebnisse historischer Forschung sperren sich jedoch – eindeutig, meine ich – gegen eine solche hoffnungsfrohe Zweiteilung“.14 Insofern bleibt festzuhalten: Wording – also ob man von Nationalismus oder Patriotismus spricht – löst nicht das Dilemma, dass die Partizipation, Solidarität und Sicherheit, die der Nationalstaat verspricht, nur für eine klar abgegrenzte Gruppe von Menschen gelten kann. Die Grenzen nach innen sind im Sinne des demokra 13 14 11 12
So beispielsweise in seiner Rede zum 8. Mai 2020. Habeck, Patriotismus. Sternberger, Verfassungspatriotismus; Habermas, Staatsbürgerschaft. Langewiesche, Nationalismus, S. 16 f.
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Einleitung
tischen Gleichheitsgrundsatzes sowie politischer (und nicht ethnischer, rassischer oder kultureller) Zugehörigkeitskriterien so verschoben worden, dass nur noch sehr wenige ausgeschlossen werden, die Grenzen nach außen hingegen wurden undurchlässiger, je attraktiver Deutschland in den letzten 70 Jahren geworden ist und je größer sein Ansehen in der Welt wurde. Der Band entstand während einer der schwersten Krisen unserer Zeit. Die soziale Verfasstheit und die damit verbundenen Sicherheitssysteme der Staaten, das Handeln einzelner Politiker*innen im nationalen Kontext wurden angesichts der Pandemie zu Überlebenschancen für viele Bürger*innen. Die Grenzen in Europa schlossen sich, einzelne Länder, unter ihnen auch das deutsche Auswärtige Amt, holten „ihre“ Staatsangehörigen nach Hause. Der Staat als Garant für das Leben seiner Angehörigen rückt wieder ins Blickfeld. Zugleich wird deutlich, dass das Ausmaß dieser Krise supranationale Zusammenarbeit erfordert. Der Austausch von Forschungsergebnissen zur Bekämpfung der Seuche, die Garantie der gerechten Verteilung von Heilmitteln stellen neue Herausforderungen für internationale Kooperation dar. Mit der Erkenntnis, wie ungleich Ressourcen weltweit verteilt sind, wächst auch die Forderung nach gerechter Regulierung angesichts einer Katastrophe, die alle betrifft. Nach den Zerstörungen durch den Holocaust und des Zweiten Weltkriegs wurde die Errichtung von Institutionen zur Friedenssicherung vorangetrieben. Die Gründung der Europäischen Union sollte nicht zuletzt dazu dienen, das Aggressionspotential der Nationalstaaten zu begrenzen und einzudämmen. Das Konfliktpotential beispielsweise durch eine gemeinsame Finanzpolitik, gemeinsame Sozialstandards, eine gemeinsame Gerichtsbarkeit weiter einzudämmen, ist die gegenwärtige Aufgabe der europäischen Institutionen, der sich aber in vielen Ländern einflussreiche Nationalisten entgegenstemmen. Es wäre deshalb verfrüht, mit einer emphatischen Hinwendung zu Europa, das an den hier beschriebenen Länderbeispielen und Typologien aufgezeigte Dilemma zwischen Demokratisierung, Exklusion und Inklusion als gelöst zu betrachten. Es kann nur gelindert werden durch die verbindliche Festlegung auf demokratische Werte, die die Basis des politischen Zusammenhalts bilden müssen, durch den Verzicht auf rücksichtlose Durchsetzung eigener Interessen nach außen und den Ausbau und die Stärkung internationaler Institutionen.
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Literatur Hannah Arendt, Der Zionismus aus heutiger Sicht, in: Hannah Arendt, Sechs Essays. Die verborgene Tradition. Kritische Gesamtausgabe Bd. 3. Göttingen ²2019. Robert Habeck, Patriotismus. Ein linkes Plädoyer. Gütersloh 2010. Jürgen Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: ders., Faktizität und Geltung. Frankfurt/M. 1992, S. 632–660. Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt/M. ²1992. Christian Jansen, Henning Borggräfe, Nation, Nationalität, Nationalismus. Frankfurt/M. ²2020. Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen Partizipation und Aggression. Bonn 1994. Dieter Langewiesche, Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne. München 2019. Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Berlin 2013. Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus. Frankfurt/M. 1990. Hans-Ulrich Wehler, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. München 2001.
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I. Nationalismus und Demokratie: Typologie und Grenzen der Inklusion
Demokratie und Nationalismus: Die deutsche und französische Konstellation bis 19141 Christian Jansen Die Frage, die in diesem Band aus verschiedenen historischen und systematischen Perspektiven diskutiert wird, ob und vor allem wie demokratische Prinzipien und Nationalismus vereinbar sind, ist seit der Erfindung des Nationalismus im späten 18. Jahrhundert2 – sehr unterschiedlich beantwortet worden, abhängig von der politischen Haltung derjenigen, die sich damit beschäftigt haben. Ein entscheidender Faktor war und ist, was unter Demokratie verstanden wird und wie weit das Gleichheitspostulat reichen soll. „Demokratie“ lässt sich zudem ideengeschichtlich sehr verschieden ableiten: aus der antiken Polis, aus den Ideen von 1789 oder aus christlichen Grundsätzen (wie der Gottesebenbildlichkeit). Sollen nur wirtschaftlich Selbständige, nur Männer, alle Angehörigen eines Volkes („Volksgemeinschaft“), alle Staatsbürger:innen, alle Bewohner:innen des Landes gleichberechtigt und wahlberechtigt sein? Welche Alters- oder andere Beschränkungen (z. B. für Insass:innen von Gefängnissen oder der Psychiatrie) sollen gelten? Eine weitere Differenz, die ich noch genauer anhand zweier historischer Beispiele diskutiere, ist das Verständnis von „Nation“. Auch hier gab (und gibt) es sehr unterschiedliche Kriterien der Zugehörigkeit (Inklusion und Exklusion) und der Zugänglichkeit, vor allem für Migrant:innen und nationale Minderheiten. Der Begriff „Nation“ leitet sich von lateinisch natio ab, was „Abstammung“ oder „Geburtsort“, aber auch „Volksstamm“ bedeutete. Als Bezeichnung für eine
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Ich danke Henning Borggräfe für seine Kommentare und Hinweise. Wenn hier von „Nationalismus“ die Rede ist, sind immer dessen moderne Ausprägungen gemeint, die sich grundlegend von Vorläufern in der Vormoderne unterscheiden. Vgl. grundlegend: Planert, Wann beginnt …?
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Gemeinschaft in einem bestimmten Territorium lässt sich der Begriff erstmals im 14. Jahrhundert nachweisen. Seit dem 18. Jahrhundert, spätestens seit der Französischen Revolution wird „Nation“ im modernen politischen Sinn definiert. Der Begriff der „Nationalität“ entstand nach der Revolution Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich. Er bezeichnet die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Nation.3 Das politische Konzept der Nation und der Nationalität kann als einer der vielen Versuche begriffen werden, die Komplexität des modernen Lebens zu strukturieren, um es bewältigen und Entscheidungen treffen zu können. Das Konzept der Nation hilft, die schier unüberschaubare Vielzahl von Menschen, denen sich der Einzelne real oder virtuell gegenübersieht, zu strukturieren. Es definiert einen Teil jener unüberschaubaren Masse als „Wir“ und den Rest als „Fremde“. Es geht also beim Nationalismus und bei jeder Definition von Nation/Nationalität um Einschließung und Ausschließung (Inklusion und Exklusion). Nationalismus reduziert zwar die Komplexität des modernen Lebens, wirft jedoch auch neue Probleme auf: die Konkurrenz und die Konflikte der verschiedenen Nationen, die Grenzziehung zwischen ihnen und die eindeutige Zuordnung jedes Menschen zu einer Nation.4 Nationalismus bezeichnet erstens ein Konglomerat politischer Ideen, Gefühle und damit verbundener Symbole, dessen Hauptinhalt ausgeprägtes Nationalbewusstsein, oft übersteigerter Nationalstolz ist und das sich zu einer geschlossenen Ideologie fügen kann (aber nicht muss); die Gruppe, auf die sich der Nationalismus bezieht, wird als Nation oder Volk bezeichnet. Zweitens bezeichnet Nationalismus politische Bewegungen, die diese Ideen tragen. Für eine erste definitorische Annäherung an Nationalismus als Ideologie5 lassen sich drei zentrale Komponenten benennen: erstens die axiomatische Behauptung der Existenz der „Nation“ oder des „Volkes“ als handelndes Subjekt der Geschichte;6 zweitens die Festlegung exklusiver
Außerdem bezeichnet „Nationalität“ auch eine nationale Minderheit ohne Nationalstaat bzw. eine nationale Minderheit, die außerhalb „ihres“ Nationalstaates lebt. Diese Thematik wird hier aber nicht behandelt. 4 Mischbevölkerungen in Grenzgebieten, deren regionale Identitäten wie Elsässer oder Schlesier und doppelte Staatsbürgerschaften sind Nationalisten ein Graus. 5 Zur Definition vgl. ausführlicher Jansen/Stamm-Kuhlmann, Nationalismus. 6 „Nation“ und „Volk“ wurden von den nationalistischen Akteuren im 19. Jahrhundert weitgehend synonym verwandt. Wie die „Nation“, so bezeichnet auch das „Volk“ keine natürliche Einheit, sondern eine nach unterschiedlichsten Kriterien konstruierte Gemeinschaft. 3
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Zugehörigkeit jedes Menschen zu einer Nation; sowie drittens die Stilisierung der Nation zu einem hohen sittlich-moralischen Wert, vielfach (insbesondere in Kriegen) sogar zur wichtigsten Richtschnur menschlichen Handelns. Im 19. Jahrhundert breitete sich – zunächst in den bürgerlichen Schichten Europas und Nord- sowie Südamerikas, dann in großen Teilen der Bevölkerungen – nationalistisches Denken aus. Dieser Prozess setzte sich im 20. Jahrhundert weltweit fort, so dass Nationalismen neben Religionen die wichtigsten Faktoren wurden, die das politische Denken und Handeln in modernen Massen- und Mediengesellschaften bestimm(t)en. Nationalismus, die daraus abgeleiteten Überlegenheitsgefühle, territoriale und Herrschaftsansprüche waren und sind eine wichtige Triebkraft für zwischenstaatliche Kriege, Bürgerkriege und vielerlei Alltagskonflikte. Nationalismus hat aber auch zahllose Menschen zu politischem und gesellschaftlichem Engagement, zu Widerstand gegen Unterdrückung und Kolonialismus motiviert und zu Höchstleistungen auf den unterschiedlichsten Gebieten angespornt. Trotz der durch Nationalismus ausgelösten Kriege, gesellschaftlichen Diskriminierungen usw. ist er noch immer für viele Menschen attraktiv: Er vermittelt ein Gefühl von Zugehörigkeit und verspricht Schutz in Krisen, Gleichheit in der Gemeinschaft der Nation – und als Teil eines größeren Ganzen Teilhabe an Macht. Die zentrale Gemeinsamkeit von Nationalismus und Demokratie besteht darin, dass beide Gleichheit und politische Partizipation verheißen. Anfangs versuchten die Herrscher die Ausbreitung des Nationalismus zu unterdrücken. Früh entstand auch eine Gegenbewegung, die das nationalistische Denken kritisierte wegen seiner negativen Begleiterscheinungen, wegen der mit ihm verbundenen Hybris, wegen des Verstoßes gegen das Gleichheitspostulat, da die Angehörigen der eigenen Nation als höherwertig betrachtet wurden als andere. Neben christlicher (vor allem katholischer) und humanistischer Nationalismuskritik war der Internationalismus der frühen Arbeiterbewegung politisch am relevantesten, erlitt aber am Beginn des Ersten Weltkriegs spektakulär Schiffbruch – ebenso wie alle anderen pazifistischen Strömungen und die Versuche, den Krieg völkerrechtlich einzuhegen (Haager Konferenzen etc.).
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Was ist eine Nation? Politische vs. ethnische Definitionen „Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die durch einen gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist.“ (Karl W. Deutsch7)
Unter den zahllosen politischen und theoretischen Definitionen, was eine Nation sei bzw. worin die Nationalität eines Individuums bestehe, lassen sich zwei Hauptrichtungen unterscheiden: 1. subjektiv-politische und 2. objektiv-ethnische („kulturelle“) Definitionen. 1. Den Definitionen eines „subjektiven“ Nationsbegriffs zufolge sind Nationen große Kollektive, die auf einem grundlegenden Konsens ihrer Mitglieder beruhen. Die Nation basiert also einzig auf der inneren und freiwilligen Überzeugung ihrer Mitglieder, dass sie zusammengehören (wollen). Diese Konzeption der Nation geht auf die Zeit der Französischen Revolution zurück. So hat Abbé Sieyès in seinem berühmten Traktat Was ist der dritte Stand? die Nation definiert als „eine Gesamtheit von vereinigten Individuen, die unter einem gemeinsamen Gesetz stehen und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind“8. Der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan ging 1882 – nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 – entschieden weiter und hat die immer wieder zitierte subjektive Definition geprägt, die Nation sei ein „täglicher Plebiszit“. Der nationale Zusammenhalt beruht also für die Vertreter subjektiv-politischer Definitionen nicht auf objektiven Bedingungen, sondern auf immer wieder getroffenen freien Entscheidungen derjenigen, die sich zu einer Nation zählen.9 Zu den Bedingungen der Möglichkeit und insbesondere der politischen Verwirklichung einer solchen Definition gehören die Idee der Volkssouveränität sowie eine revolutionäre Situation oder ein Rechtsstaat, der liberale Grund- und Bürgerrechte, insb. Meinungs- und Pressefreiheit, garantiert. Subjektive Definitionen machen den Eintritt in eine Nation (und ebenso den Austritt, von dem selten die 9 7 8
Deutsch, Nationalismus, S. 16. Sieyès Was ist der dritte Stand? S. 40. Renan, Was ist eine Nation?
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Rede ist) leicht, handelt es sich bei der Zugehörigkeit zu einer Nation doch um einen Willensakt. Daraus ergibt sich auch, dass Menschen, die nach ethnischen, sprachlichen und ähnlichen Kriterien zur Nation gehören, aus ihr ausgegrenzt und als Feinde betrachtet werden können, wenn sie die gemeinsamen politischen Werte nicht teilen, z. B. die Opfer der terreurs unter der Jakobinerherrschaft in Frankreich 1793/94. 2. Anders als die subjektiv-politischen sehen die Definitionen nach „objektiven“ Kriterien jede Nation durch bestimmte „Tatsachen“ abgegrenzt, die willentlich nicht zu ändern sind. Zugleich seien alle Menschen jeweils nur einer Nation eindeutig zuzuordnen. Diese Definitionen werden auch als „substanzialistisch“ bezeichnet. Als Zugehörigkeitskriterien werden in den unterschiedlichen objektiven Definitionen sehr verschiedene Eigenschaften herangezogen: gemeinsame Sprache, Kultur, Tradition, Geschichte, gemeinsames Territorium, die Landesnatur, „angeborene“ geistige oder psychische Eigenschaften, die als „Volksgeist“, „Volkstum“ oder „Volkscharakter“ bezeichnet werden. Eine extreme Form der objektiv-substanzialistischen Definitionen ist die rassische (meistens zugleich rassistische) Bestimmung der Nation über gemeinsame Abstammung und Blutsverwandtschaft. Schon diese Aufzählung derjenigen „Tatsachen“, die Menschen nach Ansicht der Vertreter objektiver Definitionen mit anderen zu einer Nation verbinden und vom Rest der Menschheit unterscheiden sollen, lässt erkennen, dass das Spektrum der substanzialistischen Nationsbegriffe politisch sehr breit ist: Es reicht von marxistischen Ansätzen auf der Linken (z. B. Stalins „Der Marxismus und die nationale Frage“ von 1913) über liberale und konservative Vorstellungen bis hin zu völkisch-rassistischen auf der äußersten Rechten. In Deutschland gab es strukturelle Gründe, auf die ich noch eingehe, warum der politische Begriff der Nation und die damit einhergehende subjektive Definition der Nationalität wenig Resonanz fanden. Es ist anzunehmen, dass beide im demokratisch-republikanischen Lager des 19. Jahrhunderts, also unter Revolutionären, die sich am französischen Modell orientierten, vorkamen. Aber ein politischer Nationsbegriff blieb im deutschen Diskurs bis weit ins 20. Jahrhundert hinein marginal10 – mit weitreichenden politischen Folgen.
Eine Ausnahme war der württembergische Politiker und Statistiker Gustav Rümelin, dessen Nationsbegriff zwischen subjektiven und objektiven Kriterien changierte (Rümelin, Begriff des Volkes (1872), S. 102, zit. nach Weichlein, Nationalismus und Nationalbewegung, S. 22f.).
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Idealtypisch lassen sich deshalb ein französischer und ein deutscher Entwicklungspfad einander gegenüberstellen.11 Eine für die Frage nach der Vereinbarkeit von Demokratie und Nationalismus interessante Variante der subjektiven Definition bildet das Konzept der Personalautonomie. Die österreichischen Sozialdemokraten Karl Renner und Otto Bauer schlugen vor dem Ersten Weltkrieg vor, dass jeder Staatsbürger sich frei einer Nationalität zuordnen und entsprechend in ein öffentliches Register („Nationalkataster“) eintragen sollte. Damit wollten sie einen Weg eröffnen, um die Gegensätze zwischen unterschiedlichen Nationalismen im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn demokratisch und friedlich zu lösen. Auch ein Wechsel der Nationalität war möglich. In national gemischten Gebieten standen jeder Nation so viele Abgeordnete zu, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprach. Die registrierten Angehörigen jeder Nation wählten dann ihre jeweiligen Abgeordneten getrennt voneinander. In Mähren wurde dieses Prinzip seit 1905 bei den Landtagswahlen angewendet, 1909 auch in der Bukowina und 1914 in Galizien.12 Die historische Analyse des europäischen Nationalismus bewegte sich bis in die 1980er Jahre fast ausschließlich zwischen diesen Polen subjektiver bzw. objektiver Kriterien der Nationszugehörigkeit. Wo sich welche Definition durchsetzte, wurde in der Regel historisch erklärt mit den unterschiedlichen Verläufen der Nationsbildung in Westeuropa einerseits und in Mittel- und Osteuropa andererseits. Dabei wurde (idealtypisch) davon ausgegangen, dass in Westeuropa konsolidierte Territorialstaaten sich in Nationalstaaten verwandelten (das klassische Beispiel war Frankreich), während in Mittel- und Osteuropa die Nationen vor den Nationalstaaten existierten und sich ihr Territorium erst (gewaltsam) erobern mussten. In der deutschen Diskussion war in diesem Zusammenhang Friedrich Meineckes Begriffsbildung einflussreich. Er unterschied „Staatsnationen“, in denen sich
Wegen der zahlreichen Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen den politischen Diskursen und Entwicklungen in beiden Ländern kam es auch immer wieder zu wechselseitigen Beeinflussungen. So hatte der Psychologieprofessor Moritz Lazarus 1879 einen Essay „Was heißt national?“ publiziert, über den er mit Ernest Renan korrespondierte. Lazarus behauptete, Renans Rede von 1882 basiere auf seinem Essay. Jedenfalls hatte er wesentliche Elemente von Lazarus übernommen, ohne ihn jedoch zu erwähnen oder auf dessen Text zu verweisen (Weichlein, Stationen, S. 84f.). 12 Kann, Nationalitätenproblem, Bd. I, S. 162–182, 199–201 und 331–335; Leiße, Untergang, S. 319ff.; Bauer, Nationalitätenfrage, S. 353ff. und 357ff. 11
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ein Territorialstaat die nationalistische Ideologie zu eigen machte, von „Kulturnationen“, in denen die (kulturelle) Nationsbildung der Nationalstaatsgründung vorausging.13 Die „Staatsnation“ als politisches Projekt entspricht dem subjektiven Nationskonzept, während im anderen Fall das „objektive“ Kriterium „Kultur“ die Grundlage der Nation bildet. Meineckes Begriffe finden sich bis heute in wissenschaftlicher Literatur und in der Publizistik, obwohl sie in hohem Maße ideologisch sind, weil in ihnen die (nationalistische) Idee einer Überlegenheit deutscher „Kultur“ über westliche „Zivilisation“ steckt. Das analytische Potenzial der Konzepte „Staats-“ bzw. „Kulturnationen“ geht nicht über die Unterscheidung von subjektivpolitischen und objektiv-ethnischen Definitionen hinaus, so dass Meineckes Begriffe angesichts ihres ideologischen Ballasts entbehrlich sind. Auch für meine Argumentation ist jedoch die idealtypische Gegenüberstellung der französischen und der deutschen Entwicklung und Debatten um Nationalismus und Demokratie hilfreich.
Der französische Entwicklungspfad Im 18. Jahrhundert stellten die Verbreitung rationaler Paradigmen und kritischen Denkens sowie die Entstehung einer räsonierenden Öffentlichkeit, deren Träger immer häufiger aus dem Bürgertum kamen, den herrschenden Absolutismus wie die traditionelle Kirchlichkeit in Frage. Diese geistige Bewegung der Aufklärung strahlte von Frankreich auf ganz Europa aus. Mit ihrem Appell, das eigene Leben und Denken selbst zu bestimmen und sich nicht auf Konventionen oder Traditionen zu verlassen, trug die Aufklärung maßgeblich zur Emanzipation des Bürgertums bei. Das bürgerliche Zeitalter brachte dann u. a. den Durchbruch von Nationalismus, Liberalismus und demokratischen Ideen. Da der Nationalismus im 18. und frühen 19. Jahrhundert, also vor Beginn der Industrialisierung auf dem europäischen Festland, entstanden ist, gehören zwar die bürgerliche Öffentlichkeit und neuzeitliche Kommunikationsmöglichkeiten (Buchdruck, Verlage und Distribution für Pamphlete, Zeitschriften und Zeitungen) und die Ideen der Aufklärung zu den
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Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Zum Beitrag Meineckes zur (west)deutschen Nationsbildung nach der „deutschen Katastrophe“ vgl. den Beitrag von Marianne Zepp in diesem Band.
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notwendigen Voraussetzungen für die Entstehung von Nationalismus und für die Nationsbildung, nicht jedoch der industrielle Kapitalismus. Die beiden wichtigsten Wegbereiter des französischen Nationalismus und seiner Affinität zu demokratischem Gedankengut waren der Schweizer Jean Jacques Rousseau und der Generalvikar der Diözese Chartres, Emmanuel Sieyès. Rousseau schuf mit seinem Buch Der Gesellschaftsvertrag (Le contrat social, 1756) und der darin konzipierten volonté générale (etwa: allgemeiner Wille) die einflussreichste philosophische Grundlegung für die subjektive Konzeption der Nation. Rousseaus Schriften, die entscheidend zur Verbreitung einer neuen, sowohl demokratischen als auch nationalistischen Herrschaftslegitimation und damit zum Sturz des Absolutismus beigetragen haben, sind politisch höchst ambivalent: Rousseaus Vorstellungen waren nur innerhalb des Bürgertums egalitär und demokratisch. Nicht jeder Einwohner sollte das Bürgerrecht erhalten und mitbestimmen können. Rousseau befürwortete die Sklaverei und propagierte einen männlich-militärischen Körperkult für den wehrhaften Bürger wie später im deutschen Raum „Turnvater“ Jahn.14 Im Januar 1789 lieferte dann Abbé Sieyès mit seiner Schrift „Was ist der dritte Stand?“ die entscheidenden Argumente, mit denen sich die Vertreter des bürgerlichen dritten Standes zur National-Versammlung erklärten: Die beiden anderen Stände (Adel und Klerus) trügen zum „gesellschaftlichen Fortschritt“ und zum Wohl des Staates nichts Produktives bei. Deshalb bilde der dritte Stand allein „die Nation“ und müsse auch entscheidenden Einfluss auf die politische Ordnung bekommen.15 Die Selbsterhebung der bürgerlichen Abgeordneten zur Nationalversammlung beim „Ballhaus-Schwur“ am 20. Juni 1789 war die erste symbolische Handlung zur Umgründung Frankreichs in einen Nationalstaat. Ein weiterer, entscheidender Schritt war die am 26. August 1789 von der Nationalversammlung verkündete „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“, die in hohem Maße von den demokratischen Ideen Rousseaus geprägt war. So hieß es in Artikel 3 „Der Ursprung jeder Souveränität liegt in der Nation“ und in Artikel 6 „Das Gesetz ist Ausdruck des allgemeinen Willens“. Diese beiden Erklärungen verdeutlichen die ungeheure politische Umwälzung, die den bürgerlichen Revolutionären dank der revoltierenden Pariser Unterschichten und vieler Bauernaufstände in wenigen Monaten gelungen war: Der Feudalismus war abgeschafft, eine neue Verfassung (kons14 15
Greenfeld, Nationalism, S. 168ff. Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 36–40.
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titutionelle Monarchie) und ein neues Wahlrecht (Zensuswahlrecht) durchgesetzt worden. Kurzum – der französische Staat wurde auf eine neue, nationalistische Legitimationsbasis gestellt. Die neue Ordnung betonte den Bruch mit allem Früheren: Sie bezog ihre Legitimation allein aus dem Naturrecht, nicht aus der Geschichte oder Tradition, war also konsequent subjektiv und politisch. In der neuen Staatsbürgernation bildeten alle „selbstständigen“ (d. h. männlichen, Steuern zahlenden) Bürger „das Volk“. Die revolutionäre französische Nation war zunächst friedlich; die Revolutionäre lehnten Kriege als Auswüchse dynastischen Expansionsdrangs grundsätzlich ab. Schon bald jedoch wurde die Gefährdung der revolutionären Errungenschaften zum wichtigsten politischen Thema; bedroht erschienen sie von außen wie von innen. Die Revolutionäre übertrafen sich bald in aggressivem Eifer zur Verteidigung der Nation. Sie erklärten sie zur einzigen Gemeinschaft, der alle Bürger verpflichtet seien und hinter der alle anderen Bindungen (Familie, Freundschaften, Religion oder ständische Loyalitäten) zurücktreten müssten und für die jeder Bürger sein Leben einsetzen müsse. Sie radikalisierten damit den Nationalismus zum Letztwert, hinter dem alle anderen Werte zurücktreten müssten. In den Kriegen, die Frankreich bald gegen die Koalition der antirevolutionären Mächte führen musste, wurde entsprechend eine neue Form der Rekrutierung „erfunden“ – die allgemeine Wehrpflicht: jeder Bürger ein Soldat der Revolution! Auch der moderne Militarismus entstand also in der französischen Revolution.16 Die neue Bindung an Volk und Nation (wie im deutschen Diskurs wurden beide Begriffe synonym verwendet) sollte ständische oder religiöse Bindungen ersetzen. Dabei wurde die Nation vielfach explizit als „höchstes Wesen“ bezeichnet. In der Tat eignet sich die Nation sehr gut zur religiösen Überhöhung und Sakralisierung, weil sie wie Gott als etwas Abstraktes, „Ewiges“, „Unsterbliches“ begriffen werden kann, während Monarchen sterblich sind.17 Das Prinzip „Nation“ war 1789 auch deshalb so wirksam und wurde so breit akzeptiert, weil Frankreich noch eine ständische Gesellschaft war. Alle, die nicht zum Adel oder Klerus gehörten (und sogar viele aus diesen vormals privilegierten
Kruse, Bürger und Soldaten. Allerdings gab es eine Vorgeschichte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts: Bereits im spanischen Erbfolgekrieg leisteten 300 000, im Siebenjährigen Krieg eine halbe Million Franzosen Wehrdienst. Eine allgemeine Wehrpflicht war nichts Neues, sie wurde nur neu – nationalistisch – begründet. 17 Greenfeld, Nationalism, S. 167. 16
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Ständen) konnten sich in die „Nation“ einbezogen fühlen. Und die Suggestion der Einheit der Nation überdeckte die starken politischen, ökonomischen und sozialen Gegensätze zwischen Paris und der Provinz, zwischen Bürgern und Bauern, zwischen liberalen und demokratischen Zielvorstellungen, zwischen bürgerlicher und Unterschichtenrevolution. In der ersten Phase der Revolution schien für Frankreich der „englische“ Weg hin zu einer konstitutionellen Monarchie mit stark eingeschränktem (Zensus )Wahlrecht vorgezeichnet; der König hätte das Oberhaupt der neu erfundenen Nation werden können.18 Da der Eid Ludwigs XVI. auf die Verfassung jedoch nur ein Lippenbekenntnis war und er mit auswärtigen Mächten konspirierte, kam es 1792 zu einer Radikalisierung: Die Jakobiner mit ihrer demokratischen Rhetorik und ihrem rigiden Tugendkult gewannen immer mehr Einfluss. Sie erklärten alle, die zweifelten oder widersprachen, zu „Feinden des Volkes“. Ihrem Terror fielen bis 1794 mehrere zehntausend Menschen zum Opfer. Der unterschwellige politische Universalismus der Erklärung der Bürger- und Menschenrechte wurde nun nach außen gewendet: Das revolutionäre Frankreich ging von der Verteidigung gegen konterrevolutionäre Invasionen zur „Befreiung“ Europas über, die unter Napoleon 15 Jahre lang andauerte. Die universalistische Befreiungsideologie begleitete eine scharfe, oft hasserfüllte Gegnerschaft zu Großbritannien – 50 Jahre nach der Anglophilie der Aufklärung. Viel stärker als der angelsächsische Nationalismus (sowohl in den USA als auch in Großbritannien), in dessen Mittelpunkt die Befreiung des Individuums stand, war der französische kollektivistisch – nicht der Einzelne, sondern die Nation oder das Volk stand im Zentrum. Damit war der französische Nationalismus seit den späten 1790er Jahren der erste antiwestliche (antibritische, antiliberale) Nationalismus. Schon allein deswegen macht es wenig Sinn, einen westlichen Typus der Nationsbildung zu konstruieren. Mit dem Sturz Robespierres im Juli 1794 begann eine neue Phase, in der nationalistische Rituale zwar weiter an der Tagesordnung waren, aber an Mobilisierungskraft verloren. Das demokratische (Männer)Wahlrecht wurde erneut durch ein restriktives Zensuswahlrecht ersetzt, die Spaltung der Gesellschaft verschärfte sich. Seitdem Napoleon 1799 Erster Konsul und dann Kaiser (1804) war, wurde Nationalismus zwar wieder stärker zur Herrschaftslegitimation benutzt. Aber das Befreiungspathos trat in den Hintergrund, soziale Integration und Kontrolle stan18
Jenkins, Nationalism in France, S. 18ff.
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den nun im Vordergrund. Die Formel hieß la nation organisée: Ordnung stand im Mittelpunkt, bedingungslose Loyalität war gefragt, nicht mehr der mündige Staatsbürger und Partizipation. Die Abkehr vom demokratischen Nationalismus zeigte sich auch im Rückgriff auf vorrevolutionäre Legitimationsmuster wie Religion und Staatsloyalität. Statt politischer Werte wirkten nun die militärischen Erfolge unter Napoleons Führung als Bindemittel für die Nation. Auf der gegnerischen Seite benutzten Intellektuelle, aber auch absolutistische Herrscher Nationalismus nun zur Mobilisierung gegen die Invasoren.19 Der Nationalismus in den von Napoleon „befreiten“ Gebieten wurde zum Ferment der Niederlage der grande nation. Napoleons Versuch einer Befreiung Europas vom Legitimismus, vom Feudalismus und von religiöser Verblendung und die in den eroberten Ländern durchgesetzten Reformen waren aus dem Geist der Französischen Revolution und der Aufklärung geboren. Die Eroberung halb Europas wäre nicht möglich gewesen ohne die spezifische Mischung aus Hybris und universellem Sendungsbewusstsein, die dem französischen Nationalismus bis heute eigen ist: Die Werte der französischen Kultur und Zivilisation müssten weltweit verbreitet werden, da sie anderen Kulturen überlegen seien; zur Begründung wurde meist auf die Aufklärung und grundlegende Dokumente wie die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verwiesen; französische Herrschaft garantiere den Sieg über die Barbarei aus dem Osten Europas. Nach der Niederlage Napoleons waren nationalistische Ideen im Frankreich der „Restauration“ bis zur Julirevolution 1830 marginalisiert. Erst nach dem erneuten Umsturz und unter dem in seiner Rhetorik liberalen Regime des „Bürgerkönig“ Louis Philippe erschien der Opposition die demokratisch-republikanische Idee der Nation wieder attraktiv. Die Rückkehr des Nationalismus in den politischen Diskurs, aber zugleich die Distanz zu den 1790er Jahren zeigte sich darin, dass 1831 ein Lustspiel in Paris großen Erfolg hatte, dessen Hauptperson der Rekrut Nicolas Chauvin war, der mit großem Engagement in der Revolutionsarmee und unter Napoleon gedient hatte, durch zahlreiche Verwundungen verstümmelt und dafür mit einem Ehrensäbel und einer kleinen Pension „entschädigt“ worden war. Chauvin und der aus seinem Namen abgeleitete „Chauvinismus“ waren in den 1830er Jahren auch Zielscheibe des Spotts. Nennenswerte nationalistische Bewegungen gab es zwischen 1830 und 1848 nur wegen außenpolitischer Konflikte. Dabei warf die Opposition der Regierung immer wieder vor, sie vertrete die Interessen der gran19
Jenkins, Nationalism in France, S. 30–42.
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de nation nicht entschieden genug (z. B. in der „Rheinkrise“ 1840). Leitbilder der Nationalisten waren die heroisierte Erinnerung an die Zeit der Revolution und Napoleons militärische Erfolge. Die Werke des Historikers Jules Michelet, insbesondere Le Peuple (1846) und seine mehrbändige, emphatische Histoire de la Révolution Française (1847–53), die das revolutionär agierende Volk in den Mittelpunkt stellten, spiegeln das demokratisch-nationalistische Denken um 1848 und haben es mitgeprägt. Michelet war von der Überlegenheit der „keltischen Rasse“ überzeugt. Frankreich war für ihn la patrie universelle. Aus beidem leitete er eine zivilisatorische Mission ab. Religiöser Romantizismus, der „1789“ als Rückkehr Gottes auf die Erde begriff, stand für Michelet nicht im Widerspruch zum scharfen Antiklerikalismus, der für den demokratischen und republikanischen Nationalismus seit den Jakobinern typisch war.20 In der Revolution von 1848 rückten zwar mehrere Demokraten in Führungspositionen auf. Aber die Mehrheit in der Nationalversammlung gewannen gemäßigte (liberale) Republikaner, die die bürgerliche Klassenherrschaft der Zeit seit 1830 fortsetzten. Nach den sozialistischen Aufständen in Paris, kam es, obwohl die Regierung sie blutig niederschlug, zu einem politischen Rechtsruck: Vor allem im ländlichen Frankreich erhielten die Monarchisten Zulauf, die Demokraten verloren an Zustimmung. Im Dezember 1848 gewann Louis-Napoléon Bonaparte, ein Neffe Napoleons I. und Kandidat des monarchistischen Lagers, mit überwältigender Mehrheit (74,3 %) die Präsidentschaftswahl. Hatten schon die Aufstände in Paris mit ihren sozialistischen Forderungen die naive Vorstellung von nationaler Einheit und Interessenidentität widerlegt, so machten die Wahlen den tiefen Stadt-LandGegensatz deutlich: Die Provinz wählte mit überwältigender Mehrheit Bonaparte, während in manchen städtischen Bezirken Demokraten und Sozialisten 40 % der Stimmen bekamen. Dass das als revolutionär geltende französische Volk in demokratischen Wahlen einen Monarchisten zum Präsidenten wählte, verunsicherte den Fortschrittsglauben der Demokraten in ganz Europa und gehörte zu den entscheidenden Impulsen für die „realpolitische“ Neuorientierung in den 1850er Jahren.21 Die Niederlage Napoleons III. und seine Gefangennahme in der Schlacht bei Sedan führten 20 Jahre später zur Gründung der Dritten Republik. Die neue Regierung schrieb sich die „Verteidigung der Nation“ gegen die deutsche Invasion auf die Jenkins, Nationalism in France, S. 54f. Vgl. auch Jansen, „Revolution“ – „Realismus“ – „Realpolitik“.
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Fahnen. Im Zeichen der äußeren Bedrohung schien vorübergehend eine Einigung des gesamten nationalistischen Lagers möglich, das seit 1848 in einen demokratisch-republikanischen und einen liberal-bonapartistischen Flügel gespalten war. Die Klassengegensätze und der Streit über die richtige Verteidigungsstrategie gegen die Deutschen (demokratische Volksmiliz22 oder traditionelle Armee?) führten zu einer neuen Revolution in Paris. Wie bereits 1848 ließ die gemäßigt republikanische Regierung den demokratisch-sozialistischen „Kommune-Aufstand“, noch dazu mit deutscher Hilfe, niederschlagen. Es gab fast 100 000 Opfer (Tote, Verfolgte und Emigranten). Infolgedessen verlor erstens die Ideologie von der nationalen Einheit über alle sozialen Unterschiede hinweg vollends ihre Glaubwürdigkeit. Zweitens war die Arbeiterbewegung ihrer politischen Führer beraubt und spielte in den folgenden Jahren kaum eine Rolle. Drittens wandte sie sich vom Nationalismus ab, was die demokratisch-republikanische Strömung nachhaltig schwächte. Der bereits erwähnte Ernest Renan vertrat in seiner berühmten Rede Qu’est-ce qu’une nation? 1882 den offiziellen politischen Nationalismus der Dritten Republik. Nationen – so lautete seine Quintessenz – gab es nur in den Köpfen und Herzen der Menschen. Renans Definition steht einerseits in einem europäischen Diskussionszusammenhang um die Aporien einer objektiven nationalen Zuordnung. Andererseits bezog sich Renan auf die Annexion Elsass-Lothringens unter Missachtung des Willens seiner Einwohner – diese blieben in seinen Augen Franzosen, solange sie sich nicht demokratisch für einen Anschluss an das Reich aussprachen; sprachlich-kulturelle Argumente zählten für Renan nicht. Da der Stachel der Niederlage von 1870/71 tief saß und große Teile der Öffentlichkeit wie der politischen Klasse auf Revanche sannen, übernahm die französische Armee die zentrale Stellung im Machtgefüge und öffentlichen Leben der Dritten Republik, als sekundäre politische Sozialisationsinstanz und vor allem bei der Inszenierung öffentlichkeitswirksamer Rituale. Musik, Uniformen und Choreographie bei Paraden an nationalen Feiertagen, insbesondere am 14. Juli, trugen zur Nationalisierung der Massen bei. Militarisierung und innere Nationsbildung verliefen erneut – wie nach 1792 – parallel und schwächten die Demokratie.23
Der demokratische Nationalismus propagierte in ganz Europa die Volksbewaffnung und paramilitärisches Training der männlichen Jugend, da stehende Heere als konterrevolutionär galten. Vgl. Jansen, Militarisierung, S. 15–18. 23 François, Nation und Emotion, S. 199, 208. 22
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Zwar hatte die bürgerliche politische Klasse der Dritten Republik die demokratisch-republikanische und sozialistische Linke verprellt. Dafür jedoch gelang ihr seit 1879, was den ersten beiden Republiken nicht gelungen war: die Integration der Bauern, des ländlich-provinziellen Frankreich, das bis dahin antizentralistisch und antirepublikanisch war, in die Nation. Und zwar mit Mitteln moderner Staatsbildung: – Flächendeckende Postzustellung brachte u. a. Zeitungen in die Dörfer und erleichterte wie der Ausbau des Eisenbahnnetzes politische Kommunikation und Informationsaustausch. – Der 14. Juli wurde 1881 zum Nationalfeiertag, die „Marseillaise“ (wie bereits 1793–1814) zur Nationalhymne; die Feiern am 14. Juli ritualisierten die Erinnerung an die Revolution. – Seit 1882 gab es Schulpflicht. Auch die Bekämpfung des Analphabetismus erleichterte die politische Kommunikation. Nach deutschem Vorbild sollte außerdem obligatorischer Turnunterricht die militärische Schlagkraft erhöhen. – Durch die staatlichen Grundschulen und die 1889 eingeführte allgemeine Wehrpflicht bekam der Staat ideologisch-propagandistischen Einfluss auf alle Kinder und besonders auf junge Männer zur Verbreitung des offiziellen Geschichtsbildes und nationalistischer Rituale (Lieder, Feiern, Symbole). – Durch die Trennung von Kirche und Staat wurde der Einfluss des Katholizismus begrenzt, der vor allem auf dem Land ein wichtiger Träger der monarchistischen Opposition gewesen war. – 1884 verbreitete die Loi Municipale die auf die Revolution verweisenden Symbole der Republik (Trikolore, Marianne, die Parole „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“) im ganzen Land. Denn das Gesetz verpflichtete alle Gemeinden, ein Rathaus zu bauen, das mit diesen Insignien geschmückt werden musste.24 Das in der Presse, in den Schulen und bei der Ausbildung der Rekruten verbreitete Geschichtsbild behauptete eine Volkskontinuität von der Zeit der Kelten bis in die Gegenwart, durch die sich ein spezifischer Volkscharakter erhalten habe. Auch die Gegenüberstellung von französischer Zivilisation und deutscher Barbarei gehörte zum ideologischen Repertoire der Dritten Republik. Diese ethnisch-kulturelle Redefinition der Nation als Abstammungsgemeinschaft findet sich sowohl 24
Vgl. Weber, Peasants into Frenchman.
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bei nationalistischen Hasspredigern wie Paul de Saint Victor als auch in subtilerer Form in der Histoire de France des Akademiemitgliedes Ernest Lavisse. Nationalismus wurde während der Dritten Republik vom emanzipatorischen politischen Programm immer stärker zur Ersatzreligion und konservativen Integrationsideologie. So entwickelte sich die Marianne vom revolutionären Symbol mit roter Jakobinermütze zur blumenbekränzten Verkörperung der nationalen Eintracht. Neben dem offiziellen bestand aber ein demokratisch-oppositioneller Nationalismus fort.25 Die Dritte Republik als parlamentarische Demokratie mit allgemeinem (Männer) Wahlrecht ermöglichte eine, im damaligen Europa einmalige, pluralistische Kultur des Nationalismus. In ihr entstanden auch neue Mischungen verschiedener Komponenten. So propagierte die erste populistische Organisation der französischen Rechten, die 1882 vom militaristischen Poeten Paul Déroulède gegründete Ligue des patriotes, die Revanche für 1870/71 durch eine Erneuerung der französischen „Rasse“. Zugleich jedoch knüpfte sie an den jakobinischen Antiparlamentarismus an. Ähnlich wie bei den Anfängen der deutschen völkischen Bewegung mischten sich hier demokratische, militaristische und antisemitische Elemente. Zum Umfeld der Liga gehörte Édouard Drumont, der 1886 in La France juive (Das jüdische Frankreich) Juden als Ausbeuter, Wucherer und Freunde Deutschlands denunzierte und in Frankreich den rassistischen Antisemitismus begründete. In der Dreyfus-Affäre zeigte sich erstmals die für die französische politische Kultur im 20. Jahrhundert charakteristische Spaltung in zwei nationalistische Lager: ein demokratisches und antiklerikales, das sich auf die Ideen von 1789 bezog, und ein antisemitisches und antiparlamentarisches, das sich auf die katholische Tradition bezog und Jeanne d’Arc zur Galionsfigur erkor. Die öffentlichen Debatten im Kontext der Dreyfus-Affäre zeigten, dass Nationalismus in Frankreich nicht mehr gleichzusetzen war mit der Idee der Emanzipation des Volkes durch Selbstbestimmung, sondern dass die Nation auch mit konservativ-autoritären Ordnungsin stanzen wie der Kirche, der Armee und dem Staat identifiziert werden konnte. Die Vordenker des Rechtsnationalismus wie Drumont, Déroulède, Maurice Barrès und Charles Maurras ersetzten das republikanische Ideal einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger durch Leitbegriffe wie Rasse, Tradition, Verwurzelung im „alten“, also vorrevolutionären Frankreich sowie durch den Mythos vom „ewigen Frank-
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Jenkins, Nationalism in France, S. 80ff.
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reich“.26 Die angebliche ethnische Kontinuität von den Kelten bis in die Gegenwart sowie die vor 1789 entstandenen Institutionen Monarchie, Katholizismus und Armee traten an die Stelle des republikanischen Dreiklangs „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“. Neben den subjektiven, politischen Nationalismus trat ein „integraler“ Nationalismus. Diesen Begriff prägte Charles Maurras, der 1898 die Action française gründete. Er propagierte integralen Nationalismus als Religionsersatz, der in einem mystischen Kult der Erde und der Toten gipfelte und zu den Vorläufern des Faschismus gehörte. Die Nation war nach Maurras alles. Der Einzelne hatte sich ihren Interessen vollkommen unterzuordnen und musste jederzeit bereit sein, sein Leben für Frankreich zu geben. Zusammenfassend lässt sich die Entwicklung von Nationalismus und Demokratie in Frankreich so charakterisieren: Im Kontext der Revolution von 1789 entstanden, war der Nationalismus zunächst von Befreiungspathos getragen und erzielte überwältigende Erfolge: er verwandelte eine europäische Großmacht in einen Nationalstaat und gab ihr eine demokratisch-nationalistische Legitimationsbasis. Die moderne Integrationsideologie Nationalismus bewährte sich gegen eine Übermacht von Feinden, ermöglichte nicht nur die Verteidigung der Revolution, sondern sogar den Export ihrer Ideen und Strukturen. Mit dieser Erfahrung, dass die neue Ideologie eine mindestens ebenso große Mobilisierungsfähigkeit besaß wie ältere Bindungen durch Religion oder Treue zum Herrscher, lassen sich die Dynamik und das universelle Sendungsbewusstsein des französischen Nationalismus erklären. In dieser subjektiven und politisch-emanzipatorischen Variante wurde er von den Armeen Napoleons in Europa verbreitet. Auch wenn die autoritär-militärische Form dieser Weltbeglückung Widerstand hervorrufen musste, sind die befreienden Ziele und Wirkungen der napoleonischen Eroberungen unbestreitbar. Seit 1830 knüpfte die demokratisch-revolutionäre Opposition an den linken Nationalismus der Revolutionszeit an, wenn sie den Kampf „der Nation“ gegen die herrschende Klasse propagierte. Nach der Niederlage von 1870/71 wandelte sich die Funktion des Nationalismus: Um 1900 bekannte sich auch die politische Rechte zum Nationalismus, und wie im Reich gab es einen starken integralen und antisemitischen Nationalismus, dem jedoch, anders als östlich des Rheins, ein etwa gleich starker demokratisch-republikanischer Nationalismus gegenüberstand. Auch die Arbeiterbewegung, die zunächst dezidiert internationalistisch ausgerichtet war, ließ sich bis 26
Jenkins, Nationalism in France, S. 95ff.
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1914 zu großen Teilen nationalisieren und stellte ihre Forderungen nach Gleichheit und Demokratie hintan.27
Der deutsche Entwicklungspfad (I): Traditionelle Perspektiven Die Erarbeitung und allmähliche Durchsetzung wissenschaftlicher Standards in der Geschichtsschreibung sowie die Etablierung von Geschichtswissenschaft als Kernfach der modernen Universitäten verlief parallel und vielfach verschränkt mit der Entstehung der Nationalstaaten. Deshalb ist es kein Zufall, dass Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert zunehmend nationalistischen Paradigmen folgte und in teleologischer, oft sogar heilsgeschichtlicher Perspektive den jeweiligen Nationalstaat als Höhepunkt der bisherigen Geschichte präsentierte. Bis hin zur Fälschung von Quellen28 wurde eine historisch möglichst weit zurück reichende Genealogie (re)konstruiert, die die jeweilige Nation auf antike oder frühmittelalterliche „Völker“ mit glanzvoller Vergangenheit zurück führte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zumindest in Westeuropa Nationalismus kritischer gesehen; an die Stelle von Imperialismus und nationalem Egoismus trat (jedenfalls verbal) die Idee des friedlichen Interessenausgleichs, der internationalen Zusammenarbeit, weltweit in den „Vereinten Nationen“ und in Europa in einer wirtschaftlichen und politischen Einigung, die aber keineswegs als „Vereinigte Staaten von Europa“, also als europäischer Bundesstaat, sondern als „Europa der Vaterländer“ gedacht und präsentiert wurde. In Westdeutschland wurde mit diesen neuen politischen Paradigmen auch die Idee ad acta gelegt, Deutschland müsse einen „dritten“ Weg zwischen dem westlichen liberal-kapitalistischen Modell und östlicher Despotie finden.29 Damit traten auch die bis 1945 in der deutschen Gesellschaft und insbesondere im Bildungsbürgertum weit verbreiteten Vorbehalte gegen die liberale parlamentarische Demokratie in den Hintergrund.
Vgl. Goergen, Einstellungen. Ein berühmtes Beispiel ist die Grünberger Handschrift. Vgl. Hroch, Europa der Nationen, S. 145–170. 29 Vgl. zu dieser Tradition und entsprechenden Theoremen der Geschichtswissenschaft vor 1933 Faulenbach, Ideologie. 27 28
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Dass es demokratischen Nationalismus geben könne und er sogar die ursprüngliche Form des Nationalismus sei, wurde dank der HJ-Generation „westernisierter“ Historiker, ihrer skeptischeren Sicht auf Bismarck und ihrer affirmativen Haltung zur liberalen parlamentarischen Demokratie seit den 1960er Jahren in der westdeutschen Forschung weitgehender Konsens. Die Geschichte der deutschen Nationsbildung wurde nicht mehr teleologisch auf den „Reichsgründer“ Bismarck hin geschrieben. Die Reichsgründungszeit wurde vielmehr bezogen auf Nationalismus und Demokratie zum Kipppunkt „vom linken zum rechten Nationalismus“, wie es Heinrich August Winkler in einem berühmten Aufsatztitel zuspitzte.30 Sie trennte zwei Arten von Nationalismus: eine frühe „linke“ Form wurde als progressiv, liberal und modernisierend einer späteren, „rechten“ Variante gegenübergestellt, die antidemokratisch, rassistisch und antimodern gewesen sei. In Otto Danns klassischer Überblicksdarstellung „Nation und Nationalismus in Deutschland“ reichte die Unterscheidung zweier grundverschiedener Nationalismen bis in die Terminologie hinein: Den frühen Nationalismus bezeichnete Dann als „Patriotismus“ und verstand ihn als „ein gesellschaftlich-politisches Verhalten“, „bei dem nicht die eigenen oder Gruppeninteressen im Vordergrund stehen […], sondern die Gesellschaft als Ganzes, der Staat, die Umwelt, d. h. in älteren Begriffen: das bonum commune (Gemeinwohl), das Wohl des Vaterlandes (patria)“. Entsprechend definierte Dann die moderne Nation so, dass sie „alle Bewohner des nationalen Territoriums“ umfasse, allen „den gleichen Anspruch auf Menschen- und Bürgerrechte“ gewähre, auf dem Prinzip der Volkssouveränität basiere und allen anderen Völkern „ein gleiches Recht auf Existenz […] und auf Selbstbestimmung“ zugestehe. Dieses idyllische Konstrukt eines kosmopolitischen Frühnationalismus, das bis heute den Diskurs in der politischen Öffentlichkeit dominiert, blendet die xenophoben, rassistischen (insb. antisemitischen), kolonialistischen und imperialistischen Wesenszüge vollkommen aus, die allen Nationalismen eigen sind, sich Dann zufolge aber erst nach 1871 zeigten.31 Ähnlich unterschied der einflussreiche Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler einen als „Emanzipationsideologie“ charakterisierten frühen „Liberalnationalismus“ von einem erst nach der Reichsgründung virulenten „Radikalnationalismus“, der die Nation, die zunächst als Kulturgemeinschaft verstanden worden sei, „ethnisch30 31
Vgl. Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus. Dann, Nation und Nationalismus, S. 16–20.
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rassistisch umdefiniert“ habe in eine „Volksnation“. Während der „Liberalnationalismus“ dafür plädiert habe, verschiedene Nationen könnten „friedlich-harmonisch miteinander kooperieren“, habe der „Radikalnationalismus“ des Kaiserreichs aggressive Feindbilder über die Nachbarvölker, „giftigen rassistischen Antisemitismus“ und „pangermanische Expansionsideen“ popularisiert und die Assimilation nationaler Minderheiten forciert.32 Auch international einflussreiche Forscher, etwa Fritz Stern mit seiner breit rezipierten Studie über Lagarde, Langbehn und Moeller van den Bruck33, vertraten die Auffassung, dass der deutsche Nationalismus erst seit den 1880er Jahren völkisch, antisemitisch und antimodern geworden sei. Dass die These von der Ablösung eines „linken“ durch einen „rechten“ Nationalismus so öffentlichkeitswirksam und langlebig war, lag auch daran, dass sie sehr gut zu einem anderen Paradigma der liberalen Nachkriegshistoriker passte: zur These vom „deutschen Sonderweg“.34 In Anlehnung an die nationalistische These, dass die historische Entwicklung jeder Nation vom „Volkscharakter“, der geografischen Lage und anderen Faktoren bestimmt sei, besagte die Sonderwegsthese, dass die Entwicklung in Deutschland grundsätzlich anders verlaufen sei als in „normalen“ europäischen Ländern. Als Norm wurde Großbritannien gesetzt35 und der deutsche „Sonderweg“ festgemacht an der späten Industrialisierung, am „Scheitern“ der Revolution 1848/49, am „Versagen“ des Liberalismus angesichts des „Genies“ Bismarck, an der Nationalstaatsgründung „von oben“, an der „Feudalisierung“ des Bürgertums im Kaiserreich usw. Der Fluchtpunkt dieses Geschichtsbildes war 1933. Es ging immer darum zu erklären, warum es in einem modernen Staat wie dem Deutschen Reich zur Machtübernahme der Nationalsozialisten und zum Zivilisationsbruch der Shoah kommen konnte. Die Narration vom „deutschen Sonderweg“ knüpfte an ältere (nationalistische) Gegenüberstellungen der deutschen und der westlichen Entwicklung – z. B. bei Friedrich Meinecke („Kultur“ vs. „Zivilisation“) an – bewertete sie aber vollkommen anders: statt einem positiven Sonderweg fan Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 510 f.; Bd. 3, S. 954. Stern, Kulturpessimismus. 34 Die einflussreichste Darstellung aus dem Geiste des Sonderwegsparadigmas war Wehlers „Das Deutsche Kaiserreich“ von 1973 (insb. S. 11f.) – ein thesenfreudiger Schnellschuss mit aus heutiger Sicht einigen Fehleinschätzungen, die Wehler zum Teil in „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ revidierte. Vgl. Grebing, Der „deutsche Sonderweg“. 35 Dabei war ein britischer „Sonderweg“ genauso plausibel wie ein deutscher. Vgl. Weisbrod, Der englische „Sonderweg“; Jansen, „Verspätet?“ – „Pünktlich?“ – „Zu früh?“, insb. S. 109f. 32 33
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den sie einen negativen, dessen Ergebnis zwei von Deutschland ausgelöste Weltkriege, der Nationalsozialismus und die Shoah waren. Erst angesichts einer von vielen mit Beunruhigung wahrgenommenen „Rückkehr des Nationalismus“, der durch Westernisierung36, europäische Aussöhnung und Einigung lange überwunden schien, wurde in der deutschen Forschung das polare Bild der beiden Nationalismen durch ein dialektisches abgelöst. Dieter Langewiesche formulierte 1994 paradigmatisch: „Wer Nationalismus sagt, meint die dunkle Seite. Wer das helle Gegenbild als Vorbild und Entwicklungsziel leuchten lassen will, spricht von Nation, Vaterland, Patriotismus. Die Ergebnisse historischer Forschung sperren sich jedoch, eindeutig – meine ich, gegen eine solche hoffnungsfrohe Zweiteilung“37. In diesem Sinne sieht die neuere, kritische Nationalismusforschung38 jegliche Form nationalistischen Denkens als ambivalent an. Jeder Nationalismus strebt neben politischer Emanzipation Machtzuwachs auf Kosten anderer Völker und Nationen an. Nationalistisches Denken geht immer von der Höherwertigkeit der eigenen Nation aus.
Der deutsche Entwicklungspfad (II): Nationalismus und Demokratie Vor dem Hintergrund dieser Kritik an der älteren nationalgeschichtlichen Forschung und auf der Basis der These von der prinzipiellen Ambivalenz des Nationalismus versuche ich abschließend eine Skizze der Entstehung des Nationalismus in den deutschen Staaten mit besonderem Blick auf das Verhältnis von Demokratie und Nationalismus. Ich fokussiere dabei vor allem die frühe Phase, in der nach der älteren Sichtweise der Nationalismus für „friedlich-harmonische“ Kooperation der Nationen geworben und allen Bürgern den „gleichen Anspruch auf Menschen- und Bürgerrechte“ geboten habe, und zeige, dass es bereits am Beginn des 19. Jahrhunderts (und
Verstanden als Durchdringung der (west)deutschen Gesellschaft durch liberale und demokratische westliche Werte, durch Massenkonsum und anglo-amerikanische Popkultur, verbunden mit der politisch-militärischen Westintegration. 37 Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, S. 16f. 38 Vgl. als Einführungen Jansen/Borggräfe, Nation; Weichlein, Nationalbewegungen. 36
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nicht erst seit Bismarck und der autoritären Reichsgründung) einen exklusiven, antisemitischen, imperialistisch-expansiven („extremen“) Nationalismus gab. Geographische, politische und ideengeschichtliche Besonderheiten führten dazu, dass die nationalistische Bewegung sich in Deutschland unter wesentlich anderen Voraussetzungen entwickelte als in West- oder Nordeuropa, aber ähnlich wie in Ost(mittel)europa, wohin der deutsche nationalistische Diskurs ausstrahlte. Das Gebiet, das die deutschen Nationalisten einen wollten, war äußerst heterogen. Ältere regionale und lokale Strukturen waren seit der Reformation und den aus ihr resultierenden Kriegen durch eine tiefe konfessionelle Spaltung überformt worden. Der neuzeitliche Staatsbildungsprozess hatte im Deutschen Reich die Divergenzen noch verstärkt, bis die „Flurbereinigung“ durch Napoleon zwar zahllose kleine Herrschaften aufhob, aber zugleich die Struktur verfestigte, dass es mehrere „deutsche“ Staaten gab, indem die Invasoren lebensfähige Mittelstaaten mit vielfältigen Unterschieden und Interessengegensätzen schufen. Die Auflösung der Ständegesellschaft und die strukturellen Umbrüche unter französischer Herrschaft führten darüber hinaus zu neuen gesellschaftlichen Spaltungen, die die Klassengesellschaft ankündigten. Wegen der vielfältigen Fragmentierung und der ständischen Struktur des alten Reichs waren seit den Anfängen des deutschen Nationalismus nicht nur die möglichen Grenzen eines Nationalstaats unklar und strittig; wegen der Konfessionalisierung entfiel auch eine gemeinsame Religion als Bindemittel.39 Als einige Intellektuelle Ende des 18. Jahrhunderts versuchten, nach westlichem Vorbild über den einzelstaatlichen Patriotismus hinaus zu „deutschem“ Nationalbewusstsein zu erziehen, empfanden sie die Sprache und die über sie vermittelte literarische und geistige Kultur und Bildung als einzige Gemeinsamkeiten. Diese Vorstellung von einer gemeinsamen deutschen Kultur verband sich mit einer diskursiven Neubewertung des Begriffes „Volk“, die für die spezifische deutsche Verbindung von Nationalismus und Demokratie entscheidend war. „Volk“ bezeichnete in der politischen Sprache bis ins späte 18. Jahrhundert hinein die Unterschichten mit pejorativer Wertung. Danach werteten mehrere, miteinander verschränkte Diskurse Volk zu einem emphatisch besetzten Terminus auf. Die „Volksaufklärung“ begriff die Bildung und Erziehung des einfachen Volks, also der ländlichen Unter-
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Die beste Analyse der Frühgeschichte und Entstehungsbedingungen des deutschen Nationalismus: Planert 2002.
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schichten, als Motor des politischen Fortschritts.40 Die Romantiker machten aus dieser Relativierung des kulturellen Führungsanspruchs der Gebildeten ein Programm: Wahre Poesie war für sie nur bei unverbildeten Menschen zu finden – beim einfachen Volk und bei Kindern. Sie bemühten sich um die Bewahrung der durch den Modernisierungs- und Zivilisationsprozess gefährdeten Volkssprache und -überlieferung und betrieben einen Kult des Natürlichen und Ursprünglichen, der zum ständigen Begleiter des deutschen Nationalismus wurde. Aus mindestens drei Gründen eignete sich der Volksbegriff im deutschen Fall besonders als Inklusions- und Exklusionscode: Erstens war seine Bedeutung vielschichtig und widersprüchlich: im Sinne von „demos“ als Staatsvolk und Souverän im demokratischen Sinne (Volkssouveränität), im Sinne von „ethnos“ als Kultur , wenn nicht Abstammungsgemeinschaft (Volksstamm) sowie als Synonym für „Nation“.41 Zweitens war um 1800 durchaus unklar, was das „deutsche Volk“ sei – die Menschen begriffen sich eher als Bayern, Preußen usw.42 Diese Offenheit des Begriffs und seine vielfältigen Bedeutungen boten drittens Raum für ideologische Aufladungen. Eine der wirkmächtigsten war die Behauptung einer Kontinuität von den von Tacitus charakterisierten „Germanen“, die seit der Wiederentdeckung seiner Germania im 15. Jahrhundert als Inbegriff von „Reinheit“ und Ursprünglichkeit galten. Das führte zu einer breiten Rezeption vor allem des Feldherrn Arminius („Hermann, der Cherusker“), um den seit dem 18. Jahrhundert ein Kult entstand (zahlreiche Dramen, Gedichte, Gemälde heroisierten ihn)43, an den während der napoleonischen Besatzung u. a. der Berliner Philosoph Fichte in seinen einflussreichen „Reden an die deutsche Nation“ anknüpfte.44 Dass sich der frühe deutsche Nationalismus auf die schillernden Begriffe „Kultur“ und „Volk“ stützte, war zugleich der Ausgangspunkt einer ethnischen Fundierung der deutschen Nation. Zur Spezifik des deutschen Nationalismus trug außerdem bei, dass er während der antinapoleonischen Kriege erstmals größere Resonanz fand, also im Befreiungskampf gegen ein Land, auf das sich leicht die Schuld am Nie-
Vgl. zur „Volksaufklärung“ zahlreiche Publikationen von Holger Böning, Reinhart Siegert u. a.; zum Kontext: Koselleck, Volk, S. 314–316. 41 Vgl. vertiefend Hoffmann, Das ‚Volk‘. 42 Ebd., S. 196f. 43 Vgl. Dörner, Mythos. 44 Vgl. detaillierter Jansen, Fichte, S. 157f. 40
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dergang deutscher Größe projizieren ließ. Die napoleonische „Fremdherrschaft“, die sich das universalistische Programm der Französischen Revolution propagierte, verstärkte antiuniversalistische Tendenzen im deutschen Nationalbewusstsein. Deshalb wurde im deutschen Diskurs die prinzipielle Verschiedenheit der Völker betont. Die Annahme eines je eigenen „Nationalcharakters“, dem folgend jede Nation ihren spezifischen Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung finden müsse und der gegen die Übernahme der politischen Ideen einer anderen Nation – etwa aus Frankreich – sprach, wurde zum Paradigma der deutschen nationalistischen Geschichtsteleologie. Die politische Opposition empfand jedoch die nach den „Befreiungskriegen“ auf dem Wiener Kongress 1815 geschaffenen gesamtdeutschen Institutionen, den Deutschen Bund und seine Organe, als eine neue Fremdherrschaft, deren Zentrum statt in Paris nun in Wien und in der Heiligen Allianz der reaktionären, antinationalistischen Mächte Russland, Preußen und Österreich gesehen wurde. Es gab in der deutschen Opposition, zumal nach dem Scheitern der preußischen Reformer, im Vergleich zu West- oder Nordeuropa extrem wenig Identifikation mit staatlichen Institutionen. Dieser Umstand verstärkte die Tendenz, „das Volk“ zu einer authentischen Kraft, zur Inkarnation des „Deutschtums“ zu stilisieren, auf die sich eine Reorganisation des politischen Systems zu stützen habe. Dies führte zu einem mystifizierenden Volkskult und in Verbindung mit dem Strukturproblem, wo „Deutschland“ enden sollte, zu einer unpolitischen, auf angeblich natürliche, ethnische Faktoren gestützten Form des Nationalismus. Die geringe Identifikation mit den bestehenden Staaten förderte die Entstehung des spezifischen Konglomerats aus demokratischen, antisemitischen45 und deutschtümelnden Komponenten, aus denen die völkische Bewegung entstand. Wesentliche Komponenten dessen, was die ältere Forschung als „Radikalnationalismus“ bezeichnet hat, gehörten deshalb bereits im 19. Jahrhundert zum deutschen Nationalismus. Die wichtigsten waren: 1. das deutsche Volk oder die deutsche Nation als eine ethnische, auf gemeinsame Abstammung gegründete, natürliche Einheit zu begreifen, 2. Überlegenheitsgefühle gegenüber anderen Völkern, 3. weitreichende territoriale Ambitionen, die zu Kriegen mit den Nachbarstaaten führen mussten, 45
Sowohl die von den französischen Besatzern installierten als auch die vom Wiener Kongress geschaffenen deutschen Staaten förderten die Judenemanzipation.
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4. eine Umwertung des Nationalismus zur Ersatzreligion und 5. massive antifranzösische und – etwas weniger massive – antisemitische Ressentiments. Diese nationalistischen Argumente vertraten nicht nur einige Außenseiter. Immer wenn im 19. Jahrhundert öffentliche politische Diskussionen möglich waren (oft verhinderte die Zensur dies), trafen sie auf breite Resonanz. Zwar gab es in der überwiegend liberalen, teilweise auch demokratisch-republikanischen Opposition auch eine kleine kosmopolitische Strömung. Für die große Mehrheit der Opposition galt jedoch, dass sie eine „Wahlverwandtschaft“ mit dem Nationalismus verband.46 Erst die Verbindung von Nationalismus, Liberalismus und Demokratie, also die Verheißung, dass der Nationalstaat bürgerliche Freiheiten und Partizipation bringen werde, ermöglichte den durchschlagenden Erfolg aller drei Ideologien, die sich in vielen Punkten widersprachen. Diese Gegensätze brachen jedoch erst offen aus, als der Nationalstaat zum Greifen nah schien: 1848/49 und dann wieder in den 1860er Jahren. Nicht nur von der eher unpolitischen Hauptströmung im Nationalismus der 1810er Jahre wurde die Nation als natürliche, ethnisch-religiöse Gemeinschaft verstanden. Das galt selbst für die demokratische Minderheitsströmung, wie die Grundzüge für eine künftige deutsche Reichsverfassung des radikalen Burschenschafters Karl Follen von 1819 zeigen. Paragraph 1 definierte die Nation: „Deutsche sind ein Volk, d. h. mit gleichen Anlagen des Geistes und des Leibes begabte Menschen […]; zum deutschen Volk gehören auch Schweizer, Elsässer, Friesen etc.“ Follens Verfassung stellte das Volk im doppelten Sinne, als demos und ethnos, in den Mittelpunkt seiner Verfassung. Sie war sowohl demokratisch als auch ethnisch-nationalistisch. Ihre Realisierung hätte nicht nur eine Revolution in den Staaten des Deutschen Bundes erfordert, sondern ebenso die Auflösung mehrerer Nachbarstaaten oder die kriegerische Herauslösung der von „Deutschen“ bewohnten Territorien. Zugleich stimmten revolutionäre Demokraten wie Follen mit der konservativen Berliner „Deutschen Tischgesellschaft“, die Achim von Arnim und Adam Heinrich Müller 1811 gegründet hatten und zu der rund hundert Mitglieder der preußischen Eliten gehörten (darunter Clausewitz, Schleiermacher, Savigny, Brentano, Schinkel), darin überein, dass der deutsche Nationalstaat auf christlicher Grundlage errichtet werden musste. Antisemitische Tiraden waren deshalb eine ständi46
Vgl. Echternkamp, Aufstieg, S. 490.
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ge Begleiterscheinung des Nationalismus. So wollte Follen das Wahlrecht an den „Mitgenuß des hl. Abendmahl[s]“ binden, und in Paragraph 10 seines Verfassungsentwurfs hieß es über die vorgesehene Staatskirche: „Die einzelnen Glaubenssekten lösen sich in eine christlich-deutsche Kirche auf; andere Glaubenslehren, welche den Zwecken der Menschheit zuwider sind, wie die jüdische […], werden in dem Reiche nicht geduldet“.47 Nur eine politische Definition der Nation, also die Erklärung aller im Staatsgebiet lebenden Menschen unabhängig von Sprache, Religion oder Abstammung zu gleichberechtigten Bürgern, hätte vor den Weiterungen solcher ethnischer Reinheitsvorstellungen bewahren können. Aus den strukturellen Rahmenbedingungen der Entstehung des Nationalismus (Fehlen eines Machtzentrums, konfessionelle Spaltung, Sprache und Kultur als Gemeinsamkeit, Frontstellung gegen Napoleon und die Französische Revolution usw.) ergab sich jedoch, dass eine politische Definition der Nation als Wertegemeinschaft im deutschen nationalistischen Diskurs marginal blieb. Stattdessen schaukelten sich „die Demokratisierung des ehedem ständestaatlichen Volksbegriffs und die Politisierung des ehedem vorstaatlichen Nationsbegriffs“48 gegenseitig hoch. Die Revolutionen 1848/49 trafen die organisierten Nationalisten weitgehend unvorbereitet. In den Kämpfen des März 1848 dominierten die unterbürgerlichen Schichten. Der revolutionäre Protest schuf aber die Möglichkeit zur ungehinderten politischen Organisation. Bis zu 1,5 Millionen Männer gehörten in der Revolution politischen Vereinen der Demokraten und Liberalen an. Im Mittelpunkt der politischen Debatten standen die Nationalstaatsgründung, die erstmals von einer Utopie zur realisierbaren Möglichkeit wurde, sowie die Verfassung des künftigen Reichs, die Freiheit und Recht(sstaatlichkeit) garantieren sollte. Immer wieder zeigte sich die Dominanz einer ethnischen Definition der deutschen Nation. In der Paulskirche lobte der linksliberale Abgeordnete Wurm, dass nicht „Freiheit“, sondern „Gott sei Dank, die Nationalität das vorwaltende Prinzip“ bei der Verfassungsgebung sei.49 So formulierte und beschloss die Deutsche Nationalversammlung in bewusster Ab Follen, zit. nach Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 3, Darmstadt 1979, S. 121ff.; vgl. Nienhaus, Geschichte. 48 Koselleck, Volk, S. 388. Dort wird dieses Phänomen allerdings in die 1860er Jahre datiert, also um 50 Jahre zu spät. 49 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Nationalversammlung, Frankfurt/M. 1849, S. 1111. 47
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kehr von den Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte aus der amerikanischen und französischen Revolution „Grundrechte des deutschen Volkes“. Die 1848/49 in den Debatten über die Grenzen des künftigen Reichs vorgebrachten Argumente waren widersprüchlich. Fast alle Revolutionäre waren sich aber einig, dass es zu der in Mitteleuropa dominanten Macht und – wie man bereits sagte – zur Weltmacht werden sollte. Um das zu erreichen, argumentierten die Abgeordneten der Nationalversammlung opportunistisch: Territorien, die zum Deutschen Bund gehörten, in denen es aber keine deutschsprachige Bevölkerungsmehrheit gab, wie Böhmen und Mähren, Triest und das Trentino, wurden mit dem Argument historisch gewachsener Zugehörigkeit für den künftigen Nationalstaat reklamiert. Andererseits beanspruchten sie mit ethnischen Argumenten die preußischen Ostprovinzen und Schleswig, die nicht zum Deutschen Bund gehörten. Nur die demokratisch-republikanische Linke vertrat einen politischen Nationsbegriff, demzufolge strittige Gebiete in freier Selbstbestimmung über ihre Staatszugehörigkeit abstimmen sollten, stand aber auf verlorenem Posten.50 Die deutschlandpolitischen Debatten der Paulskirche verdeutlichen auch die Unvereinbarkeit verschiedener Elemente des ethnisch fundierten deutschen Nationalismus. Am auffälligsten war der Widerspruch zwischen den Zielen der ethnischen Homogenität und der Integration aller Gebiete, in denen Deutsch gesprochen wurde. Wollte man die Formel aus Arndts berühmtem Lied, das 1848 zur inoffiziellen Nationalhymne wurde, verwirklichen und die deutschen Grenzen ziehen, „soweit die deutsche Zunge klingt“, so schloss ein solches großdeutsches Reich Millionen nicht-deutsche Untertanen ein. Nationaldemokraten wie der Württemberger Moriz Mohl benutzten zur Auflösung dieses Widerspruchs das hegelianische Argument vom Vorrecht der großen Völker. Die Minderheiten, die einem künftigen großdeutschen Nationalstaat angehören würden, seien nur „zerbröckelte kleine Nationalitäten“ und sollten assimiliert werden.51 Auch in der deutschen Arbeiterbewegung, die sich Anfang der 1860er Jahre verselbständigte, argumentierten manche mit dem Doppelsinn des Wortes „Volk“. Der Kopf dieser nationalistischen Strömung war Ferdinand Lassalle. Für ihn waren
Dies zeigte sich exemplarisch in der berühmten Polendebatte. Vgl. Jansen/Borggräfe, Nation, S. 55f. 51 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Nationalversammlung, Frankfurt/M. 1849, S. 4621. 50
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„Autonomie, Selbstgesetzgebung des Volkes nach innen“ nur möglich, wenn der Volksstaat auch nach außen unabhängig war: „Das Prinzip der freien, unabhängigen Nationalitäten ist also die Basis und Quelle, die Mutter und Wurzel des Begriffs der Demokratie überhaupt.“ Für Lassalle konnte ein demokratischer Staat nur ein Nationalstaat sein; er übernahm auch den biologischen Jargon: Über die hier zitierten Metaphern „Quelle“, „Mutter“ und „Wurzel“ hinaus nannte er an anderer Stelle die Nationalität den „Boden und Lebensquell“ der Demokratie. Ganz hegelianisch sah der Arbeiterführer Völker als Individualitäten: „Das Prinzip der Nationalität wurzelt […] in dem Recht des Volksgeistes auf seine eigene geschichtliche Entwicklung und Selbstverwirklichung“. Ähnlich wie Hegel, aber auch Marx und Engels, gestand Lassalle nur großen, „weltgeschichtlichen“ Völkern dieses Recht auf Selbstverwirklichung zu. Andere, darunter Nationen mit einer so glanzvollen Geschichte wie die Tschechen, waren nurmehr „Trümmer“, und die Nachbarvölker hatten das „Recht“, deren Gebiete zu erobern. Die Probe auf das Recht zur Eroberung sei im Falle „eines Volkes verschiedener Rasse mehr das Aussterben, bei der Eroberung eines Volkes derselben Rasse mehr die Assimilierung desselben“. Mit diesem Argument rechtfertigte Lassalle nicht nur die Kolonisierung Amerikas und Indiens durch „die angelsächsische Rasse“, Nordafrikas durch die Franzosen und der Slawen durch die Deutschen, sondern er akzeptierte auch den Verlust des Elsass und Lothringens an Frankreich.52 Die Gründung des ersehnten Nationalstaates seit 1867 veränderte den deutschen Nationalismus grundlegend. Eine oppositionelle Ideologie verwandelte sich in eine staatstragende. Die meisten Nationalisten waren nach den Kriegen von 1866 und 1870 froh, dass endlich ein Nationalstaat geschaffen war und liefen in das Lager der Unterstützer Bismarcks über. Gleichwohl war der in zwei Etappen entstehende Nationalstaat auch eine Enttäuschung.53 Die Liberalen und Demokraten im Deutschen Nationalverein und in den Fraktionen der Deutschen Fortschrittspartei im Norddeutschen Reichstag und in den Länderparlamenten, die durch zahllose Turn-, Gesangs- und Schützenvereine, Berufsvereinigungen usw. in der Zivilgesellschaft verankert waren, hatten sich zwar eine militärische Einigung unter der Führung
Ferdinand Lassalle, „Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens“ (1859), in: ders.: Gesammelte Schriften und Reden, Bd. 1. Berlin 1919, S. 31ff., 46 und 107. 53 Für eine genauere Analyse der nationalistischen Bewegung und ihres Beitrags zur Reichsgründung siehe Jansen, Gründerzeit und Nationsbildung, insb. S. 119–182 und 195ff. 52
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Preußens gewünscht. Aber sie wollten ein Reich mit der Verfassung von 1849 und kein semiabsolutistisches Großpreußen mit einer zwar demokratisch gewählten, aber politisch machtlosen Volksvertretung. Preußen war nach den Annexionen des Königreichs Hannover, des Kurfürstentums Hessen, der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Nassau sowie der freien Stadt Frankfurt im Norddeutschen Bund wie im Deutschen Reich politisch, militärisch, ökonomisch, kulturell und in jeder anderen Hinsicht übermächtig. Heute wird oft übersehen, was für die Zeitgenossen sehr deutlich war: Die Reichsgründung war nicht die „kleindeutsche“ Lösung, wie 1849 in der Paulskirche beschlossen, sondern ein Großpreußen. Auch die Symbolik des Gründungs- und Kaiserkrönungsaktes im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles war nicht nur eine Ohrfeige für den besiegten „Erbfeind“, sondern auch für alle, die sich einen liberalen oder demokratischen Nationalstaat gewünscht hatten: Sie fand nicht nur auf fremdem Territorium statt, sondern auch ohne demokratische Legitimation. Das Deutsche Reich wurde am 18. Januar 1871 von deutschen Fürsten und Militärs im Prunksaal des berühmtesten absolutistischen Schlosses gegründet – die eilig herbeigeholten, wenigen Vertreter des Norddeutschen Reichstags standen am Rande und sind auf den bekannten Darstellungen der Reichsgründung kaum zu erkennen. Dass König Wilhelm und seine Regierung eine Nationalstaatsgründung ohne parlamentarische oder gar demokratische Legitimation wollten, hatte sich bereits 1867 gezeigt, als Bismarck die Verfassung des Norddeutschen Bundes weitgehend alleine schrieb und mit erpresserischem Druck im Norddeutschen Reichstag durchsetzte. Wegen dieser Begleitumstände wechselte nur ein Teil der liberalen und nationalistischen Bewegung vom oppositionellen „linken“ zum affirmativen „rechten“ Nationalismus: Die Fortschrittspartei spaltete sich 1867 in die mit Bismarck zusammenarbeitende Nationalliberale Partei und die oppositionelle Fortschrittspartei. Die These vom Wandel des Nationalismus trifft also nur für einen Teil der nationalistischen Bewegung zu – die Nationalliberalen, Preußenfans und Bismarckbegeisterten.
Resumee 1. Die Entwicklung des französischen Nationalismus unterscheidet sich von der Nationsbildung in Deutschland in mehreren Aspekten: Anders als in Deutschland kam die nationalistische Rechte in Frankreich nie an die Regierung, und 49
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die linksnationalistische Strömung hatte mehr Einfluss als im Reich. Frankreich stellt in Europa auch insofern eine Ausnahme dar, als die Nationsbildung in der Dritten Republik im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie gelang, während in allen anderen europäischen Ländern autoritäre Regime herrschten oder (wie in Italien und Großbritannien) ein Zensuswahlrecht die Partizipation stark einschränkte. Anders als im Deutschen Reich bezeichneten sich in Frankreich bereits vor dem Ersten Weltkrieg alle politischen Lager als nationalistisch. Dabei beriefen sie sich jedoch auf unterschiedliche Traditionslinien, weshalb der französische Nationalismus tief gespalten war. Der „Erfindung“ des politischen Nationalismus im revolutionären Frankreich stand seit den 1870er Jahren ein Kampf um die Deutungshoheit zwischen politischem und häufig zugleich demokratischem sowie ethnischem, integralem und antisemitischem Nationalismus gegenüber. Der französische Sonderfall der Nationsbildung unter parlamentarisch-demokratischen Rahmenbedingungen wurde nach dem Ersten Weltkrieg zum europäischen Normalfall – mit der Konsequenz eines nun überall politisch gespaltenen Nationalismus. 2. Neben der Ambivalenz aller Nationalismen sind zwei prinzipiell verschiedene und miteinander unvereinbare Definitionen der Zugehörigkeit zu einer Nation und damit unterschiedliche Nationalismen zu unterscheiden, aus denen sich ihre politische Verortung ergibt: Wird die Nation subjektiv, also als politische Wertegemeinschaft definiert, so folgt daraus die Option für liberale und demokratische Wege, um die nationalistischen Leitwerte Einheit und Autonomie zu gewährleisten, nämlich durch politische Freiheit und demokratische Selbstverwaltung, also durch freie Selbstbestimmung. Wird die Nationszugehörigkeit hingegen nach „objektiven“ Kriterien definiert, so folgt daraus in der Regel die Option für autoritäre Verfahren, um nationale Einheit und Handlungsfähigkeit auch gegen die subjektiven Interessen der Individuen durchzusetzen. Individuelle Interessen werden, wenn sie den „nationalen Interessen“ entgegenstehen, häufig als falsches Bewusstsein, politische Unreife oder gar als Verrat denunziert. Nur eine politisch-subjektive Definition der Zugehörigkeit lässt sich mit demokratischen Prinzipien, dem Gleichheitsgedanken und individuellen Freiheiten vereinbaren. 3. Die Gemeinsamkeit von Nationalismus und Demokratie liegt in der Aufwertung des Volkes zum Souverän. An die Stelle des Absolutismus sollte der Nationalstaat als Volksstaat treten. Die Verwirklichung dieses Projektes be50
Demokratie und Nationalismus: Die deutsche und französische Konstellation bis 1914
stimmte die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die großen Fortschritte, die in und durch die Nationalstaatsgründungen weltweit in Bezug auf demokratische Teilhabe, soziale und rechtliche Sicherheit, Chancengleichheit und individuelle Freiheiten erreicht wurden, basierten auf klaren Grenzen nach außen und vielfach auch nach innen und der Exklusion aller, denen die Staatsbürgerschaft bzw. volle Bürgerrechte verweigert werden. Der Anspruch auf demokratische Teilhabe an politischer und wirtschaftlicher Macht innerhalb der Nation stand nie im Widerspruch zur gewalttätigen Abgrenzung nach außen. Und es bleibt die – mangels Beispielen wohl nicht historisch zu beantwortende – Frage, ob zur Durchsetzung der Demokratie eigentlich der Nationalstaat notwendig war. 4. Zwar gibt es transnationale Zusammenarbeit auf vielen Ebenen und Gebieten, und viele Nationalstaaten gaben Zuständigkeiten an supranationale (z. B. europäische) Institutionen ab. Aber auf dieser supranationalen Ebene sind die demokratischen Defizite im Allgemeinen größer als innerhalb vieler Nationalstaaten. Zwar sind demokratische Nationalstaaten, insbesondere wenn sie von politischem Nationalismus (häufig auch als „Verfassungspatriotismus“ bezeichnet) getragen sind, prinzipiell offen für Zuwanderung und Flüchtlinge. Aber es bleibt ein unauflösbarer Widerspruch zwischen dem Grundsatz von der Gleichheit aller Menschen und der Realität des Nationalstaats, der seinen Schutz und seine Garantien immer nur einer klar begrenzten und eindeutig definierten Zahl von Menschen bieten kann.
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Versprechen und falsche Freunde. Frauen im Imaginierten von Demokratie und Nation Gabriele Kämper Die Historikerin und Feministin Joan Kelly-Gadol stellte 1977 in ihrem aufsehenerregenden Aufsatz Did Women Have a Renaissance? die These auf, dass es eine Renaissance für Frauen nicht gegeben habe – zumindest nicht während der Epoche der Renaissance. Damit forderte sie das Periodensystem der Geschichtswissenschaft heraus und stellte deren ebenso geschlechterblinde wie Allgemeingültigkeit beanspruchende Wahrnehmungsschemata in Frage. Für Frauen galt nicht, was die Renaissance den Männern versprach: Aufklärung, Emanzipation, Aufbruch. Diesen Gedanken möchte ich aufgreifen. Gelten die Konzepte der Nation und der Demokratie in gleicher Weise für Frauen und Männer? Und wie verhalten sich die impliziten, dem Bildlichen und Symbolischen verhafteten Vorstellungswelten dieser Konzepte dazu? Jahrzehnte nach Kelly-Gadols Diktum sind Kontingenz und Perspektivgebundenheit zum Allgemeinplatz der Geisteswissenschaften geworden. Dennoch – und vielleicht sogar wieder verstärkt – werden Frauen weiterhin in ein Allgemeines eingemeindet, womit die Ungleichheit der Geschlechter hinter der postulierten Gleichheitsnorm der Gesellschaft verschwindet. Was bedeuten also Demokratie und Nation, wenn der Blickwinkel von der – historischen, kulturellen, gesellschaftlichen – Ungleichheit der Geschlechter ausgeht? Virginia Woolf sieht Frauen weit ausgreifend im Außerhalb der Nation: „In Wahrheit habe ich als Frau kein Land. […] Als Frau ist mein Land die ganze Welt.“ (Drei Guineen) Warum gilt das Konzept der Nation nicht den Frauen? Und welche Staatsbürgerschaft bietet die ganze Welt? Kelly-Gadol verweist auf die Vorstellungswelten, die hinter Wissensgerüsten wie z. B. historischen Periodisierungen stecken, die Brüche und Neuanfänge implizie54
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ren und kontinuierlich Bedeutungen zuweisen. Die Auffassungen darüber, was eine Nation ausmacht, wie Demokratie aussieht oder was Fortschritt bedeutet, speisen sich aus vielerlei Bildern, Mythen und Imaginationen. Nicht allein Gesetz und Vertrag, sondern historisch entstandene und kulturell ausformulierte Bindungen und Identifikationen bilden das Wissen um eine Nation. Diese modifizieren sich in neuen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten, sie verbinden Geschichte und Gegenwart und stellen damit eine Gleichzeitigkeit von Erbe und Erneuerung her. Daraus ergeben sich drei Ebenen der Befragung: Wie stellt sich der Ein- und Ausschluss von Frauen in die Konzepte von Nation und Demokratie dar; wie fungieren diese Konzepte als Adressat frauenpolitischer Ansprüche; und wie verhalten sich normative Setzungen zu dem Fundus des Imaginären, aus dem sich die wirkungsmächtigen Emotionen in Bezug auf Nation und Demokratie speisen. Das Demokratieversprechen des aufgeklärten Nationalstaates und die darin angelegte Dynamik hin zu einem Einbezug von Frauen in das Konzept von Demokratie und Nationalstaat entfalten bis heute ihre Wirkungskraft, wie z. B. aktuelle Debatten um Parität in Parlamenten zeigen. Historisch betrachtet zeichnet sich die Periode der Entstehung des Nationalstaates hingegen durch den systematischen Ausschluss von Frauen aus und spricht damit eine dezidiert antidemokratische Sprache. Das kann man für überwundene Kinderkrankheiten des Nationalismus halten oder für die Fähigkeit des Nationalismus, als leuchtender Horizont mit dem ihm immanenten Gleichheitsversprechen zu dienen: Das Demokratische im Nationalismus ist geschlechterdemokratisch betrachtet irrlichternd. Das Imaginierte der Nationen ist nicht nur in der historischen Forschung vielfach beleuchtet worden, am prominentesten sicher in der Sentenz Benedict Andersons von der imaginierten, der erfundenen Nation. In dieses Imaginierte fließen die geschlechtlichen Ordnungssysteme einer Gesellschaft ein, damit ist das Imaginierte Ausdruck und Produktionsort der Geschlechterordnung in ihrer historischen, sozialen und religiösen Dimension. Mein Anliegen ist es, den Nationalstaat als Adressat von Gleichheitsforderungen und das Imaginierte der nationalen Gemeinschaft als geschlechtlich codiertes Ensemble zusammenzudenken. Dazu werde ich versuchen, Überlegungen zu Demokratie und Nation in aktuellen Diskursen mit der feministischen Kritik an Nationalstaat und Nationalismus zusammenzubringen. Dabei geht es mir nicht um einen – anhand der Breite des Themas illusorischen – Überblick über die Forschungslage, sondern um Argumen55
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tations- und Wahrnehmungsmuster, die Einblicke in die Verbindungen zwischen dem Politischen und dem Imaginären ermöglichen. In einem zweiten Schritt soll anhand einiger konkreter Beispiele gezeigt werden, wie die Welt des Politischen und das geschlechtlich kodierte Imaginäre der Gesellschaft ineinanderwirken und welche Widersprüchlichkeiten und Gegenläufigkeiten sich dabei ergeben können.
Nation und Demokratie – Argumentative Rundreisen Globalisierung, Klimakrise, Migrationsströme – die Debatte um die Bedeutung des Nationalstaates, um die Entwicklung der Europäischen Union zu einem engeren oder weniger engen Staatenverbund, um globalere Formen von Demokratie insgesamt treibt die Gesellschaft seit Jahren um. Nationalismus, zunehmend auch als Populismus bezeichnet, gilt dabei als der eher rechte, autoritär organisierte Weg, während Ideen übernationaler Staatlichkeit und nationaler Entgrenzung als weltund zukunftsorientiert gelten. Das demokratische Pendel schlägt in diese Richtung, spätestens als mit dem Fall der Mauer die demokratisch verfasste Marktwirtschaft als Sieger aus der Blockkonfrontation hervorging und die Geschichte, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 wirkmächtig verkündete, an ihr Ende gelangt sei. Demokratie allerorten – und der Nationalismus verschwände als lästiges, ideologisches Überbleibsel. Diese Hoffnung hat sich als falsch erwiesen. Mit den Wahlerfolgen rechtspopulistischer Parteien in Europa, mit der Frage, wie global, wie reguliert oder dereguliert Produktion, Handel, Migration, Mobilität sein sollen, mit dem Aufkommen radikalisierter traditioneller und moderner Identitätskulturen, mit der Infragestellung universeller Werte und überprüfbarer, überindividueller Wahrheiten, mit der Fragmentierung von Gesellschaften und unüberwindlich erscheinenden Gräben rückt die Bedeutung des Nationalstaates als Adressat für Demokratisierung, aber auch für Regulierung und Identifikationsangebote erneut in den Debattenfokus. Darin zeichnen sich einige Argumentationsmuster ab, die exemplarisch aufgezeigt werden sollen. So formulierte Theresa May zu Beginn ihrer Amtszeit als britische Premierministerin das nationale Begehren im programmatischen Duktus der Absage an ein 56
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imaginäres Weltbürgertum: „Aber wer glaubt, ein Weltbürger zu sein, ist in Wahrheit ein Bürger aus dem Niemandsland“1. Damit aktualisierte sie Affekte einer eher konservativen Tradition der Nationalbezogenheit, deren Horizont die Verteidigung des status quo ist. Hier von Interesse sind hingegen Stimmen, die sich dezidiert gegen die Vernachlässigung des Nationalen positionieren, um für dessen demokratische Nutzbarmachung zu plädieren. Dem 2017 von David Goodhart gegenwartskritisch formulierten Antagonismus zwischen Weltbürgern und Nationalisten2 stellt sich der Philosoph Kwame Anthony Appiah entgegen. Goodhart spricht von zwei unversöhnlichen sozialen Lagern: einerseits den ortsgebundenen, eher ungebildeten, einkommensschwächeren und fremdenfeindlichen Somewheres, andererseits den mobileren, gebildeteren, wohlhabenderen und weltoffenen Anywheres. Rechtspopulistische und liberale politische Lager bildeten diese Gegensätze ab. Appiah sieht darin eine überzogene Polarisierung und plädiert dafür, die Gemeinsamkeit der Menschen trotz unterschiedlich starker Bezüge zu betonen. Lokale Loyalitäten schlössen weitergefasste nicht aus. Umgekehrt bedeute ein global orientierter Politikansatz nicht, dass „es falsch ist, den eigenen Ort und das eigene Volk zu bevorzugen“.3 Auch wenn allen Menschen gleiche Bedeutsamkeit und Würde zukomme, habe nicht jeder gegenüber allen anderen Menschen dieselben moralischen Verpflichtungen. Mit diesem integrativen moralphilosophischen Ansatz wird eine auf der lokalen Verbundenheit aufbauende, mehrfache Identität und Loyalität denkbar, und deren unterschiedlich stark ausgestattete Verpflichtung explizit legitimiert. Dieser Ansatz verbindet die Legitimierung differenzierter Verantwortungstiefe in zunehmend größer werdenden Kreisen mit dem weiter geltenden Gleichheitsanspruch aller. Der Historiker Quinn Slobodian sieht die Auseinandersetzung zwischen „Globalisten“ und „Nationalisten“ vor allem in dem Zusammenprall verschiedener Globalisierungskonzepte und warnt vor einer Verabsolutierung der Gegensätze: Dass „derzeit ein Kampf stattfinde zwischen der offenen und der geschlossenen Gesellschaft, zwischen Kosmopolitismus und Isolation. […] Und dass man sich entscheiden müsse: die Welt oder die Nation […] ist lächerlicher Unsinn.“4 Der Konzentration auf die Nation kann er bei aller 3 4 1 2
Zit. n. Appiah, In weiter Ferne. Goodhart, Road to Somewhere. Appiah, In weiter Ferne. Slobodian, Globalisierung.
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Ambivalenz gegenüber der globalen Wirtschaftsorganisation nichts abgewinnen: Auch wenn Begriffe wie Interdependenz, Globalität, Diversität eine „progressiven Neoliberalismus“ inszenieren, in dessen Namen sich die Entrechtung arbeitender Klassen vollziehe, so gehe es doch um einen weltweiten Wandel zugunsten abgehängter Menschen, während eine Rückkehr zum Nationalismus eine falsche Option sei. Einem dynamischen Konzept von Gleichheit folgt die Historikerin Hedwig Richter, wenn sie dazu aufruft, die Nation „neu zu denken“. Zwar sei der entstehende Nationalstaat im 19. Jahrhundert immer auch exklusiv gewesen, was sich nicht zuletzt in dem „zutiefst männlich gedachten Konzept von Nation, das Frauen lange ausschloss,“ zeigte.5 Dennoch habe das Konzept der Nation die Idee der Demokratie vorangebracht. Wo sich keine nationale Identität herausbilde, scheitere die Staatsbildung und die Demokratie. Das „Gleichheitsvehikel“ (Dieter Langewiesche) führe dazu, dass jeder Mensch vor der Nation gleich ist – am Ende sogar die Frauen. Nach innen fülle die Nation die Lücke, die das Verblassen ständischer Ordnungen und deren sicherer Gefüge riss, indem sie einen neuen Ort der Zugehörigkeit biete. Damit ermögliche die Nation den Abschied von Systemen wie Religion und Familie, Clan und Dorf. Gerade dieses Moment ist für die Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse von zentraler Bedeutung, indem traditionelle Ordnungen der Ungleichheit und Begrenzung von Frauen zunächst normativ, dann auch institutionell, rechtlich und lebenswirklich aufgehoben werden (können). Mit Rückgriff auf den von der Politikwissenschaftlerin Erna Appelt geprägten Begriff „System der Gegenseitigkeit“6 versteht Richter die Nation als einen Raum für Rechts- und Sozialsysteme, für politische Repräsentanz und für Generationenverträge, als Raum also, der sowohl für die Individuen wie für das Gemeinwesen zentrale Prozesse strukturiert. Damit bleibe die Nation vorerst „die Grundlage demokratischer Partizipation“. Richter stellt einen bereits erfolgten Wandel fest: Vom „schwüle[n] Traum einsamer Größe“ hin zu einem Raum für Pflichtgefühl, Verantwortung und Zuständigkeit. Mit der Benennung des Wandels im Phantasmatischen nationaler Konzepte deutet Richter an, dass die stärkere Präsenz von Frauen in der Gesellschaft auch im Imaginären der Nation Wirkung entfalten könnte. 5 6
Richter, Kinder einer Welt. Vgl. ebd.
