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German Pages 580 Year 1999
HEINER TIMMERMANN (Hrsg.)
Nationalismus und Nationalbewegung in Europa 1914 - 1945
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann
Band 85
Nationalismus und Nationalbewegung in Europa 1914 -1945
Herausgegeben von
Heiner Timmermann
Duncker & Humblot · Berlin
Dieses Projekt wurde mit Hilfe der Union-Stiftung, Saarbrücken, unterstützt.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Nationalismus und Nationalbewegung in Europa 1914 - 1945/ hrsg. von Heiner Timmermann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e.Y.; Bd. 85) ISBN 3-428-08896-4
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-08896-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung Heiner Timmermann
Nationalbewegung und Nationalismus in Europa 1914-1945 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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11. Nationalbewegung und Nationalismus in übergreifenden Strukturen Gerhard Schulz
Nationalismus und Geistesgeschichte. Versuch einer resümierenden Betrachtung. . . . . . .. 19
Xose M. Nuiiez
Internationale Politik, Minderheitenfrage und nationale Autonomie:Der Europäische Nationalitätenkongreß (1925-1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 39
111. Nationalbewegung und Nationalismus in territorialen Strukturen 1. Mitteleuropa
Istvtin Nemeth
Die ungarischen Revisionsbestrebungen und die Großmächte (1920-1941) . . . . . . . . . . .. 73
Milan Krajcovic
Internationale und außenpolitische Zusammenhänge der slowakischen Nationalbewegung 1914-1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Helmut Bleiber
Österreich 1918 bis 1945 - eine nationale Frage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...... 125
Marc- Wilhelm Kohfink
Europäische Utopie und nationale Realität im deutschen Liberalismus 1890-1933 ....... 137
Stephan Vopel
Radikaler, völkischer Nationalismus in Deutschland 1917-1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Karsten Ruppen
Der Nationalismus der systemstabilisierenden Parteien der Weimarer Republik . . . . . . . . . 183
Inhaltsverzeichnis
6 Edgar Wolfrum
Nationalismus, Föderalismus und Separatismus in Deutschland nach dem Untergang des Dritten Reiches. Die Perzeption der westlichen Siegermächte .......... 235
2. Osteuropa
Volodymyr Jewtuch
Die Nationalbewegung in der Ukraine - Aufschwung und Niedergang (1914 - 1925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Claus Remer
Die Ukraine auf dem Wege vom zaristischen zum sowjetischen Unitarismus .......... 261
[rena Stawowy-Kawka
Die Mazedonische Frage und die bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen (1918-1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Guy Warner
Iugoslawischer Nationalismus zwischen den Weltkriegen. Das Nachspiel des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Mihai-Stefan Ceausu
Die rumänische Nationalbewegung der Bukowina und die Bildung Groß-Rumäniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Dan Berindei
Mehrheit und Minderheiten im Nationalstaat Rumänien 1918 - 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Sandor Vogel
Die Frage Siebenbürgens und die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien in den Iahren 1920-1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... 327
Leo Dribins
Nationalismus im Spiegel der lettischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Wolfgang Wippermann
Die Konservative Revolution und der Osten. Zur Geopolitisierung des nationalen Diskurses in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
3. Südeuropa
Marek Waldenberg
Der Einfluß des Ersten Weltkrieges auf die nationalen Bestrebungen im westlichen Teil des russischen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
Kar/-Egon Lönne
Die Entwicklung des italienischen Nationalismus, seine Einwirkung auf und seine Verschmelzung mit dem Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Angelica Gernen
Patriotismus und Faschismus - Gabriele D'Annunzio und Benito Mussolini . . . . . . . . . . . 413
Inhaltsverzeichnis
7
Xose M. Nunez
Spanischer Nationalismus. periphäre Nationalbewegungen und Staatskrise (1917-1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
Ludger Mees Zwischen Euphorie und Depression: Der baskische Nationalismus 1917 bis 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 4. Westeuropa
Georgi Verbeeck Nationalismus und Demokratie in Belgien. Das Erbe zweier Weltkriege . . . . . . . . . . . . . 505
Heinz-Otto Sieburg Wandlungen in den Urteilen Jacques Bainvilles über die Dritte Republik (1910-1935/36). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Publizistik der Action fran~ise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
Dieter Tiemann Nation als Gegenstand deutsch-französischer Jugendkontakte in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
Erkki I. Kouri
Der nationale Gedanke in Finnland in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
Wolfgang Wilhelmus Schweden im Aktionsfeld deutscher Nationalisten 1918-1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557
Wolfgang Berg
Sinti und Roma in einem Europa der Nationalstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
I. Einle itung
Nationalbewegung und Nationalismus in Europa 1914 - 1945 Von Heiner Tirnrnermann
Die Welle der "New Nationalism" , die in den letzten Jahren Europa erfaßt hat und in den Staaten des ehemaligen Ostblocks besonders aktiv ist/wird, macht die Frage nach den historischen Wurzeln aktuell. Diese Wurzeln sind in jener Zeit zu suchen, in der sich moderne Nationalbewegungen in Europa formiert haben - also im 18. Und 19. Jahrhundert, manche auch noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Man kann wohl grundsätzlich sagen, daß die Nationalbewegungen durch die Bestrebungen definiert werden können, die grundlegenden Defizite nationaler Existenz zu beseitigen: 1. die mangelnde politische Eigenständigkeit, 2. die unvollständige soziale Struktur und 3. die mangelnde Kultur in eigener Schriftsprache. Allerdings haben sich Nationalbewegungen auch gleichzeitig an verschiedenen, miteinander konkurrierenden Merkmalen orientiert: Religion, Rasse, Tradition, Geschichte, Brauchtum, Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und wieder Sprache. Dann gab es noch die an einem Staat orientierte, imperialistisch ausgreifende Nationalbewegung - ebenso wie jene, die sich mit Kraft und Energie gegen eine einschmelzende Staatsgewalt wandte. Die Nationalbewegung war ein Konglomerat von Ideen und Handlungen, Ausdrucksform und Ausdrucksmittel (z.B. Agrarreformen, Schulen, Universitäten, Bildung, Vereinswesen: allgemein-kulturell, wirtschaftlich, ideell, wissenschaftlich-literarisch, später politisch. Parteien und Gewerkschaften, Journalistik, Sammeln und Aufzeichnen folkloristischem Materials (besonders Märchen, Volkslieder, Literatur), von tragenden Schichten und Gruppen (Volksbewegungen, Intelligenz, Bedeutung der Volksschullehrer, Kulturvereine, akademisch Gebildete, Adel, Priesterse-
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Heiner Timmermann
minare, Exilgruppen), von Zielen und Programmen (Bewegungen fehlte oft eine einheitliche Organisation, die aufgestellten Forderungen umfaßten ein breites Spektrum. Abhängigkeit von Zeit, Ort und Entwicklung des Territoriums, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur, Endziel: eigener Staat oder Autonomie) und von Reaktionen auf nationale Bewegungen (Aufnahme oder Ablehnung) . Obwohl den Nationalbewegungen Grundmuster in der Typologie unö Soziologie zugrundelagen, gab es in den verschiedenen Territorien und in verschiedenen Phasen Abweichungen und unterschiedliche Entwicklungen: Sie existierten ohne eigenen Staat und mit unvollständiger Sozialstruktur, mit eigenem Staat und vollständiger Sozialstruktur. Sie waren häufig gerichtet gegen die wirtschaftlich und sozial vorgefundene politische Ordnung, wollten einen politisch-kulturellen Befreiungsprozeß. Dabei waren sie verwurzelt in der agraischen Gesellschaft und übten gleichzeitig eine mobilisierende und bewußtseinsschaffende Funktion aus. Religiös umfaßte sie das Spektrum: Säkular, kirchenfeindlich, klerikal. Insgesamt kann gesagt werden, daß der kulturelle Faktor wichtiger war als der soziale. Kultur wurde oft benutzt als Vehikel für die Ausbreitung von Aktivitäten. Die Alphabetisierung, Entwicklung der Schulen und Universitäten, des Verlagswesens, der Zeitungen und Zeitschriften spielten eine tragende Rolle. Daß die Nationalbewegungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts Massenbewegungen wurden, hat seine Gründe in der Bauernbefreiung, die eine Erhöhung der Mobilität und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage mit sich brachte, aber auch in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ereignissen und philosophisch-geistigen Strömungen. Für manche Territorien war die kirchlich-territoriale Organisation neben der Konstituierung des historischen Bewußtseins auf den Raum schon ein nationales Element. Der Prozeß der nationalen Institutionenbildung vollzog sich uneinheitlich in der Zeit und im Ablauf, wenn es auch grundsätzlich Gemeinsames gab. Völker waren oft nicht nur verteilt, sondern lebten auch unter verteilten Herrschaften. Die Umwandlung des Volksbewußtseins in Nationalbewußtsein ist als Konsequenz der Entwicklung der Gesellschaft auf sozialem, kulturellem, rechtlichem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet zu betrachten. Abhängige Völker waren bestrebt, dem Druck der regierenden Völker bzw. Großmachtvölker und großen Nationen zu entkommen und einen eigenen Nationalstaat zu bilden. So wurden gerade die Großmächte Helfer der nationalen Befreiungsbewegungen. In diesem Prozeß spielten konkrete Bedingungen historischer Etappen, allerdings auch Zufälle, eine bestimmende Rolle.