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Das beständige Hin und Her zwischen Nation versus Demokratie und Nation versus supranationale Strukturen und den diversen Versuchen, Ambivalenz und Polarisierung auszubalancieren, wird durch die Neuauflagen großer Namen der Vergangenheit aktuell angereichert. George Orwells Schrift Über Nationalismus (1945) erschien erstmals 2020 auf Deutsch und wurde prominent in der ZEIT vorabgedruckt. Nationalismus wird darin als eine Dynamik radikalisierter Engstirnigkeit verstanden, die Kollektive aller Art erfassen kann. Umberto Ecos Überlegungen zum ewigen Faschismus (1995), neuaufgelegt 2020, versuchen sich an einer Checkliste zur Erkennung faschistischer Merkmale, verlieren sich jedoch in einer ahistorischen Zeitlosigkeit. Angesichts von Theodor W. Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, (1967) neu aufgelegt 2019, wird quasi unisono deren Aktualität beschworen. Quintessenz des damaligen Vortrages ist die These, dass die Ängste vor Arbeitslosigkeit und internationaler Technologie die Suche nach Sündenböcken im Fremden und das Erstarken rechter Tendenzen bewirken. Die Demokratie zu vollenden und die Globalisierung gerechter gestalten, lauten die für die Gegenwart ableitbaren Rezepte. Zeitlos klingt auch Orwells durchaus sympathischer Rundumschlag gegen sämtliche zu Nationalismen erklärten Glaubenssysteme: Nationalismus „meint nicht notwendigerweise die Loyalität gegenüber einer Regierung oder einem Land, schon gerade nicht gegenüber dem eigenen Land; die Einheiten, mit denen er zu tun hat, müssen nicht einmal wirklich existieren. Um ein paar auf der Hand liegende Beispiele zu nennen: das Judentum, der Islam, das Christentum, das Proletariat und die weiße Rasse sind allesamt Gegenstand leidenschaftlicher nationalistischer Empfindungen, doch die Existenz dieser Einheiten lässt sich begründet in Frage stellen, und für keine von ihnen gibt es eine universell anerkannte Definition.”7 Bei aller historischen Reminiszenz sind solche Entgrenzungen und Enthistorisierungen für konkretere Erörterungen des Spannungsfeldes zwischen Nation und Demokratie wenig ergiebig. Dennoch erlauben sie es, die Langlebigkeit der in diesen Debatten präsenten Argumentationslinien zu verfolgen. Massenpsychologische und materialistische Perspektiven geben den Takt vor, ein geschlechterdifferenziertes Argument wird daraus – wiewohl naheliegend – nicht entwickelt.
7
Orwell, Über Nationalismus, S. 8.
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Einen engen Konnex zwischen Nationalstaat und Demokratie setzt Hannah Arendt in ihrer Schrift Nationalstaat und Demokratie (1963),8 wobei sie ihre Ausführungen auf die Fragestellung konzentriert, ob der Nationalstaat ein Element der Demokratie, und für diese erforderlich sei. Ihre Antwort ist ambivalent: Der Ursprung des Nationalstaates in der Französischen Revolution gilt ihr als vielversprechende – von ihr geschlechtermetaphorisch so benannte – Ehe von Nationalstaat und Demokratie. „Die Ehe, die sie miteinander eingingen, sah – wie viele Ehen – am Anfang, zu Ende des 18. Jahrhunderts, noch recht vielversprechend aus; sie hat dann doch, wie wir wissen, ein recht trübes Ende genommen.“ Dieses lag vor allem darin, dass der neue Souverän, das Volk, „sehr früh eine verhängnisvolle Neigung gezeigt [hat], seine Souveränität an Diktatoren und Führer aller Arten abzutreten.9 Der europäische Nationalstaat beruht nach Arendt auf drei Voraussetzungen: „Erstens ein geschichtlich gegebenes, mit einem bestimmten Volk verbundenes Territorium; [zweitens], dass auf dem nationalen Territorium nur Angehörige des gleichen Volkes leben.“10 Neben die Verbundenheit von Volk und Territorium, der zufolge „Bürger nur sein kann, wer zum selben Volk gehört oder sich ihm doch völlig assimiliert hat“ tritt als drittes „die vielleicht wichtigste unausgesprochene Voraussetzung dieser Staatsform [dass] der Staat selbst, sowohl als Rechts- oder Verfassungsstaat wie als Verwaltungsapparat, weder über die Grenzen des nationalen Gebietes hinauslangen […], noch Einwohnern, die nicht seine Bürger sind […] staatlichen Rechtsschutz sichern kann.“11 Hier tritt der Staat als Adressat wie als Garant der Rechte der Bürger ins Bild, Aufgaben und Zuständigkeitsbereich werden klar definiert. Das Demokratische findet sich sowohl in der Ausgestaltung dieser Ordnung, als auch in der Rechtsposition des einzelnen Bürgers wieder. Die Ambivalenz von Demokratie und Staat liegt Arendt zufolge nicht in der geschilderten „Dreieinigkeit“, sondern in den unterschiedlichen Fliehkräften des Demokratischen. Da der Nationalstaat in seinem Wesen ein Rechts- und Verfassungsstaat ist, und sofern „man unter Demokratie nicht mehr versteht als die konsequente Wahrung der bürgerlichen Grundrechte“, gingen Demokratie und Nationalstaat ohne Zweifel Arendt, Nationalstaat und Demokratie, S. 1–6. Ebd., S. 1. 10 Ebd., S. 2. 11 Ebd. 8 9
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zusammen: „Verstehen wir aber unter Demokratie die Herrschaft des Volkes oder, […] das Recht aller, an öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen und im öffentlichen Raum zu erscheinen und sich zur Geltung zu bringen, so war es um die Demokratie im Nationalstaat selbst historisch nie sonderlich gut bestellt.“12 Arendt unterscheidet zwischen Demokratie als Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als Volksherrschaft. Letzteres sieht sie vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen außerordentlich kritisch. In der Zukunftsperspektive erscheint trotz ihrer positiven Einschätzung der Ursprünge ein Ende der Nationalstaatlichkeit als Gewinn für die Demokratie. So sei der „Souveränitätsbegriff des Nationalstaats […] unter heutigen Machtverhältnissen ein gefährlicher Grössenwahn“, „wirkliche Demokratie aber, […] kann es nur geben, wo die Machtzentralisierung des Nationalstaates gebrochen ist und an ihre Stelle die dem föderativen System eigene Diffusion der Macht in viele Machtzentren getreten ist.“13 Wenn auch nicht explizit, so doch implizit greift die Historikerin Jill Lepore die Ambivalenz dieser Position auf, verbunden mit einem harschen Vorwurf an ihre Zunft, diese habe die Nation vernachlässigt und „in ihrem Entsetzen über den Nationalismus […] die Geschichte als Dienerin des Nationalismus“ verworfen.14 Das sei ein Fehler, denn der „Nationalismus stirbt nicht ab, wenn seriöse Historiker das Studium der Nation aufgeben“. Lepore setzt ganz im Gegensatz und in Fortführung der historischen Einordnung den zentralen Gedanken von Arendt fort, die Nation sei die entscheidende politische Einheit, die den Bürgern unveräußerliche individuelle Rechte zuspricht und garantiert. „Ohne Nationen keine Verfassungen; ohne Verfassungen keine Staatsbürger, ohne Staatsbürger keine Rechte.“15 Daraus ergebe sich, dass die in der französischen Revolution entwickelte Idee von der Gleichheit aller Menschen nur in der Form des Nationalstaates verwirklicht werden könne. Als Historikerin belässt es Lepore nicht bei diesen Betrachtungen, sondern dekliniert anhand der amerikanischen Geschichte durch, wie sich die Idee der Gleichheit als Movens und Legitimation für alle Gruppen und Befreiungsbewegungen erwies. Indigene Völker, Afroamerikaner und Frauen vor allem hätten stets mit Bezug auf die unvollendeten Ideale der amerikanischen Nation die vollen Bürgerrechte ein Ebd., S. 5. Ebd. 14 Lepore, Dieses Amerika, S. 16. 15 Ebd., S. 45. 12 13
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gefordert. „Dann behandelt uns wie Männer“, habe schon 1829 der freie Schwarze David Walker verlangt, und nur wenig später forderte Maria W. Stewart, eine freie schwarze Frau in Boston „Dann behandelt uns wie Männer – und Frauen.“16 Der Blick auf die Ausgeschlossenen, so lässt sich Lepores Appell verstehen, sollte nicht zur Absage an die Nation, sondern zu deren Weiterentwicklung hin zu supranationalen Vereinigungen dienen. Wenn Virginia Woolf feststelle, „als Frau habe ich kein Vaterland“, dann ist die richtige Antwort wohl die Gründung des internationalen Frauenrates, wie es 1888 anlässlich der Versammlung der National Woman Suffrage Association geschah. Die Feministin Elizabeth Cady Stanton sprach dabei über ein ‚universelles Gefühl der Ungerechtigkeit‘, dass unter ‚den Frauen aller Nationalitäten ein gemeinsames Band der Union bildet‘.“17 Die Frage nach einem demokratischen Nationalismus bejaht Lepore ganz unzweifelhaft, umso mehr mit Blick auf geschlechterdemokratische Ziele. Ihr gebührt damit auch der Verdienst, die Perspektive der Geschlechtergleichheit in die aktuellen Debatten mit einzuführen. Einer abstrakten Idee der Demokratie ohne Reflektion der Nationalstaaten oder Institutionen, in denen Demokratie realisiert wird, hält sie entgegen, dass nur auf nationaler Ebene und mit Bezug auf das Nationale die Gleichheit (nicht nur) von Frauen gefasst und realisiert werden kann.
Nation und Geschlecht – Streifzug durch bleibende Ambivalenzen Auf dem langen Weg, den Frauen aus der Enge patriarchaler Familienverbände hin zum Status gleichgestellter Staatsbürgerinnen zurückgelegt haben, waren Nationalismus und Demokratie unverzichtbare Vehikel. In vielerlei Aspekten gilt das auch für den Sozialismus – wie überhaupt nicht außer Acht gelassen werden darf, dass Frauen zum Ausloten von Handlungsspielräumen stets die Argumente und Logiken der patriarchalen Herrschaftsverhältnisse, in denen sie lebten, findig zu nutzen versuchten. Dennoch waren es die zunehmend demokratisch organisierten Nationalstaaten mit ihren rechtlich und normativ fundierten Gleichheitsversprechen und 16 17
Ebd., S. 53. Zit. n. ebd., S. 85.
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Sozialpolitiken, die auch das weibliche Individuum von den Zwängen familialen Ausgeliefertseins befreiten. Sie boten und bieten – bei aller historisch bedingten Differenziertheit – der Formulierung und Durchsetzung von Gleichberechtigung und Gleichstellung den förderlichsten Rahmen. Die modernen Nationalstaaten haben es – trotz Widersprüchlichkeiten, Widerständen, Rückschritten und modernisierten Diskriminierungsformen – ermöglicht, der tradierten Ungleichheit der Geschlechter und dem damit einhergehenden institutionellen Primat des Mannes eine zunehmende, rechtlich sanktionierte Gleichheit von Frauen und Männern abzuringen. Dieses Geschehen verlief und verläuft nicht linear, und es steht stets – wenn auch nicht immer als solches benannt – im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Die Ausgestaltung der Geschlechterbeziehungen bewegt die medialen Öffentlichkeiten ebenso wie familiale, soziale und berufliche Sphären. Das demokratiegestützte Argument der Gleichheit findet darin seinen Platz neben vordemokratischen Gewissheiten über die natürliche Differenz der Geschlechter. Die Bedeutung des Nationalen als rechtsstaatlicher Rahmen spielt dabei realiter in der bundesrepublikanischen Politik etwa bei der Ausgestaltung von Steuerregularien oder der Bereitstellung von Betreuungseinrichtungen durchaus eine Rolle – auf der argumentativen Ebene und als Legitimierungsreferenz jedoch nicht. Die stärkste und beständigste Referenz ist die demokratische und rechtsstaatliche Gleichheitsnorm im Allgemeinen und der Artikel 3 des Grundgesetzes im Besonderen. Diese Referenz wird als Verfassung aufgerufen und nicht als nationale Norm: Eine Bezugnahme auf die deutsche Nation zur Legitimierung geschlechterdemokratischer Anliegen gehört eher nicht zu den diskursiven Usancen der bundesrepublikanischen Gegenwart. Das Nationale tritt in der Thematisierung von Geschlecht – mit der allerdings nicht zu unterschätzenden Ausnahme völkisch grundierter Einsprüche – kaum explizit auf.18 Das kann erstaunen angesichts der heftigen Inanspruchnahme nationaler Referenzen in den frauenpolitischen Auseinandersetzungen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, die in den rassistischen Proklamationen im Natio-
18
Zahlreiche Fallstudien dazu, wie Konzepte von Nation auf Vorstellungen von Familie, Sexualität und Geschlecht einwirken, vgl. Ranchod-Nilsson/Tetreaul, Women; Parker, Nationalisms; vgl. zur Nationalgeschichtsschreibung in der Frauenforschung Schaser, Nationen.
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nalsozialismus ihre Zuspitzung fanden. Eine affirmative Bezugnahme auf das Deutsche wurde in den gesellschaftspolitischen Diskursen der Bundesrepublik zunehmend als unpassend und nationalistisch empfunden. Die sich zu Beginn der 70er Jahre formierende Frauenbewegung verstand sich als feministisch, oppositionell und staatsfern – nichts lag ihr ferner als ein Rekurs auf nationale Normen. Den inneren Zusammenhang zwischen Nationalismus und Demokratie hat bereits früh die Historikerin Eva Hoffmann-Linke, erkennbar mit Blick auf die nationalistischen Aufwallungen ihrer Gegenwart, im Jahr 1927 beschrieben.19 Akribisch untersucht sie anhand der französischen Vorrevolution, wie die Idee der Gleichheit zur Idee der Nation führt, und wie die Idee der Nation als Einheit nur unter den Bedingungen von Gleichheit Gestalt annehmen kann. Den Ausschluss von Frauen aus diesen Konzepten betrachtet sie nicht, wohl aber erkennt sie im Verzicht auf Privilegien ein historisch einmaliges Geschehen, das vor allem dem Wunsch nach nationaler Einheit geschuldet war. „Darin hat es seinen Grund, daß der Begriff des ‚Reformfreundes‘ gleichbedeutend mit Patriot wurde […]. In der Tat setzten die Reformprogramme der Revolutionsphilosophen, die größtenteils selbst dem Adel angehörten, eine Opferfreudigkeit voraus, die zwar nicht den Tod auf dem Schlachtfeld, dafür aber den Verzicht auf einen ganzen Typus Mensch und den Stil seines Herrentums forderte – eine Selbstentäußerung, zu der sich keine herrschende Klasse vor oder nach 1789 jemals fähig gezeigt hat! Wesentliches Merkmal dieses Patriotismus wurde weniger die Stellung zum Volk, für das man wohl viel Liebe, aber im allgemeinen doch wenig Vertrauen hat, als die Sehnsucht nach der inneren nationalen Einheit.“20 Ihr ideengeschichtlicher Durchmarsch durch die vorrevolutionäre Philosophie von Diderot bis Voltaire führt zu der Erkenntnis, „daß der nationale Gedanke dem demokratischen Gedanken aufs stärkste verpflichtet ist und daß […] der echte Demokrat auch vaterländisch gesinnt ist, weil dem demokratischen Prinzip als solchen Tendenzen innewohnen, die zur schönsten Vertiefung und Kräftigung des Nationalgedankens führen müssen.“21 Dazu nicht im Gegensatz, sondern eher als Grundvoraussetzung auch für die Hinwendung zum Nationalen steht die auf Universalisierung drängende Idee der Hoffmann-Linke, Nationalismus. Ebd., S. 257. 21 Ebd., S. 253. 19 20
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Gleichheit, denn „der demokratische Gedanke, der sich selbst aus der allgemeinen Gleichheit der Menschen herleitet, der sein Pathos aus den Menschenrechten und sein Ethos aus dem Humanitätsideal empfängt, wird seine geistige Zusammengehörigkeit mit Weltbürgertum und Pazifismus niemals verleugnen können.“22 Deshalb entstehe aus dem national gebundenen Prinzip der Demokratie geradezu zwangsläufig eine übernational organisierte Völkergemeinschaft, die die Idee der Gerechtigkeit weiterführt. Die Argumentationsfigur, dass aus der Überwindung der nationalen Grenzen eine höhere, ethisch wertvollere Form der weltweiten Vergemeinschaftung entsteht, ist ein früher Topos auch aktueller Diskussionen. Die Pathosformeln ergänzend, finden angesichts tatsächlicher übernationaler Institutionen Debatten ökonomischer, politischer und rechtlicher Natur statt. Die Redefigur vom Fortschreiten hin zu größeren Einheiten verzichtet dabei selten auf die Vorannahme, dass dies auch normativ besser und menschlicher sei. Die wissenschaftliche feministische Auseinandersetzung mit Demokratie und Nation befasst sich mit dem Staat vor allem als Agent einer hierarchisierten Geschlechterordnung. Danach bildete sich ab Ende des 18. Jahrhunderts der westliche Nationalstaat als genuin androkratischer heraus: Bis ins 21. Jahrhundert hatten nur Männer volle Bürgerrechte, während Frauen männlichen Familienoberhäuptern unterstellt und aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden. Der Nationalstaat selbst wurde mit Merkmalen des Männlichen klassifiziert, insbesondere was die Konstitution der Souveränität, Autonomie und Wehrhaftigkeit anging.23 Zugleich übernahm der Nationalstaat als westlicher Wohlfahrtsstaat auch eine fürsorgende, teilweise auch spezifisch frauenunterstützende Rolle. Die Frage, inwieweit der Nationalstaat Adressat für geschlechterdemokratische Forderungen sein kann, ist frauenpolitisch stets ebenso kontrovers diskutiert worden, wie dies für demokratische Anliegen insgesamt der Fall ist. Unterschiedliche Antworten sind sowohl verschiedenen theoretisch-politischen Zugängen, Länderspezifika und zeithistorischem Wandel geschuldet. Linke, marxistisch oder anarchistisch ausgerichtete Ansätze sehen auch aus feministischer Sicht Nationalismus und Staatlichkeit eher als zu Überwindendes, Reaktionäres an, eher reformorientierte feministische und gleichstellungsorientierte Politiken betonen die Rolle ge-
22 23
Ebd., S. 251. Kämper, Männliche Nation; Rumpf Staatsgewalt, S. 227.
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gebener, auch nationalstaatlicher Rahmenbedingungen.24 Aus machttheoretischer Perspektive ist immer darauf hinzuweisen, dass Modernisierungen von Herrschaftsverhältnissen, Re-Traditionalisierungen und neu entstehende Ausbeutungslogiken androkratischer Verhältnisse dynamisch stabilisieren können. Dass Geschlechterdifferenz in Vielfaltspolitiken aufgeht, Auflagen religiöser Patriarchate als weibliches Empowerment, sexuelle Ausbeutung als Selbstbestimmung deklariert werden, bezeugt die Durchsetzungskraft von Markt- und Konsumgesetzen und die Stabilisierung von Geschlechterhierarchien weit eher, als es zu deren Durchbrechen beiträgt. Ein feministisches cui bono ist angebracht, wenn Fortschrittsparadigmen unreflektiert die Ambivalenzen gegenläufiger Befreiungsprozesse ausblenden. Von einer „glücklichen Hochzeit“ von Kapitalismus, Wohlfahrtstaat und Demokratie spricht die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer in Bezug auf die 1970er und 1980er Jahre, in denen soziale Bewegungen wie die Frauenbewegung erfolgreich politische Partizipation sowie gesellschaftliche Veränderungen erstreiten konnten.25 Diese historisch eingrenzbare Zeit lässt sich jedoch nicht verallgemeinern, wie überhaupt „ohne eine genaue historisch kontextualisierte Analyse […] patriarchatskritische Überlegungen wenig hilfreich“ sind.26 Sauer beschreibt als Ausgangs- und Zielpunkt feministischer Demokratietheorie das Problem, wie die Geschlechterdifferenz, also die sozial hergestellte Unterschiedlichkeit der Erfahrungen, Identitäten und Interessen von Männern und Frauen politisch repräsentierbar gemacht werden kann, ohne dass der Anspruch der Gleichheit preisgegeben wird. Die Differenz in der Gleichheit beschreibt die stete Herausforderung, Ungleichheit vor allem in ihren strukturellen Dimensionen erkennen und benennen zu können, ohne diese in essentialistische Differenz oder individualistisch willkürliche Vielfalt aufzulösen. Als weitere Herausforderung ergibt sich die ambivalente Bewegung zwischen einer Staatlichkeit, die einerseits Adressat frauenpolitischer Anliegen ist – und angesichts der Bedeutung der Institutionengefüge auch sein muss –, andererseits zutiefst androkratisch ausgestaltet ist und zudem Agent zugleich emanzipatorischer wie anti-emanzipatorischer Prozesse sein kann. Sauer, Staat, S. 4; Ludwig, Staatstheorie. Vgl. Sauer, Re-Skalierung. 26 Senghaas-Knobloch/Rumpf, Soziale Identität, S. 130. 24 25
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Um dieser Komplexität gerecht zu werden, müssen feministische Demokratiekonzepte den Zusammenhang von demokratischen Institutionen und sozialen sowie ökonomischen Verhältnissen berücksichtigen. Erst die Trias von Staat, Demokratie und Ökonomie erfasst den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang und erlaubt die Analyse, wie Geschlechterverhältnisse in den Staat eingeschrieben und wie dadurch demokratische Normen, Institutionen und Verfahren geschlechtsspezifisch kodiert sind. Ähnlich wie es Hannah Arendt differenziert hat, wird Demokratie dann nicht schlicht als ein mehrheitsbezogenes Verfahren der Entscheidungsfindung begriffen, sondern als institutionalisiertes Ergebnis von öffentlicher Aushandlung, sozialen Konflikten und Kräfteverhältnissen. In diesen Prozessen brechen tradierte Geschlechterregime, vor allem das des männlichen Familienernährers, auf, gefolgt allerdings von einer geschlechtsspezifischen Prekarisierung von Erwerbsarbeit, die Frauen den Großteil unbezahlter und schlechtbezahlter Arbeit zuweist. Neben der ökonomischen hinkt auch die politische Demokratisierung den Erfordernissen einer der Geschlechtergerechtigkeit verpflichteten Gesellschaft hinterher. In Parlamenten und Bürgermeisterämtern schwankt der Frauenanteil zwischen 10 und 30 % – Tendenz sinkend. Und selbst dieser mit der Quote mühsam erreichte Anteil wird von informellen Entscheidungsgremien, wie sie in klassischen Hinterzimmern, aber auch im Zuge der Beteiligung der Zivilgesellschaft stattfinden, noch unterboten.27 Diese komplexe Gemengelage lässt sich mit Blick auf die Bedeutung nationenübergreifender Institutionen noch ausweiten, ist doch keineswegs ausgemacht, dass diese stets die frauenpolitisch avanciertere Option darstellen. Die feministische Philosophin Martha Nussbaum bezeichnet die Vereinten Nationen als eine patriarchale Institution, die der Gleichberechtigung der Frauen feindlich gegenüberstehe. Weder gebe es eine angemessene Repräsentanz von Frauen, noch gingen, beispielsweise in den Konventionen über Völkermord und über Folter, die Erfahrungen von Frauen in die Dokumente ein.28 Sie denke von daher auch nicht, dass eine Weltregierung hilfreich sei und hält die Nation für „die größte Einheit, die immer noch ein anständiges Vehikel für die Autonomie der Menschen ist.“29 Doch auch die aus verschiedenen Frauenbewegungen heraus immer wieder entstandene Hoffnung, dass eine international organisierte Frauenbewegung, vergleichbar den früheren Hoffnungen Sauer, Re-Skalierung. Nussbaum, Erfolg, S. 24. 29 Ebd., S. 22. 27 28
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auf eine internationale Arbeiterbewegung, dazu dienen könne, weltweite Solidarität und Frieden herbeizuführen, sei illusorisch. Die Erwartung, dass Frauen, indem sie von ihren sonstigen, insbesondere nationalen Loyalitäten absehen, sich im internationalen Schulterschluss vereinen, beruhe unter anderem auf den Prämissen, dass Frauen in ihren patriarchalischen Herkunftskulturen kein Vaterland sähen, und dass der Kampf gegen das Patriarchat sie einige.30 Wie stark nationale, aber auch soziale, religiöse und ethnische Identifikationen das frauenbewegte Engagement prägen, zeigen Eva Senghaas-Knobloch und Mechthild Rumpf in ihrer Analyse internationaler Frauenfriedensinitiativen im Gefolge des ersten Irakkrieges.31 Neben den Institutionen, so lässt sich folgern, unterliegen auch die Frauenbewegungen und Aktivistinnen der Ambivalenz nationaler versus nationenübergreifender Loyalität und Resonanz. In der bundesdeutschen Debatte wird der Beitrag der Europäischen Union für die Gleichstellungspolitik zumeist positiv bewertet: Gleichstellungsstrategien wie das Gender Mainstreaming und der konsequente Abbau von Arbeitsmarkthürden für Frauen gelten als wichtiger Motor und Anstoß für nationale Reformprozesse, insbesondere für Länder wie Deutschland, die einer nachholenden Frauenpolitik bedürfen. Dieser gleichstellungspolitisch positive Impuls bedeutet allerdings nicht, dass darin „die Chance zur Auflösung nationalstaatlicher Männlichkeitsmuster und mithin eine Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse eingelagert ist, sondern dass die EU politische Maskulinismen tradiert, gleichsam supranational „aufhebt“ und dabei fortschreibt32, wie Sauer kritisch anmerkt. Vielmehr stehe der – ökonomisch grundierten – Frauenfreundlichkeit die Formierung eines Männermonopols neuer Prägung gegenüber, einer „Fachbruderschaft“ nationaler und internationaler Beamter, die sich als souverän agierende, maskuline Politikunternehmer in einem homosozialen, enthierarchisierten Umfeld konzipieren. Von einem Geschlechterprojekt EU lässt sich da kaum sprechen. Die Zweischneidigkeit oder widersprüchliche Wirkung zwischen emanzipatorischer Frauenpolitik und Modernisierung androkratischer Herrschaftsverhältnisse bleiben auch in Bezug auf supranationale Strukturen wie die Vereinten Nationen oder die Europäische Union bestehen. Die männerbündische Verfasstheit des Staates, der verheimlichte Geschlechtervertrag (Carol Pateman), der den Ausschluss der Frauen verbürgt, und der My Vgl. Senghaas-Knobloch/Rumpf, Soziale Identität, S. 128. Ebd. 32 Sauer, Europäisches Reich, S. 8. 30 31
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thos des staatlichen Gewaltmonopols (Mechthild Rumpf) umreißen die männliche Strukturiertheit des Nationalstaates. Insbesondere letzterer zeigt, ganz im Sinne Kelly-Gadols, die völlig gegensätzliche Bedeutung eines Konzepts für Männer beziehungsweise Frauen. Die Zurückdrängung der innergesellschaftlichen Gewalt zur Stabilisierung des Gemeinwesens, verbunden mit der Beschränkung der Rechtfertigung zur Ausübung von Gewalt auf staatliche, rechtlich gefasste Organe, wird als staatliches Gewaltmonopol geschlechtsneutral formuliert und geschlechterhierarchisch realisiert. Der Staat überließ in Hausständen und Familien die Gewalt den Hausvätern, die diese gegenüber Frauen, Kindern und Gesinde ausübten. Das Geschlechterverhältnis blieb damit ein personalisiertes Herrschafts- und Gewaltverhältnis, das ungeachtet rechtlicher Korrekturen bis heute in einem hohen Ausmaß sogenannter „häuslicher Gewalt“ fortwirkt. Das staatliche Gewaltmonopol als Ausweis moderner Nationalstaatlichkeit und Rechtsförmigkeit generierte diametral entgegengesetzte Herrschaftspositionen im Geschlechterverhältnis, die im historischen Fortschrittsnarrativ ausgeblendet sind. In der modernen demokratischen Gesellschaft wirken sie als vermeintlich individuelles Problem weiter fort. Tragendes Fundament für Selbstbeschreibung und Selbstwahrnehmung von Nationen (und anderen Kollektiven) sind zu Symbolen, Bildern und Mythen geronnene Gemeinsamkeiten, wie es das Beispiel des staatlichen Gewaltmonopols zeigt. Sei es in Sprache, Kultur, Gedächtnis: In die kollektiven Selbstbilder und deren Veränderungen fließen regelmäßig auch neue Codierungen der Geschlechterdifferenz ein.33 Sie entscheiden darüber, in welcher Weise weibliche Erfahrungen, Konzepte von Frau- und Mannsein und „verheimlichte Geschlechterverträge“ in die Kollektivbildung Eingang finden.
Nation und Demokratie – ein Reigen der Geschlechterbilder Die geschlechtliche Inszenierung des Nationalen und die Beschwörung nationaler Selbstbehauptung mittels Bildern des Maskulinen sind Konstanten nationalistischer Diskurse und antidemokratischer Rhetoriken. Dazu im Gegensatz steht 33
Senghaas-Knobloch/Rumpf, Soziale Identität, S. 123.
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die Denunziation des Demokratischen als Verweiblich- und Verweichlichung. Vermittelt werden diese Zuweisungen in einer reichhaltigen Geschlechtermetaphorik, die gesellschaftliche Geschlechterordnungen in Bildern des Vorgängigen und Naturhaften verbirgt.34 Ein nicht unwesentliches Attraktivitätsmoment dieser Diskurse besteht darin, Ungleichheit geschlechtlich zu besetzen und damit plausibel und – aus der Perspektive hegemonialer Männlichkeit – zustimmungsfähig zu machen. Antidemokratisches Denken basiert auf Denkfiguren der Ungleichheit, und das Geschlechterverhältnis bietet wesentliche Ansatzpunkte für soziale, politische, rechtliche und kulturelle Praxen und Rhetoriken, um diese Ungleichheit zu inszenieren, zu tradieren und zu legitimieren. Demokratisches Denken kann sich diese Ungleichheit im politischen Sinn nicht leisten, bewahrt sie rhetorisch aber oft in Figuren männlicher Stärke, weiblicher Fürsorge und familial gelingender Ordnung. Da das kulturelle Gedächtnis langlebig und hartnäckig ist, bringt eine demokratische Gesellschaft nicht kurzfristig ein demokratisiertes Imaginäres mit sich – genauswenig, wie ein die Gleichberechtigung von Frauen und Männern postulierendes Grundgesetz diese in die Welt setzt. So wie es langer Jahrzehnte feministischer Kämpfe bedarf, um Gleichberechtigung lebbar zu machen, so bedarf es anhaltender Verschiebungen im symbolischen Repertoire, um deren Plausibilität bildhaft und emotional attraktiv zu verankern. Da diese Prozesse nicht linear stattfinden, sondern von Fortschritten, Rückschlägen und vor allem Modernisierungen von Machtverhältnissen und Symbolisierungen geprägt sind, kann deren analytische Befragung immer nur eine Momentaufnahme darstellen. Das rhetorische Auftreten von Demokratie und Nation in konkreten Manifestationen aus der Perspektive der Geschlechtermetaphorik zu betrachten, gibt Aufschluss darüber, wie Beharrlichkeiten und Veränderungen im Geschlechterverhältnis darin Eingang finden.
Die Nation ist männlich: Germania muss weichen Germania ist die Allegorie der deutschen Nation. Wie alle Allegorien vereint sie in machtvoller Statur weibliche Präsenz in der bildlichen Abstraktion mit weiblicher 34
Kämper, Männliche Nation.
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Abwesenheit in der Öffentlichkeit von Staat, Beruf und Politik.35 Mit Vorläuferinnen in der frühen Neuzeit und im 18. Jahrhundert entfaltet sich die Hochzeit der Germania nach den antinapoleonischen Kriegen im 19. Jahrhundert. In ihren Anfängen im Mittelalter trug sie zur „Kontrolle über die politisch-soziale Ordnung [und] moralischen Selbstbeherrschung der Deutschen“ im Ringen um die politisch-soziale Ordnung bei, denn „Normgarantie und Kontrollverlust erhielten ihre Symbolisierungen in den Figuren domestizierter und ungehorsamer, grenzüberschreitender Weiblichkeit“.36 Fungierte sie lange als „kampfstarke Kämpferin“, mit der sich die Nation repräsentieren ließ, wurde sie im Zuge der sich durchsetzenden Dualisierung der Geschlechtscharaktere „eine Bedrohung für die männlich gebotene Ordnung der Nation.“37 Im Aufruf zum Kampf für die noch imaginierte Nation konnte das weibliche Nationalsymbol der Germania die Nation repräsentieren und als Einheit stiftendes „Liebesobjekt“ für männliche Nationalphantasien fungieren.38 Das Weibliche, gebannt in der „Natur“, und das Männliche, dem Staat und der Geschichte vorbehalten, schufen ein nationales Konstrukt, das als männlicher Bruderbund imaginiert war, aus dem Frauen als Staatsbürgerinnen ausgegrenzt und zugleich als Mütter eingeschlossen werden. Mit dem Erreichen der deutschen Einheit 1871 wurde die Maskulinität der Normen betont, auf denen politische Ordnung und Herrschaftsausübung beruhen sollten, das Weibliche des Symbols wird kritisiert und mehr Männlichkeit gefordert. Das Imaginierte der kämpferischen Weiblichkeit zerfällt in dem Moment, in dem in der Nationsbildung die Geschlechterordnung neu austariert und das Arrangement zwischen der im Imaginären weiblichen, in der nationalen Realität erwünschten männlichen Repräsentation neu justiert wird. Diese „ambivalente Beziehung von Weiblichkeit zur Nation [besaß] System“, wie Brandt feststellt.39 Die politische Symbolik einer anhaltenden Nicht-Identität von imaginierter Nation, erstrebtem Nationalstaat und Männlichkeit erwies sich als zunehmend problematisch, da nun die imaginierte deutsche Nation und der Nationalstaat eins waren und Nation, Staat und Männlichkeit auch symbolisch eins werden sollten. 37 38 39 35 36
Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Brandt, Germania, S. 54. Ebd., S. 62. Vgl. Hagemann, Repräsentationen. Brandt, Germania, S. 18.
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Das weibliche Nationalsymbol Germania war zwar inzwischen auch zum Bezugspunkt der bürgerlichen Frauenbewegung geworden, blieb jedoch in der Ambivalenz einer unweiblich konturierten Allegorie gefangen: „Eine nicht zu unterschätzende Bremswirkung für die Anerkennung weiblicher politischer Subjekte besaß jedoch die ambivalente Semantik des Weiblichen zwischen kollektiver Reinheit und Gefährdung. So bot die ‚starke‘ Figur der Mutter einerseits ausbaufähige Entwürfe nationaler Weiblichkeit an, die von der bürgerlichen Frauenbewegung und auch von konservativen und völkischen Frauenorganisationen aufgegriffen wurden. […] Andererseits funktionierte die nationale Legitimation weiblicher Partizipation nur in den Grenzen des weiblichen ‚Geschlechtscharakters‘“.40 Für die Frage nach der Geschlechterdifferenz in der symbolischen Repräsentation der Nation bleibt der unaufgelöste Widerspruch der Identifikation des Ganzen mit dem Weiblichen. Der Eindeutigkeit von Männlichkeit, politischem Subjekt und Nation stand ebenso eindeutig die Subjektlosigkeit von Frauen gegenüber, in der bildlichen Substanz einer weiblich symbolisierten, jedoch männlich imaginierten Nation zog die Ambivalenz am Ende den Kürzeren: Germania musste gehen. Eine deutsche Einheit später, im Berlin der frühen 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, spürt die Dichterin Marie-Simone Rollin dem Fortdauern des männlich strukturierten und imaginierten Nationalen nach: „Im Schoß der Nationen jedoch sind Nationen männlichen Geschlechts und grau wie Herrenanzüge – dann und wann die Uniformen – allenthalben ist der Druck der nationalen Selbstverständlichkeit da, bohrt sich in jedes Bewusstsein ein mit der Kraft der Vergangenheit, die über Generationen hinweg zur offiziellen Ewigkeit zu werden droht.“41 Bitter fügt sie hinzu: „Im Schoße der Nationen sind Subjekte unerwünscht.“42 Weiblicher Schoß, weibliche Subjektlosigkeit und das historisch Unausweichliche männlichnationaler Subjektivität ergeben weniger ein ambivalentes, als ein politisch enttäuschtes und historisches entrücktes Bild.
Ebd., S. 367. Rollin, Grau wie Herrenanzüge, S. 180. 42 Ebd., S. 181. 40 41
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Die Nation ist weiblich: eine feministische Vision „It is not possible to unsubscribe from the tradition of one’s own country, to claim belonging to a larger community, global or continental. It looks like, as a woman, I have a Fatherland, no matter if I want it or not“.43
Die feministische Autorin Agnieska Graff spielt hier mit einer klassischen Sentenz zum Thema Frauen und Vaterland, dem berühmten Zitat von Virginia Woolf As a woman, I have no country. As a woman, I want no country. As a woman, my country is the world. Graff vollzieht mit ihrem in der größten polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza 2007 veröffentlichten Artikel die Abkehr von einem mit Bezug auf die Europäische Union und aus dem Geiste des Internationalismus auftretenden Feminismus. Sie stellt sich in das nationale Erbe Polens und will dieses nicht der nationalistischen Rechten überlassen. In diesem Kontext entwirft Graff das Konzept eines feministischen Patriotismus, der die nationale Zugehörigkeit ins Zentrum der Identität stellt und Landschaft, Sprache, Geburtsort und vor allem ein spezifisches Gefühl der Zusammengehörigkeit umfasst. Einige Jahre nach dem EU-Beitritt adaptiert Graff damit die nationale Emphase Polens für feministische Anliegen. Sie tut dies nicht nur im Sinne eines taktischen Vorgehens, sondern übernimmt die emotionale Aufgeladenheit patriotischen Empfindens. Die kühle, analytisch und nüchtern abweisende Haltung der eigenen Nation gegenüber Frauen in den Blick nehmende Perspektive Woolfs findet hier einen Gegenpol, der in der feministischen Theoriebildung und Praxis gleichermaßen ungewöhnlich ist: die Ankoppelung feministischer Anliegen an einen nationalen Kontext. Graff fordert damit die Nation heraus, sich nicht wie selbstverständlich als antifeministisch und frauenfeindlich zu verstehen, sondern die Rechte von Frauen in ihr politisches und symbolisches Selbstverständnis aufzunehmen. Darin mag sich ein Stück Enttäuschung über die mangelnde Umsetzung der im Zuge des EU-Beitritts zugesagten Gleichstellungspolitiken ausdrücken. Mit Blick auf die pathetische Formulierung Woolfs lässt sich allerdings auch fragen, wo in der Welt denn die Anliegen von Frauen besser aufgehoben wären und ob die Welt als solche oder in Form von Institu-
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Zit. n. Ramme, Framing Solidarity, S. 473.
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tionen und Regelsystemen geneigter wäre, Frauenrechte zu formulieren und zu realisieren.44 Zentrales Thema polnischer Feministinnen ist die Auseinandersetzung mit der polnischen Erinnerungspolitik, insbesondere dem Erbe der Solidarnośc, und deren rein männlicher Konturierung. Demgegenüber verfolgen sie das Ziel, die Beiträge von Frauen und weibliche Erfahrungen in die polnische Nationalgeschichte einzuschreiben. In diesem Kontext macht Graff auf ein Medienereignis aufmerksam, dass die spezifisch polnischen Abstoßungseffekte zwischen nationalistischen und feministischen Anliegen in erstaunlich offenherziger Form illustriert: Die Kultkomödie Seksmisja (Sexmission) von 1984, in der Feminismus und Totalitarismus in eins gesetzt und antifeministische Affekte als Widerstandshaltung evoziert und geadelt werden.45 Sexmission zeigt die Endphase des Kommunismus als ein groteskes Land voller durchgedrehter Feministinnen, die sich ohne Beteiligung von Männern vermehren. In dieses Land – tief unter der Erde verborgen wie der Schoß einer Frau – kommen per Zufall zwei Männer, die sich zu Widerständlern gegen die Frauenherrschaft entwickeln. Der weibliche Totalitarismus definiert Geistesgrößen der Nation wie Kopernikus zu Frauen um, tilgt Männer überhaupt aus der Entwicklung der Zivilisation und will die beiden Helden mit Hilfe eines Skalpells »naturalisieren«. Diese organisieren eine bravouröse Flucht, einschließlich der Entführung zweier reizender Feministinnen. Der Zuschauer sympathisiert – ganz im Sinne des moralischen Pakts (Peter van Matt) – mit den Aufrührern, so wie die Mehrheit der Polen mit den sich im Untergrund verbergenden Oppositionellen sympathisierte.46 Auch wenn die Ingredienzien dieser antifeministischen Dystopie wenig originell sind und zum generellen Denunziationsarsenal populärer Rhetoriken gehören, so verbinden sie sich dennoch zu einer Spezifik, der es gelingt, die breite Dissidenz der polnischen Gesellschaft gegenüber dem kommunistischen Regime an Motive der Frauenfeindlichkeit, der Abwehr von Frauenherrschaft und sozialistisch propagierter Gleichheit sowie der damit verbundenen Bedrohung patriarchaler Idyllen
Ein weiterer nationaler Schub in der polnischen Frauenbewegung ist der „Kongress polnischer Frauen“, der 2009 in Warschau unter dem Motto „Frauen für Polen – Polen für Frauen“ stattfand. 45 Wikipedia, Sexmission. 46 Graff, Frauen in Polen, S. 35. 44
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anzuknüpfen. Widerstand, ein klassisches Mittel und Motiv der Wiedererlangung nationaler Souveränität, impliziert auch die Wiedererlangung männlicher Souveränität: „Wenn der Kommunismus aus dem polnischen Mann ein ›Weib‹ machte, konnte er sich dank Solidarność in einen Mann zurückverwandeln. Ja, das waren Männersachen, Männergespräche. Kennzeichnend für diese Atmosphäre war die Parole, die während des Streiks 1980 an der Mauer der Danziger Werft prangte: ‚FRAUEN, STÖRT UNS NICHT, WIR KÄMPFEN UM POLEN!‘“47 Vor diesem Hintergrund ist das geschichtspolitische Bestreben polnischer Feministinnen nachvollziehbar, die, wie allerorts, nicht nur die Leistungen und Erfahrungen von Frauen in der Geschichtsschreibung überliefern wollen, sondern sich zugleich gegen das starke Begehren nach androzentrisch reinen Narrativen verwahren. Interessant ist, dass die polnische Frauenbewegung in weiten Teilen den Schwenk ins Patriotische mitvollzieht und zunehmend nationalistische Parolen, Symbole und Begriffe aufgreift, um damit feministische Anliegen zu formulieren. So wurde das zentrale Symbol des antifaschistischen Widerstands, ein Anker mit den Buchstaben PW (Polska Walcząca – Kämpfendes Polen) in der Auseinandersetzung um das polnische Abtreibungsrecht allgegenwärtig und führte zu heftigen gesellschaftspolitischen Debatten.48
Plakat „Für eine unabhängige polnische Frau“ (o polkę niepodległą ). Demonstration in Warschau 2013 (Photo /Ausschnitt: last24; Quelle: https://www.flickr.com/photos/last24/8546525900; licence CC BY-SA 2.0) 47 48
Graff, Ebd., S. 36. Ramme, Framing Solidarity, S. 474.
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Auch angesichts der Risiken einer Usurpation nationalistischer Symbole, insbesondere in Bezug auf den katholisch-nationalistischen Kontext, ist der Erfolg dieser Strategie nicht von der Hand zu weisen und stellt ein eindrucksvolles Beispiel dar, in der Diskussion um nationalistische Begriffe, Symbole und Konzepte diese für demokratische und feministische Anliegen zu nutzen und diese tatsächlich nicht, wie es im saloppen Duktus heißt, den Rechten zu überlassen. Dass dabei die Realität rechtlicher wie mentaler nationaler Verfasstheiten anerkannt wird, kann – wie das polnische Beispiel zeigt – die demokratische Diskussion befördern und den gesellschaftlichen Diskurs öffnen.
Die Demokratie ist männlich: eine Mauer aus Geschlecht Männlichkeitskult, Demokratiefeindlichkeit und Nationalismus sind als bewährte Trias rechter Ideengeschichte gut verankert. Neue Generationen finden sich wie von selbst in die verbindenden Logiken ein, es ist vertrautes Terrain. Paradigmatisch sei an Friedrich Georg Jünger erinnert, der in einem Beitrag für den Band Krieg und Krieger seines Bruders Ernst Jünger den „weiblichen Instinkt der Demokratie“ als Totengräber des männlichen Staates geißelt: „Unermüdlich“ sei diese „tätig […], den Staat zur Gesellschaft umzuschaffen. Sie nimmt ihm das Schwert, sie beraubt ihn der Bündel und Ruten, sie unterwirft ihn Majoritäten, sie baut Institutionen von gesellschaftlichem, sozialem Charakter in ihn ein. So schafft sie einen Zustand äußerster staatlicher Destruktion, den Antipoden jenes Preußen, dessen männlich strenger reiner Bau sich auf den Tugenden des Kriegertums erhob und durch sie Charakter, Rang, Würde und Kraft erhielt.“49 In dieser Imago fließen die Sehnsucht nach Imperien – die Fascesbündel der alten Römer –, nach Direktive und Wehrhaftigkeit, mit männlichen Phantasmen kraftvoller Autonomie in eins. Im Zusammenspiel eröffnen sie ein vielschichtiges Angebot zur Identifikation mit einer starken Nation, die rhetorisch als Rekuperation von Männlichkeit präsentiert wird. Die Verschmelzung von männlichem Subjekt und Nation erlaubt es, subjektive Vorstellungen von Würde, Selbstbehauptung, Mut usw. einer als Subjekt konstruierten „Nation“ abzufordern. Dass die Weimarer Republik diesen Phantasmen keinen Ort bot, sondern vielmehr als „Katalysator weib Jünger, Krieg und Krieger, S. 51f.
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licher Politisierung“50 fungierte, kann als Movens für die vehemente Abwehr der Demokratie als weiblich gelten, die in Karikaturen des rechten Lagers stets als Frau symbolisiert wurde. Die neue Größe des Deutschland der Nachwendezeit brachte ein rhetorischphantasmatisches Äquivalent in den Kreisen intellektueller Rechter hervor: Ein Nationalgefühl, das ebenfalls zu neuer Größe anschwellen sollte.51 Eine politisch vielschichtige, männliche intellektuelle Elite meldete sich zu Wort und stellte mit Vehemenz das Gebot der Gleichheit und damit das Fundament der Demokratie in Frage. Sie malten das Menetekel eines schwächlichen, degenerierten und weitgehend wehrlosen Deutschlands an die Wand. Rettung verspreche die Rückbesinnung auf nationalistische Werte und das Erlangen nationalen Selbstbewusstseins. Die als natürlich und rechtmäßig vorgestellte Ordnung baute sich aus Bildern idealisierter bürgerlicher Männlichkeit auf, deren Vormachtstellung sich mittels der geschlechtlichen Fundierung der rhetorischen Figuren legitimierte. Wo der Mauerfall einerseits den Traum nationaler Größe erneut in die Gewänder einer geschlechterhierarchisch ausgestalteten Demokratiefeindlichkeit kleidete, legen sich weibliche Phantasmen den Mantel der Zerrissenheit um. Geradezu erschüttert schreibt die Schriftstellerin Cornelia Sachse über ihre ersten Schritte im Berliner Westen und ihren Aufbruch in der alternativen Kunstszene ost- wie westberliner Provenienz. Sie findet eine Welt fast ohne Frauen, vor allem ohne Künstlerinnen, und einen Geniekult, der sich Musen sucht und Köchinnen, von Kolleginnen, gar intellektuellen, aber nichts hält. Die Kunstszene begegnet ihr „hierarchisch und vor allem patriarchal“ geprägt, eine „Männerdomäne“, in der Frauen kaum Fuß fassen können.52 Der jungen Schriftstellerin erwächst in der zusammenwachsenden Nation eine neue Mauer, die ihr mehr zu schaffen macht als die alte Mauer zwischen den beiden Deutschlands. Jetzt sind es Männer und Frauen, die, zu radikal geschiedenen Nationen formiert, voneinander getrennt sind: „Denn Mauer im Kopf [das heißt] der grundlegende Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Existenzen, zwischen weiblicher und männlicher Nation.“53 Wenn der westlich intellektuellen Elite
Planert, Kulturkritik, S. 202f. Planert zeichnet detailreich nach, wie antidemokratische und antifeministische Rhetoriken und Ideologeme ineinander aufgehen. 51 Schwilk/Schacht, Selbstbewußte Nation. 52 Sachse, Amazonen in Berlin, S. 61. 53 Ebd., S. 63. 50
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bürgerlicher Männer patriarchale Idyllen nationaler Größe vorschweben, so steht Sachse an einer neuen Sektorengrenze vor dem Schild: „Achtung, hier ist Szene/ hier wirst Du entwürdigt wie noch nie.“54 Hatte George Orwell nicht in seinem Furor gegen den Nationalismus diesen auch jenseits von Staatsterritorien verortet? Sachse findet ihn in einer männlichen Nation, der sie nicht in konservativer Ideengeschichte, sondern im Raum der Rebellion begegnet, der sich am Ende als eine weitere Schleife – als Endlosschleife – in der Zuspitzung der Geschlechterhierarchie erweist. Statt Mauerfall neue Mauern, statt nationaler Einheit die Spaltung in zwei Nationen, statt des schönen Bildes vom „Zusammenwachsen, was zusammengehört“, das Menetekel „grenzenlosen Unbehagens“ angesichts eingeschränkter Frauenrechte: Eine entlang der Geschlechterlinien getrennte Bildlichkeit verweist auf die verschwiegene Landnahme im Zeichen männlichen Auftrumpfens. Noch radikaler, den politischen Raum ins Ahistorische überschreitend, setzt die Dichterin Maria B. Mayer Nation und Geschlecht existentiell auseinander und spannt beide in einen Raum der Gewalt: „Ich bin eine deutsche / ich war schon lange tot / in meinem Reservat eingeschlossen mit meinem Geschlecht / ich bin eine deutsche / bin ich die jungfrau ohne Blut / entleert von meiner bilder spurensicherung / ist vergewaltigung“55 Die hier vorgebrachte Unvereinbarkeit einer zugleich weiblichen und nationalen Perspektive liest sich als leere Rückseite einer die Geschlechter ausblendenden nationalen Imago, die in dieser Blindheit den Mainstream männlicher Narrative in die Siegesstunde der Demokratie weiterträgt.
Die Demokratie ist weiblich: ein Wunschkonzert Der Männlichkeitsstatus der Demokratie lässt sich an der Kurve der nationalen Idee ablesen. Ihr Weiblichkeitsstatus hingegen ist einerseits, im rechtsnationalistischen Diskurs, durch die Denunziation des als weiblich markierten Gleichheitsideals bestimmt, andererseits durch den Raum, den Demokratie allen Exklusionen von Frauen zum Trotz dennoch für Bilder des Inklusiven öffnet. 54 55
Ebd., S. 62. Mayer, Ich bin eine deutsche, S. 184.
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Lässt sich die erste Position im Sound der klassischen Patriarchatskritik, „mit Frauen ist kein Staat zu machen“56, zusammenfassen, findet das gegenteilige Postulat, „ohne Frauen ist kein Staat zu machen“ als offensive Forderung an eine Zukunft der Gesellschaft im Zeichen der Demokratie anhaltende Resonanz. Das Gründungsmanifest des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV), der Sammlungsbewegung feministischer Frauen am Ende der DDR, formuliert von Ina Merkel, vorgetragen am 3. Dezember 1989 in der Berliner Volksbühne, packte die in der DDR uneingelösten Gleichberechtigungspostulate in ein kompaktes Auftragspaket an den demokratischen Wandel des Landes: „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen“.57 Anke Feuchtenberger setzte dieser selbstbewussten und zukunftsbeanspruchenden Parole mit ihrer ikonisch gewordenen Illustration „Alle Frauen sind mutig! stark! schön!“ ein kluges und aufregendes Denkmal. Sprach- und Bildduktus erzählen von außerordentlich informierter Reflexion der Frauenbilder und der darin eingeschriebenen Geschlechterordnungen der Gesellschaft – vom eingesperrten weiblichen Ich, das nur durch den Prinzen, den Mann, zu sich oder überhaupt irgendwas werden kann, über die Drei- und Vierfachbelastung der sozialistisch idealisierten und geforderten Arbeiterin bis zu den Abgründen von Frauenhass, Hexenverbrennung und Generationenverachtung zwischen Frauen. Die vielschichtige Anlage der Zeichnung, einschließlich der erkennbaren Zustimmung der Gezeichneten zu den angebotenen Daseinsformaten, vereint Kritik und Kulturkritik an solchen Verhältnissen. Sie spannt dabei einen Bogen voller Spannung zu Momenten der Subversion, des Widerstandes und der Hinterlist. Witz und Selbstironie. Die angesichts dieses komplexen Gefüges staunenerregende Einfachheit in Aufbau und Strichführung vervollständigt die Bedeutung der Illustration als Dokument weiblichen Aufbruchs.
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Werlhoff, Mit Frauen kein Staat. Unabhängiger Frauenverband, Ohne Frauen; Ulrich, Ohne Frauen.
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Alle Frauen sind mutig! stark! schön! Grafik: Anke Feuchtenberger: Digitales Deutsches Frauenarchiv Lizenz: Rechte vorbehalten – Freier Zugang
Mit diesem Plakat trat der Unabhängige Frauenverband 1990 zur letzten Volkskammerwahl der DDR an. In einem Wahlbündnis mit der Grünen Partei wurden 2 % der Stimmen und acht Sitze gewonnen, das Bündnis zerbrach jedoch umgehend, da die Grüne Partei alle Sitze für sich beanspruchte, so dass der UFV leer ausging.58 Das große Versprechen der Parole, die Mitwirkung, Erfahrung und Verortung von Frauen in die demokratische Zukunft einzubringen, konnte nicht eingelöst werden. Dennoch stehen der Slogan und die Illustration für eine Langzeitwirkung, die über das häufige Aufgreifen hinaus59 die Frauen aus der ehemaligen DDR einschließlich der Töchter- und Enkelinnengeneration als vorbildlich für eine geschlechterdemokratische Zukunft preisen.60 Dieser inzwischen zum „Mythos Ostfrau“ geadelte – und getadelte – Topos erhebt das historisch einmalige, aber widersprüchliche und in sich differenzierte Leben der DDR-Bürgerinnen zu einer Imagination gelingender Weiblichkeit, hinter der die sozialistischen Theorien wie der realsozialistische 58 59 60
Ebd., S. 46. Pusch, Ohne Frauen; Sozialverband Deutschland, Ohne Frauen; Männle, Ohne Frauen. Nickel, Ostfrauen Mythos.
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Alltag nahezu vollständig verblassen. Es erwächst daraus eine weibliche Figuration, die zeitgenössische Erwartungen, Erfordernisse und Aufgaben perfekt zu vereinen weiß. Im Sommer 2019, vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, veröffentlichte der Sänger Sebastian Krumbiegel einen eingängigen Song und Videoclip mit dem Titel und Text: „Die Demokratie ist weiblich“.61 Krumbiegel, Abkomme der Leipziger Kulturaristokratie und Sänger der Popband „Die Prinzen“, versammelt in diesem Video eine Vielzahl zumeist weiblicher Prominenter aus der Musik- und Theaterszene, die den von ihm gesungenen Text mitsprechen. Diese Hymne auf die Demokratie ist als politisch-kulturelles Statement angesichts demokratiefeindlicher Stimmungen in Ostdeutschland zu verstehen, die Textzeile sei ein Sprachspiel mit dem grammatischen Geschlecht.62 Die Demokratie, so wird gesungen, ist weiblich, sie ist „verletzlich“, sie ist Liebe, Barmherzigkeit, Schönheit, Verliebtheit, Freiheit, Solidarität. Die Funktion des Weiblichen als Allegorie lebt in dem Song ungebrochen auf: Es singt die männliche Stimme, es performt der weibliche Körper. Die Weiblichkeit ist allumfassend und gut, sie markiert die Grenze: „Mit all den Leuten, die auf unsrer Seite sind“. Um Frauen, um Bürgerinnen, geht es wie bei allen Allegorien nicht. Weder ist von Frauenrechten noch von deren Verletzungen, beispielsweise durch den impliziten Antipoden, die antidemokratische Rechte, die Rede. Das Sprachspiel bleibt eng, der männliche Friede wird noch angesprochen, aber auch der Krieg. Der Appell hat Pioniercharakter, „Ich will ein Leben lang für diese Dinge gradestehen“, und ist durchaus phallisch aufgeladen, „Ich will ein Leben lang verstehen, dass es sich lohnt „An dieser Front steil zu gehen.“ Die Linien sind sauber, die Weiblichkeit allumfassend, die „Barrikade“ aufgestellt. Die Sprachbilder bleiben damit einer binären, kulturell eingeschliffenen Aufladung des Männlichen und Weiblichen verhaftet. Unterstrichen und zugleich ausgeblendet wird das durch die Behauptung „Tatsächlich ist das Geschlecht doch nicht wichtig“. Im Anschluss an allgemein konsensfähige, feministische Analysen dezidiert ausklammernde, Diskurse wird damit klargestellt, dass Weiblichkeit als Konsensfigur gegen Rechts eingesetzt und kollektive Verbindlichkeit darüber hergestellt wird, die gesellschaftspolitische Dimension der Geschlechter jedoch außen vor bleibt. Ein Modell für symbolische Aktualisierungen der Geschlechterordnung in geschlech61 62
Krumbiegel, Demokratie ist weiblich. Kuhland, Demokratie: weiblich.
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terdemokratischem Sinne ist in der Hymne an die Demokratie nicht erkennbar. Dass „das Geschlecht doch nicht wichtig“ ist, vereint zugleich antifeministische Traditionalisten und dekonstruktivistische Moderne. Diese reden im de-gendering, in der Entnennung beziehungsweise der ins Nichtssagende führenden Vervielfältigung von Geschlecht dem Allgemein-Menschlichen das Wort: „Das Geschlecht ist vollkommen irrelevant“63. Was sich leider als kulturell gesättigter Wiedergänger einer von Frauen entleerten Allegorie des Weiblichen herausstellt.
Schlussbemerkungen Die Befassung mit Demokratie, Nation und Geschlecht hat sich als ein Vexierspiel von historischen, politologischen und symbolischen Dimensionen herausgestellt. Auf allen Ebenen ergeben sich widersprüchliche Beobachtungen, die zu folgenden resümierenden Überlegungen führen: • Für ein demokratisches Projekt, das die Geschlechterordnung von Männern und Frauen einbezieht, braucht es benenn- und erkennbare Subjekte und Objekte geschlechterdemokratischer Anliegen. Wenn im Zeichen einer Vervielfachung von Geschlecht die benennbare Realität von Frauen abhandenkommt, ist eine geschlechterdemokratische Entwicklung im Interesse von Frauen kaum mehr möglich. • Für eine erfolgreiche Durchsetzung geschlechterdemokratischer Anliegen bedarf es wirkmächtiger Adressaten. „Das Vaterland ist die notwendige Durchgangsstufe zum allgemeinen Vaterland“.64 Wenn Frauen kein Vaterland haben, so haben sie noch weniger ein allgemeines Vaterland. • Der Anschluss an konsensfähige Konzepte verschafft geschlechterdemokratischen Forderungen Resonanz – das kann die Nation, das kann der Sozialismus, das kann Diversity, das kann Marktfähigkeit sein. • Der Anschluss an solche Werteordnungen bedeutet das zumindest partielle Aufgeben einer radikalen Kritik und Umwertung patriarchaler und androkratischer Verhältnisse. • Das Imaginäre der Nationen zeigt sich als historisch-kulturell dichter Zirkel ei63 64
Vgl. Breuer, Gender Trouble. Michelet, Volk, S. 369.
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ner hierarchischen und scheinbar unauflösbaren Geschlechterdualität. Das Lied der Demokratie ist noch tief in den Bildern männlich-symbolischer Souveränität und weiblich-allegorischer Verfügbarkeit gefangen. • Die Sprache ist die wichtigste Ausdrucksform des Imaginären. Geschlechterdemokratisch bedeutet das, umfassenden symbolischen und realen Raumgewinn und Umverteilung für Frauen anzustreben. Demokratische Prinzipien haben den Raum des Imaginären noch kaum erreicht. Die Konzeptionierungen von Nation und Demokratie weisen aus geschlechterdemokratischer Perspektive auf allen untersuchten Ebenen Fragmentierungen auf, die eine nahtlose Verallgemeinerung ins Geschlechtslose ebenso verbieten wie eine klare Opposition der beiden Konzepte. Mit Blick auf Kelly-Gadol stellt sich weiterhin die Frage, wie das demokratische Versprechen Frauen erreicht – und die Antwort darauf bringt mehr zu Tage, als gelte die Frage keinem Geschlecht.
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Der rekonstruktive Nationalismus und die Demokratie. Zur Typologie des Nationalismus im 21. Jahrhundert1 Gideon Botsch „America is governed by Americans. We reject the ideology of globalism, and we embrace the doctrine of patriotism“,2 so erklärte Donald Trump im September 2018 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Es lohnt sich, diese beiden Sätze zusammen zu lesen. Das Bekenntnis zum Nationalismus3 begründete der 45. USPräsident mit Bezug auf den Anspruch der amerikanischen Nation, sich selbst zu regieren, also unter Berufung auf die demokratische Tradition der USA. Dieses Spannungsverhältnis steht im Mittelpunkt meiner Überlegungen. Was lässt sich über die Beziehung zwischen Demokratie und Nationalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts sagen? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Gefährdet der Nationalismus die Demokratie, oder ist er – wie Donald Trump und Andere erklä-
Überarbeitete und ergänzte Fassung meiner Antrittsvorlesung am 22. Mai 2019 anlässlich der Ernennung zum Außerplanmäßigen Professor für Politikwissenschaft an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Für anregende Diskussionen und weiterführende Hinweise danke ich Werner Treß. 2 Remarks by President Trump to the 73rd Session of the United Nations General Assembly, New York, 25.9.2018, https://www.whitehouse.gov/briefings-statements/ remarks-president-trump-73rd-session-united-nations-general-assembly-new-york-ny/ (zuletzt besucht 24.04.2019). 3 Denn darum geht es: „Was aber ‚Nationalismus‘ heißt, ist in vielen Fällen einfach der ‚Patriotismus‘ anderer, und ‚Patriotismus‘ die eigene Form von ‚Nationalismus‘“, so Elias, Exkurs über Nationalismus, S. 198. – Auch „[b]egriffshistorisch ist ‚Nationalismus‘ ein Anschlußbegriff an ‚Patriotismus‘“ (Koselleck u. a., Volk, Nation, Nationalismus, S. 309). 1
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ren – gerade die Grundlage für eine „wahre Demokratie“, die nur im nationalstaatlichen Rahmen gedeihen kann? In jedem Fall zeigt das Zitat: Der Nationalismus ist wieder da. Mit Macht drängt dieses schon so oft überwunden geglaubte Phänomen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurück. Seit Trumps Bekenntnis zur „Doktrin des Patriotismus“ ist die Bereitschaft, die Zukunft der westlichen Demokratien im Rückgriff auf das Konzept „Nationalismus“ zu diskutieren, erheblich gestiegen. Phänomene, die bislang eher hilflos als „rechtspopulistisch“ verhandelt wurden, werden nunmehr in ihrer nationalistischen Dimension deutlicher herausgestellt. Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer spricht von einer Verfestigung autoritärer und menschenfeindlicher Tendenzen zum „autoritären Nationalradikalismus“.4 Auch das Autorinnen- und Autorenteam um den Historiker Norbert Frei versieht seine Darstellung der deutschen Zeitgeschichte „Zur rechten Zeit“ mit dem Untertitel „Wider die Rückkehr des Nationalismus“.5 Zeitgleich gewinnt auf der politischen Linken das Projekt des Nationalstaats als Garant sozialer Politik an Interesse. Anke Hassel, zu diesem Zeitpunkt Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, ging sogar so weit, die von der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) vor etwa zehn Jahren geprägte und in ihrer Propaganda verbreitete Parole „Sozial geht nur national“ als „empirische Tatsache“ zu bezeichnen.6 Andererseits hat die historische und kulturwissenschaftliche Forschung in den vergangenen Jahren das verbreitete Verdikt gegen die Nation und den Nationalismus relativiert, ohne die monumentalistische, unkritische Nationalgeschichtsschreibung wiederzubeleben, die von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dominant war.7 M. Rainer Lepsius rief bereits 1982 in Erinnerung: „Die verschiedensten politischen Ordnungen haben sich durch Ideen von der Nation legitimiert, die unterschiedlichsten Handlungen auf ein nationales Interesse berufen“.8 In der Tat 6 4 5
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Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen, S. 234. Frei u. a., Zur rechten Zeit. Hassel, Linke Antwort, S. 33. – Zur Herkunft der Parole vgl. u. a. Grumke, „Sozialismus ist braun“; Botsch/Kopke, Vorstellungen der NPD. Vgl. z. B. Smith, Nationalism and Modernism; Geulen, Nationalismus als kulturwissenschaftliches Forschungsfeld; Weichlein, Nationalismus und Nationalstaat; ders., Nationalbewegungen und Nationalismus; Alter, Nationalismus. Lepsius, Nation und Nationalismus. Vgl. auch: Berlin, Nationalismus, S. 56.
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Zur Typologie des Nationalismus im 21. Jahrhundert
konnte sich die Nation, konnte sich der Nationalstaat historisch unterschiedliche politische (wie übrigens auch gesellschaftliche und ökonomische) Ordnungen geben; demokratische Ordnungen waren zunächst verbreitet und spielten auch später eine erhebliche Rolle. Auch der Nationalismus hat sich mit außerordentlich vielfältigen und unterschiedlichen sozialen und politischen Gruppen, Ideologien und Weltanschauungen assoziiert. So konnte beispielsweise gezeigt werden, auf welche Weise Frauenbewegungen versuchten, an nationalistische Diskurse anzuschließen und dabei Geschlechterverhältnisse und Geschlechterordnungen neu zu verhandeln.9 Soweit Demokratie nicht nur als politische Ordnung, sondern auch als politische Bewegung verstanden wird,10 ist sie ebenfalls zu den Bündnispartnern des Nationalismus zu rechnen. Es würde auch zu kurz greifen, die Verbindung von Nationalbewegung und Demokratiebewegung periodisierend an den Zeitraum zwischen der Amerikanischen und Französischen Revolution einerseits, den Nationsbildungsprozessen von oben im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts andererseits zu binden. In vielfältigen Kombinationen haben sich demokratische politische Forderungen und Bewegungen auch im 20. Jahrhundert eng mit denen der nationalen Selbstbestimmung verbunden – sei es im Russischen, Österreich-Ungarischen und Osmanischen Reich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, sei es im Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, im Prozess der Dekolonisierung, oder sei es in der Verbindung aus bürger- und menschenrechtsorientierten sowie auf nationale Selbstbestimmung gerichteten Forderungen gegenüber der Sowjetunion sowie der jugoslawischen Staats- und Parteiführung. Auch die neueren nationalistischen Bewegungen, mit denen sich die „liberal democracies“ westlicher Prägung konfrontiert sehen, berufen sich regelmäßig ebenso selbstbewusst wie entschieden auf die Demokratie. Sie machen geltend, dass im Zeichen von Globalisierung, Europäisierung und internationaler Migration demokratische Ordnungen, sollten sie zuvor überhaupt bestanden haben, verschwunden seien. Indem der neue Nationalismus am Prinzip der ethnischen Identität und Homogenität festhalte, den Nationalstaat wieder in seine überkommenen Rechte einsetze und die unverfälschte Stimme des Volkes zum Ausdruck bringe, stelle er Demokratie im „wahren“ Sinne erst her. Angesichts der zunächst von eher linken
Für die Diskussion in Deutschland wegweisend: Frevert, Nation, Krieg und Geschlecht; vgl. Planert, Nation, Politik und Geschlecht; Dhruvarajan/Vickers, Gender, Race and Nation. 10 Vgl. die zu Unrecht fast vergessene Schrift von Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. 9
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Kritikerinnen und Kritikern geäußerten Sorgen um eine mit Globalisierung einhergehende Aushöhlung der Demokratie und Tendenz zur „Postdemokratie“,11 wenn nicht zum „autoritären Etatismus“,12 lassen sich diese Argumente nicht kurzerhand als rechte Propaganda abtun. Sie erfordern eine tiefergehende Auseinandersetzung über das Verhältnis von Demokratie und Nationalismus im 21. Jahrhundert und über den Charakter der neuen Nationalismen. Es ist durchaus fraglich, ob „der neue Nationalismus, der heute vielerorts in Europa sein Haupt erhebt, […] im Grunde der alte Nationalismus [ist], den die Europäer aus ihrer Geschichte zu Genüge kennen“.13 Daran schließt die Frage an, ob die bekannten Typologien zu den Themenkomplexen Nation, Nationsbildung und Nationalismus14 hinreichen, um die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen der Demokratie durch nationalistisch-autoritäre Tendenzen adäquat zu erfassen. Im Zusammenspiel mit einer wachsenden Skepsis gegenüber „modernisierungsgeschichtlichen Großerzählungen“ hatten die Erträge empirischer und vergleichender Forschung bis Mitte der 2000er Jahre zwar dazu geführt, dass die bis dahin „jüngste Nationalismusforschung nicht den Bahnen von Typologien“ folgte.15 So gut diese Skepsis nachvollziehbar ist, bleiben doch die vorliegenden Typologien als unterschwellig wirksame Paradigmata bestehen. Wenn sich indes entscheidende Prozesse sozialen und politischen Wandels mit Hilfe dieser Modelle und Typen nicht mehr reflektieren lassen, kann es hilfreich sein, erneut in die Debatte über die Typologisierung des Phänomens einzutreten.
Nationalismus und Nationalstaat Um die Diskussion in diesem Sinne von vornherein aus dem für meine Fragestellung wenig fruchtbaren Streit zwischen einer essenzialistischen und einer konstruktivistischen Auffassung vom Wesen der Nation herauszuhalten, möchte ich zunächst den Unterschied zwischen Nation, Nationalstaat und Nationalismus betonen. Die 13 14 15 11 12
Vgl. Crouch, Postdemokratie. Vgl. Hirsch u. a., Zukunft des Staates; Poulantzas, Staatstheorie. Alter, Nationalismus. Ein Essay über Europa, S. 9. Vgl. Jansen/Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, S. 35ff. Weichlein, Nation und Region, S. 271.
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Zur Typologie des Nationalismus im 21. Jahrhundert
verbreiteten, teils gut bewährten Typologien, die sich – wie die von Miroslav Hroch, aber auch von Benedict Anderson16 – in erster Linie auf Nationsbildungsprozesse beziehen, thematisieren eine andere Frage. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht das Phänomen des Nationalismus, das mit der Nation, der nationalstaatlichen Ordnung und selbst einer an „nationalen Interessen“ orientierten Politik nicht deckungsgleich ist.17 Der Soziologe Norbert Elias, der einen Begriff anstrebte, welcher sich „ohne Untertöne der Mißbilligung oder Zustimmung“ verwenden lasse, bezog in einem Text aus den 1970er Jahren den Nationalismus auf ein „soziales Glaubenssystem, das latent oder akut die Staatsgesellschaft, das souveräne Kollektiv, zu dem seine Anhänger gehören, in den Rang eines obersten Werts erhebt, dem alle anderen Werte untergeordnet werden können und manchmal in der Tat untergeordnet werden müssen“.18 Dabei beruhe das „nationalistische Ethos“ auf einem „Gefühl der Solidarität und Verpflichtung“, das sich „auf ein souveränes Kollektiv“ richtet, welches die „betreffenden Individuen selbst mit Tausenden oder Millionen anderer bilden, das hier und jetzt als Staat organisiert ist – oder nach dem Glauben der Mitglieder in Zukunft organisiert sein wird – und an das sie durch die Vermittlung spezieller Symbole, darunter oft auch Personen, gebunden sind. An diese Symbole und das Kollektiv, für das sie stehen, heften sich starke positive Emotionen von der Art, die wir gewöhnlich als Liebe bezeichnen […] Die Liebe zur eigenen Nation ist niemals nur eine Liebe zu Menschen oder Menschengruppen, zu denen man ‚Sie‘ sagt; sie ist stets auch die Liebe zu einem Kollektiv, das man als ‚Wir‘ ansprechen kann“.19 Zeitlich parallel zu Elias bestimmte Isaiah Berlin Nationalismus als „die Erhebung des Interesses der Einheit und Selbstbestimmung der Nation zum höchsten Wert“, dem im „Konfliktfalle alle anderen Erwägungen untergeordnet“20 werden müssen. Dies knüpfte der liberale politische Philosoph an vier Bestimmungen: den Glauben an die „vorrangige Notwendigkeit, zu einer Nation zu gehören“, an „or Vgl. Hroch, National Movement; Anderson, Erfindung der Nation; zur Übersicht: Salzborn, Staat und Nation, S. 42ff. 17 Vgl. Dann, Nation und Nationalismus, S. 17; Koselleck u. a., Volk, Nation, Nationalismus. 18 Elias, Exkurs über Nationalismus, S. 198f. 19 Ebd., S. 196f. 20 Berlin, Der Nationalismus, S. 46. 16
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ganische Beziehungen zwischen allen Elementen, die eine Nation ausmachen“, an den „Wert der eigenen Nation einfach deshalb, weil sie die eigene“ sei, und an den „absoluten Vorrang ihrer Forderungen gegenüber rivalisierenden Ansprüchen von Autorität und Loyalität“21. Peter Alter versteht Nationalismus als „Ideologie und zugleich als eine politische Bewegung“, welche sich „auf die Nation und den souveränen Nationalstaat als zentrale innerweltliche Werte beziehen und die in der Lage sind, ein Volk oder eine große Bevölkerungsgruppe politisch zu mobilisieren […]. Nationalismus liegt dann vor, wenn die Nation die gesellschaftliche Großgruppe ist, der sich der einzelne in erster Linie zugehörig fühlt, und wenn die emotionale Bindung an die Nation und die Loyalität ihr gegenüber in der Skala der Bindungen und Loyalitäten oben steht […] Die Nation stellt für den Nationalismus den höchsten Wert dar, sie ist die allein verbindliche Sinngebungs- und Rechtfertigungsinstanz […]. Die Interessen der Nation werden vor allen anderen zum Maßstab des politischen Denkens und Handelns.“22 Der Historiker Otto Dann ergänzte die Erscheinungsformen einer nationalistischen Ideologie und einer entsprechenden Bewegung um eine „soziale Verhaltensweise“.23 Vielfältige Forschungen zur politischen Kultur vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften, die unter dem Einfluss nationalistischer Ideologien standen, haben gezeigt, dass die Reichweite des Nationalismus über politische Bewegungen und die vorrangig im politischen Raum wirksamen Praxisformen deutlich hinausgeht.24 Nationalismus erscheint heute häufig als eine Alltagskultur, die auch da wirksam ist, wo starke politische Akteure nicht erkennbar sind. Dies gilt nicht nur für den Nationalismus als „kulturellen Code“25, sondern auch für Phänomene, die unter Begriffen wie „banal nationalism“26 diskutiert werden. Es ist daher sinnvoll, über die Definition von Peter Alter insofern hinauszugehen, als die Beschränkung auf politische Bewegungen nicht hinreicht. In Anknüpfung an die
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Ebd., S. 56f. Alter, Nationalismus, S. 14f.; vgl. Alter, Nationalismus. Ein Essay über Europa, S. 29. Dann, Nation und Nationalismus, S. 17f. Vgl. Geulen, Nationalismus als kulturwissenschaftliches Forschungsfeld; Weichlein, Nation und Region. 25 Vgl. Volkov, Antisemitismus als Code. 26 Vgl. Billig, Banal Nationalism. 21 22
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Terminologie von Pierre Bourdieu schlage ich daher vor, von Praxeologie zu sprechen.27 Eine entsprechend modifizierte Definition könnte lauten: Unter Nationalismus verstehen wir eine politische Ideologie und zugleich Praxeologie, die bestimmte menschliche Großgruppen als „Nation“ definiert und ihre Angehörigen dahingehend mobilisiert, dass sie sich einer Nation in erster Linie zugehörig fühlen; dass sie die Loyalität ihr gegenüber in der Skala der Bindungen an die erste Stelle setzen; und dass sie akzeptieren oder sich aktiv dafür einsetzen, die vermeintlichen oder tatsächlichen Interessen dieser Nation zum Maßstab des politischen Denkens und Handelns zu machen. Stärker die ideologisch-weltanschauliche Seite betonend, definiert der Historiker Hans-Ulrich Wehler Nationalismus als „das Ideensystem, die Doktrin, das Weltbild, das der Schaffung, Mobilisierung und Integration eines größeren Solidarverbandes (Nation genannt), vor allem aber der Legitimation neuzeitlicher politischer Herrschaft dient“. Daher werde „der Nationalstaat mit einer möglichst homogenen Nation zum Kardinalproblem des Nationalismus“.28 Daran knüpft mein Vorschlag für eine Typologie an.
Konstruktiver, reproduktiver und rekonstruktiver Nationalismus Zentraler Fluchtpunkt des Nationalismus bleibt der souveräne Nationalstaat. Dies schließt nicht aus, dass sich einzelne nationalistische Bewegungen realgeschichtlich vom Ziel seiner vollständigen Verwirklichung für ihre Nation abgewendet haben und sich beispielsweise mit Autonomieregelungen zufriedengaben. Dennoch war auch eine solche Entscheidung stets begründungsbedürftig. Jede nationalistische Bewegung muss sich zum Nationalstaat in Beziehung setzen. Die Frage nach der Existenz und dem Zustand eines jeweiligen Nationalstaats erhält zentrale Bedeutung für die Typologie. Die historische Forschung hat bisher vor allem im Rahmen von typologischen Phasenmodellen zwischen „Formationsphase und Regimephase“ unterschieden, das heißt „die Zeit vor und nach der 27 28
Zuerst entfaltet in: Bourdieu, Theorie der Praxis; vgl. Reichardt, Bourdieu für Historiker Wehler, Nationalismus. Formen – Folgen, S. 13.
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Nationalstaatsgründung“.29 Peter Alter wählt prototypische Vertreter, wie sie im italienischen und französischen Nationalismus aufgetreten sind, für die jeweilige Bezeichnung seiner funktional gebildeten Typen, und unterscheidet mithin den „Risorgimento-Nationalismus“ vom „integralen Nationalismus“.30 Thorsten Mense formuliert schärfer. Nation sei zunächst ein „Kampfbegriff radikaler Veränderung“ gewesen, doch der „revolutionäre Charakter des Nationalismus konnte sich nicht lange halten“. So habe ein Wandel vom „revolutionären Prinzip zur reaktionären Ausgrenzungsideologie“31 stattgefunden. Dieser Wandel wird als „Funktionswandel des Nationalismus“ begriffen, wie ihn Heinrich August Winkler am deutschen Fall diskutierte.32 Hans-Ulrich Wehler gibt dagegen zu bedenken, dass die Interpretation, es habe „in den Zäsurjahren 1878/79 einen ‚Funktionswandel‘ vom liberalen zum konservativen, vom linken zum rechten Nationalismus“ gegeben, nicht den „grundlegenden Inhaltswandel“ erfasse: Da ein „anderes politisches System“ entstanden sei, habe der Nationalismus zwar auch andere Funktionen erfüllen müssen. Wichtiger sei indes, dass „mit der von Grund auf neuen Konstellation von 1871 eine substantielle Inhaltsveränderung des deutschen Nationalismus einsetzte […]. Diese fundamentale Neuformierung […] ging weit über einen Funktionswandel hinaus!“33 Wehler spricht vielmehr von einem „Konstellationswandel“.34 Die historische Entwicklung am Übergang zum 21. Jahrhundert ist durch ähnlich fundamentale Wandlungsprozesse des Nationalstaats geprägt. Dieser neuerliche Konstellationswandel ist theoretisch noch nicht hinreichend reflektiert worden. Daher sollen hier nicht zwei, sondern drei Typen von Nationalismus zur Diskussion gestellt werden. Als Maßstab dient der Zustand, in dem sich die Verwirklichung des Ziels eines souveränen Nationalstaats befindet: Strebt der jeweilige Nationalismus die Erreichung eines Nationalstaats für die Zukunft an? Entfaltet sich der Nationalismus im Rahmen eines für die Nation, auf die er referiert, bereits erreichten Nationalstaats? Oder ist sein Bezugspunkt ein Nationalstaat, der – mindestens in
31 32
Weichlein, Nationalismus als Theorie, S. 197. Alter, Nationalismus, S. 33. Mense, Kritik des Nationalismus, S. 31. Vgl. Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus; Winkler, Der Nationalismus und seine Funktionen; Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus, S. 42ff. 33 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 946f. 34 Wehler, Nationalismus, S. 76f. 29 30
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der Wahrnehmung seiner Anhängerinnen und Anhänger – wesentliche Elemente von Souveränität im Prozess der so genannten Globalisierung oder europäischen Integration verloren hat? In diesen drei unterschiedlichen Konstellationen erfüllen Nationalismen jeweils unterschiedliche Funktionen. Von Konstellationen spreche ich im Sinne von Wehlers Einwand und zugleich im Rückgriff auf das Konzept der „postnationalen Konstellation“ nach Jürgen Habermas.35 Wie das Postdemokratie-Konzept und andere Post-Begriffe hat auch der Begriff „postnationale Konstellation“ eine breite und kontroverse Diskussion nach sich gezogen, in der unter anderem seine empirische Gültigkeit hinterfragt wurde.36 Habermas selbst hatte von „nationalstaatlich verfassten, aber von Denationalisierungsschüben überrollten Gesellschaften“ gesprochen;37 den Kontext bilde die Globalisierung, worunter er „die Beschreibung eines Prozesses, nicht eines Endzustandes“ verstand.38 Thorsten Mense hält fest, „Globalisierung und nationalstaatliche Ordnung“ stünden „nicht im Widerspruch zueinander, sondern bedingen sich gegenseitig“39. Indes liegt ein Vorteil von Post-Begriffen darin, dass sie derart unabgeschlossene Prozesse benennbar machen, in denen die Strukturen und Charakteristika der voraufgegangenen Konstellationen weiter wirken, aber an Verbindlichkeit verlieren.40 In der „postnationalen Konstellation“ kann der souveräne Nationalstaat in keiner Hinsicht als „aufgehoben“ gelten: er ist weder überwunden noch bewahrt noch auf eine qualitativ höhere Stufe gehoben. Für unseren Zusammenhang wichtiger als die empirische Gültigkeit des Konzepts ist eine öffentliche Wahrnehmung über den Bedeutungsverlust des Nationalstaats. Daran kann der neue Typus des Nationalismus anknüpfen; ich nenne ihn „rekonstruktiven Nationalismus“. Mit Blick auf die anderen beiden Typen lässt sich von einem Nationalismus in „prä-nationalstaatlicher Konstellation“, einem in „nationalstaatlicher Konstellation“ und einem in „post-nationalstaatlicher Konstellation“ sprechen. Was charakterisiert diese Typen von Nationalismus mit Blick auf die Verwirklichung eines souveränen Nationalstaats?
37 38 39 40 35 36
Habermas, Die postnationale Konstellation. Vgl. zusammenfassend Richter, Supranationalität und Demokratie. Habermas Die postnationale Konstellation, S. 95f. Ebd., S. 101. Mense, Kritik des Nationalismus, S. 79. Vgl. Crouch, Postdemokratie, 30f.
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In der prä-nationalstaatlichen Konstellation (oder Formationsphase) muss die Nation als Trägerin des Nationalstaats noch konstruiert, das heißt tätig, in Ideologie und Praxeologie, geschaffen werden. Aus Traditionen, seien sie vorgefunden oder erfunden,41 muss ein für eine hinreichend große Gruppe an Menschen überzeugendes Nationalbewusstsein entstehen, damit diese auf das Ziel der Nationswerdung hin, in der Regel im nationalstaatlichen Rahmen, mobilisiert werden können. Der Typus ist nicht als realgeschichtliche Phase zu verstehen, auf die im Normalfall eine nationalstaatliche Konstellation folgen muss, sondern deckt auch Fälle ab, in denen diese Nationalstaatlichkeit nie erreicht wird. Ich nenne ihn den Typ eines „konstruktiven Nationalismus“.42 Mit der Regimephase, der Verwirklichung des souveränen Nationalstaats in einer „nationalstaatlichen Konstellation“, wandeln sich Formen und Funktionen des Nationalismus markant. Zur ideologischen und praxeologischen Mobilisierung auf „nationale Aufgaben und Herausforderungen“ verändern sich die Bedürfnisse der Trägerinnen und Träger von Nationalismus. Sie können darin bestehen, die „innere Einheit“ der Nation durch Entwicklung und Vertiefung des gemeinsamen Nationalbewusstseins unter Aufgabe von Partikularbewusstsein oder dessen Integration in das Nationalbewusstsein – „out of many one!“ – zu festigen; die Nation auf selbst gestellte oder von außen sich ergebende Herausforderungen hin zu mobilisieren; oder auch das gesellschaftliche Fundament des Nationalstaats in Zeiten der Krise wiederherzustellen. Diese vielfältigen Funktionen lassen sich im deutschen Sprachgebrauch nur unzureichend auf einen Begriff vereinen. Im Englischen werden sie Vgl. unter Betonung des Charakters als „erfunden“ Hobsbawm, Nationen und Nationalismus; dagegen die Überlegungen von Smith, Nationalism and Modernism. – Die konstruktivistische Sichtweise hat m. E. insgesamt die stärkeren Argumente, kann sich aber über die Ergebnisse empirischer Forschung nicht einfach hinwegsetzen, vgl. nur Koselleck u. a., Volk, Nation, Nationalismus. – Die weit verbreitete Vorstellung, Nationen seien reine „Erfindungen“, ist in Deutschland durch die Fehlübersetzung des Titels von Benedict Andersons wirkmächtigem Großessay noch vertieft worden, die sich mit dessen zentralen Überlegungen nicht in Deckung bringen lässt. 42 Nimmt man den Begriff „Konstruktion“ beim Wort, kann man an die Errichtung eines Bauwerkes denken, dessen Bauherrinnen und ‑herren bei ihrem Werk durch die Gegebenheiten des Bauplatzes gebunden und auf vorgefundenes Baumaterial angewiesen sind, welches sie teils verwerfen können (hier hat das „Vergessen“ seinen Platz, auf dessen Bedeutung für die Nationsbildung schon Ernest Renan hingewiesen hat, vgl. Renan, Was ist eine Nation.), ansonsten aber handwerklich bearbeiten, kreativ zusammenstellen und gegebenenfalls ergänzen müssen, damit daraus eine tragfähige Struktur wird. 41
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etwa durch die vielfältigen Bedeutungsgehalte des Verbs „to maintain“ und des Substantivs „maintainance“ abgedeckt, während in deutscher Sprache der Begriff der „Reproduktion“ am treffendsten ist. Den zweiten Typus bezeichne ich also als „reproduktiven Nationalismus“ in einer „nationalstaatlichen Konstellation“. Entsprechend verändert sich der Nationalismus erneut, wenn in einer „post-nationalstaatlichen“ Konstellation der souveräne Nationalstaat wesentliche Elemente seiner Prärogative an internationale oder regionale Institutionen delegiert hat; wenn er strukturell keine Macht mehr besitzt, sie dauerhaft durchzusetzen; oder wenn er auf andere Weise gezwungen war, sie aufzugeben. Hinzu kommt eine substanzielle, quantitative wie qualitative Veränderung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung als Folge internationaler Migration. Den Nationalismen in postnationaler Konstellation geht es vorrangig darum, migrationsbedingte Veränderungen rückgängig zu machen und die Rechte und Vorrechte des Nationalstaats möglichst umfangreich wiederherzustellen, sie zu „rekonstruieren“.43 Daher bezeichne ich diesen Typus als „rekonstruktiven Nationalismus“.
Untertypen Siegfried Weichlein hat auf das Dilemma der Nationalismusforschung hingewiesen, „entweder mit einem genau umrissenen Verständnis von Nation und Nationalismus zu arbeiten, das kaum Bestätigung im empirischen Material findet, oder sich relativ vager Modelle zu bedienen, die zwar eher den Quellen entsprechen, aber unpräzise sind“.44 Der vorgeschlagene Ausweg, sich an Phasen-Modellen zu orientieren, birgt allerdings das Risiko, schematisch eine Entwicklung im Sinne von „Normalpfaden“ und „Sonderwegen“ zu konstruieren. Die wechselhafte Geschichte des Nationalismus zeigt indes komplexe und verworrene Entwicklungen, die nicht auf ein eindeutig feststellbares Ziel zulaufen; die unterbrochen, abgebrochen oder umgekehrt werden können, kurz: ein hohes Maß an Kontingenz aufweisen. Die drei hier vorgeschlagenen Typen stellen diese Dilemmata in Rechnung. Indem sie ein Kriterium einseitig hervorheben, sind sie als Idealtypen im Sinne Max 43 44
Probst, AfD im Klima-Abseits, nennt das Phänomen „reaktiven Nationalismus“. Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus, S. 197.
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Webers gebildet45. In der empirischen Wirklichkeit sind sie erwartungsgemäß nicht in „reiner Form“ vorfindbar, vielmehr ist mit vielfältigen und komplexen Mischungsverhältnissen zu rechnen. Sie können und sollen mithin nicht alle Phänomene abdecken, die sich realgeschichtlich feststellen lassen. So können Nationalismen auf vielfältige Weise in unterschiedlichen Phasen verschiedenen Typen stärker oder schwächer angenähert werden. Mit Rücksicht darauf möchte ich eine Reihe von Untertypen vorschlagen, die eine stärkere Annäherung empirisch vorfindbarer Phänomene zulassen, obgleich sie ebenfalls nicht als Realtypen zu verstehen sind.46 1) Im Bereich des konstruktiven Nationalismus lassen sich eine Reihe von Typologien bereits vorfinden. Hier werden Überlegungen von Theodor Schieder aufgegriffen,47 die ungeachtet ihres etwas schematischen Charakters, der zudem mit einer fragwürdigen Zuordnung zu einem West-Ost-Gefälle der historischen Entwicklung korrespondiert, zur Bildung folgender drei Untertypen führen:48 (a) „National-revolutionärer Nationalismus“ dort, wo eine territoriale staatliche Einheit bereits besteht, breite Teile der Bevölkerung sich als Nation formieren und Anspruch auf revolutionäre Umgestaltung des Staates zum Nationalstaat, auf dessen Nationalisierung erheben. (b) „Unifizierender Nationalismus“ dort, wo eine Vereinigung verschiedener, getrennter Territorien zu einem Nationalstaat angestrebt wird. (c) „Sezessionistischer“ oder „separatistischer Nationalismus“ dort, wo sich Bevölkerungsteile in einem bestimmten Territorium oder auf Grund eines bestimmten – ethnisch, kulturell, religiös oder anderweitig definierten – gemeinsamen Vgl. Weber, Schriften zur Wissenschaftslehre. Namentlich zwei historische Komplexe lassen sich mit ihrer Hilfe weniger gut verstehen. Es handelt sich einmal um die Nationalismen und Nationalbewegungen, die im Prozess der Dekolonisierung entstanden sind, und zweitens um partikularistische und sezessionistische Nationalismen im „real existierenden Sozialismus“ des sowjetischen Machtbereichs und Jugoslawiens. Für letztere gilt, dass sie in manchen Fällen an Nationalbewegungen anknüpften, die zuvor bestanden hatten, und sich dort entfalteten, wo bereits einmal nationalstaatliche Souveränität erreicht war, die nun aber entweder in Teilrepubliken im sowjetischen und jugoslawischen Staatsverband oder in von der Sowjetunion kontrollierten – und im Konfliktfall gewaltsam unter Kontrolle gebrachten – Vasallenstaaten substantiell beschränkt war. 47 Schieder, Typologie und Erscheinungsformen. 48 Vgl. auch Jansen/Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, S. 29. 45 46
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Merkmals von einem Territorial- oder Nationalstaat beziehungsweise einem übernationalen imperialen Staat lösen und einen eigenen Nationalstaat bilden wollen. 2) Formen und Funktionen des Nationalismus in der „nationalstaatlichen Konstellation“ gestalten sich ebenfalls sehr unterschiedlich. Nationalistische Mobilisierung erfolgt im Übrigen nicht nur, wie der Begriff Regimephase nahelegen könnte, von oben, sondern kann auch oppositionelle Formen annehmen oder ein Wechselspiel zwischen Eliten und breiteren Bewegungen erkennen lassen. Erscheinungsformen des Nationalismus in der „nationalstaatlichen Konstellation“ lassen sich drei weiteren Untertypen annähern. (a) „Integrativer Nationalismus“49 besteht da, wo eine im Nationalstaat verfasste Bevölkerung ihre „innere Einigung“ zur Nation noch oder wieder erreichen soll. Nationalismus mobilisiert dann nach innen zur Überwindung trennender Unterschiede auf Grundlage von Herkunft, Geschlecht, historischer, regional-sozialgeographischer oder soziologischer Eigenarten oder Spaltungen, die entweder verschwinden oder in den Bestand der Nation eingehen sollen. (b) „Expansionistischer“ oder „imperialer Nationalismus“ mobilisiert die Kräfte der Nation nach außen; sei es, dass Gebietsansprüche außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen erhoben werden; dem Nationalstaat eine machtvollere internationale Bedeutung, eine „Weltgeltung“ verliehen werden soll; oder gar eine imperiale Position für die eigene Nation angestrebt wird, deren Hegemonie oder unmittelbarem Machtzugriff sich andere Nationen und Bevölkerungsgruppen unterordnen sollen. (c) „Revanchistischer Nationalismus“ entsteht nach einer empfundenen oder tatsächlichen territorialen, ökonomischen, politischen, kulturellen oder anderweitigen Deprivation der Nation, die indes den Nationalstaat an sich nicht beseitigt hat, obwohl bestimmte Aspekte seiner Souveränität eingeschränkt sein mögen. 49
Das ist nicht deckungsgleich mit dem historischen Quellenbegriff „Integraler Nationalismus“ (zusammenfassend: Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus, S. 98ff.) und dem daraus abgeleiteten Typenbegriff bei Alter. Für unseren Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Integrale Nationalismus durch sein gespanntes bis feindseliges Verhältnis zur Demokratie, mindestens im Sinne des republikanischen Verfassungsstaats, charakterisiert ist. Dies macht ein Spezifikum im Verhältnis zum übergeordneten Begriff des „Organisierten Nationalismus“ aus (zusammenfassend: Jansen/Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, S. 43ff.; Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus, S. 103ff.) und setzt ihn zugleich vom hier vorgeschlagenen Untertypus ab, für den eine antidemokratische Wendung nahe liegt, aber nicht konstitutiv ist.
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3) Können diese Typen und Untertypen sowohl auf eine breite historische Erfahrung als auch auf eine breite geschichts‑, kultur- und sozialwissenschaftliche empirische und theoretische Forschung aufbauen, ist der Typus des rekonstruktiven Nationalismus, der sich erst in der post-nationalstaatlichen Phase entfaltet, noch weniger deutlich greifbar. Gleichwohl möchte ich auch für diesen Typus drei Untertypen vorschlagen. (a) Als „retrovertierten Nationalismus“ bezeichne ich eine eher nostalgische, antiquarische Rückwendung auf einen früheren Nationalstaat. (b) „Fundamentaloppositioneller Nationalismus“ kämpft aktiv gegen die Denationalisierung der Politik, gegen die Einbindung in regionale oder internationale Normen, Regime, Verträge und dergleichen, und gegen grenzüberschreitende Migrationsbewegungen. Wenn rekonstruktiver Nationalismus aus der fundamentaloppositionellen Rolle heraustritt, können die ihn tragenden politischen Parteien und Bewegungen versuchen, als kleinerer Partner im Rahmen von Koalitionsregierungen auf Renationalisierung in möglichst vielen Aspekten hinzuwirken. Diese in Europa bereits regelmäßig auftretende Tendenz steht noch mit einem Bein in der Fundamentalopposition, in die ihre politischen Träger immer wieder zurücktreten können und deren außerparlamentarische Kräfte sie zu mobilisieren versuchen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie verweist aber bereits auf eine neue Funktion, die einem dritten Untertypus zugeordnet werden kann: (c) „Autoritär-plebiszitärer Nationalismus“ wird voraussichtlich die Form und Funktion des rekonstruktiven Nationalismus an der Macht bestimmen. Wenn dies zutrifft, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des rekonstruktiven Nationalismus zur Demokratie mit besonderer Dringlichkeit.