Nationalbewegung und Nationalismus in Europa 1914 - 1945
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Wirtschaftlich bedingtes Wachstum der Städte und Produktion, des Innenund Außenhandels bewirkten eine rasche Entwicklung der Bedeutung von Wissenschaft und Bildung. Die Produktionsmethoden verlangten eine entsprechende Bildung und Ausbildung der Leiter und breiter Volksschichten. Während die Gebildeten früherer Zeiten fast immer eng an die Kirche und/oder Herrscher gebunden waren, konnte sich jetzt das Bildungsbürgertum freier und unabhängiger entfalten und die Führung der Nationalbewegung übernehmen. Bei einigen "historischen" Völkern - wie die der Deutschen und Italiener -, die in einer Vielzahl von Staaten und Kleinstaaten unterschiedlichster Größe zersplittert waren, wuchs unter dem Einfluß der Nationalbewegungen das Bewußtsein der Notwendigkeit einer politisch-organisatorischen Vereinigung. Nach Unabhängigkeit strebten Polen, Ungarn, Tschechen, Italiener in der Lombardei und in Venetien, Rumänen, Slowaken, Iren, die Slaven auf dem Balkan, die Katalanen auf der iberischen Halbinsel u. v .m. Gegen Ende der 20er Jahre und zu Beginn der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts erkämpften sich die Griechen sowie die Flamen und Wallonen ihre Unabhängigkeit. Da den Finnen - anders als z.B. bei den Polen - die Möglichkeit fehlte, sich auf einen verlorengegangenen Staat zurückzubesinnen, traten bei ihnen das Volk und dessen Sprache und Geschichte in den Vordergrund. Nationale Bewegungen im Europa des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, so legt es ein Blick auf die "erfolgreichen" Fälle nahe, sind nicht denkbar ohne den Staat. Nationen sind nach einer gängigen Definition Gemeinschaften, die auf einen Staatsapparat bezogen sind. Demgemäß war der Nationalstaat das Ziel der nationalen Bewegungen. Sie hatten einen aktiven Anteil bei seiner Schöpfung, und wenn er geschaffen war, trugen sie ihn. Im Oktober 1991 führte das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut der Europäischen Akademie Otzenhausen ein internationales Historikerkolloquium zum Thema "Die Entstehung der Nationalbewegung in Europa 1750 - 1849" durch. Hauptziel war es, unter den Voraussetzungen der neuen freiheitlichen Möglichkeiten der Wissenschaftler der Länder Ost- und Mitteleuropas gemeinsam mit den aus dem bisher schon freien Europa zu versuchen, eine Theorie der Nationalbewegung zu formulieren. Aus der Fülle der Erscheinungsformen wurden Kategorien benannt. Ferner wurde dem gesellschaftlichen Strukturprinzip nachgegangen, das sich in den Nationalbewegungen geäußert hat. Die Ergebnisse wurden in einem Sammelband "Die Entstehung der Nationalbewegung in Europa 1750 - 1850", Duncker & Humblot, Berlin 1993, 317 S., festgehalten.
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Heiner Timrnermann
Im Mai 1993 veranstaltete das Sozialwissenschaftliehe Forschungsinstitut der Europäischen Akademie Otzenhausen ein internationales Kolloquium zum Thema "Die Entwicklung der Nationalbewegungen in Europa 1850 - 1914". Es wurden Kriterien für die Wandlungen der Nationalbewegungen von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges herausgearbeitet. Die Publikation liegt vor (ebenfalls bei Duncker & Humblot). Vom 28.11. - 2.12.1994 setzte sich ein drittes Historikerkolloquium mit dem Thema "Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa 1914 - 1945" auseinander. Der Union-Stiftung Saarbrücken sei an dieser Stelle für die Kooperation herzlich gedankt. Die Pariser Friedenskonferenz von 1919 wollte Europa neu ordnen, indem sie ihm u.a. eine nationaldemokratische Struktur gab, und sicher hat sie dies, neben manchen Verstößen gegen dieses Ziel, in vielen Fällen auch erreicht und den kleinen Völkern den Weg zur nationalen Selbständigkeit gebahnt. Aber: In einem System von souveränen Staaten, die sich als Nationalstaaten jeweils eines bestimmten Sprachvolkes legitimierten und darum an ihrer sprachlich kulturellen Homogenität interessiert waren, mußte sich die Nationalitätenfrage nur noch verallgemeinern und verschärfen. Jetzt erst wurde sie zum eigentlichen Strukturproblem Europas, vor allem Ostmitteleuropas. Die nationale Souveränität, wie sie jetzt als höchster Wert erschien, hatte nicht nur einen konstruktiven, sondern auch einen destruktiven Wert. Sie trug auch dazu bei, die "Gemeinschaftlichkeit von Europa" (Ranke) zu zerstören. Der amerikanische Präsident Wilson ging von dem Glauben aus, daß das kollektive Sicherheitssystem des Völkerbundes und die Gleichartigkeit demokratischer Verfassungen ein Korrektiv nationaler Vereinzelungen werden könnte. Aber dies erwies sich als Trugschluß. Das Völkerbundsystem krankte an dem Mißverhältnis von geforderter Universalität und seinen tatsächlichen fragmentarischen Charakter. Die Gleichartigkeit demokratischer Verfassungen blieb ein vorübergehender Traum. In den 20er Jahren ging die Mehrzahl der europäischen Staaten zu totalitären und autoritären Staatsformen über, die den nationalen Souveränitätsanspruch nach innen und nach außen entweder verschärften oder aus ihm einen Herrschaftsanspruch führender Völker und Rassen über andere entwickelten. Damit ist eine entscheidende Wende eingetreten: Der Gedanke der nationalen Souveränität war aus der Verbindung des Nationalitätenprinzips mit dem Prinzip der staatlichen Souveränität erwachsen. In dem Augenblick, in dem die Souveränität des Volkes an die Stelle der Souveränität der Fürsten trat, war die ganze Nation aufgerufen zur Verteidigung ihrer Souveränität als der Summe ihrer demokratischen Rechte und Pflichten. Überschritt nun aber der Souveränitätsanspruch die Grenzen einer Nation, verlangte er die Beherrschung anderer
Nationalbewegung und Nationalismus in Europa 1914 - 1945
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Nationen aus einer angeblich höheren Mission, aus den selbst gegebenen Ansprüchen höherer Rasse und höheren nationalen Rechts, dann entstand ein nationalistischer Imperalismus.
11. Nationalbewegung und Nationalismus in übergreifenden Strukturen
2 Timmcrmann
Nationalismus und Geistesgeschichte Versuch einer resümierenden Betrachtung Von Gerhard Schulz
Von Nationalismus zu sprechen, ist im Verlaufe dieses Jahrhunderts immer schwieriger geworden. Das gilt auch, sogar in erster Linie für den Historiker, nicht nur für Sprachraum und Betrachtungsweisen der Deutschen, die hier aber besonders interessieren mögen. Mit der politischen Begriffsbildung in der deutschen Geschichte gab und gibt es allerdings besondere Schwierigkeiten, wie Ernst Troeltsch schon 1922 in einem Vortrag "Naturrecht und Humanität", veröffentlicht in dem Nachlaßband "Deutscher Geist und Westeuropa" , hervorgehoben hat. Die deutschen politischen Begriffe, so sah es Troeltsch, sind die "unausgearbeiteten, welthistorisch unbewährten und theoretisch unfertigen." So "beruht das deutsche politisch-historisch-ethische Denken auf den Ideen der romantischen Gegenrevolution, die ... in Staat und Gesellschaft das 'organische' Ideal eines von sehr antibürgerlichem Idealismus erfüllten ästhetisch-religiösen Gemeingeistes aufzurichten unternahm und dann aus diesem Ideal heraus die deutsche Staatslosigkeit durch die Bildung eines es verkörpernden starken Einheitsstaates zu überwinden suchte. In der höchst verwickelten geistigen und politischen Geschichte Deutschlands ist diese Idee dann mannigfach gebrochen und zahlreichen Kompromissen bis zur völligen Selbstentfremdung unterworfen worden ... " Das sind gewichtige Worte eines erfahrenen und selbständigen, wohl unterschätzten, aber doch neben Max Weber bedeutendsten Geisteswissenschaftlers, der sich mit dem Verhältnis deutschen Denkens zu westeuropäischem eingehend befaßt hat, ohne auf zeitgemäßem Schlagwortgebrauch zu bestehen. Die deutsche Historiographie, soweit sie sich der neueren Geschichte annahm, unterlag indessen fortschreitender Einengung ihres Interessenkreises, seitdem die weiter ausgreifenden, weltgeschichtlich sich nennenden Unternehmungen etwa Leopold von Rankes und, in mancher Hinsicht noch beeindruckend, Johann Gustav Droysens, neben den denkwürdigen theoretisierenden Bemühun2*
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Gerhard Schulz
gen des von Historikern zwischen 1850 und 1950 nie oder nur wenig beachteten Lorenz von Stein versandet, vergessen oder verdrängt worden war. Karl Lamprechts letzter und - umfangreiches - Fragment gebliebener Versuch einer weltgeschichtlichen Betrachtung hat überhaupt keine sonderliche Beachtung gefunden, nicht einmal in biographischen Würdigungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Friedrich Meineckes "Idee der Staatsräson" behauptet angesichts dieser Lage gar schon eine einsame Sonderstellung. Der amerikanische Historiker Hans Kohn hat nun gerade "das Zeitalter des Nationalismus ... die erste Epoche mit einer universalen Geschichte" genannt. "Der Nationalismus, der im Verlaufe des 18. Jahrhunderts in Westeuropa in Erscheinung getreten ist," sei "bis in die entferntesten Winkel unserer Erde vorgedrungen ... " Ist nun auch der Nationalismus "nur eine der Kräfte ... welche das Gesicht des Zeitalters geprägt haben, so rechtfertigen doch seine Gestaltungskraft und seine umfassende Natur die Bezeichnung jener Epoche, die mit Rousseau und Herder , mit den Revolutionen in Amerika und Frankreich ihren Anfang genommen hat, als das Zeitalter des Nationalismus." In dieser gewichtigen Betrachtung aus dem Jahre 1943 sprach Kohn aber auch von einer "langen Inkubationsperiode" des modernen Nationalismus, die von der Antike bis zur Französischen Revolution reichte. Es ist gefragt und geforscht worden, wo und wie früh das Wort "Nation" schon auftauchte und welche Bedeutung ihm zukam, was natürlich noch nichts über den "Nationalismus" besagt. Es gab längst Verweise auf die plebs, den populus, auf gens und natio in der römischen Geschichte - etwa bei Cicero, fanden sich deutliche Unterscheidungen zwischen gentes und nationes und in etwa schon Definitionen bei Isidor von Sevilla, Irenäus und anderen. Nachgerade zwangsläufig wurde auch die Frage aufgeworfen, ob den neueren Vorstellungen von "Nation" nicht doch schon viel frühere Verhältnisse entsprachen - in der sogenannten klassischen, kulturgeschichtlich unendlich weit wirkenden griechischen und natürlich in der römischen Antike -, was sich aus verläßlicher Kenntnis der realen Gegebenheiten folgern lasse, auch wenn es einen adäquaten Ausdruck noch nicht gegeben habe; etwa in der Polis mit ihrem in Götterverehrung, Kultstätten und Kulten erkennbaren transzendentalen Wesensgrund und Glaubensfundament oder in der attischen Idealsymbiose, wie es der bedeutende Altphilologe Werner Jaeger in seinem in Berlin und von Chicago aus 1934 und 1944 veröffentlichten Werk "Paideia" meinte, oder in der Geschichte Roms, das schließlich ein reales Weltreich begründete, das nach Gibbon eineinhalb Jahrtausende Bestand hatte. Schließlich ist die Schriftüberlieferung der jüdischen Geschichte wiederholt zur ältesten Nationalgeschichte
Nationalismus und Geistesgeschichte
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deklariert und in einem gewissen Zusammenhang hiermit auch die zionistische Phase der jüdischen Ge-schichte und die Aufrichtung des Staates Israel im 20. Jahrhundert als Rückkehr nicht nur in das Land der Väter, sondern auch zum eigentlichen Wesen der Nation gedeutet worden. Alles dies gehört gewissermaßen zu den Grundlagen oder Voraussetzungen aller historischen Forschung und sollte so begriffen werden. Anderseits können auch Historiker in ihren Deutungen selbst Nation konstruieren und Nationalismus fördern. Man braucht keineswegs allein nur an den ideologischen Einfluß der Alldeutschen oder des Antisemitismus auf deutsche Historiker des 20. Jahrhunderts zu denken. Bernard Guenee und Frantisek Graus haben auf die viel ältere Bedeutung von Historiographen verwiesen und zahlreiche Beispiele angeführt, etwas überspitzt sogar gesagt, die Historiker hätten die Nationen geradezu geschaffen; "en un sens, ce sont les historiens qui creent les nations". Allerdings sind die Zeugnisse der alten Historiker für den heute Forschenden verhältnismäßig leicht greifbar, Rückschlüsse auf die Gesinnung - das "Bewußtsein" - der großen Masse der Bevölkerung aber kaum möglich. Doch es gibt zu denken, wenn gesagt wird, daß Politik und Kriege von Herrschern, von Bünden der Ritter oder Städte mit dem Argument der Behauptung der Nation - gegen fremde Mächte oder Völker - gerechtfertigt wurden. Auch die Überlieferungen anonymer Autoren sind hierbei zu berücksichtigen, wie etwa die Rechtfertigung der Selbständigkeit der Iren gegenüber den Engländern ("two nations" - nationes) in einem Schreiben an Papst Johannes XXII. von 1317 mit der "Reinrassigkeit" ihrer Könige - "sine admixtione sanguinis alieni" -, allein 136 bis zur Zeit St. Patricks, dann durch die Bekehrung zum Christentum durch Patrick und schließlich die in all dem ausgewiesene "angeborene Freiheit", wie es Graus herausgefunden hat. Bei der Erneuerung eines irischen Volksbewußtseins im 19. Jahrhundert war es dann vor allem die Wiederentdeckung der gälischen Sprache, die sich als wirkungsvoll und nachhaltend erfolgreich erwies. Das Moment und Argument der seit alters her gemeinsamen Sprache hat sich anderswo früher durchgesetzt, wenn auch vornehmlich im Sinne einer Abgrenzung gegen andere Sprachen und anders Sprechende; so in der Geschichte der Deutschen, nach der Volkssprache "diutisc" oder "theodisc" im Althochdeutschen. Ein ganz anderes Beispiel, in dem der Sprache keine entscheidende Rolle zukommt, liefert die eidgenössische Chronistik bis zu Heinrich Brennwaids (1478-1551) "Schweizerchronik" , die in das Altertum zurückreicht und
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Gerhard Schulz