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Nationalismus – Typologie Typus
Konstellation
Untertyp (a) National-revolutionär
1) Konstruktiv
Prä-Nationalstaatlich
(b) Unifizierend (c) Sezessionistisch/Separatistisch (a) Integrativ
2) Reproduktiv
Nationalstaatlich
(b) Expansionistisch/Imperialistisch (c) Revanchistisch (a) Retrovertiert
3) Rekonstruktiv Post-Nationalstaatlich
(b) Fundamentaloppositionell (c) Autoritär-Plebiszitär
Die Rückkehr des Nationalismus Dieser Vorschlag zur Typologie kann helfen, neue Dynamiken des Nationalismus besser zu verstehen. Dessen Rückkehr lässt sich nun in Beziehung setzen zum Prozess der Globalisierung und der Krise, in die dieser Prozess selbst inzwischen geraten ist. Der für längere Zeit vorherrschende Trend einer kapitalistischen Globalisierung, die auf demokratische Legitimation und Teilhabe wenig Rücksicht nimmt, ist vorläufig an Grenzen gestoßen, während das Projekt einer linken und demokratischen Gegen-Globalisierung bislang wenig internationale Perspektiven entwickeln konnte.50 Die jüngste Welle des Nationalismus ist mindestens auch eine Flucht in die Renationalisierung als Reaktion auf die Globalisierung. Dabei ist der idealtypische Charakter der Typologie im Blick zu behalten. Auch die aktuellen Herausforderungen durch Nationalismus lassen sich nicht durchgängig einem Typus zuordnen und pauschal als „rekonstruktiv“ bezeichnen; meist mischen sich Züge verschiedener Typen. Die „neuen nationalen und nationalistischen Bewegungen“, die beispielsweise Andreas Reckwitz unter der 50
Vgl. z. B. Hirsch u. a., Zukunft des Staates; Mense, Kritik des Nationalismus.
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Überschrift „Kulturnationalismus“ diskutiert, sind aus seiner Sicht teils „Nationalismen von selbständigen Staaten, vor allem jenseits des alten Westens“, zu denen er China, Russland und Indien rechnet, teils „Nationalbewegungen ohne Staat, die innerhalb von westlichen Gesellschaften nach Autonomie streben“. Derartige Autonomiebestrebungen findet Reckwitz namentlich in Québec in Kanada, in Katalonien im spanischen Staatsverband und in Schottland im Vereinigten Königreich, in Großbritannien.51 Sie tragen in der Regel stärkere Züge von „konstruktivem Nationalismus“ – was möglicherweise auch für den kurdischen Fall gelten mag. Auffallender Weise sind diese Nationalismen insgesamt weniger affin zu rassistischer Ausgrenzung, außenpolitischer Aggression und auch zu Autoritarismus, und damit kompatibler mit demokratischen und pluralistischen Ordnungen.52 Doch auch die autoritär ausgerichteten nationalistischen Phänomene der Gegenwart lassen sich nicht pauschal einem der oben entwickelten Typen zuordnen. Neben Russland unter der Regierung Putin wären auch die Türkei unter der Regierung Erdogan und die USA unter der Regierung Trump zu nennen, bei denen revanchistische Züge stärker ausgeprägt sind. Es ist interessant, dass im Vergleich zu den Staaten der Europäischen Union diese drei Länder während der Hochphase der Globalisierung offenbar weniger Elemente ihrer nationalstaatlichen Souveränität aufgegeben oder verloren haben. Nationalistische Ideen knüpfen dort an hegemoniale bis imperiale Positionen an, die ihre Nationen einst ausübten – wie sich beispielsweise an den „osmanischen“ Bezügen des türkischen Nationalismus unter Erdogan zeigt. Im russischen Fall sehen manche Beobachterinnen und Beobachter schon heute imperialistische, außenpolitisch aggressive Kräfte wirken; im türkischen Fall könnte eine zukünftige stärkere Involvierung in Konflikte des östlichen Mittelmeerraums – wie sich bereits in Syrien und Libyen abzeichnet – solche Tendenzen mit sich bringen, während ein revanchistischer amerikanischer Nationalismus sein Heil möglichweise eher in der Rückwendung zum Isolationismus suchen wird. Ungeachtet dessen tragen viele der neuen nationalistischen Tendenzen, gerade in Europa, ausgeprägte Züge eines rekonstruktiven Nationalismus in einer post-nationalstaatlichen Konstellation. Dieser Nationalismus wird von seinen Kritikerinnen 51 52
Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten, S. 405. Vgl. Mense, Kritik des Nationalismus, S. 141ff., S. 181ff.
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und Kritikern, ob sie nun das Modell einer liberalen oder das Modell einer sozialen Demokratie vertreten, als eindeutige und unmittelbare Bedrohung der Demokratie an sich betrachtet. Eine solche Auffassung sieht sich indes mit dem Umstand konfrontiert, dass die Protagonistinnen und Protagonisten des rekonstruktiven Nationalismus die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Nationalstaat genau umgekehrt stellen. Für sie ist es ausgemacht, dass Demokratie nur im nationalstaatlichen Rahmen zu verwirklichen ist. Sie ziehen eine gewisse Evidenz aus der historisch abgeleiteten Annahme, Demokratie sei zumindest in der Moderne nach bisheriger Erfahrung an den Nationalstaat gebunden. Der rechtsextreme Propagandist und Mitbegründer der AfD, Alexander Gauland, meint: „Die Verbindung aus Nationalstaat, Demokratie und Rechtsstaat ist so selten und ihre Entstehung so unwahrscheinlich, daß man sehr gute Alternativen haben muß, um sie aufzugeben“.53 Dem Nationalstaat „verdankt die Welt Kostbarkeiten wie die […] Gewaltenteilung, die Meinungsfreiheit, die demokratische Mitbestimmung, die Gleichberechtigung“.54 Indes konstatiert auch Jürgen Habermas: „Nicht alle Nationalstaaten waren oder sind demokratisch […]. Aber wo immer Demokratien westlichen Zuschnitts entstanden sind, haben sie die Gestalt von Nationalstaaten angenommen“.55 Auch Colin Crouch bemerkt, es handle sich bei der Demokratie um ein System, „das im nationalen Rahmen besser funktioniert als in größeren geographischen Räumen“.56 Doch während Habermas von einer empirischer Erfahrung spricht, übersieht die Setzung von Crouch, dass die Demokratie – ebenso wie der Sozialstaat – im nationalstaatlichen Rahmen auf vielen Ebenen nicht mehr das zu leisten vermag, was sie in der prä-nationalstaatlichen Konstellation versprechen und in der nationalstaatlichen mitunter realisieren konnte. Thorsten Mense sieht ein „rückwärtsgewandtes Aufbegehren gegen die Zumutungen der globalisierten Moderne […], vor denen das politische Konzept der Nation offenbar keinen Schutz bieten kann“.57 In die Gauland, Nation – Populismus – Nachhaltigkeit, S. 8. Gauland, Nation – Populismus – Nachhaltigkeit, S. 14. – Gauland legt den Schwerpunkt seiner Argumentation in diesem Vortrag indes nicht auf Demokratie, sondern auf Rechtsstaat und Gewaltenteilung. In einem weiteren, im selben Band enthaltenen Vortrag über „Populismus und Demokratie“ kommt der antisemitische Gehalt der Gedankengänge Gaulands sehr deutlich zum Ausdruck. 55 Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 97. 56 Crouch, Postdemokratie, S. 50. 57 Mense, Kritik des Nationalismus, S. 100. 53 54
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sem Prozess stärke der „Legitimitätsverlust der Nationalstaaten als demokratische Institution […] das ausgrenzende Moment des Nationalismus“.58 Es sollte darüber hinaus zu denken geben, dass historisch gesehen viele ursprünglich demokratische Nationalismen – obgleich nicht alle – nach Erreichen eines souveränen Nationalstaats ihre enge Beziehung zur Demokratie verloren oder aufgegeben haben und sich zu Legitimationsideologien für autoritäre bis antidemokratische Forderungen und Regime entwickelten. Diese empirisch feststellbaren Sachverhalte relativieren eine allzu enge Kopplung zwischen Demokratie und Nationalismus.
Nationalismus und Demokratie im 21. Jahrhundert An der Verwendung des Begriffs Demokratie im Kontext der neuen Nationalismen fällt auf, dass sie häufig eine schroffe Abgrenzung zu bestehenden politischen Systemen zum Ausdruck bringt. Es handelt sich um die semantische Figur, Demokratie sei heute nicht oder nicht mehr gegeben, eine „wahre Demokratie“ müsse wiederhergestellt oder überhaupt erst geschaffen werden. Dies dient dann nicht in erster Linie der Perspektivierung einer besseren Verfassungsordnung, sondern der Abwertung bestehender Ordnungen, die als undemokratisch diskreditiert, oder politischer Entscheidungen und Maßnahmen, deren Zustandekommen entsprechend delegitimiert werden sollen. Wo nationalistische Bewegungen die Basis für eine autoritäre politische Führung bilden, dient ein solcher Demokratie-Diskurs häufig dazu, die eigene Machtausübung gegen Kritik abzuschirmen. Ministerpräsident Viktor Orbán nennt Ungarn einen „illiberalen Staat, einen nicht-liberalen Staat“. Er verwerfe nicht „die fundamentalen Prinzipien des Liberalismus, wie die Freiheit […], aber er macht diese Ideologie nicht zum zentralen Element der Staatsorganisation, sondern umfasst einen abweichenden, besonderen, nationalen Ansatz“, der auf einem „illiberalen und nationalen Fundament“ aufbaue.59 58 59
Mense, Kritik des Nationalismus, S. 82. Prime Minister Viktor Orbán’s Speech at the 25th Bálványos Summer Free University and Student Camp; July 30, 2014, https://www.kormany.hu/en/the-prime-minister/ the-prime-minister-s-speeches/prime-minister-viktor-orban-s-speech-at-the-25th-balvanyos-summer-free-university-and-student-camp (zuletzt besucht 15. 5 2019) (meine Übersetzung). Es ist bemerkenswert, dass Orbán in diesem programmatischen Text ausführlich vermeintliche Fehlleistungen der liberalen Demokratie vorführt, aber die ihm
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Dabei richtet sich die illiberale, autoritär-plebiszitäre Form der Machtausübung, die wir derzeit in einigen europäischen und außereuropäischen Ländern beobachten können,60 frühzeitig gegen Grundprinzipien demokratischer Freiheit. Regelmäßig ist sie mit massiven Eingriffen in die unabhängige Rechtsprechung verbunden. Diese manifestieren sich z. B. in Manipulationen der personellen Zusammensetzung von Verfassungsgerichtshöfen und anderen gerichtlichen Letzt-Instanzen. Sie werden aber auch über Eingriffe in die Gesetzgebung realisiert, welche die Immunität der politischen Führung erheblich stärken und damit den Spielraum für autokratisches Regieren, aber auch für Korruption und Nepotismus erweitern. Dies korrespondiert mit der Beseitigung wichtiger Garantien im Sinne Sozialer Demokratie, die einer gruppenbezogenen, entgarantierten Belohnungs- und Klientelpolitik weichen müssen. Regelmäßig versuchen autoritär-plebiszitäre Regierungen, die demokratische politische Opposition auszuschalten. Mitunter kommt es zu offenen politischen Verfolgungen; häufiger werden Politikerinnen und Politiker oder Gruppierungen der Opposition unter anderen Vorwänden juristisch oder polizeilich verfolgt. Vielleicht noch typischer ist die Mobilisierung des „Volkswillens“, auf den sich die autoritäre Führung beruft. Die Opposition wird paralysiert, eingeschüchtert und bedroht, indem sie als anti-national, volksentfremdet, ja verräterisch gebrandmarkt wird. Im Zusammenspiel mit politischen Kräften der nationalistischen Bewegung, deren Handeln der jeweiligen Regierung nicht zugerechnet werden kann,61 wird der politische Handlungsraum für oppositionelle Kräfte erheblich begrenzt. Die Opposition gerät dabei in eine prekäre Lage, weil sie innerhalb der eigenen Gesellschaft als illegitime Minderheit denunziert wird; sobald sie indes versucht, Solidarität und Unterstützung aus dem Ausland zu mobilisieren, dient dies als Nachweis ihres anti-nationalen Charakters. Gegenüber der „Vierten Gewalt“ bedienen sich die autoritären Machthaber einer Doppelstrategie. Kritische Medien werden massiv diskreditiert, Redaktionen eingeschüchtert und vom Zugang zu Informationen abgeschnitten, verantwortungsin deutscher Übersetzung zumeist zugeschriebene Formulierung „illiberale Demokratie“ für Ungarn nicht anwendet, sondern stets vom „illiberalen Staat“ spricht. Vgl. Salzborn, Schleichende Transformation. 60 Vgl. jetzt: Keane, The New Despotism. 61 Ein Forschungsdesiderat besteht in der Untersuchung der Rolle nationalistischer Hooligan‑, Ultra- und anderer Fußballfan-Kulturen im Rahmen des neuen Nationalismus; vieles spricht für die Hypothese, dass der „Fußball-Nationalismus“ politisch nicht so harmlos ist, wie oft behauptet.
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bewusste journalistische Recherche delegitimiert und ein hoher Konformitätsdruck erzeugt. Parallel dazu sind autoritäre Regierungen dazu übergegangen, eigene Medienimperien zu schaffen, teils durch den Zugriff auf staatliche oder öffentlichrechtliche Medienunternehmen, teils durch die enge Anbindung privater Medienkartelle an die eigene Macht. Manche Mechanismen sind aus historisch älteren autoritären Regimen bekannt. Ein neuer Zug in der Ausgestaltung autoritär-plebiszitärer Regierungsformen ist in der unmittelbaren, direkten Ansprache des „Volkes“ durch eigene Kanäle zu sehen, bei denen insbesondere die Neuen und Neuen Sozialen Medien eine herausgehobene Rolle spielen. Diese Praxis entspricht dem Modell einer direkten, nicht mehr durch gesellschaftliche Assoziationen und Institutionen vermittelten Beziehung, welche der autoritär-plebiszitär Regierende zwar nicht mit der gesamten Gesellschaft eingeht, wohl aber mit derjenigen Klientel, die er als das „eigentliche“ Volk, die „Mehrheit“ oder die „normalen Bürger“ ausgibt. Doch handelt es sich nicht um den vertrauten Vorgang der Massen-Mobilisierung und Massen-Erfassung, wie er für die faschistischen Regimes des 20. Jahrhunderts prägend war, und es werden auch selten geschlossene Kampfbünde gebildet.62 Die Mobilisierung erfolgt weniger stetig, weniger organisiert und strukturiert, und die Klientel ist allenfalls grob soziologisch und sozialgeographisch umrissen. Bei dieser Form der Machtausübung ist die Führung weit weniger abhängig von ihrer Gefolgschaft, als im faschistischen Modell. Das Volk, dessen Homogenität sie beschwört, bleibt jedenfalls ein Mythos, der auf die empirisch feststellbare soziologische Struktur der Gesellschaft wenig Rücksicht nimmt, von Tendenzen gesellschaftlicher Atomisierung dagegen profitiert. Im westlichen Europa ist der autoritäre Grundzug dieser „wahren Demokratie“ bislang weniger stark entwickelt worden. In Großbritannien hat beispielsweise der plebiszitäre Nationalismus der Brexiteers die älteste parlamentarische Demokratie an den Rand der Unregierbarkeit geführt, ohne zunächst eigenständige autoritäre Regierungsformen in Vorschlag zu bringen, während die lautstärksten Befürworter des Brexit verantwortlichem Regieren lange aus dem Weg gegangen sind. Auch in Frankreich, wo die autoritären Elemente des präsidialen Regierungssystems unter dem Anti-Parteien-Politiker Emmanuel Macron noch gestärkt wurden, schien sich die volkstümliche Gelbwesten-Bewegung eher darauf zu konzentrieren, das Land 62
Vgl. Reichardt, Faschistische Kampfbünde.; Paxton, Anatomie des Faschismus; Breuer, Faschismus als Bewegung.
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unregierbar zu machen, als dass sie Impulse für neue demokratische Partizipationsformen entwickelt.63 Schließlich hat auch die hiesige nationalpopulistische Rechtspartei Alternative für Deutschland (AfD) programmatisch noch keine Konzepte vorgelegt, durch die der autoritäre Zug, der in ihrer Weltanschauung feststellbar ist, in ein plebiszitär-autoritäres Regierungssystem überführt werden könnte. Das unterscheidet sie bislang noch von der NPD, die ein plebiszitäres Präsidialregiment unter Führung eines volksgewählten Bundespräsidenten programmatisch fordert. Die Vorschläge der NPD sind so formuliert, dass sie im Grunde auch das Hitler-Regime abdecken würden, sofern man bereit ist, dieses als „plebiszitäre Diktatur“ zu verharmlosen und seinen Charakter als Terrorregime auszublenden.64 Mit der kumulativen Radikalisierung der AfD sind zwar Vorstellungen und Parolen der NPD in immer mehr Feldern in die Propaganda der AfD und teilweise auch in ihre Programmatik integriert worden; für ein autoritär-plebiszitäres Präsidialregime gilt dies noch nicht. Bislang rechnet sich die AfD als Erfolg zu, dass sie die parlamentarische Regierungsweise der Bundesrepublik destabilisieren konnte, da sie durch ihren Einzug in den Deutschen Bundestag die Regierungsbildungskrise 2017/2018 maßgeblich mit verursacht hat. An den im Grundsatzprogramm von 2016 aufgestellten Forderungen zur Verfassungsreform lässt sich indes bereits erkennen, dass ihre Umsetzung verantwortliches parlamentarisches Regieren praktisch unmöglich machen und in der Summe fast durchweg eine substantielle Schwächung des Parlaments und der Parteien bewirken würde. Hingegen findet sich in diesem Programm kaum eine Forderung, die auf stärkere Kontrolle von Regierungs- oder Verwaltungshandeln zielt. Eine partizipative pluralistische Demokratie, etwa durch Stärkung kommunaler Demokratie und Beteiligungsverfahren, die Ausweitung von Mitbestimmung auf betrieblicher Ebene oder in anderen sozialen Kontexten, umfasst dieses plebis-
Es ist immerhin bemerkenswert, dass durch die deutsche politische Rechte anti-repräsentative Forderungen der Gilets Jaunes hervorgehoben worden sind, vgl. Robert Schmitt, Für das Ende der parlamentarischen Diktatur, in: Compact. Magazin für Souveränität, Ausgabe 5/2019, S. 38–39. – Zur ambivalenten Bewertung der Proteste in der deutschen Debatte vgl. u. a.: Jean-Yves Camus, Aufschrei gegen die Arroganz der Elite, in: Süddeutsche Zeitung v. 3.12.2018 https://www.sueddeutsche.de/politik/frankreich-gelbewesten-1.4237255 (zuletzt besucht: 16.5.2019); Vogel, Aufstand der Gelbwesten; Liebert, Wutbürger gegen Weltbürger; Fauth, Macrons autoritärer Schwenk. 64 Vgl. ausführlich Botsch, Wahre Demokratie. 63
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zitäre Verständnis von „wahrer Demokratie“ nicht. Vielmehr setzt die AfD einen allgemeinen, mindestens mehrheitlich vorhandenen Volkswillen voraus. Volksabstimmungen weist sie daher eine überragende Bedeutung zu.65 Die Affinität zum Plebiszit ist kein Alleinstellungsmerkmal der AfD. Sie lässt sich besser verstehen, wenn der tendenziell „rekronstruktive Charakter“ der neuen nationalistischen Bewegungen, zumindest in Westeuropa, begriffen wird. Gerade in ihrer fundamentaloppositionellen Form geht es ihnen darum, politischen Wandel zu behindern oder zu verhindern. Präziser gesagt zielen sie darauf, politische Entscheidungen zu blockieren, welche dem sozialen Wandel der westlichen Gesellschaften Rechnung tragen, aber aus nationalistischer Sicht als „anti-national“ gelesen werden. Besonders virulent wird dies bei jenen Wandlungsprozessen, die unmittelbar mit Migration zusammenhängen und politischen Steuerungsbedarf erzeugen, insbesondere in der Asyl- und Menschenrechtspolitik, der Einwanderungspolitik und dem Staatsangehörigkeitsrecht. Ähnlich aufgeladen sind die Reaktionen auf historische Wandlungsprozesse in den Gender- und Geschlechterverhältnissen, die ebenfalls zunehmend als „anti-national“ interpretiert werden. Aber auch darüber hinaus bietet der rekonstruktive Nationalismus entsprechende Lesarten an: Die Grundforderung des Nationalismus, dass die Nation in der Wertehierarchie an erster Stelle zu stehen habe, der Einzelne sich ihren Bedürfnissen unterordnen müsse und Politik immer das vermeintliche nationale Eigeninteresse verwirklichen solle, wird aus dieser Perspektive auf vielfache Weise verletzt. Wenn es stimmt, dass Politik im rekonstruktiven Nationalismus vor allem um die Verhinderung und Behinderung von Wandel kreist, hat dies gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung der Demokratie. Unsere politiktheoretische Tradition legt nahe, Demokratie als Ordnung zu verstehen, die sozialen Wandel und möglichst breite Partizipation miteinander in Beziehung setzt. Franz Leopold Neumann sagt über die Demokratie, sie sei „nicht einfach ein politisches System wie jedes andere; ihr Wesen besteht in der Durchführung großer sozialer Veränderungen, die die Freiheit des Menschen maximieren“.66 Dieses Streben nach „radikaler Veränderung“67 hatte in der Frühphase des Nationalismus das Fundament für Symbiosen mit der Demokratie gebildet. Für den rekonstruktiven Nationalismus Vgl. Botsch, AfD: Im Parlament; Botsch, Wahre Demokratie, S. 71ff. Neumann, Begriff der politischen Freiheit, S. 133. 67 Mense, Kritik des Nationalismus, S. 31. 65 66
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der Gegenwart – zumal solange er nicht an die Macht gelangt ist – besteht der Wert des Plebiszits gerade darin, soziale Veränderungen nicht im partizipativen Sinne zu gestalten, sondern aufzuhalten. Er appelliert an die „heiligen Säulen der Beharrung“68 und rechnet darauf, dass sie sich im Wege des Plebiszits in der Regel reproduzieren. Und es besteht Grund zu der Annahme, dass dies häufig der Fall ist: Seit den 1980er Jahren, verstärkt aber seit dem Beitritt der ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes ist das plebiszitäre Element in vielen Bundesländern gestärkt und vor allem im kommunalen Rahmen deutlich ausgebaut worden.69 Es entsteht der Eindruck, dass sich dabei weitaus seltener Initiativen durchsetzen konnten, die eine Reform oder Veränderung des Status quo anstrebten, während weitaus öfter Veränderungen blockiert worden sind. Befürworter stärker plebiszitärer Elemente mögen dies mit dem Hinweis auf fehlende Möglichkeiten der Volksgesetzgebung begründen, aber das Gesamtbild dürfte sich nicht ändern.70 Mit Blick auf den Klimawandel ist auch für Maximilian Probst der „reaktive Nationalismus […] nicht weniger gefährlich als der aggressive“ Nationalismus vergangener Epochen. Er führe aber „nicht durch das, was er tut, sondern durch das, was er unterlässt, in die Katastrophe.“71 An der Schweiz, die von der äußersten Rechten in Deutschland gerne als Vorbild plebiszitärer Demokratie angeführt wird, lässt sich zudem zeigen, dass plebiszitäre Kampagnen geeignet sind, antidemokratisch dominierte Diskursräume zu schaffen und zu bestimmen, wie Damir Skenderovic zeigen konnte.72
Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie, S. 130. Vgl. Klages/Paulus, Direkte Demokratie in Deutschland; Kost, Direkte Demokratie auf kommunaler Ebene; Kost, Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. 70 Empirisch vergleichende Studien wären von besonderem Wert. Mein Eindruck verstärkt sich bei Lektüre eines bilanzierenden Aufsatzes des Politikwissenschaftlers Otmar Jung aus dem Jahr 2001, der in kurioser Einseitigkeit auf die Stärkung plebiszitärer Elemente zielt: Die von ihm als positiv aufgeführten Beispiele haben in der Mehrzahl Veränderungen verhindert oder behindert, nicht aber zur partizipativen Gestaltung von gesellschaftlichem Wandel beigetragen, wobei das Beispiel der gescheiterten hessischen Wahlrechtsreform von 1994 – Herabsetzung des Wählbarkeitsalters der Landtagsabgeordneten von 21 auf 18 Jahre – besonders eindrucksvoll ist, vgl. Jung, Mehr direkte Demokratie wagen, S. 13–72, das Hessische Beispiel S. 37f. 71 Probst, AfD im Klima-Abseits, S. 30. 72 Vgl. Skenderovic, The Radical Right. 68 69
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Dieser innere Zusammenhang zwischen nationalistischer Rekonstruktion und plebiszitärer Orientierung verstärkt sich noch durch zwei miteinander eng verbundene Faktoren: Demographie und Zuwanderung. Zumindest in Westeuropa sind die neuen nationalistischen Bewegungen – was sie markant vom historischen Faschismus und namentlich von der nationalsozialistischen Bewegung unterscheidet – eher durch Menschen geprägt, die in der Mitte ihres Lebens stehen oder diese schon überschritten haben. Diese Anhängerinnen und Anhänger artikulieren häufig eine massive Sehnsucht nach der Zeit ihrer Jugend, die irgendwo zwischen den 1950er und 1970er Jahren liegt. Ihr Unwillen, sozialen und kulturellen Wandel zu akzeptieren, zeugt oftmals von frappierender Rücksichtslosigkeit gegenüber der Generation ihrer Kinder und Enkel. So wurde in einem Strategiepapier, das die AfD im Jahr 2019 diskutierte, zwar empfohlen, die junge Generation „nicht Rot-Grün zu überlassen“ – allerdings nur aus Prestigegründen. An sich müsse die AfD den Erstwählerinnen und Erstwählern „nicht allzu viel Aufmerksamkeit“ schenken, denn ihr Anteil sei mit gut 7 % „in der demographisch überalterten deutschen Gesellschaft vergleichsweise gering“.73 Spätestens seit dem britischen Brexit-Plebiszit ist deutlich geworden, in wie großem Maße diese mittelalten bis alten Jahrgänge auch in anderen Ländern die jüngeren Generationen demographisch dominieren. Diese Dominanz wird in westlichen Einwanderungsgesellschaften noch dadurch verstärkt, dass ein relevanter Teil der ständigen Wohnbevölkerung nicht wahlberechtigt ist – was selbst bei großzügigster Einbürgerungspolitik so bleiben wird –, und dass gerade diese Bevölkerungsteile eher jünger sind als der Bevölkerungsschnitt. Repräsentative Demokratien können die Belange derart quantitativ unterrepräsentierter Jahrgänge und Bevölkerungsgruppen tendenziell mit den Interessen der rechnerischen Mehrheit vermitteln. Dagegen dürfte die weitere Stärkung plebiszitärer Elemente die Unwucht zu Lasten derjenigen Generationen, die diesen Kontinent und seine Länder in Zukunft bewohnen werden, tendenziell verstärken. Das ist vonseiten der neuen Nationalisten durchaus so gewollt, deren rekonstruktive Orientierung in der Regel ethnonationalistisch beziehungsweise nativistisch fun-
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Strategie 2019–2025. Die AfD auf dem Weg zur Volkspartei. Stand: 31.07.2019, S. 17. Dieses Strategiepapier richtete sich an den Bundesvorstand und kam aus einem Kreis um den Berliner Landesvorsitzenden Georg Pazderski, der auf Koalitions- und Regierungsfähigkeit setzte und die AfD als „bürgerliche Partei“ professionalisieren wollte, mit seinen Vorschlägen aber in der rechtsextrem dominierten Partei weithin wirkungslos blieb.
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diert ist.74 Der autoritäre Charakter dieser Bewegungen75 kommt ja gerade in ihrem Wunsch nach Aufrechterhaltung spezifischer Dominanzkulturen76 zum Ausdruck. Nun haben in einer gemischten Verfassung plebiszitäre Elemente durchaus ihren Platz, und ihre Wirkung als Sperre gegenüber einem Wandel, der nicht partizipativ ausgestaltet ist und über die Köpfe der Menschen hinweg wirksam wird, ist in gewissem Rahmen durchaus erwünscht. Im Idealfall können Volksentscheide sogar die Rechte von Parlamenten stärken und damit als positives Korrektiv innerhalb des Rahmens des repräsentativen Systems wirken. Was indes die AfD anstrebt, ist die umfassende Umgestaltung der vorwiegend repräsentativen Verfassung des Grundgesetzes zu einer plebiszitär bestimmten Verfassungsordnung. Man darf erwarten – und die Begeisterung dieser Klientel für die Macht der Präsidenten in Russland, Ungarn und den USA bestätigt diese Vermutung –, dass daraus keine Stärkung von Partizipation hervorgeht, sondern eine Ermächtigung der politischen Spitze, die sich heute vielfältiger Formen der Manipulation der Gesellschaft bedienen kann. Dies gilt zumal wenn es gleichzeitig gelingt, möglichst umfangreich die institutionalisierten, auf demokratischen Wahlverfahren beruhenden Repräsentativgremien im zivilgesellschaftlichen Bereich zu entwerten. Denn die Kampagnen der neuen nationalistischen Bewegungen zielen ja zugleich immer auch gegen Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Interessenverbände, gegen die verfassten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, universitäre Statusgruppen, wissenschaftliche Gesellschaften, Fachverbände und viele mehr. All diesen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in einer pluralistischen Gesellschaft Gruppeninteressen bündeln und vertreten, wird – sofern sie mit den Forderungen des rekonstruktiven Nationalismus in Konflikt geraten – abgesprochen, für ihre Klientel legitime Stimme zu sein, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil sie institutionalisierte Gremien auf repräsentativer Grundlage sind. Gegenüber der vagen, aber doch artikulierten Vorstellung von einer anderen, einer „wahren“ Demokratie reagieren die westeuropäischen politischen Eliten bislang relativ hilflos. Den als „Bürgerwut“ wahrgenommenen Angriffen auf die Institutionen und Verfahren der repräsentativen Demokratie begegnen sie etwa mit Dialog Vgl. Mudde, Radical right parties. Vgl. Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen; Decker/Brähler, Flucht ins Autoritäre; Rensmann, Persistence of the Authoritarian Appeal. 76 Vgl. Rommelspacher, Dominanzkultur. 74 75
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formaten, deren demokratische Legitimation zweifelhaft ist und die keine Vorrechte, Kompetenzen oder Entscheidungsbefugnisse haben.77 Von einer entschlossenen fundamentaloppositionellen Minderheit lassen sich derartige Veranstaltungen hervorragend instrumentalisieren: unmoderiert oder schlecht moderiert, bieten sie Foren für deren Propaganda, und wenn sie stärker moderiert und strukturiert werden, diskreditiert man sie – nicht ganz zu Unrecht – als Alibi- und Schauveranstaltungen. Darüber hinaus offenbart sich in diesen Foren ein Hang zu jenem „negativen Modell der Staatsbürgerschaft“, das laut Colin Crouch davon ausgeht, Politik sei „im wesentlichen eine Angelegenheit von Eliten“, welche „von der wütenden Masse der Zuschauer mit Schimpf und Schande bedacht werden, wenn sie [die Zuschauer, GB] entdecken, daß etwas schiefgegangen ist“.78 Der Mob, schreibt Hannah Arendt, „kann nicht wählen, er kann nur akklamieren oder steinigen.“ Daher hätten seine Führer schon früh jene „plebiszitäre Republik“ verlangt, „mit der moderne Diktatoren so vorzügliche Erfahrungen gemacht haben.“79 Dass die demokratischen politischen Systeme in den kommenden Jahren gravierenden Veränderungen ausgesetzt sein werden, dürfte sicher sein. Die Debatte über Funktion, Inhalt, Form und Verfahren sollten nicht von denjenigen bestimmt werden, die das Wort Demokratie vor allem dann benutzen, wenn sie die Ausgestaltung gesellschaftlichen Wandels verhindern oder blockieren möchten. Es lohnt sich, über Demokratie nachzudenken und zu fragen, wie sie auf Herausforderungen in der „postnationalen Konstellation“ reagieren kann.
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II. Historische Beispiele – Demokratische Nationsbildungen und ihre Begründungen
Die SPD und der Nationalismus in der Weimarer Republik Siegfried Weichlein Die Leitfrage dieses Bandes, ob es einen demokratischen und nicht ausschließenden Nationalismus historisch gibt, erhält für die Weimarer Republik eine besondere Bedeutung, denn nach 1918 war die SPD Regierungspartei. Die demokratische Linke regierte im deutschen Nationalstaat und prägte seine Verfassungsordnung, was die Partei nicht nur in ein theoretisches, sondern auch ein praktisches Verhältnis zum Nationalismus setzte. Die Mehrheitssozialdemokratie trug Verantwortung für einen Staat und eine Nachkriegsgesellschaft mit allen Widersprüchen und Komplikationen, die sich daraus ergeben konnten. Wo und inwiefern entwickelte die Mehrheitssozialdemokratie mit ihrer langen internationalistischen Tradition einen demokratischen und nicht ausschließenden Begriff der Nation? Konnte die ‚Nation‘ für die SPD mit ihrem programmatischen Gepäck aus den 1890er Jahren eine staatstragende Vorstellung werden? Die Rahmenbedingungen für die Aushandlung von Nation und Nationalismus hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg in allen europäischen Staaten gründlich geändert. Nationsbildung und Nationalismus fanden jetzt fast überall unter parlamentarisch-demokratischen Rahmenbedingungen statt. Nicht mehr die konstitutio nelle Monarchie in der einen oder anderen Fassung, sondern die parlamentarische Demokratie mit ihren starken Parteien bildete jetzt den Rahmen für die Aushandlung von Nation und Nationalstaat. In welche begriffliche Tradition stellte sich die SPD dabei: die des inkludierenden oder des exkludierenden Nationsbegriffs, der ethnisch-kulturellen oder der politisch-subjektiven Definition von Nation?1 Dabei fand sich die SPD 1919 in einer ähnlichen Situation wie die Nationalliberalen 1878/79, als der Nationalismus nach Jahrzehnten der Bewegung und Emanzipation 1
Siehe dazu den Beitrag von Christian Jansen in diesem Band und: Jansen/Borggräfe, Nation.
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Die SPD und der Nationalismus in der Weimarer Republik
eine staatstragende Funktion im Kaiserreich übernommen hatte. Auch zwischen 1914 und 1918 war der Nationalismus wieder flüssig und pseudo-emanzipatorisch geworden und hatte in den Kriegszieldebatten seinen Bezug zum bestehenden Staat gelockert. 1919 erhielt er wieder sein Objekt: die Weimarer Republik. Wo und inwiefern wurde der Nationalismus nach 1919 wieder staatstragend? Das auszuloten war die Rolle der „Staatspartei der Republik“, der SPD.2 Es gehört zu den gut gepflegten Klischees, die deutsche Arbeiterbewegung sei durchgängig international, wenn nicht universal und keineswegs national ausgerichtet gewesen. Dieses Klischee geht auf den Wandel der SPD seit 1969 zurück, als immer mehr Akademiker in die Partei eintraten. Damals entstand die seither benutzte Optik auf die Arbeiterbewegung vor 1933. Tatsächlich war der Internationalismus im Selbstbild der Arbeiterbewegung tief verwurzelt. Das galt nicht nur für die ideologischen Ursprünge und das seit 1891 geltende Erfurter Programm, sondern auch für ihre Feierkultur, die öffentlichen Reden und generell für das Selbstverständnis der Sozialdemokraten. Im Alltag verfolgte die SPD jedoch eine reformistische Politik der kleinen Schritte, nicht der Weltrevolution. Der Internationalismus der Programmatik und des vulgärmarxistischen Parteivokabulars stand weitgehend unvermittelt neben der reformistischen Alltagspolitik der Partei, die auf nationalstaatliche Strukturen bezogen war und nationalistischen Überzeugungen gegenüber kompromissbereit sein musste. 1914 hatte die SPD den nationalen Standpunkt eingenommen. Zu den Freiwilligen der ersten Kriegstage gehörte der badische SPD Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank, der am 3. September 1914 in Frankreich fiel. Frank gehörte zum revisionistischen Flügel der Sozialdemokratie, der dezidiert reformistisch dachte und der Revolution abgeschworen hatte.3 Die Frage nach dem Nationalismus in der Weimarer SPD impliziert damit immer auch die historische Rekonstruktion der Aufgabe, Internationalismus und Nationalismus zueinander ins Verhältnis zu setzen. Das Verhältnis von Sozialismus und Nation wurde weit über die Partei hinaus diskutiert. Der Wiener Staatsrechtler Hans Kelsen und der Heidelberger Soziologe Max Weber sahen schon früh die Schwierigkeiten der deutschen Sozialisten, Sozialismus und Nationalstaat zusammenzudenken und einen tragbaren Begriff des
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Lehnert, „Staatspartei der Republik“. Miller, Burgfrieden und Klassenkampf; Watzinger, Ludwig Frank.
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Nationalstaates zu entwickeln.4 Systematisch betrachtet, ist schon der Begriff des Nationalstaats höchst anspruchsvoll. Hannah Arendt und Saskia Sassen haben darauf hingewiesen, dass den Nationalstaat zu denken, eine Paradoxie zu denken bedeutet. Staat und Nation gehören unterschiedlichen begrifflichen Ordnungen an, wie gerade die Zeitgenossen im Anschluss an Ferdinand Tönnies nicht müde wurden zu betonen.5 Die Paradoxie nationalstaatlichen Denkens besteht darin, dass der Staat ein Begriff für eine Herrschaftsordnung ist, während die Nation für eine Form der Gemeinschaft steht.6 Zu diesen begrifflichen Schwierigkeiten für die SPD im Umgang mit Nation und Nationalismus kam die innerparteiliche Differenzierung. Denn die MSPD und nach dem Zusammenschluss mit der USPD die SPD war mitnichten homogen und auch nicht zentralistisch geführt. Mindestens drei Arenen sollen im Folgenden beim Verhältnis der SPD zum Nationalismus unterschieden werden: die Parteibasis, die Regierungspolitik der MSPD und die Parteiintellektuellen. Auf allen drei Ebenen spielte das Verhältnis zwischen Internationalismus und Nationalismus eine zentrale Rolle: an der Parteibasis im Blick auf den alltäglichen Normalnationalismus der Umwelt, auf der Regierungsebene im Blick auf den Versailler Friedensvertrag und bei den Parteiintellektuellen als Reformprogramm unter den veränderten Bedingungen der Nachkriegszeit. Diese Ebenen waren nur locker verbunden. Mehrere Haltungen und Verständnisse des Nationalismus standen in der SPD manchmal locker verbunden, oft lose nebeneinander. Es gab vor 1914 sowohl eine Tradition des politisch-subjektiven als auch eine des ethnisch-kulturellen Redens von der Nation in der SPD. Für Ferdinand Lassalle konnte ein demokratischer Staat nur ein Nationalstaat sein. Auch Ludwig Frank, Eduard David und Eduard Bernstein standen in dieser Tradition der politischen Teilhabe als Kern des Nationalismus. Im Alltag der Deutschen und der meisten Parteimitglieder spielte freilich der ethnisch-kulturelle Normalnationalismus eine größere Rolle. Hier überlappten sich die moralischen Ökonomien des sozialdemokratischen Internationalismus und des bürgerlichen Nationalismus. Im Wohnzimmer der Arbeiter fanden sich Bilder von Bismarck und August Bebel. Die Haltung zum Nationalismus
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Weber, Der Sozialismus; Kelsen, Sozialismus und Staat; Renner, Der deutsche Arbeiter; Heller, Sozialismus und Nation; Werth, Sozialismus und Nation. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Volk, Decline of Order; Sassen, Paradox des Nationalen.
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Die SPD und der Nationalismus in der Weimarer Republik
hing vom Verständnis des Sozialismus ab. Wie in einem System kommunizierender Röhren waren sie miteinander verbunden. Nicht nur die diskursive Spannung von Nationalismus und Internationalismus, sondern auch diejenige von Nationalismus und Sozialismus strukturierten das diskursive Feld. Mehrere Oppositionen prägten die Debatte: die Spannungen zwischen einem politisch-subjektiven und einem ethnisch-kulturellen Nationsbegriff, zwischen Nationalismus und Internationalismus und zwischen Nation und Klasse. Diese Aushandlungsprozesse kamen in der Partei zu keinem Ergebnis und wurden in erster Linie von den Intellektuellen geführt. Sie bilden nach Ausführungen zur Parteibasis und zur Regierungspolitik den Schwerpunkt der folgenden Ausführungen.
Die Parteibasis Der sozialistische Arbeiter wurde oft zu einer mythischen Figur überhöht. Der Sozialtyp des Weimarer Sozialdemokraten entsprach aber keineswegs dem entschlossenen Internationalisten und Fabrikarbeiter, der im Massenelend der Mietskasernen wohnte und in der Partei von Kindesbeinen zuhause war. Vielmehr verband die meisten SPD-Mitglieder sehr viel mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld, vor allem wenn sie in Kleinstädten oder auf dem Land wohnten und wenn sie als Mondscheinbauern vor oder nach der Arbeit noch eine teilagrarische Subsistenzwirtschaft führten. Verstärkt wurde die Integration in die moralische Ökonomie ihrer sozialen Umwelt durch das Vereinsleben samt dessen Alltagsnationalismus. National eingestellt und gleichzeitig Sozialdemokrat zu sein war für die Mehrheit der SPD-Mitglieder kein Widerspruch, sondern selbstverständlich und ergab sich aus ihrer Lebenswelt.7 Die Arbeiterbauern, die auf dem Land lebten und in die Stadt zur Arbeit fuhren, teilten die Wertorientierungen ihrer sozialen Umgebung, zumal wenn sie in den örtlichen Sport- und Gesangvereinen spielten und sangen. Dort wo man sich – wie im Parteibezirk Hessen-Kassel – der radikaldemokratischen 1848erUrsprünge der Sozialdemokratie erinnerte, blieb auch aus der Parteitradition heraus das nationale Bekenntnis stark. Die Weimarer Sozialdemokratie war mit ihren zahllosen Vereinen und Verbänden keine Gegengesellschaft zur nationalistisch geprägten Mehrheitsgesellschaft, sondern ein Teil von ihr. Überhaupt ist das Konzept 7
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der Gegenkultur normativ aufgeladen und orientiert sich mehr am Anspruch der großstädtischen Arbeiterkulturorganisationen als an der Breite der sozialdemokratischen Mitgliederschaft.8 Neben dieser Integration in die politisch-soziale Umwelt gab es freilich einen tiefen sozialgeschichtlichen Riss in der deutschen Arbeiterbewegung, der in den Jahren von 1917 bis 1923 zwei verschiedene politische Kulturen entstehen ließ. Für die massiv ausgebaute Rüstungsindustrie entstanden etwa im Raum Halle-Merseburg im Ersten Weltkrieg neue Fabriken, die Massen von ungelernten Arbeitern anzogen. Die vielen Arbeiter der Leuna-Werke waren kaum integriert in die sekundären Organisationen der Arbeiterbewegung, die Arbeiterkulturorganisationen, den Arbeitersport und die Konsumgenossenschaften. Auch die Gewerkschaften besaßen hier nicht den Rückhalt wie in den alten Industrierevieren des 19. Jahrhunderts. Politisch orientierte sich die Arbeiterschaft in den neuen Rüstungsbetrieben, die wie Pilze aus dem Boden schossen, nicht mehr an der Vorkriegs-SPD mit ihren Forderungen nach Demokratisierung und mehr Arbeiterrechten, sondern viel stärker an der USPD und den Bolschewiki in der Sowjetunion. Als sich die USPD im Herbst 1920 den 21 Forderungen Lenins unterwarf, machten die meisten Abgeordneten und der Parteiapparat den Schritt in die KPD nicht mit, die einfachen Mitglieder und Wähler aber schon. Erst dadurch wurde die KPD zur Massenpartei. Mitglieder und Wähler der MSPD und der KPD kamen aus der Arbeiterbewegung von vor 1914, hatten sich aber deutlich auseinandergelebt, auch wenn sie sich noch als Genossen anredeten. Das Leitbild der parlamentarischen Demokratie besaß bei USPD und KPD wenig Anziehungskraft, wohl aber eine straff geführte Partei des Proletariates. Wer den Weg in die KPD wählte, widersetzte sich später in der Tendenz auch nicht der Stalinisierung der Partei.9 Davon wich die Mehrheitssozialdemokratie stark ab. Hier gab es zwar keinen ausgearbeiteten linken Nationalismus mit einer eigenen theoretischen Fundierung. Im Alltag dominierte noch die vulgärmarxistische Rhetorik von Klassenkampf und Revolution. Wohl aber fand sich auch hier eine nationale Grundeinstellung, die die Partei mit dem Rest der Gesellschaft verband. Die Masse der Parteimitglieder strebte nach Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft. 8
9
Zum Konzept der Gegenkultur in der Arbeiterbewegung vgl. Wunderer, Arbeitervereine und Arbeiterparteien. Walter, Die SPD, S. 65–78.
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Die „deutsche Nation“ oder das „deutsche Volk“ blieben in der politischen Arbeit der Bezirke und Ortsvereine unreflektierte Bezugsgrößen politischen Handelns, weil die staatlichen Institutionen, die man zu übernehmen gedachte, diesen Rahmen voraussetzten. Sozialdemokraten in Kleinstädten und auf dem Land teilten die nationalistischen Einstellungen ihrer Umgebung. Im Vogtland, wo die Arbeitslosigkeit in den Weimarer Jahren immer mehr zunahm, dienten „Nation“ und „Volk“ zum Protest gegen die Regierung im Freistaat Sachsen und im Reich. Schließlich hielten viele Sozialdemokraten genauso wie Katholiken, Juden, Protestanten, Liberale, Konservative, Anarchisten und Nationalsozialisten an der Vorstellung der Volksgemeinschaft aus dem Krieg fest, worauf vor allem Michael Wildt hingewiesen hat.10 Im Krieg hatte es noch geschienen, dass dieser Begriff auch in der Sozialdemokratie heimisch werden könnte. Heinrich Cunow und Konrad Haenisch, beide vom linken Parteiflügel, erkannten darin ein Angebot für Sozialdemokraten im Krieg. Auch wenn der Begriff älter war, so konnte er doch von Sozialdemokraten als Gegenentwurf zur Klassengesellschaft des Kaiserreiches gelesen werden. Für Cunow und Haenisch ermöglichte die Volksgemeinschaft Interessenausgleich zwischen sozialen Gruppen und einen Verzicht auf Klassenkampf zugunsten einer neuen gemeinschaftlichen Produktionsweise. Das war letztlich eine Verteidigungsgemeinschaft mit dem Ziel der gesteigerten Rüstungsproduktion. Cunow sprach 1915 von einem Volksgemeinschaftsgefühl und Konrad Haenisch stellte 1916 fest, dass die sozialdemokratische Zustimmung zu den Kriegskrediten auch ein „Zusammenstehen mit der Volksgemeinschaft in Not und Tod“ bedeutete. Nach 1919 gab es eine sozialdemokratische und eine liberale Variante der Volksgemeinschaft neben der rechten, antidemokratischen Deutung. Für Sozialdemokraten waren daran der Interessenausgleich und eine Form der Solidarität als Notgemeinschaft attraktiv. Für den Sozialdemokraten Eduard David stand die Volksgemeinschaft über den Parteiinteressen. Und Reichspräsident Friedrich Ebert sah in ihr das Symbol innerer Geschlossenheit und einer nationalen Solidarität oberhalb der Klassenegoismen.11
10 11
Wildt, „Volksgemeinschaft“. Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat; Mai, „Verteidigungskrieg“ und „Volksgemeinschaft“, S. 590f.
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Die Volksgemeinschaft wurde zur „beherrschenden politischen Deutungsformel der Weimarer Republik“ (Ulrich Thamer), unter der die verschiedenen Richtungen freilich etwas anderes verstanden.12 Im Unterschied zur völkischen Rechten diente die Volksgemeinschaft dem Zentrum und den Sozialdemokraten dazu, die Gegensätze in der Gesellschaft zu überbrücken und eine politische Einheit des Volkes auf der Grundlage der Verfassung herzustellen. Das rückte die Parteibasis weg vom rassistischen und ethnisch-kulturellen Nationsverständnis. Andererseits eröffnete es eine neue diskursive Front um die Deutungshoheit über die Volksgemeinschaft. Beruhte die Volksgemeinschaft auf der Grundlage der Verfassung oder resultierte sie aus der Unterordnung unter einen Führer? Die Volksgemeinschaft tauchte als Referenz in den Reden von SPD Politikern aller Ebenen immer wieder auf, drang aber nicht ins Schlüsselvokabular der SPD vor. Zu stark blieb auch in den Weimarer Jahren die Tradition von Klassenkampf und Parteidisziplin. Volk, Nation und Volksgemeinschaft kamen in ganz unterschiedlichen Konstellationen im sozialdemokratischen Weltbild wie auch im Alltag der Partei vor. Es überwog ein politisches Verständnis auf der Basis von sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und politischer Einheit.
Die Partei in Regierungsverantwortung Nach der Revolution musste sich die Mehrheitssozialdemokratie aus der Regierung heraus zu Kriegsschuld, Kriegsniederlage und zum Versailler Vertrag verhalten. Der Versailler Friedensvertrag stand auf der politischen Agenda oben an. Die Haltung zu den Pariser Friedensbedingungen vom 7. Mai implizierte weit mehr als eine Antwort an die alliierten und assoziierten Regierungen. Die regierenden Mehrheitssozialdemokraten positionierten sich dadurch auch zum Krieg, zur Kriegsschuldfrage und nicht zuletzt zu ihrer eigenen Rolle im Krieg, als sie einen Burgfrieden mit der Reichsführung geschlossen und die deutschen Kriegsanstrengungen unterstützt hatten. Eine „bemerkenswerte Starrheit“ der Mehrheitssozialdemokraten in der Kriegsschuldfrage trat bereits bei der Konferenz der europäischen Arbeiterparteien im Februar 1919 in Bern zutage. Hier mussten sich die deutschen Vertreter zu den Ursachen des Krieges, seinem Verlauf und seinem Ende äußern. Die MSPD blieb 12
Thamer, Volksgemeinschaft: Mensch und Masse, S. 367.
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orthodox marxistisch und stellte in ihrer Resolution das jüngst siegreiche deutsche Proletariat dem „alten System“ gegenüber: „Durch die deutsche Revolution hat das deutsche Proletariat das alte, für den Krieg verantwortliche System gestürzt und zerstört.“ Das ließ die Türe für ein Teilzugeständnis deutscher Schuld offen, überblendete aber den Gegensatz zwischen den Weltkriegsgegnern durch denjenigen zwischen alt und neu und den zwischen Proletariat und politischem System. Aber selbst davon zogen sich Otto Wels und Hermann Müller, die Delegierten der deutschen MSPD, wieder zurück und machten in Bern schließlich die „Imperialisten und Militaristen von ganz Europa“ für den Krieg verantwortlich. Noch nicht einmal ein Zugeständnis deutscher Teilschuld war der MSPD gegenüber den sozialistischen Schwesterparteien möglich.13 Der Parteitag der MSPD am 15. und 16. Juni 1919 in Weimar widmete sich der Frage der Kriegsschuld und legte dabei die Differenzen offen. Otto Wels, gerade mit Hermann Müller zum Parteivorsitzenden gewählt, verteidigte die Haltung der Partei im Krieg und weigerte sich, moralisch und politisch mit der Reichsführung vor 1918 und speziell mit der Politik im Juli 1914 zu brechen: „Aber niemand wird mir die Überzeugung beibringen, dass Deutschland allein der Sündenbock ist, der das Unheil über die Welt gebracht, und dass der Zar ein blütenweißes Unschuldslämmlein ist. […] Niemals werde ich mich dazu bekennen, dass die französischen Revancheideen keinen Teil an diesem Krieg haben. […] Auf dem internationalen Gebiet erwirbt sich Achtung nicht der, der sich duckt, und der unterwürfig im aschgrauen Büßerhemd dasteht. Kein Franzose, kein Engländer hätte je anerkannt, dass die Schuld allein bei seinem Volke läge, in der Hoffnung, dadurch bessere Friedensbedingungen zu erhalten. […] Wir Deutschen müssen lernen, deutsch zu fühlen, und wir können das lernen von Franzosen und Engländer und anderen Nationen.“ Der Redakteur der „Fränkischen Tagespost“ Adolf Braun vom linken Parteiflügel unterstützte Wels: „Wir müssen mit aller Entschiedenheit kraftvoll den nationalen Standpunkt vertreten, der in unserer internationalen Auffassung verankert ist.“14 Das klang nationalistisch, verdankte sich aber der durchschaubaren Absicht, den in Paris versammelten Regierungschefs der Alliierten keine weiteren Argumente
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Heinemann, Verdrängte Niederlage, S. 30. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Weimar vom 10. bis 15. Juni 1919; Bericht über die 7. Frauenkonferenz, abgehalten in Weimar am 15. und 16. Juni 1919, Berlin 1919, S. 159, 189f.
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für härtere Friedensbedingungen zu liefern, indem man den Kriegsschuldartikel in Teilen anerkannte. Daraus aber ergab sich sofort, dass die SPD keinen Fehler gemacht haben konnte, als sie am 4. August 1914 den Kriegskrediten im Reichstag zugestimmt hatte. Die Mehrheit in der Parteiführung ordnete die Frage der Kriegsschuld vulgärmarxistisch der These unter, dass der Kapitalismus schuld am Kriege gewesen sei. Selbst auf der Parteilinken, wo der Bruch mit dem Kaiserreich Priorität besaß, wollte kaum jemand auf die Frage der Kriegsschuld von 1914 zurückkommen. So zu denken bot aus der Sicht der Parteiführung mehrere Vorteile. Neben den positiven Auswirkungen auf die Pariser Verhandlungen erleichterte das Beschweigen der Kriegsschuldfrage den prekären Zusammenhalt in der Partei, die von Flügelkämpfen erschüttert wurde. Schließlich knüpfte dieser Standpunkt an die programmatische Tradition der SPD im 19. Jahrhundert an und setzte sie fort. Die ältere Theorietradition beizubehalten, schuf zudem Gemeinsamkeiten mit anderen sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa. Auf deren Unterstützung glaubte man sich im Sommer 1919 mehr denn je angewiesen. Viele dieser Vorteile waren freilich kurzfristiger Natur. Mittel- und langfristig überwogen die Nachteile, die aus dieser Sichtweise folgten. Wer die anonymen Kräfte des Kapitalismus für den Krieg verantwortlich machte, brauchte mit dem Kaiserreich und seiner Politik weder moralisch noch politisch zu brechen. Damit aber erkannte die Parteiführung der MSPD implizit die Position der nationalistischen Rechten an, dass das Reich sich 1914 legitimer Weise verteidigt hatte und dass es sich auch danach um einen Verteidigungskrieg gehandelt hatte. Wenn die MSPD an der Verteidigungslogik vom Juli 1914 festhielt, war eine von der Rechten unterschiedene Haltung zum Krieg wie auch ein eigenes dezidiert sozialdemokratisches Nationsverständnis schwer zu begründen. Darauf wies der revisionistische Vordenker Eduard Bernstein hin, der gerade erst seine Doppelmitgliedschaft in USPD und MSPD beendet hatte und in die MSPD zurückgekehrt war: „Heraus aus diesem Turm, werdet endlich frei auch in dieser Sache. Machen wir uns doch frei von dem Ehrbegriff der Bourgeoisie, nur die Wahrheit, die volle Wahrheit kann uns nützen.“ Bernstein forderte nichts weniger als die schonungslose und unvoreingenommene Analyse der Ursachen des Krieges und des deutschen Anteiles daran. Der MSPD-Abgeordnete Gustav Hoch vom linken Parteiflügel gehörte zu den wenigen, die Bernstein unterstützten: „Wenn wir hier tatkräftig eingreifen, mit allem Nachdruck, rücksichtslos und schonungslos, ohne Scheu nach irgendeiner Seite, der Wahrheit die Ehre geben, wenn der Wahrheitsfimmel, Genosse Kummer, bei 126
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uns vollkommen zum Durchbruch kommt, überall bis in die kleinste Hütte, dann brauchen wir eine nationalistische Strömung nicht zu fürchten, dann wird diese schwere Zeit zwar eine Zeit unsagbaren Elends sein, aber zugleich auch der Vorbote eines neuen Glücks für unser Volk.“15 Eine schonungslose Wahrheitssuche und das Eingeständnis des deutschen Anteils am Kriegsausbruch belasteten – so Gustav Hoch und Eduard Bernstein – das deutsche Volk nicht, sondern entlasteten es vielmehr. Schließlich hatten Entscheidungen der Reichsregierung in den Krieg geführt. Im Sommer 1919 wussten die Sozialdemokraten bereits, dass die Reichsregierung einen weitaus größeren Anteil am Kriegsausbruch 1914 hatte als weithin angenommen. Kurt Eisner, USPD Politiker und bayerischer Ministerpräsident, hatte schon am 23. November 1918 im „Berliner Tagblatt“ und in mehreren großen Tageszeitungen Auszüge aus den Berichten des bayerischen Gesandten in Berlin vom Juli und Anfang August 1914 veröffentlicht, die die deutsche Rolle in neuem Licht erscheinen ließen. Eisner hatte sich damit bewusst von der damaligen Reichsregierung distanzieren und einen Bruch mit den alten Eliten herbeiführen wollen, jedoch vieles weggelassen und nur die be‑, nicht aber die entlastenden Teile der Berichte publiziert und sich so den Vorwurf der Fälschung zugezogen. Weitere Dokumente belegten jedoch, dass die Reichsregierung und die großen Industrieführer gezielt die päpstliche und die österreichische Friedensinitiative von 1917 hintertrieben hatten, die auf ein Ende des Krieges ohne Annexionen hinausliefen. Die deutsche Seite hatte es jedoch auf Belgien und dessen Industrie abgesehen.16 Karl Kautsky war mit der Sichtung der Dokumente zum Kriegsausbruch beauftragt worden und legte das Material Ende März dem Kabinett Scheidemann vor, ohne dass sich das Kabinett und der Reichsministerpräsident17 zu einer Veröffentlichung durchringen konnten, obwohl die Dokumente die Reichsführung im Juli 1914 schwer belasteten. Bernstein, Kautsky und – bis zu seinem Tod – Eisner standen im Wesentlichen alleine, als sie die Partei aufforderten, sich von den alten Machthabern des Kaiserreiches dadurch zu distanzieren, dass die MSPD den deutschen Anteil am Kriegsausbruch offen thematisierte, auch wenn sie sich damit von der eigenen Politik distanzierte. Die Loyalität zur Reichsführung Ebd., S. 253–281. Vgl. Heinemann, Verdrängte Niederlage. 17 So hieß der Regierungschef bis zur Annahme der Weimarer Reichsverfassung im August 1919. 15 16
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1914 überwog den Willen zur sozialistischen Distanzierung und zum politischen Neuanfang. Die Debatte um die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages auf dem MSPD-Parteitag in Weimar legte die innersozialdemokratischen Gegensätze nicht nur in der nationalen Frage offen. Pathos und eine gute Portion Drama sollten die Widersprüche in der MSPD in dieser Frage verbergen. So zumindest kann der Wutausbruch des Reichsministerpräsidenten Philipp Scheidemann gedeutet werden, als er am 12. Mai 1919 in der Weimarer Nationalversammlung den berühmten Satz ausstieß: „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt!“ Ähnlich scharf hatte der Chefredakteur des „Vorwärts“ Friedrich Stampfer am 10. Mai formuliert: „Unterzeichnet nicht!“18 In der eigenen Partei und bei den Koalitionspartnern konnten sie damit auf Unterstützung zählen. Doch kamen derlei Verbalentrüstungen im Agitationsstil einer Realitätsverweigerung gleich. Die MSPD-Führung musste bald erkennen, dass eine Nichtunterzeichnung ihr Verfassungswerk im Kern gefährdete. Falls die Deutschen in Versailles nicht unterschrieben, würden alliierte Truppen ins Reich einmarschieren. Das Verfassungswerk von Weimar mit seiner sozialdemokratischen Handschrift, das gleichzeitig beraten und beschlossen wurde, wäre dann Makulatur geworden. Tatsächlich bildete der Sozialdemokrat Gustav Bauer am 21. Juni 1919 das nächste Kabinett und schlug der Nationalversammlung vor, unter Protest zu unterschreiben: „Wir sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos.“ Im gleichen Sinne äußerten sich die meisten Genossen und Gewerkschaftler. Scheidemanns Rücktritt und Bauers Unterzeichnung des Versailler Vertrages machten die Widersprüche innerhalb der MSPD deutlich. Einerseits hatte sich die Partei im Krieg unter dem Einfluss der Burgfriedenspolitik in die Mitte der Gesellschaft bewegt. Das war ihr durch den Austritt der Kriegskreditverweigerer um Karl Liebknecht und die Gründung der USPD erleichtert worden. Die Mehrheitssozialdemokraten und die Gewerkschaften hatten den Krieg mitgetragen. Auch nach 1918 gingen Friedrich Ebert und die Führung der MSPD wider besseres Wissen davon aus, dass es sich 1914 um einen Defensivkrieg gehandelt hatte. „Die Kriegsunschuldslegende, die Zwillingsschwester der Dolchstoßlegende, wurde zum Nährboden gegen das ‚Diktat von Versailles‘.“19 Nach dem Krieg wehrten sich die Mehr18 19
Winkler, Von der Revolution, S. 219. Winkler, Deutschland vor Hitler, S. 17.
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heitssozialdemokraten entschieden gegen den Vorwurf, „Novemberverbrecher“ zu sein und das Reich kurz vor dem Sieg in die Niederlage gerissen zu haben. Sie taten indessen wenig, um die Kriegsunschuldslegende zu entzaubern, obwohl sie die Möglichkeit dazu gehabt hätten. Die SPD gab ihren Gegnern von rechts damit eine ideologische Waffe in die Hand, die sie später gegen die Partei richten würden – mit tödlichen Folgen. Obwohl die SPD sich immer wieder betont national gab, wurde das politische Feld des Nationalismus doch von der Rechten besetzt. Die Rechte wurde immer diskurs- und deutungsmächtiger und die SPD reagierte defensiv. Im Ergebnis gehörte der Riss in allen Fragen der Nation zu den Verwerfungen innerhalb der MSPD. Denn nach 1918 beschworen die Spitzengenossen der MSPD den gleichen Internationalismus wie vor 1914. Er stellte sogar ein Bindeglied zur Zeit der Sozialistengesetze und der Wahlerfolge nach 1890 dar. Praktisch handelte die MSPD-geführte Reichsregierung national, ließ das jedoch nicht in die Programmatik einfließen. Vor der großen, aber abstrakten Dichotomie von Kapitalismus versus Sozialismus verblassten die Fragen nach der Kriegsschuld. Schließlich waren im Vulgärmarxismus alle nationalen den sozialen Gegensätzen untergeordnet. Also ordnete man gerne den Nationen soziale Qualitäten zu und sprach vom englischen Kapitalismus. Carl Giebel, Vorsitzender des Verbandes der Büroangestellten und Reichstagsabgeordneter seit 1912, fasste dieses Interpretationsmuster auf dem Gewerkschaftskongress in Nürnberg am 1. Juli 1919 einprägsam zusammen: Das deutsche Proletariat hatte im Krieg in Wirklichkeit den „alten sozialistischen Klassenkampf gekämpft, nur gegen eine andere Front. […] Es war der Kampf des Proletariats gegen den internationalen Kapitalismus dort drüben.“ Robert Schmidt, mehrheitssozialdemokratischer Reichsernährungsminister und Mitglied der Generalkommission der Gewerkschaften, sprach von der kapitalistischen Kollektivschuld am Krieg.20 In der MSPD entwickelte sich kein eigener sozialdemokratischer Zugang zur Nation, weder ein linker Sozialpatriotismus noch ein politischer Verfassungspatriotismus, mit dem man gegen den Nationalismus der Rechten hätte argumentieren können. Dennoch kam es nicht zu einer kognitiven Dissonanz zwischen Sozialismus und Nation unter den Sozialdemokraten. Mehrere Verständnisbrücken stellten im politischen Alltag die Verbindung her. Die wichtigsten waren die staatspolitische
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Protokoll der Verhandlungen des zehnten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Nürnberg vom 30. Juni bis 5. Juli 1919, Berlin 1919, S. 364–366, 368; Winkler, Von der Revolution, S. 215.
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Verantwortung der SPD und die Einheit des Reiches. Dennoch blieben nationalistische Aussagen bei der Parteiführung die Ausnahme, sieht man vom Kampf gegen den Versailler Vertrag ab. Die politisch integrierende Funktion des Nationalismus sollte vielmehr ein demokratischer und inklusiver Sozialismus übernehmen.
Die Parteiintellektuellen „Die nationale Frage blieb ein blinder Fleck im offiziellen Selbstverständnis der Partei.“21 Eine Reihe von Parteiintellektuellen, in Gruppen und um Zeitschriften herum organisiert, versuchte diese offene Flanke zu schließen. Auffällig waren dabei zwei Strategien: die ethische Schließung durch den sittlichen Gemeinschaftsbezug und die politische Verbindung von Sozialismus und Nation durch die Verfassungsordnung und die Demokratie. Mehrheitssozialdemokraten verschiedener Richtungen sahen die Notwendigkeit, nicht nur nationale Politik zu betreiben, sondern auch theoretisch zu klären, was Nation und Staat sind. Sie hielten Vorträge und publizierten zu Staat und zu Nation. Ihr Diskurs- und Reflektionsraum unterschied sich von der Regierungspolitik und der Parteibasis. Neben den Anforderungen der Gegenwart spielten jetzt mehr die Programmgeschichte der SPD, die Philosophie und Soziologie und historisch gesehen die Erfahrungen im 19. Jahrhundert eine Rolle. Die SPD wurde als „Staatspartei der Republik“ von rechts angegriffen und angefeindet wegen ihres angeblich fehlenden nationalen Bekenntnisses. Daraus zogen eine Reihe von Parteiintellektuellen die Konsequenz, in der Partei für ein kraftvolles nationales Bekenntnis zu werben, um so die SPD und die Republik zu stützen. Dabei gerieten sie in das Rechts-Links-Schema. Je mehr sie einem sozialdemokratischen Nationalismus das Wort redeten, umso mehr nahm man sie als rechte Sozialdemokraten wahr, je klassenkämpferischer und internationalistischer sie auftraten, als umso linker galten sie.
Der Hofgeismarer Kreis An Ostern 1923 traf sich eine Gruppe von Jungsozialisten im nordhessischen Hofgeismar zu Vorträgen und Diskussionen über Sozialismus und Nation. Die Mitglie21
Winkler, Schein der Normalität, S. 369.
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der dieses „Hofgeismarer Kreises“ waren zumeist jüngere Sozialdemokraten aus dem Umfeld der „Jungsozialistischen Blätter“, der Freideutschen Jugend und des nichtmarxistischen ethischen Sozialismus. Es war eine mitnichten homogene Gruppe aus romantischen Wandervögeln, Bündischer Jugend, ethischen Sozialisten und Anhängern des Rechts- und Verfassungsstaates. Zwischen 1895 und 1905 geboren und oft in der Bündischen Jugend tätig hatten sie den Krieg unterstützt. Getragen wurde der Kreis von jungen Parteimitgliedern, oft Jugendsekretären und Redakteuren. Das akademische Element war schon 1923 in Hofgeismar stark und nahm später weiter zu. Eine Reihe von Hochschullehrern schrieb für den Kreis und wirkte an der Zeitschrift „Arbeiter-Jugend“ mit. Dazu zählten der Leipziger Volkswirt Paul Hermberg, die Volkshochschulpädagogin Gertrud Hermes, der Wirtschaftsfachmann Erik Nölting und der Sozialpädagoge Wilhelm Sturmfels von der Frankfurter Akademie der Arbeit.22 Politisch hielten sie Distanz zur sozialdemokratischen Parteiführung, deren unverbundenes Nebeneinander von proletarischem Internationalismus und nationaler Staatsverantwortung ihnen fremd war. Lebensphilosophisch angehaucht forderten sie Ganzheit und Aktivismus und – später angefeuert von den Schriften Hendrik de Mans – eine größere Achtung vor Emotionen in der Politik. Die entschiedene Tat erschien ihnen im Frühjahr 1923 auch deswegen so wichtig, weil die französische Ruhrbesetzung die Gefahr des Staatszerfalls heraufbeschwor. Die Ruhrbesetzung motivierte die Bochumer Jungsozialisten, ein nationales Ostertreffen unweit des besetzten Ruhrgebietes zu organisieren. Franz Osterroth, dortiger Jugendsekretär der SPD und Redakteur der Jugendzeitung des Bergarbeiterverbandes, zählte zu den Gründern des Hofgeismarer Kreises.23 Dazu gehörten noch August Rathmann aus Bochum, der Jurastudent Heinrich Deist aus Dessau, Sohn des anhaltinischen Ministerpräsidenten, der Konsumgenossenschaftler Gustav Dahrendorf aus Hamburg (Vater von Ralf Dahrendorf) und Robert Keller aus Berlin, Mitglied in der Reichsleitung der Jungsozialisten. Der Marburger Neukantianer Paul Natorp forderte in Hofgeismar unter der Überschrift „Volk und Menschheit“ einen ethischen Sozialismus, der der Nation einen mo-
Hermberg, Wirtschaft und die Gewerkschaften; Flaig, Gertrud Hermes; Nölting, Einführung in die Theorie; Sturmfels, Arbeiterschaft und Staat; Betzelberger, Grundsätzliches vom Jungsozialismus. 23 Osterroth, Bericht über die Tagung; Osterroth, Hofgeismarkreis der Jungsozialisten. 22
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ralischen Wert zubilligte: „Es (sc. Deutschland) ist, glaube ich, fortan entschieden, mit dem Gewaltstaat, mit aller Gewalt des Staates gegen den Staat wie gegen den einzelnen zu brechen. Das deutsche Volk in seiner großen Mehrheit will es nicht mehr, es will einzig und allein, was es von Anbeginn und unter den härtesten Schicksalsschlägen stets gewollt und geübt hat: arbeiten am Menschenwert und durch Arbeitsgemeinschaft, Volksgemeinschaft und Menschengemeinschaft ‚geprägte Form‘ volkhaften, menschenwerten Daseins, auf eigenem, durch eigene Bebauung heimisch gewordenen Bodens, immerdar ‚lebend entwickeln‘. Ganz natürlich aber ist es ihm und selbstverständlich, ein Gleiches auch für die anderen Völker der Erde zu wollen und mitanzustreben.“24 Natorps Sozial- und Nationalidealismus bejahte entschieden die Nation. Jedes Volk besaß seine „geprägte Form“ in den Gestalten der Arbeitsgemeinschaft, Volksgemeinschaft und Menschengemeinschaft. Er knüpfte 1923 an die Rhetorik der Volksgemeinschaft aus dem Krieg an, las sie aber ethisch. Der Arbeiterdichter Karl Bröger sprach in gleichem Sinne über „Deutscher Mensch und deutscher Geist“ und der Kasseler religiöse Sozialist und Leiter der dortigen Volkshochschule Walter Koch über „Deutsches Volkstum und Kultur“.25 Die bekanntesten Köpfe des Hofgeismarer Treffens von 1923 waren die beiden Juristen Hugo Sinzheimer und Gustav Radbruch, Reichsjustizminister im Herbst 1922 und in den beiden Kabinetten Gustav Stresemanns 1923. Hinzu kam der Staatsrechtler Hermann Heller. Alle drei waren sich darin einig, dass Klasse und Nation keine Gegensätze bildeten. Nation und Volk waren der Klasse nicht nachgeordnet, sondern vielmehr politisch gleichgestellt. Sinzheimer führte das Ostern 1923 in Hofgeismar aus: „Für die deutsche sozialistische Bewegung sind Volk und Staat objektive Existenzformen. Bricht der Staat zusammen oder zersetzt sich das Volk vollends, ist an eine zukunftsreiche sozialistische Bewegung in absehbarer Zeit nicht zu denken. Die sozialistische Bewegung muss deswegen Staat und Volk nicht nur positiv bejahen, sondern auch diejenigen Kräfte technischer und sittlicher Art aus sich heraus entwickeln, die beide zu tragen und fortzubilden fähig sind. Diese positive Einstellung des Sozialismus zu Staat und Volk schließt die Bejahung überstaatlicher und menschlicher Gemeinschaft nicht aus, sondern ein.“26 Osterroth, Hofgeismarkreis der Jungsozialisten, S. 538; Der Vortrag ist abgedruckt in: Natorp, Der Deutsche. 25 Bröger, Deutsche Republik. 26 Osterroth, Hofgeismarkreis der Jungsozialisten, S. 543. 24
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Hugo Sinzheimer stellte sich damit entschieden gegen die Unterordnung der Nation unter die Klasse, der in der marxistischen Orthodoxie einzig objektiven Existenzform. Und er wandte sich mit den Hofgeismarern gegen die Reduktion nationaler Kämpfe auf Klassenkämpfe, was die Auslegeordnung der Parteiführung für den Kriegsbeginn 1914 gewesen war. Andere Sozialdemokraten gingen noch weiter und ließen die marxistische Begründung des Sozialismus ganz hinter sich. Zum Reformflügel in der SPD und den aktiven Mitgliedern des Reichsbanners gehörte der Redakteur Julius Leber. Er hatte sich 1923 von der marxistischen Parteiorthodoxie abgewandt. Ihm war aufgegangen, dass die Partei „riesenhafte und endlose Debatten über die Errichtung einer Diktatur des Proletariats“ führte, aber zu praktischer, tatkräftiger Politik nicht in der Lage war, wie er am 12. Oktober 1923 im „Lübecker Volksboten“ schrieb.27 Der Sozialismus musste weiterentwickelt werden und dazu gehörte ein deutlicheres Bekenntnis zur nationalen Gemeinschaft, die für alle Arbeiter der vorgegebene Rahmen war. Das sozialdemokratische Nationalgefühl beruhte ihm zufolge auf „der Achtung unserer selbst und gleichzeitig auf der Achtung anderer Nationen“. Deutscher Patriotismus und sozialistisch-demokratischer Internationalismus gingen Hand in Hand.28 In seinen rückblickenden Betrachtungen auf die Weimarer Jahre schrieb er später: „Unser Nationalgefühl beruht auf der Achtung anderer Nationen, es beruht darauf, dass jede Nation zu ihrem Recht kommt und in ihrem Land im Kreise ihrer Gerechtsamen mit ehrlichem Bemühen mitarbeitet an dem allgemeinen Weltfrieden, an der allgemeinen Weltzufriedenheit und an den allgemeinen Kulturgütern, die das Streben der Sozialdemokraten überall in der ganzen Welt sind.“29 Wer den Sozialismus nicht mehr in orthodox marxistischer Klassenbegrifflichkeit fasste, kam um das Problem der Überordnung der Klasse über die Nation herum. Doch es waren nicht viele, die diesen theoretischen Weg gingen.
Leber, Man muss klar sehen, in: Lübecker Volksbote, 12.10.1923. Zitiert in: Groh/Brandt, „Vaterlandslose Gesellen“, S. 185. 29 Leber, Todesursachen der deutschen Sozialdemokratie, S. 191f.; Beck, Theodor Haubach, S. 94. 27 28
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Der Schlageter-Kurs der KPD Nur wenige Wochen nach der Ostertagung der Hofgeismarer nutzte eine Reihe prominenter deutscher Kommunisten den deutschen Widerstand im Ruhrgebiet gegen die französische Besatzung, um Nationalismus und Bolschewismus miteinander zu verbinden. Der nationalistische Schlageter-Kurs der KPD im Sommer und Herbst 1923 stellte zwar einen dezidiert politischen und keinen ethnisch-kulturellen Bezug zur Nation her, war aber im Kern rein taktischer Natur im Vorfeld der Pläne der KPD für einen Aufstand im Oktober 1923. Im März und April 1923 hatten Sabotagekommandos mit Unterstützung der Reichsregierung Anschläge auf Bahnanlagen im französisch besetzten Gebiet verübt, um den Abtransport von Kohle nach Frankreich zu verhindern. Am 2. April verhaftete die französische Armee Albert Leo Schlageter als einen der Hauptverantwortlichen, verurteilte ihn am 7. Mai zum Tode und richtete ihn am 26. Mai hin. Er war als radikaler Nationalist und Baltikum-Kämpfer nach 1918 in Erscheinung getreten. Aber nicht nur die politische Rechte, sondern auch Teile der KPD stilisierten Schlageter zum politischen Märtyrer. Dahinter standen mehrere Motive. Bei den deutschen Kommunisten hielt die revolutionäre Naherwartung seit 1917 immer noch an, was Krisenverschärfung und nur taktisch gemeinte Bündnisse nahelegte. 1923 war aber auch eine internationale Krise zwischen Deutschland und Frankreich, bei der die deutsche Seite zu unterliegen schien, was für die Sowjetunion westliche Invasionsabsichten aktuell machte. Besonders im Exekutiv-Komitee der kommunistischen Internationale (EKKI) sah man das so. Hier kam man zu der Überzeugung, dass alles, was den status quo zugunsten der Sowjetunion änderte, revolutionär war – komme es von rechts oder von links.30 In seiner Rede vor dem Erweiterten Exekutiv-Komitee (EKKI) am 20. Juni 1923 schlug der Deutschlandexperte der Komintern Karl Radek eine Brücke zur nationalen Arbeiterschaft. In seiner Schlageter-Rede bezeichnete ihn Radek als einen „Märtyrer des deutschen Nationalismus“ und „mutige(n) Soldat(en) der Konterrevolution“, der es verdiene, „von uns Soldaten der Revolution männlich-ehrlich gewürdigt zu werden“. Für Radek gab es „Kreise der deutschen Faschisten, die ehrlich dem deutschen Volke dienen wollen.“ Dazu zählte er Schlageter. „Wir wollen alles tun, dass Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache 30
Winkler, Von der Revolution, S. 583.
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in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden, dass sie ihr heißes, uneigennütziges Blut nicht verspritzen für die Profite der Kohlen- und Eisenbarone, sondern für die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes, das ein Glied ist in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker […] Schlageter kann nicht mehr diese Antwort vernehmen. Wir sind sicher, dass hunderte Schlageters sie vernehmen und sie verstehen werden.“31 Radeks Annäherung an den Nationalismus der Rechten zielte darauf ab, die Arbeiter und die nationalistischen Massen von ihren Führern zu trennen. Erfolg hatte er damit nicht. Einzig im intellektuellen Milieu konnte der Nationalbolschewismus zeitweise einige Anziehungskraft entfalten. Die Kommunistische Parteizeitung „Rote Fahne“ öffnete ihre Spalten für Arthur Moeller van den Bruck, den Verfasser des Buches „Das Dritte Reich“, und den völkischen Schriftsteller und späteren NSDAP Reichstagsabgeordneten Graf Ernst von Reventlow.32 Unter den kommunistischen Parteiintellektuellen entfaltete die nationale Parole im Unterschied zur Sozialdemokratie keine Anziehungskraft. Ganz im Gegenteil tendierte diese im Berliner und Hamburger Parteibezirk starke Gruppe zur linken Parteiopposition, die alle Versuche, Bündnisse zu schließen, scharf ablehnte. Werner Scholem, Mitglied der Berliner Parteiführung, meinte bereits am 22. Februar 1922 im preußischen Landtag: „Wir erklären […] dass wir die Erben dieser antinationalen Strömungen der deutschen Sozialdemokratie sind und dass wir uns mit Stolz dazu bekennen, die Erben dieses antinationalen, d. h. internationalen Geistes zu sein.“33 An dieser Kritik hielt die Linksopposition um Scholem, Arkadij Maslow und Max Hesse auch im Sommer 1923 unbeirrt fest. Lediglich Ruth Fischer aus der Berliner Parteiführung vollzog einen Kurswechsel und biederte sich – selbst Jüdin! – am 25. Juli 1923 den völkischen Studenten der Berliner Universität in antisemitischer Manier an: „Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß.“34 Am 29. Juli 1923 sagte die KPD auf Protokoll der Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale. Moskau, 12. bis 23. Juni 1923, Hamburg 1923, S. 240–245. 32 Schüddekopf, Linke Leute; Paetel, Nationalbolschewismus, S. 343; Dupeux, „Nationalbolschewismus“. 33 Zitiert in: Hoffrogge, Sommer des Nationalbolschewismus, S. 139. 34 Vorwärts, 22. August 1923 (Hängt die Judenkapitalisten. Ruth Fischer als Antisemitin); Kistenmacher, Vom „Judas“ zum „Judenkapital“. 31
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Anweisung Moskaus hin den Antifaschistentag ab. Spätestens im Oktober 1923 war der Schlageter-Kurs jedoch schon wieder Geschichte, hatte er doch aus der Sicht der Parteiführung nur zur Diversion im Vorfeld des „Deutschen Oktobers“ gedient, des geplanten kommunistischen Aufstandes in Sachsen und Thüringen.
Die Debatte zwischen Hermann Heller und Max Adler Dezidiert politisch verstand der sozialdemokratische Staatsrechtler Hermann Heller die Nation. Er war 1920 der MSPD beigetreten und in der Arbeiterbildung tätig. In Hofgeismar warb er ebenfalls für ein kräftigeres nationales Bekenntnis der SPD. Bereits in seiner Habilitationsschrift hatte er den nationalen Machtstaatsgedanken bei Hegel herausgearbeitet.35 Mit dem österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer ging Heller davon aus, dass die Nation ein grundlegendes und auch gerechtfertigtes Organisationsprinzip der Politik war. Im Zentrum des älteren Verständnisses der Nation vor Hegel standen nach Heller das Freiheitsstreben und die individuellen Rechte. Unter dem Einfluss der rechtsheglianischen Staats- und Rechtsphilosophie hatte das Bürgertum dann seine Freiheits- und Gleichheitsgrundsätze dem Machtstaatsgedanken geopfert. Um den Nationalismus der Arbeiterbewegung nahezubringen, musste man an die älteren Schichten der nationalen Vorstellung mit ihren natürlichen individuellen Rechten wieder anknüpfen. Erst wenn sich die Arbeiter für die nationale Frage und die Konservativen für die soziale Frage interessieren würden, könne die politische Polarisierung zwischen konservativem Nationalismus und Sozialismus überwunden werden. Hermann Heller nahm Hugo Sinzheimers Brückenschlag zwischen Nation und Sozialismus von 1923 dankbar auf und führte ihn weiter. 1925 veröffentlichte er im Berliner Arbeiterjugend-Verlag seine Schrift „Sozialismus und Nation“, die zu einer Programmschrift der Hofgeismarer wurde. Ähnlich wie Sinzheimer weigerte Heller sich, die nationale Zugehörigkeit auf eine Klassenbegrifflichkeit zu reduzieren: „Die Nation ist eine endgültige Lebensform, die durch den Sozialismus weder beseitigt werden kann noch beseitigt werden soll. Sozialismus bedeutet keineswegs das Ende, sondern die Vollendung der nationalen Gemeinschaft, nicht die Vernichtung der nationalen Volksgemeinschaft. […] Die Klasse muss in die Nation eingehen, die 35
Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke.
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Nation aber die Klasse in sich aufnehmen. […] Der Sozialismus ist somit für die Nation praktisch unentbehrlich, die Nation aber die notwendige Erscheinungsform des Sozialismus.“36 Heller betonte die wechselseitige Verschränkung von Nation und Sozialismus: „Nicht aus der Nation heraus, sondern in die Nation hinein wollen wir kämpfen. […] Die nationale ohne die soziale Volksgemeinschaft ist nicht zu haben.“37 Das lag ganz auf seiner Linie der Versöhnung von konservativem Nationalismus und Sozialismus. Performativ besaß es den großen Vorteil, dass Heller damit das politische Feld des Nationalismus nicht – wie die Internationalisten in der SPD – den Rechten überließ, sondern es ihnen streitig machte. Der Internationalismus der SPD unterschätzte für Heller die Bedeutung von Nation und Kultur, von Willens- und Wertegemeinschaft massiv. Internationalismus war für ihn nur eine weitere Form des Rationalismus und dadurch wenig massenwirksam.38 Die Nation war für Heller keine ethnisch-kulturelle Rasse- oder Sprach‑, sondern eine Schicksalsgemeinschaft. Heller knüpfte an die Arbeiten des österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer an und fasste die Nation erstens als historisch geworden und veränderlich. Über Bauer hinausgehend wurzelte die Nation bei Heller in einer unveränderlichen anthropologischen Grundverfassung: Jeder war Teil einer Schicksalsgemeinschaft. Er sah in der Nation objektive und subjektive Merkmale verbunden. Zweitens aber hielt Heller die Nation für den Rahmen, in dem die gesamte Bevölkerung und damit auch die Arbeiterschaft an der Kultur, die für ihn nationalspezifisch war, teilhaben konnte. Die Nation war kein politisches Instrument, um das Endziel des Sozialismus zu erreichen, sondern das Ziel selbst, auf das der Sozialismus zusteuern musste.39 Der Marxismus hatte – so Heller – im sozialdemokratischen Verständnis den Begriff der Nation auf eine historische Epoche verengt, die im Sozialismus überwunden werde. Die Nation war für die offizielle Parteidoktrin etwas Vorläufiges, der Sozialismus aber endgültig. Das hatte es den Sozialdemokraten auch theoretisch ermöglicht, die Nation und den Staat nur als Mittel zu
Heller, Sozialismus und Nation, S. 10, 38, 44. Ebd., S. 46, 77. 38 Albrecht, Hermann Hellers Staats- und Demokratieauffassung; Schneider, Positivismus, Nation und Souveränität. 39 Vogt, Nationaler Sozialismus, S. 156. 36 37
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sehen.40 Genau dagegen wandte sich Heller mit scharfen Worten: „Sozialismus ist nicht Aufhebung, sondern Veredelung des Staates. Der Arbeiter kommt dem Sozialismus um so näher, je näher er dem Staate kommt […] Uns ist die Nation kein Durchgangspunkt zu einem kulturlosen Menschenbrei, sondern die schicksalsgebundene Lebensform, in der wir an den übernationalen Zwecken der Menschheit allein mitarbeiten können und wollen.“41 Wie zu erwarten stieß Hermann Heller damit in der SPD und zumal bei den Jungsozialisten, die immer weiter nach links rückten, auf Widerspruch. Dabei ging es – nicht immer trennscharf unterschieden – sowohl um den Staats- wie um den Nationsbegriff. Vertreter des linken Hannoveraner Kreises hielten ihm entgegen, dass sein Staats- und Nationsverständnis nicht mehr mit dem Sozialismus zu vereinbaren sei. Hellers prominentester Kritiker war der Wiener Austromarxist Max Adler.42 Adler hatte 1922 Hans Kelsens „Reiner Rechtslehre“ rechtslogischen Formalismus vorgeworfen und darauf bestanden, dass der Staat im institutionellen Kern und in seinem begrifflichen Wesen ein bürgerlicher Herrschaftszusammenhang sei. Er bestritt, dass der Staat wie bei Hans Kelsen und auch bei Hermann Heller eine ahistorische Universalie ist, die jedem politischen Handeln vorausgehe. Vielmehr bleibe er ein bürgerlicher Klassenstaat, der nur durch revolutionäre Politik überwunden werden konnte. Die Jenaer Reichskonferenz der Jungsozialisten an Ostern 1925 stand unter dem Thema „Staat, Nation und Sozialdemokratie“. Hier kam es zur offenen Konfrontation zwischen Adler und Heller. Heller hielt an einem nicht-marxistischen Begriff von Sozialismus fest: „Sozialismus soll Kultursteigerung sein, das bedeutet aber eine immer feinere Ausprägung der Eigenart der einzelnen Nationen.“ Oder mit Otto Bauer: „Heranziehung des gesamten Volkes zur nationalen Kulturgemeinschaft, Eroberung voller Selbstbestimmung durch die Nation, steigende geistige Differenzierung der Nationen – das bedeutet Sozialismus. […] Die besondere politische Bedeutung der Nation im Zeitalter der Demokratie besteht aber darin, dass sie zum staatlichen Organisationsprinzip wird.“43
42 43 40 41
Heller, Nationaler Sozialismus, S. 155. Osterroth, Hofgeismarkreis der Jungsozialisten, S. 547. Adler, Staatsauffassung des Marxismus. Heller, Staat, Nation und Sozialdemokratie, S. 537f.; Bauer, Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, S. 108.
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Jede politische Partei und Richtung müsse den gegenwärtigen Nationalstaat als Grundlage der Zukunftsgestaltung erhalten.44 Staatsverneinung sei weder für Sozialisten noch für Angehörige anderer Parteien eine politische Option. In seinem Jenaer Referat spitzte Hermann Heller noch weiter zu: „Nun ist es wohl auch klar, dass kein vernünftiger Mensch den Staat als Einrichtung ablehnen kann. Er kann das genauso wenig, wie die Wirtschaft ablehnen, trotzdem sie heute kapitalistisch ist. Staatsverneinung ist Wirtschaftsverneinung.“45 Max Adler wandte sich in seinem Koreferat scharf gegen Heller und jede Form der Identifikation mit dem Staat, vor allem aber gegen jede Gemeinsamkeit zwischen dem existierenden Staat und dem zukünftigen Staat des Sozialismus. Sobald das Wort Staat falle, müsse die Frage sein: „Von was für einem Staate sprichst Du, vom Klassenstaate oder von einer ganz anderen klassenlosen Gesellschaftsform?“46 Eine inhaltlich wertvolle Gemeinsamkeit unter allen Mitgliedern der Gesellschaft oder gar Solidarität war im Staat nicht möglich. Adler gebrauchte dafür das sprachliche Bild eines Hausherrn in der Bel-Etage, der zwar für den Fortbestand des Hauses sorgen müsse, deswegen aber noch lange nicht solidarisch mit den Kellerbewohnern sei. Adler ging noch weiter: „Schon heute müssen wir den anderen sagen: euer Staat ist nicht unsere Gesellschaft, und eure Nation ist nicht unsere Gemeinschaft. So wie Christus seinen Anhängern sagte: Mein Reich ist nicht von dieser Welt, so müssen wir Sozialisten dieses innerliche Fremdheitsgefühl gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, gegenüber ihrem Staats- und Nationsbegriffe haben, wonach uns keinen Augenblick das Bewusstsein verlässt: Unser Reich, unsere Heimat in Staat und Volk ist nicht von dieser kapitalistischen Welt, sondern ist erst zu begründen in der sozialistischen Gesellschaft.“47 Heller und Adler hielten sich gegenseitig vor, die Wirklichkeit begrifflich zu überblenden und auf formale Kategorien zu reduzieren, und nahmen je für sich eine konkrete, materialistische Lesart in Anspruch. Sie führten eine Art sozialdemokratischen Universalienstreit, in dem Heller die Nation und Adler den Klassenkampf und das Proletariat zu Universalien erklärten.48 46 47 48 44 45
Osterroth, Hofgeismarkreis der Jungsozialisten, S. 551. Heller, Staat, Nation und Sozialdemokratie, S. 533. Adler, Koreferat zu Hermann Heller, S. 544. Ebd., S. 553. Leser, Universalien und Realien.
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Der dadurch begrifflich auf Dauer gestellte Zwist sollte maßgeblich zum späteren Austritt des Hofgeismarer Kreises aus den Jungsozialisten beitragen. Die Mehrheit der Jungsozialisten folgte nämlich Adler. Das „Politische Bekenntnis“ der Hofgeismarer vom November 1925 jedoch lag ganz auf Hermann Hellers Linie. Verfasst worden war es von Theodor Haubach und Heinrich Deist. Darin hieß es: „Wir erkennen in den Nationen die natürliche Gliederung der menschlichen Gesellschaft. Die Nation ist uns als historisch gewordene Natur- und Schicksalsgemeinschaft eine theoretisch gültige wie praktisch unleugbare Wirklichkeit. Wir lehnen die nationale wie überhaupt jede politische Romantik ab. Der Kampf des Proletariats geht um Eingliederung in die nationale Kulturarbeit und um Fortbildung und Steigerung ihres Werkes.“49 Der Hofgeismarer Kreis verließ 1926 die Jungsozialisten, die eine nationale Version des Sozialismus nicht akzeptierten, und stellte sein Organ, den „Politischen Rundbrief “ ein, dessen Wirkung sich auf den Kreis selbst beschränkt hatte.
Die Neuen Blätter für den Sozialismus Nachdem sich die lockere Organisationsform eines Kreises mit jährlichen Treffen von Politischen Arbeitsgemeinschaften nicht als erfolgreich erwiesen hatte, suchte der Kern des Hofgeismarer Kreises nach einer größeren Breitenwirkung und plante eine neue Zeitschrift. Ab Januar 1930 erschienen monatlich die „Neuen Blätter für den Sozialismus“. Ihre Redaktion war das Auffangbecken für die national- und staatsbewussten Mitglieder des Hofgeismarer Kreises.50 Nicht alle, wie etwa der Pädagoge Fritz Klatt, waren Sozialdemokraten.51 Auch der Theologe Paul Tillich und der Volkswirt Eduard Heimann waren eher Außenseiter in der Partei. Der Mitgründer des Hofgeismarer Kreises August Rathmann verkörperte am besten die Kontinuität zu 1923. Die führenden Köpfe der „Neuen Blätter“ waren bekannte Politiker und Intellektuelle, die mit ihrem Renommee für Bekanntheit und Verbreitung sorgten. Dazu zählten neben Tillich, Heimann Osterroth, Hofgeismarkreis der Jungsozialisten, S. 556ff. Martiny, Entstehung und politische Bedeutung; Vogt, Nationaler Sozialismus, S. 125, 154; Vogt, Strange Encounters; Schildt, National gestimmt; Bryden, Heroes and Martyrs. 51 Amlung u. a., Adolf Reichwein. 49 50
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und Hermann Heller noch Gustav Radbruch sowie der Reichsinnenminister des Jahres 1923 Wilhelm Sollmann, an Jüngeren Carlo Mierendorff und Theodor Haubach. Diese beiden waren bestens vernetzt an den Knotenpunkten von Politik, Öffentlichkeitsarbeit und Presse. Mierendorff war SPD-Reichstagsabgeordneter und Pressechef des hessischen Innenministers, Haubach Pressereferent im Reichsinnenministerium, später beim Berliner Polizeipräsidenten. Die Auflage der „Neuen Blätter“ betrug anfangs zwischen 3000 und 6000 und stieg bis 1933 auf 10 000, was auf eine bemerkenswerte Reichweite der Zeitschrift schließen lässt.52 Für Theodor Haubach wie für Hermann Heller führte der Weg der Arbeiter vom Internationalismus zum Nationalismus – nicht umgekehrt. Schon 1924 hatte Haubach geschrieben: „Die Arbeiterschaft aller Länder […] wird im Verlaufe ihres kämpferisch durchgeführten Aufstiegs nationalisiert. Auf ihrer untersten Stufe, wo sie reine, unterdrückte Klasse, ohne Bewusstsein von ihrer Lage nur instinktivisch dumpf reagiert – hat sie kein Vaterland. In dieser Lage sind nationale Merkmale, wie Sprache, körperlicher Typus, rein äußerlich und zufällig. Wenn sie aber, politisch organisiert, den Kampf gegen ihre Unterdrücker beginnt, richtet sich ihr Blick auf die konkreten Situationen ihres Landes.“53 Im Ergebnis standen die Hofgeismarer und ihre Sympathisanten vor einem Dilemma. Nationales Bewusstsein in der SPD zu zeigen, bedeutete nämlich für sie, gegen den Versailler Friedensvertrag mit seinem Kriegsschuldartikel zu kämpfen und dabei an der Kriegsunschuld des Deutschen Reiches im Juli 1914 festzuhalten. Ein gutes Beispiel hierfür ist Hermann Heller, für den der Versailler Vertrag „das deutsche Volk politisch-wirtschaftlich – ohne jede Übertreibung – zerschmettert“ habe. Der Vertrag verfolge die Absicht, „das deutsche Volk – nach einem Urteil des Engländers Keynes – zu einer weißen Sklavenkolonie zu machen“.54 Solche Aussagen standen aber einer klaren Distanzierung vom politischen System des Kaiserreiches entgegen. Denn eines mussten die alten Eliten des Kaiserreiches ja richtig gemacht haben: den Weltkrieg im August 1914 zu beginnen.