den Kampf der Schweizer um ihre alten Freiheiten in Heroengestalten wie Tell und Winkelried symbolhaft personalisierte und idealisierte, einen Mythos schuf. In unserem Zusammenhang erscheint das 14. Jahrhundert von besonderer Bedeutung. Nach dem Konzil von Vienne und der Vernichtung des Templerordens festigten beauftragte Historiographen mit den Grandes Chroniques de France die Auffassung, daß alle Franzosen "sujets du roi" und der König von Frankreich ewig, quasi unsterblich sei. Die Dei gratia-Formel erhielt höchste Anschaulichkeit, erscheint im Gottesbezug des Königtums sogar gesteigert. Doch dies ist ein weites Feld. Die Gestalt der Jungfrau von Orleans bekräftigte diese Version des Königtums in der Realität der Schlachtfelder durch die Siege über die Gegner des Königs. Die konsequente Ausrichtung der französischen Chronistik auf das Königtum hat im Spätmittelalter seine Gleichsetzung mit einem abstrakten Staatsbegriff erreicht, so daß Guenee sagen kann, daß in Frankreich der Staat - verkörpert im König - die Nation geschaffen habe. Die weitere politische Entwicklung läßt sich im Lichte der Frage betrachten, ob Stände oder Nation im Staat des Königs gewinnen. Solche summarischen Versionen sollen natürlich nicht über die Realitäten außerordentlich langwieriger und komplizierter Prozesse hinweggehen, die Historiker zu analysieren, aber auch zu Synthesen aufzuarbeiten versucht haben, was hier nicht weiter verfolgt werden kann. Von der Geschichte des alten Reiches aus und des Kaisertums mit seinem universalen Anspruch, das, wie wir heute wissen, nicht einmal unter Barbarossa, Heinrich VI. und Friedrich 11. realiter ein europäisches war, urteilte Rudolf Stadelmann für das 15. Jahrhundert: "Der Stütze der universalen Kirche beraubt, war das Reich ... außerstande, der europäischen Entwicklung zum nationalen Staat Widerpart zu halten". Das ist wahr und irritierend zugleich, bringt aber Kirche und Glauben ins Spiel, die niemals nur Stütze des Kaisertums waren. Der ältere Antagonismus von Papst und Kaiser wich einem Dualismus von Kaiser und Reich. Die Reichsreformbestrebungen im 15. Jahrhundert erscheinen uns deutlicher Ausdruck eines schon länger als kritisch empfundenen Zustandes im "Reich" der Renaissancezeit. Angesichts der europäischen Entwicklung resümierte Stadelmann, um noch einmal auf ihn zurückzukommen: "So wurde das Reich und seine Idee inmitten einer veränderten Welt ein ehrwürdiges Stück Altertum". Das Reich des Kaisers über andere Königreiche Europas zu setzen, wie es vielleicht dem Sinne dieser Sentenz entspräche, ginge an den politischen Realitäten vorbei, wie wir wissen. Das Reich besaß einen gewissen Vorrang - zeitweilig und nie unbestritten - in seiner Beziehung zum Papsttum und zum Universalanspruch der
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Kirche, auch infolge der Aufnahmesituation Italiens gegenüber Germanien bzw. Deutschland. Jeder weitergehende Anspruch blieb umkämpft und ohne dauernden Erfolg. Das Deutsche Reich des Mittelalters als Weltreich bleibt Konstruktionsfall einiger Historiker. Die deutsche Geschichte kennt allerdings den Begriff der Nation schon seit dem 14. Jahrhundert. Nationen gemeinsamer Sprache und Gewohnheiten innerhalb des Reiches erwähnte die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. von 1356. Man unterschied schon vorher wie später nach den Herkunftsländern der Studierenden an Universitäten, zuerst der in Bologna und der in Paris "Nationen", an der Sorbonne bis in das 18. Jahrhundert vier, Frankreich, Picardie, Normandie und Deutschland. In ähnlicher Weise benannten sich Niederlassungen und Kontore von Kaufleuten in großen Häfen des Ostseeraumes und organisierte und konstituierte sich schließlich der Johanniter-, später dann der Malteserritterorden nach acht "langues" in gesonderten Auberges. Auf dem Konzil zu Konstanz (1414-1418) wurde erstmals nach "Nationen" abgestimmt, nach den vorher festgesetzten Herkunftsländern der entsandten Bischöfe und Theologen, Germania, Francia, Italia, Britannia; mehr gab es nicht. Im 15. Jahrhundert fmden sich wechselnde, offenbar nicht fixierte Ausdrücke, aus denen die Form "Römisches Reich Teutscher Nation" erwuchs. Der Kölner Reichsabschied von 1512 besiegelte diese Begriffsausbildung . "An den christlichen Adel deutscher Nation" richtete Luther eine seiner großen Flugschriften des Jahres 1520; "Von des Christlichen Standes Besserung", lautete der Untertitel. Etwa in die gleiche Zeit fallen die Bemühungen einiger Humanisten, eine durch Mythen überlieferte und überhöhte deutsche Vergangenheit - ohne Reich und ohne Kaiser - darzustellen. Der Anstoß ging 1458 von einer Schrift des Enea Silvio de'Piccolomini, des späteren Papstes Pius 11., aus, "Descriptio de ritu, situ, moribus et conditione Germaniae"; und von der Wiederentdeckung der "Germania" des Tacitus ("De origine situ moribus ac Germanorum"), die von deutschen Humanisten eifrig aufgenommen wurde. Als Nebenzweig der römisch-lateinischen epistemischen Interessen deutscher Humanisten entwickelten sich seitdem Konstruktion und Pflege germanischer Überlieferung, was man als Beginn eines deutschen Nationalismus bezeichnen könnte. Mit ihr gingen die Entdeckungen wirklicher literarischer Funde aus deutscher und germanischer Frühzeit und die Darstellungen älterer Geschichte einher. Stadelmann hat schließlich gar in einem einzigen Satz "die Romantik von 1500" mit der von 1800 in Verbindung gebracht.
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Gerhard Schulz
Französische Wörterbücher des späten 17. Jahrhunderts definierten den Begriff der Nation, so das "Dictionnaire de I' Academie fran~aise" seit 1684, als ein großes Volk in einem einzigen Gebiet innerhalb bestimmter Grenzen unter bestimmter Herrschaft und denselben Gesetzen, das eine Sprache spricht. Der Begriff gelangte im 18. Jahrhundert zu hohem Ansehen und neuartiger Würde, wurde in der Zeit der Revolution und Napoleons schlechthin allgemein und volkstümlich und von Frankreich aus auch für andere Völker vorbildhaft. 1632 stellte Richelieu dem Hofpublizisten Le Bret die Frage: "Qu'est-ce que la royaute?" Fragestellung wie Antwort zielten auf die ewige Dauer des durch die Person des Monarchen verwirklichten Staates. König und Land scheinen auf denkbar engste Weise vereinigt - wie nie zu Zeiten des deutschen Kaisertums. Im übrigen ist noch längere Zeit der Vergleich zwischen Person, Körper und Staatswesen erhalten geblieben, von den Physiokraten dann auch aufs Wirtschaftliche bezogen. Der König regierte in der Realität; aber Person wie Herrschaft waren geheiligt und von ewiger Würde. Das war ins Politische gewendete Theologie. Doch die meisten Enzyklopädisten neigten bereits dazu, den Staat mit einer Maschine zu vergleichen, auch den Menschen unter die Metapher der Maschine zu stellen, wenngleich unter der Regie außersystemischer Kräfte zu sehen. Vereinzelt wurde die Umwandlung der Leviathan-Figur des Thomas Hobbes so weit getrieben, daß der ideale personhafte Staat, der in der Gestalt des Königs handelte, als Verkörperung einer Gesellschaft mit einheitlichem Gesamtwillen und einer einzigen bewegenden Seele erschien. Folgerichtig nahm dann mit einem sich wandelnden Menschenbild, dem Entstehen einer psychologischen Anthropologie und schließlich dem Aufkommen einer Erziehungsidee auch die Körpervorstellung vom Staat neue Formen an. Nebenher klärt sich der moderne Begriff der Nation. Diderot hat ihn noch nachgerade beiläufig und konventionell in der Enzyklöpädie als einen Ausdruck definiert, "dessen man sich bedient, um eine größere Zahl von Menschen zu bezeichnen, die ein bestimmtes, durch feste Grenzen eingeschlossenes Gebiet bewohnen und ein und derselben Regierung gehorchen", ohne Mythos, bar jeder Mystik. Im Grunde steht es kaum anders mit den Vorromantikern deutscher Sprache, die mit nüchterner Verstandeskraft und erstaunlich umfänglichem Wissen ihrer Zeit und doch in gehöriger Sorgsamkeit urteilten und Begriffe bildeten. Vom "Volksgeist" - wie vom "Weltgeist" - ist wohl überhaupt erst bei Hegel die Rede, bei Herder hingegen von vielen Völkern und Nationen - in universalgeschichtlicher Absicht. Wenn er den Ausdruck "Nationalgeist" einige Male benutzte, dann ähnlich akzentuiert wie etwa Bülau, bei dem sich dieser Ausdruck 1766 wahrscheinlich zum ersten Male findet: "Ich bilde mir ein, der Nationalgeist sei die besondere Eigenschaft oder der In-