Vogt, Nationaler Sozialismus, S. 145. Haubach, Fahne der Republik, S. 774f. 54 Heller, Sozialismus und Nation, S. 99. 52 53
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Das Reichsbanner Vor diesem Dilemma stand auch das Reichsbanner. Nominell wurde es getragen vom katholischen Zentrum, der linksliberalen DDP und der SPD. Tatsächlich überwogen die sozialdemokratischen Aktivisten im Kampf gegen die NSDAP und die KPD, indem sie auf eine dezidiert nationalistische Propaganda zurückgriffen. 85 bis 90 % der Reichsbannermitglieder waren Anfang der dreißiger Jahre Anhänger, Sympathisanten oder Wähler der SPD.55 Überhaupt war das Reichsbanner mit seinen ungefähr 1 Million Mitgliedern mindestens dreimal so groß wie der rechte „Stahlhelm“. Bereits kurz nach seiner Gründung am 22. Februar 1924 kam das Reichsbanner auf ca. 600 000 Mitglieder in 5618 Ortsgruppen und bildete die deutlich stärkste Kraft unter den Wehrverbänden.56 Generell war das Reichsbanner nach einer Formulierung von Karl Rohe seiner ideellen Struktur nach „eine nach ‚rechts‘ verschobene Sozialdemokratie“.57 Den Begriff Klassenkampf vermied man möglichst. Dennoch konnten die Sozialdemokraten ihr ideologisches Gepäck nicht einfach zurücklassen, wenn sie in das Reichsbanner eintraten. In der Mittelphase der Republik herrschte im Reichsbanner die Tendenz vor, in der Nation eine objektive organische, sogar naturgegebene Gemeinschaft, mehr noch aber den Ort der Selbstbestimmung, der Freiheit im Inneren und der Volkssouveränität zu sehen. Auch die solidarisch verstandene Volksgemeinschaft gehörte zu den Kennzeichen der Nation.58 Aus dem Klassenkampf wurde dann der „Abwehrkampf um Kultur und Volksgemeinschaft“. Auch der Internationalismus und das Bekenntnis zur eigenen Nation konnten so zusammenkommen. Das Organ „Reichsbanner“ formulierte: „Der internationale Sozialismus erkämpft der Arbeiterschaft ihr Vaterland.“ Diese additive Synthese wollte durch den Klassenkampf zur Volksgemeinschaft kommen und gleichzeitig ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Nation mit einem „gesunden Klassenbewusstsein“ verbinden.59 Mit Symbolkämpfen machte das Münchener Reichsbanner den rechten Wehrverbänden, insbesondere dem Stahlhelm, die Deutungshoheit über das nationale 57 58 59 55 56
Rohe, Reichsbanner Schwarz Rot Gold; Ziemann, Zukunft der Republik, S. 21. Ziemann, Zukunft der Republik, S. 22f. Rohe, Reichsbanner Schwarz Rot Gold, S. 324. Ebd., S. 248. Zitate in: Ebd., S. 252.
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Bekenntnis streitig. Die Gründungsfeier des Münchener Reichsbanners fand am 7. Juli 1924 im Bürgerbräukeller statt. Das bedeutete eine Umwidmung desjenigen Ortes, wo Hitler acht Monate zuvor zum Putsch gegen die Republik aufgerufen hatte. Das Reichsbanner erzählte die Nation um. Der Ortsvorsitzende Adolf Dichtl forderte zudem, dass der republikanische Verband bei der nächsten Gedenkfeier für die 12 000 Münchner Weltkriegstoten vor dem Armeemuseum ebenfalls vertreten sein müsse, um seine Toten zu ehren. Denn die „Leute auf der Gegenseite [die politische Rechte] haben kein Recht, diese Toten für sich allein zu reklamieren und mit ihnen politische Geschäfte zu machen.“60 Auch das war ein Angriff auf das Monopol der Rechten beim nationalen Totengedenken. Auch im gleichnamigen Presseorgan des Reichsbanners wollte man den Nationalismus keineswegs dem Lager der Rechten überlassen. Die nationalen und vaterländischen Potenziale der deutschen Bevölkerung sollten für die Stabilisierung der Republik nutzbar gemacht werden. Viele Autoren traten für einen Nationalismus ein, der einen demokratischen und republikanischen deutschen Einheitsstaat trug, an dessen kulturellen und materiellen Gütern alle Glieder der Gesellschaft teilhaben konnten. Immer wieder grenzten sich sozialdemokratische Autoren vom Nationalbewusstsein der politischen Rechten ab. Zum zehnten Jahrestag der Novemberrevolution fragte ein Artikel am 11. November 1928: „Wer ist nun wahrhaft ‚vaterländisch‘; sind es diejenigen, die mit abgedroschenen Phrasen auf den Gimpelfang gehen, um die Vorrechte ihrer Kaste zurückzuerobern und wahnsinnigen Racheplänen nachjagen? Oder sind es nicht vielmehr die stillen Arbeiter am Aufbau des Staatswesens, das noch aus tausend Wunden blutet und nur genesen kann, wenn alle seine Bürger die Verfassung von Weimar loyal anerkennen, unbeschadet der freien Kritik an Einzelheiten?“61 Bei aller Distanz zur politischen Rechten und deren ethnisch-kulturellem Nationsverständnis teilte das Reichsbanner in Sprache und Aktionsformen doch einige Annahmen der rechten Wehrverbände. Noch im Gründungsjahr 1924 pries die Bundesleitung zum 10. Jahrestag des Kriegsbeginns den Reformistenführer Ludwig Frank, der am 3. September 1914 gefallen war, und machte ihn zum „Leitstern“ und zum Schutzpatron des Reichsbanners. Der Reichsbanner sollte sich Franks Worte beim Aufbruch an die Front zu eigen machen: „Einer muss die Fundamente des Neuen 60 61
Ziemann, Zukunft der Republik, S. 34f. Zitiert in: Saage, Die gefährdete Republik, S. 283.
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gesehen haben.“ Darin erblickte die Bundesleitung eine Rechtfertigung des eigenen Kriegseinsatzes, aber auch der sozialdemokratischen Unterstützung des Krieges. Ludwig Frank stand für die „Synthese von nationalem und freiheitlichem Wollen“ (Karl Rohe).62 Performativ identifizierte sich das Reichsbanner dadurch aber mit dem „Geist von 1914“ und der Überzeugung von der deutschen Kriegsunschuld beziehungsweise dem Verteidigungskrieg. Damit aber hatte das Reichsbanner kaum mehr die Möglichkeit, die deutsche Rechte und die frühere Reichsregierung im Krieg zu kritisieren. Wie ein verzweifelter Befreiungsversuch musste da die Südtirolkampagne des Reichsbanners anmuten, in der man 1932 der NSDAP nationale Unzuverlässigkeit vorwarf. Bereits am 30. März 1930 hatte Kurt Schumacher auf der Gaukonferenz des Reichsbanners in Esslingen den Nationalsozialisten nationalen Verrat in ihrer Haltung zu Südtirol vorgeworfen, das nicht auf ihrer politischen Agenda auftauchte, weil es Hitler als rassisches Mischgebiet galt: „Das Hakenkreuz will die nationale Idee zur Verkleidung klassenmäßiger Ziele, obwohl dicht daneben stets der nationale Verrat steht, wie das Beispiel Südtirol zeigt.“63 Im Januar 1932 sprach der Kapuzinerpater Adolf Innerkofler auf einer Großkundgebung des Reichsbanners im Berliner Sportpalast über den „Südtirolverrat“ der NSDAP, ohne dass diese Kampagne in irgendeiner Weise bei konservativen Nationalisten verfing, die doch sonst für territoriale Forderungen empfänglich waren.64
Nationaler Linkssozialismus oder sozialistischer Antinationalismus? Die „Synthese von radikalsozialistischer Haltung und aktiver Nationalpolitik“65, wie sie der Kreis um die „Neuen Blätter für den Sozialismus“ nach 1930 an den Tag Ziemann, Republikanische Kriegserinnerung, S. 393; Rohe, Reichsbanner Schwarz Rot Gold, S. 138; Watzinger, Ludwig Frank, S. 172–202. 63 Kurt Schumacher, Rede am 30.3.1930 im Bürgersaal des Alten Rathauses Esslingen auf der Gaukonferenz des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, in: Digitale Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, letzter Zugriff: 16.1.2020: https://www.fes.de/fulltext/ historiker/00781a17.htm. 64 Rohe, Reichsbanner Schwarz Rot Gold, S. 400. 65 Schifrin, Nationaler Linkssozialismus, S. 266. 62
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legte, richtete sich jetzt nicht mehr gegen die immobile Parteihierarchie und deren Organisationsfetischismus, sondern gegen die politischen Gegner auf der äußersten Rechten und Linken. Die militanten Reformsozialisten wie Theodor Haubach, Julius Leber, Carlo Mierendorff und Kurt Schumacher waren besonders kompromisslos gegen den Nationalsozialismus und griffen ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit scharf an. Im Zentrum der öffentlichen Konfrontation stand dabei immer wieder der Vorwurf der NSDAP, die SPD sei eine „Partei der Deserteure“ und eine „Partei des Landesverrats“, wie es Joseph Goebbels am 23. Februar 1932 im Reichstag ausdrückte. An der Haltung zum Krieg sollte sich die Glaubwürdigkeit der SPD entscheiden. Nicht zufällig war die Antwort auf Goebbels Vorwurf eine der schärfsten Reden, die je in einem deutschen Parlament gehalten wurden. Der Kriegsversehrte Kurt Schumacher bestritt der NSDAP rundherum das Recht, über die „sozialdemokratische, durch Opfer an Gut und Blut erhärtete Politik in nationalen Fragen“ zu urteilen. Überhaupt könne die NSDAP nicht für Frontsoldaten sprechen, denn sie stehe „zum größten Teil unter der Führung von Leuten, die sich im Krieg um ihre Militärpflicht gedrückt haben“. Die Agitation der Partei Hitlers sei ein „dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen.“ Das deutsche Volk werde „Jahrzehnte brauchen, um wieder moralisch und intellektuell von den Wunden zu gesunden, die ihm diese Art Agitation geschlagen hat“.66 Die Schärfe dieser Debatte lag darin begründet, dass das sozialdemokratische Bekenntnis zur deutschen Nation an seiner verwundbarsten Stelle getroffen wurde: am Verhältnis von Sozialismus, Krieg und Nation. Die unerbittliche Kompromisslosigkeit der jungen militanten Reformsozialisten führte sie später in den Widerstand gegen Hitler.67 Theodor Haubach, Julius Leber, Adolf Reichwein, Carlo Mierendorff und andere arbeiteten im Kreisauer Kreis mit und wurden nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet. Mierendorff starb bereits 1943 bei einem Bombenangriff auf Leipzig. Dennoch stieß ihr dezidiert national motivierter Widerstand gegen Hitler auch auf Widerspruch in der SPD. Im November 1932 kam es nach den für die NSDAP verlustreichen Reichstagswahlen zu einer Kontroverse zwischen dem Exponenten der Hofgeismarer Richtung Theodor Haubach und Alexander Schifrin, einem ExilMenschewiken, erfolgreichen politischen Kommentator und aufgehenden Stern unter den linken Theoriearbeitern in der Partei. Am 26. November 1932 warf Schif66 67
Zitiert in: Groh/Brandt, „Vaterlandslose Gesellen“, S. 205f. Vogt, Nationaler Sozialismus, S. 411–449.
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rin Haubach in einem Artikel in der „Deutschen Republik“ vor, dass konsequenter Antifaschismus einen vollständigen Bruch mit der gesamten Vorstellungswelt des Faschismus, also auch seines Nationalismus voraussetze. „Ein Linkssozialismus mit nationalen Vorzeichen ist zu einem konsequenten Anti-Faschismus überhaupt nicht fähig. Der Anti-Faschismus setzt das Bewusstsein voraus, dass Sozialismus vom Faschismus durch einen Abgrund getrennt ist, das Bewusstsein der historischen Todfeindschaft. Eine national betonte linkssozialistische Ideologie verhindert die Herausstellung dieser Gegensätzlichkeit, sie führt zu einer direkten Idealisierung des Faschismus.“68 Der Zeitpunkt für Schifrins Kritik war mit Bedacht gewählt. Nach den Novemberwahlen 1932 versuchte der neue Reichskanzler Kurt von Schleicher eine Querfront von sozialdemokratischen und nationalsozialistischen Kräften aufzubauen, die seine Regierung tragen könnte. Dazu zählten die sozialdemokratischen Gewerkschaften und linke Nationalsozialisten wie Gregor Strasser. Für einen kurzen Zeitraum mochte es scheinen, dass ein solches Unterfangen gelingen könnte. In dieser Situation griff Schifrin Haubach als nationalistischen Sozialdemokraten an. Sowohl sein Aufsatztitel wie auch die Erwiderung spielten mit Bedeutungen von „Nationalsozialismus“: war ein „nationaler Linkssozialismus“ möglich – womöglich als politische Kraft an der Seite linker Nationalsozialisten? Für Schifrin war dies ein Ding der Unmöglichkeit, für Haubach nicht. In dem kurzen Moment, in dem sich Sozialismus und Nationalismus anders als im Nationalsozialismus hätten verbinden können, insistierte Schifrin auf der historischen Aufgabe des Sozialismus: auf Antinationalismus und Antifaschismus. Alles andere verwässere das Feindbild und streue Sand in die Augen der Widerstandsfähigen. Für Schifrin war klar: „Der sozialistische Antinationalismus hat in Deutschland eine revolutionäre Sendung zu erfüllen“69 und nicht das Bündnis mit den revolutionären Elementen im Nationalismus zu suchen. In der Tagespolitik bedeutete dies, dass man den Nationalsozialisten nicht den kleinen Finger geben durfte und weder praktisch noch theoretisch irgendwelche Gemeinsamkeiten erlauben konnte. An diesem Punkt widersprach Theodor Haubach. Programmatisch hielt der Redakteur der „Neuen Blätter“ daran fest, dass Begriffe wie Gesellschaft oder Klasse „so lange eine gesellschaftswissenschaftliche Abstraktion sind, solange sie nicht in 68 69
Schifrin, Nationaler Linkssozialismus, S. 267. Ebd., S. 270.
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den konkreten nationalen Raum gestellt werden, in dem allein eine klassengespaltene Gesellschaft, eine kapitalistische Wirtschaft und eine sozialistische Gegenbewegung sich entwickelt. Die Mitarbeiter der ‚Neuen Blätter‘ sind nun in der Tat der Ansicht, dass keine sozialistische Theorie und keine sozialistische Praxis etwas taugt, die die nationale Substanz übersieht, aus deren Urstoff heraus erst die arbeitsteilig differenzierte und klassenmäßig integrierte Gesellschaft des modernen Kapitalismus sich entwickeln kann.“70 Für Schifrin blieb es dabei, dass die „Neuen Blätter“ einem „nationalen Linkssozialismus“ das Wort redeten. In seinem offenen Brief an Haubach charakterisierte er den Kreis als eine Synthese aus Rosa Luxemburg, Jean Jaurès, Friedrich Naumann, Hans Zehrer und Ernst Niekisch. Er teile „mit Naumann die Auffassung von der nationalen Demokratie und das nationale Pathos, das dem sozialistischen vorangeht, mit Zehrer die Bejahung der Dritten Front und die soziale Idealisierung des Nationalsozialismus; mit Niekisch das national-revolutionäre Mäntelchen für eine nationalistische Außenpolitik“. Im Kampf gegen den Faschismus könne es aber nur eine Haltung geben: „sozialistischen Antinationalismus“.71
Fazit Die Aushandlung des Nationalismus in der Weimarer SPD folgte drei Diskursachsen oder diskursiven Spannungen: Internationalismus versus Nationalismus, politisch-subjektive Nation versus ethnisch-kulturelle Nation und Sozialismus und Staat. Zwischen Kriegsende und ungefähr 1920 herrschte auf der Linken, zumal bei der USPD ein starker Internationalismus. Aus ganz unterschiedlichen Gründen hegten die Anhänger Wilsons und Trotzkis, aber auch deutsche Liberale und Katholiken eine internationalistische Naherwartung. Zu sehr schien die alte, von Nationalismus geprägte Welt vor 1914 diskreditiert.72 Doch wurde die internationalistische Naherwartung nicht erfüllt. 1920, spätestens 1923 war man sich in der MSPD darüber im Klaren, dass die vorhersehbare Zukunft weniger internationale, sondern vielmehr nationale Ordnungsmuster aufweisen würde. Haubach, Nationalistischer Linkssozialismus, S. 365 (Hervorhebung im Original). Schifrin, Sozialistischer Antinationalismus, S. 372f. 72 Weichlein, Die alte Schönheit. 70 71
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Den Weg des Anti-Internationalen konnte die SPD nicht gehen. Ihr Internationalismus und die emotionale Bindung daran waren sehr viel älter als der Krieg, anders begründet und konnten schwerlich durch die Jahre 1918 bis 1920 dementiert werden. Wenn sie von Nation sprachen und schrieben, achteten auch Parteiintellektuelle wie Theodor Haubach und die „Neuen Blätter“ immer darauf, nicht anti-international aufzutreten. Die Rede von Nation, Volk und Staat konnte in der SPD nur soweit gehen, dass sie dem Internationalismus der Partei nicht prinzipiell entgegenstand. Parteibasis, Regierungspolitik und die Parteiintellektuellen folgten nicht dem Gegensatz von Nationalismus versus Internationalismus, der für die politische Rechte so entscheidend war. Keiner der hier untersuchten Sozialdemokraten bekannte sich zu einem rassistischen Begriff der Nation. Auch die ethnisch-kulturelle Auffassung von Nation fand sich nur selten. Dafür gab es eine Vielzahl von politischen Zugängen zur Nation, die zwischen einer subjektiven Willensgemeinschaft und einer objektiven Schicksalsgemeinschaft schwankten. Das politische Verständnis der Nation bezog sich zumeist auf das Kollektiv der Deutschen und nicht subjektiv auf den Einzelnen. Die zentrale Achse der Debatte um Nation aber war das Verhältnis der Sozialdemokratie zum Staat. Das erklärt auch, dass die Diskursformationen zur Regierungsbeteiligung, Koalitionsbildung und im Verhältnis zu Nation und Nationalstaat sich ähnelten. Wer für einen sozialdemokratischen inkludierenden und berechtigenden Nationalismus war, war tendenziell auch für die Teilnahme an Regierungskoalitionen. Legt man ein Kontinuum von politisch-subjektiver Nation bis hin zur ethnisch-kulturell-kollektiven Nation an, dann ist der Befund für die Weimarer SPD nur schwer abzubilden, weil die Nation für die Sozialdemokraten, die dazu Stellung bezogen, eindeutig politisch auf den Staat und die Verfassungsordnung bezogen war, aber gleichzeitig vom Kollektiv einer Schicksalsgemeinschaft ausging.
Literatur Adler, Max: Koreferat zu Hermann Heller „Staat, Nation und Sozialdemokratie“ (1925), in: Drath, Martin/Müller, Christoph (Hg.): Hermann Heller, Gesammelte Schriften. Bd. 1, Leiden 1971, S. 542–553. Adler, Max: Die Staatsauffassung des Marxismus: Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode. Wien 1922. Albrecht, Stephan: Hermann Hellers Staats- und Demokratieauffassung. Frankfurt/M. 1983.
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Die Neuerfindung der Nation. Westdeutscher Staatsaufbau nach 1945 Marianne Zepp Im Dezember 1945 rief die Frankfurter Journalistin Hedi Knoll zur Gründung eines Frauenausschusses auf und begründete dies mit der Verantwortung für die Wiedererstehung einer deutschen Nation. Diese Wiedererstehung sollte nicht ohne den Einfluss der Frauen stattfinden.1 Noch konnte allerdings nicht von Institutionen die Rede sein, die einen souveränen Staat bilden und hätten repräsentieren können. „Wir haben einen neuen Staat zu organisieren, nicht einen neuen Staat zu schaffen.“2 Als der Abgeordnete (und spätere erste Außenminister der Bundesrepublik) Heinrich von Brentano im ersten deutschen Bundestag diese Worte anlässlich der ersten Regierungserklärung Adenauers sprach, umriss er das Selbstverständnis der meisten seiner männlichen und wenigen weiblichen Kolleg:Innen, die das erste westdeutsche Parlament bildeten. Er verwies damit auf die Kontinuität der deutschen Nation und zugleich auf die Brüchigkeit und in den Augen der Zeitgenossen auf die Vorläufigkeit des Staates, der diese Nation repräsentieren sollte. Die meisten Politiker:Innen (und mit ihnen die Mehrzahl der Westdeutschen) sahen durch die Niederlage nicht das Ende eines einheitlichen deutschen Staates gekommen. Voraussetzung dafür war, dass man von der Existenz einer deutschen Nation auch weiterhin ausging. Zugleich war der Akt der Konstituierung eines Weststaates – angesichts der in Ostberlin bereits vollzogenen Gründung und der Bildung einer Regierung – in dem Verständnis der Westdeutschen zwar ein notwendiger 1
2
Helli Knoll, Die Stimme der Frau. Wegbereiter der deutschen Frau. Frankfurter Rundschau 31.12.1945. Protokolle des Deutschen Bundestages, 6. Sitzung v. 21. September 1949.
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Schritt, er konnte aber angesichts dieser sich allmählich manifestierenden Teilung nur ein vorrübergehender sein. Mit Ausnahme der Kommunisten im ersten deutschen Bundestag gab es einen parteiübergreifenden Konsens, in der Tradition einer gesamtdeutschen Nation zu handeln und zu sprechen. Der in dem Besatzungsstatut festgelegte Handlungsrahmen billigte den Deutschen die Möglichkeit eines Staatsaufbaus zu, schränkte ihre Souveränität aber noch erheblich ein. Nicht nur diese äußeren Voraussetzungen schienen fast unüberwindlich. Entscheidend war die völlige moralische Diskreditierung der Deutschen. Wie sollte die politische Elite eines Landes, das den ganzen Kontinent mit einem Eroberungskrieg überzogen und in bisher ungeahntem Ausmaß die Vernichtung anderer Völker und Minderheiten initiiert hatte, eine neue Staatlichkeit begründen? Der Aufbau dieser Staatlichkeit begann unmittelbar nach dem Sieg der Alliierten und der bedingungslosen Kapitulation. Die Niederlage traf auf eine „Zusammenbruchsgesellschaft“, die sich nicht nur in den Kriegsfolgen, in den Zerstörungen der Städte und der katastrophalen Versorgungslage der ersten beiden Nachkriegsjahre ausdrückte. Durch die Öffnung der Konzentrationslager durch die vorrückenden alliierten Armeen wurden die Verbrechen allen Deutschen deutlich vor Augen geführt. Diese durch die Alliierten erzwungene Konfrontation führte am Beginn keineswegs zu Einkehr und Schuldanerkenntnis. Es begann eine individuelle und kollektive Sinnsuche, die aus Abwehr, Selbstbehauptung und dem Willen zu einem Neuanfang bestand. Die „Schlüsselfrage der deutschen Nachkriegsgeschichte“3 lautet also, wie konnten die Deutschen den Weg zurück zu einer bereits vor 1933 in Ansätzen entwickelten Demokratie finden? Dieser Anfang war gekennzeichnet durch die Abkehr von Militarismus und Nationalismus und dem Bekenntnis zu einer von den Westalliierten initiierten demokratischen Ordnung. Auf diese Ausgangslage gab es unterschiedliche, sich teilweise widersprechende und miteinander konkurrierende Rekonstruktionsversuche, die sich von Anfang an deutlich an den allliierten Vorgaben orientierten und auf zivilisatorischen Aufbau von unten setzten. Oder eines Nationalbewusstseins, das sich in Teilen aus weiter zurückliegenden Traditionsbeständen bediente und auf die Erfahrungen der Wei3
Jarausch, Umkehr, S. 26.
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marer Zeit rekurrierte. Dieses musste nach 1945 zumindest nominell modifiziert werden. Wie sah die Legitimation innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft für eine Staatsgründung aus und wie formulierte die politische Elite eine Nationalgeschichte unter den Bedingungen der totalen Kriegsniederlage und der Auflösung der staatlichen Ordnung? Auf welche Traditionsbestände griffen diese Rekonstruktionen zurück, wie begründete die Politiker:innen und Aktivist:innen der erste Stunde den Neuanfang und wie sah das moralische Geländer aus, mit dessen Hilfe man die Besatzungsmächte – und das Ausland insgesamt – überzeugen wollte, nationale Souveränität wieder zu erlangen? Die politische Ausgangslage war von drei Einflüssen gekennzeichnet: der Auseinandersetzung mit und gleichzeitigen Abgrenzung vom Nationalsozialismus, den Einwirkungen und der Zusammenarbeit mit den alliierten Besatzungsmächten und der beginnenden „reaktiven Mechanik des Kalten Krieges“. Eine wie auch immer geartete Staatsangehörigkeit wurde auch unter dem Besatzungsstatus nicht in Frage gestellt – wenn auch zunächst negativ definiert. Das Deutsche Reich war besetzt, aber als Völkerrechtssubjekt nicht aufgelöst, in allen vier Besatzungszonen wurde die Vorstellung einer gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit aufrecht erhalten.4 Durch das Konstrukt von weitgehend autonomen Ländern als erste staatliche Organisationen konnte in der Folge über die Zeit der Besatzung, über 1949 hinaus, die Fiktion einer Rechtskontinuität aufrechterhalten werden. Der Bruch, der 1945 durch die bedingungslose Kapitulation manifest geworden war, hatte somit die konstitutionellen Bedingungen weniger verändert als es auf den ersten Blick erschien. Demokratisierung durch Institutionenaufbau und Rechtssicherheit, soziale Expansion und Nationenbildung, die als Kriterien zur Ausformung staatlicher Herrschaft des 19. und 20. Jahrhunderts galten, waren nach wie vor gültig. Zugleich wurde im Akt der Staatsgründung ein nach westlichem Muster ausgerichtetes republikanisches Modell von Staatsbürgerschaft umgesetzt. Daher gilt für das westliche Nachkriegsdeutschland, dass die historische Begründung von Staatsbürgerschaft dazu diente, Kontinuität und Einheitlichkeit aufrecht zu erhalten. Es wurden Elemente betont, die auf Mitgliedschaft und Teilhabe, aktive und passive 4
Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 421; zur rechtsgeschichtlichen Analyse von Bruch und Kontinuität: Rückert, Beseitigung des Deutschen Reichs, S. 83f.
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Aspekte in den Beziehungen zwischen Staat und Individuum, auf politische Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten abzielten. Darin sahen besonders die sich mit Unterstützung der Alliierten bildenden Frauenorganisationen und ‑vereine die Chance, weibliche Teilhabe vehement einzufordern. Auch in dem Prozess des „nation building“, dem Aufbau staatlicher Institutionen, wie an dem unten ausgeführten Beispiel der Diskussion um die Wahl der Nationalflagge sichtbar wird, wird nicht zufällig auf die Freiheitsbewegungen und auf das erste deutsche Parlament als Ausdruck einer demokratischen Einigungsbewegung im 19. Jahrhundert Bezug genommen. Diese normativ aufgeladene Traditionsbildung bediente sich zwar aus dem Arsenal westlich republikanischer Vorstellungen, was nicht zuletzt auf die Interventionen besonders der amerikanischen Besatzungsmacht zurückzuführen war, gleichzeitig wurden auch Staatsvorstellungen reformuliert, die sich aus dem Repertoire einer nationalen Mythenbildung bedienten. Das Aufgreifen von Traditionen, die auf eine kulturelle Gemeinschaft der deutschen Nation zurückgriffen, verdichtete sich zu einem „neuen deutschen Kulturuniversalismus“5, einem überzeitlichen, von staatlichen Institutionen abstrahierenden Begriff von Nation. Zwar waren primordiale Begründungen der Nation nach 1945 in der öffentlichen Diskussion weitgehend ausgeschlossen, die normative Neubegründung des Nationenbegriffs stand jedoch an, besonders angesichts der weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossenen, aber dennoch ihre latente Wirkmächtigkeit bereits entfaltende Schuldauseinandersetzung. Am Beispiel der Interventionen deutscher Historiker sollen Legitimationsnarrative nachgezeichnet werden, die sich durch Umschreibungen, durch Behauptungen von Bruch und Kontinuität als nationale Sinnstiftungsleistungen anboten. Zugleich veränderten sich die Bedingungen des Politikmachens. Zwei Entwicklungen setzten in der Mitte der Besatzungszeit ein. Mit der Ausbildung nationalstaatlicher Institutionen wurden die Handlungsspielräume größer, die Zusammenhänge, in denen Politik formuliert wurde, komplexer. Nicht nur die Idee, auch die Praxis nationalstaatlicher Politik wurde relevant, Institutionen bildeten sich heraus, von denen angenommen wurde, dass sie demnächst politische Macht und Verantwortung repräsentieren und ausüben würden. In den Diskussionen und Ent5
Giesen/Junge, Nationale Identität und Staatsbürgerschaft, S. 528.
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scheidungen über repräsentative Symbole formierten sich die Vorstellungen über eine zukünftige Staatsverfassung. Nach außen begann sich der Ost-West-Gegensatz auszuwirken, in dessen Kräftefeld ab Ende 1947 sich grundsätzliche Richtungsentscheidungen abzubilden begannen. Die programmatischen Aussagen dieser Zeit verdichteten sich zu einer auch außenpolitisch relevanten Hinwendung nach Westen, die neben der pragmatischen sicherheitspolitischen Überlegung auch als Werthaltung gesellschaftspolitisch wirkmächtig wurde. Der Preis dieser Konsolidierung war allerdings hoch, er bestand in einer Integrationsleistung, die auf Schuldverdrängung, auf der Konstruktion einer nationalen Opfergemeinschaft und auf rigiden Exklusions- und Inklusionsmechanismen gegenüber denjenigen bestand, die zur Opfergemeinschaft gezählt wurden beziehungsweise daraus ausgeschlossen wurden.
Die Nationenkonzepte der Historiker: Rekonstruktion deutscher Bürgerlichkeit Bereits 1946 bzw. 1947 griffen Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter in zwei programmatischen Schriften ein Katastrophen- und Krisennarrativ auf, das die deutsche Nation als Handlungs- und Deutungsrahmen und als zentralen Bezugspunkt weit über die unmittelbaren Nachkriegszeit aufrecht erhielt.6 Zugleich verstanden sich die Historiker als eine Instanz, um den „Deutschen am Grabe ihrer Vergangenheit“7 Wertvorstellungen, Deutungsrahmen und Sinngebungen mit den Mitteln einer Vergangenheitserzählung zu vermitteln. Beide Autoren standen für die personelle Kontinuität der Historiker über den Bruch von 1945 hinweg. Die Deutungen in den beiden hier zitierten Fällen beziehen sich auf den Nationalstaat als Einheit von Ethnie und Kultur, sind ideengeschichtlich begründet und bestrebt, weiterhin von einer deutschen Nation auszugehen. Beide in Essayform verfassten Schriften greifen auf Arbeiten aus der Endzeit der Weimarer Republik zurück. Sie rekurrieren damit auf Denkmuster aus der Spätzeit der Weimarer Republik, die auf Deutungsmuster einer vom Nationalsozialis6 7
Ebd. Zitat Gerhard Ritter, in: Metzler, Staat der Historiker, S. 59.
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mus nichtkontaminierten Vergangenheit verweisen8. Beide Schriften bedienen sich einer durch persönliche Autorität begründeten auktorialen Sprechweise, die u. a. durch ihre unangefochtene Stellung innerhalb der Fachdisziplin begründet war9, wobei sie sich durch eine Distanz zum Nationalsozialismus und durch die Nähe zum Widerstand, auf den beide sich nach 1945 wiederholt beriefen, zusätzlich moralisch legitimiert sahen.10 Subjektivität, Moral und wissenschaftliche Autorität vermischen sich zu einem Anspruch der Unhinterfragbarkeit. Der Verfasser tritt dem Lesenden nicht nur als Wissenschaftler entgegen, sondern auch als moralische Instanz. So begründet Meinecke seine Position mit der Kontinuität seines Denkens und der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus: „Die hier gebotenen Betrachtungen sind nicht erst eine Frucht der heute eingetretenen Endkatastrophe. Ich habe von vornherein die Machtergreifung Hitlers als den Beginn eines allergrößten Unglücks für Deutschland angesehen (…) Es ist das geistige und politische Gegenlager zu Hitler, das (…) hier zu Worte kommt“.11 Ritter wiederum sieht sich als Bewahrer einer Gemeinschaftsvorstellung, die er als Grundlage des Staatsaufbaus interpretiert: „Denn wie sollte es gelingen, einen innerlich gesunden, d. h. vom Vertrauen des ganzen Volkes getragenen deutschen Staat aufzubauen und zu erhalten, wenn das geschichtliche Selbstbewusstsein unseres Volkes verkümmert und als alle lebendige Tradition einfach abreißt?“12 Voraussetzung war ein Nationenbegriff, der auf vordemokratische Gemeinschaftsvorstellungen gründet: „Lebensform eines Volkes nennen wir hier die Gesamtheit ideeller und materieller Lebensgewohnheiten, Einrichtungen, Sitten und Denkweisen, die durch ein inneres Band, durch ein von innen her gestaltendes Prinzip, zu einer großen, nicht immer genau definierbaren, aber intuitiv zu erfassenden Einheit verknüpft erscheinen.“13
8 9
12 13 10 11
Schildt, Intellektuelle Positionen, S. 21. Zur institutionellen Kontinuität innerhalb der deutschen Historikerschaft nach 1945 siehe Metzler, Staat der Historiker, S. 57ff. Conrad, S. 64; zu Ritter siehe auch Solchany, Antimodernismus, S. 379. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 7. Ritter, Das deutsche Problem, S. 8. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 129f.
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Ausdrücklich schließt Meinecke an seine Vorstellungen der „Kulturnation“ an, die es nun angesichts des politischen Endes des deutschen Reiches als „eine ihren Geist rein erhaltende Kulturnation“ zu retten gelte.14 Dieses Konstrukt einer überzeitlichen Kulturnation erlaubte es, dass man weiterhin auf die machtstaatliche Vorstellung Deutschlands als einer europäischen Mittelmacht setzte,15 um „einen geläuterten nationalen Machtstaatsgedanken“16 in die Zukunft hinüber zu retten, ein Anspruch, der deutlich im Widerspruch zu den herrschenden sozialen und politischen Verhältnissen stand. Die mit der totalen Niederlage einhergehende Delegitimierung eines deutschen Machtstaates, die sich nicht zuletzt in einem durchgreifenden Besatzungsregime äußerte, die fragliche Zukunftsaussicht für die Nationalstaatlichkeit, all das scheint sich in den Darlegungen kaum widerzuspiegeln. Vielmehr stellen sie den Versuch dar, Kontinuitäten nicht nur zu bewahren, sondern in Persistenz neu zu begründen. Dazu bedurfte es einer aus der Ideengeschichte extrahierten Rechtfertigung, die sich vor allem auf ältere Traditionsbestände bezog.17 Die Leitplanken dieses aus den Kreisen der „kulturkonservativen Historiker“18 entwickelten Konstrukts waren Christentum, Bürgerlichkeit (der „abendländischchristliche Gemeinbesitz“ der Nation19) und besonders bei Meinecke die deutsche Klassik. Das Bürgertum wird als Träger und als überzeitlicher Garant der deutschen Nation gezeichnet.20 Auch bei Ritter erscheint die Abkehr vom bürgerlichen Zeitalter des 19. Jahrhunderts als Niedergangs- und Verlustgeschichte, der Nationalsozialismus als ein „proletarischer Nationalismus“ und in „bewusste(m) und totalen Gegensatz zu dem bürgerlichen Zeitalter“.21 So an Gustav Mayer am 22.3.1946, in: Sösemann, Friedrich Meinecke, S. 227. So schreibt Ritter in seiner Einleitung zu seiner Schrift „Europa und die deutsche Frage“ (S. 7:) „Das deutsche Volk, am äußersten Tiefpunkt seines Schicksals angelangt, will doch die Hoffnung nicht fahren lassen, eines Tages wieder einen würdigen Platz in der Gemeinschaft der europäischen Nationen einzunehmen.“ 16 So Eugen Kogon, zit. nach: Sösemann, Meinecke, S. 243; Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 40. 17 Berg, Holocaust „Politische Freiheit ist ohne nationalstaatlichen Rahmen nicht denkbar.“ Zitat Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 104. 18 Ebd. 19 Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 166. 20 Berg, Holocaust, S. 70. 21 Ritter, Europa und die deutsche Frage, S. 192. 14 15
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Dieser Entwurf einer rückwärts gewandten Utopie der Verschmelzung von Macht und Geist wird uminterpretiert zur Begründung eines moralisch und ethisch gerechtfertigten Deutschtums, das sich durch die Versöhnung zwischen nationalpolitischen Ansprüchen und ethischer Grundierung des Staates auszeichnet. Es geht um eine „Synthese von Macht und Kultur“.22 Diese zeichnete sich aus durch einen „festgegründeten Rechtsstaat, behagliche bürgerliche Ordnung, liberale Werte von persönlicher Freiheit, Selbstbestimmung und Würde“23. Dabei dient das Konstrukt des Individuums der Goethezeit als Bezugspunkt dieses spezifisch deutschen Ethos: „Der Mensch der Goethezeit war der Mensch der freien Individualität und zugleich der humane Mensch gewesen, der gegenüber der Gemeinschaft Pflicht ‚edel, hilfreich und gut‘ zu sein, anerkannte und übte.“24 Ihre eigene Rolle sahen die Autoren darin, nach der Katastrophe, erste Wegweiser zur historischen Selbstbesinnung25 zu geben. Zeitzeugenschaft gilt als der Akt, Authentizität herzustellen und jene „Zeitatmosphäre“, „in der sich unser Schicksal vollzog, und die man kennen muss, um unser Schicksal ganz zu verstehen.“26 So schrieb Ritter 1948 von der „unmittelbaren politischen Pflicht“ deutscher Historiker, eine „vorurteilsfreie Revision des herkömmlichen deutschen Geschichtsbildes“ zu liefern.27 Seine unvermittelte politische Intention beschreibt er als nationale Pflicht: „In einer solchen Lage wird das Bemühen deutscher Historiker um eine nüchterne, gründliche, nach beiden Seiten vorurteilsfreie Revision des herkömmlichen deutschen Geschichtsbildes zu einer unmittelbaren politischen Pflicht.“28 Auch in der Wiederauflage seiner Schrift von 1962 stellt Ritter seine politischen Beweggründe nochmals klar: „Was den Verfasser 1948 zu dieser Arbeit trieb, war das als dringend empfundene Bedürfnis, sich mit der Flut von Anklagen gegen die deutsche Geschichte und das deutsche Staatsleben auseinanderzusetzen, die uns damals nach der großen Katastrophe des Hitlerreichs, vor allem vom Ausland her über-
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Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 27. Ebd., S. 30. Ebd., S. 44. Ritter an Meinecke, in: Sösemann, Friedrich Meinecke, S. 230. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 6f. Ritter, Europa und die deutsche Frage, S. 8. Ebd., S. 8.
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schwemmte.“29 In der Diktion von 1948 liest sich das noch als das „grenzenlose Misstrauen der Welt gegen uns“, die Wahrnehmung Deutschlands als „gemeingefährliche Nation, die unter ständiger Bevormundung und militärischer Dauerüberwachung gehalten werden müsse.“30 Beide Schriften können als Beispiele „eines wiedererstandenen Historismus“ (Cornelißen) in der Nachkriegszeit gelten31, in dem das geschlossene Weltbild einer wiedergeborenen Nation zelebriert wird. So beruft sich Ritter in seiner Schrift „Romantik und Idealismus“ dezidiert auf Ranke, wenn er die „politische Gemeinschaft zugleich als geistige, der Gemeinschaft der nationalen Kultur“ definiert und „den Staat als dessen Repräsentanten“ nachgeordnet zitiert.32 Der hier wiederbelebte Nationenbegriff gründete auf Wesenhaftigkeit, auf ein organisch entwickeltes gemeinschaftliches kulturelles Erbe, das sie auch nach 1945 nicht in Frage gestellt sehen wollten. Beide Schriften führen die kulturelle und ideologische Funktion ihrer historischen Analysen aus den 30er und beginnenden 40er Jahren fort, nun allerdings mit der aus den Verhältnissen der Niederlage abgeleiteten Defensive, die ihren Anspruch moralischer und intellektueller Autorität offensichtlich nicht minderte. Die Katas trophenmetaphorik dient dabei der Gegenwartsbeschreibung. Die „Katastrophe“ ist die metaphorisch-unbestimmte Zustandsbeschreibung vor und während der Niederlage.33 Damit werden das Dritte Reich, der Nationalsozialismus und die Kriegsniederlage mit der Metaphorik eines Naturereignisses als unausweichlich beschrieben. Das Stilmittel der Metaphorik dient zugleich der Schuldabwehr und dem Unkenntlichmachen jeglicher Handlungsalternativen und Verantwortlichkeiten. Ein weiteres Leitmotiv beider Schriften ist der Antimodernismus, der in dem Begriff der „Masse“ eine degenerative Erscheinungsform von Öffentlichkeit beschreibt und aus dem heraus die demokratischen Beteiligungsformen, wie sie sich in Weimar ausgebildet haben, als Gefährdung staatspolitischer Geschlossenheit interpre 31 32 33 29 30
Ritter, Das deutsche Problem, S. 7. Ritter, Europa und die deutsche Frage, S. 7 Wolfrum, spricht von „Späthistorismus“ in: Geschichte als Waffe, S. 63. Ritter, Europa und die deutsche Frage, S. 66f. Im Gegensatz zu Metzler und Conrad, die den Begriff in beiden Schriften als auf die Nachkriegszeit angewendet interpretieren, ist einzuwenden, dass es die situative Unbestimmtheit ist, die die Argumentation charakterisiert, wohingegen Sösemann darauf verweist, dass Meinecke den Katastrophenbegriff bereits für die Zeit ab 1933 verwendet: Sösemann, Friedrich Meinecke, S. 25.
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tiert werden34. Die Erfahrung der Dynamisierung des Modernisierungsprozesses während dieser Periode deutscher Geschichte dient dabei als Folie einer neu aufgelegten Distanzierung gegenüber der Moderne als Bedrohung von Tradition und Kultur35. So wird die erste deutsche Republik als System „eines ins Kraut schießenden Parlamentarismus“ gekennzeichnet.36 An anderer Stelle führt Ritter aus: „Die Gefahr zu solchem Umschlag“ – von demokratischer zu autoritärer Herrschaft – sei „überall da gegeben, wo nach dem Zerbrechen alter historischer Autoritäten die unmittelbare Volksherrschaft vom ‚Aufstand der Massen‘ her versucht wird, ohne Aufgliederung dieser Massen durch föderative und korporative Organe oder durch die Tradition alter politischer Eliteschichten“.37 Weimar steht hier für die Entmachtung der das Ethos verkörpernden bürgerlichen Schichten. In diesem Konstrukt eines ethisch grundierten, durch das Bürgertum getragenen Nationalismus wird argumentativ nach 1945 der für die Spätzeit der Weimarer Republik charakteristische Antidemokratismus fortgeführt. „Was sollte das Massenmenschentum der modernen Industriegesellschaft mit den liberalen Freiheitsrechten anfangen, die ihm die neue Weimarer Republik verhieß? Diese Arbeiter und Kleinbürger, Millionen abhängiger Existenzen, alle vom Tages‑, Wochen- oder Monatslohn lebend, empfinden gemeinhin keinerlei Bedürfnis zur Übernahme öffentlicher Verantwortung; gleichwohl besitzen sie durch ihre Stimmenzahl ein großes politisches Schwergewicht. Diese Massen sind immer geneigt, jedem Agitator zuzujubeln, der in der Einförmigkeit ihres Lebens eine gewisse Bewegung bringt, der ihnen überdies ein besseres Auskommen verheißt und ihrem Selbstgefühl zu schmeicheln versteht.“38 Die Wiederauflage dieses Kulturpessimismus und dessen Fortschreibung in die Zeit nach 1945 wurde verstärkt durch die Erfahrungen des Abgleitens in den Nationalsozialismus und daraus abgeleitet die Deutung der Manipulation und der Verführbarkeit der „Massen“. Die damit verbundene Hierarchisierung des Sozialen und Über die Funktion des Antimodernismus in diesem Zusammenhang siehe Ullrich, Weimar-Komplex, S. 101. 35 Schildt, Intellektuelle Positionen, S. 15; Solchenay, Vom Antimodernismus zum Antitotalitarismus, S. 389. 36 Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 107. 37 Ebd., S. 192. 38 Ritter, Das deutsche Problem, S. 185. 34
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die Denunzierung von demokratischer Partizipation39 dienten nun in dem Kontext der „Katastrophe“ der Exkulpierung. Es war das Konstrukt eines ethisch gesinnten Bürgertums, das die „großen Traditionen des 19. Jahrhunderts, des bürgerlichen Nationalismus“ trug und sich nicht zuletzt durch „viele Beispiele aufrechter Männlichkeit“ auszeichnete.40 Das Bürgertum habe nach Ritter bereits nach dem Ersten Weltkrieg seinen entscheidenden Einfluss eingebüßt41, um dann der „Lebensform der Gewissenlosigkeit“42 endgültig zum Opfer zu fallen. Der Freiheitsbegriff wird nicht individuell begründet, sondern als Ausdruck eines „Gemeinschaftsgeistes“ uminterpretiert. Auch hier dient die pejorative Besetzung des Begriffs der „Masse“ zur Abwehr eines „zu viel an Freiheit“.43 Vielmehr wird in der historischen Analyse die Gefahr einer „kollektivistischen Demokratie“, deren Ursprung in der Durchsetzung des Volkswillens in der Französischen Revolution verortet wird, beschworen.44 Beide Schriften sind trotz unterschiedlicher Gewichtungen und Tonarten gekennzeichnet durch Exkulpierung und Apologetik. Bei Ritter geschieht dies durch Rückgriffe auf die Bismarckzeit, die er in einer Niedergangserzählung des 20. Jahrhunderts deutet. So trennt er in einem ersten Schritt mit „wasserdichten Schotten“ das deutsche Kaiserreich von der Entwicklung zum Dritten Reich.45 Mit dieser Diagnose des Niedergangs des Bürgertums wird zugleich die Entlastung der nationalen Gemeinschaft verbunden.46 „Es wäre voreilig und ungerecht, damit unser Volk allein zu belasten und den Nationalsozialismus mit seinen Gewaltmethoden für eine Art Erblast der Deutschen zu erklären. Er gehört vielmehr in ein Zeitalter des allgemeinen Kulturverfalls, der Glaubenslosigkeit und des moralischen Nihilismus hinein, deren Auswirkungen im 41 42 43 44 45
Middendorf, Masse. Ritter, Europa und die deutsche Frage, S. 194. Ebd., S. 189. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 132. Metzler, Staat der Historiker, S. 75f. Ritter, Europa und die deutsche Frage, S. 47f. Meinecke, Die deutsche Katastrophe S. 131; Wolfrum, Tradition und Neuorientierung, S. 52. So weist auch Conrad darauf hin, dass Ritter zwischen der Bismarckzeit und dem Nationalsozialismus zwei Jahrhunderte vergehen lässt: Conrad, Auf der Suche, S. 66. 46 Ritter, Europa und die deutsche Frage, S. 192, „Wendepunkt, an dem es mit den großen Traditionen des 19. Jahrhunderts, des bürgerlichen Nationalismus zu Ende ging“. 39 40
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Bereich der Politik erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutlicher sichtbar wurden.“47 Der entscheidende Anstoß kam jedoch von außen: Hitler, der nach Ritters Ansicht geprägt war, von dem „Völkerchaos im Donauraum“48, dessen Rassenfanatismus allerdings, wie er feststellt, im Reich auf fruchtbaren Boden fiel. Mit „Hitler kam etwas Neues“, Verbrechernaturen, zu jeder Schandtat bereit“.49 Für Meinecke handelt es sich um österreichischen Antisemitismus50. Hitler sei „ein Demagoge artfremder Abstammung“51. Die Schuldfrage wird durch die Flucht in die Metaphorik abgehandelt: „Das deutsche Volk war nicht etwa von Grund aus an verbrecherischer Gesinnung erkrankt, sondern litt nur an einer einmaligen schweren Infektion durch ein ihm beigebrachtes Gift.“ Dadurch ließ es sich für „begrenzte Zeit auf einen Irrweg zwingen“.52 Diese Externalisierung der nationalsozialistischen Herrschaft und ihrer Träger wurde damit als Topos gesetzt, der seine Wirksamkeit erst in den folgenden Jahren voll entfaltete. Weit entfernt war man von einer Haltung der Anerkennung der eigenen Täterschaft als Nation53, vielmehr ging es um Rekonstruktion, um Traditionsbehauptung und um Abwehr der alliierten Zumutungen. Indem man die Tatsache der Besatzung und der Entmachtung des Politischen ausblendete, stand als einzige Alternative die deutsche Kulturnation mit ihrem zeitlosen Ethos als Bezugsrahmen zur Diskussion. Diese Mischung aus „dezidierter Kritik, „einem analytischen Zugriff “ und einem „dämonisierenden Irrationalismus“54 verweisen auf das Unzeitgemäße dieser Interpretationen. Immer wieder wird auf das Fehlen von Alternativen, auf den zwangsweisen Verlauf des Geschehens hingewiesen, der nationale Rahmen als unhinterfragbar dargestellt. Sie zeugen von den Versuchen der Aneignung und der Uminterpretation eines deutschen Sonderwegs55, während zugleich gegenüber den 49 50 51 52 53 54 55 47 48
Ritter, Europa und die deutsche Frage, S. 199. Ebd., S. 117. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 133. Ebd., S. 91. Ritter, Das deutsche Problem, S. 190. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 140. Berg, Holocaust, S. 48f. Ebd., S. 69. So u. a. Ritter in seiner Abhandlung „Neudeutscher Nationalismus“: „daß dieser freudige Zukunftsglaube noch nicht das Produkt einer nationalistisch verkrampften, den Frieden
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politischen Ordnungsvorstellungen der Alliierten eine defensive und teilweise aggressive Abwehr statuiert wird. Ein Bekenntnis zu einer pluralen Demokratie blieb aus und die Konsequenzen der „Katastrophe“ wurden in ihrer vollen Tragweite abgewehrt. Während Meinecke zur Revision aufrief und den deutschen Irrweg in einen übersteigerten Nationalismus durchaus kritisch konstatierte, sah Ritter sich eher in der Rolle, in aggressiver Abwehr ein neues deutsches Selbstbewusstsein einzufordern. Beide Schriften waren gleichzeitig als „Bewältigungsliteratur“ zu lesen. Im Prozess des demokratischen Wiederaufbaus nach dem Nationalsozialismus waren sie eine Übergangserscheinung mit eingeschränkter Wirkungskraft im Politischen.56 Dennoch nahmen sie in den vierziger Jahren voraus und formulierten aus, was die sich nun in ihren Konturen abzeichnende intellektuelle Kultur der Adenauer-Zeit auszeichnete: Die Kontinuität biographischer, generationeller und gruppenbiographischer Zusammenhänge.57 Diese als existentiell empfundenen Diskussionen58 der unmittelbaren Nachkriegszeit markieren die Suchbewegungen zwischen dem Bemühen der Kontinuitätsbehauptung und einer Neujustierung der Nation. Das erklärt auch, warum diese Geschichtsinterpretationen eine große Resonanz in der Öffentlichkeit entfalteten.59 Sie trugen durch die Auswahl ihrer Traditionsbezüge und deren Deutungen dazu bei, jegliches „Revisionsansinnen“60 aus der Debatte herauszuhalten. Sie grundierten den Nationenbegriff jedoch weiterhin auf die Vorstellung eines homogenen Volksbegriffs. Nicht zuletzt darin zeigte sich ihre „Modernisierungsresistenz“.61 In ihnen manifestiert sich ein Kennzeichen der politischen Kultur in der unmittelbaren Nachkriegszeit: Ausblendung von Realpolitik und Trennung von Gesinnung und Politik62. Die Reichweite des Volksgedankens
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Europas bedrohenden Geisteshaltung gewesen ist, sondern zunächst einfach Ausdruck gesunden Lebenswillens – des Lebenswillens einer aus politischer Ohnmacht und tiefer Demütigung aufsteigenden Nation.“ (Ritter, Europa und die deutsche Frage, S. 68.) Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 7, 14. Ebd., S. 22. Ebd., S. 3. Siehe zur Auflagenstärke bis 1965 (6. Aufl.) und zur internationalen Verbreitung durch Übersetzungen Sösemann, Friedrich Meinecke, S. 40–46. Eckel, Intellektuelle Transformationen, S. 140. Lübbe, „Verspätete Nation“, S. 84. Schildt, Intellektuelle Positionen, S. 27.
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lässt sich bis weit in die 60er Jahre nachverfolgen. Er wurde allerdings überlagert – auch bedingt durch einen Generationenwechsel – durch die Abwehr national begründeter Staatsvorstellungen.63 Während im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik ein „ausgeprägter Pragmatismus“, eine durch wachsenden Wohlstand und durch den Gegensatz zum Osten unheroische konstitutionelle demokratische Ordnung vorherrschte64, wurde in den 60er Jahren die Gleichheitsfrage neu gestellt und der demokratische Grundkonsens in den folgenden Jahrzehnten auch im Hinblick auf die Vergangenheit auf den Prüfstand gestellt. Das Selbstverständnis der Bundesrepublik verfestigte sich in der Behauptung, ein „postnationaler Staat“ zu sein. So markieren die beide Schriften den Beginn der Suche nach einer bundesrepublikanischen Identität über Geschichtspolitik65, die die Ambivalenz zwischen einer überzeitlichen Kulturnation und der Herausbildung einer unheroischen Staatsnation nicht lösen konnte und wollte.
Weiblichkeit als politisches Argument. Nation, Demokratie und Teilhabe66 Auf der politischen Handlungsebene wurde gleichzeitig – auch durch die unmittelbare Konfrontation mit den Alliierten und hier besonders mit der amerikanischen Besatzungsmacht – die Konstituierung einer nach westlichem Vorbild funktionierenden Demokratie vorangetrieben. An diesem Anspruch, das Land wieder aufzubauen, beteiligten sich seit der Niederlage eine zahlenmäßig geringe, aber wirkungsstarke weibliche Elite. Sie artikulierte spezifische Interessen und verband sie zu einem komplexen Begriff von „Frauenpolitik“. Ihre Vertreterinnen erhoben den Anspruch, repräsentativ am Gemeinwesen beteiligt zu werden. Diese Perspektive setzt das Bewusstsein über ein
Exemplarisch für die Auseinandersetzung um den Volksbegriff: Wildt, Ambivalenz des Volkes, S. 382. 64 Wolfrum, Geglückte Demokratie, S. 182. 65 Siehe zur Definition des Begriffes: Troebst, Geschichtspolitik. 66 Die folgende Darstellung beruht teilweise auf meinem Buch „Redefining Germany“ (Göttingen 2007). 63
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Kollektiv „Frau“ voraus, das sich durch mehr oder weniger homogene Interessen konstituiert. Es waren Frauen der mittleren Generation mit akademischem Hintergrund, die dem bürgerlichen Mittelstand angehörten. Sie hatten ihre politische Sozialisation in der Weimarer Republik erfahren, betraten aber in der Regel nach 1945 zum ersten Mal das Feld öffentlicher Politik. Sie definierten Weiblichkeit als gesellschaftliche Kategorie und schrieben ihr Eigenschaften zu, die ihr Teilhabebegehren begründen sollten. Sie distanzierten sich vom Nationalsozialismus, indem sie ihn als „Männerstaat“ charakterisierten und folglich die als gegensätzlich verstandene Weiblichkeit als grundsätzlich unvereinbar damit erklärten. Sie bezogen sich auf die Tradition der Frauenbewegung vor dem Nationalsozialismus, indem sie sich als politische und soziale Gruppe legitimierten und an deren nationale Orientierung sie anknüpften. In der Folge sahen sie sowohl Deutschland als weiterexistierenden Nationalstaat an und kamen zugleich den Demokratieerwartungen der Alliierten in ihren Handlungen und Forderungen entgegen. Der Begriff der geistigen oder sozialen Mütterlichkeit bzw. Mutterschaft, der bereits in der Frauenbewegung der Weimarer Republik die Geschlechtergrenzen am deutlichsten markiert hatte, wurde nach 1945 vorübergehend zu einem zentralen Topos der moralischen Integrität und der Begründung für den Anspruch an politischer Mitgestaltung und an demokratischer Teilhabe. Dieser Anspruch wurde wiederholt mit der Bedeutungszuschreibung eingeleitet, dass „die Frau“ „im Staat ein Faktor“ sei, „der nicht übersehen werden kann und darf.“67 Begründet wurde dieser Imperativ damit, dass die Frau als Mutter die Jugend erziehe. Darüber hinaus obliege ihr die Hauptlast der Versorgungs- und Überlebensleistung. Ihr Bezugsrahmen sei der familiäre Raum. Das enthebe sie allerdings nicht der Mitschuld und der Mitverantwortung für „das Elend unseres Volkes“. Es folgt eine eingehende Schilderung der Mitschuld von Frauen durch die Unterstützung des Nationalsozialismus und dessen Politik, aus der Ausplünderung anderer Länder und Menschen Profit zu ziehen. Ausdrücklich ausgenommen werden die verfolgten Frauen, die von jeglicher Schuld freigesprochen werden. „Heute stehen wir beschämt vor diesen wirklichen Antifaschisten“. Hinzugefügt wird der Aufruf, durch Erziehung der Kinder zum Antimilitarismus, zur Neuordnung der
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„Wie weit tragen wir Frauen die Mitschuld an dem großen Elend unseres Volkes?“ Manuskript v. 12.12.1945. Archiv SWR Stuttgart, zitiert nach Zepp, Redefining Germany, S. 100.
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Familie nach sittlichen Maßstäben und nach christlichen Grundlagen, um wieder „gut zu machen“, wie die Autorin es in einer subjektlosen Sentenz formulierte. Zugleich entfaltete sich die Debatte, weibliche Eigenschaften in den Dienst der öffentlichen Politik zu stellen. So wird auf weiblich-männliche Unterschiede verwiesen, und Weiblichkeit ein besonderer Platz „in dem Chaos“ der Nachkriegszeit zugewiesen. „Man sagt von uns Frauen, dass wir der Natur viel enger verbunden seien als der Mann, dass wir die Wirklichkeiten des Lebens viel klarer und vielleicht auch nüchterner sehen. Nun, das sind Eigenschaften, die wir gerade jetzt am allerdringendsten brauchen.“68 Mütterlichkeitsrhetorik und die Verantwortung für öffentliche Politik werden so miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig. Dieser Zusammenhang wird durch die Betonung einer Geschlechterdichotomie entlang der Grenze Krieg/Militarismus und Frieden kategorial eingeteilt und führt zu einer Entschuldungsstrategie von allem als weiblich Definiertem. In einem programmatischen Beitrag schreibt die Münchener Frauenrechtlerin Maria Pfeffer: „Männer führen Kriege – Frauen müssen sie ertragen. Denn der Krieg ist dem Wesen der Frau fremd.“69 In ihrer Argumentation wird das imaginierte Kollektiv Frau von der Beteiligung und der Verantwortung für den Krieg und seinen Folgen entlastet: „Manche werden sagen, dass ohne die Frau, ohne ihren Einsatz die lange Fortführung dieses ‚Männer‘-Krieges mit seinen entsetzlichen Auswirkungen und Folgen gar nicht möglich gewesen wäre. Das mag richtig sein, aber doch nur insofern, als eben dieser Einsatz im tiefsten ein Tragen und Erleiden war – erschmeichelt, gefordert, erpresst von denen, die den Krieg wollten und die die Kraft des weiblichen Herzens für ihre Zwecke missbrauchten.“ So wird deutlich, dass die, „die den Krieg wollten“, nicht weiblichen Geschlechts waren. Mit diesem Identifikationsangebot eines „weiblichen Herzens“ entzog man sich einer Verantwortung, die man gerade noch emphatisch beschrieben hatte. Durch die aktuell erlebte Zerstörung und die Kriegsfolgen werden die traditionell weiblichen Aufgaben durch das offensichtliche Versagen des Mannes auch öffentlich bedeutsam. Ihre Schuld besteht in der Passivität, die durch eine neue Form der Verantwortung „für das Ganze“ revidiert werden müsse. Sie ist Trägerin der natio-
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Editorial, Frankfurter Rundschau vom 3. September 1945. Maria Pfeffer, Unser neuer Weg. Der Regenbogen, H.1, Februar 1946. Zitiert nach Zepp, Redefinng Germany, S. 101.
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nalen Erneuerung, der „nationalen Wiedergesundung“.70 „Die deutsche Frau wird bei einigem Nachdenken bemerken, dass diese neue Aufgabe im tiefsten Grunde eine uralte, nämlich die deutsche Aufgabe überhaupt ist und dass diese Aufgabe ihr, der Frau innerlich viel näher liegt als die des bisher vertretenen imperialen Machtanspruchs: „Eine Weiblichkeit, die als friedlich, versöhnend, pragmatisch und verantwortungsbewusst beschrieben wird, wird als Kontrast zum „Männerstaat“ Nationalsozialismus konstruiert und durch diese neuen Werte sei eine nationale Erneuerung möglich. Damit bildet sich eine Entschuldungsrhetorik heraus, die mehreren Bedürfnissen folgte: Sie lud zur Identifikation mit einem weiblichen Kollektiv ein, das – aufgeladen durch ein Verantwortungspathos – sich als Teil des nationalen Kollektivs schuldig bekannte, um diese Schuld zugleich an den „Männerstaat“ zu delegieren. Die sich auf dieser Grundlage bildenden Frauenorganisationen auf Länderebene agierten ganz im Sinne einer sich aktiv beteiligenden Bürgergesellschaft. In einem Antrag an die Militärregierung im Oktober 1946 begründete der Heidelberger Frauenverein sein Vorhaben, eine Zeitschrift zu gründen mit einem deutlich formulierten politischen Auftrag: „Die Verantwortung, die den Frauen damit übertragen ist, dass sie den größten Teil der deutschen Wähler stellen, wird von uns als schwerwiegend empfunden. Eine friedliche und gerechte Neuordnung Deutschlands hängt wesentlich davon ab, wie sich die Frauen politisch entscheiden. Sie müssen deshalb nicht nur lernen, politisch zu sehen und politisch zu denken, sondern sie müssen auch auf ihre Aufgaben als Staatsbürgerinnen hingewiesen und vorbereitet werden. […] Aufgaben, die zu erfüllen sind, heißen: politische Aktivierung der Frau, Konkretisierung ihres politischen Willens, Anteilnahme und direkter Einfluss auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens, wirksame Unterstützung der Bestrebungen der Frauenorganisationen.“71 Was bewog diese Frauen, mit dem Begriff „Staatsbürgerinnen“, der in den schriftlichen Zeugnissen wiederkehrend auftaucht, ihr Teilhabebegehren und ihre Politik zu beschreiben in einer Phase, in der eine deutsche Nationalstaatlichkeit zu mindesten formell nicht mehr existierte? Offensichtlich war es die Vieldeutigkeit und das inhärente Versprechen der Teilhabe, die dem Begriff Staatsbürgerschaft innewohnen, die 70 71
Hans Hajek, Politische Besinnung der Frau. Der Regenbogen H.1, Februar 1946. Entwurf einer Eingabe an die Militärregierung. Heidelberger Frauenverein Oktober 1946, zitiert nach Zepp, Redefining Germany, S. 215.
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ihn für Legitimationsstrategien zum Zeitpunkt beginnender Staatlichkeit brauchbar machte. Begriffsgeschichtlich wird Staatsbürgerlichkeit als Sammelbegriff „zur Kennzeichnung moderner Verhältnisse“ eingesetzt. Sein Bedeutungsrahmen umfasst „ein republikanisches Gefühl der Zugehörigkeit“, was in diesem Fall den Demokratievorstellungen der westlichen Besatzer deutlich entgegenkam. Durch die Betonung der nationalen Zugehörigkeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit wird das Element der Exklusion hervorgehoben – wie im Folgenden noch deutlich werden wird. Es findet eine Verengung auf die legitimatorische Grundlage von Zugehörigkeit statt, die es den Frauen ermöglichen sollte, sie als Begründung für die Durchsetzung ihrer politischen Rechte einzusetzen. Zugleich war der Begriff Staatsbürgerin normativ aufgeladen, er sollte in diesem Fall die Elemente betonen, die auf Mitgliedschaft und Teilhabe, aktive und passive Aspekte in den Beziehungen zwischen Staat und Individuum, auf politische Partizipation und Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten abzielen. So galten die „Achtung der Menschenwürde“ gegen den Totalitätsanspruch des Staates und ein Erziehungsanspruch zur Staatsbürgerlichkeit, der sich in den Programmen der Frauenorganisationen niederschlug, als konstituierende Voraussetzungen. „Eine friedliche und gerechte Neuordnung Deutschlands“ war eine der Lage angemessene Diktion auf dem Weg zur normativen staatlichen Anerkennung und Rehabilitation. Unter diesen Bedingungen konnten die organisierten Frauen sich auf Beteiligungsrechte berufen. Ihre in den beiden ersten Besatzungsjahren formulierten Ansprüche, dem „Männerstaat“ Nationalsozialismus eine glaubhafte Alternative entgegensetzen zu können, wurde unter den Bedingungen der Besatzung weniger durch die Mütterlichkeitsrhetorik als durch die Alltagspolitik, durch Verbandsgründungen, Lobbypolitik und Überlebensarbeit in den Kommunen und auf Länderebene umgesetzt. Dabei sahen sie sich nicht als „neutrale Staatsbürger“, schlossen aber gleichzeitig traditionell männliche Politikräume wie Parlamente und Parteien als Handlungsorte nicht aus. Kleinräumige, von entscheidenden Machtpositionen ausgeschlossene, durch brennende soziale Probleme dominierte Zustände ließen diese Ansätze eine Zeitlang als wirkungsvoll erscheinen. Mit der Ausbildung nationalstaatlicher Institutionen und zunehmender Verantwortungsübernahme auf deutscher Seite wurden die Handlungsspielräume größer, die Zusammenhänge, in denen Politik formuliert wurde, komplexer. Damit wurde die Wirksamkeit des von den Frauen postulierten Geschlechtergegensatzes zunehmend hinfällig. Staatsbürgerlichkeit als Emanzipationsanspruch verlor seine Wirksamkeit. 170
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Dennoch waren diese Weiblichkeitsvorstellungen im Gegensatz zu den Rekonstruktionsversuchen der (männlichen) Historiker eher zukunftsorientiert und sie waren, trotz der eskapistischen Anteile der Propagierung ewiger Werte, auf demokratische Teilhabe und Verfasstheit hin ausgerichtet. Das Bekenntnis zu „Staatsbürgerschaft“ sowohl als Markierung der nationalen Zugehörigkeit wie auch als Basis für die Reklamierung sozialer und politischer Teilhabe verweist auf ein Demokratieverständnis, das sich erst im Laufe der späteren Bundesrepublik durchsetzen würde72. So fand eine öffentliche Proklamation des uneingeschränkten Bekenntnisses zum demokratischen Aufbruch anlässlich eines Datums statt, das sowohl nationale Traditionsbildung wie auch Demokratiebereitschaft in sich barg: Im Mai 1948 versammelten sich 600 Frauen zu einem 2-tägigen Kongress in der Frankfurter Paulskirche. Den Rahmen der Tradition, in die man sich stellte, maß die Frankfurter Journalistin Helli Knoll aus: Es waren die deutschen Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts, in deren Nachfolge man sich sah und an die anzuschließen man bestrebt war. Das Begriffsarsenal von Freiheit, Gleichheit und dem Anspruch auf politische Repräsentation wird als politisches Erbe reklamiert. „Es ist für uns mehr als ein Akt der Pietät, bei der ersten Zusammenkunft in der wiedererstandenen Frankfurter Paulskirche unserer Kämpfer für Freiheit und Recht zu gedenken. Wir wollen damit zeigen, dass wir in ihrem Sinne weiterarbeiten. War das Parlament von 1848 der Anfang der deutschen Demokratie, dann wollen wir heute in der Frankfurter Paulskirche erklären, dass wir das verwirklichen wollen, was Sehnsucht und Streben der Kämpfer von 1848 gewesen ist: einen demokratischen Staat aufbauen, in dem jeder Bürger nicht nur auf dem Papier der Verfassung, sondern auch tatsächlich die gleichen Rechte und Pflichten hat, in dem jedem Staatsbürger Freiheit und soziale Gerechtigkeit gegeben ist, und in dem das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen aus dem Osten und Westen, aus dem Norden und Süden verankert ist.“73 Man sah sich in der Tradition der deutschen Einigungsbewegung. Staatsbürgerlichkeit wurde als Erziehungsprogramm verstanden, das allen Frauen den Zugang zu Wissen und damit zur politischen Teilhabe ermöglichen sollte.
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Canning, Between Crisis and Order, S. 218f. Helli Knoll, Unser Weg zur Freiheit. Festvortrag in der Frankfurter Paulskirche zum interzonalen Frauenkongress am 22. Mai 1948, zitiert nach Zepp, Redefining Germany, S. 227.
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Es war dieses anfängliche Selbstbewusstsein der Frauen, mit dem sie ihren Teilhabeanspruch begründet durch ihre spezifischen weiblichen Interessen und Fähigkeiten vertraten. Die noch nicht gefestigte Staatlichkeit, die auch von den deutschen Männern eine besondere Rechtfertigung gegenüber den Besatzungsmächten forderte, ließ der Hoffnung breiten Raum, dass Beteiligungsrechte und ‑chancen in der Tat neu verteilt werden würden. Mit dem Konstrukt der (sozialen) Mütterlichkeit und der Geschlechterdifferenz wurde unmittelbar nach der Niederlage eine Entschuldungsstratgie entwickelt, die die Frauen innerhalb der nationalen Rekon struktion verorteten. Diese Frauenbewegung nach 1945 war begleitet von einem Verständnis von Staatsbürgerschaft, das die Erwartung an eine demokratische Ordnung und an den Staat formulierte, dass er Teilhabe und soziale Rechte garantiere.74 Die demokratische Verfasstheit des Staates und die nationale Zugehörigkeit wurden bejaht mit der Erwartung, dass sich ihr moralisches und politisches Gewicht, das sie in den Rhetoriken ihrer Selbstlegitimierungsprozesse gewonnen hatten, in reale politische Macht verwandeln ließe. Da die (Wieder)Anerkennung und die Souveränität des nationalen Staatswesens noch nicht realisiert waren, konnte man also nicht zu Unrecht annehmen, in den Prozess der Wiedergründung eines deutschen Staatswesens und seiner Institutionen einbezogen zu werden.
„Kleinarbeit am Symbol“: Die Arbeit des Parlamentarischen Rates zwischen Bruch und Kontinuität Doch bereits mit der Konstituierung eines Vorparlaments und der Bildung der Regierung wurde dieser Anspruch angemessener weiblicher Repräsentation nicht eingelöst. Am 1. September 1948 nahm der Parlamentarische Rat seine Arbeit auf. Er setzte sich überwiegend aus akademisch gebildeten Vertretern des öffentlichen Dienstes zusammen, von denen 11 Abgeordnete bereits im Reichstag parlamentarische Erfahrung gesammelt hatten. 50 Vertreter hatten nachweislich durch das Dritte Reich einen Bruch in ihrer beruflichen Karriere erfahren oder waren aktiv im Widerstand. 74
Zur Situation der Weimarer Republik: Canning, Between Crisis and Order, S. 219.
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Das Durchschnittsalter lag bei Mitte 50. Die mittlere oder jüngere Generation waren nicht vertreten, hier hatten die 12 Jahre des Dritten Reiches eine deutliche Lücke und einen Bruch in der Generationenfolge bewirkt. Ebenso unterrepräsentiert waren die Frauen: lediglich vier der 77 Gesetzgeber waren weiblichen Geschlechts. Das stand im Gegensatz zu dem politischen Engagement in der Öffentlichkeit, das die Frauenorganisationen an den Tag legten. Elisabeth Selbert konnte ihrer Initiative zum Gleichberechtigungsparagraphen nicht zuletzt mit der Unterstützung dieser Frauenöffentlichkeit das Gewicht beilegen, das dazu führte, dass er in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Inwieweit diese erste gesetzgebende Nationalversammlung75 für die Bevölkerung repräsentativ war, erscheint auch angesichts der 12 Millionen Flüchtlinge aus dem Osten fraglich. Eher kann man angesichts der hohen Zahl von NS-Gegnern, die den Zahlen in der Gesamtbevölkerung keineswegs entsprachen, von einer moralischen Legitimation sprechen. Dass die Abgeordneten sich trotz der Einschränkungen durch die Besatzungsmächte als nationales Parlament wahrnahmen und dies auch in einzelnen Resolutionen zum Ausdruck brachten76, unterstrich die beginnende deutsche Teilung und bildete die ideologische Aufstellung des Kalten Krieges bereits deutlich ab. Mit der Übergabe der „Frankfurter Dokumente“ am 1. Juli 1948 an die Ministerpräsidenten der Länder durch die Militärgouverneure der drei Westmächte war die Gründung einer geeinten Westzone nicht mehr aufzuhalten. Verschärft wurde die zunehmende Ost-West-Entfremdung durch die Berlin-Blockade der sowjetischen Besatzungsmacht im Juni 1948. Bis 1947, bis zur Gründung der Bizone war man von westdeutscher Seite von einer zonenübergreifenden staatlichen Ordnung ausgegangen. Nun wurde die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung mit der Bildung eines separaten Weststaates verbunden, was wiederum die Begründung für eine nationale Entität vor neue Herausforderungen stellte. Das zeichnete sich auch in der Debatte um die Symbole des neu zu gründenden Staates ab. 1949 entschied sich der Parlamentarische Rat bei einer Gegenstimme für Schwarz-Rot-Gold als Farben der Staatsflagge der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Entscheidung gingen zahlreiche Debatten voraus. So hatte der Staatsrechtler
Durch die Frankfurter Dokumente war die Aufgabenstellung des Parlamentarischen Rates von Seiten der Westalliierten auf die Schaffung des Grundgesetzes festgelegt. Werner, Der Parlamentarische Rat. Einleitung, S. 2. 76 Ebd. 75
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Theodor Eschenburg in einer Denkschrift aus dem Herbst 1945 bereits formuliert: „Die Bundesfarben sind schwarz-rot-gold“.77 In den Debatten wurde die Frage der Flaggenwahl für den neu gegründeten Weststaat mit Symbolik aufgeladen und zu einer Identitätsfrage der neuen Demokratie erklärt.78 Nachdem der Ostberliner Volkskongress am 20. Mai 1949 die Farben schwarz-rot-gold als offizielle Flagge der DDR anerkannt hatte, verabschiedete der Parlamentarische Rat am 23. Mai 1949 im Rahmen der Grundgesetzgebung ebenfalls ein Gesetz79, das die Farben und ihre Anordnung festlegte. Dem waren lange Auseinandersetzungen vorausgegangen, die auch im Bundestag fortgesetzt wurden. Auf den ersten Blick erscheint die Entscheidung für die Farben der Republik als ein Bekenntnis zu der demokratischen Tradition, die 1918 zum ersten Mal den Staat repräsentiert hatte. Der Art. 22 des GG beschreibt kein Provisorium, es stellt vielmehr eine Kontinuitätsbehauptung auf, die so eindeutig nicht sein konnte, wie es der Frauenkongress in der Paulskirche mit seinem enthusiastischen Bezug auf die deutsche Demokratiegeschichte im Jahr davor proklamiert hatte. Für die Parlamentarier zeigte der Bezug zu Weimar eine nicht unproblematische Parallelität auf, stand doch das Scheitern des ersten deutschen Parlamentarismus allen Beteiligten deutlich vor Augen.80 Diese „Kleinarbeit am Symbol“81 im Parlamentarischen Rat, die dem Beschluss vorausging, gibt Aufschluss über die Komplexität und die Ambivalenz, sich auf eine ungebrochene Traditionslinie der Nationalgeschichte zu berufen. Die Symbol-Tradition, die darin aufgegriffen wurde, war selektiv.82 Sie war eine schwerfällig ausgehandelte Entscheidung, die in der Aneignung einer gebrochenen Tradition endete, weil sie zugleich auch das Beispiel einer gescheiterten Republik und das Versagen der Demokratie vor Augen hatte. Während die Vertreter der Sozialdemokratie im Parlamentarischen Rat eindeutig die „Trikolore“ als die „Farben der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung“ Benz, Staatsneubau nach bedingungsloser Kapitulation, S. 201. Diese Debatten spielten sich ab vor der Erfahrung des Flaggenstreites in der Weimarer Republik. 79 Stelzl u. a. Der Parlamentarische Rat, Herrenchiemsee, Bd. 2, S. 583. 80 Ullrich, Weimar-Komplex. 81 Rückert, Beseitigung des deutschen Reiches, S. 84. 82 Für die rechtsgeschichtliche Analyse von Bruch und Kontinuität siehe Rückert, Beseitigung des deutschen Reiches, S. 83f. 77 78
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(Carlo Schmid) deklarierten, kam die CDU-Fraktion nicht zu einem eindeutigen Votum. Vorbehalte gegen eine republikanische Tradition, die mit dem Reizwort der Trikolore sinnbildlicht wurde, sollten durch die graphische Gestaltung eines Kreuzes konterkariert werden. Dieser Überwältigungsversuch eines Teils der Fraktion, das christliche Abendland an sichtbarer Stelle in die Zeichensprache des neuen Staates einzuweben, war aber nicht mehrheitsfähig.83 Währenddessen untermauerten die Abgeordneten der CDU und der CSU ihre Position durch das Argument, die Farben seien vorbelastet und daher unpopulär. Der bayrische CSU-Abgeordnete Mayr verband dies mit der Grundsatzfrage der Demokratie: „Eine Fahne als Symbol der Nation muss freudig aufgenommen werden. […] die alte Trikolore Schwarz-Rot-Gold werden Sie nicht mehr freudig bei der Bevölkerung durchsetzen können. […] Deshalb müssen wir nach dem Scherbenhaufen, den wir hinter uns haben, den Mut haben, etwas Neues zu beginnen.“84 So wurde die Unpopularität des Fahnenentwurfs85 in der Öffentlichkeit immer wieder als Beweis für eine fehlende Legitimität ins Feld geführt.86 Die Argumentation der Gegenseite schöpfte aus unterschiedlichen Legitimationsquellen. Der SPD-Abgeordnete Ludwig Bergstraesser sprach sich für den Neuanfang aus, im Gegensatz zur Gründungsphase der Weimarer Republik belaste eine nostalgische Erinnerung an die Monarchie diesen Neubeginn nicht mehr.87 Auch Theodor Heuss plädierte – im Umkehrschluss zu den Argumenten der Gegenseite – für eine Zäsur: „Die Geschichte von Weimar ist meinethalben keine Ruhmesgeschichte; aber sie ist nicht so schlimm. Wir haben die Zäsur erlebt, dass Schwarz-Weiß-Rot durch die Nazis versaut worden ist. Infolgedessen ist hier eine Zäsur entstanden, die psychologisch den Zugang zur Vergangenheit erleichtert.“88 Als er auf die Erfahrung der Reichsbannerleute, die mit dieser Fahne die Verfolgung im Dritten Reich erlitten hätten, hinwies, nahm Heuss nicht nur die notwendige Distanzierung vom Nationalsozialismus vor, er brachte damit auch eine mora Parl. Rat 1948–1949 Bd. 5/1. Ausschuß für Grundsatzfragen. 17. Sitzung, 3. November 1948. S. 466–471. 84 Ebd., S. 490. 85 Ebd., S. 467; Von Mangoldt, ebd., 18. Sitzung, 5. November 48, S. 487. 86 Zur Teilnahme der Öffentlichkeit an der Flaggenfrage: https://www.hdg.de/lemo/bestand/ medien/video-auswahl-der-deutschlandflagge.html; letzter Zugriff: 20. Juni 2020. 87 Parl. Rat, 18. Sitzung 5. November 1948 Grundsatzkommission, S. 488. 88 Ullrich, Weimar-Komplex, S. 293ff. 83
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lische Kategorie ins Spiel, die Legitimation aus dem Widerstand. Damit rekurrierte er auf die Erfahrung der Mehrzahl der 77 Vertreter im Parlamentarischen Rat, die aus Verfolgung, Widerstand oder zumindest aus einer distanzierten Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus kamen.89 Die bereits von der Volkskammer in Ostberlin getroffene Entscheidung über eine schwarz-rot-goldene Fahne wurde als ein zusätzliches Argument für die Dringlichkeit, zu einer Einigung zu kommen, angesehen. Der sich anbahnende Ost-WestKonflikt begann sich nun auch argumentativ abzuzeichnen. So argumentierte Heuss: „Ich halte es für dringend notwendig, dass wir den Beschluss darüber nicht aufschieben. Der Volksrat hat seine Deklaration dazu bereits erlassen. Wenn wir zögern oder die Entscheidung vertagen, werden die da drüben schreien, wir bereiten den Faschismus vor.“90 Das war nicht die letzte Debatte um den Stellenwert der Fahne im Arrangement der nationalen Symbole. Sie sollte auch im Deutschen Bundestag ihre Fortsetzung finden. In der 12. Sitzung der ersten Wahlperiode des Deutschen Bundestages im Oktober 1949 legte die Zentrumspartei einen Gesetzesentwurf vor, den der Abgeordnete Bernhard Reismann so begründete: „Der Sinn des Antrags und sein Zweck ist, zu verhindern, dass wiederum, wie wir das schon einmal erlebt haben, ein Kampf um die Bundesfarben und die Bundesflagge entbrennt, der zum Objekt und zum Ziel von parteipolitischen Auseinandersetzungen und Agitationen gemacht wird, ohne Rücksicht auf die Würde der Nation. Die nationalen Symbole sind fast das einzige Einigende, was uns nach dem Zusammenbruch geblieben ist und was uns mit dem Osten Deutschlands einigt. Wer sie zum Kampf für parteipolitische Zwecke missbraucht und sie dadurch herabsetzt und wer dadurch ihre Werbekraft und Wirkungskraft schädigt und die Würde der Nation nach außen hin schwächt, macht sich eines Verbrechens schuldig – darüber müssen wir uns klar sein –, das in der gegenwärtigen Zeit ganz besonders schwer wiegt.“91 Indem der Gesetzgeber außerhalb des Parlaments jeglichen Streit über eines der zentralen Symbole des neuen Staates unter Strafe stellen wollte, wurde offenbar, Deutscher Bundestag/Wissenschaftlicher Dienst, Biographische Angaben. Heuss am 15. und 20. Oktober 1948 im Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates. Protokolle S. 315 u. 341. 91 Deutscher Bundestag, 12. Sitzung Do, 30. Oktober 1949. 89 90
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dass die Parlamentarier weiterhin, aus den Erfahrungen der Weimarer Republik abgeleitet, misstrauisch gegenüber parteipolitischen Verwerfungen waren und man in die demokratischen Institutionen, die man gerade im Begriff war aufzubauen, noch wenig Vertrauen hatte. Der Antrag wurde abgelehnt, dennoch war die Aussprache bestimmt von dem Duktus der Bewahrung und der Traditionssuche und ‑begründung. In seiner Gegenrede brachte der Abgeordnete Kurt Georg Kiesinger die die Debatte bestimmenden Argumente vor. Er betonte die Fragilität des neuen demokratischen Staates: Es handele sich um den „vielleicht letzten Versuch, unser Volk in einem Staat der Freiheit und des Friedens zu einigen.“ Dazu gehörte auch die emphatische Aufladung einer in die Zukunft gerichteten Identifizierung mit dem Staat, der allerdings nicht, wie in dem Antragsbegründung voraussetzungslos sein sollte, sondern er sollte mit einem emphatischen Bekenntnis einhergehen: „Diese Bundesfarben werden eines Tages wirklich unsere Farben sein, wenn die Fahne am Mast emporsteigt und die Herzen der Menschen dabei höher schlagen“, um diese zugleich mit dem moralischen Appell der Neubegründung zu untermauern: „Auch diese Flagge SchwarzRot-Gold hat ihre Tradition. Und wenn man schon sagt, dass der Respekt und die Liebe einer Flagge gelten, die einmal in der Welt geweht hat, als es Deutschland gut ging, dann darf man auch hinzufügen, dass diese Flagge nie verunehrt worden ist und diese Flagge niemals über einer deutschen Katastrophe geweht hat.“ Damit wollte Kiesinger zur Verbreiterung des demokratischen Konsenses beitragen92, der nicht zuletzt durch die Traditionsbeschwörung und den positiven Bezug auf eine deutsche Demokratiegeschichte über die Parteigrenzen hinweg hergestellt werden und zudem ein Neubeginn symbolisieren sollte, den bereits Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat formuliert hatte: „… dass die Farben, die geführt werden, die der deutschen Republik sind, wobei wir davon ausgehen, dass diese Farben der deutschen Republik nicht schlechthin jene der Verfassung von Weimar sind, sondern die Farben der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung.“93 Damit hatte man sich auf eine Traditionslinie in der nationalen Rekonstruktion geeinigt, die mehrere Anforderungen erfüllte: Sie umschrieb einen nationalen Handlungsrahmen, ohne die grundlegenden Probleme der beginnenden Teilung, 92 93
Gassert, Kurt Georg Kiesinger, S. 227. Parl. Rat 1948–1949 Bd. 5/1. Ausschuß für Grundsatzfragen. 11. Sitzung v. 14. Oktober 1948, S. 300.
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der nicht geklärten Grenzen und der durch die Besatzung eingeschränkten Souveränität thematisieren zu müssen. Die aufgerufene Tradition war anschlussfähig an die Erfordernisse einer staatlichen Ordnung, die den alliierten Vorgaben einer parlamentarischen Demokratie nach westlichem Muster entsprach. Es begann sich nun auch auf parlamentarischer Grundlage ein Staatsbürgerverständnis herauszubilden, das durch die zivilgesellschaftlichen Frauenorganisationen bereits formuliert worden und durch Teilhabe und Gleichheitsgrundsätze geprägt war. Diese mit der Flagge verbundene Emphase sollte sich jedoch in den weiteren Jahrzehnten der bundesrepublikanischen Geschichte nicht fortsetzen. Die mit der Fahne verbundene Konnotation eines umstrittenen Nationalbewusstseins wurde dominierend und blieb bis in die Zeiten der Vereinigung ein zwiespältig aufgenommenes Symbol, dessen von den Gründungsvätern und ‑müttern proklamierter Bezug zu den Freiheitsbewegungen und den demokratischen Traditionen sich im öffentlichen Bewusstsein nicht durchsetzen konnte. Die sich im Laufe der folgenden beiden Jahrzehnte herausbildende Erinnerungspolitik bedingte eine zunehmende Distanzierung von heroischen Erzählungen und den sie begleitenden Symbolen.
Der erste Bundestag und die deutsche Opfererzählung Man kann die erste Legislaturperiode der deutschen Nachkriegslegislative und der Exekutive als eine Vorbereitungsphase auf die in den 50er Jahren erfolgte Vertragsbindung an den Westen94 sehen. Inwieweit das intellektuelle Klima, dem der „dezisionistischen Druck des Kalten Krieges“ (Axel Schildt) bereits deutlich anzumerken war, auch die ersten parlamentarischen Debatten prägte und einen Stil der Mäßigung und eine Abneigung gegenüber ideologischen Überformungen hervorbrachte, sei dahin gestellt. Eher ist die Frage, wie die Widersprüche zwischen Restauration eines bürgerlichen Nationalismus, den ein bestimmtes konservatives Milieu anstrebte, und dem Versuch einer demokratischen Traditionserzählung, wie er sich in den ersten demokratischen Gehversuchen der Frauenorganisationen und des parlamentarischen Rates abgezeichnet hatte, vereinbaren ließen. 94
Wolfrum, Geschichte als Waffe, S. 81.
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All diesen Strömungen stand eine Integrationsleistung gegenüber. Diese Integration hatte ihren Preis. Sie stellte die Weichen für eine „Vergangenheitspolitik“ der Schuldverdrängung und der Rehabilitierung unterschiedlicher Funktionsträger des Nationalsozialismus.95 Diese Rehabilitierung war begleitet von einer nationalen Opfererzählung, die in den drei hier geschilderten nationalen Erzählungen unterschiedliche Ausprägungen hatte. Was ihnen gemeinsam war, war die Inklusion entlang einer als deutsch definierten Opfergemeinschaft. Diese Opfergemeinschaft umfasste die aus dem Osten eingeströmten Vertriebenen, die Kriegsgeschädigten (oft nach Geschlechtern unterschieden), die Kriegsgefangenen, die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen sowie die Beamten, die durch die britischen und US-amerikanischen Entnazifizierungen entlassen worden waren. Voraussetzung war ein Begriff von Nation, der auch weiterhin auf einer Gemeinschaftsvorstellung von Volk beruhte. Innerhalb der demokratischen Rechtsordnung, die sich auf eine nach westlichem Vorbild durch Institutionen eingehegte Volkssouveränität berief, wurde die Frage der Zugehörigkeit politisch über die Definition einer Leidensgemeinschaft verhandelt. In seiner Regierungserklärung gab Adenauer die offizielle Richtung vor, indem er die einzelnen Opfergruppen in ihren Ansprüchen rhetorisch etablierte. Die Opfergemeinschaft wurde durch die Abwehr der von den westlichen Besatzungen voran getriebene Entnazifizierung definiert: „Durch die Denazifizierung ist viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden“.96 Zugleich wurde die nationale Einheit beschworen: „Aber im übrigen dürften wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden: die politisch Einwandfreien und die Nichteinwandfreien. Diese Unterscheidung muss baldigst verschwinden“.97 Im Mittelpunkt der Opfererzählung standen die (deutschen) Kriegsgefangenen: „Das Geschick dieser Millionen Deutscher, die jetzt schon seit Jahren das bittere Los der Gefangenschaft getragen haben, ist so schwer, das Leid der Angehörigen in Deutschland so groß, dass alle Völker mithelfen müssen, diese Gefangenen und Verschleppten endlich ihrer Heimat und ihrer Familie zurückzugeben.“98
Hierzu grundlegend: Frei, Vergangenheitspolitik. Regierungserklärung Konrad Adenauer 20.9.1949, letzter Zugriff: 20.8.2020, https:// www.konrad-adenauer.de/quellen/erklaerungen/1949-09-20-regierungserklaerung. 97 Ebd. 98 Ebd. 95 96
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Dem Bekenntnis zur Demokratie folgte die Argumentation eines rechtlichen Anspruchs für die „Kriegs- und Bombengeschädigten, die Kriegsversehrten und die Kriegerwitwen. „Auch nach einem verlorenen Kriege ist es eine Ehrenpflicht des Volkes, für seine Kriegsopfer wirtschaftlich einzustehen.“99 Dieses mit Emphase vorgetragene Konstrukt der nationalen Leidensgemeinschaft schloss die Zeit des Nationalsozialismus mit ein: „… das Volk nach 17 Jahren Elend und nach 10 Jahren von Blut und Tränen“.100 Beansprucht wurde dabei ein irgendwie universalierter Rechtsanspruch: „Unrecht gegen jedes Kriegsrecht ist die Festhaltung von Millionen deutscher Kriegsgefangener vier Jahre nach Kriegsende. Wir werden nicht aufhören, diese Brutalität in der Welt anzuprangern, bis der letzte deutsche Soldat aus dem Osten erlöst ist, Unrecht gegen jedes Volksgefühl war und ist es, für die Verbrechen einzelner das ganze Volk verantwortlich zu machen oder eine Kategorisierung der Deutschen in ein, zwei und mehr Stufen vorzunehmen. Welches Leid hat die Entnazifizierung unserm Volk in der Stunde seiner größten Not zusätzlich gebracht! Wir fordern deshalb kategorisch die endgültige Beseitigung jeder Diffamierung irgendwelcher Deutschen, soweit es sich nicht um kriminelle Verbrecher handelt, und wir fordern nicht nur das, sondern wir fordern die unbedingte Wiedergutmachung alles dessen, was ihnen zugefügt worden ist, nicht nur papierne Amnestien.“101 Es blieb nicht nur bei wirtschaftlichen und sozialen Forderungen, man berief sich – in einer Opfer-Täter-Umkehr – auf universalistische Menschenrechtsvorstellungen: „Wenn man überhaupt von Verbrechen gegen die Menschlichkeit spricht, dann […] muss man zuallererst das größte Verbrechen, das jemals gegen die Menschlichkeit begangen worden ist, hervorheben, nämlich die viehische Vertreibung von Millionen Deutscher aus den urdeutschen Ostgebieten.“102 Und wiederholt: „als lebendige Zeugen des in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewe-
Ebd. DBt, 7. Sitzung 23. September 1949 Rede Selos (BP). 101 DBt, 7. Sitzung 22. September 1949 Abg. Richter (NR). Wie weit der Redner in dieser Sache in eigener Angelegenheit sprach, sollte sich später herausstellen, als deutlich wurde, dass er unter falscher Identität seine NS-Vergangenheit vertuschte. 102 Ebd. Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle „Beifall rechts und in der Mitte“. 99
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senen völkerrechtswidrigen Verbrechens der brutalen Vertreibung von Millionen unschuldiger Deutscher“.103 Diese massive Entschuldungsstrategie seitens der rechten Parteien blieb in den parlamentarischen Debatten unwidersprochen. Vielmehr setzte sich dieses Konstrukt einer nationalen Leidensgemeinschaft der im Bundestag vertretenen rechten Parteien als dominantes Deutungsmuster durch. Diese Debatten läuteten die parlamentarischen Initiativen, Gesetzgebungswerke und administrativen Entscheidungen ein und begleiteten die folgenden Gesetzgebungsverfahren.104 Sie führten zu dem Amnestiegesetz und schließlich 1954 zu dem Straffreiheitsgesetz, das darauf abzielte, die alliierte Entnazifizierungspolitik zu beenden sowie zu einer Sozialgesetzgebung, die die deutschen Opfergruppen auch materiell in die „Volksgemeinschaft“ eingliedern sollte. Wiederkehrende sprachliche Figuren der Reden des ersten deutschen Bundestages beschworen diesen Gemeinschaftsgedanken. Er wurde zur Grundlage für eine Integrationspolitik, die „ein(es) Millionenheer(s) ehemaliger Parteigenossen, die fast ausnahmslos in ihren sozialen, beruflichen und staatsbürgerlichen – nicht jedoch politischen – Status quo ante versetzt wurden.“105 Auch die Integration der „Heimatvertriebenen“ diente der Rekonstruktion der Volksgemeinschaft: „Die Staatsführung hat die Verpflichtung, den Begriff der Volksgemeinschaft nachdrücklichst zu proklamieren und gesetzgeberisch darauf hinzuwirken, dass die Verbreiterung der Kluft zwischen Heimatvertriebenen und Eingesessenen vermieden bleibt.“106 In den folgenden Jahren sollte diese Integration, die durch die überwiegende Zustimmung in der Öffentlichkeit getragen wurde, erweitert werden. Die Forderung nach der Amnestierung der Kriegsverbrecher, die 1954 ihren Abschluss fand, w urde 107 durch eine „schwarz-rote Abstimmungskoalition“ getragen. Erst die fehlende moralisch-politische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und dem Personal, das sie getragen hatte, korrespondierte mit der Kontinuität, die
DBt, 7. Sitzung vom 23. September1949, Rede des Abg. Zawadill (FDP). Auch hier verzeichnet das Protokoll wieder „Beifall rechts und in der Mitte“. 104 Frei, Vergangenheitspolitik, S. 13. 105 Ebd., S. 13f. 106 DBt, 7. Sitzung 23. September 1949 Rede des Abg. Götzendorff (WAV). 107 Frei, Vergangenheitspolitik, S. 398. 103
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sich durch die Übernahme der Mehrheit der Funktionseliten des Nationalsozialismus ausdrückte. Diese personelle Belastung von Behörden und Ministerien wurde mit den Argumenten von Effizienz und Fachkompetenz gerechtfertigt, die Denkfigur des „unpolitischen Beamten“, die bereits die Amnestiedebatten des Bundestags von Anfang an begleitet hatte, flankierte dieses Konstrukt.108 Zwar wurden die NS-Belastungen einzelner Funktionsträger immer wieder thematisiert und diese Debatten sollten die Bundesrepublik noch auf Jahrzehnte begleiten, ihnen war aber bereits in der Gründungsphase die zitierten Entlastungsrhetoriken dominant entgegengesetzt worden. Mit ihr verbunden war die grundlegende Frage der Demokratiefähigkeit des neuen Staates. Der Vorwurf der „Renazifierung“ durch die rehabilitierten Funktionseliten wurde nicht zuletzt von der Generation der „45er“ erhoben, die bereits von angelsächsischen Demokratievorstellungen geprägt, diesen mangelnden Respekt vor demokratischen Normen und Institutionen vorwarfen.109 Auch in den folgenden Jahren wurde die geschichtspolitische Frage nach Kontinuität und Bruch weiterverhandelt und blieb untrennbar mit der Frage der Anerkennung der moralisch-politischen Schuld und der Beurteilung der Unrechtmäßigkeit des Regimes zwischen 1933 und 1945 verbunden. Ein ins Unbestimmte verschobener, überzeitlicher Begriff von Nation blieb als Bezugspunkt in der Gründungsphase der Bundesrepublik erhalten. Im Zuge der von den westlichen Alliierten unterstützten Anstrengungen eines Staatsaufbaus erschienen die erlittenen Kriegsfolgen und nicht das Bekenntnis zu den von Deutschen begangenen Verbrechen das entscheidende Faktum, um die nationale Gemeinschaft auch moralisch und politisch zu begründen, denen sich alle politischen Parteien, mit Ausnahme der Kommunisten, anschlossen und die von der Mehrheit der Westdeutschen geteilt wurde. Das staatliche Selbstverständnis war das eines legitimen, auf demokratischen Regeln und Voraussetzungen aufbauenden Rechtsstaats nach westlichem Vorbild. Die Auffassung, der Gründung eines „deutschen Kernstaates“110 beizuwohnen, eine
Görtemaker/Safferling, Rosenburg, S. 452f.; ausführlich: Conze u. a., Das Amt, bes. Kap. Das Vermächtnis der „Ehemaligen“, S. 421–435. 109 Conze u. a., Das Amt, S. 473ff. 110 Regierungserklärung Konrad Adenauer 20.9.1949, letzter Zugriff: 20.8.2020, https:// www.konrad-adenauer.de/quellen/erklaerungen/1949-09-20-regierungserklaerung. 108
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Formulierung, die sich nicht zuletzt gegen die Legitimität der Gründung der DDR als eigenständigen Staat wandte, sollte eine neue nationale Identität begründen und ließ zugleich die Frage nach Bruch und Kontinuität in der Schwebe. Die Frage der demokratischen Ordnung, die sich in funktionierenden Institutionen und verbindlichen Normen manifestierte, blieb unmittelbar mit der geschichtspolitischen Auslegung der deutschen Schuld verbunden. Die in allen Jahrzehnten in unterschiedlichen Formen virulente „Umcodierung der Vergangenheit“ (Nobert Frei) in eine deutsche Opfergemeinschaft wurde zum Indikator für die Demokratiefähigkeit der Gesellschaft.
Zusammenfassung Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik stellt sich dar als eine Nationengründung, die durch widersprüchliche Voraussetzungen geprägt war. Zur Staatsgründung bedurfte es eines Traditionsbezugs als Legitimierungsgrundlage und zur Schaffung einer neu zu begründenden nationalen Identität. Die Rückgriffe auf die „Kulturnation“ und die machtstaatlichen Vorstellungen einer deutschen Nation waren als geschichtspolitische Deutungen unmittelbar nach der Niederlage und unter den Bedingungen der Besatzung nicht durchsetzbar. Es wurde vielmehr deutlich, dass durch die Kriegsniederlage und durch die von Deutschland begangenen Verbrechen eine heroische Erzählung nicht zu rechtfertigen war. Auch der von den Frauenverbänden aufgeworfene Geschlechtergegensatz als Entlastungsstrategie wurde in der Folgezeit obsolet. Die Frauenpolitik trug von Anfang an die Verdrängungsgeschichte Nachkriegsdeutschlands durch das Ausblenden bestimmter Opfergruppen und durch ihre Bestätigung der nationalen Leidensgemeinschaft mit. Indem sich die Frauenverbände allerdings gleichzeitig darauf verständigten, ihr Teilhabebegehren mit dem Schlüsselbegriff der Staatsbürgerschaft zu begründen, riefen sie ein auf die Zukunft verweisendes Modell von demokratischer Teilhabe und nationaler Zugehörigkeit nach angelsächsischem Vorbild auf. Sie vollbrachten im Zuge des Staatsaufbaus eine Integrationsleistung, die ihre Ansprüche formal anerkannte, sie allerdings weiterhin sozial und politisch marginalisierte. Die nationale Erzählung lebte indessen von der Abgrenzung von der ersten gescheiterten deutschen Republik und griff auf ältere Traditionsbestände zurück. Die Distanzierung vom Nationalsozialismus wurde zur unabdingbaren Voraussetzung 183
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jeden politischen und staatlichen Handelns. Die Integrationsleistungen der ersten Jahre wurden allerdings auf Grundlage einer Vorstellung von „Volksgemeinschaft“ begründet, die auf einer nicht näher definierten ethnischen Grundierung von Zugehörigkeit beruhte. Die unter Besatzungsbedingungen mit einem weitgehenden Einspruchsrecht der Allliierten geschaffenen Institutionen und die Hinwendung zu einer demokratischen Teilhabegesellschaft garantierten einen demokratischen Verfassungsstaat, der die Freiheitsrechte und die Gleichheitsansprüche seiner Staatsangehörigen immer wieder verhandelbar und durchsetzbar machte. Dass dieser demokratische Staatsaufbau in seiner Anfangszeit mit der „Perpetuierung eines moralischen Zerrüttungszustands durch bewussten Verzicht auf das Bemühen um die Herstellung von Gerechtigkeit“111 gekennzeichnet war, wurde zum Signifikanten immer wiederkehrender demokratischer Krisen und nationaler Selbstzweifel.
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Arisen from Ruins: Socialist Nationalism in the GDR Jan Palmowski National anthems appear to capture the essence of the nation at the time of writing, for time immemorial. The GDR’s anthem, ‘Arisen from Ruins’, was written by the poet and Minister of Culture, Johannes R. Becher, and performed to music composed by Hanns Eisler, exactly one month after the proclamation of the GDR, on 7 November 1949.1 The assumptions of the newly founded state, expressed on behalf of all Germans, was fully on display in the anthem’s three stanzas.2 A new, better future would emerge from the ruins and pains of the German past, through common labour. This future was to be peaceful, in friendship with other peoples, overcoming war and conflict. And finally, Germans would be free, ploughing and building, ‘trusting their own strength, learning and producing like never before’. It issued a call to peace, for all Germans, to determine a new destiny that was different from the past, that was precisely not elevated above that of other nations. ‘Deutschland über Alles’ no more.
For a brief account of the anthem’s origins, see Behrens, Johannes R. Becher, S. 257f. 1. Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen und wir zwingen sie vereint, denn es muss uns doch gelingen, dass die Sonne schön wie nie |: Über Deutschland scheint. :| 2. Glück und Frieden sei beschieden Deutschland, unserm Vaterland. Alle Welt sehnt sich nach Frieden, reicht den Völkern eure Hand. Wenn wir brüderlich uns einen, schlagen wir des Volkes Feind! Lasst das Licht des Friedens scheinen, dass nie eine Mutter mehr |: Ihren Sohn beweint. :| 3. Lasst uns pflügen, lasst uns bauen, Lernt und schafft wie nie zuvor, und der eignen Kraft vertrauend, steigt ein frei Geschlecht empor. Deutsche Jugend, bestes Streben unsres Volks in dir vereint, wirst du Deutschland neues Leben, Und die Sonne schön wie nie |: Über Deutschland scheint. :|. 1 2
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It is easy to dismiss these lofty ambitions of the GDR’s founding fathers, and its cultural elites. The Berlin Wall and the world’s largest internal security apparatus per capita would hardly have been necessary had GDR citizens been bound together by an effective, socialist ‘national’ identity.3 And indeed, the GDR was constantly undermined by the coexistence of the larger Federal Republic of Germany. Any articulation of socialist national identity could always be undermined by alternative narratives, delivered to East Germans through family correspondence, West German visits, and near-ubiquitous West German television programmes. The problematic nature of the GDR’s founders’ ‘national’ socialist identity was demonstrated by the anthem’s own evolution. As the GDR became recognised as a distinctive state at the international level through the UN in 1972, the anthem’s assumption to speak for all Germans conflicted with the subsequent attempts of the Socialist Unity Party (SED) to delineate the GDR as a state – and a nation – of its own, in clear demarcation from western Germany. Consequently, the words of the anthem were no longer sung. The socialist nation articulated by Becher was undermined by the very state whose ideals it sought to express.4 And yet, precisely because the GDR’s existence was precarious on many levels, it yearned for legitimacy and identity even more. Up to 1989, scholars fiercely contested the extent to which the GDR claimed its own nationhood that was at once socialist as it was German, in opposition to the West German claim that its sovereignty extended across both states. It is no accident that the first part of Gert-Joachim Glaeßner’s magisterial overview of the GDR, published in 1988, is solely concerned with ‘The German Question and the German Nation’. Noting the difficulties each German half had in asserting a sense of nationhood, contributors emphasized the inherent dialectic in the SED claiming that the GDR was a state on equal footing with the FRG, while also insisting that socialist Germany was superior over the ‘im-
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As Jens Gieseke notes, the large number of unofficial informants for the Stasi (around 180 000 from 1975 onwards) in part betrayed the relative unwillingness of the wider population to denounce their neighbours in allegiance to the party; Gieseke, History of the Stasi, here S. 82–7. It is important to point out that the history of the ‘Deutschlandlied’, the Federal Republic’s Anthem, was no less problematic. Originally written with deeply liberal intentions, it was used over time to justify liberal, nationalist and imperialist visions of Germany, whilst the adoption of the third stanza as the FRG’s anthem – ostensibly to emphasize the need for unity – remained contested before 1989. Hermand, On the History, S. 251–68.
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perialist’ FRG.5 Analysing the debates amongst the GDR’s leading theorists, Sigrid Meuschel detected not only a growing significance of national identity relative to internationalist ideas of nationhood from the 1970s. She also observed an emotionalization of the nation and its attributes in the GDR as a strategy to compensate for the SED’s materialist, functional aspirations under Honecker.6 Inevitably, the rich scholarly discussion before 1989, so magnificently captured by Glaeßner, changed course in 1989/90, when the German question was settled through unification. During the 1990s, many of those involved in constructing the notion of a ‘socialist nation’ debated where they had gone wrong.7 And yet, whilst state and party failed to instil a sense of ‘national’ identity amongst East German citizens, a growing number of historians have pointed to the party’s many efforts to invent East German cultural traditions, insisting on their popularity. In an early interdisciplinary study, Monika Gibas and others looked at the GDR’s ‘anniversary’ festivals as socialist celebrations emphasizing economic progress, state and class, moving beyond more traditional celebrations of German nationhood.8 Such topdown festivals overseen by the GDR’s state council were complemented by local festivals that served to provide popular entertainment and celebrate – at least as far as the authorities were concerned – the citizens’ allegiance to the GDR.9 Adding to this early work on GDR festivals, historians have examined the creation of a ‘memory culture’ in the GDR.10 Jon Berndt Olsen highlighted evolving attempts by the SED to legitimize the GDR that reflected the party’s ideological priorities at any given time.11 In this context, historians have paid particular attention to how state and party sought to strengthen identifications with the GDR during the 1970s and 1980s through promoting the distinctive heritage of local history and traditions as distinctive to the GDR.12
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Grunenberg, Zwei Deutschlands. Meuschel, Auf der Suche. Schmidt, Das Zwei-Nationen-Konzept. Gibas u. a., Wiedergeburten. Seegers, Inszenierung Zwickaus; Rembold, Vom „Bollwerk deutscher Kultur“. 10 Demshuk, Mausoleum for Bach. 11 Olsen, Tailoring Truth. 12 Zell, Major Cultural Commemorations; Keil, The Preußenrenaissance Revisited; Palmowski, Inventing the Socialist Nation; Angelow, Kontexte ungleicher Deutung. 5 6
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Because GDR assertions of state and nationhood inevitably raised questions about the FRG, the international dimensions of socialist notions of identity have received far less attention.13 And yet, Becher’s anthem leaves no doubt: socialists aspired to create a better Germany not just for Germany’s sake, but as a quintessential contribution to a better international order. Even as the GDR vied with the FRG for laying claim to Germany’s classical canon as pointing towards a ‘better’ Germany, its transnational context made this often a complex endeavour.14 Artists joining the GDR from exile often had difficulty, for instance, in accepting the party’s narrow, nationalist interpretations of its classical heritage, deepened by its self-serving interpretations of socialist realism.15 Moreover, however hard it tried, state and party could not isolate citizens from the migration of foreign labour and students, chiefly from other socialist states around the World.16 The question of how identity could be framed in response to the global geopolitical context that sustained Germany’s cold-war division was always there, implicitly or explicitly.17 Only very recently have scholars begun to show how internationalism and solidarity were integral to every-day life in the GDR. In her outstanding dissertation, Katherine White has shown convincingly how 1970s every-day youth culture in East Berlin was infused with distinctive transnational influences.18 Through philanthropy and the notion of solidarity, countries in the Global South became part of East Germans’ imagined community.19 And indeed, East Germans acquired a language of human rights that emphasized class and the pursuit of peace, as part of a wider global peace discourse triggered by the 1976 Helsinki agreement.20 This begs the question how a distinctive sense of internationalism related to the inner-Ger See also the strong focus on the inner-German context in McKay, Official Concept of the Nation. 14 Kelly, Composing the Canon; Calico, Für eine neue deutsche Nationaloper; Demshuk, Mausoleum for Bach, here S. 48. 15 Kelly, Communist Nationalisms. 16 Mac Con Uladh, Guests of the socialist nation; Behrends u. a., Fremde und Fremd-Sein. 17 See, for instance, Panagiotidis, What is the German’s Fatherland; Complicating this binary cold-war perspective is Slobodian, Bandung in Divided Germany. 18 White, Red Woodstock Festival. 19 Weis, Politics of Machine. 20 White, Red Woodstock Festival, S. 22ff; Richardson-Little, Human Rights Dictatorship. 13
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man conception of nationhood, which the party as well as socialist scholars constantly saw in need of definition and re-articulation. This article brings into focus the transnational context to socialist constructions of national identity. It argues that there was much greater consistency in the evolution of a socialist sense of nationhood as it defined the GDR and its relation to the FRG than scholars have allowed. What did change – significantly – was how socialist nationhood was defined in relation to socialist internationalism. How the GDR related to other countries was integral to the socialist definition of nationhood – in theory and in practice – throughout. The geopolitical context, throughout, gave validation to socialist reconstruction as it happened in other countries and continents, liberating the SED from constant comparisons with the FRG. And as the GDR was recognised diplomatically from the early 1970s, and could demonstrate growing economic and scientific prowess, so its sense of confidence vis-à-vis other countries changed. Alongside this, the GDR retained a deep connectedness to German classical and local traditions, which gave socialists the cultural confidence to operate on a global stage. This preserved a vocabulary of national cultural memory shared by Germans East and West when the Berlin Wall fell in 1989. But the connotations that this language evoked was not necessarily the same in the East as it was in the West, not least because of a profoundly different understanding of how German culture and nationhood related to other countries. 1945/1946 saw the publication of two of the most important immediate German reflections of Germany’s path to catastrophe. Alexander Abusch, born 1902, had joined the communist party (KPD) in 1919 and the KPD leadership in exile in 1937 before moving to exile in Mexico in 1941. Upon his return to East Berlin he became deputy president (to Johannes R. Becher) of the Cultural League, and in 1958 he succeeded Becher as Culture Minister.21 He published ‘Germany Astray’ (‘Deutscher Irrweg’) in 1945, a historical reflection of the roots of Nazism in German society, politics and culture – a book that appeared in nine editions and became one of the most influential expressions of the early SED’s historical world-view. In parallel, Friedrich Meinecke, born 1862, was the last of Germany’s great historicist
21
https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/ biographische-datenbanken?term=abusch. Checked on 18. September 2020.
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scholars, and exercised a profound influence on West German post-war historical scholarship. In 1946 he published his own reflections in ‘the German Catastrophe’. Both authors argued that deep-seated aberrations had led to the rise of Nazism, which had evolved over centuries. Both authors focused on the persistent tensions between authoritarian, militaristic tendencies, and progressive, democratic forces (which Abusch, of course, detected with the proletariat rather than the bourgeoisie). Whereas for Meinecke the degeneration of the German bourgeoisie was largely spiritual, an irrational overready acceptance of authoritarianism, for Abusch the fundamental problem was the repression of class – from the peasants’ war in the sixteenth century onwards. But both authors readily acknowledged the importance of culture; this was perhaps unsurprising given that in the historical fragmentation of Germany, German nationhood had been cultural first and foremost.22 For both authors culture was critical for the redemption of the German people. But there was a critical difference. Meinecke, whilst praising Germany’s cultural achievements since Goethe (especially in music), accounted for the decline of the German bourgeoisie, its alienation from its own culture and values (‘Entartungsprozess’, p. 41) that enabled National Socialism. After World War II, he looked to its recovery through Germany’s cultural embeddedness in the occidental West, as the best of German culture was not only quintessentially German, it also came into its own within a ‘universal occidental’ context.23 Abusch, by contrast, had little interest in other cultures – east or west. For him, the problem of German culture and philosophy was that it had been removed from its social and political contexts at best, and that it was subservient to reactionary, conservative authority at worst.24 Thus, as Abusch emphasized in his further reflections in the 1951 edition, socialist Germany was now home to all progressive German traditions, in open conversation with cultural achievements elsewhere, but rooted in the German people, driving its moral and political regeneration.25
On the significance of the memory of Germany as a ‘Kulturnation’, see Kelly, Composing the Canon, S. 12f., 39f.; and Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat. 23 Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 171. 24 Abusch, Irrweg einer Nation (1945), S. 125–46. Over a number of editions between 1945 and 1960 Abusch discussed in an afterword how his original analysis of the ‘stray path’ the German nation had taken in its history was resolved in the progress of the GDR in the context of the two Germanies. This afterword changed as Abusch – and socialist intellectuals around him – grew more confident vis-à-vis the Federal Republic. 25 Abusch, Irrweg einer Nation (1951), S. 284. 22
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In the late 1940s and early 1950s, SED party leaders maintained that nationalism and nationhood were now no longer a prerogative of the bourgeoisie (which had abused it to sustain its militarism and imperialism), but of all working people. The national mission of the working class was thus anti-militarist, revolutionary, internationalist, and pursuing peace. The German working class was in solidarity with ‘peace-loving’ peoples elsewhere, but the German nation remained distinct precisely through its geography, its language, and its ‘national character’.26 Culture was critical, but people could only fully develop their cultural lives if they were truly free to do so, without facing economic constraints.27 It was a point reinforced by Anton Ackermann in his 1946 speech at the KPD’s cultural congress, as he emphasized that material and aesthetic (‘geistig’) culture were indivisible. German renewal had to be cultural, encompassing all classes, and it was essentially national, as German culture was indivisible.28 The close relationship between class, culture and ‘national’ identity in the GDR was never uncontested, not least by many of the intellectuals who had arrived in the GDR from exile abroad.29 Still, the close relationship between class, identity and nationhood was deepened through debates, during the 1950s, about socialist realism. At its core, socialist realism was to reveal the optimism, the higher inner qualities and the positive character of the common person (‘einfachen Menschen’), to be a model and example for others.30 Building on Germany’s national cultural traditions, socialist realism was to manifest the energy, pioneering character, and invincibility of the progressive individual.31 As Alexander Abusch noted in 1957, socialist realism was essentially deeply rooted in German culture, as from Goethe’s time onwards realism was always a particularly creative force when it was employed by artists of an aspiring class that used art to articulate transformative ideas.32 Socialist realism was integral to socialist culture, which was owned by all, and promoted all (irrespective of their means) to fully reach their creative potential. Free from capitalist limitations, socialist art led to a higher form of ethics and contribu 28 29 30
Grotewohl, Kampf um unsere Zukunft. Grotewohl, Grundrechte des deutschen Volkes, S. 334. Ackermann, Unsere kulturpolitische Sendung. Kelly, Communist Nationalisms, S. 83f. Georgy Malenkov at the XIX. Party congress of the Soviet Communist Party, quoted in Kuhirt, Volksverbundene Kunst, S. 1093. 31 Girnus, Einige ideologische Probleme, S. 917ff. 32 See also Abusch, Im ideologischen Kampf, S. 128. 26 27
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ted to a new, socialist way of life, overcoming any cultural differences between town and countryside. In socialism, German culture took on its highest appearance, in contrast to the FRG, where culture was by the few, for the few, and deeply corrupted by Western cultural influences, from the morbid, destructive work of William Faulkner to the flippancy of Rock’n Roll.33 Whilst the debates about socialist realism undoubtedly revealed how art and culture had become subsumed by socialist ideology, it is important to note that the reverse was true also. Culture had acquired a significance for the articulation of a distinctive GDR identity that was unparalleled in the West. Through the socialist realist lens, the music of Telemann or the work of Goethe became constitutive of the socialist individual in the GDR. If in 1951 Abusch warned that the cultural renaissance made possible in the GDR would in practice ‘increase the spiritual alienation between East and West’, by 1957 he asserted a struggle between two cultures, between a reactionary and a progressive culture. This struggle cut across the two Germanies, but in the GDR progressive culture had become dominant, hence the inner-German geographical (and ideological) border had decisive cultural significance.34 If the SED continued to be committed to German unity during the 1950s, it was committed to a socialist ideal of culture that transformed the working class; it was a commitment that served to strengthen, rather than undermine, the identity of the GDR as the socialist German nation. The national self-understanding of the party was on full display at the festivities to commemorate the 400th anniversary of Lucas Cranach the Elder, in 1953. Born in 1472 in Kronach (Franconia), he moved to Wittenberg in 1505 where he became court painter to the elector of Saxony. A prolific painter, he served intermittently as councillor in Wittenberg, and he bore witness (not least in his portraits of Luther) to the reformation. He moved to Weimar in the year before his death in 1553. Cranach had a biography that spanned the territories of the GDR and the FRG, and he was intimately connected to that crucial turning point of German history, the Reformation. The GDR’s celebrations focused on a joint exhibition between Wittenberg and Weimar; even if Cranach had lived in Weimar only for a year, it was the perfect way to signify Cranach’s place in an all-German cultural canon. Yet while addressed to 33 34
Abusch, Im ideologischen Kampf. Abusch, Im ideologischen Kampf, S. 39f., 65ff.
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all Germans, the Cranach celebrations were to be a clear profession to the cultural policies of the GDR, ‘to foster an interest amongst the entire population in the progressive forces of our nation’ so that it would be ‘enraptured’ by true patriotism. To the organisers, this was a perfect opportunity to strengthen socialism by lifting the cultural level of the masses.35 Cranach was celebrated through his realist depictions of nature, people, motherly love, and Heimat, a master truly rooted in the people. Shorn of any religious motivations,36 he was depicted as an artist who reached his peak in the early sixteenth century, as he sided with Luther’s national opposition against feudalist particularism and the Roman (Catholic) Church.37 For only art that was carried by progressive national ideas could truly reach its potential. From this perspective, the decline of the quality of his oeuvre – closely connected to the expansion of his studio and the growth of the number of commissions he took on – had two origins: his entering into the service of the Saxon Elector, and Luther’s (and his) siding with the bourgeoisie in the Peasants’ War in 1525.38 Cranach may have been a German genius, but his paintings constituted a visual proof that German culture could only come into its own when fighting privilege, and corrupt western (capitalist) influences. For the festivities themselves, no efforts were spared to impress the unity of the German nation. To be sure, their timing was less than ideal as the opening event, held on 19–20 July 1953, came just over one month after the June 1953 uprising. Only 150 guests from the GDR attended, with an additional 11 coming from the
Bundesarchiv – Stiftung Archiv der Politischen Parteien und Massenorganisationen (BArch-SAPMO), Büro für nationale Jubiläen beim Ministerium für Kultur (DR 105) 267: ‘Protokoll der 1. Sitzung des Lucas-Cranach Komitees in der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten am 12. September 1952‘, S. 2ff. 36 Neue Zeit, 26. Juli 1953, S. 7 ‘Bürgerliche Familie – religiös kostümiert? Kritische Bemerkungen zum Katalog der Lucas-Cranach-Ausstellung‘. 37 Neues Deutschland, 16. Oktober 1953, S. 1 ‘Lucas Cranach – ein realistischer Gestalter deutschen Lebens‘. 38 BArch-SAPMO DR 105 267: ‘Erklärung des Deutschen Lucas-Cranach Komitees zur 400. Wiederkehr des Todestages von Lucas Cranach dem Älteren‘. BArch-SAPMO DR 104 267: ‘Protokoll der Sitzung des Cranach-Komitees am 11. Dezember 1952 in der Deutschen Akademie der Künste in Berlin‘. See also Lüdecke, Lucas Cranachs revolutionäre Grafik. 35
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RG.39 For the main celebrations in October, 1200 invitations were sent to West F Germany for an all-expenses paid experience, but only around 75 came.40 Visitors first celebrated Cranach’s work in Wittenberg, and attended the naming of the ‘Lucas-Cranach’ school. But the high point of the festivities followed at the ceremony held in the Weimar National Theatre the following day. Hans Wiedemann, Weimar’s mayor, declared that this celebration deepened the sense of togetherness felt by Germans through their common culture. It was a message underlined by the music that framed the event, the overture to Wagner’s ‘Meistersinger’ (with its message that without art and culture the nation was endangered), and Goethe’s Götz von Berlichingen, portrayed as the rebel for national unity fighting against imperial law and feudalism.41 At the current revolutionary time, Wiedemann asserted, Cranach’s work appeared in a new light shone by the millions willing to ‘arise from ruins’: an aesthetic perspective thus turned into an emotional one, which led to a desire for action – an action to realise peace and unity. Paul Wandel, Secretary for Culture and Education at the Central Committee, added the importance of Cranach for all Germans – not just a few hundred or thousand.42 Proposing a toast to German unity, he referred not just to unity across east and west, but also to unity across class, assured through the leadership of the working class. When it came to framing the nation, German division was far from an embarrassment in the 1950s. The Cranach festival confirmed, in practice, the validity of socialist realism: here was a painter whose rootedness in the people and the realities around him – rather than any international influences – had brought out the best in him. And when he sold himself to the princes his art – inevitably – declined. But the Cranach festivities also show how Socialist ideas of nationhood and culture could be translated, as the German nation had come to assume very distinctive characteristics: it was owned by all, enjoyed by all, and led to the inspiration of all – a point driven home by the travelling exhibition of Cranach’s works to ensure BArch-SAPMO DR 105 267: ‘Protokoll über die Arbeitsbesprechung in Leipzig und Wittenberg vom 8.–9.7.1953‘. 40 BArch-SAPMO DR 105 252: ‘betr.: Deutsche Lucas-Cranach-Ehrung 1953: Statistik‘. 41 BArch-SAPMO DR 105 266: ‘Einladung: Festakt am 16. Oktober 1953‘; ‘Festvorstellung im Deutschen Nationaltheater anläßlich der Lucas-Cranach-Ehrung am 16. Oktober 1953‘. 42 BArch-SAPMO DR 105 266: Redemanuskript: ‘Festakt am 16. Oktober im Deutschen Nationaltheater in Weimar‘. 39
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that the master could inspire all those who could not afford to come to Weimar or Wittenberg. For this socialist realist identification with the nation, the Federal Republic served as an important, indeed essential, foil. A country keen on Western integration, re-affirmed by its rejection of the Stalin note in 1952, denied its essence, its true German culture. The masses should experience the deepest and innermost essence of their being not in ‘the products of American dream factories’, but through art produced by artists struggling with their environment.43 If the best that Cranach’s Franconian birthplace could do to commemorate the master was the creation of a commemorative liquor, the ‘Lucas-Cranach-Edellikör’,44 this demonstrated the corrosive influence of capitalism on German culture in the FRG. Of course, state and party sought to define the nation not just in relation to the GDR, and the context of German division. Integral to any reference to the other Germany was always a socialist international world view. In the early 1950s, this was perhaps most fully on display at the III. World Youth Festival, held in conjunction with the academic summer games, from 5–19 August 1951. Under the umbrella of the socialist World Federation of Democratic Youth, the Free German Youth (FDJ) movement led by Erich Honecker hosted an unprecedented ‘international’ celebration in East Berlin, claiming two million visitors from the GDR, 35,000 visitors from the Federal Republic and West Berlin, and 26,000 international delegates.45 Framed as a ‘demonstration for peace’ not only through sports competitions but also through rich cultural programmes which celebrated national folklore from around the world, it embedded the party’s aspirations for national unity under socialism in a global protestation, made by all participants at the final rally, for internationalism, demilitarisation and the peaceful coexistence of all nations.46 Whilst the 1973 World Youth Games in East Berlin have been hailed, by contemporaries and historians, for the richness of their international encounters (many BArch-SAMPO DR 105 267: ‘Das Verhältnis zwischen Volk und Kunst wiederherstellen‘ (3. November 1953). 44 BArch-SAPMO DR 105 267: Österreichische Volksstimme 22.10.1953, S. 1: ‘Wo Lucas Cranach lebte und wirkte‘. 45 Naumann, Die III. Weltfestspiele. The number of international delegates is broadly confirmed by an internal count of delegates accommodated on 11/11. August (23,049), noting that more would have looked for private accommodation. BArch-SAPMO DY 24 8061: ‘Abschlußbericht der HA Quartiere. Berlin, den 29. August 1951‘, S. 18ff. 43
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Neue Berliner Illustrierte (‘Festival des Friedens’), Sonderheft: August 1951.
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of them unplanned) and for the genuine (and lasting) interactions between the event(s) and the everyday,47 its 1951 predecessor has been much criticized for its exaggerated ambitions, its bombastic performances and its organisational failures.48 An abundance of reports from local FDJ functionaries spoke of disillusionment and resentment at having to contribute to the festivals. Indeed, a substantial proportion of the two million GDR participants consisted of adults (including pensioners), eager for a sponsored trip to Berlin. The festival’s ideological impact was undermined further by inadequate food provisions for the majority of GDR participants, which contrasted greatly with the generous food rations reserved for the international visitors.49 Little wonder that hundreds of thousands visited West Berlin, with almost one million meals being distributed by the West German authorities for the participants of the Youth Festival. For Erich Honecker, who so desired to contrast this demonstration of the GDR’s youth for peace with an aggressive, warmongering and cosmopolitan FRG infused with Americanism, this was a propagandistic disaster.50 The World Youth Festival was, nonetheless, highly revealing as here socialist construction of self and other was on full display. First, East Germans presented themselves as hosts to, and in that way equal to, the 104 nations represented at the festival. For Erich Honecker who as head of the Free German Youth was responsible for bringing the Youth Festival to Berlin, it was an opportunity for Germany’s youth to arise from ruins. The city, ‘still bleeding from a thousand wounds’, would be alive with the song and dance of young people from around the world. Their voice would resound in Berlin’s theatres, there would be no borders of separation, but a peaceful reunion across languages and continents.51 East German folklore ensembles did not yet win medals in the competitions, which GDR commentators took as evidence that the regeneration of German culture still had some way to go by socialist s tandards.52
49 50 47 48
White, Red Woodstock Festival, Kapitel 1. In particular, see Ruhl, Stalin-Kult. Ruhl, Stalin-Kult, S. 36f. Buddrus, Jugend der DDR, here esp. S. 140–50.
BArch-SAPMO DY 24 18943. Erich Honecker in: ‘Stenographische Niederschrift der Pres-
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sekonferenz über die Tagung des Rates des WBDJ in Wien von November 1950’, f. 11. See also BArch-SAPMO DY 24 18954: ‘Erfahrungsbericht der Hauptabteilung Veranstaltungen und Programme‘ (Berlin, 25 Sept. 1951), here f. 17.
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By peacefully competing with other nations, East Germans were now part of a community of equals, vying for recognition on an equal basis. Second, whilst there was a full cultural programme presenting cinema screenings, concerts, and national folklore from all parts of the globe, only a small proportion of visitors were able to receive tickets for these events. Even with two weeks to go, organisers only had vague information on the international and the national groups coming to perform. Often instruments and technical equipment were missing, and the distribution of tickets – necessarily undertaken at short notice – appeared random and unrelated to demand, so that many seats were left empty.53 In light of these problems, the official numbers of visitors and participants, which recorded 4,917 events with 10,8 million participants/spectators in marches, sports competitions, folklore events, plays, film screenings and ‘national’ encounters were undoubtedly too high. But these events nonetheless put German classical and folklore tradition in relation with the present and future. German tradition did not exist in and of itself as a marker of the GDR. As Germany’s youth and its workers assumed their cultural traditions they would strive not only towards peace, but also towards achieving socialism and the plan.54 Cultural creativity, work, and a striving for freedom were intertwined, leading not only to greater artistic sophistication. They formed a ‘source of life-giving patriotism, true national consciousness and noble national dignity, a well of the peoples’ force and invincibility.’55 Third, the international community that socialist Germany was part of was clearly – and distinctly – defined. Quinn Slobodian has already noted how ‘socialist chromatism’ was framed at the World Youth Festival. In its imagery of different races existing side-by-side, phenotypic markers such as skin colour came to constitute non-hierarchical racial difference, constructed from late Russian imperial and early Soviet multi-ethnic representations.56 But alongside this ambivalent attitude towards race, a new, global perspective and a new aesthetic were unmistakeable. Of the 104 nations, organisers noted with pride that over
53
See, for instance, BArch-SAPMO DY 24 18954: ‘Erfahrungsbericht der Hauptabteilung
Veranstaltungen und Programme’ (Berlin, 25. September 1951). Koch/Mückenberger, Für den Frieden, here S. 15. 55 Ebd., S. 15. 56 Slobodian, Socialist Chromatism. 54
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1000 participants came from colonial territories.57 The organisers were particularly keen to highlight contributions from China, also pointing to the popularity of events featuring Korean representatives.58 This was complemented by a particular view of Western Europe illustrated by the heroic reception offered to Raymonde Diem, a French communist activist previously imprisoned for her resistance to the French Indochina war. The East German leadership, in other words, celebrated a world view that looked beyond the global north for evidence for the historically inevitable advance of communism. Even in capitalist countries like France, there appeared to be clear signs that socialism developed on fertile ground. It was a world view that looked east and south for inspiration, embedding its appraisal of western Europe in that context. For all its privations, the GDR was on the winning side of history. Fourth, it is as easy as it is tempting to criticise the megalomania involved in organising an event for over two million people, with effectively six months’ notice, less than two years after the GDR’s foundation, and six years after the end of World War II when much of Berlin was still in ruins. Even in its own internal assessments, the FDJ and the organisers were highly self-critical of mistakes made in the organisation.59 But despite all its shortcomings, the GDR pulled it off. A new stadium for 30 000 spectators, an Olympic-size swimming stadium and a sports hall for 1200 spectators, along with a giant children’s recreation park (including accommodation) were all built in less than six months. In a city with only 3500 hotel beds, hosting 2 000 000 visitors and athletes resulted in a massive logistical provision of tents, bedding, sanitary facilities, food, and clothing.60 Bookended by a colourful opening ceremony and an evening of fireworks to end the festival, for 200 000 spectators in the Lustgarten in Berlin’s historic centre: even if East Germans could not (yet) lay a claim to every-day plenty, the festival offered many glimpses of socialism’s economic
Naumann, Die III. Weltfestspiele, S. 216–17. Fühmann, Der Einzug, S. 43–47. 59 BArchSAPMO DY24 18953: ‘Abschlussbericht der Abt. Empfang und Verabschiedung im Vorbereitenden Komitee‘ (31.8.1951); ‘Abschlussbericht der Dolmetscherabteilung des Vorbereitenden Komitees‘ (Berlin, den 28.8.1951). This folder contains a number of other revealing internal evaluations of the festival’s shortcomings and successes. 60 BArchSAPMO DY24 18943: ‘Betrifft: Vorläufiger Materialplan zur Vorbereitung der Weltjugendfestspiele Berlin 1951‘ (early 1951?), and ‘Betrifft: Materialanforderung des Deutschen Sportausschusses zu den Weltjugendfestspielen Berlin 1951‘ (early 1951?). 57 58
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potential, its ability to overcome adversity.61 The international perspective offered an economic counterpoint to the ever-present comparison with West Germany, where East German economic prowess could be gauged, appreciated and validated.62 From the late 1950s, references towards unification became more robust. Alexander Abusch, in the afterword to his final edition of the ‘Deutscher Irrweg’ of 1960, noted that after 15 years of the Cold War, history could no longer be turned back. In the GDR the German nation had been fully realised, here the humanist values of the past were fused with the socialist culture of the present into a socialist ‘national’ culture.63 Alfred Kosing, perhaps the most prominent philosopher to write about the relationship between the GDR and German nationhood, was even more explicit. Following the SED’s V Party Congress in 1958, which Kosing asserted marked the ‘topping out ceremony’ in the construction of socialism, he noted that the GDR was well under way to genuine wealth and living standards without the kind of external support enjoyed by West Germany. To Kosing, the success of socialism in the GDR was remarkable by global standards, for it undermined the argument that socialism could only flourish in Eastern, hitherto backward societies. While the GDR was now at one with other socialist nations, developing a higher social and cultural consciousness, it also constituted a beacon to West Germans, for the entire nation.64 Developing this argument further after the construction of the Berlin Wall, Kosing asserted that in the GDR the German nation had finally been realised, here the working class had succeeded in its moral and social regeneration. Put differently, the German nation was in a transitional state towards the socialist nation, a transition that would be overcome through unification. Even more explicitly than in 1958, Kosing legitimized the socialist nation through its economic success: Only fifteen years after its creation, the GDR was Europe’s fifth most successful economy and it was world-leading in industrial production, living standards, educational provision, and social provision. It had achieved this entirely through its own strengths, despite the country’s vulnerability through the open border (until 1961), and the particular
See the rich material of pictures ‘demonstrating’ the festival in all its glory in Neue Berliner Illustrierte: ‘Festival des Friedens’ (Sonderausgabe, August 1951). 62 Greulich, Die Freundschaft siegt. 63 Abusch, Irrweg einer Nation (1960), S. 328f. 64 Klein/Kosing, Sozialismus siegt. 61
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devastation of its infrastructure during the war. ‘This is the real German economic miracle of which we can justifiably be proud’, wrote Kosing.65 Following the V Party Congress, art, literature, history, all emphasized explicitly the socialist nationhood of the GDR. Reflecting on the work of Johannes R. Becher, Marianne Lange wrote in 1961 that communism overcame all alienation of the individual with their being, thus the new socialist person would be poetic, open to art and literature as never before. Acknowledging Goethe’s and Schiller’s seminal role in founding a German national literature (‘Nationalliteratur’), they had done so before the creation of a German nation. Literature of national greatness was deeply connected to the historical mission of the nation, joining other arts to form a national culture. The reality of socialism, which Becher had first experienced in the Soviet Union but which had instilled a deeper sense of patriotism in him, impacted deeply on literary creativity, which could only reach its pinnacle in conjunction with the working classes. Only in socialism could a new national culture truly flourish, hence the GDR marked the beginning of the most significant cultural epoch of German history.66 In one of the first academic reflections on the construction of the Berlin Wall, Rolf Rudolph noted that the GDR had now asserted its right for ‘national self-determination’, free from imperialism and militarism. Overcoming these was a question of survival (‘Lebensinteresse’) of the German people in the GDR and the FRG.67 Max Steinmetz affirmed the importance of comprehending the Germans’ national history in its entirety, defending it against any ‘European’ or ‘occidental’ ideas. He demanded that more attention was focused on sites of memory past and present that enabled Germany’s history to be appreciated – castles and churches, technical monuments, memorial sites, landmarks of the workers’ movement, sites of resistance. These made more palpable the Heimat, the socialist fatherland. There was one German working class, one people, one nation – but it was the socialist fatherland that pointed to a socialist unified Germany, a socialist nation (to be). For this reason, it was critical that historians focused on fostering a historial and popular appreciation of the GDR in its diversity and distinctiveness.68 The socialist concept of German 67 68 65 66
Kosing, DDR in der Geschichte. Lange, Johannes R. Becher. Rudolph, Der 13. August 1961, S. 1465. Steinmetz, Aufgaben der Regionalgeschichtsforschung.
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unity and nationhood continued to evolve, while the view of West Germany as harbouring all that was inimical to true German nationhood had hardened. As Kosing affirmed, the ‘German question still referred to the division of Germany, but whilst West Germany was an ‘anti-national’ state, the GDR was the true embodiment of the German nation in politics, culture, science.69 The ideal of a socialist German nationhood was sustained throughout the 1960s, and was in abundant display in 1967, the ‘year of national jubilees’: in this year, the GDR celebrated the 50th anniversary of the ‘Great Socialist October Revolution’, the 150th anniversary of the Wartburg festival, and the 450th anniversary of the beginning of the German reformation. As the latter two were intimately connected to the Wartburg (where Luther translated the Bible into German), Eisenach was chosen as the host for a whole range of festivities, including the international singers’ meeting at Pentecost. Recalling the medieval minstrel captured not only in a number of poems but also in Wagner’s Tannhäuser, the organisers wanted the socialist singing movement to capture the fulfilment of a centuries-old human longing for a peaceful and nice life.70 Singing was, after all, integral to the political gatherings of the workers’ movement since the nineteenth century.71 As the deputy minister of culture, Horst Brasch, assured the assembled singers, at a time when the GDR embraced technological progress, rationalisation and industrial innovation, it was all the more critical to foster the socialist national culture, and singing had a particular propensity to foster the cultural activity of everyone.72 As before, the nation was intertwined with class. The commemorative volume on the reformation affirmed the view that, for all Luther’s importance for the language, culture and history of Germany, Luther’s support for the princes in the peasants’ war sustained particularism.73 This message was made all the more clearly in the Wartburg commemorations. As the Rector of the Friedrich-Schiller University of Jena noted, the original progressive nature of the student fraternities was increasingly 71 72
Kosing, DDR in der Geschichte. BArch-SAPMO DR 105 283: ‘Willenserklärung der sozialistischen Sängerbewegung‘. BArch-SAPMO DR 105 283: ‘Sängerfest – Presse‘. BArch-SAMPO DR 105 283: Horst Brasch: ‘Liebe Bürger Eisenachs, Liebe Sängerinnen und Sänger, Liebe Freunde und Genossen‘ (no date). 73 BArch-SAPMO DR 105 286: ‘Abschlußbericht über die Arbeit an der Festschrift „450 Jahre Reformation“‘ (23. Februar 1967). 69 70
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appropriated by the bourgeoisie and by imperialism, leading up to the fraternities’ unflinching support for Nazism. The quest for unity alone did not lead to happiness, it was essential that Germany’s political, cultural and economic development was led by the progressive working class.74 Beneath the ideological fits and starts of the Ulbricht years, the national perspective is characterized by remarkable continuity as well as some evolution. Ideologically, unity could only be achieved under the leadership of the working class. While West Germany continued to be an important foil for defining GDR identity, with growing prosperity and self-confidence (as well as the Berlin Wall) references to the hollowness of capitalism’s allure diminished, as protestations against West Germany’s politics, and its fascist legacy, increased. Moreover, the concern of the party’s leadership with questions of culture and identity never waned. This went far beyond a concern for ideological purity. When the Ministry of Culture, for instance, urged changes to the manuscript of the commemorative history of the German reformation, this included the Politbureau’s wish that the volume contain a chapter on Luther’s importance for German music – after all, the Politbureau noted, Engels had referred to Luther’s ‘Ein feste Burg’ as the ‘Marseillaise of the German peasants’ war’, with Marx referring to it as Germany’s first national anthem.75 The Politbureau was equally involved with the commemorations to the Wartburg Festival, with Kurt Hager as the headline speaker. These events acquired their meaning precisely as an ensemble: the GDR celebrated itself as the end of German history, arisen not just from the ruins of World War II, but of German history and culture going back to the Reformation, and to the medieval period. For socialists the GDR nationhood was founded firmly on German culture, at home in the GDR.
BArch-SAPMO DR 105 282: ‘Rede Prof. Dr. Drefahl Rektor der Friedrich-SchillerUniversität Jena bei der Konstituierung des Initiativkomitees für die Vorbereitung der 150-Jahr-Feier des Wartburg-Festes der deutschen Burschenschaften‘. See also BArchSAPMO DR 105 283: ‘Erklärung der jungen Arbeiter und Studenten, die anläßlich der „Manifestation der Jugend und Studenten der DDR“ (am 14. Oktober 1967) auf der Wartburg versammelt sind‘. 75 BArch-SAPMO DR105 286: ‘Lieber Genosse Prof. Dr. Leo Stern‘ (Letter from Johanna Rudolph, Ministry of Culture, Berlin, 11. August 1966). 74
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Whilst there were no direct references to the GDR as a distinct, separate ‘people’ (‘Volk’), all the connotations were there. Thus, references abounded to the socialist fatherland, the GDR – an unpolitical term that referred to, in both East and West German national anthems, unambiguously to a united Germany. And if Horst Brasch argued, in his speech to mark the 1967 Wartburg singing festival, that socialism comprehended all aspects of the life of the people – its productive as well as its spiritual, cultural development, it did not need spelling out that he referred to the GDR only. Fourteen years after the Lucas Cranach festivities, the scale of the 1967 celebrations revealed an economically much more potent, and confident, GDR. Throughout the year, Eisenach’s cultural calender recorded an event almost on a daily basis.76 Most of these events, such as the GDR’s largest annual spring festival (the ‘Sommergewinn’), or the regular plays and concerts in the state theatre, would have happened anyway. Even though these were only tenuously linked to the 1967 festivals they masked a lack of bottom-up traction of most of these ‘national’ cultural festivals.77 Moreover, they displayed (and performed) the diversity of ways in which the socialist nation was celebrated, and the advent of a popular culture, ranging from popular festivals to classical music and theatre, to socialist competitions and youth festivals. It was the socialist national culture, the ensemble of artistic forms, made manifest. Where Wittenberg, fourteen years earlier, had witnessed a specific celebratory moment, in 1967 Eisenach bore witness to real-existing socialist culture in the GDR.78 The confidence with which the GDR celebrated itself was validated and reinforced by its self-representation against an international context. While never tiring of referring to socialist internationalism as the context of the GDR’s national aspirations, now this related to a firm perspective that the GDR had taken its rightful place as an advanced nation by global standards. The 1967 declarations of the socialist singers’ movement were closely tied to the upcoming GDR’s XXth ‘Birthday’ celebrations BArch-SAPMO DR 105 280: See esp. ‘Veranstaltungsplan im Bereich der Abteilung Kultur, Rat des Kreises Eisenach‘. 77 Zell, Major Cultural Commemorations. 78 As the state theatre introduced its programme plan for 1967, the ‘state theatre bears witness of the development of socialist theatre (sozialistische Theaterkunst) of the German Democratic Republic. It is documented through a programme …’ BArch-SAPMO DR 105 280: ‘Veranstaltungsplan im Bereich der Abteilung Kultur, Rat des Kreises Eisenach‘. 76
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in 1969, assuring the party that every choir would put a present onto the Republic’s gift table that would bear witness to the pride of all people in being a citizen of the sovereign GDR. On one important level, this contributed to a consistent pattern of national birthday celebrations to which ‘gifts’ from citizens to ‘their’ state were integral.79 At the same time, the period of 1967-1969 constituted a pivotal moment in which the GDR reflected on itself as a mature German state with all the promise of a modern, socialist nation. The GDR’s celebrations of its fulfilment of German culture happened at the high point of its own sense of the ‘socialist modern’.80 It was in this period when modern socialist town centres were built across the GDR’s district capitals – and Berlin first and foremost. And it was in this period that the Torgau Initiative heralded the ‘Take Part!’ initiative, initially in celebration of 1969. This was a time when the promise of socialism seemed more than that, it became set in the stones of the GDR’s major towns. The transformation of socialism appeared demonstrable and within reach, through technology, science, and architecture. The persistent references, in 1967, to the transformation of society through rationalisation and technological progress, were no accident. If by 1959 observers celebrated the ‘topping out’ of the construction of socialism, ten years later the construction of socialism neared completion, ready to be inhabited and its promise fulfilled. Once again, the GDR’s celebration of its German identity derived its full meaning from the party’s own confidence of the future, demonstrated by international, ‘rationally’ evidenced parameters. The GDR presented itself as rooted in its culture, looking towards a future determined by modernity and technological progress.81 The GDR’s 1974 constitution elevated the GDR to a ‘socialist nation’ as GDR citizens were no longer Germans, but ‘people (Volk) of the GDR’. While Alfred Kosing did not espouse the notion of the ‘People of the GDR’ he nonetheless defended, in his important 1975 article, the assertion of the VIII Party Congress, that a socialist society would inevitably constitute a socialist nation that differed fundamentally from a bourgeois nation. Rejecting West German experts’ view headed by Peter Christian BArch-SAPMO DR 105 283: ‘Willenserklärung der sozialistischen Sängerbewegung‘. Betts/Pence, Socialist Modern. 81 On the affinity between communism and modernism, see Plaggenborg, Experiment Moderne. 79 80
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Lutz, that the German nation was first and foremost characterized by culture, Kosing wrote that economic and social factors were critical in forming a nation, along with other important factors such as ethnicity, language and the ability of a group of people to survive as a unit, as a state. Just as the German nation had been separated from Austria in the previous century, so the GDR’s social, economic, political and cultural transformations over the past twenty-five years had created the socialist nation. In the GDR social differences have been overcome, so it was truly possible to speak of a national community. A socialist nation like the GDR was in essence international, forming ever closer bonds with other socialist states. Its flourishing as a nation did not lead to particularism but to exchange and the learning from others. And this contrasted sharply with the Federal Republic’s integration into the European Economic Community, through which its internationalist capitalist classes tried to acquire more power, defying national interests, particularly those of the working class.82 Conceptually, the party’s position was quite close to the one it had developed by the first half of the 1960s. If the GDR already constituted a socialist fatherland, if the national question was defined by class with only the GDR capturing the progressive essence of the German nation, was it really a radical shift to declare the GDR a socialist German nation distinct from the FRG? From this perspective, the 1974 ‘shift’ was a logical consequence of previously developed positions. Nonetheless, the concept of the socialist nation and the ‘people of the GDR’ raised stark questions about the continuity of bonds of language, culture and family. The primacy of class over culture (rather than their coexistence) was a significant shift in a nation whose identity was traditionally defined by culture first and foremost. Moreover, not only did the SED declare the reality of the GDR as a socialist nation – it also gave the people of the GDR constitutional, and therefore legal, status. And this was difficult to reconcile with the professed aspirations of the GDR’s founding fathers, that all of Germany should arise from ruins – not just the GDR.83 In practice, the constitutionally enshrined articulation of GDR nationhood was quietly de-emphasized from the late 1970s. The idea of a GDR constituting its own people had been a step too far, even amongst those Marxist-Leninist scholars that 82 83
Kosing, Theoretische Probleme. On the paradigm shift in the SED’s conception of nationhood, see also Krisch, Nation Building.
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had done so much to lay an intellectual foundation for the distinctive identity of the GDR vis-à-vis West Germany. From the late 1970s the party expressed the GDR’s identity in ways that were reminiscent of the 1960s. The GDR epitomised, from this perspective, a new level in the history of progressive forces in Germany, which traced their origin not least to the early bourgeois revolution of the sixteenth century, tied to the reformation and Thomas Müntzer.84 Perhaps the most important shift in the party’s conception of nationhood came in relation to how the GDR related to other nations. Even more pronounced than in previous decades was pride in what had been achieved, against adversity, which had turned the GDR into a prosperous nation characterised by scientific progress.85 The party also advocated socialist integration with other nations but – in clear demarcation to the integration of the European Economic Community – this entailed each state contributing their own distinctiveness and strengths towards a socialist community of nations. This sense of the GDR’s place in the world was underlined by a deep awareness of technological progress, manifesting itself in the rise of computer technology,86 as well as the country’s need to embrace new production technologies.87 Pride in GDR science and technology entitled GDR citizens to look to the future with confidence; but this could only happen through a full appreciation of the GDR’s past. When Erich Honecker articulated the ideological goals of the 500th birthday celebrations of Martin Luther in 1983, he insisted that they were to demonstrate the creative appropriation of the heritage and the progressive traditions of the people.88 The GDR had deep roots in the history of the German people, with the working class assuming responsibility for the nation’s heritage, as progressive heritage and humanist traditions were integral to social progress, leading to socialist patriotism and international activism.89 To be sure, the ideological conception of the celebrations still referred to the ‘Staatsvolk’, the People of the state of the GDR, but much 86 87 88 89 84 85
Bartel, Martin Luther. Hager, Geschichte und Gegenwart, S. 164. Klenke, Kampfauftrag Mikrochip. Drodowsky, Zeitgewinn; Probst, Grundlagenforschung von heute. On the GDR’s appropriation of German heritage, see Keil, Preußenrenaissance revisited. BArch-SAPMO DR 105 214: ‘Konzeption zur Durchführung des Festaktes des Zentralkomitees der SED, des Staatsrates, des Ministerrates und des Nationalrates der Nationalen Front (Berlin, den 2.2.1982)‘.
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more common in the celebrations was a reference to the (common) humanist traditions of the German people. As before 1974, the GDR’s particular connection to – and responsibility for – all Germans was recognised.90 Martin Luther’s 500th birthday was celebrated in the newspapers, on film and television, in theatre, in talks throughout the GDR delivered in the Cultural League and the URANIA association, through international conferences, commemorative coins and stamps, and a host of exhibitions.91 The fusion of local and national celebrations, evident at the Luther celebrations of 1967, were taken to new levels now, with the GDR’s library association alone reporting 18 exhibitions, and events in fourteen libraries across the GDR.92 Local popular festivals paid tribute to Martin Luther in their decorations, floats and events, whilst the GDR’s regional and local theatres dedicated their own programmes to the event.93 Once again, it is clear that often references to the 1983 celebrations were no more than lip-service, as the Erfurt theatre and opera house, for instance, dedicated its programme to the GDR’s heritage with performances of Shakespeare, Schiller and Wagner – performances that would have taken place anyway.94 Still, it would have been difficult to live in the GDR and not be part of the Luther celebrations in a number of ways, however nominal the references might have been. And conversely, the party had good grounds for claiming that Luther was integral to the GDR’s heritage and culture – in theory and in practice.
BArch-SAPMO DR 105 214: ‘Thesen’; BArch-SAPMO DR 105 214: Festakt zum 500. Geburtstag Martin Luthers. Berlin, Deutsche Staatsoper 9. November 1983. 91 BArch-SAPMO DR 104 211 ‘Information über den gegenwärtigen Stand der Martin-Luther-Ehrung der DDR 1983 (1. Entwurf; Berlin, den 8.5.1981). See also BArch-SAPMO DR 104 207 ‘Kulturbund der Deutschen Demokratischen Republik – Beschluß: Beitrag des Kulturbundes zur Luther-Ehrung der DDR im Jahr 1983‘; ‘Konzeption für die Konferenz des Präsidiums des Kulturbundes der DDR „Luther in Geschichte und Gegenwart – Größe, Grenzen und Wirkungen“ vom 12.–14. November 1982 in Halle/Saale‘. See also further evidence of conferences held through the libraries and museums in the GDR in BArch-SAPMO DR 105 218. 92 BArch-SAPMO DR 105 218: ‘Bibliotheksverband der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppe Luther-Ehrung, Magdeburg, 15.11.1982‘. 93 Zell, Major Cultural Commemorations, Kapitel 5. 94 BArch-SAPMO DR 105 236: ‘Bericht über die Inspektion […] zur Gewährleistung eines reichen und vielseitigen, die sozialistische Gesellschaft repräsentierenden Kulturangebotes […] in den Bezirken Halle und Erfurt’. 90
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The celebrations climaxed in the festive ceremony of 9. November in the East Berlin State Opera, presided by Erich Honecker. Luther was celebrated within the context of the GDR’s appreciation of its historical ‘heritage’ (‘Erbe’), a broad conception of the GDR’s traditions that embraced all aspects of culture, high and low, progressive and not-so-progressive. Gone were the frequent references to Luther’s subservience to the Princes and his hostility towards the peasants in the Peasants’ War. No longer considered the antithesis to Thomas Müntzer, he was now celebrated as the historical figure without whom Müntzer’s work would not have been conceivable.95 The identity that the GDR sought to express was now about so much more than the realisation of socialism, and national identity. Luther’s memory served to express, amongst others, social rights (of women, for education, etc), a feeling of shelteredness (Geborgenheit),96 and a deepening of attachments to the Heimat.97 Luther’s striving for a ‘peaceful, humane and purposeful life’ was aligned with Honecker’s ambition that socialism needed to fulfil the individual life needs of the population.98 Conversely, Luther also stood for hard work.99 The celebrations were to emphasize Luther’s work ethos – through his chorales and his personal work ethic – not only as part of the GDR’s heritage, but also to admonish shirkers.100 If the reality of socialism did not always meet expectations in practice, this was part of the dialectic of a developed socialist society,101
BArch-SAPMO DR 105 211: ‘Information über den Stand der Vorbereitungen der Martin-Luther-Ehrung der DDR 1983‘ (Berlin, den 18.5.1981), here f. 5. BArch-SAMPO DR 105 207: ‘Konzeption zur nationalen Luther-Ehrung in der Deutschen Demokratischen Republik anläßlich seines 500. Geburtstages‘ [approved by the SED Central Committee 16. May 1979], here esp. ff. 5–6. See also BArch-SAPMO DR 105 182: ‘DDR: Offizielle Thesen über Thomas Müntzer’ (1. February 1988). For a more detailed exposition of the political reframing of Luther’s legacy for the 1983 celebrations, see Zell, ‘Major Cultural Commemorations’, Kap. 5.2.2. 96 BArch-SAPMO DR 105 214: ‘Thesen’. 97 BArch-SAPMO DR 105 236: ‘Bericht über die Inspektion […] zur Gewährleistung eines reichen und vielseitigen, die sozialistische Gesellschaft repräsentierenden Kulturangebotes […] in den Bezirken Halle und Erfurt’, here f. 9. 98 BArch-SAPMO DR 105 214: ‘Thesen’. 99 Lüdtke, World of Men’s Work. 100 BArch-SAPMO DR 105 207: ‘Grundlinie des Referats für die konstituierende Sitzung des Komitees zur Luther-Ehrung der DDR 1983’, f.6. 101 Kosing, Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft. 95
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and it was down to every individual to change this. Socialism was (only) as good as people made it to be.102 The Luther celebrations provided excellent grounding for another trope of GDR national identity of the 1980s, that went far beyond socialist internationalism in substance. Whilst still being committed to being part of the socialist family of nations, the Luther celebrations enabled the GDR to point to its global prominence, as a leading economy with a heritage of worldwide significance – particularly for those countries with significant protestant populations.103 In the Luther commemorative ceremony, no opportunity was missed to refer to the international significance of sites of the reformation, including Wittenberg and the Wartburg.104 The notion that the GDR, despite its relatively small size, was a nation whose culture was globally pre-eminent, was attested not just by how its claim to Luther’s heritage was expressed. It was also visible in the confidence with which the party commissioned one of the world’s largest paintings, Werner Tübke’s panorama of the peasants’ war, created in its own purpose-built construction between 1976 and 1987. But as illustrative as these (re‑)articulations of identity rooted in the early modern period is another celebration of self – the 750th anniversary celebrations of Berlin, celebrated in both parts of the city in intense rivalry.105 According to Kurt Hager, the East Berlin celebrations were intended to strengthen East German national consciousness, increase Berlin’s international standing as a socialist metropole, and help overcome any challenges to a distinctive East German identity.106 Representing East Berlin as a global metropole became imperative, leading to a number of historicist construction projects (including the Nikolai quarter and the German and French Cathedrals), alongside the concentration of resources to build East Berlin’s new towns. The scale with which the event was celebrated was as unmistakeable as it was problematic for GDR citizens who saw scarce resources being diverted for the privileged construction of the capital. BArch-SAPMO DR 105 214: ‘Thesen‘. Bartel, Martin Luther, S. 963. 104 BArch-SAPMO DR 105 214: Festakt zum 500. Geburtstag Martin Luthers. Berlin, Deutsche Staatsoper 9. November 1983. 105 Karl Heinz Krüger, ‘Wat de kriegen kannst, dat nimmste‘, in Der Spiegel, Jg. 2 (1987): https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13520414.html (accessed on 11. August 2020). 106 Thijs, Politische Feierkonkurrenz, S. 74f. 102 103
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The party’s aspirations were also reflected in the celebratory events themselves, culminating in the pageant on 4 July 1987. The scale of these dwarfed anything on offer in West Berlin, as hundreds of festivities held throughout the year accompanied concerts, exhibitions and memorial events held under the aegis of the anniversary. In the effort to show to the world (and the GDR population) that East Berlin was a cosmopolitan city of international significance, no expense was spared to bring in international artists including the Vienna Philharmonics, as well as international singers and pop stars. The celebrations also included representations of the GDR as a place of science and advanced technology. Evidenced through Berlin as a ‘significant city of science and culture (,bedeutendes wissenschaftliches und geistig-kultruelles Zentrum’), citizens were invited to imagine a prosperous future enabled by advanced technology.107 Stamp collectors, the allotment movement, and libraries: all organisations were called to contribute, and most did so willingly, as a way to receive support and acknowledgement for their efforts. In this way, the pageant on the central festival day became a huge success, as it became a source of pride for each organisation to construct its float in the most imaginative way. Clearly, in the 1980s the GDR’s celebrations of self were as much framed by ideology as they had been in previous decades, whilst the party continued to rely on the Stasi to ensure political boundaries were not transgressed.108 But as they celebrated all aspects of life they had become much more diverse, allowing some bottom-up creativity. GDR celebrations of the socialist nation could now accommodate a sense of ease that would have been unimaginable in previous decades. Historians and social scientists have emphasized the ideological ruptures in the concept of nationhood in the GDR, pointing to at least four phases: the 1950s and 1960s, when the GDR was celebrated in its socialist development, with close reference to German unity; a transitional phase from around 1967 to the early 1970s when references to the national distinctiveness of the socialist nation were under The development of science and production methods were a central leitmotiv in the exhibitions developed by Berlin’s museums. BArch-SAPMO DR 105 7: ‘Information über die Vorbereitung der Veranstaltungen zum 750. Jahrestag von Berlin (Anlage 1)‘, ff. 4, 12. For the international dimension, see also f.9. An overview over exhibitions, performances and other events is in BArch-SAPMO DR 105 41 and BArch-SAPMO DR 105 77. 108 Note, for instance, the involvement of the Stasi in the Luther celebrations of 1983 which is explored in Zell, Major Cultural Commemorations, Kap. 5.2.5. 107
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lined; the mid-1970s when the ‘people of the GDR’ were enshrined in the 1974 constitution; and the late 1970s and 1980s, when GDR identity became primarily expressed through its heritage, the ‘Erbe’.109 This article has argued for a much greater consistency in the evolution in the official articulations of GDR identity and nationhood, which were – in their essence – established by the early 1960s. It is true that the celebrations of the German heritage marked a new momentum for the articulation of GDR-ness, not least because it made it much easier for any ‘low brow’ local initiatives and festivals to be related to the GDR. But in essence, the ‘Erbe’ celebrated the cultural legacy of Germany. From this perspective, it is only the period of the mid-1970s which can be seen as an outlier in how the GDR and the nation were articulated. But by the 1980s, despite occasional references to citizens as the ‘state’s people’ (Staatsvolk), the identity of the GDR was firmly celebrated within the context of the ‘Erbe’, which always also related – at least indirectly – to a wider German context. In his memoirs, the playwright Heiner Müller describes how, in 1961, his play ‘Die Umsiedlerin’, about the collectivization of a village from 1946, was banned shortly after its premiere, through confrontations with the central committee, and particularly Alexander Abusch in his role as deputy minister president. Following a discussion between leading artists (including Anner Seghers) and leading politicians and ideologues (including Abusch and Alfred Kurella), which left Müller completely depleted, Hanns Eisler came to him and said: ‘Müller you should be glad to live in a country in which literature is being taken so seriously’.110 It has been easy to dismiss the socialist realism debates of the 1950s as perfunctory, as a short ideological burst in the cultural domain that came and went. But what was so important about socialist realism was that it established, once and for all, the intimate connection between socialism and German culture, whereby cultural tradition, cultural participation and cultural production were integral to the economic and political transformation of society. One could not exist without the other. If the GDR’s national celebrations persistently enjoyed (if that is the word) the close involvement of the SED’s central committee, this was not only about control: it also expressed, in the most potent way, this nexus between culture and socialism. And in the specific context of Ger Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik, S. 296–303, 318f.; McKay, Official Concept of the Nation, here esp. S. 149–52. 110 Müller, Krieg ohne Schlacht, S. 175. 109
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many, where nationhood had been so intimately connected to culture, it enabled the party to link socialism, culture and national identity closely together. The eventual embarrassment over the text of the GDR’s national anthem should not deflect from an appreciation that state and party had managed to formulate an identification that celebrated the GDR’s ‘arising from ruins’, despite adversity. To be sure, the West’s economic superiority could not be denied given the ubiquitousness of Western television, and the evident cravings of East Germans for western consumer goods. But soon after the war the party began to draw comfort from its relative success at reconstruction.111 As the GDR evolved, the statistics of being the eastern bloc’s richest nation, one of the most prosperous economies in the World, spoke their own language. If the GDR was active on a global scale, supporting the construction of people’s economies in Africa and Asia, this was done not just to help the global victory of communism.112 Nor was it simply done out of rivalry to West Germany. It was also a demonstration, to an international as well as a domestic audience, that the GDR had riches of talent, science, and material goods to share, as befitted one of the world’s most prosperous economies. Closely linked to the economic dimensions of the nation, for which a gaze beyond the FRG was essential, was the importance of science and technology. In the 1950s and the 1960s, scholars in a range of disciplines focused on Soviet theoretical models, trying to reconcile socialist theory, the party’s views, and their scholarly deductions.113 But from the late 1960s, science assumed a more confident public role. As the world imagined a better future, inspired by the space race, the GDR celebrated its modernist achievements, real and promised, in terms of science, technology, and culture. These were not necessarily contradicted by the delapidated state of the GDR’s factories that became so apparent in the 1980s. The party’s focus on individual life needs, met through enhanced leisure offers, social welfare, and culture continued to provide substance to the claim that the GDR was the most successful of the socialist economies. And if in the socialist community each country contributed
The marvel of international visitors at reconstruction was a constant trope in GDR newspapers after the War, providing external ‘validation’. See, for instance, ‘Die DDR im Lager des Friedens. CSR-Minister Plojhar über die Deutsche Demokratische Republik. Voller Bewunderung über die geleistete Aufbauarbeit‘, in Tägliche Rundschau 4. May 1950. 112 See, for instance, Weis, Politics of Machine; Van der Heyden u. a., DDR und Afrika. 113 Caldwell, Dictatorship, State Planning. 111
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according to their strengths, then if the USSR (for instance) contributed their raw materials, the GDR contributed its brains, and its technology. When the GDR collapsed, the pride in the country’s global stature, its scientific and technological achievements, collapsed with it. The economic bankruptcy of socialist Germany, all statistical appearances to the contrary, was impossible to deny, even for socialism’s most fervent defenders.114 What remained was a strong cultural sense of nationhood which harked back to a German classical tradition, which was popularly practiced and celebrated. The socialist party had only ever developed a notion of German nationhood that was distinctive through socialist ideology. The socialist party had never developed a distinctive sense of nationhood, with a vocabulary, narrative, and memory sites that were distinct from West Germany except through socialist ideology. Once these socialist underpinnings were taken away, East German identity continued to point strongly towards the German nation, even if the connotations of nationhood were no longer necessarily the same as those of West Germans. Throughout the GDR’s existence, there was rarely more than a semantic debate about the party’s postulations of nationhood. This marked a stark contrast to the FRG, where the fundamental tenets of nationhood and identity could – and were – questioned, contested, and denied. There was no Historikerstreit in the GDR, an argument about whether German history and the recent German past could ever be ‘normalized’. And when Helmut Kohl and right-wing scholars like Michael Stürmer demanded, in the 1980s, a museum of German history, Kohl had to contend with, to his chagrin, constant sniping of left-wing intellectuals including the likes of Jürgen Habermas.115 This left Kohl deeply frustrated but it should not have done. These and other debates gave West German public debate a reflective and critical understanding of nationhood which the GDR did not have. For instance, it would have been inconceivable, in the FRG, to celebrate the German cultural legacy through Martin Luther’s 500th birthday on 9. November without reference to the anniversary of Chrystal Night. When Germans came together in 1989–90, they did so because German nationhood had provided a common frame for their national identity throughout the years of division. But the German nation, patriotism, and culture, had very different 114 115
Kosing, Zur Diskussion. Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik, S. 337–42.
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connotations East and West. For at least the West German political and intellectual classes, German nationhood could not exist separately from deeper European integration. West Germans had become comfortable in thinking of themselves as part of a wider Western European culture, while the desire for European integration united West Germany’s elites. This conception of Western integration had been a consistent source of criticism levied from East Berlin, as a betrayal of German heritage. Thus, when West Germany’s politicians spoke of Europe to audiences in Leipzig, Dresden or Berlin, these were greeted at best with silence, at worst with whistles. Patriotism and nationhood had been referenced to German culture and heritage, its international context had served increasingly to demonstrate the truism of the GDR’s concept of identity – not to learn from others. Ironically, then, the collapse of the East German state appeared to validate an East German narrative of nationhood and culture; but what Germans in East and West understood by these terms had still to be negotiated.
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Frankreichs republikanischer Nationalismus und die Kolonisierung. Widersprüche und Konflikte Matthias Waechter Die moderne Idee der Nation hat in Frankreich ihren Ursprung im revolutionären Lager. In der französischen Revolution von 1789 erklärte sich der Dritte Stand zu einer souveränen Nation, die dazu berechtigt war, das Feudalsystem des Ancien Regimes abzuschaffen, eine repräsentative Versammlung einzuberufen und dem gesamten Land eine neue Verfassung zu geben. Alle Angehörigen des Dritten Stand hatten nach dem Verständnis von revolutionären Denkern wie Emmanuel Sieyès einen Anteil an der nationalen Souveränität und sollten diese in Wahlen und Abstimmungen ausdrücken. Jegliche staatliche Macht, sei sie legislativer, exekutiver oder judikativer Natur, musste aus der souveränen Bürgernation hervorgehen.1 Auf diese Weise stand die revolutionäre Nationsidee dem Konzept der absoluten Monarchie diametral entgegen, denn diese sah ja den Ursprung aller Macht in dem von Gott erwählten souveränen Monarchen. Bekanntlich führte der scharfe Gegensatz zwischen monarchischem und revolutionären Staatsverständnis zu einem innerfranzösischen Bürgerkrieg: Während die Anhänger der von Gott legitimierten Monarchie die Revolution mithilfe ihrer ausländischen Gegner bekämpften, radikalisierten sich die Anhänger des revolutionären Nationsverständnisses: Unter den Vorzeichen des Jakobinismus schafften sie nicht nur die Monarchie ab, sondern traten für eine einheitliche Nation ein, in der alle regionalen, sozialen und geistigen Differenzen hinter dem allseitigen Bekenntnis zu einem allgemeingültigen politischen Kanon verschwinden sollten. Die Entartungen dieses jakobinischen Nationalismus wurden 1
Sieyès, Préface de Bredin.
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alsbald sichtbar, als in der Phase der terreurs seine Protagonisten gewaltsam gegen alle (wahrgenommenen oder realen) Opponenten der Republik vorgingen. Dieser republikanische, auf politischen Prinzipien basierende Nationalismus geriet unter den Vorzeichen der napoleonischen Herrschaft, der Restauration sowie des zweiten Kaiserreichs zunächst in den Hintergrund, bevor er in der Dritten Republik nach 1870 zur vollen Entfaltung kam. Führende Republikaner um Jules Ferry und Léon Gambetta wollten Frankreich zu einer Bürgernation umbauen, die unter dem revolutionären Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ stand. Sie sollte über ein partizipatives politisches System, eine schlagkräftige Armee und moderne Transportwege verfügen. Ein zentrales Anliegen war für sie das Schulwesen, das ihnen als das Schlüsselinstrument einer republikanischen Nationalisierung der Bevölkerung galt. Die obligatorische, kostenlose und laizistische Grundschule sollte zunächst einmal die Aufgabe erfüllen, alle jungen Französinnen und Franzosen an die noch völlig unzureichend verbreitete Landessprache heranzuführen und so überhaupt erst die Kommunikation zwischen Bürgern verschiedenster Regionen ermöglichen. Darüber hinaus sollte die staatliche Schule die Jugenderziehung dem Einfluss der katholischen Kirche entreißen und zur Verbreitung einer republikanischen Bürgergesinnung beitragen.2
Ursprünge des republikanischen Kolonialismus Das nationale Erneuerungsprojekt der regierenden Republikaner um Jules Ferry beschränkte sich jedoch nicht auf die Innenpolitik: Sie waren zutiefst davon überzeugt, dass Frankreich nach Übersee expandieren und Kolonien erwerben musste, um zu einer modernen Nation zu reifen. Dafür führte Ferry mehrere Argumente an, die sich nach seiner Auffassung zu einem kolonialen „System“ zusammenfügten. In einer Rede vor der Abgeordnetenkammer erklärte er 1885 die drei Pfeiler dieses „kolonialen Systems“: Der Erwerb von Überseeterritorien war für ihn erstens wirtschaftlich von Vorteil, da einheimische Produzenten sich nicht nur Rohstoffe beschaffen, sondern auch Absatzmärkte erschließen konnten. Zweitens sprachen für den Kolonienerwerb machtpolitische Argumente, denn alle großen europäischen 2
Zur Nationsbildung Frankreichs während der Dritten Republik grundlegend: Weber, Peasants into Frenchmen.
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Nationen waren dabei, sich überseeische Territorien untertan zu machen, um damit ihr Prestige und ihren Einfluss im internationalen System zu erhöhen. Drittens war für Ferry die französische Republik wie kaum eine andere Nation zur Kolonisierung berufen, stellte sie doch die politische Avantgarde Europas und die Verkörperung der Werte von 1789 dar. Die Unterstellung unter französische Herrschaft würde den „niederen Rassen“ in Afrika und Asien die Befreiung von Sklaverei, die Verbreitung von Aufklärung und Fortschritt bringen.3 Auf diese Weise interpretierte er die Kolonisierung als die Erfüllung eines zivilisatorischen Auftrags: Sie war für ihn die globale Fortsetzung der republikanischen Nationsbildung, die gleichzeitig im Innern stattfand. So wie die laizistischen Grundschullehrer die französischen Sprache und damit die Zivilisation in die entlegensten Winkel des Mutterlands trugen, würden die Kolonisatoren im fernen Afrika und Asien den Menschen die Segnungen des französischen Geistes nahebringen. Unter diesen Vorzeichen eroberte die französische Republik seit den späten 1870er Jahren weite Teile West- und Nordafrikas sowie Indochinas und unterstellte Millionen von Menschen seiner Herrschaft.4 Dabei wandte sich die französische Kolonialpolitik gegen jegliche Formen eines kolonialen self-government, wie sie im britischen Empire praktiziert wurden. Im Prinzip sollte das gesamte Kolonialreich zentralistisch und nach den gleichen Grundsätzen regiert werden wie das Mutterland; eine plus grande France sollte sich von Brest bis Hanoi, von Cherbourg bis Antananarivo erstrecken, ohne auf regionale Besonderheiten und kulturelle Diversität Rücksicht zu nehmen. „Die Autonomie passt zu den Angelsachsen. Wir Franzosen sind Romanen. Der römische Einfluss hat unsere Geister über Jahrhunderte durchdrungen“, schrieb Arthur Girault, einer der wichtigsten Theoretiker der französischen Kolonialpolitik.5 In der Praxis aber erwies sich das Projekt einer republikanischen Kolonisierung von Anfang an fragwürdig, ja uneinlösbar. Nach dem französischen Konzept einer Staatsbürgernation hätte man jedem ihrer Angehörigen, egal ob es sich aus Menschen aus dem Mutterland oder den Kolonien handelte, gleiche Rechte einräumen müssen. Doch dies hätte mittel- bis langfristig bedeutet, dass die Franzosen des Mutterlands gegenüber den Abkömmlingen der Kolonien in die Minderheit geraten wären und faktisch die Jules Ferry am 28.7.1885 vor der Abgeordnetenkammer. Grundlegend zur Haltung der republikanischen Linken zur Kolonisierung: Marseille, Fait colonial, S. 17–28. 5 Girault, Principes de colonisation, S. 86. 3 4
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Kolonialbevölkerung die Mehrheit der Staatsbürger gebildet hätte. Damit wäre auch die Machtbeziehung zwischen Metropole und Kolonien, die Hierarchie zwischen Europäern und den als zivilisationsfern wahrgenommenen Asiaten und Afrikanern6 aufgelöst worden. Darauf wollte sich die französische Kolonialpolitik indessen nicht einlassen und erfand deshalb eine politische Strategie, die den Widerspruch zwischen republikanischen Gleichheitsgebot und der Ungleichbehandlung in den Kolonien auflösen sollte: Die Kolonisierten, so hieß es, müssten sich erst der französischen Zivilisation „assimilieren“, bevor sie in den Genuss gleicher Staatsbürgerrechte kommen konnten. Solange sie noch im Zustand der Unzivilisiertheit verharrten, galt es somit, sie als sujets, als Untertanen, aber nicht als citoyens, als Bürger Frankreichs zu behandeln. Aus dieser Perspektive erschien es den herrschenden Republikanern sogar gerechtfertigt, einen der fundamentalen Grundsätze des französischen Rechtsstaats außer Kraft zu setzen, nämlich die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Für die meisten Einwohner der Kolonien galt nicht der Code civil, sondern in Form des Indigénat ein eigenes Gesetzbuch. Dieses stattete die kolonialen Ordnungskräfte mit weitgehenden Vollmachten aus, um die örtliche Bevölkerung zu disziplinieren. So konnten für mindere Vergehen wie Verstöße gegen Kleidungs- und Verhaltensregeln, Verlassen des Wohnorts, Respektlosigkeit gegenüber den Kolonisatoren drastische Strafen wie Zwangsarbeit oder Enteignung verhängt werden. Auch gestattete es den Kolonisatoren, die Indigenen anstelle von Steuerzahlungen zur Zwangsarbeit zu rekrutieren, was dazu führte, dass auf Plantagen, im Bergbau, Straßen- und Eisenbahnbauprojekten zahllose Zwangsarbeiter tätig waren.7 Die Zustimmung zum Projekt der Überseeexpansion stand quer zu den damaligen politischen Lagern. Seine Protagonisten verstanden sich als entschlossene Vorkämpfer der Republik, gehörten also nach dem damaligen Verständnis der Linken an; doch gab es in diesem Lager auch Opposition gegen die Kolonisierung. Diese Stimmen wandten ein, dass die Unterwerfung fremder Völker unter den Auspizien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in sich widersprüchlich war; dass die Kolonisierung im Dienste von Aufklärung und Humanität ein Paradox darstellte. In
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Hier scheint es angemessen, nur die männliche Form zu verwenden, da Frauen in Frankreich und in den Kolonien erst spät politische Rechte bekamen, z. B. das Wahlrecht erst 1944. Lewis, „Assimilation“ Theory, S. 331–353. Vgl. Merle, Violence coloniale, S. 97–116.
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diesem Sinne äußerte sich etwa der Journalist und spätere Regierungschef Georges Clemenceau, der sich in einer Parlamentsrede scharf von Ferrys Rechtfertigung der kolonialen Expansion als humanistischer Tat distanzierte: „Versuchen wir nicht, die Gewalt mit dem scheinheiligen Begriff der Zivilisation zu bedecken. Sprechen wir nicht von Recht, von Pflicht. Die von Ihnen befürwortete Eroberung ist nichts anderes als der reine Missbrauch der Macht, die eine wissenschaftliche Zivilisation gegenüber einer elementaren Zivilisation innehat.“ Für den Abgeordneten Joseph Fabre kam die Kolonisierung einer „Abdankung der Prinzipien von 1789 und 1848“ gleich.8 Der Einfluss solcher Kritiker blieb allerdings sehr begrenzt. Der großen Mehrheit der damals regierenden Republikaner erschien die Kolonisierung als das notwendige, logische Betätigungsfeld einer Nation, die sich als die Avantgarde Europas begriff. Sie sahen sich von der Mission getragen, den Fortschritt, verstanden als das Voranschreiten von Rationalität, Wissenschaft, Zivilisation und besseren Institutionen, in der Welt zu verbreiten – im Mutterland wie in den Kolonien. Vor diesem Hintergrund hatten die republikanischen Kolonisatoren in ihrer großen Mehrheit auch wenig Achtung für die lokalen Traditionen, die sie in Übersee vorfanden. Diese konnten ihnen im Vergleich mit der französischen Zivilisation nur als irrational, zurückgeblieben und somit nicht bewahrenswert erscheinen.9 Mehr Hochachtung für Tradition und Eigenarten der kolonialisierten Völker war indessen auf der politischen Rechten zu finden, wofür der erste französische Generalresident in Marokko, Hubert Lyautey ein Beispiel liefert. Dieser bekennende Katholik und Herzensmonarchist brachte der muslimischen Gesellschaft des Protektorats hohe Anerkennung entgegen, ließ die Medinas der großen Städte intakt und förderte die islamische Religionsausübung.10 Unterdessen gab es im rechten, antirepublikanischen Lager auch Stimmen, die sich aus nationalistischen Gründen gegen die Kolonisierung positionierten. Für sie lenkte die Überseeexpansion von der zentralen nationalen Aufgabe, nämlich der Wiedererlangung des 1870/71 verlorenen Elsass-Lothringens ab. Ehe man sich daran mache, Afrikaner und Asiaten an die französische Zivilisation heranzuführen, müsse man zuerst einmal die an Deutschland verlorenen Bürger zurückgewinnen. „Bevor man hingeht, die französische Flagge dort zu hissen, wo sie noch nie gewesen ist, sollte man sie wieder Beide Zitate in: Liauzu, Histoire de l’anticolonialisme, S. 72f. Reynaud-Paligot, République raciale. 10 Wright, Architecture and Urbanism, S. 291–316. 8 9
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dort einpflanzen, wo sie einst wehte“, sagte der Gründer der am äußersten rechten Rand angesiedelten „Ligue des Patriotes“ Paul Déroulède.11 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren diese kritischen Stimmen allerdings weitgehend verstummt; von den Sozialisten bis hin zu den Konservativen war man davon überzeugt, dass die Kolonisierung Frankreichs nationale Interessen förderte.
Der Höhepunkt der „zivilisatorischen Mission“ und der beginnende Antikolonialismus Jedoch gelang es den Fürsprechern der Kolonisierung kaum, unter der Bevölkerung eine Begeisterung für die Expansion zu entfachen. In dem noch sehr landwirtschaftlich ausgerichteten Frankreich blieb den meisten Bürgerinnen und Bürger die Idee einer „plus grande France“, einer globalen, ja grenzenlosen Nation eher fremd. Daran änderte sich auch nach dem Ersten Weltkrieg nichts Wesentliches, als die Überseeterritorien noch umfangreicher wurden, da Frankreich Mandatsgebiete des Völkerbunds in Westafrika und im Nahen Osten erhielt. Die „Mission civilisatrice“ wurde zur vorherrschenden Ideologie des französischen Kolonialismus, und zwar mit einer doppelten Stoßrichtung: Einerseits galt es mehr denn je, die indigene Bevölkerung zu zivilisieren, französisches Denken, Sprache und Kultur zu verbreiten. Andererseits sollte auch die Kolonialpolitik selbst „zivilisiert“ werden, indem sie nicht mehr wie in den Anfangsjahren der Expansion vorrangig militärisch auf Eroberung und Beherrschung abzielte, sondern auf die Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens ausgerichtet war. Die „mission civilisatrice“ zu verfolgen hieß also, besser und humanistischer zu kolonisieren, als in der Frühphase des Imperialismus.12 Umso mehr konnten die Protagonisten der republikanischen Linken eine solchermaßen neudefinierte Kolonialpolitik gutheißen und sie als Alternative zum Selbstbestimmungsrecht der Völker akzeptieren: Die Kolonisierten sollten sich mit Frankreichs universalistischem Nationalismus identifizieren, anstatt ihre Loslösung von der Kolonialmacht im Rahmen der nationalen Befreiung anzustreben. 11 12
Déroulède, zitiert nach: Liauzu, Histoire de l’anticolonialisme, S. 73. Conklin, Mission to Civilize.
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Doch gewann in dieser Periode auch der Antikolonialismus an Bedeutung: 1920 spaltete sich die Section française de l’Internationale Socialiste (SFIO) in zwei Flügel, als ein Teil der Partei der von Lenin begründeten Dritten, Kommunistischen Internationalen beitrat. Der parti communiste vertrat, getreu der Leitlinien aus Moskau, eine antiimperalistische, antimilitaristische und pazifistische Haltung. Im Umfeld der kommunistischen Partei fanden auch Persönlichkeiten aus der indigenen Kolonialbevölkerung eine politische Heimat, die für die Beendigung der französischen Kolonialherrschaft und die nationale Befreiung eintraten – wie etwa Nguyen Ai Quoc, der als Ho Chi Minh in die Geschichte einging und Messali Hadj, die Gründungsfigur des algerischen Befreiungskampfes. Der Rif-Krieg, den Frankreich 1924–26 in seinem Protektorat Marokko führte, gab den Kommunisten die Gelegenheit, ihre antikolonialistische Haltung in der breiten Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Der charismatische Stammesführer Abdelkrim hatte im Norden Marokkos eine Reihe von Berberstämmen vereinigt und sich mit ihnen zunächst gegen die spanischen Kolonisatoren gewandt, bevor er in französisches Kolonialgebiet eindrang. Die von einem „Linkskartell“ angeführte französische Regierung entschied sich zu einer großangelegten militärischen Intervention. Für Regierungschef Aristide Briand handelte es sich um die Niederschlagung eines illegitimen Aufstands gegen das „zivilisatorische Werk und den traditionellen Liberalismus Frankreichs.“13 Der Chef der Sozialisten, Léon Blum, sagte vor dem Parlament: „Wir lieben unser Vaterland zu sehr, als dass wir die Verbreitung von französischem Denken und Zivilisation zurückweisen könnten. […] Wir befürworten das Recht, ja die Pflicht überlegener Rassen, diejenigen, die noch nicht den gleichen Grad an Kultur erreicht haben, für sich zu gewinnen und ihnen den dank von Wissenschaft und Industrie erlangten Fortschritt nahezubringen.“14 Für die Kommunistische Partei hingegen offenbarte der rücksichtlos geführte Rif-Krieg nicht etwa die zivilisatorische Mission Frankreichs, sondern die barbarischen Aspekte der Kolonialisierung. Die Kommunisten rechtfertigten nicht nur die antikolonialistische Rebellion der Marokkaner, sondern forderte sogar die französischen Soldaten zur Verbrüderung mit den Aufständischen auf: „Unsere Pflicht als Arbeiter und Bauern ist es, sich mit den Volksstämmen Marokkos zu verbünden“, Aristide Briand vor der Abgeordnetenkammer am 2.12.1925. Vgl. „Le cabinet Briand devant les chambres“, in: Le Petit Parisien. 14 Léon Blum, zitiert nach: Semidei, Socialistes français, S. 1139. 13
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erklärte der Parteifunktionär Jacques Doriot. „Verbrüdert Euch mit den Marokkanern im Kampf gegen ihre Ausbeuter.“15 Der von den Kommunisten lancierte Aufruf zum Streik gegen den Rif-Krieg wurde am 12. Oktober 1925 von Hunderttausenden von Arbeitern befolgt. Auf diese Weise wurde anhand des Rif-Kriegs eine tiefe Spaltung innerhalb der französischen Linken über die Frage der Kolonisierung deutlich: Für ihren radikalen, kommunistischen Flügel musste Frankreichs Intervention als imperialistisch, militaristisch und ausbeuterisch bekämpft werden, während für die gemäßigte – sozialistische und bürgerliche – Linke in Marokko das universalistisch-emanzipatorische republikanische Nationskonzept verteidigt wurde. Für Albert Sarraut, einen prominenten Politiker der „Radicaux“, hatten sich die Kommunisten aus der Nationsgemeinschaft verabschiedet, indem sie zur Verbrüderung mit den Rebellen des Rif aufgerufen hatten: „Der Kommunismus, das ist der Feind!“ rief er 1927 bei einer Rede aus.16 Die Spaltung der Linken in einen antikolonialistischen Kommunismus und einen die „mission civilisatrice“ befürwortenden Sozialismus setzte sich 1931 fort, als in Paris die „Exposition coloniale“ organisiert wurde. Sie feierte anlässlich des hundertsten Jahrestags der Eroberung Algiers die französische Kolonisierung in allen ihren Facetten, um unter der Bevölkerung Begeisterung für das weltumspannende Empire zu entfachen. Wie in einem Erlebnispark konnten die Besucher quer über die Kontinente, von der nordafrikanischen Steppe über den Tempel von Angkor Wat bis hin zum fernen Neukaledonien die Vielfalt der „plus grande France“ erfassen und sich als stolze Bürger eines Weltreichs fühlen. Die Sozialisten kritisierten die Ausstellung nicht; vielmehr bekundete ihr Generalsekretär Léon Blum, dass die französische Kolonisierung von „Größe, ja von interesseloser Größe“ gekennzeichnet sei.17 Für die Sozialisten sollte die Französische Republik nun für eine friedliche, zivilisatorische Kolonialisierung eintreten, die sich vom räuberischen Imperialismus anderer Nationen unterscheide. Die Kommunisten dagegen nutzten die Ausstellung, um erneut gegen den Kolonialismus als Ausdruck kapitalistischer Ausbeutung zu agitieren und sich mit Aktivisten der Überseeterritorien, insbesondere Indochinas, zu verbünden. Sie organisierten eine Ausstellung unter dem Titel „Die Wahrheit über die Kolonien“, die aber nur wenig Besucher fand. Doriot zitiert nach: Crémadeills, Ordre de fraternisation, S. 55f. Rede von Albert Sarraut in Constantine am 23.4.1927. 17 Blum zitiert nach: Bollenot, Acteurs, réseaux, mobilisations, S. 50. 15 16
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Unter den Gegnern der „Exposition coloniale“ befand sich auch der Künstlerkreis der Surrealisten um André Breton, Paul Eluard und Louis Aragon, von denen viele „fellow travellers“ der Kommunistischen Partei waren. Sie erweiterten die antikolonialistische Kritik des PCF um eine kulturelle, zivilisatorische Dimension: Für sie war der Kolonialismus nicht nur eine Erscheinungsform kapitalistischer Ausbeutung, sondern auch Ausdruck eines falschen Überlegenheitsbewusstseins des Westens. Die Surrealisten begeisterten sich für nichtwestliche Kulturen, gerade weil sie eine andere, zivilisationsferne Form des Menschseins repräsentierten. Afrikanische und asiatische Kulturen sollten nach ihrer Auffassung nicht im Dienste des Fortschritts überwunden werden, sondern vielmehr sollten sich westliche, französische Künstler an ihnen inspirieren, um zu neuen Formen des Ausdrucks vorzudringen. Da Frankreich mit seiner „zivilisatorischen Mission“ dabei war, die indigenen Kulturen zu zerstören, forderten sie zur „sofortigen Evakuierung der Kolonien“ auf.18 Die „Exposition coloniale“ von 1931 war vorerst der letzte Anlass, zu dem sich die Kommunisten prononciert gegen die Kolonisierung äußerten und die Linke in dieser Frage gespalten auftrat. Andere Themen rückten nun in den Vordergrund, insbesondere der Kampf gegen den Faschismus, der sich in Europa breitmachte. Auf Geheiß Moskaus stellten die französischen Kommunisten nicht nur die Bekämpfung der Sozialisten ein, sondern beendeten auch ihre Feindschaft gegen die Kolonisierung. Nun hieß die Devise: Lieber sollten die Überseeterritorien unter der Herrschaft einer republikanischen Nation wie Frankreich bleiben, als zur Beute aggressiver, extrem nationalistischer Führerstaaten wie Mussolinis Italien zu werden. Unter den Vorzeichen des Antifaschismus kam es zur Bildung des front populaire, der die Sozialisten und Kommunisten mit den linksbürgerlichen „Radikalen“ verband. Als das Bündnis 1936 die Regierungsverantwortung übernahm, kam es zu keiner grundlegenden Abkehr von der bisher verfolgten Kolonialpolitik. Ganz im Sinne einer weltumspannenden „plus grande France“ unternahm Regierungschef Leon Blum zusammen mit seinem Stellvertreter Maurice Violette den Versuch, die Emanzipation der muslimischen Algerier schrittweise voranzutreiben und einer beträchtlichen Anzahl unter ihnen die vollen französischen Bürgerrechte zu geben. Doch erntete das Projekt wütende Reaktionen seitens der Algerienfranzosen und wurde so im Keim erstickt. 18
„Ne visitez pas l’Exposition coloniale“ (1931).
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Der Zusammenbruch der Nation und das Empire als letzter Rückhalt Die Niederlage Frankreichs im Juni 1940 kann als ein Zusammenbruch der französischen Nation verstanden werden, und zwar auf drei verschiedenen Ebenen: des Militärs, das sich unter dem deutschen Angriff praktisch auflöste, der politischen Führung, die keine einheitliche Linie mehr definieren konnte, und der Gesellschaft, die sich in einer kollektiven Panik und chaotischen Fluchtbewegung auflöste. Das Ergebnis war der Waffenstillstand vom 17. Juni und die Aufsplitterung des Mutterlands in fünf verschiedene Zonen mit einem jeweils unterschiedlichen Grad von Abhängigkeit von Deutschland. Damit endete vorerst nicht nur der französische Einheitsstaat, sondern auch der republikanische Nationalismus als öffentliche Ideologie, wurde doch die Devise „Liberté, Fraternité, Egalité“ durch „Travail, Famille, Patrie“ ersetzt. Anstelle des revolutionären Symbols der Marianne zierte nun das Porträt des Staatchefs Philippe Pétain die offiziellen Stätten des Landes.19 Es dauerte einige Monate, bis sich gegen Pétain und dessen Kollaboration mit Nazi-Deutschland ein neuer französischer Nationalismus erhob. Dieser wurde formuliert von Charles de Gaulle, der am 18. Juni 1940 zum Widerstand gegen die Besatzung Frankreichs aufgerufen hatte. Davon ausgehend formierte sich nur langsam eine politisch-militärische Bewegung, deren Programmatik ab der zweiten Hälfte des Jahres 1941 immer schärfere Konturen annahm. In ihrem Mittelpunkt stand ein synthetischer Nationalismus, der die Polarisierung in ein linkes und rechtes Lager mit ihrer jeweiligen Geschichtskultur zu überwinden suchte. De Gaulle stellte sich in alle heroischen Traditionen des Landes und präsentierte sich als derjenige, der das monarchische und das republikanische, das kirchliche und das laizistische, das traditionalistische und das revolutionäre Frankreich miteinander versöhnte. Jeanne d’Arc, Ludwig der Heilige, Danton, Jaurès, Clemenceau – all diese Heldengestalten fanden ihre Reinkarnation in de Gaulle als Chef der französischen Résistance. Seine Bewegung schuf sich eine eigene politische Ästhetik, die diese neue Einheitsvorstellung versinnbildlichen sollte: Das aus dem mittelalterlich-christlichen Kontext
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Zum Zusammenbruch 1940 vgl. Waechter, Geschichte Frankreichs, S. 221ff.