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begriff, complexus, aller der besonderen Eigenschaften, wodurch ein Volk von den andern sich unterscheidet. Diese ihm privat zustehenden Eigenschaften sind teils Eigenschaften der Seele, teils des Körpers." Friedrich Carl von Moser schrieb freilich schon ein Jahr später: "In einer politischen Verfassung, von welcher Mischung sie immer sei, muß Ein großer, Ein allgemeiner Gedanke da sein, welcher das punctum saliens, die belebende Kraft der National-Gesinnung im Ganzen ausmacht." Für sie alle, auch für Justus Möser wie für den jungen Goethe, gab die Zeit des Siebenjährigen Krieges - vergleichbar der Wendung in Nordamerika - Anstöße zu neuem politischen Denken, wie in Frankreich die Autoren um die Enzyklopädie und die Publizistik der vermittelnden politischen Aufklärung etwa seit 1770 neue Anstöße gaben. Die humanitäre quasi anthropologische Verankerung des neuen Denkens erscheint am eindruckvollsten dokumentiert in dem postum veröffentlichten Werk des Helvetius. Doch die Wendung ging von Rousseau aus, der den politischen Menschen, den tugendhaften Bürger als Patrioten sah, dem Gesellschaft wie Staat zum Vaterlande werden. Ein Gefühl wie Liebe bestimmt die Ratio: "Es ist die Erziehung, die den Seelen die nationale Gestalt geben und ihre Meinung und ihren Geschmack in der Art ausrichten muß, daß sie Patrioten seien durch Neigung, durch Leidenschaft, durch Notwendigkeit. Ein Kind, das seine Augen öffnet, muß das Vaterland sehen und bis zu seinem Tode nichts mehr sehen als dieses. Tout vrai rt!publicain trinkt mit der Milch seiner Mutter die Liebe zum Vaterland, gewissermaßen die Gesetze und die Freiheit. Diese Liebe erfüllt sein ganzes Dasein; er will nichts als das Vaterland, er lebt nur für dieses," schrieb Rousseau in seinen "Considerations sur le gouvernement de Pologne". So wurde der Staatsbürger als Patriot erklärt. Die seit Jahrhunderten ins Französische eingeführten, einst von Horaz abgeleiteten Begriffe "le patriote" und "la patrie" standen in der Wertungsskala der Enzyklopädie gar höher als "1 'homme" und "humanite". Sie begründen auch die Würde des citoyen. "Citoyen de Geneve" nannte sich Rousseau als Autor des "Contrat social". Der Franzose, der Engländer, der Genfer gehörten einer jeweils eigenen societas civilis an, deren Eigenart und Einzigartigkeit ihnen mehr bedeutete als irgendeine andere und die ihren eigenen Willen bildete. "La patrie se montre la mere commune des citoyens". Die Idee der Volkssouveränität, die Rousseau schon in der Enzyklopädie abhandelte, zählt zu den Voraussetzungen des Nationalstaates und des Nationalismus späterer Zeiten. Ein ganzes Volk wird als sich selbst bestimmende politische Einheit gedacht. Dies steht dann bei Sieyes im Mittelpunkt der
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berümtesten seiner Schriften, der 1788 niedergeschriebenen und in den ersten Tagen des folgenden Jahres dreimal hintereinander in größeren Auflagen anonym, dann im Sommer 1789, als schon ähnliche Pamphlete mit ihm konkurrierten, unter dem Namen des Autors erneut veröffentlicht wurde: "Qu'est-ce que le Tiers-Etat?"! Das war nichts anderes als die zeitgemäße Umwandlung der Frage Richelieus von 1632. Die Antwort wird unverzüglich, gleich am Anfang der Schrift erteilt, um die Einfachheit und Klarheit des Gedankens, den der Abbe Sieyes predigte, jedem, der zu lesen und zu hören vermochte, bewußt zu machen: "Le plan de cette ecrit est assez simple. Nous avons trois questions a nous faire. 1 Qu'est-ce que le Tiers-Etat? - Tout. 2" Qu'a-t-il ete jusqu'a present dans 1'ordre politique? - Rien. 3 0 Que demand-t-il? - A Etre Quelque Chose." Das war so klar und einfach wie nur irgend denkbar, aber appellierend gesagt, prägte sich auch den noch zahlreichen Analphabeten Frankreichs ein und gab der Schrift den Charakter des epochalen Manifests, das dann "tiers-etat" und "nation" in eins setzte, wie es übrigens eine Reihe anderer bekannter und mancher weniger bekannter Autoren des gleichen Jahres ähnlich taten. 0
Staatsbildung geschah vorher in Ost-, Mittel- und Westeuropa unter Einwirkung starker, mächtiger Fürsten, die die territoriale Einheit des Staates schufen, ehe modernere Entwicklungen einsetzten: weltweiter Handelsaustausch spätestens seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert, eine zunehmend genutzte Freizügigkeit - ausserhalb der bis ins 19. Jahrhundert agrarisch gebundenen und besitzrechtlich gefestigten Gebiete in Ostmitte1- und in Osteuropa -, schließlich die Industrialisierung im Laufe des 18. Jahrhunderts. In England hielten die Stände in den beiden Kammern des Parlaments, dem House of Lords und dem House of Commons, auf Dauer einander die Waage, was nicht ohne Konflikte und heftige Gegenwehr bis ins 19. Jahrhundert hinein abging. War der Hochadel dem König unterlegen und in den Rosenkriegen fast vernichtet worden, so drängten nach dem Tode Elisabeths die Commons mächtig empor - nicht zuletzt ein Ergebnis der vorausblickenden kommerziellen und gewerbefördernden Politik der Königin. Die meisten zentralen Probleme der späteren britischen Geschichte sind entweder wirtschaftlicher Natur oder ergeben sich aus der fortschreitenden Einbeziehung größerer Schichten einer rasch wachsenden und von der Industrialisierung erfaßten Bevölkerung in das System der Repräsentation und parlamentarischen Regierung - durch Ausdehnung und zunehmende Verallgemeinerung des Wahlrechts, was fast ein Jahrhundert lang dauerte; sie sind mithin verfassungspolitischer Natur.
In den wirtschaftlich und kulturell blühenden Staaten des Kontinents wurde die ständische Repräsentation zunächst dort gefestigt, wo die Herrscher von
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sich aus die Stände einberiefen und nach territorial vereinheitlichenden Gesichtspunkten zusammenfaßten, in Burgund, auf andere Weise in Flandern, in Frankreich schon seit Philipp IV., Philippe le Bel, und schließlich in den nach Unabhängigkeit ringenden "Generalstaaten der sieben Provinzen der vereinigten Niederlande". Dies läßt sich übrigens auch in der lange Zeit bestehenden Synonymik von "Staat" und "Stand" erkennen (l'etat, niederländisch Staat), während im Spanischen der Bezug zum Hofe blieb (las cortes - corte). In Rußland blieben Stände eine künstlich ins Leben gerufene Veranstaltung Katharinas der Großen. In Polen stand ihrer Ausbildung die "Adelsnation" im Wege, ein mächtiger, monopolistischer Stand gleichsam, der in große Familienverbände zerfiel, ähnlich in Ungarn. Der moderne Staat erwuchs aus den Ständen, der Administration und der Umgebung des Monarchen, seines Hofes. Gestalt und Wille des Herrschers haben den Staat präformiert. Das unabhängig gewordene nordamerikanische Kolonialland der Vereinigten Staaten kann nur bedingt als Ausnahme gelten; erst die Persönlichkeiten der ersten Präsidenten haben die Regierungspraxis entschieden. Doch Konflikte waren an der Tagesordnung. Sie markieren den Lauf der Geschichte. Religionskriege dezimierten in Frankreich wie in Deutschland die Stände und ihre Stellung den Herrschern gegenüber. Die brandenburgisch-preußischen Kurfürsten und Könige gestalteten ihren durch Hausgesetz, die Dipositio Achillea von 1473, zusammengehaltenen und fortgesetzt erweiterten Staat militärisch, finanzpolitisch und in einem weiten Sinne administrativ - zunächst oberhalb und unabhängig von den Ständen, die auf die Provinzen beschränkt blieben und zwischen 1640 und etwa 1772 an Bedeutung fortgesetzt verloren. Die Zusammenziehung der preußischen Stände zum Vereinigten Landtag 1847 leitete zur Revolution über. Die Bourbonenkönige in Frankreich beriefen nach 1614 eine Generalständeversammlung nicht mehr ein. Der Versuch ihrer Wiederbelebung 1788 führte dann zur Erhebung und zur Revolution. Dies gehörte im Anfang zum Programm von Adelsgruppen, die nach dem Tode Ludwigs XIV. mit Boulainvilliers die Idee einer aristokratisch-ständischen Restauration mit neuen politischen Vorstellungen verknüpften. Ihre Bedeutung ist für die Entfaltung der politischen Aufklärung kaum zu überschätzen, schlug sich aber schließlich auch in der historisierenden Auffassung von der germanischen Abkunft der Aristokratie nieder, die später den Anknüpfungspunkt für die arische Rassentheorie Graf Gobineaus bildete und den alten Mythos von der Reinheit des "Blutes" zu erneuern versuchte.