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stammende Symbol der Bewegung, das Lothringerkreuz, stand auf Flugblättern neben der phrygischen Mütze, die den Jakobinern als Wahrzeichen gedient hatte.20 Dem synthetischen Nationalismus der gaullistischen Widerstandsbewegung fehlte es zunächst völlig an einer territorialen Basis, unterstand doch das gesamte Mutterland entweder den Besatzern oder der Vichy-Regierung. De Gaulles Nationalismus war eine vom Londoner Exil aus lancierte Idee Frankreichs, die von den territorialen und politischen Realitäten abstrahierte. Es waren die Kolonien in Afrika, die dem gaullistischen Widerstand eine erste Heimstatt boten und damit zu ganz neuer nationaler Bedeutung heranreiften. Das erste Überseeterritorium, das sich von Vichy löste und de Gaulles „France libre“ unterstellte, war der Tschad – die einzige französische Kolonie, die mit Félix Eboué von einem Gouverneur schwarzer Hautfarbe verwaltet wurde. Auf diese Weise gewann die Idee der zivilisatorischen Mission neue Aktualität: In der Propaganda des gaullistischen Widerstands galt Eboué als das lebende Beispiel des Erfolgs der zivilisatorischen Mission, da ein aus der Kolonialbevölkerung stammender Gouverneur sich von dem antirepublikanischen und rassistischen Vichy-Regime losgesagt hatte. Beginnend mit dem Tschad wurde Äquatorialafrika zur ersten territorialen Basis des Widerstands, von dem aus das „Freie Frankreich“ in den Krieg eintrat. Seine Soldaten stammten zu einem gewichtigen Teil aus der indigenen Bevölkerung Afrikas und machten somit sichtbar, dass die Kolonien auf einmal zum letzten territorialen Rückhalt des republikanischen Frankreich geworden waren. Unter Führung des Generals Leclerc nahmen Soldaten der „France libre“ im März 1941 die italienische Wüstenoase Koufra ein und leisteten den Schwur: „Wir werden so lange nicht auseinandergehen, als unsere Flagge nicht auch über der Kathedrale von Strasbourg weht“.21 Im Mai/Juni 1942 standen französische Soldaten zum ersten Mal seit der Niederlage 1940 wieder deutschen Truppen gegenüber, als sie in der libyschen Wüste das Fort Bir Hakeim gegen das Afrikakorps unter Feldmarschall Rommel verteidigten. Die tagelange, erfolgreiche Verteidigung der zahlenmäßig unterlegenen freifranzösischen Truppen gegen den mythologisierten „Wüstenfuchs“ Rommel feierte die Propaganda des gaullistischen Widerstands als ein „neues Verdun“, als die Wiederauferstehung der gedemütigten Nation. Unterdessen waren aber die Machtzentren des französischen Afrikas, nämlich Marokko, Algerien und Tunesien, unter der Hoheit Vichys ge Waechter, Mythos des Gaullismus, S. 54–94. Ebd., S. 98.
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blieben. Dies änderte sich erst seit November 1942 mit der anglo-amerikanischen Invasion im französischen Nordafrika, die zum Sturz der Vichy-treuen Führung und schrittweisen Machtübernahme durch das Frankreich des Widerstands führte. Im Sommer 1943 verließ de Gaulle London und etablierte in Algier als „provisorischer Hauptstadt“ Frankreichs den Sitz seiner Exilregierung und einer beratenden parlamentarischen Versammlung. Da den Überseeterritorien und ihrer Bevölkerung bei der Bewahrung Frankreichs republikanischer Tradition eine so entscheidende Rolle zukam, musste neu über das Verhältnis zwischen Mutterland und Kolonien nachgedacht werden. Zu diesem Zwecke berief de Gaulle im Januar 1944 eine Konferenz nach Brazzaville ein, an der die Gouverneure der afrikanischen Kolonien, hohe Verwaltungsbeamte und Mitglieder der beratenden parlamentarischen Versammlung teilnahmen. In seiner Eröffnungsrede beschwor de Gaulle Frankreichs Rolle als zivilisatorische Macht herauf, die wie keine andere dazu bestimmt sei, die Menschen „schrittweise zu den Gipfeln der Würde und der Brüderlichkeit“ hinzuführen.22 Wie aber dies in kommenden Zeiten geschehen sollte, in denen der Ruf der kolonialen Bevölkerung nach Selbstbestimmung immer lauter würde, darauf konnten die Konferenzteilnehmer keine schlüssige Antwort finden. Sie bekundeten den Willen, das Empire künftig in eine „Föderation“ von Mutterland und Kolonien umgestalten zu wollen, schlossen aber gleichzeitig jegliche Form eines „self-government selbst in ferner Zukunft“ aus.23 Die koloniale Autonomie sei unvereinbar mit der zivilisatorischen Mission, die Frankreich in seinen Überseebesitzungen verfolge. Nach der Konferenz von Brazzaville blieben jegliche Versuche aus, die Stellung der indigenen Bevölkerung in den Kolonien nachhaltig zu verbessern. De Gaulles provisorische Regierung erteilte am 7. März 1944 70 000 algerischen Muslimen die Staatsbürgerschaft – eine Maßnahme, die angesichts der ca. 7 Millionen umfassenden muslimischen Bevölkerungsmehrheit in Algerien geradezu lächerlich anmutet.
De Gaulle, Rede vom 30. Januar 1944, S. 674. Vgl.: Ebd., S. 675.
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Die Auflösung des Empires und die Widersprüche des linksrepublikanischen Nationalismus Die Periode des kolonialen Exils des französischen Republikanismus endete mit der Rückeroberung des Mutterlands nach der alliierten Invasion in der Normandie: Am Tag der Befreiung von Paris, dem 25. August 1944, demonstrierte de Gaulle die Rückkehr der republikanischen Staatsgewalt in die Hauptstadt, indem er sich ins Kriegsministerium begab und dort den Sitz seiner provisorischen Regierung etablierte. Mit der Befreiung gewannen die linken, im Widerstand aktiven Kräfte – allen voran die Kommunisten – eine nie zuvor gekannte Gestaltungsmacht. In seinem Gemeinsamen Programm vom 15. März 1944 hatte der Nationale Widerstandsrat seine Zukunftsvorstellungen für die neuzugründende Republik dargelegt: Schaffung einer neuen, sozialen Demokratie mit einem umfassenden sozialen Sicherungssystem, Nationalisierung der Schlüsselindustrien und Banken, Niederringung des Großkapitals und der Monopole. Die Frage, wie sich der Status der indigenen Bevölkerung in der neuen Republik gestalten würde, spielte für die Protagonisten des Widerstands nur eine untergeordnete Rolle. Das Gemeinsame Programm begnügte sich mit der vagen Ankündigung einer „Ausweitung ihrer politischen, sozialen und ökonomischen Rechte“.24 Dass die indigene Bevölkerung nicht mehr zur Geduld bereit war, was Verbesserungen ihres Status anbelangte, zeigte sich am 8. Mai 1945, als im algerischen Sétif schwere Unruhen ausbrachen. Während der Feierlichkeiten zur Befreiung schwenkten Menschen die algerische Flagge, woraufhin die Ordnungskräfte das Feuer auf sie eröffneten. Daraufhin kam es zu Ausschreitungen gegen europäische Siedler, die wiederum von einer „Bürgerwehr“ sowie Sicherheitskräften brutal beantwortet wurden. Die Opferzahlen zeigten die Unverhältnismäßigkeit der Repression: 102 europäische Siedler waren getötet worden, während geschätzte 3000 bis 45 000 algerische Muslime bei den anschliessenden Vergeltungsmaßahmen zu Tode kamen.25 Zum gleichen Zeitpunkt hatte bereits in Indochina ein Krieg zur Wiederherstellung der Kolonialherrschaft nach der japanischen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs begonnen. Frankreichs Widerpart war dabei die nationalistisch-kommunistische Bewegung des Viet Minh unter Führung Ho Chi Minhs, die seit 1949 massive 24 25
„Les Jours Heureux“. Programme du Conseil national de la Résistance. 18. mars 1944. Ageron, Mai 1945, S. 52–56. Vgl. Jansen, Erobern und Erinnern, S. 395f.
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Unterstützung seitens des maoistischen China erhielt. Die Kommunistischen Partei Frankreichs, die seit 1947 nicht mehr den Regierungen angehörte, lancierte eine heftige Opposition gegen den Krieg, den sie als die brutale Niederschlagung der legitimen Selbstbestimmungswünsche eines kolonisierten Volkes verurteilten. Für die regierungstragenden Parteien, darunter die Sozialisten und „Radikalen“, sollte der Krieg nicht nur die Integrität des französischen Überseebesitzes garantieren, sondern auch die Expansion des kommunistischen Sowjetsystems eindämmen. Unter diesen Vorzeichen verschwammen immer mehr die Ziele des französischen Militäreinsatzes, dessen Kosten zum großen Teil von den Vereinigten Staaten getragen wurden. Weder bestand eine realistische Aussicht, Frankreichs Kolonialherrschaft wiederherzustellen, noch ließ sich der Elan des nationalkommunistischen Viet Minh brechen. Nach der katastrophalen militärischen Niederlage von Dien Bien Phu zog Frankreich seine Truppen ab und entließ mit dem Genfer Abkommen von 1954 das einstige „Juwel“ seines Weltreichs in die Unabhängigkeit.26 Ungeachtet dieser Demütigung hatte für viele Entscheidungsträgern in Paris, insbesondere aus dem sozialistischen und „radikalen“ Milieu, die Stunde des französischen Kolonialismus noch nicht geschlagen. Vielmehr erschien zahlreichen französischen Politikern die von den antikolonialistischen Aktivisten verfolgte Ideologie der nationalen Befreiung, das Streben nach Gründung neuer Nationalstaaten als nicht mehr zeitgemäß. Denn gleichzeitig hatten sechs europäische Staaten unter den Vorzeichen des Schuman-Plans mit dem Aufbau supranationaler Institutionen begonnen, die das Leitprinzip der Souveränität des Nationalstaates aufbrachen. In Europa, dem Geburtsort des Nationalismus, begann man sich von ihm zu verabschieden, da er zu desaströsen Auswirkungen, zur tiefen Verfeindung der Staaten des Kontinents geführt hatte. Wenn also afrikanische Kolonien nun nach nationaler Befreiung, nach der Gründung ihres eigenen souveränen Nationalstaats strebten, dann hingen sie nach dieser Sichtweise nicht etwa einer modernen, sondern einer in Europa mittlerweile überwundenen Vision an. Besonders prononciert wurde diese Auffassung von Guy Mollet vertreten, dem Generalsekretär der SFIO und Regierungschef zwischen 1956 und 1957. Für den Marxisten Mollet sollte Frankreich in seinen kolonialen Besitzungen in Afrika die Bevölkerung zur sozialen Emanzipation anleiten und ihnen dabei vermitteln, dass es dafür keines Nationalismus, keiner nationalen 26
Brocheux/Hémery, Indochine.
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Befreiung um ihrer selbst willen bedurfte. Vielmehr konnte eine entstehende „eurafrikanische“ Föderation den Afrikanern den politischen Rahmen für ihren sozioökonomischen Fortschritt bieten. In einer kommenden „Eurafrique“ sollten sich nicht nur die europäischen Nationalismen auflösen, sondern auch die Spannungen zwischen französischer Metropole und kolonialer Peripherie aufgehoben werden.27 Frucht dieser Ideen war der vierte Abschnitt des Vertrags über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von 1957, der die wirtschaftliche Kooperation zwischen Europa und den französischen Überseebesitzungen regelte. Auch Autoren und Politiker aus dem Milieu der kolonialen Eliten wie Léopold Sédar Senghor unterstützen die Idee der „Eurafrique“ und erhofften sich von ihr nicht nur einen Raum gleichberechtigter politischer Partizipation, sondern auch der Entfaltung und Anerkennung afrikanischer Kulturen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wie sehr der Ausbruch des algerischen Befreiungskampfes 1954 zahlreiche Entscheidungsträger in Paris überforderte. Die koloniale Situation war in Algerien in vielerlei Hinsichten einzigartig: Einerseits war das Territorium nach französischem Verständnis gar keine Kolonie, sondern ein in Départements aufgeteilter Teil des Mutterlands. Andererseits aber herrschte hier eine besonders ausgeprägte kolonialistische Ungleichheit, lag doch die gesamte politische und wirtschaftliche Macht in den Händen von ca. 1 Million europäischer Siedler, denen ca. 8 Millionen algerische Muslime gegenüberstanden. Bei Wahlen zählte die Stimme eines europäischen Siedlers ca. 10mal so viel wie die eines Muslims; die fruchtbarsten Ländereien und alle Industrien des Territoriums waren im Besitz von Europäern. Für Exponenten des Sozialismus und des Linksrepublikanismus wie Guy Mollet, François Mitterrand und Pierre Mendès France lag die Lösung des algerischen Problems nicht in der nationalen Befreiung, sondern in der schrittweisen, vollständigen politischen und sozialen Emanzipation der muslimischen Algerier. Eine algerische Nation existierte für sie überhaupt nicht, war doch das Territorium integraler Teil der französischen Nation. Wenn sich, wie seit 1954, algerische Muslime unter dem Slogan der nationalen Befreiung erhoben, konnte dies in ihren Augen nichts mehr als die Rebellion einer radikalisierten, von Außen gesteuerten Minorität sein. Aber wenn auch in Algerien nachhaltige Veränderungen notwendig waren, durfte doch nach ihrer Auffassung der Status des Peo Hansen/Stefan Jonsson, Eurafrica, S. 463–474. Außerdem Avit, Question de l’Eurafrique, S. 17–23.
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Territoriums nicht infrage gestellt werden. Reformbereite Politiker in Paris stießen sich am Widerstand derjenigen, die ein exklusiveres Verständnis von der französischen Nation hatten und die Machtverhältnisse in Algerien nicht verändern wollten, allen voran die pieds noirs, die europäischen Siedler. Diese widersetzten sich gegen jegliche Reformen, da sie in ihren Augen bedeutet hätten, sich dem Willen der erdrückenden muslimisch-algerischen Bevölkerungsmehrheit zu unterwerfen. Der „Front de libération nationale“ (FLN), die algerische Aufstandsbewegung, orientierte sich wiederum am Vorbild des revolutionären französischen Nationalismus. Zahlreiche ihrer Protagonisten hatten in Algerien französische Schulen besucht, wobei ihnen der krasse Widerspruch zwischen der revolutionär-freiheitlichen Verheißung Frankreichs und der kolonialen Realität von Unfreiheit und Ungleichheit bewusst geworden war. Für die Führer des FLN war der bewaffnete Aufstand der Befreiungskampf einer unterdrückten Nation und die soziale Revolution eines Volks von Kleinbauern.28 Auf seinem Kongress von Soummam 1956 erklärte sich der FLN zur „einzigen Organisation, die das algerische Volk repräsentiert“ und forderte, die Souveränität der „unteilbaren algerischen Nation“ anzuerkennen.29 Zur seiner Strategie gehörte es, internationale Anerkennung ihres Strebens nach nationaler Selbstbestimmung zu erlangen, da Frankreich den Aufstand als eine innere Angelegenheit abtun wollte, in der es lediglich um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ging. So gelang es dem FLN, dass im September 1955 zur großen Empörung Frankreichs die algerische Frage von der Vollversammlung der Vereinten Nationen diskutiert wurde. Es ist nur auf den ersten Blick paradox, dass es in der Person von Charles de Gaulle ein glühender französischer Nationalist war, der die Unabhängigkeit Algeriens in die Wege leitete. Ihn hatten führende Militärs in Algier, unterstützt von erregten pieds noirs, im Mai 1958 auf den Schild gehoben, als die zivile Führung in Paris eine Verhandlungslösung mit dem FLN anzustreben schien. Seine Steigbügelhalter dachten, dass der Retter von 1944/45 alles unternehmen würde, um Frankreichs Souveränität über Algerien zu bewahren. Doch bereits in seiner ersten Rede in Algier nach seiner Regierungsübernahme machte er deutlich, dass er nicht der Sachwalter der Interessen radikaler Algerienfranzosen und intransigenter Militärs war. Ab sofort dürfe es, so de Gaulle, in Algerien nur noch „eine Kategorie von Einwohnern“ geben, nämlich Bürgerinnen und 28 29
Meynier, „Révolution“ du FLN, S. 7–25. Zitiert nach: Stora, Guerre d’Algérie, S. 45.
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Bürger mit „gleichen Rechten und Pflichten“. Die bisherige Diskriminierung der muslimischen Algerier erkannte er implizit an, wenn er bekundete, man müsse ihnen nun „die Würde geben, die man ihnen verweigert hatte“. 30 Als erkennbar wurde, dass die Zuerkennung voller Bürgerrechte für alle Algerier die Forderungen des FLN nicht befriedigte und er seinen Guerillakrieg unverändert fortsetzte, schwenkte de Gaulle auf eine andere Strategie um: Für ihn war es unumgänglich, dass der algerischen Bevölkerung die Selbstbestimmung über ihr künftiges Schicksal eingeräumt würde. Im privaten Gespräch ließ der General keinen Zweifel daran, dass er die Tage der französischen Souveränität über Algerien für gezählt hielt: „Keine Gewalt hält in unseren Zeiten ein Volk auf, das für seine Unabhängigkeit kämpft.“31 Die nationale Unabhängigkeit Algeriens erschien ihm darüber hinaus notwendig, um den französischen Nationalismus zu retten. Denn nur wenn sich Frankreich von seinem immer antiquierter wirkenden Kolonialismus verabschiedete, würde es nach seiner Auffassung in der gegenwärtigen Welt noch eine Rolle als Großmacht spielen können. Der republikanische Universalismus, der einst die Kolonisierung angetrieben hatte, erschien ihm nun als eine große Illusion. Die Franzosen seien „vor allem ein europäisches Volk weißer Rasse, griechisch-römischer Kultur und christlicher Religion“. Die Verschmelzung mit anderen Völkern sei ähnlich aussichtslos wie die Verbindung von „Öl mit Essig. Schütteln Sie die Flasche. Nach einen kurzen Moment trennen sich die Zutaten wieder. Die Araber sind Araber, die Franzosen sind Franzosen“.32
Ausblick Mit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 scheiterte der republikanische Kolonialismus Frankreichs endgültig an seinen inneren Widersprüchen. Der für kulturelle Ursprünge, religiöse Bekenntnisse und Hautfarben vorgeblich blinde universalistische Nationalismus hätte eigentlich verlangt, dass man immer schon allen Kolonisierten ohne weitere Bedingungen die vollen Bürgerrechte eingeräumt hätte. Nur dann wäre die „plus grande France“ als ein weltumspannender Raum republikani De Gaulle, 4 juin 1958, S. 15–17. De Gaulle im Gespräch mit Alain Peyrefitte, in: Peyrefitte, C’était de Gaulle, S. 86. 32 Ebd., S. 52. 30 31
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scher Werte Realität geworden. Dies hätte allerdings bedeutet, dass die überwiegende Anzahl französischer Staatsbürger außerhalb des Mutterlands gelebt hätte – eine Konsequenz, welche die politische Elite nicht bereit war zu akzeptieren. Vor diesem Hintergrund verriet die Republik ihre ureigensten Prinzipien und führte ethnischreligiöse Kriterien ein, um den Zugang zur Staatsbürgerschaft einzuschränken. Wer Abkömmling der Kolonien war, musste sich erst „assimilieren“, bevor er darauf hoffen konnte, französischer Staatsbürger zu werden. Gleichzeitig kamen einige wenige Indigene in den Genuss französischen Schulunterrichts und lernten ihre Kolonialmacht als ein Land kennen, dessen Nationalstolz auf seinen revolutionären, egalitären und emanzipatorischen Werten beruhte, die es aber tagtäglich in der kolonialen Herrschaftspraxis verriet. Es waren die von der Kolonialmacht proklamierten, aber nicht eingehaltenen Werte, die ihnen vorschwebten, wenn sie zunächst ihre volle politische Emanzipation innerhalb der „plus grande France“, dann mehr und mehr die Befreiung von der Fremdherrschaft forderten. Als Frankreich sich endlich zur vollen „Integration“ der Kolonisierten bereit fand, war es längst zu spät: Für die Anführer des Viet Minh ebenso wie des FLN war ein Verbleib in der französischen Republik unter welchen Bedingungen auch immer nicht mehr vorstellbar; ihre einzige Option war die nationale Befreiung und die Etablierung eines eigenen, souveränen Nationalstaats. Frankreichs universalistischer, auf die politischen Prinzipien der französischen Revolution bezogener Nationalismus hat sich von seiner schweren Krise in der Dekolonisierung nie mehr erholen können. Nach der Auflösung des Empire wurde er mit einer neuen Herausforderung konfrontiert, nämlich der vermehrten Einwanderung von Menschen aus den ehemaligen Kolonien. Mit vorherigen signifikanten Einwanderungswellen insbesondere aus europäischen Ländern war das Integrationsmodell des französischen Republikanismus recht gut zurechtgekommen. Seinen politischen Prinzipien gemäß sollten Eingewanderte sich als Individuen, nicht aber als Mitglieder einer ethnisch-kulturellen Gruppierung in die Republik integrieren und ihren Werten anpassen. Ihre aus dem Herkunftsland mitgebrachten Vorstellungen und Praktiken sollten lediglich in der Privatsphäre, nicht aber im öffentlichen Raum eine Rolle spielen. Dank des „droit du sol“ wurden die Kinder von Eingewanderten als französische Staatsbürger geboren; die Schule sollte ihnen gleiche Bildungs- und damit soziale Aufstiegschancen einräumen. Millionen von Immigranten etwa aus Italien, Belgien, Portugal, Russland und Polen waren so seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erfolgreich zu gleichberechtigten französischen 238
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Staatsbürgern geworden, auch wenn es immer wieder zu Diskriminierungen und Anfeindungen gekommen war. Doch konfrontiert mit der Immigration aus ehemaligen, insbesondere nordafrikanischen Kolonialgebieten tat sich das republikanische Integrationsmodell wesentlich schwerer. Auch den Angehörigen der zweiten und dritten Einwanderergeneration blieb oft der soziale Aufstieg verweigert; an den Rändern der Großstädte entstanden weitgehend von Einwandern bewohnte Stadtviertel, in denen der Zugang zu Bildungseinrichtungen und Arbeitschancen besonders erschwert war. Während die ersten Migrantenströme der Nachkriegszeit in ein Land in vollem wirtschaftlichen Aufschwung gekommen waren, hatte sich seit 1973 eine krisenhafte, von wachsender Arbeitslosigkeit gekennzeichnete Lage verbreitet. In der Politik wurde, nicht nur auf der extremen Rechten, vermehrt die Ansicht geäußert, man könne Frankreichs arbeitsmarktpolitische Probleme lösen, indem die zuletzt Eingewanderten in ihre Heimatländer zurückkehrten. Darüber hinaus waren Immigranten aus afrikanischen Herkunftsländern offenbar stärker rassistischen, xenophoben und islamfeindlichen Verhaltensweisen ausgesetzt als europäische Einwanderer, was ihre soziokulturelle Integration zusätzlich erschwerte. Mit Beginn der 1980er Jahre traten die Abkömmlinge nordafrikanischer Einwanderer aus ihrer politischen Zurückhaltung heraus und protestierten gegen die Diskriminierungen, denen sie sich ausgesetzt sahen. Beispielhaft dafür ist die „Marche pour l’égalité et contre le racisme“, die von maghrebinischen Einwanderern 1983 organisiert wurde; eine Massendemonstration, die von Marseille aus quer durch das Land bis nach Paris zog. Die Ausgrenzung und Herabsetzung der Maghrebiner habe, so suggerierten sie, mit der Dekolonisierung nicht etwa geendet, sondern setze sich nun in Frankreich fort. Auch nach Ende des Empire sei Frankreich immer noch nicht bereit, seinen einstigen Kolonisierten volle Gleichheit einzuräumen, sondern behandele sie nach wie vor als Menschen zweiter Klasse. Gleichzeitig suchten Einwanderer insbesondere der zweiten und dritten Generation nach Mitteln, ihre Differenz gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und ihre Skepsis gegenüber einer „Assimilation“ nach Vorgaben des republikanischen Integrationsmodells sichtbar zu machen. Verschiedene Ausdrucksformen wurden dafür mobilisiert; über die RAP- und Raï-Musik bis hin zum Tragen des Kopftuchs muslimischer Frauen.33 33
Gastaut, Immigration. Außerdem Waechter, Geschichte Frankreichs, S. 461ff.
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Die politisch Verantwortlichen haben sich mit einer Antwort auf diese neuartige Herausforderung des republikanischen Integrationsmodells schwer getan. Die offenkundige Benachteiligung von Einwanderern aus ehemaligen Kolonialgebieten, ihre räumliche Isolierung in eilig errichteten Betonvorstädten, ihr mangelhafter Zugang zu Bildungseinrichtungen und Arbeitsplätzen hätte eigentlich nahegelegt, diese Bevölkerungsgruppe besonders zu fördern, damit sie egalitäre Chancen überhaupt erst wahrnehmen konnte. Andernorts, etwa in den Vereinigten Staaten, wurde dies unter den Vorzeichen der „affirmative action“, der „positiven Diskriminierung“ erfolgreich praktiziert. Doch für zahlreiche Exponenten des republikanischen Modells verstieß eine solche Politik gegen den Gleichheitsgrundsatz und förderte das Risiko der Aufspaltung der Nation in einzelne soziokulturelle Gruppierungen, wo doch diese als ein Aggregat von Individuen verstanden wurde. Und die Artikulierung eines Sonderbewusstseins postkolonialer Einwanderer provozierte oft heftige Reaktionen seitens der Exponenten eines linken Nationalismus, die von Immigranten aus dem Maghreb eine ähnliche „Assimilation“ an den republikanischen Laizismus erwarteten, wie sie einst von Zuwanderern aus europäischen Ländern geleistet wurde. In diesem Zuge kam es etwa zum Verbot, in Schulen ein Kopftuch zu tragen. Erst in den letzten Jahren kann ein Umschwung beobachtet werden: So machten sich immer mehr Exponenten der Rechten und extremen Rechten zu Fürsprechern einer intransigenten Position gegenüber dem Islam in Frankreich und gaben vor, auf diese Weise die laizistische Tradition der Nation zu verteidigen. Auf der Linken gab es unterdessen vermehrt Sympathien für eine multikulturelle Gesellschaft als neues Leitbild. Damit korrespondieren auch die Einstellungen zur kolonialen Vergangenheit: Während auf der Rechten (insbesondere unter der Präsidentschaft Sarkozys) immer wieder Versuche zu beobachten sind, diese zu rehabilitieren und eine positive Einstellung zur kolonialen Vergangenheit zu fördern, hat sich auf der Linken die Einsicht durchgesetzt, dass Frankreich mit seinen imperialen Ambitionen die Werte der Republik verraten hat.
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Nationalismus, Demokratie und Exklusion im schwedischen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts Thomas Etzemüller
Einleitung Es gibt zwei Perspektiven auf die europäische Geschichte im 20. Jahrhundert. Für die eine mag der Amerikaner Marquis Childs stehen, der Schweden 1936 enthusiastisch einen rationalen, demokratischen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus bescheinigt hatte.1 Die andere Perspektive finden wir in Überblicksdarstellungen, die mit düsteren Katastrophenbildern ein Zeitalter der extremen Gegensätze beschwören. In Edgar Wolfrums und Cord Arendes „Globaler Geschichte des 20. Jahrhunderts“ besteht die Zwischenkriegszeit praktisch ausschließlich aus Scheitern,2 während Ian Kershaws „Höllensturz“ schon in der Metaphorik keinen Zweifel am desaströsen Weg eines verwilderten Kontinents lässt.3 Dabei, das lesen wir ebenfalls bei Kershaw, bestand die Hälfte der europäischen Nationen aus demokratischen Staaten, der Rest aus autoritären Regimes, die sich aber mit Blick auf politische Verfolgung oder Führerkult sehr deutlich von Faschismus und Stalinismus unterschieden.4 Warum Demokratien scheiterten, erklärt Kershaw – kaum, warum so viele stabil geblieben sind. Das nordische Erfolgsmodell ist ihm gerade einmal eine Seite wert.
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Childs, Sweden. The Middle Way. Z. B. Hobsbawm, Zeitalter der Extreme; oder Wolfrum/Arendes, Globale Geschichte. Kershaw, Höllensturz, S. 637. Ebd., bes. S. 362–366.
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Detlev Peukert hatte für die Geschichte der Weimarer Republik angemahnt, dass man sie nicht ausschließlich von ihrem Ende her denken solle.5 Für Europa gilt dasselbe. Man muss keine kontrafaktische Geschichte betreiben. Aber um sich der Perspektive bewusst zu werden, sollte man fragen: Hätten sich die autoritären Regimes mit dem wirtschaftlichen Aufschwung eventuell in Demokratien (rück‑) transformiert? Warum war die radikalste Form autoritären Regierens, der Faschismus, in den meisten Ländern so wenig attraktiv?6 Und die totalitären Staaten? Die Sowjetunion und Italien hätten den „Höllensturz“ weder bewirken wollen noch können. Beim Nationalsozialismus sind historische Alternativen mehrfach haarscharf gescheitert.7 Man könnte die europäische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert demnach von möglichen Alternativen her schreiben, von den – teils knapp vertanen – Potenzialen her. Die demokratischen Staaten mit ihren je unterschiedlichen Modellen des sozialen Ausgleichs, der Konfliktbewältigung und der Konsensbildung hätten sich vielleicht doch durchsetzen können: Schweden, Großbritannien, die Niederlande, Frankreich – selbst Belgien.8 Neben der mörderischen Entgrenzung im „Dritten Reich“ würde man so auch die – ebenso erklärungsbedürftige – Nichtentgrenzung in den Blick bekommen. Ein suggestives Symbol mag das verdeutlichen: An ein und demselben 30. Januar 1933 „ergriff “ Hitler in Berlin die Macht, während in Kopenhagen die dänischen Parteien ein wegweisendes Abkommen schlossen (Kansergadeforliget), das unter anderem einem modernen Sozialstaat die Bahn bereitete und das „Tausendjährige Reich“ weit überdauerte.9 Allerdings wäre bei einer solchen Geschichte neben Peukert auch Zygmunt Baumans Postulat einer „Ambivalenz der Moderne“ zu berücksichtigen. In seiner Zuspitzung behauptet es, dass moderne Gesellschaften mit Vieldeutigkeit nicht zurechtkämen und deshalb, wie ein Gärtner das Unkraut, alles ausmerzten, was sich eindeutigen Klassifizierungen widersetze. Deshalb sei der Holocaust keine Anomalie, sondern als Potenzial in der Moderne angelegt gewesen.10 Die eingängige Me-
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Peukert, Weimarer Republik. Kershaw, Höllensturz, S. 325; Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, S. 152. Vgl. Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Vgl. z. B. die Beiträge im Journal of Modern European History, Jg. 17 (2019), H. 2: Narratives of Democracy. 9 Petersen u. a., Mellem skøn og ret. 10 Bauman, Dialektik der Ordnung. 5 6
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tapher übersieht allerdings, dass in der Gärtnerei die Definitionen von „Unkraut“ durchaus nie eindeutig gewesen sind; Bauman nimmt seinen Gedanken der Potenzialität nicht ernst und schreibt das Katastrophennarrativ fort.11 Ähnlich sieht es mit Peukerts Metapher des „Janusgesichts“ der Moderne aus, die ebenfalls auf zwei mögliche, miteinander verflochtene Handlungsoptionen verweisen sollte,12 aber im Grunde eine unterkomplex binär codierte Erzählung der Moderne reproduzierte.13 Man muss sich diese Reduktionen freilich nicht zu eigen machen. Dann können diese Metaphern helfen, die europäische (und amerikanische) Geschichte der Moderne als ambivalente Potenzialität zu schreiben, in der es nicht eine „dunkle“ und eine „helle“ Seite bzw. „Unkraut“ und Zierpflanzen gab, sondern in der unterschiedliche Positionen ineinander verschwammen und immer neu austariert wurden. Diese Lesart lässt sich mit Michel Foucaults Begriffen der „Gouvernementalität“ bzw. der „Normalisierung“ untermauern.14 Im Gegensatz zu absolutistischen oder disziplinierenden Regimes, so Foucault, setzt das Regime der „Sicherheit“ auf eine permanente Evaluation der Gesellschaft, um „schädlichen“ Abweichungen vorzubeugen. Diese sind allerdings nie ein für alle mal fixiert, sondern unterliegen selbst der andauernden Justierung. Normalisierungsgesellschaften machen Ambivalenz und Unsicherheit produktiv. Sie ermitteln die Zone der „Normalität“ empirisch, erlauben eine Zone der unproblematischen Abweichung und setzen im Prinzip auf Selbsterziehung der Menschen und auf „Nudging“, statt auf Dressur oder Strafe.15 Normalisierungsgesellschaften sind insoweit „demokratisch“ als dass sie mit den sich wandelnden Lebenspraktiken von Menschen kalkulieren und sie – bei hinreichendem statistischen Gewicht – als „normal“ akzeptieren. Es handelt sich um ein Regime, das Machtbeziehungen von unten her aufbaut, ohne dass es ein Zentrum der Macht gibt, keine Herrenmenschen, die intentional steuern können.16 Vielmehr erfassen Experten unaufhörlich den Zustand der Gesellschaft, destillieren „Norma 13 14 15 16 11 12
Vgl. Etzemüller, Ambivalente Metaphorik. Peukert, Janusgesicht der Moderne. Vgl. Etzemüller, Hatte die Moderne ein „Janusgesicht“. Vgl. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität; ders., Verteidigung der Gesellschaft. Vgl. für diese Lesart Etzemüller, Social Engineering. Natürlich gab und gibt es Herrschaft im engeren Sinne, die vorschreibt und straft (etwa die nationalsozialistische Diktatur). Doch das Regime der Sicherheit, das ein Effekt der Moderne ist, kann wesentlich geschmeidiger mit der Uneindeutigkeit moderner Prozesse umgehen.
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lität“ und spiegeln sie nach „oben“ und nach „unten“, zu den „Herrschenden“ und dem „Volk“, auf dass sich beide Seiten für eine „vernünftige“ Gesellschaft einsetzten. Was das in der ambivalenten Moderne bedeuten konnte, lässt sich exemplarisch am schwedischen Fall zeigen.
Warum Schweden? Das oben erwähnte wegweisende Kanslergade-Abkommen war in Dänemark geschlossen worden. Warum reden wir dann über Schweden? Dänemark hatte seit dem 19. Jahrhundert einen bis heute herausragenden Wohlfahrtsstaat aufgebaut, doch Schweden galt lange Zeit als einer der vorbildlichsten Sozialstaaten der Welt, ein Erfolgsprojekt der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Als ein Grund hierfür wird genannt, dass das Land mit Marquis Childs einen wesentlich erfolgreicheren Popularisierer als das südliche Nachbarland gehabt hatte.17 Außerdem ist Schweden im Krieg nicht besetzt worden, und seit den 1950er Jahren entwickelte es sich zu einer Wirtschaftsmacht, die unter Ministerpräsident Olof Palme effektvoll in die Weltpolitik eingriff – oder das zumindest versuchte. Deshalb dient Schweden, nicht Dänemark, seit Langem als Projektionsfläche. Es bedient bis heute das BullerbüSmåland-Lönneberga-Klischee einer heilen Welt, man konnte, wie Childs, eine rational funktionierende Staatsmaschinerie bewundern, in den 1950er Jahren „Schweden-Filme“ und Sexualaufklärung als Indizien eines Sündenpfuhls deuten, mit Roland Huntford 1971 in Schweden einen totalitären Staat neuen Typs ausmachen oder mit Hans Magnus Enzensberger 1982 über eine jede Individualität erstickende Bürokratie seufzen. Über die tatsächliche Gesellschaftsgeschichte Schwedens ist in Deutschland hingegen wenig bekannt, da marginale Länder wie Italien, die Niederlande, Belgien oder die skandinavischen Staaten, selbst Frankreich, nach wie vor unter einem Aufmerksamkeitsdefizit leiden. Für eine europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts scheinen sie in der deutschen Geschichtswissenschaft ohne größere Relevanz zu sein.18 Dabei eignet sich gerade der schwedische Sozialstaat
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Musiał, Tracing Roots. Dass für Sammelbände nun zunehmend Beiträge zu Schweden (manchmal Dänemark, kaum aber zu Norwegen oder Finnland) eingeworben werden, verdeutlicht nur, was nach wie vor fehlt: Erschöpfende Gesamtdarstellungen der Geschichte der europäischen Staa-
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als Testfall, um das Verhältnis zwischen Demokratie, Volk, Nation und Exklusion zu beleuchten. Um es pointiert zu formulieren: Schweden ist spätestens seit dem Ersten Weltkrieg zweifellos eine durch und durch demokratische Gesellschaft, die politisch auf die Inklusion möglichst vieler Menschen in die Gesellschaft setzte, die zugleich aber die Menschen normalisierte und einen kleinen Teil der Bevölkerung rücksichtslos exkludierte. Der schwedische Nationalismus definierte sich bis in die 1990er Jahre über den Wohlfahrtsstaat, einen spezifischen Volksbegriff und „Modernität“. Diese Mischung machte Schweden – in der Selbstsicht – zur Avantgarde in der Moderne, und deshalb haben die schwedischen Historiker Roddy Nilsson und Alf Johansson vom „Sozialnationalismus“ bzw. vom „Modernitätsnationalismus“ gesprochen.19 Gehört es zur ratio moderner, selbst unzweifelhaft (sozial‑) demokratisch verfasster Nationalstaaten, auszugrenzen, wie etwa Michael G. Hanchard behauptet?20
Sozialstaat und Nation Martin Greifenhagen und andere haben die Sozialpolitik als Legitimationsquelle ersten Ranges für einen Staat benannt, weil sie eine „Lebensgarantie“ biete: Biografische Entwürfe in die Zukunft hinein werden berechenbarer.21 Sie etabliere „shared solidarity and shared risks“ und binde Menschen an den Staat als nationaler Gemeinschaft.22 Auch deshalb habe sie für das nation building europäischer Staaten als wichtiges Instrument gedient. Hans Günter Hockerts hat zugleich angemerkt, dass Wohlfahrtsstaaten ein „multivalentes“ Verhältnis zu sozialer Ungleichheit aufwiesen: Sie können diese reduzieren, limitieren, konservieren, produzieren oder legitimieren, d. h. auf ein jeweils gesellschaftlich akzeptiertes Maß justieren.23 Und sie stellten, so John Welshman und Gérard Noiriel, durch Kategorisierung kollektive
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ten, die den Darstellungen zur deutschen Geschichte von Tiefe und Umfang her ebenbürtig sind. Vgl. für Schweden die voluminöse und instruktive achtbändige „Norstedts Sveriges historia“, die von der Steinzeit bis zum Jahre 2012 reicht (erschienen 2009–2013). Nilsson, Kontroll, makt och omsorg, S. 281; Johansson, Inledning, S. 15. Vgl. Hanchard, Spectre of Race. Greiffenhagen, Politische Legitimität, S. 171f., 180–185. McEwen/Moreno, Preface, S. xxi. Hockerts, Einführung, S. 10–15.
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Entitäten her bzw. definierten „Problemgruppen“.24 Sozialpolitik ist eine biopolitische Regulierung der Bevölkerung, die unmittelbare Rückwirkung auf die soziale Lage und Identität von Individuen hat, indem sie Empfänger als spezifische Subjekte modelliert.25 Europa bildete dabei seit dem 19. Jahrhundert ein Experimentierfeld für unterschiedliche Varianten der staatlichen und privaten Wohlfahrt samt ihrer Mischformen.26 Man kann, wie Gøsta Esping-Andersen, drei große sozialstaatliche Regimes differenzieren,27 mit Hockerts „Beveridge-“ und „Bismarck-Systeme“ unterscheiden28 oder mit Philip Manow protestantische von katholischen Sozialstaaten trennen.29 Grundsätzlich jedoch weisen Wohlfahrtsstaaten hybride Formen auf. Sie sind zwischen den Polen universaler oder familiärer Orientierung, Steuer- bzw. Beitragsfinanzierung, Zwangsmitgliedschaft bzw. freiwilliger Versicherung und staatlicher oder privater Initiative aufgespannt. Historisch kann man dabei eine erste Phase der traditionalen Armenfürsorge unterscheiden von einer zweiten im frühen 19. Jahrhundert, als die staatliche Wohlfahrtspolitik einsetzte. In den 1880er Jahren begann der Aufbau einer systematischen, aber noch rudimentären Sozialstaatlichkeit. Nach 1918 folgten die modernen, in Verfassungen verankerten Wohlfahrtsstaaten, die seit den 1950er Jahren ihren Höhepunkt erlebten und in den 1990er Jahren unter Druck gerieten.30 Gemeinsam war allen Sozialstaaten, dass sie bis weit ins 20. Jahrhundert zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Empfängern, den deserving bzw. undeserving poor unterschieden. Damit war eine Art moralischer Staatsbürgerschaft begründet. Soziale Sicherungssysteme sind nämlich in ein moralisches Umfeld eingebettet, so Greifenhagen, das Gerechtigkeits- und Solidaritätsvorstellungen prägt.31 Dazu zählten die Fragen nach den Empfängern und der Interventionstiefe des Staates. Sozialpolitik bedeutete deshalb stets Inklusion und Exklusion. Nationalstaaten zogen Grenzen, die den Leistungsbezug weitgehend an eine formale 26 27 28 29 30
Welshman, In Search of the „Problem Family“; Geisen, Sozialstaat in der Moderne. Das hat Geyer, Vorbote des Wohlfahrtsstaates, für die Kriegsversehrten gezeigt. Kaelble, Auf dem Weg, S. 73–82, 119–126. Dazu: Manow, „The Good, the Bad, and the Ugly“. Hockerts, Einführung, S. 15–17. Manow, Religion und Sozialstaat. Vgl. Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats; Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit; Ritter, Sozialstaat. 31 Greiffenhagen, Politische Legitimität, S. 181. 24 25
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Staatsbürgerschaft koppelten; soziale Grenzziehungen dagegen versahen die immer größeren Gruppen der Leistungsberechtigten mit Wertigkeiten.32 Die gesellschaftspolitische Frage in allen Nationen war stets, wie Wohlfahrtsstaat und Gesellschaftsordnung zusammenhängen sollten: Inwieweit sollte er intervenieren? Wie sollte das Verhältnis zwischen Staat und Individuen aussehen? Welche Form Staatsbürger wurde durch Sozialhilfe modelliert? Wer waren die Zielgruppen, wie wurde durch Sozialpolitik ein- oder ausgegrenzt? Lässt sich ein Zusammenhang zwischen Sozialstaat, Staatsbürger und dem Weg durch das „Zeitalter der Extreme“ (Eric J. Hobsbawm) feststellen? Das sah je System verschieden aus. Um nur drei Modelle anzureißen, die den Kontext bildeten, in die der schwedische Sozialstaat eingebettet war, und die ihm als Vorbild dienten: In Deutschland hielt sich, wie in anderen Staaten, der traditionale Ansatz der kommunal organisierten und rudimentären Armenfürsorge bis weit ins 19. Jahrhundert. Zwischen 1883 und 1889 jedoch wurden die Kranken‑, Unfall- und Rentenversicherung eingeführt, womit das Kaiserreich sozialpolitisch als Vorreiter gilt. Allerdings wurden die Standesunterschiede von Arbeitern, Angestellten und Beamten in eigenständigen Versicherungszweigen festgeschrieben und über die Höhe der Versicherungsbeiträge in die Leistungsbezüge hinein bis hin zur Rente verlängert. Außerdem genossen männliche Arbeitnehmer besseren Versicherungsschutz als Frauen, die öfter auf die Armenfürsorge angewiesen waren. Die Spannungen zwischen konservativen, liberalen und sozialistisch/sozialdemokratischen Positionen schlugen sich in einer komplexen Sozialgesetzgebung nieder, die durch den Staat, Wohlfahrtsverbände und Unternehmen vollzogen wurde. Damit ging der deutsche Wohlfahrtsstaat mit seiner starken Rolle für die Daseinsfürsorge über das liberale, und mit seinem quasi-universalen Umfang auch über das konservative Wohlfahrtsstaatsmodell hinaus und ähnelte zumindest dem sozialdemokratischen Modell, demgegenüber er aber selektiver und weniger egalisierend ausfiel.33 In Dänemark hatten im 19. Jahrhundert zunächst wirtschaftsliberale Kräfte die Oberhand, die auf Hilfe zur Selbsthilfe und Philanthropie setzten. Weil diese Form der sozialpolitischen Selbstregulierung zu offensichtlich nicht funktionierte, begann der Staat mit Reformen. Für kollektive Risiken wie Alter, Krankheit und Un Ferrera, Boundaries of Welfare, S. 48, 60, 64. Vgl. Kott, Sozialstaat und Gesellschaft; Neumann/Schaper, Sozialordnung der Bundesrepublik; Ullrich, Soziologie des Wohlfahrtsstaates; Schmidt, Der deutsche Sozialstaat.
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fälle wurden bis 1898 eigene Versicherungen geschaffen. Vorbild war die deutsche Gesetzgebung, allerdings wählte Dänemark ein Mischsystem aus steuerfinanzierten Leistungen und freiwilligen Versicherungen, die durch individuelle Beiträge und staatliche Zuschüsse finanziert wurden. Staatliche Leistungen bemaßen sich nicht nach der Höhe der Beitragszahlungen, sondern standen universal und als Rechtsanspruch allen Staatsbürgern zu, insbesondere die Grundsicherung im Alter. Staat, autonome Hilfskassen, philanthropische Wohlfahrtsverbände und private Versicherungen griffen ineinander, und ein dänisches Modell zeichnete sich ab, das später als Vorbild für die britischen Reformen diente. Hinzu kam die Sozialpolitik sozialdemokratisch regierter Gemeinden („Kommunensozialismus“34). In Kompromissen mit den kritischen konservativen und liberalen Parteien wurde dieses Sozialstaatsmodell seit Ende der 1920er Jahre ausgebaut, wobei das Verhältnis zwischen Interventionsstaat und individueller Eigenverantwortung bis in die 1950er Jahre umstritten blieb.35 Der britische Wohlfahrtsstaat ist stärker als der dänische ein Hybrid. Er setzte die Armengesetzgebung des 17. Jahrhunderts fort, die, anders als auf dem Kontinent, Bedürftige nicht als Bedrohung der sozialen Ordnung unterdrückte, sondern sie in die Gesellschaft zu integrieren trachtete. Dabei kombinierte er den konservativen Sozialstaatsgedanken der bedarfsabhängigen Fürsorge, die liberale Idee niedrig angesetzter Leistungen mit dem sozialdemokratischen Ansatz eines Rechtsanspruches auf universale Grundsicherung für alle Bürger. Grundsätzlich sollten Sozialleistungen nur greifen, wenn das Sicherungssystem Familie versagte. Vor allem das marktwirtschaftliche Versicherungswesen bzw. philanthropische Organisationen, weniger der Staat, sollten die Absicherung übernehmen. Josef Schmid nannte das eine „liberalkollektivistische Doppelgesichtigkeit“.36 Auf ihr sollte eine citizenship gründen, in der soziale an die Seite von politischen Rechten gestellt wurden. Berühmte Konsequenz dieses Denkens war der Beveridge-Plan von 1942, der ein für alle Bürger gleiches (niedriges) Existenzminimum gegen Risiken wie Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, Invalidität und Mutterschaft gewährleisten sollte. Gleichzeitig sollten
Frenzel, „Wenige zu viel“, S. 272f., 276f. Vgl. zur Geschichte des dänischen Sozialstaates detailliert Petersen u. a., Frem mod socialhjælpsstaten; Petersen u. a., Mellem skøn og ret; Petersen u. a., Velfærdsstaten i støbeskeen. 36 Schmid, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich, S. 188. 34 35
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ein nationaler Gesundheitsdienst und eine konsequente Vollbeschäftigungspolitik prophylaktisch wirken. Der moralische Anspruch war, dass alle arbeitenden Bürger unabhängig vom Einkommen die gleichen Beiträge für die gleiche Sicherheit zahlen. Dazu stand ein effektives System öffentlicher sozialer Dienste zur Verfügung, während Geldtransfers, anders als in Dänemark und Deutschland, primär Armut verhindern, nicht Lebensstandards sichern sollten.37 Letztlich allerdings blieb die Tradition der Selbsthilfe in Großbritannien immer stark – etwa wenn unter Tony Blair der Sozialinterventionsstaat durch den Sozialinvestitionsstaat ersetzt werden sollte.38 Vom 19. Jahrhundert bis in die 1950er Jahre bildete die Vorstellung, gegen die vermeintliche Atomisierung und Desintegration industrieller Gesellschaften soziale Gemeinschaft stiften zu müssen, in allen drei Ländern die Hintergrundmelodie – auch wenn die durch Sozialpolitik modellierten Subjekte eigentümlich quer dazu liegen konnten. Das gesellschaftspolitische System Dänemarks war ganz auf eine kollektive Sozialordnung und konsensorientierte Verfahren abgestellt. Leistungsempfänger jedoch sollten weitgehend aus sozialen Abhängigkeiten befreit werden; jedes Individuum wurde als unmittelbar zum Staat imaginiert; es ordnete sich kraft Einsicht in das Kollektiv ein. In Deutschland war das Subjekt vom Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik hinein prinzipiell Untertan. Der Staat begünstigte ein patriarchalisches Gefüge, das die Empfänger von Sozialleistungen auf sozialen Positionen einer quasi ständischen Ordnung festschrieb und sozial-moralisch kontrollierte; sie wurden qua Stand in das Volk eingefügt. Großbritannien entwarf ein eigenverantwortliches Subjekt, das dank Beschäftigungspolitik gar nicht erst bedürftig wurde bzw. sich sozialer Instrumente bediente, um seine Autonomie zurück zu erlangen. Es war Baustein der Gesellschaft. Gleichzeitig blieb in den drei Ländern die Unterscheidung von „würdigen“ und „unwürdigen“ Empfängern lange erhalten. Damit war eine Art moralischer Staatsbürgerschaft begründet, die zwei extreme Pole annehmen konnte: eine extensive Inklusion in Dänemark, bei der allerdings ein geringer, biologisch und sozial angeblich „minderwertiger“ Teil der Be-
Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats, S. 126–161; Hilton, Mad, Bad & Dangerous People, S. 588–599; McEwen/Parry, Devolution; Lowe, Welfare State in Britain, S. 135ff.; vgl. vor dem Hintergrund des Beveridge-Plans auch: Hockerts, Deutsche Nachkriegspolitik. 38 Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit, S. 116. 37
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völkerung durch eine systematische Sterilisierungspolitik eliminiert werden sollte,39 und eine immer dramatischere Ausgrenzung von „Gemeinschaftsschädlingen“ im „Dritten Reich“, die dann gleich vernichtet wurden. Im Nationalsozialismus waren Sozialpolitik und Kriegsfähigkeit im Namen der Nation gekoppelt,40 in Dänemark, und auch Schweden, wurde in der Koppelung von Demokratie, Wohlfahrtsstaat und „Modernität“ das Charakteristikum der Nation ausgemacht; Sozialpolitik sollte das Volk für die Moderne rüsten und dadurch die Nation stärken.
Nationalismus, Volk und Wohlfahrtsstaat Den schwedischen Nationalismus muss man vom Volk und vom Wohlfahrtsstaat her beschreiben, um zu begreifen, welche Ein- und Ausschlüsse praktiziert werden konnten. Diese gründeten zwar durchaus auch auf Ideologien, etwa dem sozialdarwinistischen Denken bzw. Rassentheorien. Wichtiger war aber ein Selbstverständnis des Volkes, aus dem heraus Exklusion begründet werden konnte. Schweden zeichnete sich nämlich seit der Frühen Neuzeit durch einen starken Stand freier Bauern aus, außerdem durch eine starke kommunale Selbstverwaltung. Das Dorf wurde deshalb früh als Urzelle der schwedischen Demokratie gefeiert. Die Selbstverwaltung stand allerdings in einem Spannungsverhältnis zur Staatsmacht. Um alle Ressourcen für die zahlreichen schwedischen Kriegszüge mobilisieren zu können, musste der König in Stockholm effektiv auf die wenigen Städte und zahlreichen Gemeinden durchgreifen können. Es wurde deshalb früh eine effiziente Bürokratie aufgebaut, die das große, aber dünn besiedelte Reich verwaltete. In den Dörfern war die Zentralmacht durch die staatlich besoldeten Pfarrer der protestantischen Staatskirche präsent.41 Schweden ist also ein Zen tralstaat (wie etwa Frankreich) mit einem hohen Grad an Selbstorganisation, die aber (anders als in Deutschland) weniger auf regionalpolitischer Ebene angelegt ist, sondern in den seinerzeit noch sehr kleinen Gemeinden und in reichsweiten Volksbewegungen (folkrörelser) gründet. Letztere sind nicht zu unterschätzen. Vgl. Broberg/Roll-Hansen, Eugenics and the Welfare State. Wobei der Nationalsozialismus die klassische Idee der Nation in einem europäischen Imperium aufgehen lassen wollte. 41 Droste, Das schwedische Volksheim; Bergström, Lantprästen; Stenius, The Good Life. 39 40
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Die Staatskirche provozierte freikirchliche Bewegungen, der verbreitete Alkoholismus eine starke Abstinenzlerbewegung, die Industrialisierung die Arbeiterbzw. die Frauenbewegung.42 Sie organisier(t)en nicht allein Partikularinteressen, sondern ihre Mitglieder erzogen sich seit dem 19. Jahrhundert selbst in Sachen Verhandlungsfähigkeit und Kompromissfindung, um sich gegen den Staat und die Staatskirche behaupten zu können. Die schwedische Demokratie ist ohne diese Selbstorganisation der Menschen nicht denkbar; sie folgte nicht aus einer demokratischen Verfassung des Staates, sondern aus einer basisdemokratischen Praxis, die sich in die Politik einschrieb. Daraus hat sich eine korporatistisch und kollektivistisch verfasste Gesellschaft entwickelt, in der alle gesellschaftlichen Gruppen eng in die Selbststeuerungsmechanismen der Gesellschaft eingeflochten sind.43 Grundlegend ist, dass seitdem der Staat Teil der Gesellschaft (samhälle) ist. Es gibt keinen Gegensatz zwischen „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“, vielmehr bedeutet samhälle sowohl Gesellschaft als auch Gemeinschaft oder Kommune. Anders als in Systemen wie dem „Dritten Reich“ oder der DDR, in denen „Gemeinschaft“ maßgeblich von oben her imaginiert wurde, ist die samhälle in Schweden das Ergebnis dieses über hundert Jahre hinweg eingeübten basisdemokratischen Prozesses. Das bedeutet zugespitzt jedoch auch, dass die Schweden sich selbst zu Konformisten gemacht und in Humankapital verwandelt haben. Der unübersetzbare Begriff der skötsamhet ist dabei zentral. Sich skötsam zu verhalten bedeutet, sich in jeder Lebenslage ordentlich zu führen, sich nicht gehen zu lassen, nicht aus dem Rahmen zu fallen, Konflikte zu vermeiden, Kompromisse zu schließen und dem Kollektiv weitreichende Entscheidungsbefugnisse über das Individuum zu übertragen. Es ist ein pietistisch und puritanisch motivierter moralischer Imperativ mit konkreten Effekten auf die Lebenspraxis der Menschen, indem er kollektive Verhaltensweisen stärkt. Eine Mehrheit der Schweden schulte sich auf diese Weise seit dem 19. Jahrhundert in den Techniken des Verhandelns, Argumentierens und Organisierens;
Vgl. Johansson, Folkrörelserna i Sverige; Lundkvist, Folkrörelserna i det svenska samhället. 43 Vgl. Rothstein, Den korporativa staten; Micheletti, Det civila samhället och staten. 42
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darin, Mehrheiten zu finden und Niederlagen hinzunehmen, und das verfestigte sich zum Ideal des Einvernehmens (samförstånd).44 Allein durch diese Verfassung sieht sich Schweden seit langem als Avantgarde unter den Demokratien. Schweden hätten demnach die Demokratie gewissermaßen im Blut. Hinzu kommt, dass das Land ethnisch, religiös und kulturell außerordentlich homogen gewesen ist. Daraus resultierte ein kulturnationalistischer Volksbegriff. Das schwedische Volk wurzelt in den Bauerngemeinden und dessen Kultur und Traditionen. Die Heimatbewegung (hembygdsrörelsen) hat zahllose Freilichtmuseen errichtet, um Städter und Industriearbeiter an diese Traditionen heranzuführen. Zugleich wurden Vereine gegründet, um die Dörfer mit den Errungenschaften der Moderne – Elektrizität, Wasserversorgung etc. – zu versorgen, wobei Bauernhausmuseum und Umspannwerk durchaus nebeneinanderstehen konnten – eine doppelte Form der Daseinsfürsorge: Aufbau einer Infrastruktur und mentale Immunisierung gegen die bedrohlichen Aspekte der Moderne.45 Deshalb wurde die nationale Identität einerseits von der lokalen und regionalen Identität her bestimmt; das hölzerne Dalarna-Pferd (Dalahäst) oder die rote Hausfarbe der Holzhäuser (gewonnen als Beiprodukt der Erzgrube in Falun) sind mittlerweile zu Ikonen ganz Schwedens geworden. Zugleich gab es – zumindest in der Selbstsicht seit den 1930er Jahren – kaum eine Nation, die technologisch derart fortschrittlich war wie Schweden. „Volk“ war also kein antimoderner, konservativer Begriff, sondern im Gegenteil: Das Volk hatte sich der Moderne gerade nicht verweigert, und genau das machte das Volk modern. Nation definierte sich also über ein technologisch-folkloristisches Schwedentum. Wenn ein Volk sich derart als kulturelle, geradezu als organische Entität versteht, produziert es Ausschlüsse auf ganz selbstverständliche Art. Nationalismus baut in diesem Fall weniger (aber auch) auf Ideologie und expliziten Ausschlüssen – Schweden hat sich nach 1933 massiv gegen die Aufnahme von Juden zur Wehr gesetzt –, sondern auf Passung. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts konnten viele Schweden alternative Lebens- und Gesellschaftsentwürfe nur abstrakt, nicht in der konkreten Auseinandersetzung erfahren, anders als in den meisten anderen westlichen Gesellschaften. Die schwedische Kultur war derart alternativlos, dass die schwedische Le Vgl. grundlegend Daun, Swedish Mentality; Ambjörnsson, Den skötsamme arbetaren; Åberg, Samförståndets tid; Jacobson, Slaget om Sverige. 45 Vgl. Björkroth, Hembygd i samtid och framtid, S. 39. 44
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benspraxis regelrecht naturalisiert wurde. Einwanderer erlebten deshalb ein funktionierendes Land, in dem es gleichwohl schwer war zu leben, weil ihnen mangels tacit knowledge kein Zugang zur Kultur der Schweden gelang.46 In diesem Modell spielt interessanterweise der Zentralstaat wieder eine wichtige Rolle. Für den konservativen Staatswissenschaftler und Geopolitiker Rudolf Kjellén verkörperte in einem Buch aus dem Jahre 1916 der Staat diesen Organismus. Er setzte nicht einfach einen Rahmen, innerhalb dessen sich Individuen verwirklichten (das war das liberale Ideal), sondern er griff als Akteur ein, indem er Infrastruktur aufbaute, den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft regulierte, aber auch das Leben der Menschen. Kjellén forderte eine „nationale Demokratie“, wobei er unter Demokratie ein allgemeines Wahlrecht innerhalb ständischer Korporationen verstand. Nach dem Verlust Norwegens 1905 müsse es zentrales Ziel sein, das paralysierte Nationalbewusstsein durch eine innere Reorganisation wiederzubeleben, eine Art mentaler und institutioneller innerer Kolonisation des eigenen Landes. Selbst die Sozialisten waren als Kraft willkommen, wenn sie sich nur zur gesellschaftlichen Verantwortung erziehen ließen.47 Dieser Text zeigt, dass es eine Koinzidenz zwischen Teilen der Rechten und der Linken gab. Denn auch die Sozialdemokratie, die seit Ende des Ersten Weltkrieges kontinuierlich die Macht der Konservativen erodierte, ging davon aus, dass der Staat auf dem Fundament eines traditionsbewussten Volkes stehe, das er in die Moderne zu führen habe. Staat und Volk machten gemeinsam die Nation aus, und der Wohlfahrtsstaat stand im Zentrum dieses Verhältnisses. Er wurde vor allem von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei aufgebaut. Durch die Lösung der sozialen Frage wollte sie schon früh die sozialen Differenzen – die es trotz aller Volks-Rhetorik natürlich gab – überwinden und auf diese Weise die Nation endlich verwirklichen. Die Sozialdemokratie war faktisch patriotisch, nicht internationalistisch ausgerichtet. Wie in anderen europäischen Staaten ist das Fundament des schwedischen Sozialstaates im späten 19. Jahrhundert gelegt worden. Die kommunale Armenunterstützung und eine rudimentäre staatliche Gesundheitsfürsorge für Arme mussten optimiert werden. Die Armenhilfe durch Gemeinden war seit 1871 ein einklagbarer Rechtsanspruch, allerdings nur für Nichtarbeitsfähige. Nach den Bismarck’schen 46 47
Vgl. Edquist, En folklig svenskhet; Hall, Den svenskaste historien. Vgl. Kjellén, Der Staat als Lebensform.
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Sozialreformen wurden 1891 eine schmale Unterstützung der Beiträge zu freiwilligen Krankenkassen, 1901 eine Unfallversicherung, 1913 eine Volkspension und 1914 eine kommunale Arbeitslosenunterstützung beschlossen; im Zentrum standen allerdings, wie in Dänemark, freiwillige Hilfskassen. Bis ins frühe 20. Jahrhundert sollte Sozialhilfe als letztes Schutznetz und als Hilfe zur Selbsthilfe dienen, damit „würdige“ Unterstützungsempfänger sich in ein bürgerliches Leben zurückarbeiten konnten. Es wurde nur ein Minimum an Leistung gewährt, um eine „Empfängermentalität“ zu verhindern. Modellsubjekt war der männliche Familienversorger, der, als Gegenleistung für soziale Unterstützung, sein Leben sittlich und verantwortungsvoll führte. Die norwegische Historikerin Anne-Lise Seip hat das den „Sozialhilfestaat“ (sosialhjelpstat) genannt, der zwischen dem früheren laissez faire- und den kommenden Wohlfahrtsstaaten anzusiedeln sei.48 Dabei gilt die Phase von 1901 bis 1935 als Pionierzeit der Sozialversicherung in Schweden, weil soziale Rechte und Staatsbürgerschaft zu einem „Mitbürger“-Status zusammengeführt wurden.49 Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei war seit Oktober 1917 in der Regierungsverantwortung gewesen, zuerst in einer Koalition mit der liberalen Sammlungspartei, dann führte sie mehrere der in Schweden üblichen Minderheitsregierungen, die sich mit kurzlebigen Expertenkabinetten bzw. bürgerlichen Regierungen abwechselten. Diese Regierungen saßen allesamt zwischen zwei und 30 Monaten im Amt, bis Per Albin Hansson im September 1932 nach dem entscheidenden Wahlsieg der Sozialdemokraten eine weitere Minderheitsregierung bildete,50 die allerdings die langwährende Herrschaft der Sozialdemokratie einleitete, phasenweise sogar mit Mehrheitsregierungen. Das ist insoweit bedeutend, als dass Schweden, genau wie alle anderen Länder, stark von der Weltwirtschaftskrise getroffen war. Die Lage war nicht gerade rosig. 1928 waren 5 % der Schweden auf Armenunterstützung angewiesen, 1933 bereits 10 %. Die Arbeitslosigkeit stieg bis 1933 auf über 23 %, und die Krisenpolitik der neuen Regierung zielte darauf, die Probleme durch eine extensive, staatlich finanzierte Bereitschaftsarbeit zu bekämpfen, um durch die Stärkung der Kaufkraft die Wirtschaft anzukurbeln. Im älteren Armenrecht waren Sozialleistungen oft Seip, Sosialhjelpstaten blir til. Vgl. für die Frühphase Berge, Medborgarrätt och egenansvar; Edebalk, Välfärdsstaten träder fram; Olsson, Social Policy and Welfare State; Sjögren, Fattigvård och folkuppfostran; Hedin, Ett liberalt dilemma. 50 Sie konnte sich auf 104 der 230 Parlamentssitze stützen, im Gegensatz zu den beiden vorhergegangenen bürgerlichen Kabinetten, die mit 32 (!) Abgeordneten regiert hatten. 48 49
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an Zwangsarbeit für Kommunen oder den Staat gekoppelt. Die Sozialdemokraten setzten dagegen auf reguläre, staatlich finanzierte Arbeitsverhältnisse, womit Schweden zum bis heute berühmt-berüchtigten Pionierland einer staatlichen Beschäftigungspolitik wurde, die wichtiger war als die Arbeitslosenversicherungspolitik.51 Grundlage dieses Programms war der sog. „Kuhhandel“ mit der konservativen Bauernpartei, die, gegen Zugeständnisse an die eigene Klientel, Hanssons Regierung und Politik tolerierte. Deren Krisenpolitik zeitigte zwar eher symbolische Effekte, doch die sind nicht zu unterschätzen. Sie brach mit dem Dogma, wirtschaftliche Zyklen müssten sich selbst regulieren, und erzeugte eine grundsätzlich optimistische Stimmung. 1936 gingen beide Parteien sogar eine Koalition ein. Während zeitgleich viele Demokratien in die Enge gedrängt worden waren, bewies Schweden, dass sowohl eine demokratische Regierung als auch Sozialdemokraten die schwere Wirtschaftskrise bekämpfen konnten. Außerdem standen die bürgerlichen Parteien auch in den Krisenjahren eindeutig zur parlamentarischen Demokratie. Der Faschismus und andere autoritäre Modelle stellten deshalb für die schwedische Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte Option dar.52 Hansson hatte dem bürgerlichen Lager 1928 den Begriff des „Volksheims“ (folkhem) entwendet und in eine integrierende gesellschaftspolitische Metapher umgemünzt: in die Idee der Gesellschaft als eines recht und gerecht geordneten Heims für Jedermann. Diese Metapher hatte den Vorzug, dass sich die Sozialdemokraten nicht mehr als revolutionäre Partei präsentieren, sondern als Volkspartei zur Wahl stellen konnten. Sie erlaubte es, die Sozialisierungsfrage neu zu fassen, indem staatliche Wirtschaftsplanung die Produktivität, dadurch die Löhne und schließlich den Konsum steigern würde. Genossenschaftliche Unternehmen würden die Kaufkraft quasi sozialisieren, dann durch ihr Wachstum immer weitere Teile der Wirtschaft übernehmen.53 Zwar ist Schweden nach wie vor kein sozialistischer Staat, doch das Ideal der „gerechten Gesellschaft“ konnte Dank der Kombination von Pragmatismus und charismatischem Ministerpräsidenten eine konsensstiftende Kraft entfalten, die das Land bis heute – nun in Form der Trauerarbeit – prägt.54
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Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats, S. 189f. Sejersted, Socialdemokratins tidsålder, S. 88. Tilton, The Political Theory. Lundberg, „Volksheim“ oder „Mitbürgerheim“?, behauptet in einer widersprüchlichen Argumentation, dass der Begriff des „Volksheims“ erst seit den 1980er Jahren in der ge-
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Flankiert wurde diese Politik durch den Aus- und Umbau der Sozialpolitik. Die ältere liberale Sozialpolitik hatte das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen können. Deshalb wurden zwischen 1934 und 1945 über 30 Enqueten zur Sozialpolitik durchgeführt. „Mit Hilfe der Wissenschaft sollte das neue, moderne Schweden ein sozialer Staat neuer Art werden, gekennzeichnet durch soziale Reformen, bessere Volksgesundheit und einen höheren Lebensstandard.“55 In der Bevölkerung sollte der schon erwähnte „Sozialnationalismus“ (socialnationalism)56 geweckt werden, ein Verantwortungsgefühl für Nation und Gesellschaft. Soziale Rechte sollten eine soziale Staatsbürgerschaft begründen. Das gegenüber dem liberalen Wohlfahrtsstaat neue Paradigma lautete, prinzipiell allen Mitbürgern eine materielle Grundsicherung zu gewährleisten, die nach normierten, einheitlichen Bemessungsgrundlagen zuerkannt werden, steuerfinanziert sein und prophylaktisch wirken sollte. Die wichtigsten Gesetze waren die Reform der Altersrente, die 1934 und 1937 verabschiedet wurde und Arbeiter im Alter vor Armut bewahren sollte. 1934 wurde außerdem eine Reform der Arbeitslosenversicherung beschlossen, 1946 eine Allgemeine Volkspension eingeführt, 1963 ergänzt durch eine Allgemeine Zusatzpension, die bis zu 60 % des früheren Einkommens sichern sollte. Die Krankenversicherung blieb paradoxerweise bis 1955 eine freiwillige Versicherung, die staatlich immer stärker bezuschusst wurde. 1930 betrug der Versicherungsgrad 21 % (Dänemark: 65 %), nach zahlreichen Reformen stieg er bis 1945 auf 48 % – wovon die Mittelklasse profitierte, nicht jedoch die Bedürftigsten.57 Seit Mitte der 1930er Jahre wurden zudem Leistungen für Mütter, Kinder, arme, kinderreiche Familien, Hausfrauen und Witwen eingeführt. Teils galten in diesem System einheitliche Leistungssätze (Kindergeld, Volkspension), teils einkommenssellschaftspolitischen Debatte eine größere, nämlich nostalgische Rolle gespielt habe; Hansson sei damals der rasch vergessene (!) Begriff des „Mitbürgerheims“ wichtiger gewesen. Dieser sei offener und demokratischer gewesen als die dehumanisierte, übermächtigende sozialdemokratische (!) Utopie des „Volksheim“; Sterilisierungen wiederum seien nicht Teil des folkhem, da dieses im Grunde nur als rhetorische Figur (!) existiert habe. – Für uns entscheidend ist, dass es früh die gewaltige Utopie der gerechten Gesellschaft gegeben hat, ob sie nun eher ex-post als folkhem bezeichnet wird oder von den Zeitgenossen Mitbürgerheim oder „Sozial-Schweden“ (Sozialminister Gustav Möller) genannt wurde. 55 Nilsson, Kontroll, makt och omsorg, S. 281 (meine Übersetzung [Hervorh. im Orig.]). 56 Ebd. 57 Sejersted, Socialdemokratins tidsålder, S. 119f.
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abhängige (Wohngeld, Krankengeld), teils bedarfsabhängige (Mütterhilfen). Durch diese Sozialpolitik wurden Männer, die Familien versorgten, und Familien gegenüber Alleinstehenden bevorzugt. Gleichzeitig jedoch wurden alleinstehende bzw. alleinerziehende Frauen und die Stellung von Frauen innerhalb der Familien gestärkt – bei niedrigeren Leistungen allerdings. Sozialminister Gustav Möller wollte keine volle Gleichstellung von Frauen und Männern im Haushalt und auf dem Arbeitsmarkt, gegen den Widerstand der Gewerkschaften jedoch die Hierarchien in der Arbeiterschaft beseitigen.58 Die Mutterschaftsversicherung, die 1955 und 1962 beschlossen wurde, diente wiederum als normatives Instrument, um Frauen in die Berufstätigkeit zu „zwingen“. Sie hatten fortan die „Wahl“ zwischen einer Grundunterstützung für alle Mütter und höheren Leistungen für Berufstätige: „Die damaligen Frauen wählten zunehmend, bereits bevor in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die großen Gleichstellungsdebatten Fahrt aufnahmen, das Zweiversorgermodell.“59 Ziel aller Gesetze war das Prinzip der „Dekommodifizierung“, d. h. einer Entlastung vom Druck des modernen Arbeitsmarktes, ohne größere materielle Einbußen.60 Dieser sozialpolitische Ansatz dominiert seit der Zwischenkriegszeit die schwedische Innenpolitik und steht in allen Belangen unter dem Primat der Öffnung: Immer mehr Menschen sollen über die Ausweitung sozialer Rechte in die Gesellschaft integriert werden. Diese Integration setzte allerdings auf Produktivität. Es war durchaus umstritten, ob Sozialhilfe jedem Staatsbürger zustehen sollte oder nur denjenigen, die Dank produktiver Arbeit Beiträge an die Versicherungskassen leisteten, ob man also ein Staatsbürger- oder ein Arbeitnehmerrecht formulierte. Auch Sozialdemokraten dachten Sozialpolitik stark von der industriellen Moderne und ihren komplexen Lebens- und Arbeitsbedingungen her. Der Wohlfahrtsstaat sollte einerseits maßgeschneidert die Produktivität unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen erhalten, andererseits, dem Bismarckschen Grundgedanken folgend, sozial integrierend wirken: „Es waren gewissenhafte [skötsamma] Arbeitnehmer mit Festanstellungen, die bevorzugt wurden und gegen Plagen und Schande der Armut und der Armenfür Åmark, Arbetarrörelsen, scialförsäkringssystemet och genusordningen, S. 265ff. Åmark, Hundra år av värfärdspolitik, S. 257 (meine Übersetzung). Da die Gleichstellungspolitik vom Arbeitsmarkt her entworfen wurde, wurden Männer und Frauen zwar formal gleichgestellt, doch ihre faktische Ungleichbehandlung wurde nicht korrigiert (ebd., S. 262). 60 Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats, S. 192. 58 59
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sorge geschützt werden sollten.“61 Dabei lag diesem Denken ein biologistisches Verständnis von „Volk“ zugrunde, das sich aus dem sozialdarwinistischen Denken des 19. Jahrhunderts speiste, und aus der vermeintlichen Dichotomie von atomisierender Gesellschaft und sozial integrierter Gemeinschaft. Wie in Großbritannien, den USA, Dänemark oder Deutschland wurde das „Volk“ als eine „organische“ Einheit imaginiert, die biologisch und sozial zu degenerieren drohte.62 Der paternalistische Zug aus dem 19. Jahrhundert lebte also in der Zwischenkriegszeit fort. Der sozialdemokratische Staat verpflichtete sich, seinen Bürgern in Not zu helfen und ihre Lebensbedingungen zu verbessern, beanspruchte jedoch zugleich, ihre Lebensführung zu regulieren, um Menschen am Maßstab eines „ordentlichen“ Lebens auszurichten. Er entwarf in seinen Sozialgesetzen einen Tugendkatalog für das „eigenverantwortliche“ Individuum, das fleißig, umsichtig, sparsam, gesundheitsbewusst und enthaltsam (Alkohol) leben sollte, um durch Produktivität in der kapitalistischen Industrieproduktion zu funktionieren, diese, wie erwähnt, über steigenden Konsum zu kapern und zugleich die Risiken für die Sozialkassen zu minimieren. Instrumente waren Wohnungskontrollen, die Rationierung von Alkohol oder die Bewilligungen von Abtreibungen sowie (Zwangs‑)Sterilisierungen. Der neue Wohlfahrtsstaat stellte für viele Menschen ein materielles Befreiungsprojekt dar, zugleich unterwarf er sie einem moralischen Erziehungsregime.63
Verfahrensgesellschaft Bevor ich darauf genauer eingehe, sind ein paar knappe Angaben zur eigentümlichen schwedischen Gesellschaftsverfassung nötig, um das Verhältnis von Sozialpolitik und Inklusion bzw. Exklusion verstehen zu können. Eine Besonderheit besteht im Verhältnis von Exekutive und Legislative. In Schweden gibt es, wie in allen demokratischen Staaten, einen kodifizierten Rahmen aus Verfassung und Gesetzen, aber möglicherweise stärker als anderswo zählt die gesellschaftspolitische Praxis. Schweden ist in erheblichem Maße eine Verfahrensgesellschaft. Durch Gesetze wird Åmark, Hundra år av värfärdspolitik, S. 83 (meine Übersetzung). Ausführlicher: Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang. Vgl. auch: Graczyk, Das Volk. 63 Vgl. Berge, Medborgarrätt och egenansvar, S. 18, 126; Nilsson, Kontroll, makt och omsorg, S. 107–143, 219–293. 61 62
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ein Rahmen vorgegeben, der dann in ganz unterschiedlichen Institutionen vollzogen wird. Das können Behörden, Korporationen, halbstaatliche oder private Institutionen und Interessenorganisationen sein; Behörden werden nicht, wie in Deutschland, von den jeweiligen Ministern geführt, sondern von Direktoren. Dadurch sind Teile der Exekutive stärker von der Legislative und der Regierung entkoppelt als in Deutschland. Zugleich ist die Gewaltenteilung schwächer ausgeprägt, denn die Justiz ist Teil der Verwaltung; ein Verfassungsgericht gibt es nicht. Lange Zeit durften Behörden entscheiden, ob sie ein Gesetz als verfassungswidrig ansehen und für ihren Aufgabenbereich verwerfen, während es ansonsten weiter in Kraft blieb.64 Da im korporatistischen Staat die gesellschaftlichen eng mit den staatlichen Instanzen verwoben sind, sind alle Gruppen zum Aushandeln und zu Kompromissen gezwungen. Die Implementierung von Gesetzen wird in weit höherem Maße als in Deutschland Interessenorganisationen übertragen; das Vertrauen der Schweden in die alltäglichen exekutiven Verfahren ist außerordentlich ausgeprägt. Religion, Verfassungsgericht und allgemeine Menschenrechte als woanders selbstverständliche Vetoinstanzen erscheinen hingegen als „Metaphysik“, die sich nicht rationalen Konsensverfahren verdanke. Deshalb auch wurden die Menschenrechte in die neue Verfassung von 1975 erst nach langer Diskussion aufgenommen. Staatsrechtler und Sozialdemokraten warnten noch 1992, dass universale Freiheitsrechte die Arbeit der Justiz politisieren und Reformen beschränken könnten.65 Stattdessen prägt ein extremer Utilitarismus die schwedische Politik, allerdings nicht einer des laissez faire-Kapitalismus, sondern einer, der sich dem Ethos der Enquete verdankt. Alle Probleme, die relevant erscheinen, werden von einer staatlichen Untersuchungskommission unter die Lupe genommen (Statens offentliga utredningar), deren Größe von einem Bearbeiter bis hin zu mehreren Unterkommissionen mit Dutzenden von Mitarbeitern reichen kann; die Ergebnisse sind dünne Hefte bis hin zu dutzenden umfangreicher Bände, die publiziert und in den großen Bibliotheken Schwedens verfügbar sind. Der Habitus des permanenten Evaluierens und Justierens ist nicht nur öffentlich, sondern er ist in den Bibliotheken allen Schweden geradezu visuell-haptisch greifbar. Die Kommissionen sollen konkurrierende Interessen und politische Ansätze durch ihre Mitarbeiter abbilden; im sog. „Remissverfah Mittlerweile prüft ein Verfassungsrat die Gesetze vor Verabschiedung auf Verfassungskonformität. 65 Larsson, Det svenska statsskicket, S. 26, 33. 64
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ren“ werden die Entwürfe allen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen – organisiert in Volksbewegungen, Vereinen etc. – zur Stellungnahme vorgelegt.66 Tendenziell ist der Anspruch total: Jedes Problem wird grundsätzlich in einen gesamtgesellschaftlichen und historischen Kontext betrachtet und ernst genommen. Die für Schweden prägenden Enqueten zur Emigration (1907–1913) bzw. zur Bevölkerungsfrage (1935–1938 und 1941–1947) behandelten zwei Probleme, die als herausragende Bedrohungen der schwedischen Nation begriffen wurden: Auswanderung und Geburtenrückgang. Die Lösungsvorschläge zielten nicht allein, wie in anderen Ländern, auf eine Verbesserung der materiellen Lage der Bevölkerung. Vielmehr griffen sie auf die Mikroebene durch und zielten auf das alltägliche Verhalten der Menschen aller Professionen und Sozialschichten. Der demografische Aderlass, so die Untersuchungen, verdankte sich in beiden Fällen auch einer spezifischen Fehlerkultur. Grundsätzlich besaßen ökonomische Fehlentscheidungen von Firmenchefs nämlich denselben Stellenwert wie das ineffiziente Abspülen von Hausfrauen. Die Enqueten gingen davon aus, dass unzählige Mikrofehler das Leben durchziehen, die sich auf schädliche Weise akkumulierten. Denn wenn alle Hausfrauen sich bei der Hausarbeit verschleißen, leiden die Ehen, das reduziert die Kinderzahl, das schwächt die schwedische Nation, die alle Ressourcen mobilisieren muss, um sich in der industriellen Moderne behaupten zu können. Die Gesellschaft wurde buchstäblich von der Spüle bis zur Nation als eine Einheit gedacht, deren Akteure durch ihr Verhalten Entwicklungen nachhaltig stören konnten – oder verbessern, wenn sie sich selber zu rational handelnden Menschen erzögen.67 Das ist, was Michel Foucault „Normalisierung“ genannt hat und was man als social engineering bezeichnen kann.68 Die Nation wird auch durch die Mikrophysik des Alltagslebens ausgemacht, weshalb eben nicht nur Sozialpolitik vonnöten war, sondern ebenso eine Erziehung der Menschen bzw. der Ausschluss von Menschen, die sich aus vermeintlich biologischen oder kulturellen Gründen nicht in diese Einheit einfügen konnten.
Vgl. Meijer, Kommittépolitik och kommittéarbete; Claesson, Statens Ostyriga Utredande. Ausführlicher: Etzemüller, Die Romantik der Rationalität. 68 Vgl. Etzemüller, Social Engineering. 66 67
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Durchgriffsgesellschaft Der Staat konnte auf drastische Weise in das Leben der Einzelnen eingreifen, stets jedoch im Namen der samhälle, denn im Volksheim wurde „nicht geherrscht, sondern mit paternalistischer Autorität, mit liebender Hand das Gemeinwohl verwirklicht – der Leviathan als paterfamilias“,69 wie Bernd Henningsen in seiner Studie über Schweden schrieb. Diese Selbstermächtigung aller gegen jeden Einzelnen ist seit den späten 1980er Jahren kritisch beleuchtet worden. Eine staatliche Untersuchungskommission zum Funktionieren des politischen Systems im Schweden (maktutredningen) brachte erhebliche Verwerfungen ans Tageslicht. Yvonne Hirdmans Buch „Das Leben zurecht legen“ aus dem Jahre 1989 ist zum Symbol einer außerordentlich kritischen Evaluation des Wohlfahrtsstaates geworden, indem es die Übermächtigung des Lebens der „Kleinen Menschen“ (det lilla livet) durch staatliche Politik in den Blick nahm70 – die in der jahrelang folgenden Diskussion besonders der Sozialdemokratie zugerechnet wurde. Plötzlich erschien das sozialdemokratische Projekt des folkhem nicht mehr primär als fürsorglich, sondern als übergriffig. In der historiografischen Selbstbeschreibung Schwedens entstand seitdem das Bild einer Durchgriffsgesellschaft,71 die sich wesentlich effizienter als in anderen Ländern (allerdings deutlich weniger brutal als in Deutschland) die Körper zahlreicher Menschen v.a. aus den Unterschichten unterwarf. Das bekannteste Beispiel ist die Frage der Zwangssterilisierungen „Geistesschwacher“ und „Asozialer“. Wie in den USA, Deutschland, Dänemark oder Großbritannien wurden sie auch in Schweden als Bedrohung für den biologischen Bestand des „Volkes“ und das Sozialsystem begriffen.72 Deshalb sollte die Eugenik nicht als „dunkle Seite“ der schwedischen Sozialpolitik, sondern, in zeitgenössischer Perspektive, als Teil eines unsentimentalen Gesundheitsprogramms, das allen Menschen zu Gute kommen sollte, begriffen werden.73 Die Grundangst in vielen Staaten war seit dem späten 19. Jahrhundert, dass die Industrialisierung immer mehr Menschen ins Elend treibe. Am Boden der
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Henningsen, Der Wohlfahrtsstaat Schweden, S. 368. Hirdman, Att lägga livet till rätta. Das ist mein, nicht der in der schwedischen Forschung genutzte Begriff. Ausführlich: Broberg/Roll-Hansen, Eugenics and the Welfare State; Tydén, Från politik till praktik; Runcis, Steriliseringar i folkhemmet. 73 Johannisson, Folkhälsa, S. 178. 69 70
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Gesellschaft sammele sich immer mehr „minderwertiges Menschenmaterial“, das, anders als in früheren Zeiten, dank sozialpolitischer Maßnahmen überlebe. Damit sei der Prozess der „natürlichen Auslese“ außer Kraft gesetzt. Die „minderwertigen“ Menschen vermehrten sich überproportional, vererbten ihre psychischen, genetischen und sozialen Defekte, und diese demographische Entwicklung werde sich bis zum biologischen Kollaps potenzieren.74 Im schwedischen Uppsala wurde aus diesem Grunde 1921 das weltweit erste Institut für Rassenbiologie begründet, dessen Direktor, Herman Lundborg, seit der Jahrhundertwende mehrere aufwendige rassenkundliche Untersuchungen durchgeführt und (vor allem in Deutschland) publiziert hatte.75 Ziel war es, den Zerstörungsgrad des „Volkskörpers“ genauer zu bestimmen und durch umfassende Sterilisierungen zu beheben. Insgesamt wurden zwischen 1935 und 1975 über 60 000 Personen sterilisiert, etwa 20 000 von ihnen gegen ihren Willen.76 Der Anteil der Frauen stieg dabei von 63 % (1942) auf 99 % (seit 1965), weil nach dem Krieg aus einem verqueren humanitären Denken verstärkt Frauen sterilisiert wurden, deren Ehen unter zu vielen Kindern und alkoholsüchtigen Ehemännern litten, und die auf diese Weise zumindest vor der Belastung durch weitere Nachkommen bewahrt werden sollten. Die sich früh abzeichnenden Verbrechen des Nationalsozialismus hatten kaum Einfluss auf die schwedische Diskussion. Schwedische Ärzte wiesen noch 1945 auf Schwächen der schwedischen Sterilisierungsgesetze hin, die zu stark am Prinzip der Freiwilligkeit und an zentralisierten (langwierigen) Bewilligungsverfahren festhielten.77 Andere Ärzte bezeichneten 1946 Sterilisierungen als wichtigstes Instrument im Kampf gegen „Geistesschwäche“ und forderten die Bevölkerung auf, nur erbhygienisch vernünftige Ehen zu schließen. Eine gezielte Abtreibungspolitik sollte „abnorme“ und „zurückgebliebene“ Kinder prophylaktisch verhindern.78 Der sozialdemokratische Frauenverband bewertete Barleistungen an Familien mit un-
Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang, S. 27–40. Vgl. zum Institut Broberg, Statlig rasforskning; und zu Lundborg Hagerman, Herman Lundborg. 76 Detaillierte Statistiken bei Broberg/Tydén: Eugenics in Sweden. 77 Höjer/Sjövall, Folkhälsan som samhällsangelägenhet, S. 75–81. 78 Sveriges Läkarförbund, Ett friskare folk, S. 87 und 98f.; ähnlich bereits 1938: Höjer, Samhällets hjälp till barn, S. 98f. 74 75
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erwünschten Erbanlagen als problematisch.79 Ärzte und Sozialexperten hielten es selbst nach 1945 nicht für nötig, sich wenigstens verbal vom „Dritten Reich“ zu distanzieren. Sie hatten keine Menschen umgebracht; die demokratischen Nachbarn Dänemark, Norwegen und Finnland hatten ihre Sterilisierungsgesetze teilweise früher erlassen; Sterilisierungen dienten ja der Gemeinschaft. Außerdem stellte niemand das Recht auf Leben in Frage — „bloß“ das Recht, Leben zu spenden.80 Die erwähnte Struktur der Exekutive beförderte die Sterilisierungspraxis ebenfalls, denn Politiker erließen nur Rahmengesetze, die sich vermeintlich allein an praktischen Erfordernissen orientierten. Ausgeführt wurden die Sterilisierungen von Praktikern in den Kliniken, kontrolliert von der Medizinalbehörde.81 Der politischen und moralischen Diskussion war sie damit entzogen. Als 1976 das Sterilisierungsgesetz modifiziert wurde und fortan ausschließlich auf Freiwilligkeit gründete, geschah das ohne öffentliche Debatte. Erst Ende der 1990er Jahre griffen die Medien das Thema auf und eine staatliche Kommission kartierte eingehend die schwedische Sterilisierungspraxis und das Leiden der Opfer.82 Eva Palmblad hat mit der weiblichen Reproduktion einen anderen Exklusionsmechanismus in den Blick genommen.83 Detailliert beschreibt sie, wie im Zusammentreffen von Frauen und Experten Normüberschreitungen verhandelt und Normen in der Bevölkerung implementiert wurden. Es traf in diesem Fall Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollten und dabei auf eine Medizinalbehörde mit weitgehenden Befugnissen trafen. Diese konstruierte für jede Frau eine Prüfungssituation und erstellte die administrative Biographie eines devianten Lebens. Die Notwendigkeit einer Abtreibung indizierte einen schwerwiegenden Normbruch, der sich nur durch ihre bisherige Lebensführung verstehen und bewerten ließ. In dem Verfahren, das der Delinquentin auf kafkaeske Weise opak blieb, kam
Hirdman u. a., Sveriges historia, S. 567. Lundborg, Rassenbiologische Übersichten, S. 31; ähnlich Hultkrantz, Om rashygien, S. 49f. 81 Tydén, Från politik till praktik. Tydén entlastet mit dieser — institutionentheoretisch plausiblen — Interpretation der Sterilisierungspraxis als bürokratischem Selbstläufer die schwedische Sozialdemokratie, der vorgeworfen worden war, durch die Sterilisierungspolitik Teile der schwedischen Bevölkerung übermächtigt und aus dem Wohlfahrtsstaat ausgeschlossen zu haben. 82 SOU 2000:20, Steriliseringsfrågan i Sverige. 83 Palmblad, Den disciplinerade reproduktionen. 79 80
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es wesentlich auf ihre geschickte Mitwirkung an. Respektabilität, Reue- und Bußbereitschaft wurden geprüft. Ließen die Frauen einen anrüchigen Lebenswandel erkennen, traten sie in „liederlicher“ Kleidung vor die Behörde, zeigten sie kein Interesse an der Sache oder schoben die Verantwortung auf andere ab, dann war eine Abtreibung rasch abgelehnt. Sie konnten aber auch das „perfekte Bekenntnis“ ablegen, das den Untersuchenden das Bild einer Frau aus sozial intakten Verhältnissen zeichnete, die die Verantwortung für das Unglück auf sich nahm und gleichwohl hoffen ließ, dass sich das Fehlverhalten nicht wiederhole. Dieses Bekenntnis bedeutete die Anerkennung der herrschenden Normen, und es sanktionierte die Entscheidung der Experten. Deren abschließende Diagnose vermaß den Grad einer Abweichung und die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Anpassung. Erst dann wurde die passende Indikation für eine Abtreibung gesucht und entschieden, ob sie mit einer Sterilisierung einhergehen werden müsse. Die medizinischen Verfahren, so Palmblad, legitimierten eine soziale Entscheidung; die Funktionäre des Wohlfahrtsstaates agierten dabei durch immer neue Exklusions‑/Inklusionsentscheidungen als autorisierte Hüter der Normalität. Neben Frauen als Delinquentinnen oder Müttern84 hat die Forschung eine weitere Gruppe analysiert, nämlich Kinder. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte die philanthropische und kommunale Gesundheitspolitik an Volksschulen Kinder immer feiner sortiert, je nach Begabung, Sozialverhalten, Krankheitszustand und Verwahrlosungsgrad. Im frühen 20. Jahrhundert wurden auch Schulspeisungen als sozialpolitisches Instrument eingesetzt. Die Bedürftigkeitsprüfung erlaubte es ebenfalls, den Zustand Kinder zu untersuchen und dann die Familien zu kontrollieren und zu erziehen. Familien wurden zu einer Kollektivangelegenheit und Kinder zu Humankapital (befolkningskapital) erklärt.85 Diese Arbeit wurde immer mehr professionalisiert; „Teilbereiche wurden ausdifferenziert wie die Mental‑, Sexual‑, Erb‑, Körper‑, Wohnungs‑, Berufs‑, Sozial- und Schulhygiene. Alles wurde als Teil eines Gesellschaftsorganismus verstanden. Aufgabe der Schule war es, dass die Kinder Gesund-
Vgl. Kulawik, Wohlfahrtsstaat und Mutterschaft; Tornbjer, Den nationella modern. Vgl. Gullberg, Det välnärda barnet; Hammarberg, En sund själ i en sund kropp; Friman u. a., Skolbarn. Vgl. auch: Weiner, De räddade barnen; Ohrlander, I barnens och nationens intresse; Bergman, Att fostra till föräldraskap; Holme, Konsten att göra barn raka; Jönson, Bråkiga, lösaktiga och nagelbitande barn; Lundström, Tvångsomhändertagande av barn; Sundkvist, De vanartade barnen.
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heit als eine persönliche Pflicht und soziale Schuldigkeit begriffen.“86 Die Stockholmer Volksschulen dienten dabei als eine Art Labor für Ärzte und Pädagogen, die mit dem Staat und den Kommunen eine sich gegenseitig verstärkende Allianz eingingen und ein immer größeres Vertrauen in die Möglichkeiten der geleiteten Selbstkontrolle von Eltern und Kindern entwickelten. In den Klassenräumen wurden in den 1930er Jahren beispielsweise bewegliche Stühle und Tische eingeführt, die eine erhöhte Selbstdisziplin der Kinder erforderten; und der Arzt Carl August Ljunggren hielt Radiovorträge zu gesunder Ernährung und der Belüftung von Wohnungen, die sich zuerst an Schulkinder richteten. Diese fassten die Vorträge zur Kontrolle durch Ljunggren schriftlich zusammen und sollten dann ihre Eltern von den Maßnahmen überzeugen. Über 6000 Erfolgsberichte gingen ein, einige wurden in einem Buch gedruckt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, auf dass, wie Ljunggren eine Schülerin zitiert, „unser Land überschwemmt werde von schönen Mädchen und kräftigen Jungen.“87 Kinder (und Eltern) würden auf diese Weise den Wert von Gesundheit, Körperpflege und Sport einsehen und verstehen, statt einfach nur Anweisungen zu folgen. Im Gegensatz zum laissez faire-Denken in den USA oder Großbritannien setzte sich in Schweden die Überzeugung durch, dass die Industrialisierung eine immer genauere staatliche, professionelle Gesellschaftsplanung erforderte, und damit einen immer effektivere Kontrolle und „Bewirtschaftung“ (so würde man heute sagen) der Bevölkerung – nur eben weniger disziplinierend als zunehmend selbstnormalisierend.88 Und so dienten die Klienten ganz unterschiedlicher Felder – Verbrecher, Arme, Arbeiter, Alkoholiker – als Reflexionspunkte der Gesellschaft, um Individuen zu lehren, sich zu einem selbstregulierenden Netzwerk zu formen, in dem alle Mitbürger ihre gegenseitige Abhängigkeit erkannten.89 Der Sozialstaat wusste also durchaus auszuschließen, um Demokratie und Nation zu schützen. Die Exklusion der oben genannten Klientel und die rücksichtslose Diskriminierung der Sami im 19. und 20. Jahrhundert90 dien Hammarberg, En sund själ i en sund kropp, S. 252f. (meine Übersetzung). Ljunggren, Hur vi blivit starka och friska, S. 6. Vgl. auch: Ders.: Skolbarnens hälsouppfostran. 88 Vgl. Olson, Staten och ungdomens fritid; Olsson, Drömmen om den hälsosamma medborgaren; Palmblad/Eriksson, Kropp och politik. 89 Lundgren, Den isolerade medborgaren, S. 225 (meine Übersetzung). Vgl. auch: Jordansson, Birgitta: Den goda människan från Göteborg; Plymoth, Fostrande försörjning. 90 Vgl. Stråth, Sveriges historia, S. 459–467; Sejersted, Socialdemokratins tidsålder, S. 103–106. 86 87
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ten als Spiegel, in dem sich das schwedische Volk seiner Homogenität und Besonderheit versicherte. Es war also weniger ein Ausschluss im Namen einer herkömmlichen nationalistischen Ideologie als im Namen des Volkes, das eine spezifisch moderne (d. h. sozialstaatlich und demokratisch verfasste) Nation verkörperte, wie es sie – aus Sicht der Schweden – kaum woanders gab.