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Der dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard schrieb in seinem Tagebuch (wahrscheinlich 1842) über die alte Philosophie, es finde sich in ihrer .. sonst recht weitläufigen Kategorientafel keine Kategorie der Vermittlung ... , welche doch für die neueste Philosophie das Allerwesentlichste ist, ja eigentlich der Nerv in ihr, das, wodurch sie sich von jeder älteren unterscheiden will." Das ist der Beginn seiner berühmten Kritik an Hegel, den er der alten Philosophie zuschlug. Doch die Philosophen Schottlands, Hume, Adam Smith, Adam Ferguson, auch Englands, wie der Socianer Priestley, Jeremy Bentham und viele mäßigen Ranges - die Engländer bildeten meist ein aufnahmefähiges Publikum - und natürlich die Enzyklopädisten Frankreichs mit ihren weithin diskutierten Erörterungen und Darlegungen lagen außerhalb der Wahrnehmungen des großen Dänen. Sobald das Denken politisch wurde und die Menschen in der bewegten Gesellschaft genau beobachtete, ihre Verhältnisse zu ergründen, zu durchschauen und kritisch darzustellen oder gar zu bessern versuchte, drängte es im England und Schottland wie im Frankreich des 18. Jahrhunderts in erkennbare Richtungen, konnte es in mächtig anschwellenden Strömungen zur Macht und zu umwandelnder Kraft werden. Die Theorien der Philosophen verändern die Welt allenfalls in einzelnen Köpfen. Aber eine geistige, dank geeigneter Vermittlung in die Breite wach-sende Strömung vermag auf die Dauer bei zunehmender Stärke Wirklichkeit tatsächlich umzuwandeln, wenn auch niemals in gesicherter Teleologie. Das hat ebenso anschaulich wie folgenreich die Entfaltung des Marxismus erwiesen, der sich aus den polemischen Theorien von Karl Marx herleitete, dem Friedrich Engels von Anbeginn die brisante Klassenspaltung der Nation vorgab, die er aus Thomas Carlyles Beschreibung der Lage der Iren übernahm. Man könnte sagen, daß die Iren in ihrer Geschichte jeweils das erste Beispiel für das Argument der reinen Abkunft, des Blutmythos, der sozialen Klassenbildung und schließlich das für die ethnisch-sprachliche Begründung des Souveränitätsanspruchs lieferten. Da die Philosophen der Aufklärung - der französischen wie der schottischen, auch des englischen Utilitarismus - die Gesellschaft in steter Bewegung, in einem Prozeß erblickten, sobald sie den Menschen betrachteten, erfaßten sie auch die Wandlung als Thema, nicht spirituell oder transzendental bestimmt, sondern so konkret wie sie vor ihren Augen lag: in Reichtum und Armut, in Kriegen und Vernichtung, in Krankheiten und Epidemien, in geschäftigem Wandel, in gewisser Großmut und moralischer Stärke, wie in Verderbtheit, Skrupellosigkeit, Gier und Tücke. Theater und Literatur aller Gattungen,
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moralische oder theologische Erbauungsschriften und philosophische Traktate der Zeit und für jeden, der hinschauen will, etwa die lebensvollen Darstellungen in den Kupferstichen von Hogarth, die der Göttinger Philosoph Lichtenberg zum Gegenstand ausführlicher Kommentierungen wählte, sie alle vermitteln ausdruckskräftige Bilder von den Projektionen vielfältiger gesellschaftlicher Erscheinungen in den Köpfen einer geistig lebendigen Schicht. Das bunte, wechselvolle Leben ihrer Tage bildete die große Empirie, die unmittelbare Anschauung der Bevölkerungsmassierungen in rasch sich ausdehnenden Großstädten, zunächst den Kapitalen London und Paris, schon vor 1700 mit mehr als einer halben Million Einwohnern (so Berlin erst 1861), im Jahrhundert der beginnenden Industrialisierung auch in den neu emporschießenden Industriestädten Englands und Schottlands. Wo ständische Überlieferungen existierten, erschienen sie dann doch innerhalb einer bewegten, urbanisierten, mehrschichtigen, sich differenzierenden Gesellschaft mit neuartigen Problemen, massierten Wohnungen, Elendsquartieren, Revolten oder der Neigung zur Revolte, die sich nicht mehr durch Korn, Theater und höfischen Glanz zufriedenstelIen ließ, sondern nach erlösenden Ideen hungerte. In einem ungedruckt gebliebenen Fragment von 1806 schrieb August Ludwig von Schlözer: " ... wir Deutsche sind zwar in unserer jetzigen Lage - Constitution genannt [das Wort also im Sinne der Physiokraten angewandt] - arme Schafe, die sich blindlings von Einzelnen leiten lassen müssen; aber wir sind im Ganzen als Nation noch immer gesund ... Wie, wenn uns nun das Schicksal andere Leithämmel gäbe?" Der Aufstieg Preußens zur Vormacht unter den Staaten des alten Reiches zwischen 1740 und 1866, die - mit Fichte ausgedrückt - "Emporwindung" zur Hegemonie, war ein Ereignis sowohl von deutscher als auch von europäischer Gravitation. Troeltsch meinte, daß die deutschen politischen Begriffe in der "romantischen Gegenrevolution" entstanden seien. Er dachte in erster Linie an Stein, Ernst Moritz Arndt, Fichte und Friedrich Ludwig Jahn. Was von dieser Gruppe verschiedenartiger Charaktere in Deutschland nach Revolutionen und Kriegen blieb, was sie hinterließ, war eine anhaltende Bewegung, die ihren Ausgang von romantisch erregten Männem, vornehmlich Studenten und jungen Universitätslehrer nahm, wie dem Historiker Heinrich Luden in Jena und dem noch etwas jüngeren Juristen Karl FolIen, der zunächst ebenfalls in Jena lehrte, das neben Gießen zum Hauptort dieser Bewegung wurde. Die Kontinuität geheimer Studentenorganisationen, die schließlich die Burschenschaft miteinbezogen, ging auf geheime Studentenbünde des 18. Jahrhunderts zurück, wie etwa die Amicisten, die 1771 aus der seit 1746 in Jena
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blühenden Mosellaner Landsmannschaft hervorgingen und sich rasch auch an anderen Universitäten ausbreiteten, oder den "Bund freier Männer", den Fichte 1795 in Jena mitbegründet hatte und der unter Historikern häufig Beachtung gefunden hat, um hier nur die älteste und die jüngste der bedeutenden Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts zu erwähnen. Jena bildete einen aus dieser Geschichte kaum wegzudenkenden Ort, "ein kleines, häßlich gebautes Städtchen, wo man nichts als Studenten, Professoren und Philister sieht, " wie der junge Schelling schrieb, nachgerade geschaffen für radikales Politisieren, wenn barocker Radau, Raufhändel und anderer Grobianismus nicht mehr reizten. Das von Frankreich herübergekommene Jakobinerturn nahm verschiedene Gestalten an, unter denen die schlichte Umbiegung in einen studentischen Nationalismus die weitaus folgenreichste und historisch interessanteste blieb. In den Anfangen hatte amtliches preußisches Betreiben, um Napoleon entgegenzuwirken, fördernden Anteil hieran. Nach Hardenbergs Plan war diese Bewegung als Kraft einzusetzten, die der Macht Napoleons entgegenwirkte: "Ein solcher Bund, ähnlich dem der Jakobiner, nur nicht im Zweck und in der Anwendung verbrecherischen Mittel, und Preussen an der Spitze, könnte die größte Wirkung hervorbringen und wäre für dieses die mächtigste Allianz". Die Bedeutung des unter stiller Mitwirkung der Staatsorgane 1808 in Königsberg gegründeten Tugendbundes blieb zwar hinter den Erwartungen wie auch manchen späteren Behauptungen weit zurück; aber die staatlich geförderte Geheimbündelei trieb vielerorts Blüten und leitete schließlich zu den von Ernst Moitz Arndt angeregten "Deutschen Gesellschaften" der Freiheitskriege unter der Führung des Justizrates Karl Hoffmann über, die Studenten wie Senioren zu einer politischen Bewegung zusammenzufassen sich bemühten. Diese Generation erlebte die napoleonische Kriege als Freiheitskriege, die dann Droysen dem Unabhängigkeitskrieg Nordamerikas gegen England an die Seite stellte. Sie erblickte in einer politischen Erhebung des ganzen deutschen Volkes die ersehnte Gelegenheit, zu irgendeiner Art von Einheit zu gelangen. Das Alte war entschwunden, die Kaiserkrone niedergelegt. Irgend ein Neues sollte werden; was für eins, blieb einstweilen unbestimmt oder auch phantastisch. Herder hatte schon ein Jahrzehnt vorher von germanischen Völkern gesprochen, Friedrich von Hardenberg, Novalis, von der über allem stehenden hohen Würde des Königs und der Königin. Die Monarchen Preußens gaben Veranlassung; doch Preußen wurde in diesem Zusammenhang gar nicht genannt.