Fazit Der Fall Schweden zeigt, genauso wie Dänemark und Norwegen, dass inhaltlich und zeitlich unabhängig vom Nationalsozialismus sozialpolitische Inklusion und Exklusion Hand in Hand gehen konnten. Michael G. Hanchard hat die Frage so gestellt: „Under what conditions does democracy require barriers to membership? […] Which barriers to political and civic membership are considered tolerable, and which ones aren’t?“91 Rassismus und Diskriminierung seien der Demokratie nichts Äußerliches, Feindliches, sondern gehörten im Gegenteil seit der griechischen Antike konstitutiv zur demokratischen Staatsform, so Hanchard. Man könne die Dynamik der Demokratie nur dann begreifen – und diese gegen populistische und rechtsextreme Bewegungen verteidigen –, wenn man die Bedeutung und das Funktionieren von Exklusionsmechanismen in den Blick nehme, statt Diskriminierung und Ausgrenzung einseitig als das Werk von Populisten zu begreifen. Auch Martin Greifenhagen und andere haben bestätigt, dass Ausschlüsse zum sozialpolitischen Tagessgeschäft gehören. Die Frage ist jedoch, welche Gruppen es in welchem Maße trifft, wie die Ein- und Ausschlussverfahren aussehen und welche Gegenwehr möglich ist. Gerade das Volksheim erscheint in dieser Beziehung besonders ambivalent, denn in einem nationalen Kollektiv, das grundsätzlich allen Menschen eine Heimstatt bieten soll, dürfte die Kontrolle und Beseitigung vermeintlich das Gemeinwohl bedrohender Menschen eine höhere Legitimität besitzen als in individualistischer orientierten Gesellschaften – zumal wenn Inklusion den Primat darstellt und Exklusion sehr viel verschleierter stattfindet. Angehörige und Nichtangehörige der schwedischen Nation wurden nach unterschiedlichen Kriterien geschieden. Eine Gruppe im 18. Jahrhundert nach Gammalsvenskby in der Ukraine ausgewanderter Estland-Schweden (!) war in der Zwischenkriegszeit aufgrund ethnischer Kriterien Hanchard, Spectre of Race, S. 106.
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in die schwedische Gesellschaft aufgenommen worden, anders als Migranten aus Galizien. In der Nachkriegszeit wurden Migranten nach ihrer geografischen Herkunft diskriminiert: Die aus den Nordischen Ländern galten als potenzielle Angehörige, die aus nichtnordischen Ländern nicht. Die Angehörigen erhielten die regulären sozialstaatlichen, die übrigen andere Hilfsleistungen – eine Differenz zwischen „solidarity“ und „charity“, durch die sie symbolisch auf Distanz gehalten wurden, so Carly Elizabeth Schall.92 Viele Schweden lernten in Volksbewegungen und Vereinen täglich Normalisierung und Einordnung im Namen einer kollektiven Vernunft, zugleich den produktiven Umgang mit nichtpassungsfähigen Mitgliedern. Was die Basis praktizierte, reproduzierte die staatlich-administrative Ebene mit einem sich selbst zügelnden Furor, der in Schweden (und seinen Nachbarn) durchaus demokratisch erschien. Er war nicht auf Ausmerze geeicht, sondern auf die Zukunft, die Vervollkommnung des Volkes, das sich gerade durch den Umgang mit Auszuschließenden bewies. Deshalb formulierte es der Autor einer schwedischen Studie zur außerordentlich restriktiven schwedischen Alkoholpolitik anders als Bernd Henningsen so: „Die meisten Menschen trinken Alkohol ohne größere Schäden. Die Restriktionen gelten der Minderheit, für die vielleicht 10 % der Menschen, die mit Spirituosen nicht umgehen können, ohne sich, ihre Angehörigen und die Gesellschaft zu gefährden, und die Übrigen müssen sich solidarisch den Beschränkungen fügen, die ihnen die Kontrollen auferlegen. Das ist dieselbe Solidarität, die die kollektive Mehrheit Kranken, Arbeitslosen und Alten erweist.“ Die (1955 abgeschafften) Alkoholrationierungen „hätten Ausdruck sein können, dass Menschen sich aus freiem Willen gewissen Einschränkungen der Freiheit unterwerfen, um einer bedürftigen Minderheit in der Gesellschaft beizustehen: ein Symbol für hohe Kultur und soziale Wohlfahrtspolitik.“93 So kann linker, demokratischer Nationalismus aussehen.
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Schall, Rise and Fall, S. 51–54, 60, 81. Nycander, Svenskarna och spriten, S. 138 (meine Übersetzung). Die Menge des zugeteilten Alkohols hing ab von der Sozialschicht (wer „Repräsentationsaufgaben“ erfüllte, erhielt zusätzlichen Alkohol), vom Geschlecht (Frauen erhielten geringere Rationen) und von einer zugeschriebenen sozialen Wertigkeit („Asoziale“ und Obdachlose konnten ganz ausgeschlossen werden). Oft verhasstes Symbol dieser Politik war das Kontrollbuch (motbok) für die monatlichen Einkäufe; vgl. zum utopischen wie absurden Potenzial der schwedischen Alkoholpolitik Hirdman u. a., Sveriges historia, S. 153–177.
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Jüdisch und demokratisch? Der Zionismus und die israelische Staatsbildung Daniel Mahla Im Herbst 2019 veröffentlichte das Dissent-Magazin einen scharfen Angriff des Philosophen und ehemaligen Herausgebers der Zeitschrift, Michael Walzer, auf die linken Gegner moderner jüdischer Staatlichkeit. Unter dem Titel „Anti-Zionism and Anti-Semitism“ versammelte er eine Reihe von historischen und aktuellen antizionistischen Positionen, um diese dann allesamt als antisemitisch zu brandmarken. Progressive Kräfte, die solche Argumentationen unterstützten, so die Schlussfolgerung Walzers, seien entweder Ignoranten oder würden ganz einfach keine Juden mögen. Das Problem mit dem Antizionismus sei schlicht der Antizionismus selbst.1 Walzers Fundamentalkritik blieb nicht unbeantwortet. Der Journalist und Mitherausgeber von Dissent, Joshua Leifer, verteidigte in derselben Ausgabe antizionistische Positionen gegen solcherlei Pauschalverurteilung und teilte selbst gegen Walzer aus, indem er jenen als Apologeten betitelte, der mit allen Mitteln versuche, die „zionistische Gewalt vor 1948 und danach“ mit abgedroschenen Phrasen wegzudiskutieren. Walzers historische Argumente zur Rechtfertigung des Zionismus verblassten vor aktuellen israelischen Realitäten, so Leifer, und seien vor dem Hintergrund der fortwährenden Entrechtung der Palästinenser in den besetzten Gebieten irrelevant. Während er selbst sich in Fragen des richtigen Lösungsansatzes als offen für alle Optionen, die „Freiheit, Demokratie und Gleichheit für Israelis und Palästinenser beinhaltet“, zeigte, so habe sich die Zweistaatenlösung in seinen
1
Michael Walzer: Anti-Zionism and Anti-Semitism. In: Dissent (Fall 2019), https:// www.dissentmagazine.org/article/anti-zionism-and-anti-semitism (zuletzt abgerufen: 20.11.2019).
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Augen doch ganz klar überlebt.2 Walzer reagierte seinerseits mit einer nicht minder polemischen Antwort auf die „linken Textbausteine“ Leifers, die er in ähnlicher Form bereits „in Dutzenden von Magazinen und auf Websites“ gelesen habe. „Nur liberale und linke Zionisten und liberale und linke palästinensische Nationalisten“, so der Philosoph abschließend, könnten für eine vertretbare Friedenslösung sorgen.3 Die Debatte zwischen Walzer und Leifer steht stellvertretend für die sich ausweitenden Gegensätze unter progressiven Juden in den USA in der Frage nach der eigenen Positionierung gegenüber dem jüdischen Staat und dessen Politik.4 Mit stagnierendem Friedensprozess und der andauernden Vorherrschaft der israelischen Rechten sehen sich liberale Juden zusehends in der Defensive – sowohl in den USA als auch in Israel selbst. In Israel befindet sich die Unterstützung für liberale und linke Politikansätze seit zwei Jahrzehnten auf dem Rückzug. Die Vorstellung eines liberalen Zionismus erscheint so zusehends als nicht aufzulösender Gegensatz, der kohärenten Denkern nur die Möglichkeit lässt, sich entweder von ihren liberalen Werten oder aber von der Idee eines ethnonationalen5 jüdischen Staates abzuwenden. In der Beurteilung der israelischen Besatzung des Westjordanlandes scheinen sich die beiden hier zitierten Seiten dieser Debatte einig. Dieser Zustand müsse, so kann man aus Walzers und Leifers Beitrag herauslesen, baldmöglichst überwunden werden – entweder durch die Entstehung eines palästinensischen Staates oder aber durch eine wie auch immer geartete Vereinheitlichung des politischen Regimes zwischen Mittelmeer und Jordanien und damit einhergehend die Verleihung staatsbürgerlicher Rechte an die arabische Bevölkerung jenseits der Grünen Linie. Doch wenn im Vordergrund solcher Debatten in der Regel die Frage nach politischen Lösungsansätzen der andauernden Konfliktsituation mit den Palästinensern steht,
Joshua Leifer: Israel-Palestine: A Values-Based Approach. In: Ebd., https://www. dissentmagazine.org/article/israel-palestine-today-a-values-based-approach (zuletzt abgerufen: 20.11.2019). 3 Michael Walzer: Reply to Joshua Leifer. In: Ebd., https://www.dissentmagazine.org/ article/reply-to-joshua-leifer (zuletzt abgerufen: 20.11.2019). 4 Für eine kritische Auseinandersetzung mit der steigenden Abkehr amerikanischer Juden von Israel, siehe Beinard, Die amerikanischen Juden. 5 Die Nationszugehörigkeit wurde durch religiöse und ethnisch-kulturelle Kriterien definiert. 2
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so geht es doch um wesentlich mehr. Progressive Unterstützer Israels müssen sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern der israelische Staat liberale und emanzipatorische Grundsätze mit den partikularen Ansprüchen eines jüdischen Gemeinwesens vereinen kann. Dies ist keine neue Debatte. Vielmehr indizieren die unterschiedlichen Positionen auf Spannungen, die dem Zionismus von Anfang an inhärent waren. Mit dem Ziel, einen Staat für die europäischen Juden zu gründen, wies dieser früh eine dezidiert ethnische Komponente auf. Gleichzeitig zwangen die arabischen Bewohner des für den Staatsaufbau auserkorenen Landes Israel/Palästina6 zionistische Denker, über den Status nichtjüdischer Bürger im jüdischen Gemeinwesen nachzudenken. Dies führte zu teilweise schmerzhaften, aber dennoch fruchtbaren Debatten, die bis heute geführt werden und eine große Bandbreite an Ansätzen für einen jüdischen und später israelischen Nationalismus hervorgebracht haben. Vor diesem Hintergrund diskutiert der folgende Artikel, inwiefern der Zionismus Wege für die Schaffung eines demokratischen jüdischen Nationalstaates aufzeigt(e) und welche Bedeutung diese für das heutige Israel haben.
Vielfältige Zionismen „In Basel habe ich den Judenstaat gegründet“, notierte Theodor Herzl am 3. September 1897 kurz nach dem ersten Zionistischen Kongress 1897 in sein Tagebuch. „Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es Jeder einsehen.“7 Dieser um die Jahrhundertwende sicherlich fantastisch klingende Ausspruch verweist auf eine der Hauptbestrebungen des weithin als Gründer der zionistischen Bewegung angesehenen Wiener Journalisten. Bis heute gilt Herzl als einer der wichtigsten Vertreter des politischen Zionismus, dem es vornehmlich um das Erlangen jüdischer Staat Für die Region gibt es verschiedene geographische Bezeichnungen, die alle nicht unproblematisch sind. Während die jüdische Tradition vom Land Israel spricht, wurde vor allem mit der Einrichtung des britischen Mandats die Bezeichnung Palästina im internationalen Kontext häufig gebraucht. Im Folgenden wird der Einfachheit halber von Palästina gesprochen, ohne damit aber eine Aussage über Zugehörigkeit oder Gebietsansprüche zu treffen. 7 Zitiert nach Brenner, Geschichte des Zionismus, S. 43. 6
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lichkeit ging. In diesen Bestrebungen schwang ein stark emanzipatorisches Element mit. Die europäischen Juden, die sich zunehmend ausgegrenzt und verfolgt sahen, sollten dieser Situation entrinnen, indem sie sich auf ihre eigenen Kräfte besannen. Zur „Autoemancipation“ etwa hatte 1882 der im Russischen Zarenreich lebende Arzt und Journalist Leon Pinsker seine „Stammesgenossen“ kurz nach der Ermordung Alexanders II. und einer damit einhergehenden Welle von Pogromen aufgerufen.8 Wie viele andere Nationalbewegungen auch, machte der Zionismus seinen Anhängern ein Versprechen auf ein besseres, weil selbstbestimmtes Leben. Darüber hinaus enthielten die ideologischen Schriften der Bewegung von früh an auch Vorstellungen und Visionen davon, wie eine solche jüdische Gesellschaft aufgebaut sein könnte. Das beste Beispiel hierfür ist sicherlich Herzls Schrift Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage von 1896, indem er eine weitreichende Utopie entwarf, die für die damalige Zeit geradezu revolutionäre Forderungen wie etwa einer 35-Stundenwoche oder der vollständigen politischen Gleichberechtigung der Frau enthielt.9 Die frühe zionistische Führung, so konstatiert Michael Brenner, versammelte viele Kosmopoliten, denen die negativen Folgen des europäischen Nationalismus schmerzhaft vor Augen standen, und die diese in ihren eigenen staatlichen Visionen tunlichst vermeiden wollten.10 Auch ihre Anhänger selbst wollten diese ersten Zionisten verbessern, ihnen ein neues Selbstbewusstsein schenken und durch körperliche Ertüchtigung und Arbeit einen neuen Juden schaffen, der die ideale jüdische Gesellschaft aufbauen und verteidigen sollte. Solche Ideen waren ganz im Sinne nicht nur nationalistischer Kräfte, sondern auch fester Bestandteil der verschiedenen Arbeiterideologien, die über die kommenden Jahrzehnte den Zionismus beeinflussen sollten. Die spätestens ab den 1930er Jahren die zionistischen Institutionen und jüdischen Siedlungen in Palästina dominierende Arbeiterbewegung übernahm viele Ideen europäischer Vorbilder und entwickelte gleichzeitig eigene Modelle egalitärer Lebensformen, für die die landwirtschaftlich geprägten Kibbuzim ohne private Produktionsgüter paradigmatisch stehen können. Doch auch wenn Theodor Herzl seine ganz eigene Utopie einer zukünftigen Gesellschaft erschuf und so manch einer kollektivistische Lebensformen und soPinsker, „Autoemancipation!“. Herzl, Judenstaat. 10 Brenner, Zionismus, S. 50f. 8 9
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zialistische Vorstellungen aus den jüdischen Quellen und Traditionen selbst ableiten wollte, stellten solche Ideen keine Besonderheit des Zionismus dar, sondern waren fester Bestandteil vieler moderner Massenbewegungen, sowohl jüdischer als auch nichtjüdischer. Genau dies war auch der Hauptkritikpunkt von Herzls großem Gegenspieler, dem Aktivisten und Journalisten Ascher Hirsch Ginsberg aus Odessa, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Achad Ha-Am („Einer des Volkes“). Ginsberg, der als Begründer des Kulturzionismus gilt, griff Herzl und seinen zionistischen Kongress scharf für dessen Fixierung auf einen jüdischen Staat an. Anstatt auf Diplomatie und die „Gepflogenheiten politischer Sekten unserer Zeit“ zu rekurrieren, forderte er, sollten sich die Zionisten vielmehr auf die Befreiung der Juden aus der „inneren Sklaverei“ konzentrieren, „aus der Degradierung des Geistes, die durch Assimilation hervorgerufen wird.“ Die zionistische Bewegung, so forderte Achad Ha-Am, solle sich in erster Linie dafür einsetzen, eine moderne jüdische Nationalkultur zu schaffen. Diese, so hoffte er, würde Juden über deren Zerstreuung über verschiedene Kontinente hinweg Zusammenhalt geben und ihnen schließlich die gleichberechtigte Teilnahme am modernen Dialog der Völker ermöglichen. „Der jüdische Staat kann nur Frieden finden,“ so ging er in seinem Text über jüdische Partikularinteressen hinaus, „wenn eine universale Gerechtigkeit den Thron besteigt und die Leben von Völkern und Staaten beherrscht.“11 Wie bereits aus diesen kurzen Ausführungen hervorgeht, wohnte auch dem kulturzionistischen Ansatz von Anfang an ein stark emanzipatorisches Element inne. Was jüdische Nationalisten einte war das Streben nach kollektiver Selbstverwaltung. Osteuropäische Diasporanationalisten, wie etwa der Historiker Simon Dubnow oder die Mitglieder des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes (Bund), strebten nach kultureller Autonomie, die beispielsweise das Recht auf eigene Schulen und Kulturinstitution in jiddischer Sprache sowie eine beschränkte politische Selbstverwaltung über die jüdischen Gemeinden (kehillot) beinhalten sollte. Auch Zionisten setzten sich für solch eine national-kulturelle Autonomie ein, insbesondere in den aus dem Ersten Weltkrieg hervorgehenden ostmitteleuropäischen Nationalstaaten. Doch während Dubnow und der Bund ihre kollektiven Vorstellungen ausschließlich in Europa zu verwirklichen suchten, richteten sich die nationalen
11
Ha-Am, First Zionist Congress, S. 22ff.
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Bestrebungen vieler Zionisten vor allem auf Palästina.12 Nach ersten größeren Einwanderungswellen um die Jahrhundertwende und in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden hier nach dem Ersten Weltkrieg unter britischem Mandat erste politische Institutionen der jüdischen Gemeinschaft. Zionisten bemühten sich um den Aufbau eines jüdisch-nationalen Rahmens gemeinschaftlicher Institutionen. Jedoch blieben ihre Konzepte und Vorstellungen künftiger Staatlichkeit lange Zeit flexibel und aufgeschlossen gegenüber einer weiten Bandbreite von Ansätzen. Ein Großteil der zionistischen Führung war in den Vielvölkerreichen vor dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen und von eben dieser Welt geprägt worden. Vor diesem Hintergrund waren verschiedene Formen jüdischer Vergemeinschaftung, etwa auch Autonomie in einem arabisch geprägten Großreich, denkbar. Andere strebten einen binationalen Staat an, indem die jüdische und die lokale arabische Bevölkerung paritätisch das Gemeinwesen lenken sollten. Solche Ideen wurden vor allem von einem kleinen Kreis von zentraleuropäischen Intellektuellen wie Martin Buber, Gershom Sholem und Hugo Bergman vorangetrieben, die sich in den 1920er Jahren im Brit Schalom („Friedensbund“) aktiv für einen Ausgleich mit der arabischen Bevölkerung einsetzten.13 Über Fragen politischer Parität hinausgehend, agitierten Einzelne sogar für eine Union von Juden und Arabern, die sich auf die gemeinsame semitische Herkunft stützen sollte und kulturell-religiöse Gemeinsamkeiten betonte. Der religiöse Zionist Jehoschua Radler Feldman, besser bekannt als Rabbi Benjamin, prägte hierfür das Schlagwort des Pansemitismus.14 Brit Schalom selbst und andere Organisationen, die in späteren Jahren für ähnliche Ideen eintraten, blieben politisch marginal. David Ben-Gurion und die zionistische Führung waren weit von solchen Plänen einer arabisch-jüdischen Union entfernt. Ihnen ging es vornehmlich darum, eine jüdische Mehrheit in Palästina zu etablieren und aus einer Position der Stärke mit der arabischen Seite zu verhandeln. Am nachhaltigsten vertrat dies Ben-Gurions großer Gegenspieler, der Begründer des rechts-zionistischen Revisionismus Zeev Jabotinsky. Bereits 1923 sprach er in Die jüngere Forschung betont, dass es vielen Zionisten nicht nur um jüdisches Leben in Palästina ging, sondern gerade in der Periode vor dem Ersten Weltkrieg der Kampf um politische Partizipation in Europa und die Nationalisierung der Juden vor Ort eine wichtige Rolle spielten. Siehe z. B. Shanes, Diaspora Nationalism. 13 Siehe Weiss, Central European Ethnonationalism. 14 Dazu ausführlich: Harif, Anaschim Achim Anachnu. 12
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einer programmatischen Schrift von einer „eisernen Mauer“, welche die Zionisten errichten müssten, da sie von der arabischen Seite nur akzeptiert würden, wenn diese einsehe, dass sie die Zionisten nicht auf gewaltsamen Wege besiegen könnte. Aber auch Ben-Gurion und selbst Jabotinsky hatten sich in den 1920er und 1930er Jahren nicht auf die Errichtung eines ethnonationalen Staates festgelegt, sondern blieben offen für andere Formen jüdischer Autonomie und föderale Verbünde mit der arabischen Seite.15 Jabotinsky betonte in der erwähnten Schrift ausdrücklich, dass er für die Erfüllung der nationalen Rechte aller im Lande lebenden Völker eintrete.16 Wachsende Spannungen mit der arabischen Bevölkerung und der sich allmählich formierenden palästinensischen Nationalbewegung ließen solche Ideen allerdings immer stärker in den Hintergrund rücken. Gewaltsame Ausschreitungen verstärkten nicht nur die politischen Spannungen, sondern führten auch zu zunehmender wirtschaftlicher Entflechtung jüdischer und arabischer Strukturen.17 Eine besondere Bedeutung kommen in diesem Zusammenhang Konflikten um die heiligen Stätten in Jerusalem zu, die im August 1929 zu gewaltsamen Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung in mehreren Städten führten und in der Zerstörung der Gemeinde in Hebron gipfelten.18 Von dieser Gewalt waren vor allem traditionelle Juden betroffen, obwohl diese oftmals außerhalb der zionistischen Gemeinschaft standen und sich gegen ein Streben nach jüdischer Staatlichkeit stellten. Die Gewalt erschütterte die nicht-zionistische Orthodoxie zutiefst und erschwerte es deren politischen Vertretern in zunehmendem Maße, sich um politische Alternativen zu nationalen Formationen zu bemühen.19 In den zionistischen Siedlungen selbst führten die sich zuspitzenden Konflikte dazu, dass unter dem Schlagwort der „hebräischen Arbeit“ (Awoda ivrit) arabische Arbeiter durch jüdische ersetzt wurden. Dies hat der Jerusalemer Historiker Dimitry Shumsky kürzlich herausgearbeitet. Siehe: Shumsky, Beyond the Nation-State. 16 Jabotinsky, On the Iron Wall. 17 Dazu beispielsweise: Lockman, Comrades and Enemies. 18 Zur Bedeutung der Ausschreitungen von 1929 siehe Cohen, Year Zero. 19 Die Vertreter traditionalistischer jüdischer Gemeinden in Palästina bemühten sich in den frühen 1920er Jahren um Kontakt mit arabischen Herrschern und agitierten offen gegen jüdische Staatlichkeit. Die Tatsache jedoch, dass die Ausschreitungen von 1929 sich gegen alle Juden und eben nicht nur gegen die zionistischen Siedlungen richteten, stellten solche Initiativen in Frage. Zu der Bedeutung der Ausschreitungen für die nichtzionistische Orthodoxie, siehe: Mahla, Orthodox Judaism, S. 121–129. 15
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In den 1930er Jahren spitzte sich die politische Lage immer stärker zu. Die Spannungen brachen sich schließlich im arabischen Aufstand von 1936 Bahn. Um diesen zu befrieden, richteten die britischen Mandatsherren eine Kommission unter dem Vorsitz von Sir William Peel ein, die nach politischen Lösungen suchen sollte und im Juli 1937 erstmals die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorschlug. Mit einem Mal schien die Errichtung eines jüdischen Staates in greifbare Nähe zu rücken. Auch wenn der Vorschlag der Peel-Kommission letztendlich wegen des Widerstands der arabischen Seite nicht durchgesetzt werden konnte, konzentrierte sich die zionistische Führung in den kommenden Jahren immer stärker auf die Erlangung eben jenes Ziels. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und der düsteren Lage der europäischen Juden sowie der vor dem Krieg bereits drastisch reduzierten jüdischen Einwanderung nach Palästina, kam es im Mai 1942 schließlich im New Yorker Biltmore Hotel zu einer Konferenz unter der Führung David Ben-Gurions, die moderatere Stimmen verdrängte und zum ersten Mal klar die Einrichtung jüdischer staatlicher Strukturen forderte. Zwar ließ der hier verwendete Begriff des „Jewish Commonwealth“ Interpretationsspielraum zu, doch wurde die Forderung als eine weitgehende Absage an binationale Modelle verstanden.20 Wenn sich in den 1940er Jahren auch schließlich die Idee des jüdischen Nationalstaates endgültig durchsetzte, so wird gleichzeitig deutlich, dass Historiker im Nachhinein der Versuchung widerstehen sollten, eine lineare Entwicklung von Herzls eingangs zitierter Behauptung, in Basel habe er den Judenstaat gegründet, zur Erklärung der israelischen Unabhängigkeit im Mai 1948 nachzuzeichnen. Schon Herzl selbst vertrat wesentlich weniger eindeutige Vorstellungen jüdischer Selbstverwaltung als es das Zitat nahelegt. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zeigten sich zionistische Aktivisten offen für eine große Bandbreite an Überlegungen zur Umsetzung ihrer Nationalvorstellungen. Und noch im Jahr 1940 stellte Zeev Jabotinsky Überlegungen zur Nachkriegsordnung an, in denen er zwar einen Staat mit klarer jüdischer Mehrheit forderte, dieser aber eher einem föderalen Staatenbund denn einem Nationalstaat glich, in dem nicht nur Juden, sondern auch Araber das Recht auf nationale Selbstbestimmung genießen sollten. In der Forderung nach Autonomie der beiden Gruppen ging Jabotinsky soweit, jeder Gruppe ein eigenes Parlament, eine eigene Exekutive und eigene Steuersysteme zu20
Zu Biltmore und Ben-Gurions Rolle siehe u. a. Porat, Ben-Gurion.
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zugestehen. Selbst wenn diese Überlegungen vor allem taktischer Natur waren und dazu dienen sollten, Briten und die in diesen Jahren an Einfluss gewinnenden Amerikaner von der Notwendigkeit einer jüdischen Armee zu überzeugen, wie einige Forscher argumentieren, so weisen sie doch auf die reiche Gedankenwelt hin, aus der sich zionistische Debatten um eine zukünftige jüdische Staatlichkeit speisten.21
Nationalstaat der Juden „Es ist das natürliche Recht des jüdischen Volkes, ein Leben wie jedes andere Volk in einem eigenen souveränen Staat zu führen. Wir, die Mitglieder des Volkrates, die Vertreter der jüdischen Bevölkerung Palästinas und der zionistischen Bewegung, sind daher heute, am Tage der Beendigung des britischen Mandats über Eretz Israel [das Land Israel, D.M.], zusammengetreten und proklamieren hiermit Kraft unseres natürlichen und historischen Rechtes und auf Grund des Beschlusses der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Errichtung eines jüdischen Staates in Eretz Israel, des Staates Israel.“22 Mit diesen Worten verkündete David Ben-Gurion als höchster Vertreter der zionistischen Bewegung und zukünftiger Ministerpräsident Israels am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeit. Vorausgegangen war im November 1947 der Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen, Palästina zu teilen um dort einen jüdischen und einen arabischen Staat entstehen zu lassen. Mit diesen Entwicklungen einher gingen gewaltsame Ausschreitungen zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung und schließlich der erste arabisch-israelische Krieg, der im Verlauf des Jahres 1949 mit mehreren Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten endete. Während des Kriegs war es zu Flucht und Vertreibung von ca. 700 000 arabischen Bewohnern Palästinas bzw. des neuen Staat Israel gekommen. In der gleichen Zeit erreichte eine ähnliche Anzahl von jüdischen Immigranten das Land, von denen ein Teil Überlebender des Holocaust aus Europa war, während andere aus Staa-
Zu Jabotinskys Plan und den Debatten darum, siehe Shumsky, Beyond the Nation State, S. 158–61. Shumsky selbst verwirft die Argumentation taktischer Erwägungen. Siehe auch Brenner, Israel: Traum und Wirklichkeit, S. 102–104. 22 Die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel. Zitiert nach Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte, S. 653. 21
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ten im Nahen Osten eingewandert waren – auch dies häufig die Folge von Flucht oder Vertreibung. Damit stieg der Anteil der jüdischen Bevölkerung von 44,7 % im Jahr 1947 auf 89 % im Jahr 1951.23 Die Ereignisse der Jahre 1947–1951 führten also nicht nur zu einem Ende der Debatten um die Form künftiger jüdischer Souveränität, sondern schufen auch in demographischer Hinsicht einen jüdischen Nationalstaat. Wie in der Unabhängigkeitserklärung verkündet, sollte die Staatsgründung dem jüdischen Volk ermöglichen, „ein Leben wie jedes andere Volk in einem eigenen souveränen Staat zu führen.“ Damit wies der Staat eine starke ethnonationale Komponente auf, die etwa in so zentralen Feldern wie der Einwanderung zum Ausdruck kam. „Der Staat Israel,“ so kündigte die Unabhängigkeitserklärung bereits an, „wird für die jüdische Einwanderung und die Sammlung der zerstreuten Volksglieder geöffnet sein.“24 In den 1950er Jahren verabschiedete die Knesset dann entsprechende Gesetze, die Immigration in eben diesem Sinne regelten. Gleichzeitig wurden jene Teile der arabischen Bevölkerung eingebürgert, die auf dem Gebiet des neu gegründeten Staates verblieben waren. Damit ermöglichte Israel trotz der ethnonationalen Grundsätze in der Unabhängigkeitserklärung gleichzeitig die Verleihung der Staatsbürgerschaft nach dem Territorialprinzip, wenn auch nur innerhalb eines zeitlich deutlich begrenzten Fensters. Eben jenen nicht-jüdischen Bürgern des neu gegründeten Staates hatte man in der Unabhängigkeitserklärung weitreichende Rechte zugesagt, die der internationale Teilungsplan von 1947 (UN-Resolution 181) zur Bedingung gemacht hatte.25 Der Staat Israel, so hatte Ben-Gurion verlesen, „wird für die Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner sorgen; er wird auf den Grundlagen der Freiheit, Gleichheit und des Friedens im Lichte der Weissagungen der Propheten Israels gegründet sein; er wird volle soziale und politische Gleichberechtigung aller Bürger ohne Unterschied der Religion, der Rasse und des Geschlechts gewähren.“26 Damit war die Grundspannung etabliert, die den israelischen Staat bis heute begleitet, zwi Cohen, From Haven to Heaven, S. 37f. Zitiert nach Höchster, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte, S. 653. 25 Der Teilungsplan bestimmte, dass die beiden Staaten als konstitutionelle Demokratien etabliert werden würden, in denen allen Bürgern volle zivile und politische Rechte garantiert sein würden. Zur Bedeutung der UN-Resolution für Israel als jüdischen und demokratischen Staat, siehe Wattad, Israel as a Jewish vs. Democratic State. 26 Zitiert nach Höchster, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte, S. 653. 23 24
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schen dessen jüdisch-nationaler Ausrichtung und dem Ansinnen, auch der nichtjüdischen Minderheit volle bürgerliche und politische Rechte zu garantieren. Israel wurde als parlamentarische Demokratie gegründet, die viele ihrer Institutionen und Prozesse von der zionistischen Bewegung übernahm. Aus unterschiedlichen Gründen – u. a. der Befürchtung eines fundamentalen Bruchs zwischen Säkularen und Religiösen – verabschiedeten die frühen Staatslenker keine Verfassung, sondern definierten den Staatscharakter über eine Reihe von sukzessive zu erweiternden Grundgesetzen. Dadurch wurden staatsbürgerliche Rechte nicht verbrieft.27 Darüber hinaus konzentrierte sich das frühe zionistische Staatsdenken vor allem auf die Erfüllung kollektiver Bedürfnisse und weniger auf die Stärkung von Individualrechten. Auch taucht die Bezeichnung Demokratie in keinem der frühen Grundgesetze und nicht einmal in der Unabhängigkeitserklärung auf.28 Gleichzeitig aber etablierte man einen starken Obersten Gerichtshof, der nicht nur die demokratische Gewaltenteilung gewährleistete, sondern sich zunehmend zu einem Garanten staatsbürgerlicher Rechte entwickelte. Die hier versammelten Richter beriefen sich in ihren Urteilen bereits in den frühen 1950er Jahren auf die in der Unabhängigkeitserklärung versprochenen Freiheiten und Rechte und ließen keinen Zweifel an der demokratischen Ausrichtung des Staates.29 Nur wenige jüdische Israelis widersetzten sich dem 1948 etablierten zionistischen Grundkonsens. In den frühen Jahren nach der Staatsgründung tat dies vor allem eine kleine Gruppe von Intellektuellen. Sie nannten sich nach den frühesten bekannten Bewohnern der Region Kanaanäer und trachteten danach, den Staat Israel von jeglichen jüdischen Traditionen und der jüdischen Diaspora abzulösen und traten für die Ausbildung einer neuen hebräisch-israelischen Identität ein.30 Alle Bewohner des Staates sollten in diese Kultur gleichberechtigt eingebunden werden. Die Vorstellungen der Kanaanäer trugen damit Züge eines stärker staatsbürgerlich
Strum, Road Not Taken. Eine fehlende Tradition der Auseinandersetzung mit demokratietheoretischen Fragen macht etwa Michael N. Myers für die aktuelle illiberale Ausrichtung der israelischen Politik verantwortlich. Siehe seinen Beitrag Israel’s Very Own. Illiberal Democracy‘. In: The Tel Aviv Review of Books (Winter 2020), https://www.tarb.co.il/israels-very-ownilliberal-democracy/ (zuletzt abgerufen: 16.12.2019). 29 Dazu etwa: Shapira, Israel: A History, S. 184–86. 30 Der Name der Bewegung bezieht sich auf das antike Kanaan und symbolisiert eine allgemein-semitische Kultur vor der israelitischen Landnahme. 27 28
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geprägten Nationalismus. Doch forderte die Gruppe gleichzeitig die völlige Aufgabe vorheriger Identitäten und Gruppenformationen aller Bürger der neu zu schaffenden hebräischen Nation.31 Ihre Ideen fanden zwar in den 1960er Jahren Eingang in die Debatten der Neuen Linken und wurden schließlich in den 1990er Jahren von post-zionistischen Intellektuellen aufgegriffen, doch blieben die Kanaanäer politisch weitgehend eine Randerscheinung der frühen israelischen Jahre. Trotz schwerer wirtschaftlicher Krisen und Auseinandersetzungen mit den Nachbarstaaten, konzentrierte sich die israelische Führung in diesen Jahren auf Aufbau und Festigung des Nationalstaates der Juden. In der israelischen Frühzeit stand außerdem die arabische Bevölkerung des Staates unter Militärrecht und war dabei in ihren bürgerlichen und politischen Rechten eingeschränkt. Doch bereits Mitte der 1960er Jahre kündigten sich tiefgreifende Veränderungen an. Zum einen wurden die Beschränkungen der arabischen Bevölkerung, wie etwa Ausgangssperren, schrittweise aufgehoben, was zu einer ersten Integration und später zur Formulierung politischer und gesellschaftlicher Forderungen führte. Zum anderen sollte ein weiterer Kriegsgang zwischen Israel und seinen Nachbarn den Staat und die Region transformieren.
Wiederkehr der Ungewissheiten Der Sechstagekrieg von 1967, Israels „zweite Geburt“,32 veränderte Staat und Gesellschaft auf drastische Weise. Neben den geopolitischen Konsequenzen wirkte sich der Krieg tiefgreifend auf gesellschaftliche Prozesse aus. Hatte das Gedächtnis an den deutschen Völkermord in den 1950er Jahren noch eine untergeordnete Rolle gespielt, so wurde dieses nun u. a. durch die von arabischen Führern vor dem Krieg angedrohte Vernichtung der israelischen Juden zu einer zentralen Säule jüdischen Selbstverständnisses. Auch führte der Krieg zu einer positiveren und engeren Anbindung an die jüdischen Gemeinden weltweit. Darüber hinaus löste die Eroberung der heiligen Stätten in Jerusalem sowie des Kerngebiets des antiken Hebräerstaates religiösen Enthusiasmus aus und zog eine Stärkung jüdischer Traditionen nach sich. Innerhalb der nächsten Dekade wandelte sich Israel in gewisser Weise von 31 32
Grundlegend zu den Kanaanäern: Shavit, New Hebrew Nation. So bezeichnet etwa Tom Segev den Krieg. Siehe: Segev, 1967.
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einem Nationalstaat für Juden, einem „jüdischen Albanien“ wie es Chaim Weizmann gefordert hatte,33 zu einem Staat, dessen Charakter in den Augen vieler seiner Bürger selbst jüdisch geprägt sein sollte. Die Umwälzungen der späten 1960er und 1970er Jahre verstärkten die ethnonationale Ausrichtung des Gemeinwesens. Gleichzeitig stellten die geopolitischen Veränderungen von 1967 den jüdischen Staat vor große Herausforderungen, insbesondere was den Umgang mit den nun unter israelischer Kontrolle stehenden Palästinensergebieten anging. Wie Kritiker schon früh warnten, lag in der Besatzung und der daraus folgenden Besiedlung von Westjordanland und Gazastreifen nicht nur ein militärisches und diplomatisches Problem, sondern die Okkupation hatte das Potential die Grundlagen des Staates selbst in Frage zu stellen. Kurz nach dem Krieg forderte etwa der Naturwissenschaftler und Religionsphilosoph Jeschajahu Leibowitz, Israel müsse sich des Fluches der kolonialen Herrschaft über ein anderes Volk möglichst schnell entledigen, um seine eigene Identität zu bewahren.34 In ähnlicher Weise stellte der Schriftsteller Yitzhar Smilansky in einem Vortrag Anfang der 2000er Jahre heraus, „die Palästinenserfrage“ sei „nichts als die jüdische Frage. […] Denn die Palästinenserfrage falsch zu lösen, heißt die Frage nach Juden und Judentum nicht zu bewältigen und das heißt tatsächlich die Zukunft von Juden und Judentum zu verwirken.“35 Die Herrschaft über mehrere Millionen Menschen ohne jegliche staatsbürgerliche Rechte stellte liberale Kräfte vor ein schwerwiegendes moralisches Problem, das die Grundfesten ihres Selbstverständnisses zu erschüttern drohte. Darüber hinaus eröffnete die veränderte geopolitische Situation für liberale Nationalisten auf beiden Seiten jedoch auch neue Perspektiven. Denn die israelischen Eroberungen des Sechstagekrieges führten dazu, dass ein Großteil der Palästinenser zum ersten Mal seit 1948 wieder unter einem Regime lebte. Die israelische Besatzung trug damit ironischerweise nicht nur zu einer Annäherung zwischen arabischen Israelis und den Palästinensern in Westjordanland und Gazastreifen, sondern auch zu einer Belebung der palästinensischen Nationalidee und ‑bewegung bei. Und diese Entwicklung schließlich führte zum Aufleben der Forderung nach einem eigenen Palästinenserstaat, die zwar über zwei Teilungsversuche von 1937 und 1947 bereits pro Siehe dazu Brenner, Israel: Traum und Wirklichkeit, S. 7. Und wiederholte diese Aussage in zahlreichen Interviews. Etwa in Leibowitz/Egan, Liberating Israel, S. 102–108. 35 Der Vortrag ist abgedruckt in: Yizhar, About Uncles and Aarabs. (Zitat auf S. 326). 33 34
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pagiert, in den geopolitischen Realitäten der 1950er und frühen 1960er Jahre aber an den Rand gedrängt worden war. Bis man diese gesellschaftliche Akzeptanz erlangen sollte, vergingen freilich noch mehr als drei Jahrzehnte blutiger Auseinandersetzungen, die im ersten großen palästinensischen Volksaufstand von 1987 kulminierten.36 Während der 1990er Jahre schließlich schien der Frieden in greifbare Nähe zu rücken. In den Friedensverträgen von Oslo erkannten sich Israel und die PLO gegenseitig an und erklärten die Absicht, den Konflikt über die Erschaffung eines Palästinenserstaates an der Seite Israels zu lösen. Diese Ereignisse beflügelten progressive Kräfte in Israel. Tatsächlich ist die Zweistaatenlösung bis heute ein wichtiger Bestandteil liberaler zionistischer Ansätze. Denn viele dieser Denker sind sich durchaus der Spannungen zwischen der ethnonationalen Konstitution des jüdischen Staates und liberaler Vorstellungen bewusst.37 Vor allem die Tatsache, dass auf dem Gebiet Israels eine Minderheit lebt, der das Recht auf nationale Selbstbestimmung verweigert wird, kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu. Wenn Zionisten solch ein Recht für die jüdische Gemeinschaft einfordern, so kann dies aus liberaler Sicht kaum der palästinensischen Nationalbewegung verweigert werden. Die Schaffung eines Palästinenserstaates würde diesen Missstand beheben. Zudem, so argumentieren sie, würde solch ein Staat die arabische Minderheit in Israel stärken, da dieser sich etwa in ähnlichem Maße für seine Diaspora einsetzen könnte, wie dies häufig israelische Vertreter gegenüber jüdischen Gemeinden tun.38 Um die Staatsidentität nicht zu gefährden erhielten arabische Israelis vor allem Individualrechte. Kollektivrechte wurden als religiöse Rechte zugestanden, nicht aber als nationale. Dies führte dazu, dass sich die arabische Bevölkerung vor allem als Cluster von religiösen Gruppierungen formierte. Die Stärkung solcher Partikularidentitäten gegenüber der Formation eines einheitlichen arabischen Kollektivs lag im Interesse des jüdischen Staates.39 Das Bedürfnis, eine jüdische Bevöl-
Für die Entwicklung des palästinensischen Nationalbewusstseins in diesen Jahren, siehe Kimmerling/Migdal, Palestinian People, S. 169–314. 37 Unter den spezifischen Bedingungen in Israel/Palästina und vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Verfolgung finden sich auch hier die unterschiedlichen Spielarten des Nationalismus und der Definition von Nationalität: ethnisch-kulturell vs. politisch. Vgl. in diesem Band Jansen, Demokratie und Nationalismus, insb. S. 25–28. 38 Siehe z. B. Gavison, Jews’ Right to Statehood. 39 Trotz vieler Vorteile wirkt sich die religiöse Selbstverwaltung allerdings auch einschränkend auf die Individualrechte arabischer Israelis aus. Diese sind in hohem Maße von 36
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kerungsmehrheit zu erhalten, wirkt sich auch auf die israelische Flüchtlingspolitik aus, die höchst restriktiv ist.40 Darüber hinaus entwickelte sich Israel in den 1980er und 1990er Jahren von einer in höchstem Maße von kollektivistischen Vorstellungen geprägten zu einer stärker individualistisch ausgerichteten Gesellschaft. Dies führte einerseits zu wirtschaftlicher Entsolidarisierung und Neoliberalismus, stärkte andererseits aber auch individuelle Freiheiten. Hinzu kam in den 1990ern eine Festigung der Bürgerrechte durch die Verabschiedung zweier wichtiger Grundgesetze zu „Menschenwürde und Freiheit“ und zur „Freiheit der Berufswahl.“ Diese vom Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes Aharon Barak initiierten Gesetze wurden von vielen Israelis als drastische „Verfassungsrevolution“ angesehen, die Individualrechte gegenüber dem kollektiven Charakter des Staates stärkte, was gerade rechtsnationalistische Kräfte kritisch sahen. Barak selbst sah in der Verabschiedung dieser Gesetze einen wichtigen Schritt auf dem Weg, trotz fehlender Verfassung liberal-demokratische Prinzipien im israelischen Staatswesen zu verankern. Und dennoch blieb aus liberaler Sicht weiterhin umstritten, wie der in den neuen Grundgesetzen zum ersten Mal in solch einem Rahmen als „jüdisch und demokratisch“ charakterisierte Staat die damit einhergehenden unterschiedlichen Ansprüche vereinen könnte. Wohl kaum ein anderer israelischer Denker nahm die Herausforderung, vor die ein vornehmlich ethnonational konstituiertes Gemeinwesen liberale Kräfte stellt, so ernst wie der Tel Aviver Philosoph und Rechtswissenschaftler Chaim Gans. In seinem 2008 erschienen Buch A Just Zionism: On the Morality of the Jewish State ging Gans systematisch der Frage nach, wie der Zionismus aus liberaler Sicht gerechtfertigt werden könne. Gans war sich dabei durchaus bewusst, dass Israel keine vollkommene Gleichheit zwischen seinen Bürgern herstellen kann, ohne seinen zionistischen Charakter aufzugeben. Gleichzeitig aber rechtfertigte er religiösen Einrichtungen und Autoritäten abhängig, etwa in familienrechtlichen Belangen. Ähnliches gilt natürlich auch für jüdische Israelis. Allerdings stehen Missstände in religiösen Einrichtungen nicht-jüdischer Minderheiten weit weniger im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und werden damit auch weniger thematisiert. 40 2013 etwa erbaute Israel einen Grenzzaun am Sinai, um sich gegen Flüchtlingsströme aus Afrika abzuschirmen. Netanjahu erklärte 2018 über den Sinai nach Israel gelangenden Immigranten zur größeren Gefahr für Israel als den Terrorismus fundamentalistischer Kräfte. Siehe Times of Israel 20.3.2018, https://www.timesofisrael.com/netanyahusays-flood-of-african-migrants-worse-than-sinai-terrorists/ (zuletzt eingesehen am 22.7.2020).
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dessen ethnonationale Verfasstheit mit dem jüdischen Schutzbedürfnis vor Verfolgung und Antisemitismus. Insbesondere der Holocaust macht einen jüdischen Staat für Gans unabdingbar. Um diese Spannung auf ein Minimum zu reduzieren, so argumentierte er, reiche es den jüdischen Charakter des Staates auf zwei Bereiche zu beschränken: Sicherheitsfragen sowie die Oberhoheit über Einwanderung müssten in jüdischer Hand verbleiben, um jüdische Existenz zu sichern. In allen anderen Fragen, so Gans, sollten egalitäre Grundsätze geltend gemacht und bestehende Diskriminierung abgebaut werden. Dies reicht von Fragen des Landerwerbs, der weiterhin oftmals Juden vorbehalten ist, bis hin zur Diskussion um die Symbole des Staates, wie Flagge und Nationalhymne.41 Auch Yael Tamir, die in der Forschung vor allem für ihre Verteidigung des Nationalismus gegen seine oftmals stark negative Beurteilung durch liberale Kräfte bekannt ist, betonte die positiven Elemente dieser Ideologie wie Zugehörigkeitsgefühl, Loyalität und Solidarität. Für sie selbst sei der Zionismus ein konstitutives Merkmal, stellte Tamir heraus. „Mein Zionismus“, schrieb sie, „definiert meine Identität, meine grundlegenden Überzeugungen, meine historische Perspektive, meine persönliche Geschichte, meine Sprache, meinen Lebensstil, den Ort an dem ich lebe, die Themen die mich irritieren, meine Hoffnungen und Ängste, meinen Stolz und meine Scham, als auch meine Träume.“42 Doch auch Tamir war sich der Herausforderung eines multiethnischen Gemeinwesens bewusst. Israel, so meinte sie, könne ein jüdischer Staat bleiben, solange die Mehrheit der Staatsbürger dies wünschten und sichergestellt sei, dass der jüdische Charakter auf einer möglichst breiten Ebene mit demokratischen Grundwerten übereinstimme. Sei das nicht mehr gegeben, so trat sie für die Durchsetzung demokratischer Werte auf Kosten des jüdischen Charakters ein.43 Tatsächlich gingen einige jüdisch-israelische Intellektuelle in den 1990er Jahren über solche Ansätze noch hinaus. Eine kleine Gruppe von Denkern, die bald als Postzionisten bekannt wurde, argumentierte, der Zionismus habe mit der Gründung des israelischen Staates seine Ziele erreicht und sei obsolet geworden. Im Zuge der Friedensverhandlungen und einer zunehmenden geopolitischen Integration Israels in den Nahen Osten sahen sie die Zeit gekommen, den ethnonationa Gans, A Just Zionism. Zitiert nach Troy, Zionist Ideas, S. 342f. 43 Tamir, Jewish Democratic State, S. 518–523. 41 42
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len Charakter des Staates abzulegen und diesen rein politisch auszurichten. Doch ähnlich wie die Kanaanäer in früheren Jahren stießen sie damit auf weitreichende gesellschaftliche Ablehnung. Gerade die Friedensgespräche und die Aussicht auf die Entstehung eines palästinensischen Gemeinwesens stärkten unter vielen Israelis das Bedürfnis nach einem deutlich jüdisch definierten Staat.44 Die Hoffnungen liberaler Zionisten auf eine baldige Lösung des Konflikts zerschlugen sich jedoch mit dem Zusammenbruch des Friedensprozesses und dem Aufflammen des zweiten palästinensischen Volksaufstandes im September 2000. Hatte die erste Intifada den Einfluss der israelischen Rechten zurückgedrängt, so schwang das Pendel nun zurück. Die zweite Intifada brachte eine Dezimierung und oftmals gar Delegitimierung liberaler und linker Positionen mit sich.45 Zwar spricht sich eine Mehrheit von Israelis bis heute für Konzessionen an die palästinensische Nationalbewegung inklusive der Abtretung von weiten Teilen des Westjordanlandes und der Errichtung eines Palästinenserstaates aus. Doch tun sich tiefe Gräben auf zwischen den Vorstellungen von Israelis und Palästinensern, wie solch eine Lösung konkret aussehen könnte.46 Darüber hinaus wurde die arabische Minderheit in Israel selbst nun immer stärker als sicherheitspolitische Gefahr wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund bemühte sich die seit den 2000er Jahren fest im Sattel sitzende israelische Rechte auch darum, den liberalen Neuerungen der 1990er Jahre entgegenzuwirken. Insbesondere der Oberste Gerichtshof und dessen „aktivistische“ Einflussnahme auf politische Prozesse in Israel gerieten in den letzten Jahren immer stärker in die Kritik. Gleichzeitig bemühte man sich darum, ein weiteres Grundgesetz einzuführen, dass Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes festschreiben und damit ein durch die von Ahron Barack initiierten Grundgesetze vermeintliche Schieflage zwischen jüdischen und demokratischen Werten beseitigen sollte. Im Juli 2018 verabschiedete die israelische Knesset ein Grundgesetz, dass die ethnischen Grundsätze des Staates festschreibt, die bürgerlichen und politischen Rechte nichtjüdischer Einwohner unerwähnt lässt und das Recht auf nationale Selbstbestimmung in Israel allein dem jüdischen Volk vorbehält.47 Al-Haj: Status of the Palestinians, S. 118f. Goodman, Catch-67, S. 46ff. 46 Für eine Analyse verschiedener Umfragen unter Israelis und Palästinensern zur Zweistaatenlösung siehe Finkelstein, Opening for Peace. 47 Der offizielle Gesetzestext findet sich unter Chok Jesod: Israel – Medinat Ha-Leom schel Ha-Am Ha-Jehudi, https://fs.knesset.gov.il//20/law/20_lsr_504220.pdf (zuletzt abgerufen: 10.12.2019). 44 45
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Viele israelische Araber beklagen gerade diesen Paragraphen des Nationalstaatsgesetzes von 2018, in dem sie einen tiefen Eingriff in ihr kollektives Selbstverständnis sehen. Unter arabischen Israelis hatten die 1990er Jahre zu einer starken Betonung ethnischer Zugehörigkeiten geführt. Eigentlich hatte man darauf gehofft, dass Frieden zwischen Israel und der PLO auch zur Verbesserung der eigenen Lage führen würde. Der Friedensvertrag von Oslo erwähnte jedoch die israelischen Araber nicht, was zu tiefen Frustrationen führte. Im Oktober 2000 schließlich kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzung mit der israelischen Polizei, bei der 13 Demonstranten getötet wurden. In den folgenden Jahren ging die intellektuelle und politische arabische Elite in Israel immer stärker dazu über, den jüdischen Charakter des Staates grundsätzlich in Frage zu stellen.48 Gleichzeitig kam es zur Entstehung und Ausbreitung der international ausgerichteten Boykottbewegung (BDS), die sich weltweit erbitterte Gefechte mit der israelischen Rechten liefert. Unter jüdischen und israelischen Liberalen führten die Entwicklungen dieser Jahre zu der eingangs beschriebenen Polarisierung, in der sich die einen zusehends von liberalen Werten entfernen, während die anderen den ethnonationalen Staatscharakter in Frage stellen. Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass in den letzten Jahren einst vergessene Alternativen zur ethnonationalen Staatsbildung wieder lebhafter diskutiert werden. Vertreter der israelischen Rechten sprechen immer offener davon, möglichst weite Teile des Westjordanlandes zu annektieren und dabei die palästinensischen Siedlungszentren entweder als teilweise eigenständige Enklaven zu etablieren oder in einer Föderation mit Jordanien zu verbinden.49 Diese Diskussionen erreichten mit der Veröffentlichung eines neuen Friedensplans der US-Administration im Januar 2020 eine verstärkte Intensität.50 Donald Trumps „Jahrhundertdeal“ stellte Israel die Annexion von Teilen des Westjordanlandes und vor allem des strategisch wichtigen Jordantales in Aussicht. Ver Dazu: Rekhess, Evolvement. Eine treibende Kraft in diesen Debatten ist der Vorsteher der national-religiösen Partei, Naftali Bennett, der für eine weitgehende Annexion der Gebiete eintritt, die kaum von Palästinensern besiedelt sind. Siehe etwa Caroline Landsmannn: How Israeli Right-wing Thinkers Envision the Annexation of the West Bank. In: Haaretz, 18.8.2018, https:// www.haaretz.com/israel-news/.premium.MAGAZINE-how-israeli-right-wing-thinkersenvision-the-west-bank-s-annexation-1.6387108 (zuletzt abgerufen: 18.12.2019). 50 Trump selbst bezeichnete die Initiative als Jahrhundertplan. Der offizielle Titel ist „Peace to Prosperity“, siehe: https://www.whitehouse.gov/peacetoprosperity/ (zuletzt abgerufen: 18.6.2020). 48 49
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treter der israelischen Rechten propagierten daraufhin, solch eine Annexion auch ohne die anderen Teile des Plans, wie die Anerkennung eines Palästinenserstaates, auszuführen. Unabhängig davon, ob diese tatsächlich durchgeführt werden, hat der Trump Plan bereits zu einer weiteren Diskursverschiebung beigetragen. Während die meisten Liberalen trotzdem weiterhin an der Zweistaatenlösung festhalten, sehen andere die Besiedlung des Westjordanlandes als unumkehrbar an und denken darüber nach, wie die dortige arabische Bevölkerung in einen gemeinsamen Staat integriert werden könnte. Hier gibt es neben der Forderung nach einem „Staat aller seiner Bürger“ – ein Schlagwort der israelischen Debatte, das Vorstellungen beschreibt, die auf ein vornehmlich politisch konstituiertes Gemeinwesen abzielen – durchaus Überlegungen, die die ethnonationalen Bedürfnisse beider Seiten berücksichtigen. Neben binationalen Vorschlägen, die von einer Union zweier gleichberechtigter nationaler Gemeinschaften ausgehen, gibt es auch Ideen für Konföderationsmodelle, die oftmals für die regionale Einbindung über die Grenzen Israel/Palästinas hinweg eintreten. Ein weiterer Vorschlag spricht von zwei „parallelen“ Staaten, die sich jeweils über das gesamte Territorium erstrecken. In diesem Falle wäre Souveränität nicht in erster Linie territorial definiert, sondern über die jeweilige Staatsbürgerschaft. Einige der zentralen staatlichen Aufgaben würden die beiden Gemeinwesen zusammen bestreiten.51 Gemeinsam ist allen diesen Modellen, dass sie versuchen, demokratische und liberale Grundsätze wie staatsbürgerliche Gleichheit und Individualrechte mit Kollektivrechten zu vereinbaren.52
Religion: Herausforderung und Chance Der Konflikt um die Palästinensergebiete weist darüber hinaus auf eine weitere Komponente des jüdischen Nationalismus hin, der sich liberale Kräfte stellen müssen. Denn neben dem Ziel, eine sichere Zufluchtsstätte zu schaffen, war der Zionismus trotz seines in frühen Jahren eher ambivalenten Verhältnisses zu religiösen Traditionen, immer fest mit diesen verbunden. Weite Teile der frühen zionistischen Bewegung versuchten, religiöse Vorstellungen zu säkularisieren und religiöse Au51 52
Mossberg, One Land, S. 39–45. Eine Diskussion verschiedener Modelle findet sich beispielsweise in: Ehrenberg/Peled, Israel and Palestine.
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torität innerhalb des Gemeinwesens auf rituelle Fragen zu begrenzen. Doch wurde bald klar, dass eine eindeutige Trennung zwischen säkularen und religiösen Fragen nicht einzuhalten ist, etwa bei der für den Staat so dringlichen Frage, wer Jude ist und damit ein Recht auf Einwanderung und Staatsbürgerschaft hat. Auch einigte man sich mit den orthodoxen Parteien früh darauf, bestimmte aus der Religion abgeleitete Anforderungen jener an den jüdischen Staat gesetzlich festzuschreiben. So übernahm man beispielsweise seit der osmanischen Zeit bestehende Regelungen personenstandsrechtlicher Fragen, die weiterhin entsprechenden christlichen, muslimischen oder jüdisch-orthodoxen Gerichtshöfen unterstehen. Die Zivilehe etwa, gibt es nicht. Neben der evidenten Einschränkung von Individualrechten beeinflusst dies insbesondere die Gleichstellung der Geschlechter. Tatsächlich wirken sich sowohl der anhaltende militärische Konflikt als auch religiöse und traditionelle Vorstellungen in den jüdischen und arabischen Gesellschaften Israels negativ auf eine Gleichstellung der Frau aus. Zwar gestand die zionistische Bewegung Frauen von Anfang an politische Partizipation zu, doch sorgten ein tief verankertes traditionelles Frauenbild und das maskuline Ethos einer stark militarisierten Gesellschaft lange Zeit für deren Marginalisierung im öffentlichen Leben.53 Im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen des Sechstagekrieges gewann die jüdische Orthodoxie an politischer Stärke und Schlagkraft. Die religiös-zionistische Bewegung, die bis dato eine moderate politische Kraft gewesen war, geriet unter den Einfluss eines aggressiven messianischen Nationalismus. Neben ihrem geopolitischen Engagement in Westjordanland und Gazastreifen bemühten sich national-religiöse Kräfte nun auch immer stärker darum, ihre religiösen Vorstellungen in der israelischen Gesellschaft zu verankern. Schließlich fing auch die Ultraorthodoxie, die sich seit den 1950ern auf den Aufbau ihrer eigenen Separatinstitutionen konzentriert hatte, Ende der 1970er Jahre damit an, sich politisch stärker einzubringen. Während David BenGurion zu Zeiten der Staatsgründung noch davon ausgegangen war, dass die Orthodoxie bald ein Phänomen der Vergangenheit darstellen würde, debattieren säkulare Israelis heute unter dem Neologismus der „hadata“ (Religionisierung) den steigenden Einfluss orthodoxer Akteure und Lebensweisen auf ihre Gesellschaft.54 Wie in vielen Ländern des Nahen Ostens, sind darüber hinaus in Israel reaktionäre und fundamentalistische Gruppen seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts im Aufwind. Einführend zu dieser Thematik: Herzog, Women in Israeli Society. Zu diesen Diskussionen siehe Peled/Peled, Religionization of Israeli Society.
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Auch in anderen Aspekten der Frage von Religion und Öffentlichkeit hat Israel mehr mit seinen Nachbarn gemein, als die geopolitischen Spannungen vermuten lassen.55 Ein nicht geringer Prozentsatz der jüdischen Bevölkerung stammen von Einwanderern aus Nordafrika und dem Nahen Osten ab. Diese Einwanderer nahmen nicht die säkularistischen Ansätze europäischer Zionisten auf, sondern bewahrten sich eine stärkere Anbindung an religiöse Traditionen (wenn auch nicht unbedingt in der Form der strengen Auslegung der jüdischen Orthodoxie). Dazu kommen die christlichen und muslimischen Israelis, in deren Leben religiöse Bindungen nicht selten eine wichtige Rolle spielen, die nur schwerlich auf den privaten Raum beschränkt werden kann. Schließlich wird das Verhältnis von Staat und Religion weiterhin stark von osmanischen Regelungen beeinflusst, die die britische Mandatszeit überlebten und 1948 vom jüdischen Staat übernommen wurden.56 Eine völlige Entkoppelung von Religion und Staat ist damit im israelischen Falle höchst unwahrscheinlich. Daher ist es für liberale Kräfte unabdingbar, keinen einfachen Gegensatz zwischen progressivem Säkularismus und religiöser Rückschrittlichkeit zu konstruieren. In diesem Zusammenhang gilt es außerdem ein schweres Erbe im Blick zu behalten. Denn die in der Regel aus Europa stammende Elite der frühen Staatsjahre ging alles andere als rühmlich mit den jüdischen Einwanderern aus Nordafrika und dem Nahen Osten um, die man mit teilweise harschen Mitteln auf die als fortschrittlicher angesehene westliche Zivilisation „anheben“ wollte, wozu auch die Unterdrückung der von jenen gelebten religiösen Traditionen gehörte. Die Diskriminierung der orientalischen Juden im Namen zivilisatorischer Aufklärung verdeutlicht auf drastische Weise die Gefahr, Israel als liberalen Außenposten in einer ansonsten als rückständig betrachteten Region oder als „Villa im Dschungel“, wie es der damals als Verteidigungsminister amtierende Ehud Barak 2012 ausdrückte, anzusehen.57 Die Verschränkung zwischen Staat und Religion, die ein Projekt der Bar-Ilan Universität anhand verschiedener Faktoren zu bestimmen versucht, ist zwar in Israel nicht ganz so hoch wie in seinen Nachbarstaaten, jedoch übersteigt sie die der europäischen Länder. Siehe dazu Mahla, Israel als jüdischer Staat. 56 Zur Frage der kulturellen Einbindung Israels in den Nahen Osten, siehe Becke: Israel als nahöstlicher Staat. 57 Sar Ha-Bitachon: Anachnu „Villa Be-G`ungel“. In: Arutz 7, 10.9.2012, https://www.inn. co.il/News/News.aspx/243960 (zuletzt abgerufen: 10.12.19). 55
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Gleichzeitig liegt in der geopolitischen Mittelstellung zwischen Europa und dem Nahen Osten auch eine Chance, da hier kulturelle Einflüsse aus beiden Regionen in besonderer Intensität aufeinandertreffen. Zionistische Intellektuelle sahen sich bereits früh dazu gezwungen, liberale Ansätze mit religiösen und traditionellen Haltungen zu versöhnen, wie etwa einige der Mitglieder des bereits erwähnten Brit Schalom. Anhänger der religiös-zionistischen Kibbuzbewegung leiteten Ideen sozialer Gleichstellung aus der hebräischen Bibel ab. Einflussreiche religiöse Denker, wie der aus Großbritannien eingewanderte zweite aschkenasische Oberrabbiner Isaak Halevy Herzog, suchten nach Wegen, die Anforderungen des jüdischen Religionsgesetzes an ein jüdisches Gemeinwesen mit demokratischen Normen und Individualrechten zu versöhnen.58 Nach 1967 setzten sich religiöse Gegner der Siedlerbewegung kritisch mit deren metaphysischer Überhöhung von Territorialfragen auseinander und entwickelten eigene Ansätze, die sich auf Grundsätze von Pluralismus und Toleranz beriefen.59 Amerikanische Einwanderer wiederum, deren liberale Vorstellungen nicht selten ihren Umgang mit religiösen Traditionen beeinflussen, bringen hier eine weitere wichtige Komponente in die Debatte ein. Nicht selten sind es heute religiöse Israelis (oftmals mit anglo-amerikanischem Hintergrund), die sich gegen das patriarchalische Strukturen begünstigende religiöse Establishment wenden und die Diskriminierung von Frauen bekämpfen.60 Schließlich haben auch säkulare Israelis damit begonnen, sich über Einrichtungen wie etwa dezidiert säkulare Yeschiwot (Lehrhäuser) den „jüdischen Bücherschrank“ zu erschließen, ohne damit eine Annäherung an religiöse Lebensweisen zu verbinden. Dabei beinhaltet das Judentum eine Vielfalt an universalistischen Traditionen, wie die der hebräischen Propheten, welche liberale Ansätze durchaus bereichern können. Weiterhin gibt es Bestrebungen, Ansätze aus der traditionellen jüdischen Gesetzgebung im modernen israelischen Zivilrecht zu verankern, etwa wenn Lücken im existierenden Vertrags- oder Strafrecht auftauchen. Hierbei geht es keineswegs um die Eta Zu diesen Anstrengungen siehe: Kaye, Invention of Jewish Theocracy. Z. B. die religiös-zionistische Organisation Oz VeShalom. Für deren Selbstbeschreibung siehe http://ozveshalom.org.il/blog/about-us/ (zuletzt abgerufen: 16.12.2019). 60 So sind es oftmals religiöse Akteure, die sich gegen den großen Einfluss des Oberrabbinats in Israel auflehnen und beispielsweise mittels alternativer Eheschließungen die offiziellen Stellen übergehen oder mittels moderner Zusätze die diskriminierenden Aspekte traditioneller jüdischer Eheverträge außer Kraft zu setzen. Siehe Ferziger, Religion for the Secular. 58 59
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blierung theokratischer Strukturen, wie vielleicht vermutet werden könnte. Einer der Initiatoren dieser Bewegung war der in Düsseldorf geborene und 1935 nach Palästina emigrierte Rechtswissenschaftler und orthodoxe Rabbiner Menachem Elon, der u. a. als Richter am Obersten Gerichtshof diente und in seiner Rechtsprechung einen liberalen Humanismus verfocht, den er oft auf jüdische Quellen zurückzuführen suchte.61 In diesem Sinne wäre auch die Integration weiterer religiöser Traditionen vorstellbar, die sich auf das multikulturelle Erbe des Staates beziehen und gerade in Fragen, die die israelische Gesamtbevölkerung betreffen, aktiviert werde könnten, wie es der Rechtswissenschaftler Sanford Levinson vorgeschlagen hat.62 ***** In Israel werden die in diesem Artikel beschriebenen Spannungen unter dem Schlagwort des „jüdischen und demokratischen Staates“ in den letzten Jahren kontrovers diskutiert. Während die meisten jüdischen Israelis überzeugt davon sind, dass ihr Staat beide Wertsysteme vereinen sollte, besteht keinerlei Einigkeit darüber, wie dies konkret zu gestalten sei. Unterdessen wird auf wissenschaftlicher Ebene darüber debattiert, inwiefern der ethnonationale Charakter Israels die demokratische Ausrichtung des Gemeinwesens einschränkt. Auf der einen Seite gibt es Stimmen, die Israel als Ethnokratie definieren, womit ein Staat gemeint ist, der einer bestimmten ethnischen Gruppe eine klare Vormachstellung einräumt, was nicht mit demokratischen Prinzipien in Einklang zu bringen sei. Andere bezweifeln den demokratischen Charakter des Staates nicht grundsätzlich, sehen diesen aber eingeschränkter als in westlich-liberal geprägten Staaten und bringen dies durch das Label der „ethnischen Demokratie“ zum Ausdruck. Wieder andere gestehen zwar zu, dass es zu Einschränkungen vor allem der Kollektivrechte nichtjüdischer Minderheiten und insbesondere der arabischen Bürger kommt, sehen dies allerdings als einen grundsätzlichen Konflikt demokratisch verfasster Staaten an und argumentieren, dass Israel damit von westlichen Modellen nicht wesentlich abweicht. In der Tat beinhalten auch andere Demokratien starke ethnonationale Elemente.63 Siehe etwa Elon, Jewish Law. Levinson, Multicultural Jewish State, S. 514–518. 63 Eine kurze Zusammenfassung dieser Debatten findet sich in: Ben-Raphael, Handbook of Israel, S. 639–774. 61 62
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Unabhängig davon, wie man solche Argumente beurteilt, so zeigt bereits der hier vorgenommene kursorische Blick auf die Geschichte des Zionismus und des Staates Israel, dass der jüdische Nationalismus keine monolithische Bewegung ist, sondern in seinen unterschiedlichen Facetten eine weite Bandbreite an Ideen und Konzepten für verschiedenste Formen jüdisch-nationaler Selbstverwaltung entwickelt hat. Während in den frühen Jahren die Form solch einer Autonomie noch offen war, dominierte die Idee eines jüdischen Staates in den späten 1930er und 1940er Jahren immer stärker und wurde schließlich 1948 umgesetzt. Doch auch wenn nun Zwischentöne alternativer Nationsvorstellungen leiser wurden, so verschwanden sie nicht ganz. Die geopolitischen Veränderungen von 1967 ließen in vielerlei Hinsicht diese Debatten wieder brisanter werden. Bis auf den heutigen Tag sind viele grundlegende Fragen, wie etwa die nach den endgültigen geographischen Grenzen Israels, ungeklärt, was die Diskussionen um den Charakter des Staates umso erbitterter gestaltet. Während die israelische Rechte fest im Sattel sitzt, stehen sich unter Liberalen und Linken die Verfechter der Zweistaatenlösung und Anhänger anderer staatspolitischer Ansätze oftmals unversöhnlich gegenüber. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte legt nahe, dass gleich welche Staatsform sich durchsetzt, liberale Werte langfristig nur über die Beilegung des Konfliktes mit den Palästinensern gestärkt werden können. Der große Einfluss religiöser und ethnischer Zugehörigkeiten schließlich stellt eine besondere Herausforderung dar, die progressive Kräfte dazu zwingt, das Spannungsverhältnis zwischen individuellen Freiheiten und kollektiven Zusammenhängen sowie die Rolle der Religion im öffentlichen Raum stetig von Neuem zu überdenken.64 Neben den ethnischen und demokratischen Aspekten gibt es im israelischen Nationalismus aber durchaus auch republikanische Elemente, die sich dafür anböten, eine nicht ethnisch definierte Bindung an den Staat und seine Institutionen zu betonen. Die Armee ist solch eine Institution, die z. B. die Minderheit der Drusen zur gesellschaftlichen Integration nutzt. Diese Möglichkeit verschließt sich unter den 64
Aviel Roshwald stellt in seiner Arbeit zu ethnischem Nationalismus die Rolle religiöser Symbole im öffentlichen Raum in Frankreich und Israel gegenüber. Das Verbot in bestimmten Situationen ein Kopftuch zu tragen, etwa, wäre in Israel undenkbar, da der jüdische Staat in dieser Hinsicht keine Bestrebungen hat, seine muslimische Minderheit an ein bestimmtes Wertesystem heranzuführen. In dieser Hinsicht, so argumentiert, Roshwald, ist der ethnische Nationalstaat toleranter als der staatsbürgerliche Nationalismus. Siehe Roshwald, Endurance of Nationalism, S. 273f.
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aktuellen Bedingungen der Mehrheit der arabischen Bevölkerung, die nicht im IDF (Israel Defense Forces, israelische Verteidigungskräfte) dienen. Auch Ultraorthodoxe meiden weitgehend den Dienst an der Waffe, eine Praxis die politisch und rechtlich umstritten ist, da sie auf einer rechtlich eher fragwürdigen Vereinbarung zwischen David Ben-Gurion und den damaligen Führern der Ultraorthodoxie zurückgeht. Doch könnte die Einführung eines Zivildienstes, den es bereits für national-religiöse Frauen gibt, nicht nur helfen, gezielt die sozialen Strukturen dieser beiden ökonomisch schwachen Gruppen zu verbessern, sondern würde sich auch für die Ausbildung eines republikanischen Ethos anbieten. Eine weitere Institution, die bereits heute eine hohe Integrationskraft ausübt, ist der Oberste Gerichtshof, der nicht nur zur Stärkung staatsbürgerlicher Rechte, sondern zur Identifikation der nicht-jüdischen Einwohner mit dem Gemeinwesen beiträgt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade dieser in den letzten Jahren ins Fadenkreuz rechtspopulistischer Kräfte geraten ist. Schließlich bietet auch das diasporische Element jüdischer Vergemeinschaftung wichtige Ansatzpunkte. Gerade weil jüdische Gemeinden sich in vielerlei kulturellen und staatlichen Kontexten befinden, waren Zionisten immer gezwungen, sich mit der Frage von Minderheitsrechten auseinanderzusetzen. Verfechter des Kulturzionismus, wie der polnisch-amerikanische Philosoph Simon Radowicz, zeigten sich davon überzeugt, dass der Staat Israel nur im Zusammenspiel mit einer starken Diaspora einen positiven Nationalismus entwickeln könne, da diese die Staatslenker beständig verpflichte, den Umgang mit den eigenen Minderheiten zu überdenken.65 Darüber hinaus bringen Einwanderer aus Staaten mit starken liberalen Traditionen, wie etwa die amerikanischen Juden, oftmals diese Vorstellungen in die israelische Gesellschaft mit ein. Gerade vor dem Hintergrund von Jahrhunderten jüdischer Ausgrenzung und Verfolgung ist das emanzipatorische Moment jüdischer Nationalbestrebungen kaum zu leugnen. Der Holocaust und anhaltender Antisemitismus verdeutlichen darüber hinaus die existenzielle Fragilität jüdischen Lebens weltweit, dessen Schutz viele nur über eigene nationale Strukturen gewahrt sehen. Diese Bedürfnisse mit universalistischen Werten in Einklang zu bringen, bleibt weiterhin ein Kernproblem liberalen Denkens in Israel. Doch stehen liberale Zionisten nicht alleine vor solch einer Herausforderung. Die überwiegende Mehrheit heute existierender Na65
Zu Radowicz siehe Myers, Between Jew and Arab.
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tionalstaaten stellen keine reine Form dar, sondern verbinden ethnisch-kulturelle und politische Elemente in unterschiedlicher Weise zur Begründung ihres nationalen Zusammenhalts. In diesem Sinne können liberale jüdische Nationalisten, gleich ob sie für einen Nationalstaat, für binationale oder konföderale Modelle eintreten, danach streben, die eigene nationale Selbstbestimmung unter möglichst geringer Beschneidung der Rechte nicht-jüdischer Einwohner zu verwirklichen und darüber hinaus positive Visionen für das Zusammenleben verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen entwickeln.
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Nationalismus als Ideologie ethnischer Identifikation. Peripherer Nationalismus und Nationale Befreiungsbewegungen in Spanien Thorsten Mense Katalonien im Oktober 2019. Hunderttausende Menschen demonstrieren auf den Straßen Barcelonas, brennende Barrikaden verdunkeln den Himmel über der Stadt. Ein Generalstreik legt das öffentliche Leben lahm, in der ganzen Region gibt es blockierte Zugstrecken und Autobahnen. Barcelona, La Rosa de Foc (Feuerrose), das europäische Zentrum der anarchistischen Rebellionen im Übergang zum 20. Jahrhundert, die Welthauptstadt der Barrikadenschlachten, wie Friedrich Engels im Jahr 1873 die katalanische Hauptstadt umschrieb, hatte wieder Feuer gefangen. Diesmal war es aber nicht die anarchistische Arbeiterbewegung, die den spanischen Staat in Bedrängnis brachte, sondern der katalanische Nationalismus. Auslöser der Massenproteste waren die Urteile des Obersten Gerichtshofes in Madrid gegen neun katalanische Politiker:innen und Funktionäre der Unabhängigkeitsbewegung, die wegen des Unabhängigkeitsreferendums im Oktober 2017 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Der Konflikt zwischen der katalanischen Peripherie1 und dem Spanischen Zentrum hatte sich im Rahmen der Finanzkrise, die Spanien ab 2007/2008 erschütterte und zu einer tiefgreifenden sozialen wie politischen Krise geführt hatte, nochmals
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Peripherer Nationalismus (nacionalismo periférico) ist der in der spanischen wissenschaftlichen Literatur gängige Begriff zur Beschreibung der regionalen nationalistischen Bewegungen in Abgrenzung zum spanischen Zentralstaat und seinem offiziellen Nationalismus.
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enorm verschärft. In der Folge wandte sich der bisher moderate, bürgerliche-konservative Teil des katalanischen Nationalismus dem – bislang hauptsächlich von linken Parteien und der außerparlamentarischen Opposition getragenen – Separatismus zu und verschaffte so der Forderung nach einem unabhängigen katalanischen Staat eine (wenn auch sehr knappe) Mehrheit. Um dieser Forderung symbolische Legitimation zu verschaffen, führte die Regionalregierung im Oktober 2017 ein Referendum durch. Der spanische Zentralstaat hatte dies bereits vorab, unter Berufung auf die in der Verfassung festgeschriebene „unauflösliche Einheit der spanischen Nation“, für illegal erklärt und antwortete mit harter Repression. Im Anschluss flüchtete der damalige katalanische Ministerpräsident Charles Puigdemont ins belgische Exil, jedoch nicht, ohne vorher noch die Unabhängigkeit Kataloniens auszurufen. Noch am gleichen Tag setzte der damalige spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy von der nationalkonservativen Volkspartei Partido Popular die Autonomie Kataloniens aus, löste das Regionalparlament auf und ließ mehrere katalanische Regierungsmitglieder wegen „Aufruhr“ und „Ungehorsam“ verhaften. Außerhalb Spaniens gingen die Einschätzungen der Ereignisse in Katalonien weit auseinander. Die einen warnten vor einem Erstarken des Nationalismus und einem Rückfall in die „Kleinstaaterei“, und sahen (in Verbindung mit den schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen) die europäische Einheit in Gefahr.2 Andere wiederum entdeckten in der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung eine Bewegung für die Demokratisierung Spaniens, und in der Folge auch Europas, oder machten in ihr gar den Beginn einer sozialen Revolution aus.3 Der katalanisch-spanische Konflikt zeigt, dass Nationalismus auch in Form politischer Bewegungen keineswegs der Vergangenheit angehört, sondern weiterhin ein enormes Mobilisierungsund Konfliktpotenzial auch innerhalb relativ stabiler Nationalstaaten besitzt. Und er veranschaulicht die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit des Phänomens: Während „Nationalismus“ in Deutschland eine Kategorie zur Bestimmung rechtsWobei die Bewegungen in Schottland und Katalonien stets deutlich gemacht haben, dass sie die Idee der Europäischen Union nicht ablehnen, sondern vielmehr als eigenständige Mitgliedsstaaten anerkannt werden wollen. 3 So bezeichnete Detlef Gürtler in der Wochenzeitung Der Freitag die erstarkenden peripheren Nationalismen in Europa als Vorboten einer möglichen „demokratischen Revolution“ mit der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung an der Spitze, die zu einem dezentralisierten „Europa der Regionen“ führen könne. Vgl. Gürtler, Europa. 2
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extremer Einstellungen ist4, dient „nationalistisch“ in Katalonien als linke Selbstbeschreibung. Von außen betrachtet erscheint die dortige Situation durchaus paradox: Hausbesetzer:innen propagieren einen kulturellen Konservatismus, Linksradikale führen Volkstänze auf, und antirassistische Gruppen fordern die Einheit von Sprache, Kultur und Territorium in einem Staat. Eine ähnliche Situation findet man im nordspanischen Baskenland vor, auch wenn der Konflikt dort, im einstigen Zentrum militanter Auseinandersetzungen um die ‚nationale Frage‘ in Spanien, sich seit einigen Jahren beruhigt hat. Die scheinbare Widersprüchlichkeit verweist auf ein grundlegendes Charakteristikum des Nationalismus, das zugleich elementar für ein Verständnis des Phänomens ist: Nationalismus ist weder rechts noch links. Er wurde in seiner jungen, gerade mal 200-jährigen Geschichte klassen- und strömungsübergreifend in den verschiedensten Situationen und aus unterschiedlichsten Motiven heraus, zugleich als Welterklärungsansatz und Mobilisierungsinstrument benutzt. Nationalismus führte sowohl zur Befreiung als auch zu Massenmord, zur kollektiven Einforderung gleicher Rechte als auch zur Verweigerung derselben Rechte gegenüber anderen Kollektiven. Nicht selten vereinte er all diese Aspekte an Ort und Stelle.5 So lässt sich trotz seiner historischen Massengräber und der ihm immanenten Gewalttätigkeit nicht bestreiten, dass zugleich „alle Modernisierung, Emanzipation und Demokratisierung während der letzten zwei Jahrhunderte sich in den Bahnen des Nationalismus vollzogen hat“6. Die unzähligen Varianten, in denen er historisch in Erscheinung getreten ist, haben sich in den Politikwissenschaften in zahlreichen Unterscheidungen und Typologien niedergeschlagen: völkisch, ethnisch, kulturell, republikanisch, offiziell, oppositionell, integral, usw.7 Die in der Forschung allgemein anerkannte Ambivalenz des Nationalismus führte zu der Betonung, dass es den Nationalismus nicht gebe, sondern unzählige Nationalismen. Dies ist insofern richtig, als Nationen und Nationalismen gesellschaftliche Phänomene einer spezifischen historischen Situation sind, die in ihrer konkreten Erscheinungsform untersucht werden müssen. Doch die Ambivalenz des Nationalismus besteht nicht in erster Linie in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen, 6 7 4 5
Vgl. Stöss, Rechtsextremismus in Deutschland. Vgl. Mense, Kritik des Nationalismus. Kröll, Zauber des Nationalen, S. 163. Vgl. Alter, Nationalismus; Meyer, Definitionen von Nationalismus.
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sondern jede dieser Formen ist in sich ambivalent. Demokratisierung und Aggression, Integration und Ausgrenzung gingen von Beginn an einher. Die Gleichzeitigkeit von Emanzipation und Regression ist notwendige Eigenschaft und grundlegendes Charakteristikum eines jeden Nationalismus. Statt also der Typologie eine weitere Bindestrich-Variante hinzuzufügen, „müßte es Aufgabe einer Theorie des Nationalismus sein, beide Pole des Dilemmas zu umspannen“8, forderte der Nationalismusforscher Tom Nairn bereits in den 70er Jahren. Eine solche Kritische Theorie des Nationalismus soll im Folgenden, anhand einer Falluntersuchung der linken Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien und Baskenland, umrissen werden.9
Die Hegemonie des Nationalen Während des Auflösungsprozesses der Sowjetunion und der nationalstaatlichen Rekonstitution des Ostblocks zu Beginn der 1990er Jahre, insbesondere unter dem Eindruck des Zerfalls Jugoslawiens und den darauf folgenden äußerst gewalttätigen Prozessen des nation building entlang ethnischer Grenzziehungen, hatte sich die Rede von der Rückkehr oder Renaissance des Nationalismus durchgesetzt. Das Phänomen des Nationalismus galt als überholt, veraltet und nicht der globalisierten Welt und den gesellschaftlichen Verhältnissen zu Ende des 20. Jahrhunderts entsprechend. Auch in den jüngsten Konjunkturen des Nationalismus – beim Brexit, in Donald Trumps America First-Politik oder in der zeitweiligen Wiedereinführung innereuropäischer Grenzkontrollen zur Flüchtlingsabwehr – wurde oft das Narrativ seiner Wiederkehr bemüht. Entgegen dieser Vorstellung von einer aufgeklärten Weltgesellschaft, in der Nationalismus längst überwunden sei und nur noch in Extremsituationen als historische Ausnahme in Erscheinung tritt, ist jedoch festzustellen: Das Nationale ist das grundlegende Ordnungsprinzip des 21. Jahrhunderts. Es ist in den globalen politischen und wirtschaftlichen Strukturen ebenso bestimmend wie in den Bewusstseinsformen, und gehört auch heute noch „zu den machtvollsten Quellen kollektiver Identität“.10 Nairn, Moderner Janus, S. 10. Dieser Beitrag baut auf der Dissertation des Verfassers auf, die im Jahr 2016 veröffentlicht wurde: Mense, Nationalismus als Ideologie. 10 Eickelpasch/Rademacher, Identität, S. 68. 8 9
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Die Vorstellung einer Welt aus Völkern und Nationen prägt die Wahrnehmung der Menschen ebenso wie die Institutionen moderner Staatlichkeit.11 Menschen werden nicht als Individuen beurteilt, katalogisiert, diskriminiert oder mit Rechten versehen, sondern vorrangig als Mitglied ihrer Nation und Angehörige einer spezifischen Kultur. Die ungebrochene Wirkungsmacht des Nationalismus zeigte sich nicht zuletzt 1989 am Ende des short century (Eric Hobsbawm). Einerseits wurde das durch den Zusammenbruch des Sowjetblocks entstandene legitimatorische Vakuum durchweg nationalistisch gefüllt. Andererseits wurde dieses ‚nationale Erwachen‘ als Rückkehr zur Norm gewertet, als Ende des sowjetischen ‚Völkergefängnisses‘.12 An dieser Wortschöpfung zeigt sich anschaulich, wie wenig sich die nationale Denkform in den letzten zwei Jahrhunderten in ihren Grundzügen verändert hat. Bereits während der Auflösung der west- und mitteleuropäischen Dynastien im 19. Jahrhundert unter dem Banner der nationalen Selbstbestimmung galt die von außen aufgezwungene Einheit und damit verbundene vermeintliche Unterdrückung der Völker in einem ‚Völkergefängnis‘ als Konfliktursache. Die Geschichte schien sich am Ende des 20. Jahrhunderts in Europa zu wiederholen – jedoch nur scheinbar, denn die Ausgangsbedingungen und Ursachen waren gänzlich anderer Natur. Die gesellschaftliche Verarbeitung der Umbrüche hingegen fand in alten Kategorien statt. Das nationale Prinzip hat seit seinem Aufkommen vor gerade mal etwas über 200 Jahren alle gesellschaftlichen Umbrüche, Revolutionen und Kriege maßgeblich bestimmt, und zugleich als Grundkonstante alle grundlegenden globalen Transformationen des Sozialen überdauert. Offenbar haben weder die Millionen Tote der beiden Weltkriege, die brutale Erfahrung des Nationalsozialismus noch die wissenschaftliche Dekonstruktion der nationalen Mythen der Hegemonie des Nationalen etwas anhaben können. Nationalismus scheint aufklärungsresistent zu sein. Die Attraktivität des nationalen Prinzips ist zudem klassenübergreifend, die Arbeiter:innen haben auf Schlachtfeldern, in Pogromen und an der Wahlurne oft genug bewiesen, dass sie eben doch glauben, ein Vaterland zu haben – und zeigten so die Schwachstellen der klassischen marxistischen Theorie auf, die der Arbeiter:innenklasse nationales Bewusstsein absprach. Auch die zunehmende Globalisierung in Form von internationalen Warenströmen, kulturellem Austausch und globaler Kooperation konnte der nationalen Vgl. Calhoun, Nationalism, S. 9ff. Vgl. Claussen, Verschwinden des Sozialismus.
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Weltordnung wenig anhaben: Obwohl die Möglichkeiten grenzüberschreitender Kommunikation und transnationaler sozialer Beziehungen noch nie so groß waren wie heute, ging diese Zunahme Globaler Gleichzeitigkeit (Detlev Claussen) nicht mit einem Abbau nationaler Identifikation und national begrenzter Wahrnehmung einher. Besonders anschaulich war dies in der COVID-19-Pandemie zu beobachten: Nicht nur das Coronavirus selbst zeigte durch seine rasante Ausbreitung über den Globus, wie eng die Weltregionen und jeder einzelne Mensch in ihnen miteinander verbunden sind. Die Pandemie erschuf zudem eine weltweite kollektive Erfahrung, die es so zuvor noch nicht gegeben hatte. In der Menschheitsgeschichte gab es kaum ein Ereignis, von dem so umfassend fast alle Regionen und Gesellschaften der Welt gleichzeitig betroffen waren. Und doch waren die Reaktionen auf die Pandemie von kulturellen Erklärungsmustern, ethnisierten Schuldzuweisungen und Anrufungen der nationalen Solidarität bestimmt.13 Das Gleiche lässt sich für staatliche Praktiken feststellen. Die These vom Bedeutungsverlust des Nationalstaates angesichts fortschreitender Globalisierung wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts gleich mehrfach auf eindrucksvolle Weise widerlegt: In der globalen Finanzkrise seit 2008, in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ in Europa seit 2015 und eben jüngst bei der Pandemie-Bekämpfung anlässlich des globalen Ausbruchs des Coronavirus SARSCoV-2. Auf all diese durchweg globalen Probleme hatten die Regierungen durchweg bloß nationale Antworten parat. Ein Blick in die Nachrichten verbannt täglich aufs Neue die Idee einer kosmopolitischen Weltgemeinschaft ins Reich der Utopie. „Warum aber gerade die Nation, ein historisch gesehen junges und veränderliches Produkt gesellschaftlicher Entwicklung, von den meisten Menschen als eine natürliche und alternativlose Ordnungskategorie empfunden wird, ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage, die dem theoretischen Denken schmerzhaft die Grenzen der Aufklärung bewusst machen kann.“14
Als Beitrag zur Klärung dieser von Detlev Claussen aufgeworfenen Frage wird im Folgenden das Verhältnis von Befreiung und Regression, von Solidarität und Ausgrenzung im Nationalismus in den Blick genommen. Denn Nationalismus und der Wunsch nach Befreiung sind eng miteinander verknüpft: In der französischen und 13 14
Ausführlich hierzu Bieber, Pandemic Nationalism. Claussen, Aspekte der Alltagsreligion, S. 179.
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nordamerikanischen Revolution, den Ursprungsorten des modernen Nationalismus, bestand die Idee der Nation in der demokratischen Transformation der Gesellschaft. Es ging darum, Untertanen unabhängig von Herkunft und Stand zu gleichen und freien Subjekten zu machen, die sich im freiwilligen Zusammenschluss eine rationale politische Ordnung geben. Der zweite Nationalstaat auf dem amerikanischem Kontinent, Haiti, ging Anfang des 19. Jahrhunderts aus einem Aufstand schwarzer Sklaven und Sklavinnen hervor und war das Produkt einer sozialen Revolution gegen die französische Kolonialherrschaft. Und selbst die deutsch-nationale Bewegung im 19. Jahrhundert, die als Musterbeispiel eines völkischen Nationalismus gilt, vertrat nach eigener Ansicht nach einen Befreiungsnationalismus, der gegen die französische (und vermeintlich „jüdische“) Fremdherrschaft gerichtet war15. Jeder Nationalismus generiert sich aus dem Gefühl heraus, unterdrückt zu werden, weshalb der ausgerufene Kampf um Befreiung erstmal nichts über den emanzipatorischen Charakter solch einer Bewegung aussagt. Die folgende Untersuchung des peripheren Befreiungsnationalismus in Spanien nimmt diese Ambivalenz und Widersprüchlichkeit von Befreiung und Nationalismus in den Blick, um seiner ungebrochenen Bedeutung im 21. Jahrhundert auf die Spur kommen.
Kritische Theorie des Nationalismus Die theoretische Grundlage der hier vorgenommenen Untersuchung ist die kritische Nationalismusforschung, die mit neueren ideologiekritischen Ansätzen zusammengeführt wird. Die kritischen Nationalismustheorien entstanden in den 1980er Jahren in Abgrenzung zu dem bisher vorherrschenden essentialistischen Nationenverständnis. Zu den bekanntesten Autoren jener Generation zählen u. a. Benedict Anderson, Eric Hobsbawm und Ernest Gellner. Ihre Werke – Die Erfindung der Nation (Anderson, 1988), Nationen und Nationalismus (Hobsbawm, 1991) sowie Nationalismus und Moderne (Gellner, 1991) – stellen bis heute die Grundlagenliteratur der Nationalismusforschung dar und besitzen angesichts der globalen Hegemonie des Nationalen weiterhin bedeutendes kritisches Potenzial. Jedoch analysieren sie Nationalismus vor allen Dingen historisch, als einen Prozess der
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Vgl. Mense, Germanomania.
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sozialen und politischen Organisation16, können aber seine fortwährende Bedeutung sowohl als Ordnungsprinzip als auch als Bewusstseinsform nicht hinreichend erklären.17 Um seiner fortdauernden Wirkmächtigkeit ebenso wie seiner Widersprüchlichkeit gerecht zu werden, um dieses moderne Phänomen verstehen und nicht nur historisch, sondern auch gesellschaftstheoretisch erklären zu können, wird Nationalismus hier aus einer ideologiekritischen Perspektive heraus betrachtet und in Verbindung mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne gesetzt.18 Dies bedeutet, die Manifestationen und Legitimationen nationalistischer Aktivitäten aufzuzeigen, um im nächsten Schritt die inhaltlichen Grundlagen sowie ihre Transformationen mit den gesellschaftlichen Bedingungen, sozialen Verfasstheiten und historischen Kontexten in Zusammenhang zu setzen, die den Nationalismus in seiner spezifischen Form hervorgebracht haben. Nationalismus und mit ihm verbunden die Idee der modernen Nation entstanden in einer Zeit tiefgreifenden Wandels und waren zugleich Teil von ihm. Durch Aufklärung und Säkularisierung, Industrialisierung und Herausbildung der modernen Arbeitsteilung – und eben auch durch die nationalen Revolutionen – wurde innerhalb weniger Generationen die gesamte soziale und politische Ordnung umgeworfen und die gesellschaftlichen Grundlagen des Denkens und Handelns neu geordnet. Die Moderne hatte begonnen. Die Revolutionen im Namen der Nation standen dabei in einem, nicht nur zeitlich engen Zusammenhang mit der Industrialisierung und der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise. Die Herausbildung von Nationen entsprang den materiellen Verhältnissen ihrer Zeit und den Umbrüchen, die sie hervorriefen. Theodor W. Adorno beschreibt die Nation als die „spezifisch bürgerliche Organisationsform“19: „Erst die Idee der Nation machte eine rationale Organisation nach dem Tauschprinzip von größeren Vgl. Breuer, Nationalismus und Faschismus, S. 21ff.; Haury, Antisemitismus, S. 43ff. Diese Schwachstelle zeigt sich unter anderem daran, dass die genannten Autoren ebenfalls von einem Bedeutungsverlust des Nationalen angesichts fortschreitender Globalisierungstendenzen ausgegangen sind. 18 In den letzten zwanzig Jahren wurden diverse erkenntnisreiche Einzelschriften veröffentlicht, in denen Nationalismus und Ethnizität mit Hilfe der Ideologiekritik untersucht wird. Siehe u. a. Fischer/Wölflingseder, Biologismus, Rassismus, Nationalismus; Demirović, Kritische Theorie; Claussen u. a., Kritik des Ethnonationalismus, Stender, Ethnische Erweckungen; sowie die Beiträge von Claussen, Werz und Stender in Institut für deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv, Ethnizität, Moderne und Enttraditionalisierung. 19 Adorno, Geschichte und Freiheit, S. 153. 16 17
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Bevölkerungskomplexen möglich“20. Darüber hinaus benötigt der Kapitalismus einen politischen Überbau, der den Rahmen für den Wettbewerb freier und gleicher Rechtssubjekte sicherstellen und ein Verlassen dieses Rahmens sanktionieren kann: den Nationalstaat. Bürgerliche Freiheit, formelle Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit – so fortschrittlich ihre Einrichtung historisch gesehen auch war – sind zugleich notwendige Bedingungen für den reibungslosen Ablauf des kapitalistischen Warentauschs. Demokratische und kapitalistische Modernisierung gingen in den nationalen Revolutionen also Hand in Hand. Die Menschen erhielten durch ihren Aufstieg zum Bürger21 den Status eines anerkannten Rechtssubjekts und traten sich im Wettbewerb nun als gleiche Vertragspartner gegenüber; auf internationaler Ebene wurde den Nationalstaaten diese Funktion zuteil. Damit wurden Nationalstaaten zu den „wichtigsten Bausteinen des Weltkapitalismus“.22 Zusammenfassend lässt sich festhalten: „Die moderne Nation ist eine notwendige Begleiterscheinung einer sich durchsetzenden bürgerlichen Gesellschaft“23, da die Nation die Form darstellt, „in der die bürgerliche Gesellschaft ihre materiellen und ideologischen Verhältnisse entwickelt“24. Zugleich stellt die Nation das „politische Korrelat“25 zur Weltmarktkonkurrenz dar: Das internationale Staatensystem ist die Rechtsbasis, der „politische Überbau einer kapitalistischen Weltwirtschaft“26, in der Nationalstaaten bis heute die einzig anerkannten Akteure im globalen Wettstreit um Ressourcen und Absatzmärkte sind. Globalisierung fand durch nationalstaatliche Vereinheitlichung statt. Somit stehen Globalisierung und Nationalismus nicht im Widerspruch zueinander, sondern bedingen sich gegenseitig.27 Die nationale Weltordnung spiegelt sich quasi im Nationalismus als gesellschaftliche Praxis und kollektive Bewusstseinsform. Wenn zum Beispiel eine Gruppe als kollektiver Akteur ihre Interessen auf der politischen Weltbühne vertreten Ebd., S. 156. Hier wird die männliche Schreibweise verwendet, da Frauen in der Anfangszeit der bürgerlichen Gesellschaft der Status als Rechtssubjekt verwehrt wurde. Erst durch die Kämpfe der Frauenbewegung wurden sie zu Bürgerinnen. 22 Hobsbawm, Bemerkungen zu Nairn, S. 47. 23 Claussen, Antisemitismus als Ideologie?, S. 180. Herv. i. Org. 24 Öner, Nation, Nationalismus, Globalisierung, S. 31. 25 Kröll, Zauber des Nationalen, S. 169. 26 Wallerstein, Konstruktion von Völkern, S. 102. 27 Vgl. Lohoff, Weltmarkt und Nationalstaat. 20 21
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will, ist sie auf die nationale Form der Organisierung angewiesen. Dies galt für das konkurrierende europäische Bürgertum als Trägerschicht der kapitalistischen Modernisierung ebenso wie für die nord- und südamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert, die Ausdruck von Verteilungskämpfen angesichts des sich ausbreitenden Welthandels waren. Auch die antikolonialen Befreiungskämpfe des 20. Jahrhunderts entsprachen, trotz ihres oft revolutionären Selbstverständnisses, dieser objektiven Notwendigkeit. Bei der Herausführung aus kolonialer Abhängigkeit ging es eben auch darum, eine Form zu finden, ohne fremde Einflüsse am globalen Wettbewerb teilnehmen zu können. Dieser Zusammenhang kann als eine Ursache dafür angesehen werden, dass sich „seit dem Zweiten Weltkrieg jede erfolgreiche Revolution in nationalen Begriffen definiert“28 hat. Eine weitere Ursache hierfür ist das Versprechen von Freiheit und Selbstbestimmung, das in der Idee der Nation steckt und auf ihre demokratischen Ursprünge verweist. Denn erst durch die nationale Zugehörigkeit werden Menschen zum Rechtssubjekt. Viele Nationale Befreiungsbewegungen hatten das Ziel, Minderheiten oder auch der Gesamtheit der Bevölkerung ihre Rechte, d. h. die Anerkennung als Teil der Nation zu erkämpfen, die ihnen bis dato verwehrt wurde. Mit dem Status als anerkanntes Mitglied einer Nation, oder bei Gruppen dem Status einer Nation an sich, ist ein exklusiver Rechtsanspruch verbunden. Diese objektive Ebene, die aus der globalen Dominanz der nationalen Form in den politischen, ökonomischen wie rechtlichen Strukturen besteht, begründet den ideologischen Charakter des Nationalismus als ‚notwendig falsches Bewusstsein‘: Die nationale Weltordnung veranlasst bzw. zwingt in gewissem Maße die Menschen, nationalistisch zu handeln und zu denken. Die Nation ist nicht bloß eine gedankliche Konstruktion oder eine Erfindung29, sondern eine „reale Fiktion“ (Detlev Claussen), die sich in der – von der Wahrnehmung unabhängigen – Existenz nationaler Institutionen und nationalstaatlicher Segmentierung materialisiert. Der Wunsch, Teil einer Nation zu sein, entspringt also nicht nur einem identitären Bedürfnis, sondern hat ganz materielle Ursachen.