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Gleichheit und Gemeinschaft der körperlich Tüchtigen gleicher Sprache bildete ein Ideal, das die Turnerbewegung und dann die Freikorps verwirklichten; die Berufung auf Volk, Sitten und Überlieferungen traten etwas später hinzu. Nach der Gründung der Berliner Universität hielt Fichte seine "Reden an die deutsche Nation" - an Studenten wie hörbereite Bürger -, einen alten Begriff mit neuem Sinn erfüllend. Studenten sangen dann die herzergreifenden Lieder der Freikorps. Nach dem Wartburgfest im Oktober 1817 zur Erinnnerung an Luther, der nun als Volksmann und Künder eines suprarealen Deutschlands zu neuer Bedeutung gelangte, gerieten sie in das Netz polizeistaatlicher Verfolgungen und unter die Verbote der Ära Metternich. Es ist nicht zu übersehen, daß dies die erste deutsche Jugendbewegung war, eine Bewegung der Siebzehn-bisFünfundzwanzigjährigen, die sich entschieden von Ständen und Dynastien Deutschlands distanzierten, in einem nationalen Sinne und gefühlvoll deutsch sein wollten, allerdings nur wenig Vorstellungen von künftiger Politik entwikkelten und über keinerlei Welterfahrung verfügten. Diese nationale Bewegung wies gelegentlich konspirative, aber vor allem romantische Züge auf, die sich bis zur Revolution von 1848 wechselvoll weiterentwickelten und zu größerer Breite gelangten. Demokratisch in einem eigenen Sinne, besser gesagt: demophil war sie insofern, als sie keine Scheidung nach Landschaften, Ständen und Schichten anerkennen wollte, sondern im Lichte der Idee einer unfassenden deutschen Nation jedermann die gleiche Stellung zuwies. Volkszugehörigkeit, die bewußt deutlich bekannt wurde, verdrängte Standeszugehörigkeit und übertönte landsmannschaftliche Bindungen. Dies war auch ein Merkmal der genutzten Freizügigkeit, der beginnenden neue ren Migration; aber der Kreis der Handelnden beschränkte sich auf Studenten und junge Professoren. Die Deutsche Burschenschaft nahm das Ideal der Gleichheit aller, die zur Nation gehörten, vorweg, freilich nicht grenzen- und einschränkungslos. Was sich zusammenfand, waren in erster Linie Jünglinge adeligen oder bürgerlichen Herkommens, viele Pfarrers söhne, die sich im Universitätsmilieu nach eigenen Regeln vereinigten. Die Schranken des Adels fielen innerhalb ihrer Reihen ebenso wie sie in den Freikorps der Freiheitskriege und vorher schon in der Turnerschaft Friedrich Ludwig J ahns gefallen waren. Nur Bewährung, Beliebtheit und das Ansehen der Tüchtigkeit gaben den Ausschlag. Die polizeiliche Verfolgung nach den Karlsbader Beschlüssen der "souveränen Fürsten und freien Städte" des Deutschen Bundes im Sommer 1819 drängte sie in den Untergrund. Das erneuerte die Konspirationen der Zeit unter den napoleonischen Behörden und schon mancher studentischer Vereinigungen vor der Revolutionszeit. Geheimbündlerisch-verschwörerische Charakterzüge
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prägten mithin die deutsche politische Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts weiterhin, während die politischen Tendenzen und Gesellschaften der späten Aufklärung in Westeuropa wohl von freimaurerischen Zirkeln aus, aber auch neben ihnen oder gar von ihnen unabhängig immer stärker in die Öffentlichkeit traten, um in der Bildung einer vorherrschenden Meinung, in Presse und Publizistik und Großmeetings - Petitions to Parliament in England - ein stetig größer werdendes Publikum zu gewinnen. Kierkegaards Problem der Vermittlung wurde dort in überwältigender Praxis gelöst. Für die Deutschen ergaben sich lang wirkende ideelle Schwierigkeiten eben aus der Verbindung des Staatsbegriffes, der auf dem Boden Deutschlands nicht so recht heimisch werden konnte, in der Bundesverfassung von 1815 auch gar nicht vorkam, mit dem der Nation. "Was soll aus Deutschland werden?" schrieb Friedrich List in einer frühen Darlegung "Gedanken über die württemberg ische Staatsregierung", die anonym in Fortsetzungen im Württembergisehen Archiv 1816 erschien. "Man sagt: ein Bundesstaat; und dies ist auch den herrschenden Verhältnissen angemessen. Aber die Staaten, welche in einem Bund zusammentreten sollen, bestehen aus Regierung und Volk! Beide müssen bei der Bundesversammlung repräsentiert sein, wenn etwas Gutes gedeihen soll." Auch in der späteren und berühmteren Schrift Lists "Das Nationale System der politischen Ökonomie", an der er seit 1838 gearbeitet hatte und die 1841 erschien, bleibt das Gegenüber von Regierung auf der einen und Volk auf der anderen Seite - als "Masse der Einzelnen", der frei geborenen Menschen, wie es Rousseau lehrte und was List, auch mit Andeutung der Vertragstheorie in einer Art volkstümlicher Abwandlung des "Contrat social" - übernahm, allerdings unter Einfügung der Kommunen, gewissermaßen als Zwischenstufe Republiken eigener Art. Der "Bundesstaat" bleibt der übergreifende Zusammenhang und insofern eine Lösung des Problems, während die Nation gewissermaßen den ökonomischen Zusammenhang der Zukunft konstituieren und sich dadurch verwirklichen soll. Noch längere Zeit wird der Ausdruck Nation fast ausschließlich in Verbindung mit der Ökonomie erörtert und vergegenständlicht. Die Naionalökonomie ist früher und ausführlicher behandelt als die Nation, so auch im Staats-Lexikon von Rotteck und Welcker, wo sich unter "Nation" nur ein knapper Hinweis auf einen verhältnismäßig kurzen Artikel "Volk" findet - aus der Feder eines der weniger bekannten Autoren dieser wichtigen Enzyklopädie des deutschen Frühliberalismus. Eben an dem bei List schon erkennbaren Gedankenort, teilweise mit gleichen Ausdrücken, vom gleichen Topos aus ohne das Wort "Bundesversammlung", ist fast ein halbes Jahrhundert später Heinrich von Treitschke, zu Beginn seiner Freiburger Lehrtätigkeit an die Öffentlichkeit getreten, in dem Aufsatz