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Anderson, Erfindung der Nation, S. 12. Herv. i. Orig. Dies legt z. B. die missglückte deutsche Übersetzung „Die Erfindung der Nation“ des Buches von Benedict Anderson nahe. Im Original heißt das Werk Imagined Communities, also „vorgestellte“ oder „imaginierte“ Gemeinschaften.
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Zugleich muss eine Kritische Theorie des Nationalismus auch seine verborgene Funktionalität auf der Subjektseite offenlegen und der Vermittlung ökonomischer Grundprinzipien in gesellschaftlichen Alltagspraktiken nachgehen. Kritische Theorie baut auf der von Marx formulierten Kritik der politischen Ökonomie auf, verweigert sich aber einer streng materialistischen Ableitung aller gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Ökonomie und nimmt stattdessen auch die irrationalen Momente und affektiven Handlungen mit auf.30 Sie muss versuchen, aufzuzeigen, welche Bedürfnisse und Wünsche Nationalismus befriedigt, welche Dispositionen er in Menschen anspricht und wie dies wiederum mit der Stellung des Individuums in der Moderne zusammenhängt. Als ‚politische Religion der Moderne‘ dient der Nationalismus im säkularen und rationalen Zeitalter der Sinnstiftung und Erklärung der fortwährenden Irrationalität der Verhältnisse. Er bietet, insbesondere in seiner Form als nationale Identität, Antworten auf die grundlegenden Fragen in der unbeständigen und komplexen Moderne: „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wer ist schuld?“31 Das Bedürfnis nach nationaler Identität und die ethnisierte Wahrnehmung sozialer Ungleichheit sind Ausdruck der unvollendeten Befreiung von Zwang und Unfreiheit, des nicht eingehaltenen Glücksversprechens der bürgerlichen Gesellschaft, die sich durch den Widerspruch von formaler Gleichheit und Freiheit und realer Unfreiheit und Ungleichheit auszeichnet. Nationalismus ist das Hauptinstrument für die Vermittlung der für moderne Gesellschaften charakteristischen abstrakten Herrschaft, da durch ihn partikulares als allgemeines Interesse erscheint. Unter Hinzunahme dieser sozialpsychologischen Perspektive und der Verbindung der objektiven mit der subjektiven Ebene lässt sich die anhaltende Wirkmächtigkeit des Nationalismus erklären. Nationen sind, wie Eric Hobsbawm betont, „im wesentlichen zwar von oben konstruiert, doch nicht richtig zu verstehen, wenn sie nicht von unten analysiert werden, d. h. vor dem Hintergrund der Annahmen, Hoffnungen, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Interessen der kleinen Leute, die nicht unbedingt national und noch weniger nationalistisch sind“32. Thomas Haury konkretisiert den notwendigen Zusammenhang: „Nur weil und insoweit „von unten“ ein Bedürfnis nach „nationaler Gemeinschaft“ besteht, kann „von oben“ der Appell an das „Nationalgefühl“ erfolgreich zur Behauptung und Sicherung von Herrschaft Vgl. Demirovic, Zeitkern der Wahrheit. Claussen, Aspekte der Alltagsreligion, S. 181. 32 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 21f. 30 31
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eingesetzt werden“33. Nationalismus lässt sich daher – im traditionellen Sinne der Ideologiekritik – als Ideologie beschreiben, als eine „objektive Nötigung, die in der Organisation der Gesellschaft selbst angelegt ist“34. Er verschränkt in sich das Wahre und das Falsche – Emanzipation und Unterdrückung, Fiktion und soziale Realität – und dient der Herrschaftslegitimation und Verschleierung fortwährender Unfreiheit und Ungleichheit. Nationalismus stellt eine Verarbeitung der komplexen und widersprüchlichen Moderne dar und gilt zugleich als rettende Antwort auf die schwer durchschaubaren und abstrakten Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse des globalisierten Kapitalismus. Dies bedeutet auch, dass Nationalismus nicht im Rückgriff auf überholte Konzepte besteht, sondern ganz im Gegenteil liegt die fortwährende Hegemonie des Nationalen in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Moderne begründet. Nationalismus selbst ist ein modernes Phänomen.35
Das Allgemeine im Konkreten: das Beispiel Spanien Im Folgenden werden diese historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge sowie die ideologischen Dimensionen am Beispiel der peripheren Nationalismen in Katalonien und im Baskenland, mit besonderem Fokus auf die linken Unabhängigkeitsbewegungen, nachgezeichnet. Denn viele Tendenzen und Elemente, welche bestimmend für die allgemeine Form des Nationalismus sind, lassen sich in Spanien am konkreten Beispiel aufzeigen. Dafür werden – auch in Kritik an den gängigen deskriptiven Darstellungen des Konfliktes in Spanien, die nicht selten die nationalistischen Mythen reproduzieren – die historischen wie auch aktuellen gesellschaftlichen Ursachen für den peripheren Nationalismus herausgearbeitet. Spanien kann Hobsbawm zufolge als einer der ersten Nationalstaaten Europas bezeichnet werden36, und stellt zugleich eine unvollkommene Nation dar, in dem nie eine vom Bürgertum angeleitete liberale Revolution stattgefunden hatte. Auf 35 36 33 34
Haury, Antisemitismus, S. 53. Schnädelbach, Ideologie, S. 83f. Vgl. Calhoun, Nationalism. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 27.
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grund fehlender kollektiver Erfahrung sowie der schwachen bürgerlich-liberalen Tradition ist das nation building bis heute unvollendet, was sich in den aktuellen gesellschaftlichen Bruchlinien (die politisch-kulturelle Zweiteilung der spanischen Gesellschaft in las dos Españas und der Zentrum-Peripherie-Konflikt) ausdrückt. Dieser Mangel an gesellschaftlicher Erfahrung, auf der eine kollektive nationale Identifikation hätte aufbauen können, wurde auf zwei gegensätzliche Weisen verarbeitet. Einerseits wurden der Katholizismus und die Vorstellung einer spanischen ‚Rasse‘ zu den Grundlagen der spanischen Nation erhoben. Die beiden spanischen Diktaturen (unter Miguel Primo de Rivera 1923–1930 und Francisco Franco 1939– 1978) stellten den Versuch dar, dieses Konzept mit Gewalt durchzusetzen und ein Nationalbewusstsein auf autoritäre Weise von oben durchzusetzen. Spanien kann daher (wie Italien oder Deutschland) in Anlehnung als Helmut Plessner als „verspätete Nation“ angesehen werden, in der die Probleme des nation building durch einen aggressiven und autoritären, bisweilen völkischen Nationalismus kompensiert wurden.37 In allen drei Staaten (wenn auch in durchaus unterschiedlichem Maße) fand dieser seinen extremsten Ausdruck im Faschismus. Die andere kollektive Verarbeitungsstrategie bestand in der Abwendung von der spanischen Nation und der Betonung einer partikularen ethnischen und in Folge nationalen Zugehörigkeit, wie sie in den peripheren Nationalismen in Katalonien und im Baskenland stattfand. Die divergierenden nationalen Identifikationen, das Bedürfnis nach regionaler bzw. nationaler Eigenständigkeit und die darauf aufbauenden nationalistischen Bewegungen sind also Folge des mangelhaften und unvollendeten spanischen nation building, und nicht dessen Ursache38 – wie die nationalistische Deutung gesellschaftlicher Konflikte, die oftmals auch in der wissenschaftlichen Literatur zu dem Thema ihren Ausdruck findet, nahelegt. Das Aufkommen des regionalen Nationalismus in Baskenland und Katalonien im Übergang zum 20. Jahrhundert war zugleich eine Konsequenz des industriekapitalistischen Modernisierungsprozesses.39 Der nation bulding-Prozess, wie er aus anderen (europäischen) Staaten bekannt ist (charakterisiert durch Industrialisierung, Aufkommen eines Bürgertums und sozialen Wandel) vollzog sich in Spanien in diesen
Plessner, Verspätete Nation. Vgl. Mees, Spanischer Sonderweg; Hobsbawm, Identidad. 39 Ausführlich hierzu Díez Medrano, Naciones divididas. 37 38
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beiden Regionen.40 Katalonien und das Baskenland machten sozusagen ihre eigene Industrielle Revolution, mit den dazugehörigen Folgen: Entstehung eines gehobenen Bürgertums, Herausbildung eines Proletariats und Aufkommen des Nationalismus. Beide Bewegungen können als Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen sowie die sozialen und ökonomischen Probleme angesehen werden, für die der spanische Staat keine zufriedenstellende Antwort bieten konnte. Sowohl der baskische als auch der katalanische Nationalismus stellte in seiner Anfangszeit für die unteren und mittleren Gesellschaftsschichten in den Regionen eine Reaktion auf den rasanten sozialen Wandel dar. In Katalonien war er für die Trägerschichten der Industrialisierung zugleich ein notwendiges Instrument, um den Rahmen für eine weitere Modernisierung und den Ausbau kapitalistischer Strukturen zu schaffen. Im Gegensatz dazu spielte im Baskenland das Bürgertum zu Beginn der nationalistischen Bewegung kaum eine Rolle, da es seine kapitalistischen Interessen im spanischen Staat gut vertreten sah, weshalb der Nationalismus dort vorrangig für die Bauern und die Mittelschicht als Instrument gegen die Modernisierung Verwendung fand. Der Nationalismus erfüllte also verschiedene Funktionen, die je nach sozioökonomischer Stellung und den damit verbundenen Interessen sehr variieren konnten. Mit den unterschiedlichen Interessen, die im Nationalismus ihren Ausdruck fanden, kann auch erklärt werden, warum sich die nationalistischen Bewegungen in Katalonien und im Baskenland so sehr voneinander unterschieden. Der baskische traditionelle Nationalismus, basierend auf ‚Rasse‘ und Religion, wie er maßgeblich von Sabino Arana (1865–1903) entworfen wurde, hatte sich bis zu einem gewissen Grad gegen den katalanischen progressiven Nationalismus entwickelt. Als im Jahr 1873 die Erste Republik ausgerufen wurde, unter großer Beteiligung des katalanischen liberalen Bürgertums, das später den katalanischen Nationalismus anführte, wurde diese neue Ordnung zugleich im zweiten Karlistenkrieg (1872–1876) bekämpft, der vor allem im Baskenland stattfand und hauptsächlich von denjenigen Schichten getragen wurde, die im Anschluss den baskischen Nationalismus anführten.41 Der katalanische Nationalismus entstand ebenso wie der baskische aus einer enttäuschten Hoffnung, die aber gegensätzlicher nicht hätte sein können: Die
Dies erklärt auch, warum zwar in allen siebzehn Autonomen Gemeinschaften Spaniens regionale nationalistische Bewegungen existieren, sie aber nur in Katalonien und im Baskenland zu Massenbewegungen wurden. 41 Vgl. Pérez Agote, Basque Nationalism. 40
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katalanischen Nationalisten wollten die gesellschaftliche wie ökonomische Modernisierung, die in Gesamtspanien unmöglich erschien, (vorerst) in ihrer Region durchsetzen42; die baskischen Nationalisten wollten die alte Ordnung, das „Goldene Zeitalter“, das sie in Spanien bereits verloren sahen, zumindest in ihrer Region vor dem Einfluss der Moderne beschützen. Hieran lässt sich beispielhaft die Widersprüchlichkeit und Anpassungsfähigkeit des Nationalismus, seine „synkretistische Flexibilität“43 aufzeigen. Auch aktuell sehen in Spanien sowohl konservative staatstragende als auch linke oppositionelle Bewegungen das Schwenken der Fahne ‚ihrer‘ Nation bzw. bereits die Existenz solch einer Fahne als Legitimation und Ausdruck ihrer entgegengesetzten Ziele an. Der ungebrochene Erfolg des Nationalismus liegt in dieser Fähigkeit begründet, in ganz verschiedenen Situationen für Menschen unterschiedlicher Schichten als Projektionsfläche ihrer Bedürfnisse, Hoffnungen und Ängste sowie als Ausdruck ihrer partikularen Interessen dienen zu können. Selbst innerhalb einer Nation können die Anliegen komplett gegensätzlicher Natur sein, werden jedoch als ein und dasselbe Interesse, das Interesse der Nation, wahrgenommen. In der Französischen Revolution ging unter dem Banner der Nation die Bauernschaft für ihre Rechte auf die Straße, während das Bürgertum, welches ersteren die Rechte vorenthielt, ebenfalls im Namen der Nation die Herrschaft des Adels brechen wollte und zugleich seine eigene Herrschaft legitimierte. Der antikoloniale Befreiungsnationalismus in Lateinamerika, der mit der Sklavenrevolution in Haiti Ende des 18. Jahrhunderts seinen Anfang nahm, transformierte sich bald in ein Instrument der Nachfahren spanischer Einwanderfamilien, um Revolten der Unterdrückten und Marginalisierten wie in Haiti zu unterbinden. Der bürgerliche Nationalismus war in seiner Anfangszeit zugleich ein revolutionärer Nationalismus und der Befreiungskampf trug von jeher bürgerliche Elemente in sich.
Die linken Unabhängigkeitsbewegungen Nach Ende der fast vierzig Jahre andauernden Franco-Diktatur gab es Ende der 1970er Jahre einen regelrechten Boom des peripheren Nationalismus: Es grün Es gab auch Stimmen, die eine „Katalanisierung“ Spaniens forderten. Breuer, Faschismus und Nationalismus, S. 28.
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deten sich Dutzende Gruppen, Parteien und Kulturvereine, vielerorts kam es zu Massendemonstrationen für die Unabhängigkeit Kataloniens und des Baskenlandes. Am 11. September 1977, dem – damals noch inoffiziellen – katalanischen Nationalfeiertag Diada, gingen in Barcelona über eine Million Menschen unter dem Motto „Freiheit, Amnestie, Autonomiestatut“ auf die Straße. Damit war die größte Demonstration in der Zeit der Transición, wie der Übergang von der Franco-Diktatur zur parlamentarischen Demokratie in Spanien (1975 bis 1982) genannt wird, eine nationalistische. Das Franco-Regime hatte mit seinem Zentralismus, dem Zwang zu nationalem Bewusstsein im spanisch-katholischen Sinne und durch die Unterdrückung der regionalen Kulturen und Sprachen entgegen seiner Intention zur Stärkung des peripheren Nationalismus beigetragen. Dieser manifestierte sich in beiden Regionen nun erneut als Massenbewegung. Zugleich war er durch die Repression der kulturellen Partikularismen durch das rechts-autoritäre Regime inhaltlich nach links gerutscht. Die Betonung und Zelebrierung baskischer bzw. katalanischer Kultur und Sprache galt nun zugleich als antifaschistischer Akt und Bekenntnis zur Freiheit. In diesem Kontext tauchte erstmals eine neue nationalistische Strömung auf der politischen Bühne Spaniens auf: die linken Unabhängigkeitsbewegungen, die die Legitimation des traditionellen Nationalismus (Kultur und Sprache) mit sozialistischen Inhalten und revolutionären Forderungen auffüllten und sich für die vollständige Unabhängigkeit ihrer Regionen durch die Schaffung eines eigenen Staates einsetzten. Sie sahen sich als Teil der globalen antiimperialistischen Bewegung, die damals ihre Hochphase hatte, und bezeichneten sich unter Bezugnahme auf die antikolonialen und revolutionären Kämpfe im Trikont als Nationale Befreiungsbewegungen. Als Teil der aufkommenden Neuen Sozialen Bewegungen arbeiteten sie zudem eng mit weiteren (feministischen, ökologischen, antirassistischen, antifaschistischen etc.) Gruppen zusammen und beteiligten sich an deren Kämpfen. Die linken Unabhängigkeitsbewegungen sahen die nationale Frage als die Hauptursache fortwährender Unterdrückung und Unfreiheit an, und dementsprechend im Nationalismus das Instrument revolutionärer Veränderung. Das folgende Kapitel beruht auf einer ideologiekritischen Inhaltsanalyse, in Anlehnung an Jürgen Ritsert44, von Dokumenten der linken Unabhängigkeitsbewe-
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Ritsert, Inhaltsanalyse und Ideologiekritik.
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gungen in Katalonien und im Baskenland aus der Zeit der Transición.45 Anhand dieses konkreten Beispiels gesellschaftlicher Veränderung, insbesondere der Transformation des Herrschaftsverhältnisses, soll die ideologische Funktionalität des Nationalismus auf der Subjektseite empirisch herausgearbeitet werden. Dafür wurde die Verarbeitung der Umbrüche und gesellschaftlichen Veränderung in den Texten der linken Unabhängigkeitsbewegungen untersucht, um aufzeigen, „wie und wo sich im je bestimmten Diskurs die Herrschaft (und das heißt […] eine bestimmte Form gesellschaftlicher Praxis) gegen das bessere Argument durchsetzt“46. Auf diese Weise sollte der „objektive gesellschaftliche Gehalt“ (Theodor W. Adorno) der Texte dechiffriert werden, also Erklärungsmuster sowie Rationalisierungsprozesse bestehender Herrschaft und Ungleichheit, die nicht das bewusste Produkt der Verfasser:innen sind, herausgearbeitet werden. Ein zweiter Schwerpunkt der Analyse lag auf der Begründung und Rechtfertigung der nationalistischen Aktivitäten als gesellschaftliche Praktiken, um herauszuarbeiten, ob und auf welche Weise der Nationalismus als Einheit und Sinn stiftendes Moment wirkmächtig wird und welche Bedürfnisse diese nationale Identität in den untersuchten Akteuren anspricht.
Ideologische Dimensionen In der Untersuchung der Argumentations- und Legitimationsmuster der linken Unabhängigkeitsbewegungen jener Zeit können verschiedene ideologische Dimensionen offengelegt werden. So wurden z. B. alle in den Regionen ausgemachten Missstände letztendlich auf die nationale Unterdrückung zurückgeführt. Gesellschaftliche Veränderungen, die aus der Re-Industrialisierung während des Franco-Regimes resultierten und systemimmanente Begleiterscheinungen der kapitalistischen Modernisierung darstellten (u. a. Strukturwandel, Arbeitslosigkeit, Landflucht, Umweltverschmutzung, Migration, Tourismus), wurden als aktive Policy der spanischen Zentralregierung zum Zwecke der Unterdrückung der peripheren ,Völker‘ und Vernichtung ihrer ,nationalen Identität‘ beschrieben. So bezeichnete ein katalanisches Bündnis linksnationalistischer Gruppen in einem Das Quellenkorpus und die ausführliche Analyse in: Mense, Nationalismus als Ideologie, S. 184–242. 46 Hauck, Einführung in die Ideologiekritik, S. 132. 45
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Text von 1980 die Einwanderung als „Instrument unserer Auflösung“. Proteste gegen den Bau von Atomkraftwerken wurden ebenfalls damit begründet, dass diese mit dem Ziel errichtet würden, die baskische bzw. katalanische Nation auszulöschen.47 Zum besseren Verständnis der dahinter stehenden Funktion des Nationalismus als Erklärungsmuster, soll hier nochmals auf die Genese ideologischer Bewusstseinsformen eingegangen werden. „Wo bloße unmittelbare Machtverhältnisse herrschen, gibt es eigentlich keine Ideologien“, schrieb Adorno.48 Erst die Existenz bürgerlicher Freiheit und Gleichheit verlangt nach Erklärung und Rechtfertigung der fortwährenden Unfreiheit und Ungleichheit. Ideologien sind Bestandteil abstrakter Herrschaftsverhältnisse. Das Franco-Regime zeichnete sich durch unmittelbare Machtverhältnisse aus, die Verantwortlichen für die politische Unfreiheit ebenso wie für die schlechte wirtschaftliche Lage ließen sich klar benennen. Mit dem Übergang zur Demokratie verwandelte sich die in Francisco Franco und seinem Staatsapparat personalisierte Herrschaft in den abstrakten Zwang der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Zwar hatten sich die konkreten Lebensverhältnisse der Menschen durch das Ende der Repression und die Einführung demokratischer Garantien in vielen Bereichen spürbar verbessert. Im wirtschaftlichen Bereich jedoch fand durch das Ende der Diktatur keine grundlegende Transformation statt. Spaniens Ökonomie hatte sich bereits seit den 1960er Jahren im Sinne der freien Marktwirtschaft modernisiert. Mit der Einführung der Demokratie ging eine weitere Öffnung der Märkte sowie eine Demokratisierung der Arbeitssphäre einher, aber das Modell der spanischen Wirtschaft hatte sich nicht grundlegend verändert. Auch die tiefgreifende wirtschaftliche Krise, unter der Spanien seit Beginn der 1970er Jahre litt, wurde durch das Ende des Franco-Regimes nicht abgeschwächt, sondern blieb vielmehr in der schwierigen gesellschaftlichen Umbruchphase unbearbeitet. Die enormen ökonomischen Probleme, ebenso wie der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Karl Marx) bestanden also auch nach Ende der Diktatur fort, verlangten aber nach einer neuen Erklärung. Eine baskische Gruppe ging soweit, den Bau des Atomkraftwerkes Lemóniz als möglichen „Holocaust von Euskadi“ zu bezeichnen. Die ETA entführte ein paar Jahre später den leitenden Ingenieur des Kraftwerkes, den sie als „imperialistischen Yankee im Dienste der spanischen Oligarchie“ bezeichneten, und erschoss ihn. Vgl. Fernández Soldevilla/ López Romo, Sangre, votos, manifestaciones, S. 247. 48 Adorno, Geschichte und Freiheit, S. 465. 47
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Hieraus lässt sich erklären, warum der Nationalismus in den ersten Jahren der Demokratie stetig zunahm und sich zugleich radikalisierte, vor allem aber, warum diese Entwicklung erst nach Ende der realen Unterdrückung einsetzte. Der linke Nationalismus äußerte sich am gewalttätigsten nicht am Ende des Franco-Regimes, sondern erst während der Konsolidierungsphase der Demokratie seit 1978. Alleine von 1978 bis 1980 starben 250 Menschen durch Anschläge der ETA (Euskadi Ta Askatasuna – Baskenland und Freiheit), damit entfallen auf die ersten drei Jahre der Demokratie fast ein Drittel aller Todesopfer der baskischen Guerilla in ihrer 50-jährigen Geschichte. In Katalonien wurde der Unabhängigkeitskampf am militantesten ebenfalls in den Jahren der Transición geführt (hier vor allem durch die Gruppe Terra Lliure). Zugleich konnte man am Wahlverhalten eine deutliche Zunahme nationalistischer Einstellungen feststellen. Während bei den ersten freien Wahlen 1977 im Baskenland die nationalistischen Parteien 35,9 % der Stimmen auf sich versammelten, waren es bei den Kommunalwahlen 1979 fast 45 %. Die Zunahme des Nationalismus kann als Reaktion auf die unvollendete Befreiung interpretiert werden, denn die durch das Ende des Franquismus erlangte Freiheit war nur eine partielle. Dies wurde mit der Betonung fortbestehender Fremdherrschaft erklärt und durch die Hinwendung zum Volk als ethnischem Subjekt der Befreiung kompensiert. Hier muss ergänzt werden, dass es in Spanien im Gegensatz zu vielen anderen postdiktatorischen Transformationsprozessen weder eine (gewaltsame) Machtübernahme durch oppositionelle Kräfte, noch einen wirklichen Bruch mit den Institutionen und Trägern des alten Regimes gab. Bis heute hat keine gesellschaftliche oder juristische Aufarbeitung der franquistischen Verbrechen stattgefunden, weshalb die Transición auch als ‚Pakt des Vergessens‘ bzw. ‚Pakt des Schweigens‘ bezeichnet wird. Dies legitimierte zusätzlich die Behauptung fortwährender Unfreiheit. Jedoch betonten die linken Unabhängigkeitsbewegungen von Beginn an ausdrücklich, dass die Unterdrückung nicht hauptsächlich im Fortbestand franquistischer Strukturen oder fehlender demokratischer Mitbestimmung bestehe, sondern in der Verweigerung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung.49 Die linken Befreiungsbewegungen machten nun die Freiheit des Einzelnen, die auch nach dem Ende der realen Unterdrückung nicht erreicht worden war, von
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2009 erklärte die baskische Guerilla ETA in einem Kommuniqué zu ihrem 50-jährigen Bestehen, dass es schon zu ihrer Gründungszeit in den 1960er Jahren nicht ihr Ziel war „den Franquismus zu besiegen, sondern das Baskenland zur Freiheit zu führen“.
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der Befreiung der Nation abhängig. Mit seinem Fokus auf die Nationale Befreiung orientierte sich der periphere Linksnationalismus an den antikolonialen Kämpfen, dem erfolgreichsten revolutionären Modell zu jener Zeit. Jedoch agierten sie in Spanien außerhalb realer kolonialer Verhältnisse, wodurch es die abstrakte Herrschaft des Kapitals war, die als Fremdherrschaft identifiziert wurde bzw. werden musste. Um diese in Verbindung mit dem spanischen Zentralstaat zu setzen, wurden die abstrakten Zwänge und Herrschaftsverhältnisse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft durch die Ethnisierung gesellschaftlicher Differenz in konkrete und erfahrbare Kategorien übersetzt. Aufgrund ihres formulierten emanzipatorischen Anspruchs und des sozialistischen Selbstverständnisses führte dies zwangsläufig zu zahlreichen Widersprüchen. Diese wurden scheinbar aufgelöst, in dem die nationale untrennbar mit der sozialen Befreiung verbunden wurde und die peripheren linksnationalistischen Bewegungen Nation mit Klasse im Subjekt der Befreiung gleichsetzten. Der für den Sozialismus bestimmende Klassenkonflikt, der als Triebmotor gesellschaftlicher Auseinandersetzungen gilt, wurde quasi ethnisch übersetzt und auf die rivalisierenden Nationen übertragen. In diesem Sinne galt der zentralistische spanische Nationalstaat als Synonym des Kapitalismus, während die ‚unterdrückten‘ Völker der Peripherie stellvertretend für die globale Arbeiterklasse standen, was sich in der Selbstbezeichnung als ,Arbeitervölker‘ ausdrückte. Die ethnische Nation wurde als überzeitliche natürliche Gemeinschaft der politischen Nation als Form moderner kapitalistischer Vergesellschaftung gegenüber gestellt. Deutlich trat hierbei auch das identitäre Bedürfnis nach Gemeinschaft zutage. Die reale Ohnmacht und Vereinzelung der Menschen in der komplexen Moderne wurde durch die fiktive Zugehörigkeit zu einem naturgegeben Kollektiv kompensiert. Zu diesem Zweck nahm der Nachweis und die Betonung, dass Katalonien bzw. das Baskenland wirklich eine Nation sei, in den Schriften einen großen Platz ein. Hierbei darf nicht der Umstand vergessen werden, dass unter der Diktatur Francos den Regionen ebene jene Selbstbezeichnung und nationale Identifikation unter Androhung und auch Ausübung von Gewalt untersagt war. Jedoch ging das Bedürfnis nach Identifikation mit der sozialen Umwelt weit über die (nachvollziehbare) Abgrenzung vom ehemaligen spanischen Unterdrückerstaat hinaus, wie in der Argumentation deutlich wurde: Kultur und Sprache wurden als natürliche Bindungen an das Kollektiv und existenzielle Bedingungen menschlichen Daseins dargestellt. Zugleich galt die Betonung ethnischer Zugehörigkeit und die Bewah323
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rung von Kultur und Sprache als Akt des Widerstandes und antikapitalistische Praxis. Die in der Regel verborgene subjektive Funktionalität nationaler Identifikation wurde in den untersuchten Texten explizit formuliert: Nationale Identität wurde als Schutzschild gegen die kalte Moderne in Stellung gebracht, nationales Bewusstsein als revolutionäres Bewusstsein und rebellische Antwort auf die Zumutungen des Kapitalismus präsentiert. Wenn Kultur und Sprache, und damit jenes nationale Bewusstsein verschwinde, löse sich das Volk an sich auf, und seine Angehörigen würden als identitätslose und verlassene Nomaden dem Kapitalismus schutzlos ausgeliefert sein. Die katalanische linksnationalistische Gruppe IPC brachte 1981 dies in einem Flugblatt auf den Punkt: „Wenn wir nicht verteidigen, was Unseres ist – unsere Sprache, unsere Kultur und unser nationales Erbe – werden sie das Land zerstören, uns in Sklaven verwandeln und keine Spur unserer Existenz übrig lassen.“
Ethnonationalismus als postkoloniales Zerfallsprodukt In der Analyse der inhaltlichen Grundlagen der baskischen und katalanischen Nationalen Befreiungsbewegung wird jene Tendenz sichtbar, die Michael Werz als eine grundlegende Eigenschaft des Ethnonationalismus50 bezeichnet, nämlich dass er sich „auf kein konkretes historisches Subjekt mehr bezieht, sondern willkürlich und opportunistisch seine Legitimationen aus der Geschichte zusammenraubt“51. Die marxistische Analyse der Verhältnisse wird der ‚nationalen Realität‘ angepasst, der Klassenwiderspruch zu einem Konflikt zwischen Nationen. Die Arbeiter:innenklasse als das historische Subjekt der Kommunistischen Bewegung wird ethnisiert, und im Gegenzug dem ethnisch definierten Volk ein proletarischer Charakter zugesprochen. Der Ethnonationalismus ist das Produkt der globalen gesellschaftlichen Umbrüche zu
Ethnonationalismus bezeichnet hier oppositionelle nationalistische Bewegungen, die sich aufgrund ethnischer und kultureller Differenz als „staatenlose Nation“ begreifen und für die Einrichtung eines eigenen Staates eintreten. Vgl. Riedel, Regionaler Nationalimus; Helmerich, Ethnonationalismus. 51 Werz, Ethnizität als Ideologie, S. 8. 50
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Ende des 20. Jahrhunderts und stellt die spezifische historische Form oppositioneller nationalistischer Bewegungen unserer Zeit dar. Er ist eine „moderne Ideologie, als Alltagsreligion beschreibbar, in der sich Restbestände der geschichtlichen Erfahrungen von Säkularisierung, Nationenbildung und Realsozialismus miteinander verbinden“52. Auf der subjektiven Ebene entspricht die in der Falluntersuchung herausgearbeitete Funktionalität des Nationalismus der Alltagsreligion, wie sie von Detlev Claussen beschrieben wird.53 Er stellt eine Verarbeitung gesellschaftlicher Veränderungen und schwer fassbarer Zusammenhänge dar und dient der Erklärung fortbestehender Differenzen, besonders sozialer Ungleichheiten, im Zeitalter globaler Gleichzeitigkeit. In Krisen und Umbruchszeiten, in denen die reale Begrenztheit individueller Handlungsmöglichkeiten erfahrbar und das Gefühl der Ohnmacht verstärkt wird, nimmt er an Bedeutung zu. Auch der periphere Nationalismus in Spanien hat seine größte Ausbreitung stets in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit erlangt, in denen er dabei historisch immer in Konkurrenz zur Arbeiterbewegung stand. Während der tiefgreifenden Krise in Spanien ab 2007/2008 konnte der Nationalismus dabei weitaus mehr Menschen mobilisieren als die sozialen Proteste gegen die Sparpolitik der Regierung. So nahmen an der bis dato größte Demonstration für die Unabhängigkeit Kataloniens im Jahr 2010 über 1,5 Millionen Menschen teil, das entspricht ca. 20 % der Gesamtbevölkerung der Autonomen Region. Hintergrund der Proteste war, dass in der damals neu verabschiedeten Regionalverfassung Katalonien nicht als „Nation“ bezeichnet werden durfte. Zur gleichen Zeit lag die Arbeitslosigkeit bei 25 %, täglich wurden hunderte Wohnungen zwangsgeräumt, Millionen Menschen rutschten in die Armut ab. Auch dagegen gab es Proteste, wie die der 15M-Bewegung mit ihren Platzbesetzungen in vielen spanischen Großstädten, diese erreichten jedoch nie das Ausmaß wie die nationalistischen Demonstrationen. Und das, obwohl es bei den nationalistischen Protesten – im Gegensatz zu den sozialen Kämpfen – um Forderungen ging, die die realen Lebensverhältnisse der Menschen in keinster Weise tangieren. Es war das gekränkte nationale Gefühl, dass die Massen auf die Straßen brachte, nicht konkrete Forderungen nach Verbesserung der Lebensverhältnisse. Auf den Straßen zeigte sich erneut 52 53
Ebd. Vgl. Claussen, Aspekte der Alltagsreligion.
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die Wirkmächtigkeit nationaler Identität und zugleich das Versprechen von Freiheit, dass mit ihr verbunden ist. Im Vergleich zu anderen alltagsreligiösen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern besitzt Nationalismus trotz seines fiktiven Charakters jedoch ein stärker ausgeprägtes reales Moment, was ihn als notwendig falsches Bewusstsein auszeichnet. Die (bereits beschriebene) objektive Notwendigkeit der nationalen Denkform trat – sozusagen regional übersetzt – in der spanischen Verfassungsdebatte 1978 zu Tage. Im Rahmen der Ausarbeitung des ‚Staates der Autonomen Gemeinschaften‘ waren Geschichte und Kultur die ausschlaggebenden Eigenschaften, die den Grad der Selbstständigkeit der Regionen bestimmten. Gleichzeitig wurde den Regionen nur der Status einer Nationalität zugesprochen, um politische Ansprüche, die aus der Bezeichnung als Nation resultieren, abzuwenden. Der mit dem Status als Nation verbundene objektive Rechtsanspruch ist eine der Ursachen, warum bis zum heutigen Tag die Diskussionen über die Selbstbezeichnung der Regionen so großen Raum einnehmen und mit solcher Vehemenz geführt werden. Zugleich konnte in der Inhaltsanalyse aufgezeigt werden, in welchem Maße die nationale Weltordnung als Zweite Natur die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Konflikte bestimmte und zu einer Ethnisierung des Politischen führte. Seit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks ist der Ethnonationalismus die übergreifende legitimatorische Grundlage oppositioneller nationalistischer Bewegungen geworden. Das ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker‘ löste die ‚sozialistische Weltrevolution‘ als ideologischen Kitt dieser Bewegungen ab. Auf besonders eindrucksvolle und zugleich brutale Weise trat der Ethnonationalismus Anfang der 1990er Jahre auf dem Balkan zu Tage. Dieser nationalistische Ausbruch mitten in Europa, von dem Politiker:innen, Journalist:innen und Wissenschafter:innen gleichermaßen überrascht waren, veranschaulichte die ungebrochene Vorherrschaft des Nationalismus. Das Staunen darüber, dass solch massenhafte nationalistische Gewalt am Übergang zum 21. Jahrhundert noch möglich sei, zeigte, um in den Worten von Walter Benjamin zu sprechen, dass die damals vorherrschende Vorstellung von Geschichte, die den Nationalismus bereits hinter sich gelassen habe, nicht haltbar war. Dies galt auch für die marxistische Theoriebildung. Robert Kurz schrieb zu jener Zeit: „Dieser tertiäre Nationalismus (der mit dem europäischen ‚primären Nationalismus‘ und dem ,Befreiungsnationalismus‘ des 20. Jahrhunderts nichts gemein hat) ist also ein völlig gegenläufiger ethnischer Schein-Nationalis-
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mus, und er ist ein Produkt der Verzweiflung, von der die Menschen in den Zusammenbruchsökonomien des totalen Weltmarktes heimgesucht werden.“54 Diese Einordnung des Ethnonationalismus weist zwei grundlegende Fehler auf: Erstens kann das Phänomen zwar als ein „Produkt der Verzweiflung“ betrachtet werden, jedoch tritt dieses keineswegs nur in „Zusammenbruchsökonomien“ auf. An den Fallbeispielen Katalonien und Baskenland wird deutlich, dass er gerade auch in prosperierenden Regionen seine Wirkung entfaltet. In diesen Fällen (wozu auch Nord-Italien, Flandern, Süd-Tirol, Schottland u.v.m. zählen) dient er der Verteidigung des eigenen regionalen Standortvorteils in der Weltmarktkonkurrenz gegenüber den ökonomisch schwächeren Zentralstaaten.55 Durch den Crash der spanischen Ökonomie zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben die peripheren Nationalismen deutlich an Stärke gewonnen, jedoch nicht weil die Regionen in gleichem Maße von der Krise betroffen waren, sondern weil durch die gesamtspanische Rezession ihre wirtschaftlich bessere Stellung in Bedrängnis geriet. Kadritzke bezeichnet diese Form als Rette-sich-wer-kann-Separatismus56. Nicht erst der soziale Abstieg, sondern bereits die Angst davor bindet die Menschen an fiktive Gemeinschaften. Und diese Angst ist ein Klassen und Regionen übergreifendes charakteristisches Moment der Moderne. Die hier vorgenommene Untersuchung kann grundsätzlich als Entkräftung der Modernisierungsverlierer-Theorien gelten, die den Nationalismus in erster Linie als Kompensationsinstrument den von der globalen kapitalistischen Entwicklung Abgehängten und Zurückgelassenen zuschreiben.57 Oder anders gesagt: Gültigkeit besitzen jene Theorien nur, wenn man jeden und jede als Verlierer:in in der Moderne betrachtet – wofür es angesichts der Totalität der kapitalistischen Herrschaft, in der die Menschen nur noch bloße Anhängsel des Produktionsprozesses sind, durchaus berechtigten Anlass gibt. Zweitens zeugt die Bezeichnung „gegenläufiger ethnischer Schein-Nationalismus“ von einem mangelnden Verständnis über Form und Funktion nationaler Identifikation. Der Ethnonationalismus ist eine den veränderten Verhältnissen des 56 57 54 55
Kurz, Krise der Demokratie, S. 124. Vgl. Eser, Fragmentierte Nation. Kadritzke, Wiederkehr des Nationalismus. Vgl. Díez Medrano, Naciones dividas.
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21. Jahrhunderts angepasste Form der nationalistischen Ideologie und daher weder „gegenläufig“ noch „Schein“. Er ist Ausdruck der widersprüchlichen Moderne und des Verlustes sowohl bürgerlicher als auch sozialistischer Tradition.58 Der liberale Nationalismus hat durch das Ende des bürgerlichen Zeitalters, im Sinne des Verschwindens bürgerlicher Autonomie, seine Grundlage verloren und sich zunehmend ethnisch artikuliert. Der revolutionäre Nationalismus der antikolonialen Befreiungskämpfe, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nochmal die Tradition der französisch-republikanischen Nation-Idee unter sozialistischen Vorzeichen reanimiert hatte, hat sich mittlerweile ebenfalls überlebt. In diesem Falle haben die Entkolonialisierung und der Zusammenbruch des Sowjetblocks ihn seines Gehaltes beraubt. Übrig bleibt der Ethnonationalismus als postkoloniales Zerfallsprodukt. Ethnonationalistische Bewegungen stehen in der Tradition der antikolonialen revolutionären Befreiungsbewegungen, reagieren auf die Transformation der globalen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse jedoch mit einem Rückgriff auf ethnische Konzepte: „Die Verbindung erscheint vielmehr als eine fortgesetzte Regression: Die universalen, fortschrittlichen Bestandsteile aus den Anfangszeiten der nationalen Befreiungsbewegungen waren nicht von langer Dauer; heute werden nationalistisch verkleidete ethnische Kategorien in Erklärungsmuster für soziale und politische Konflikte sowie historische Traditionslinien umgefälscht.“59 Am Beispiel des linken Befreiungsnationalismus in Katalonien und im Baskenland lässt sich diese Entwicklung veranschaulichen. Die hier vorgenommene Untersuchung zeigt, dass die linken Unabhängigkeitsbewegungen noch in der Hochphase der globalen antiimperialistischen Bewegung ihren sozialistischen Befreiungskampf bereits ethnisch legitimierten. Gewissermaßen waren sie damit der von Michael Werz beschriebenen globalen Entwicklung voraus. Der Ethnonationalismus, wie er sich besonders ab Ende des short century manifestierte, war bereits in den 1970er Jahren in Spanien zu beobachten. Dies hatte verschiedene Gründe: Zum einen war dies der besonderen Situation des europäischen Nationalen Befreiungskampfes geschuldet. Außerhalb des Kontextes von kolonialer Besatzung und realer Unterdrückung benötigten sie zur Schaffung nationaler Identität eine Einheit stiftendes Narrativ. Ethnische Zugehörigkeit, Kultur Vgl. Claussen, Tradition der Traditionslosigkeit. Werz, Verkehrte Welt, S. 6.
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und Sprache ersetzten als Bindeglieder das Moment der kollektiven gesellschaftlichen Erfahrung, auf dem noch das nation building der antikolonialen Kämpfe basierte. Hieraus ergab sich die widersprüchliche Legitimation des peripheren Befreiungsnationalismus in Spanien, wie sie Sebastián Balfour für das Baskenland beschreibt: „Der linke baskische Nationalismus vereint eine Mischung aus essentialistischen und antikolonialen [tercermundista] Vorstellungen. Der 3. WeltDiskurs von der Kolonisierung des Baskenlandes durch Spanien und Frankreich wird begleitet von einer ziemlich widersprüchlichen Erzählung des goldenen Zeitalters und seines Falls, des Helden- und Märtyrertums, von einer ethnischen und kulturellen Idealisierung und einer Ablehnung der neuen spanischen Demokratie als illegitimes und autoritäres System.“60 Zum anderen hatte der Legitimationsverlust des Nationalstaates als politische Institution, wie er in anderen Staaten infolge neoliberaler Umstrukturierungen und Transnationalisierung des Kapitals zu beobachten ist61, in Katalonien und im Baskenland bereits Ende der 1970er Jahre stattgefunden. In diesem Fall war es der Franquismus und insbesondere der Charakter des Regimewechsels, wie er in der Transición als ‚Pakt des Vergessens‘ seinen Ausdruck fand. Für große Teile der Bevölkerung im Baskenland und in Katalonien wurde hierdurch eine Identifikation mit der spanischen Nation unmöglich gemacht. Hinzu kam als dritter Faktor die kollektive Erfahrung realer Unterdrückung, die in den beiden Regionen in besonderem Maße die kulturellen Partikularismen betraf, was zu einer verstärkten Betonung jener vermeintlichen ethnisch-kulturellen Unterschiede, im Sinne einer ‚Negation der Negation‘, führte. Das zeitliche Aufeinandertreffen all dieser Faktoren begünstigte die ethnonationalistische Ausformung der peripheren Nationalismen. Die linken Unabhängigkeitsbewegungen unterschieden sich dabei in ihrem Nationenverständnis von Beginn an wenig von den anderen Strömungen. Die Grundlage stellt das Konzept der Kulturnation dar, die aufgrund ihrer bloßen Existenz ein Recht auf Selbstbestimmung habe. In den linksnationalistischen Strömungen ist dabei interessanterweise bis zum heutigen Tag eine viel stärkere ethnische Argumentation festzustellen, als z. B. im konservativen Nationalismus. Die Nation wird nicht nur abstrakt über eine Balfour, Izquierda y nacionalismos, S. 13. Vgl. Zürn, Denationalisierung.
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gemeinsame jahrhundertelange Geschichte, Kultur und Sprache bestimmt, sondern ihr wird als eigenständiges Subjekt ein spezifischer Charakter zugesprochen. Dieser drücke sich aus im ‚Kampfeswillen‘ ihres Volkes, in einer ihrer Natur entsprechenden politischen und sozialen Organisationsform sowie in ,verwurzelten‘ ökonomischen Strukturen. Die exakten und über aktuelle Verwaltungseinheiten hinausgehenden Territorialforderungen sind Ausdruck dieser Vorstellung der Nation als organisches Subjekt. Jede Einschränkung dieser vermeintlich naturgegebenen Eigenschaften komme einer ‚Verstümmelung‘ gleich, so die Argumentation. Seit den 1970er Jahren hat die ethnische Komponente deutlich an Gewicht gewonnen, die – zumindest bei den revolutionären nationalistischen Bewegungen – ehemals noch vorhandene Verbindung von Nationalismus und Sozialismus ist heutzutage faktisch nicht mehr existent. In der ethnonationalistischen Deutung der Nationalen Befreiung sind Unabhängigkeit und nationale Souveränität zum Selbstzweck geworden. Sie sind nicht mehr Teil einer Vorstellung gesamtgesellschaftlicher Veränderung, sondern werden als Naturrecht für alle ‚Völker‘ gefordert. Dieses ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker‘, ursprünglich das juristische Instrument der Dekolonialisierung, wird nun als „nationalistische Option für Staatsgründungen auf ethnischer Grundlage mißinterpretiert“62. Der Kampf für das Recht auf Selbstbestimmung ist im Ethnonationalismus mit keiner politischen Utopie mehr verbunden, auch wenn er als globales politisches Projekt dargestellt wird, das den ‚Völkern‘ der Erde die Freiheit bringen soll. Damit verbunden lässt sich auch eine Ethnisierung der Begriffe Freiheit und Demokratie feststellen. Zweifelsohne handelt es sich bei den Unabhängigkeitsbewegungen in Spanien auch um demokratische Bewegungen. Denn die aufgestellten Forderungen nach Selbstbestimmung und dem „Recht zu entscheiden“, was das einende Motto des katalanischen Separatismus ist, sind zweifelsohne genuin demokratischen Charakters. Und sie verweisen auf die Ursprünge der Nation-Idee, die zum Ziel hatte, das Volk zum Souverän zu machen und diese Souveränität im Nationalstaat umzusetzen. Jedoch bekommt diese Forderung innerhalb eines – trotz aller Mängel und berechtigter Kritik an seiner konkreten Form – demokratischen Staates eine neue Bedeutung. Das Subjekt der Selbstbestimmung ist nicht mehr das Volk im demokratischen Sinne als Gesamtheit der Bevölkerung, wie es in den bürgerlichen 62
Werz, Verkehrte Welt, S. 14.
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Revolutionen des 19. Jahrhunderts und den antikolonialen Kämpfen des 20. Jahrhunderts der Fall war, sondern das Volk im ethnischen Sinne, als den einzelnen Menschen außenstehende Einheit. Die Forderungen nach Freiheit und Selbstbestimmung werden nicht daraus abgeleitet, dass die Menschen das Volk sind, sondern dass sie ein Volk sind. D. h. die demokratischen Forderungen werden ethnisch aufgeladen und nicht für die Menschen, sondern für das vermeintlich naturgegebene Kollektiv aufgestellt. Das Recht auf Unabhängigkeit wird nicht aus dem geteilten Willen der Bevölkerung abgeleitet (was angesichts der Spaltung der katalanischen ebenso wie baskischen Gesellschaft in der Frage der Unabhängigkeitsforderung in zwei quasi gleich große Teile auch schwierig wäre), sondern aus der vorpolitischen Existenz eines katalanischen bzw. baskischen Volkes.63 Diese Transformation sozialrevolutionärer Befreiungsbewegungen in identitäre Abwehrkämpfe ist Ausdruck der allgemeinen Ethnisierung des Politischen und hängt mit den globalen Transformationen der letzten Jahrzehnte zusammen. Die Kolonialzeit ist an ihr historisches Ende gelangt und mit ihr auch die Zeit der traditionellen Nationalen Befreiungskämpfe. Anstelle von Vietnam, Kuba oder Algerien wird sich nun auf den Kosovo als erfolgreiches Beispiel ‚Nationaler Befreiung‘ bezogen. Das Ende der Blockkonfrontation verstärkt diese Entwicklung: Es gibt keinen gemeinsamen Feind mehr, keine Imperien oder Staatenblöcke, gegen die sich die verschiedenen Nationalismen unter dem Banner des Antiimperialismus oder des Sozialismus zusammenschließen könnten. Hinzu kommt der mit der Auflösung des Sowjetsystems in Verbindung stehende Legitimationsverlust marxistischer Theorien und kommunistischer Utopien, den der ‚real existierende Sozialismus‘ durch seine konkrete Form bereits zuvor selber eingeleitet hatte. „Menschen, die sich mit dem marxistisch-leninistischen Etikett nicht mehr in die Öffentlichkeit trauen, machen nun einzelne unterdrückte Völker zum Träger ihrer Identifikationen“.64 Die Entwicklung begann bereits im Kontext des globalen ethnic revival ab den 1970er Jahren65, in dem Ethnizität zu einem inhaltlichen Bezugspunkt oppositioneller, vermeintlich emanzipatorischer Bewegungen wurde: „Ethnische Zugehörigkeit,
Das „Recht zu entscheiden“ wird in der katalanischen Unabhängigkeitserklärung von 2017 aus der „tausendjährigen Geschichte“ der katalanischen Nation, „ihrer Sprache und ihrer Kultur“ abgeleitet. 64 Claussen, Aspekte der Alltagsreligion, S. 51f. 65 Vgl. Stender, Ethnische Erweckungen. 63
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definiert als primordiale Bindungen, etablierte sich so auch als Kritik gegen die universalistischen, »kalten« Institutionen der modernen Gesellschaft“.66 Jene Kritik fand und findet im peripheren Befreiungsnationalismus in Spanien ihren Ausdruck in der Darstellung des Nationalismus als antikapitalistische Strategie und in der Verteidigung nationaler Identität als Schutz gegen die kapitalistische Moderne. Der Ethnonationalismus kann darüber hinaus auch als Ausdruck der allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz angesehen werden, die gemeinhin als Postmoderne bezeichnet wird: Die materialistische Analyse der Verhältnisse hat ausgedient, es gibt keine große Erzählung mehr, nichts was die Menschen zusammenhält, außer ihre kollektive ethnische oder kulturelle ‚Identität‘. Der Wandel von revolutionärer zu ethnischer Legitimation nationaler Befreiungskämpfe steht zudem in Zusammenhang mit der Nichteinlösung des Emanzipationsversprechens, das mit der Erkämpfung nationaler Souveränität verbunden gewesen war. Wie schon zu Zeiten der missglückten Emanzipation im Rahmen der bürgerlichen Revolutionen führt diese auch hier zu einer Zunahme des ethnischen Moments im Nationalismus: „Weil die soziale Revolution ganz oder auf halbem Wege stecken blieb, bedurfte sie eines nationalen Kostüms, um wenigstens Reste von Massenloyalität und Legitimität zu behalten.“67 Fast die gesamte politische Landkarte Afrikas ebenso wie große Teile Südasiens sind das Produkt erfolgreicher Nationaler Befreiungskämpfe – als Bezugspunkte für eine fortschrittliche, emanzipatorische Gesellschaftsordnung können diese Staaten kaum gelten. Dies lässt sich nicht nur durch die Geschichte kolonialer Unterdrückung und postkolonialer Ausbeutung erklären, sondern verweist auf ein grundlegendes Problem: Befreiungsnationalismus wird, wenn er ‚erfolgreich‘ ist, zwangsläufig regressiv, da die Befreiung im globalisierten Kapitalismus nur eine begrenzte sein kann. Die Menschen sind nach Beendigung der konkreten Unterdrückung nun der abstrakten Herrschaft unterworfen. Diese Entwicklung lässt sich am Zusammenbruch der Sowjetunion ebenso aufzeigen wie am postkolonialen Nationalismus in den ehemals abhängigen Ländern, am peripheren Nationalismus der Nach-Franco-Zeit in Spanien ebenso wie an der deutschen sogenannten Wiedervereinigung, wo sich die demokratische Parole „Wir sind das Volk“ bald zur ethnonationalistischen Selbstbehauptung „Wir sind ein Volk“ wandelte: Sobald die Menschen realisieren, 66 67
Groenemeyer, Kulturelle Differenz, S. 20. Lodovico, Konjunktur des Nationalen, S. 203.
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dass sie auch nach dem Ende der konkreten Unterdrückung (feudaler, diktatorischer oder kolonialer Art) weiterhin weder frei noch gleich sind, wenden sie sich ideologischen Erklärungs- und Rechtfertigungsmustern zu. „Die mißglückte bürgerliche Emanzipation ist schon im 19. Jahrhundert der Nährboden ethnisierender Vorstellungen gewesen“68, betont Detlev Claussen, und weist damit auf eine der Hauptursachen hin, warum sich die Nation fast überall von einer demokratischen Idee zu einer ethnisierten Kategorie des Ausschlusses entwickelt hat. Die Ethnisierung gesellschaftlicher Differenz kompensiert die missglückte Befreiung und stellt die kollektive Verarbeitung des fortwährenden Zwangs in einer vermeintlich freien Gesellschaft dar.
Nationalismus als Ideologie ethnischer Identifikation Ideologiekritik besteht in der Frage, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Die Beschäftigung mit dem Nationalismus bietet eine Antwort hierauf: „Ein Schlagwort wie ‚nationale Identität‘ führt in das Herzstück der Ideologiekritik zurück: ‚Ideologie ist Rechtfertigung‘“69, schreibt Detlev Claussen und verweist auf eine wichtige ideologische Funktion des Nationalismus, die darin besteht, „Rechtfertigung von bestehendem Unrecht und scheinhafte Kompensation für das erlittene Unrecht zu liefern“70. Diese wird erst obsolet, wenn die Ursachen des Unrechts aufgehoben sind und Selbstbestimmung zur konkreten Möglichkeit geworden ist. Aus dem erfahrenen Unrecht resultiert der Wunsch nach Befreiung, der sich aber im Nationalismus – wie so oft – letztendlich gegen die Befreiung wendet. Für die katalanische und baskische Unabhängigkeitsbewegung ist die Ursache allen Unrechts der spanische Staat und die fehlende Unabhängigkeit. Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben drückt sich in der Forderung nach nationaler Selbstbestimmung aus, die individuelle Freiheit wird von der Freiheit der Nation abhängig gemacht. Claussen, Aspekte der Alltagsreligion, S. 23. Claussen, Antisemitismus als Ideologie?, S. 178. 70 Schnädelbach, Was ist Ideologie?, S. 77. 68 69
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Das Versprechen von Freiheit und Gleichheit steckte von Beginn an im Nationalismus, und verweist auf die historisch enge Verbindung von Demokratie und Nationalstaat. Erst mit der Idee der Nation fand die Idee der Volkssouveränität große Verbreitung. Das Volk (im Sinne von Bevölkerung) wurde zum Subjekt, das sich in den bürgerlichen Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert ebenso wie in den antikolonialen Kämpfen im Namen der Nation konstituierte und dadurch emanzipierte. Dies ist der historische Triebmotor auch der nationalistischen Kämpfe im Baskenland und in Katalonien. Jedoch wurde das Volk, selbst in seiner aufgeklärten französischen Definition, von Beginn an (auch) anhand ethnischer und kultureller Grenzziehungen bestimmt. Denn nur so, als natürlich wahrgenommene, überzeitliche Gemeinschaft, kann die Nation ihre ideologischen Funktionen erfüllen und das identitäre Bedürfnis befriedigen. Das ist die Ambivalenz des Nationalismus: Er generiert Solidarität und demokratische Teilhabe nach Innen, und verwehrt sie zugleich denen, die als nicht-dazugehörig bestimmt und markiert werden.71 Einen rein demokratischen Nationalismus kann es daher nicht geben, denn jede Nation definiert sich dadurch, dass es ihr außerhalb weitere Nationen gibt, und damit Menschen, die keinen Anspruch auf die Privilegien der eigenen nationalen Zugehörigkeit haben. Zwang und Unterdrückung werden aber nicht nur nach Außen ausgeübt, sie treffen ebenso die ‚Eigenen‘. Denn in der Nation sind Emanzipation und Unterdrückung dialektisch miteinander verschränkt: Erst durch die Unterordnung unter das Zwangskollektiv Nation steigen Menschen zum Rechtssubjekt auf. Die Selbstbestimmung, die ihnen dadurch versprochen wird, wird ihnen zugleich von den Verhältnissen notwendig vorenthalten: „Nationale Identität ist das eklatanteste Beispiel individueller Selbstaufgabe und Dementierung individueller Interessen, in der trügerischen Hoffnung in der Gleichheit der Nation aufzugehen und doch als Individuum weiter zu existieren“.72 Die Widersprüchlichkeit des Nationalismus entspricht dem grundlegenden Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft, in der die formale Freiheit und Gleichheit die reale Unfreiheit und Ungleichheit aus sich heraus produziert. Die Ideologie des Nationalismus legitimiert und verinnerlicht die abstrakte Herrschaft, und macht sie dadurch erträglich. Nationalismus ermöglicht die Verarbeitung der widersprüchlichen und komplexen Verhältnisse der Moderne, in dem er einfache Erklärungen bietet und Schuldige benennt. Hierin besteht sein 71 72
Vgl. Borggräfe/Jansen, Nation – Nationalität – Nationalismus, S. 121ff. Uzarewicz/Uzarewicz: Kollektive Identität, S. 203.
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alltagsreligiöser Charakter. Nicht zuletzt kompensiert nationale Identität die reale Ohnmacht und die Vereinzelung, indem sie die Illusion einer harmonischen Solidargemeinschaft herstellt. Die Ethnisierung des Politischen, die sich im Nationalismus allgemein und insbesondere im Ethnonationalismus zeigt, ist eine Folge der sozialen Desorientierung, die nicht nur den Zerfall der feudalen Strukturen im 18. und 19. Jahrhundert und den Zusammenbruch des ,real existierenden Sozialismus‘ im 20. Jahrhundert kennzeichnete, sondern die grundsätzlich charakteristisch für die Moderne ist.73 Soziale Bindungen und traditionelle Gemeinschaftsformen sind in modernen Konkurrenzgesellschaften beständiger Zerstörung ausgesetzt, während nach dem ,Ende der Geschichte‘ zugleich der Kapitalismus alternativlos erscheint und emanzipatorische Utopien gesellschaftlicher Veränderung als sinnstiftende Identifikationsmuster ausgedient haben. Übrig bleibt „das Gefühl von Ethnizität als letzter Gewissheit“74. Wenn man schon nicht weiß, wohin es geht, will man wenigstens wissen, woher man kommt. Ethnizität und Nationalismus sind daher keine Relikte aus den Tagen vor der Aufklärung, ganz im Gegenteil haben diese Phänomene ihren Ursprung in der gesellschaftlichen Modernisierung, und der damit verbundenen Nivellierung sozialer Lebenswelten. Sie, und die damit verbundenen Fragen von Zugehörigkeit und Identität, sind eine Verarbeitung der Erfahrung von Entfremdung und sozialer Desintegration, eine Reaktion auf die sozialen und ökonomischen Verwerfungen, die moderne Gesellschaften im globalisierten Spätkapitalismus prägen. Je größer die Ohnmacht, je bedrohter und isolierter sich der und die Einzelne fühlt (und auch real ist), desto größer der Wunsch nach Sicherheit in Form naturgegebener Zugehörigkeiten, nach einer Identifikation mit dem sozialen Umfeld, das vorrangig in kulturellen und nationalen Mustern wahrgenommen wird. Kultur als identifikatorischer Rahmen soll dem drohenden „Orientierungsverlust im Alltagsleben“75 entgegenwirken. Hier führt sich fort, was Max Horkheimer bereits in den 1960er Jahren beschrieb: „Je weniger das Individuum im bürgerlichen Sinne noch eine Funktion hat“, desto größer wird das „Bedürfnis nach Gemeinschaft.“76 In Folge der Weltwirtschafts 75 76 73 74
Vgl. Claussen, Verschwinden des Sozialismus. Ebd., S. 39. Berger, Religion und Gesellschaft, S. 22. Horkheimer, Späne, S. 381.
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krise ab 2007, aber auch als Reaktion auf zunehmende Migrationsbewegungen, hat das Bedürfnis nach identitätsstiftender Gemeinschaft weiter an Bedeutung gewonnen, oftmals in Verbindung mit autoritären Krisenlösungsstrategien, wie Wilhelm Heitmeyer hervorhebt: „Autoritäre Versuchungen sind vor diesem Hintergrund vor allem als Reaktionen auf individuellen oder gesellschaftlichen Kontrollverlust zu interpretieren. Sie erzeugen eine Nachfrage nach politischen Angeboten, die darauf abzielen, die Kontrolle wiederherzustellen, und zwar durch die Ausübung von Macht und Herrschaft sowie über Ausgrenzung und Diskriminierung bzw. gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.“77 Hierin liegt der globale Erfolg der Rechten begründet: In einer Welt, in der nichts mehr sicher scheint, weder das Geld auf der Bank noch der Arbeitsplatz, vermittelt sie „das Bild einer sicheren Festung“78 durch Nation, ‚Rasse‘ oder auch Geschlecht (oder genauer: Männlichkeit). Die Attraktivität dieser Naturkollektive ergibt sich aus ihrem Charakter als „unkündbare“ (Bini Adamczak) Solidar- und Anspruchsgemeinschaften im Angesicht immer prekärer werdender Verhältnisse und zunehmender globaler Konkurrenz. Die Zugehörigkeiten zu diesen als naturgegeben wahrgenommenen Kollektiven gilt als nicht verhandelbar, da sie – und die damit verbundenen Privilegien – den Mitgliedern qua Geburt zustehen. Die darauf aufbauende kollektive Identität dient als Schutzraum gegenüber der Unsicherheit und Unbeständigkeit der Moderne, sie bindet die Menschen im Konkurrenzkampf aneinander, und wird zugleich gegen die Konkurrenz in Stellung gebracht. Heitmeyer spricht von „Identitätsankern“79. Was sich in Katalonien und im Baskenland, aber auch bei vielen anderen ethnonationalistischen Bewegungen als Protest gegen die kapitalistische Moderne und ihre Form abstrakter und zugleich totaler Herrschaft generiert, ist zugleich Ausdruck dieser Moderne. Die Einteilung von Menschen in Nationen war eine notwendige Begleiterscheinung der kapitalistischen Modernisierung und Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Forderung nach neuen, kleinen und unabhängigen Staaten ist daher keine antikapitalistische Strategie, sondern sie entspricht vielmehr Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen, S. 84. Adamczak, Zukunft der Welt. 79 Vgl. Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen. 77 78
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den veränderten Erfordernissen des Kapitalismus. Einerseits ist er auf globale ungleiche Entwicklung angewiesen, andererseits sind regionale Strukturen mittlerweile besser geeignet, auf schnelle Anforderungen des transnationalen Kapitalismus zu reagieren. Ebensowenig sind separatistische, ethnonationalistische Bewegungen als verzweifelte Versuche der Wiederbelebung längst überholter Organisationsformen anzusehen. Seit 1988 hat die Anzahl souveräner Nationalstaaten um 20 % zugenommen, und sie wurden alle auf ethnisch-kultureller Grundlage errichtet. Es spricht nichts dagegen, wie die aktuellen Diskurse in Katalonien und Schottland zeigen, dass in Zukunft noch weitere Staaten hinzukommen. Unzählige Parteien und Gruppen warten in vermeintlicher oder tatsächlicher Vertretung breiter Bevölkerungsschichten auf ihr kollektives Auftreten in der Weltgeschichte als souveräne Nation.80 Dieser oppositionelle Ethnonationalismus unterscheidet sich in seiner Berufung auf Geschichte, Schicksal, Ethnie, Kultur und Sprache inhaltlich nicht von der nationalistischen Legitimation bestehender Nationalstaaten, entspricht also der hegemonialen nationalen Denkform. Der Unterschied besteht nur darin, ob die Forderungen aus einer Position der Schwäche gegen den Staat und seine kulturelle Hegemonie aufgestellt werden, oder vom Staat und der Dominanzgesellschaft zur Aufrechterhaltung jener Hegemonie. Es gibt keinen objektiven Grund, Spanien den Status einer Nation mit dem Recht auf einen eigenen Staat zuzusprechen, jedoch Katalonien und dem Baskenland nicht.81 Dass die Berufung auf ethnische Differenz auch keinen vernünftigen Grund für die Unabhängigkeitsforderung darstellt, wurde hoffentlich zur Genüge dargestellt. Eine Kritische Theorie des Nationalismus, wenn sie sich nicht nur als Beitrag zur wissenschaftlichen Fachdiskussion, sondern auch als Teil der geschichtlichen und verändernden Praxis versteht, besteht in dem Verweis auf die sozial konstruierte Basis der Nation bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer objektiven Notwendigkeit. Die Betonung der historischen Genese der Nation vor nicht allzu langer Zeit als „imaginierte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson) zeigt die Veränderbarkeit dieser Beispielhaft ist hier das europäische Bündnis European Free Alliance (EFA) zu nennen, das aus 46 Parteien (Stand Juni 2020) besteht, die „staatenlose Nationen“, Regionen und nationale Minderheiten repräsentieren und für deren „Recht auf Selbstbestimmung“ eintreten. Die EFA war 2020 mit neun Abgeordneten im Europaparlament vertreten. 81 Aus diesem Grund hat Spanien, anders als die große Mehrheit der EU-Staaten, die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkannt, da dies den Unabhängigkeitsforderungen im eigenen Land zusätzliche Legitimation verschaffen würde. 80
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von den Menschen geschaffenen sozialen Realität auf, die von der Ideologie des Nationalismus verschleiert wird. Ohne Kompensation für das, was die ethnische bzw. nationale Identität den Menschen gibt, werden sie aber nicht bereit bzw. überhaupt in der Lage sein, die nationale Denkform als „notwendig falsches Bewusstsein“ abzulegen. Eine Kritische Theorie des Nationalismus muss daher die Dialektik von Nation und Emanzipation mitdenken und das identitäre Bedürfnis mit der objektiven Notwendigkeit nationaler Identifikation im spezifischen historischen Kontext in Zusammenhang setzen. Dies bedeutet auch, den Nationalismus als ideologische Bewusstseinsform ernst zu nehmen und nicht bloß als Vorurteil oder falsche Vorstellung abzutun. Denn die Nation ist nichts, was einfach dekonstruiert und dadurch abgeschafft werden kann, dem steht ihr Doppelcharakter als reale Fiktion entgegen.82 Zudem hat die Geschichte auf brutale Weise gezeigt, dass es Formen kollektiver Subjektivität geben kann, die noch weit mehr Ausschluss und Gewalt produzieren als die Nation. Exemplarisch steht hierfür die Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus, oder auch die vom Islamischen Staat (IS) propagierte Gemeinschaftsvorstellung. Max Horkheimer trat daher für die „Überführung einzelner berechtigter Elemente des Nationalismus […] in den Begriff der richtigen Gesellschaft“83 ein, um seinen demokratischen Gehalt zu bewahren. Den Nationalismus „von der Theorie einer guten Gesellschaft aus […] in seine Schranken zu weisen“84, wie es Horkheimer forderte, erscheint angesichts der globalen „ethnischen Erweckungen“ (Wolfram Stender) jedoch als äußerst schwieriges, wenn nicht hoffnungsloses Unterfangen. Dies bedeutet nicht, dass man die historisch progressiven Ideen, die mit der Idee der Nation verbunden waren, vergessen oder mit der Kritik am Gegenstand über Bord werfen sollte. Die Transformation vom demokratischen Nationalismus zur ethnischen Ausgrenzungsideologie war jedoch kein Zufall oder Resultat einer unglücklichen Abfolge historischer Ereignisse, sondern hat ihre Ursache in den gesellschaftlichen Bedingungen und ihrer materiellen Wirklichkeit. Seine Funktion als politische Religion der Moderne, als alltagsreligiöses Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, kann der Nationalismus nur durch Hinzunahme des ethnischen Abstammungsglauben erfüllen. Ethnizität, wie sie im Nationalismus als Ideologie ethnischer Identifikation ihren Ausdruck findet, dient als „Ersatz für an Siehe hierzu auch Jureit, Politische Kollektive. Horkheimer, Späne, S. 429. 84 Ebd. 82 83
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dere Integrationsfaktoren in einer zerfallenden Gesellschaft“85. Eine Kritische Theorie des Nationalismus gründet daher auf der Erkenntnis, dass das mit der Nation historisch verbundene demokratische Versprechen von Freiheit und Gleichheit real nie eingelöst wurde und dass die Ursache für dieses „Versagen der Gesellschaft“86 in der widersprüchlichen Natur der bürgerlichen Gesellschaft selbst liegt.
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III. Ausblick
Die Zukunft der Nation Ein Gespräch mit Dieter Langewiesche Die Fragen stellten Marianne Zepp und Christian Jansen Derzeit erleben wir in ganz Europa eine Konjunktur nationalistischen Denkens. Aber bereits in den 1990er Jahren war von einer „Rückkehr des Nationalismus“ die Rede. Einerseits zeigt sich in diesen Diagnosen ein etwas naiver Fortschrittsglaube der liberalen Eliten, nach denen in aufgeklärten modernen Gesellschaft Nationalismus (wie religiöser Fanatismus) von selbst verschwinde. Andererseits haben sich die Sorgen in den 1990er Jahren als übertrieben erwiesen: aus der deutschen Einigung entstand kein nationalistisches „Viertes Reich“, die europäische Einigung ging mit dem Vertrag von Maastricht, der Einführung des Euro und der Ausweitung des Schengen-Raums zu Lasten der Nationalstaaten weiter. Zugleich haben die Nachfolgestaaten des Sowjetimperiums in der Nationenbildung eine „vertrauenswürdige Grundlage für ihre Zukunftshoffnungen“ gesehen, wie Sie schreiben. Wie beurteilen Sie aus Ihrer intensiven Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalismus dessen Zukunft in Europa? Kant meinte, Zukunft lasse sich nur voraussagen, „wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum Voraus verkündigt“. Auf Ihre Frage bezogen: Die Zukunft des Nationalismus wird davon abhängen, was die Menschen in Europa weiterhin vom Nationalstaat erwarten werden. In der Vergangenheit bot der Nationalstaat eine demokratische Vision. In ihm entwickelte sich die heutige Demokratie. Deshalb nennt Jürgen Habermas – nationalistischer Gefühle unverdächtig – den Nationalstaat „Garant des schon erreichten Niveaus von Recht und Freiheit“. Das sehe ich auch so. Die Institutionen der EU wirken zwar zunehmend an der Verbürgung von Recht und Freiheit mit, doch im Zentrum stehen weiterhin die Mitgliedsstaaten. In der Corona-Pandemie hat sich dies drastisch gezeigt. Es ist der einzelne Nationalstaat, der Hilfe bereitstellen und zwischen Infektionsschutz und Bürgerrechten abwägen muss. Seine Gerichte entscheiden, wenn 344
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gegen staatliche Eingriffe geklagt wird. Generell gilt weiterhin – staatsbürgerliche Partizipation geschieht vorrangig im Nationalstaat, ebenso die soziale Absicherung der Einzelnen. Solange der Nationalstaat im Leben der Bürgerinnen und Bürger die Aufgaben behält, die gegenwärtig von ihm erwartet werden, wird er trotz europäischer Integrationsprozesse unverzichtbar bleiben. Und solange das der Fall ist, wird es auch Nationalismus geben, wenn man darunter den Willen zur politischen Gestaltung in nationaler Perspektive versteht; sei es im Nationalstaat oder über ihn hinaus. Werden Demokratie und Nationalismus in Zukunft miteinander vereinbar sein, oder ist der Gegensatz von Gleichheit und Gleichberechtigung in der Demokratie und den Prinzipien der Exklusion und Höherwertigkeit des Eigenen im Nationalismus unüberbrückbar? Auch in der Vergangenheit waren Demokratie und Nationalismus verschränkt. Nationalismus hatte stets widerspruchsvolle Facetten; eine seiner wirkmächtigsten und attraktivsten war der Wille zur Demokratie im Nationalstaat. Die Idee Nation versprach gleiche Teilhabechancen für alle. Deshalb lässt sich die Nation als eine Ressourcengemeinschaft verstehen. Welche Ressourcen im Mittelpunkt standen – Sicherheit nach außen und im Innern, faire Teilhabe an dem, was erwirtschaftet wird, soziale Absicherung in prekären Lebensphasen, um nur einige zu nennen –, veränderte sich im Laufe der Zeit. Wie die Ressourcen verteilt werden sollten, blieb immer umstritten. Doch innerhalb des Nationalstaates weitete sich der Kreis der Teilhabeberechtigten – ein Demokratisierungsprozess, bis heute unvollendet und voller Rückfälle. Nach außen hingegen grenzt jeder Staat ab. Dies zu tun, ist eine seiner zentralen Aufgaben. Als Rechts- und Sozialgemeinschaft funktioniert er nur, weil er klare Grenzen zieht. Im Nationalstaat kommt hinzu, dass die Idee Nation ebenfalls angelegt ist auf Inklusion und Exklusion. Dieses Doppelgesicht wird sich nicht ändern, falls die Bedeutung von Nation und Nationalstaat sinken sollte, weil das Aufgabenfeld der EU weiterhin expandiert. Schon jetzt wird von der EU die Sicherung der Außengrenzen verlangt. Als europäischer Staat, in welcher Gestalt auch immer, wäre das eine seiner Hauptaufgaben. Die anspruchsvolle Aufgabe, das demokratische Gleichheitsideal mit der Notwendigkeit von Exklusion zu verbinden und faire Kriterien dafür zu entwickeln, wird sich nicht von selber erledigen, wenn aggressive Formen des Nationalismus verschwinden. 345
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In Ihrem Buch „Der gewaltsame Lehrer“ haben Sie die These aufgestellt, dass es in der historischen Entwicklung der Moderne keine Nationenbildung und damit keine Nationalstaatsgründung ohne Krieg gegeben hat. Zugleich war die Periode der europäischen Staatengründungen angetrieben davon, dass „die Nation eine demokratische Fortschrittsverheißung erfand“. Von welchen Bedingungen ist es abhängig, dass nach innen nicht nur das Versprechen der Gleichheit und Rechtssicherheit eingelöst wird, sondern auch zwischenstaatlich Krieg nicht weiter als historische Notwendigkeit und als unumgänglich angesehen wird? Die Symbiose von Krieg mit Nationsbildung und Nationalstaatsgründung verstehe ich nicht als These, sondern als Tatsachenbeschreibung. Die historische Regel lautet: Staatsgründung ohne Krieg gelang nur sehr selten. Einen Staat zu gründen bedeutet, einen anderen Staat zu vernichten oder ihm Gebiete und Menschen zu nehmen. Dieser Gewaltakt erhielt eine neue Rechtfertigung, seit sich Nationen formierten und einen eigenen Nationalstaat forderten. Denn nun galt der Gründungskrieg als ein Akt demokratischer Selbstverwirklichung. Da aber die Nationalstaaten, die so in Europa entstanden, in Wirklichkeit meist Nationalitätenstaaten waren, blieb die Gefahr weiterer Gründungskriege hoch. Denn trotz der zumeist ethnisch begründeten Nationsbildung waren die Nationalstaaten bis 1945 keineswegs ethnisch homogen. Überall gab es nationale Minderheiten (Nationalitäten). Diese Kriegslatenz endete in Europa erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Staaten, die aus ihm hervorgingen, waren nicht mehr in der Lage, ihre Grenzen militärisch zu verändern. Zudem hatte dieser katastrophale Krieg das Ideal aller Nationalisten – Eine Nation, Ein Staat – weitgehend erzwungen. Allerdings anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Die riesigen Migrationen, eine der wirkungsmächtigsten Kriegsfolgen, führten zur Ethnonationalisierung der Staaten Europas. Nie zuvor waren sie national so homogen gewesen. Das war ein Grund (neben anderen, die ich hier nicht erwähne), warum in Europa eine Friedensphase begann, in der wir noch heute leben. Als jedoch der jugoslawische Nationalitätenstaat zerbrach, erwies sich der Krieg auch im Europa unserer Gegenwart erneut als Staatsbildner. Gleichwohl ist mit der EU eine historisch gänzlich neue Situation entstanden. Konfliktentscheidung durch Krieg unter den Mitgliedsstaaten will diese neue Ordnung ausschließen. Dieses Friedensgebot richtet sich jedoch nur nach innen. Nach außen will auch das neue Europa als starke Macht auftreten. Ich halte es deshalb für unwahrscheinlich, dass die historische Verbindung von Demokratie- und Macht346
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vision durch ein politisch geeintes Europa überwunden wird. Doch auch hier gilt Kants Einsicht: Zukunftshoffnungen werden realisiert, indem man sie durchsetzt. Dabei grundsätzlich auf Krieg zu verzichten, verlangt einen radikalen Bruch mit der Geschichte. Dass die Staaten Europas sich in ihrer heutigen territorialen Gestalt anerkennen, ist die Grundvoraussetzung für einen dauerhaften Ausstieg aus der Kriegsgeschichte Europas. Lange gab es einen unhinterfragten Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Nation. Der Kriegsdienst war Ausweis der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft. Zugrunde lag dieser eine Geschlechterordnung, die Frauen lange Zeit aus dem öffentlichen Raum ausschloss, bevor diese begannen, eigene Begründungen und Strategien für Teilhabe und Eintritt in die nationale Gemeinschaft zu entwickeln. Wie verhält sich der Eintritt der Frauen in die nationale Arena zu dem Konzept einer aus dem Krieg geborenen Idee der Nation? Welchen Einfluss hat die Teilhabe von Frauen an der Gestaltung des Staates? Betrachtet man das Teilhabebegehren von Frauen, muss dann der Zusammenhang von „Fortschritt“, Krieg und Nation neu gedacht werden? Die Idee Nation zielt auf den eigenen Nationalstaat, und Nationalstaaten sind Kriegsgeschöpfe. Diese Verbindung von Nation und Nationalstaat mit Krieg rückte die Frauen, solange Kriegsdienst ausschließlich als Pflicht (und Recht) von Männern galt, ins zweite Glied, machte sie zu „Hintersassen der Nation“, wie der österreichische Sozialist Otto Bauer alle nicht als gleichberechtigt Anerkannte genannt hat. Gleichwohl erkämpften sich auch in der Geschichtsphase des militärischen Männermonopols Frauen kriegsbedingte Partizipationsmöglichkeiten. Denn gerade in Kriegszeiten war die männerdominierte Nation auf die Mitwirkung der Frauen angewiesen. Zwar sprach man erst seit dem Ersten Weltkrieg von der „Heimatfront“, doch es hat sie auch zuvor gegeben. Die Idee des Volks- oder Nationalkrieges war von Beginn an darauf angelegt, die gesamte Bevölkerung, einschließlich der Frauen, der kämpfenden Nation einzureihen. Doch solange der „Dienst mit der Waffe“ Männern vorbehalten blieb, wurde dies immer wieder als Argument genutzt, den Frauen die volle politische Teilhabe zu verweigern. Die „Nation in Waffen“ wirkte hier als Bollwerk im „maskulinem gendering politischer Partizipation“ (Gisela Bock), obwohl die Idee Nation eine Gleichheitsvision bot und von Frauenverbänden argumentativ auch so eingesetzt wurde. 347
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Den zweiten Teil der Frage – was änderte sich an der Verbindung von Nation und Krieg, als Frauen an der Gestaltung des Staates teilhaben konnten? – vermag ich nicht bündig zu beantworten. Warum – das will ich mit wenigen, unvollständigen Stichworten andeuten. Als erstes wäre zu klären, was heißt hier Teilhabe? Als ein Kriterium bietet sich das Frauenwahlrecht an. Es kam jedoch in einem langgezogenen Prozess, von Staat zu Staat unterschiedlich und begleitet von Rückfällen. Die Ausweitung des Wahlrechts, zunächst auf alle Männer, dann mit meist erheblicher zeitlicher Verzögerung auf die Frauen, hat die nationalstaatliche Politik in Europa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nicht friedlicher gemacht. Weder im Zugang zu den staatlichen Entscheidungsinstitutionen, noch zu den Schlüsselpositionen in der Gesellschaft beendete das Frauenwahlrecht die Geschlechterbarriere. Zwar setzten auch Frauenverbände die Kriegslast, die Frauen trugen, als Argument ein, Gleichstellung zu fordern. Doch die Geschlechterbarriere durchlässiger zu machen, war nicht vorrangig eine Folge von Kriegen, sondern von gesellschaftlicher Demokratisierung. Krieg als Gestaltungskraft, Krieg als Instrument, um dem, was man als „Fortschritt“ wertete, gewaltsam auf die Sprünge zu helfen – diese historische Rolle kommt dem Krieg für den Abbau von Ungleichheit zwischen Männern und Frauen nicht zu. Ob die volle Teilhabemöglichkeit von Frauen am Staat den Zusammenhang von „Fortschritt“, Krieg und Nation, der aus der Geschichte bis in die Gegenwart reicht, aufbrechen wird, ist eine Frage an die Zukunft. Die Vergangenheit bietet keine Antwort. Deshalb bin ich dieser Frage in meinem Buch nicht nachgegangen. Sie legen dar, dass die Idee der Nation als Opfergemeinschaft den Weg hin zu einer ideologischen Rechtfertigung für Krieg ebnet. Belebt der heutige Rechtspopulismus diese Opfervorstellung, indem er Bedrohungsszenarien revitalisiert? Führen diese Strategien nicht nur nach innen zu gewaltsamen Ausgrenzungen – wie wir es bereits erleben –, sondern werden sie in Zukunft auch zu neuen kriegerischen Auseinandersetzungen führen? Solange die Staaten Europas ihre heutigen Grenzen ohne Vorbehalt anerkennen und die EU Europa zu einem Staatsraum macht, in dem militärische Konfliktlösung ausgeschlossen ist, sehe ich von den Rechtspopulisten keine zwischenstaatliche Kriegsgefahr ausgehen. Innerhalb der Staaten sieht es jedoch anders aus. Hier kön348
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nen geschichtlich vertraute Bedrohungsszenarien durchaus wiederbelebt werden. Vor allem die Zuwanderung aus Regionen außerhalb Europas eignet sich dafür, weil sie auf Gesellschaften trifft, die durch die Bevölkerungsverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg national-ethnisch zwangshomogenisiert worden sind. Bei den derzeitigen Krisen (Klimawandel, Migration, Corona-Pandemie) ist fraglich, ob sie auf nationaler Ebene überhaupt lösbar sind. Zugleich sind die wichtigsten Systeme zur sozialen Sicherung (Renten‑, Arbeitslosen‑, Krankenversicherung, aber auch Steuersysteme etc.) nationalstaatlich organisiert. 2020 geschahen als Konsequenz aus der Einführung des Euro erste Schritte zu europäischen Anleihen, um europäische Gemeinschaftsaufgaben zu finanzieren. Was wären sinnvolle nächste Schritte hin zur Überwindung des Nationalismus durch Vereinigte Staaten von Europa? Die Krisen, die Sie nennen, verlangen suprastaatliche Zusammenarbeit. Diese wird jedoch weiterhin nationalstaatlich geregelt und legitimiert. Vermutlich würde der Nationalstaat seine zentrale Position in den Erwartungen der Menschen erst dann verlieren, wenn wichtige Aufgaben, die unmittelbar in das Leben der Einzelnen eingreifen, auf europäische Institutionen übergingen. Vor allem aber müsste die europäische Ebene in der Lage sein, anstelle oder gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten das leidvoll erreichte heutige „Niveau von Recht und Freiheit“ zu garantieren, um noch einmal Habermas zu zitieren. Es müssten Wege entwickelt werden, auf denen staatsbürgerliche Partizipation in den Nationalstaaten und zugleich in den Vereinigten Staaten von Europa verwirklicht werden kann. Historische Vorbilder dafür gibt es nicht. An welches Modell könnte eine supranationale Ausweitung von Demokratie in Europa anknüpfen? Und wie ließe sie sich durchsetzen? Ich kenne kein historisch erprobtes Modell, das sich anböte. Am ehesten kann man sich wohl an föderativen Vorbildern orientieren. Die Vereinigten Staaten scheiden jedoch aus etlichen Gründen aus; vor allem: hier sind nicht historische Staaten vereint worden. Häufig wird die EU mit der komplexen Konstruktion des Alten Reichs verglichen – Vielstaatlichkeit mit einem Dach gemeinsamer Institutionen. Es fehlte jedoch das, was wir von einer supranationalen Ausweitung 349
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verlangen: das Partizipationsrecht aller am institutionalisierten Prozess der Willensbildung. Diese Aufgabe ist bislang meines Wissens nirgendwo in einem suprastaatlichen Gebilde gelöst oder auch nur angegangen worden. Insofern wird man feststellen müssen: Die EU ist in ihrer jetzigen Gestalt ohne historisches Vorbild, und für ihre Weiterentwicklung in eine demokratische Vereinigung von Staaten – in welcher Form auch immer – gilt dies auch. Es muss etwas Neues erdacht und erprobt werden. Können übernationale Bundesstaaten ihrerseits Nationalismus entwickeln? Wäre in Zukunft also ein europäischer Nationalismus denkbar, der die einzelnen Nationalismen überwölbt? Wenn die EU zu einem übernationalen Bundesstaat ausgebaut werden sollte, würde intern Krieg als ein Weg zur Konfliktlösung ausscheiden. Doch nach außen wäre er ein Staat wie andere auch. Er wäre für die Sicherheit nach außen zuständig, für gute Chancen im internationalen Wettbewerb, für alles, was Staaten untereinander zu regeln haben. Das würde den Boden für Nationalismus bereiten. Vor allem das Gefühl, bedroht zu werden, erzeugt oder verstärkt Nationalismus. Gegen ihn wäre ein europäischer Bundesstaat, nur weil er übernational ist, keineswegs gefeit. Sie vertreten in der „Der gewaltsame Lehrer“ die These, dass die Zukunft Europas nur dann gelingen könne, wenn Institutionen geschaffen würden, die den Frieden nach innen zwischen den europäischen Nationalstaaten und global nach außen sichern. Gehört dazu auch eine gemeinsame Verteidigungsstrategie und eine geeinte Militärmacht bzw. wie anders sollte die Europäische Gemeinschaft mit der Frage kriegerischer Auseinandersetzungen in Zukunft umgehen? Auch wenn man davon ausgeht, ein geeintes Europa werde seine Stärke nicht militärisch aggressiv missbrauchen – es wird ein mächtiger Akteur sein, von dem erwartet wird, in der globalen Politik Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört bislang immer noch, bereit und fähig zu militärischem Einsatz zu sein. Auch wenn er dem Erhalt oder der Wiederherstellung des Friedens dient. Deshalb gehe ich davon, dass im Einigungsprozess, wenn er in Richtung staatliche Einheit (in welcher Form auch immer) verläuft, ein europäisches Militär entstehen wird. Einen euro350
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päischen Staat mit nationalstaatlichem Militär oder mit schwachem Militär kann ich mir nicht vorstellen. Beides würde das neue Europa zu einem schwachen Europa machen. Wer würde für ein solches Europa den vertrauten Nationalstaat aufgeben oder ins zweite Glied rücken wollen?
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Autor*innenverzeichnis Gideon Botsch, Dr. phil., Politikwissenschaftler. Forschungsschwerpunkte: Antisemitismus und Rechtsextremismus in Geschichte und Gegenwart. Außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam, Leiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien Potsdam. Thomas Etzemüller, z. Zt. Prof. für Kulturgeschichte der Moderne an der Universität Oldenburg (befristet). Studium der Neueren Geschichte, Empirischen Kulturwissenschaften, Kunstgeschichte und Filmwissenschaften in Tübingen und Stockholm, Promotion 2000 mit einer wissenschaftssoziologischen Arbeit zur Genese der Sozialgeschichte, Habilitation 2010 mit einer Studie zu Alva und Gunnar Myrdal und dem schwedischen Social Engineering. Forschungsschwerpunkte: Historische Soziologie/Kulturanalyse der nord- und westeuropäischen Moderne, Wissenschaftssoziologie/‑anthropologie. Christian Jansen, Nach einem Studium der Geschichte und Mathematik und einigen Jahren in einem Druckereikollektiv wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Heidelberg (Promotion 1989) und Bochum (Habilitation 1998). Anschließend viele Jahre auf befristeten Professuren in Konstanz, Bochum, Jerusalem, Berlin und Münster. Seit 2013 Professor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt 19. Jahrhundert) an der Universität Trier. Publikationen unter https://www.uni-trier.de/index.php?id=50400. Zur Nationalismusforschung: (mit H. Borggräfe) Nation – Nationalität – Nationalismus, 2. aktualis. Aufl. Frankfurt/M. 2020; „Verspätet?“ – „Pünktlich?“ – „Zu früh?“ Klischees, Thesen und Forschungsfelder zur Nationsbildung in Europa während des 19. Jahrhunderts, in: Anja Pistor-Hatam (Hg.): Identitäten im Prozess, Hamburg 2016, S. 107–117; Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871. Paderborn 2011. Gabriele Kämper, Dr. phil, studierte Germanistik, Lateinamerikanistik und Philosophie in Berlin und Madrid. Sie promovierte mit einer Arbeit zu Rhetorik und Geschlecht in rechtsintellektuellen Diskursen und publiziert zu Fragen politischer 352
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Rhetorik, konservativer Ideengeschichte und literarischen Imaginationen von Männlichkeiten und Geschlecht. Sie arbeitet in leitender Funktion in der Frauen- und Gleichstellungspolitik des Landes Berlin mit den Schwerpunkten Gender Mainstreaming, Öffentlichkeit und Digitalisierung. Dieter Langewiesche, em. Prof. für Neuere und Mittlere Geschichte an der Universität Tübingen, Seminar für Neuere Geschichte. Hauptforschungsgebiete: Nation, Nationalismus, Nationalstaat und Krieg; Revolutionen 1848; Liberalismus und Bürgertum; Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur; Universitätsgeschichte und Erwachsenenbildung; Geschichte der Geschichtsschreibung. Genauere Informationen: http://www.uni-tuebingen.de/?id=4413 Daniel Mahla ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München und Koordinator des dort ansässigen Zentrums für Israel-Studien. Sein Buch Orthodox Judaism and the Politics of Religion: From Prewar Europe to the State of Israel ist 2020 bei Cambridge University Press erschienen. Zurzeit arbeitet er an einer Kulturgeschichte der israelisch-europäischen Beziehungen. Thorsten Mense, freiberuflicher Soziologe und Journalist. Er lebt und arbeitet in Leipzig und ist dort Mitglied im Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (FKR) bei Engagierte Wissenschaft e.V. Hauptforschungsgebiete: Nationalismus, Neue Rechte, kollektive Identitäten, soziale Bewegungen. 2016 erschien von ihm das Buch „Kritik des Nationalismus“ (Schmetterling Verlag). Zusammen mit Thomas Ebermann hat er 2019 eine szenische Lesung zum Thema „Heimat“ konzipiert und in über 50 Städten aufgeführt: heimatfeindschaft.de Jan Palmowski ist Professor für Neuere Geschichte an der University of Warwick in Großbritannien. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Geschichte der DDR, Heimat, Nation und Identität im 19. und 20. Jahrhundert, Alltagsgeschichte, und die Geschichte von Liberalismus und Demokratie in der Kaiserzeit (1866– 1914). Nach seiner Promotion an der Universität Oxford ging er ans King’s College London, wo er 2009 zum Professor berufen wurde, bevor er 2013 an die Universität von Warwick wechselte. Er veröffentlichte u. a. ‚German Division as Shared Experience. Interdisciplinary Perspectives on the Everyday‘ (mit Erica Carter und Katrin 353
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Schreiter, Oxford/New York, 2019) und ‚Die Erfindung der sozialistischen Nation: Heimat und Politik im DDR-Alltag‘ (Berlin, 2016). Matthias Waechter ist ein deutscher Zeithistoriker. Promotion und Habilitation in Geschichte an der Universität Freiburg i. Brsg. Forschungen zur Geschichte der USA, der französischen Zeitgeschichte und den deutsch-französischen Beziehungen. Wichtigste Publikationen: Die Erfindung des amerikanischen Westens. Die Geschichte der Frontier-Debatte, Freiburg 1996. Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie. Göttingen 2006. Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing. Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre, Bremen 2011. Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert, München 2019. Seit 2013 leitet er das europäische Hochschulinstitut CIFE in Nizza. Derzeit lehrt er ebenso am Département für Zeitgeschichte der Universität Freiburg (Schweiz). Siegfried Weichlein, Professor für Europäische und Schweizerische Zeitgeschichte an der Universität Fribourg (Schweiz). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die die Geschichte des Nationalismus, des Föderalismus und des Regionalismus, die Geschichte der Parteien, die Kulturgeschichte des Kalten Krieges, die politische Ikonographie und die moderne Religionsgeschichte des Christentums. Neuestes Buch: Föderalismus und Demokratie in der Bundesrepublik, Stuttgart Kohlhammer 2019. Marianne Zepp, Dr. phil., war von 1997 bis 2010 Referentin für Zeitgeschichte in der Heinrich-Böll-Stiftung. Von 2011 bis 2015 arbeitet sie als Programmdirektorin für das deutsch-israelische Dialogprogramm der Stiftung in Tel Aviv, Israel. Nach der Rückkehr nach Berlin 2011 bis Januar 2018 wieder Referentin für Zeitgeschichte in der Heinrich-Böll-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Bundesrepublik nach 1945, Geschichtspolitik in Deutschland und Europa, Geschichte der deutsch-israelische Beziehungen. Veröffentlichungen u. a.: Politische Gewalt in Deutschland. Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen (zusammen mit Jose Brunner und Doran Avraham) Göttingen 2014. „Entrüstet Euch!“ Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung (zusammen mit Christoph Becker-Schaum, Philipp Gassert, Martin Klimke, Wilfried Mausbach). Paderborn 2012 (Engl. The Nuclear Crisis. The Arms Race, Cold War Anxiety und the German Peace Movement of the 1980s. New York 2016). 354