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"Bundesstaat und Einheitsstaat" in den Preußischen Jahrbüchern, 1864, wo er für den nationalen deutschen Einheitsstaat ganz und gar preußischen Zuschnitts und unter preußischer Führung eintrat, wie es in dieser Form unter den Achtundvierzigern wohl Droysen für möglich und gar wahrscheinlich gehalten hatte, in weiser Voraussicht einer künftigen Aufgabe, nicht in Gestalt eines Programms, das nun Treitschke von Süddeutschland aus propagierte, was ihn zum eigentlichen Vater der sogenannten borussischen Geschichtsschreibung werden ließ. Reinhard Wittram hat kurz nach dem Zweiten Weltkriege darauf hingewiesen, daß "alle isolierende sich auf ein Land oder Volk einschränkende historische Betrachtung Gefahr läuft, die Gemeinsamkeit geschichtlicher Tendenzen zu übersehen." Allerdings ist es keineswegs von untergeordneter Bedeutung, daß sich das deutsche nationale Denken eben erst unter dem Einfluß der Romantik und der romantisch bestimmten Erneuerung der Religiosität - sowohl der evangelischen als auch der katholischen - zu regen begann und daß es über lange Strecken seiner Entwicklung aus diesem Wurzelboden seine Kraft zog. Die politische Romantik - nur in der deutschen Geschichte und, in anderer Beziehung, in der französischen ist dieser Ausdruck sinnvoll - bedeutet daher für das nationale Denken der Deutschen doch etwas anderes, sehr viel mehr als für die Engländer. Von den Engländern als dem auserwählten Volk der Neuzeit, dem "chosen people" sprach schon John Milton. Wort und Gedanke wurden später vielfach wiederholt. Der schottische Presbyterianer James Thomson dichtete in seiner Hymne "Rule Britannia ... " in gewiß nicht zurückhaltender Ausdrucksweise:"The winds and seas are Britain's wide domaine ... " Das stolze und inbrünstige Nationalgefühl war niemals zurückhaltend; wenn es in dithyrambischen Worten Ausdruck fand, entsagte es jeder Selbstbeschränkung. Hier wird das Hinüberwechseln religiös inbrünstiger Empfindungen aus dem kirchlichen Glauben in das weltliche und politische Dasein greifbar. Auf der innigen Verknüpfung von christlicher Gläubigkeit, theologischem Denken und nationaler Entschiedenheit beruht gerade jenes enthusiastische Bekenntnis zu einem "Volksnomos" , der einen postromantischen Realismus verwirrend und von bestürtzender Gewalt erscheinen läßt. Schleiermacher wie auch Hegel haben manches von dem supranaturalen "Volksgeist" auf ihre Vorstellungen von Obrigkeit und Staat übertragen. Fichtes theologischer Taufversuch am Denken Machiavellis 1807 hat eine kaum zu übertreffende Formulierung gefunden: "Überdies will jede Nation das ihr eigentümliche Gute so weit verbreiten, als sie irgend kann, und soviel an ihr liegt, das ganze Menschengeschlecht sich einverleiben zufolge eines von Gott dem Menschen eingepflanzten Triebes, auf welchem die Gemeinschaft der Völker, ihre gegenseitige 3 Timmcrmann
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Reibung aneinander und ihre Fortbildung beruht. Da dieses nun alle wollen, so geraten sie notwendig, und wenn sie auch alle durch reine und vollendete Geister regiert würden, in Konflikt, und die Beantwortung der Streitfrage, ob dies dein oder deines Nachbars natürlicher Alliierter sei und wo die Grenzen eures euch gebührenden Einflusses gezogen werden sollen, wird selten in der Vernunft seine Prämisse finden." Das "Heraufwinden" der Nation zur "Übermacht" oder zur "UniversalMonarchie" war vordem wie nachher das große politische Thema Fichteschen Denkens, für das ihm die napoleonische Macht die Anschauung lieferte, der er mit allen verfügbaren Geisteskräften einen Gegenenthusiasmus entgegenzusetzen versuchte. Da waren theologische Traditionen ebenso unentbehrlich wie der Thesaurus literarischer Kenntnisse. Doch sobald das Denken sich ganz auf den "Volksnomos" gründete, des "unmittelbaren Verflößungsmittels" des Göttlichen nach Fichte, und keine Begrenzungen mehr anerkennen wollte, der übersteigerte Nationalismus führte in permanente Konflikte, schließlich zu Weltkonflikten, wie das 20. Jahrhundert gelehrt hat und noch lehrt. Dostojewski, der sich auch in der jüngeren Observanz des deutschen nationalistischen Publikums gewisser Vorliebe erfreute, äußerte mehr als sechs Jahrzehnte nach Fichte denselben Gedanken in ähnlichen Worten in den "Dämonen", so daß man schon von einem Bekenntnis des Jahrhunderts sprechen könnte, das allen Nationalismus betraf: "Jedes große Volk glaubt und muß glauben, wenn es nur lange am Leben bleiben will, daß in ihm und nur in ihm allein die Rettung der Welt liegt, daß es bloß lebt, um an die Spitze aller Völker zu treten, sie alle in sich aufzunehmen und sie in voller Überseinstimmung zum endgültigen, allen vorbestimmten Ziele zu führen." In Deutschland begann nationale Politisierung nun aber erst an der Jahrhundertmitte Breite zu gewinnen, in einer Zeit in der soziale Wandlungen stärksten Ausmaßes einsetzten, die Bevölkerung sich veränderte, ihre Zahl rasch gewaltig zunahm, zwischen 1800 und 1914 sich nahezu verdreifachte, und vieles in Bewegung geriet. Doch lange blieb der "Nationalgeist" der Deutschen, eindeutig in seiner konservativen Ausprägung, aber nicht nur in dieser, vornehmlich Geist und Gefühl, so daß das Wort "Nationalgefühl" mit guten Gründen Vorrang im deutschen Sprachgebrauch erhielt und ihn sogar noch in großen Lexika nach dem Zweiten Weltkrieg behauptete. Der Nationalstaat selbst blieb kaum weniger wirklichkeitsfern als etwa ein europäischer Gesamtstaat. "Ist Deutschland in einem Zustande der Anarchie, weil die Masse von Selbständigen in geschlossenen Staaten, die Deutschland genannt wird, kein gemeinschaftliches Oberhaupt oder keine gemeinschaftliche Gesetzgebung oder Gerichtsverwaltung hat, so kann man mit gleichem Rechte sagen, daß auch
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Europa sich in der Anarchie befmdet, solange es ein bloßes Aggregat unabhängiger Staaten ohne ein oberstes Tribunal und eine oberste vollziehende Gewalt darbietet," argumentierte schon 1815 Friedrich v. Gentz gegen Görres . Dennoch kam er nicht umhin, fast auf jeder Seite seiner Auslassungen von Deutschland zu sprechen und auch von "Nationalehre" und "Nationalwohl" . Der dauernde Zwiespalt zwischen Nationalgefühl ohne umfassende und vertiefte Staatsvorstellung und dem Nationalstaatswillen, der erst in der Bismarckschen Periode zu enden schien, ist offenkundig. Gewiß trifft es zu, daß das deutsche Volk das ganze 19. Jahrhundert hindurch "in seinen verschiedenen Stämmen, Schichten, Gesellschaften und Gemeinschaften nicht nur in verschiedenen Traditionsweisen, sondern auch in verschiedenen Zeitaltern" lebte, wie Wittram gesagt hat. Aber diese vielschichtige Disparität war auch lange schon, wenngleich wechselhaft, überschichtet von einer in einem weiten Sinne deutschbewußten Bildungs- und Erlebniswelt, die der biedermeierlich-lokalen Idylle entgegenwirkte, sich in den großen politischen Stößen des 19. Jahrhunderts aufbaute, die von der politischen Publizistik ständig erhalten und zunehmend auch von evangelischen Predigern und Lehrern verbreitet wurde, obgleich es in der Politik vor 1871 einen deutschen Staat noch gar nicht gab. Publizistik und Ideologie entwickelten sich gewissermaßen unter der stillen Voraussetzung eines "Als ob" . Es erscheint kaum verwunderlich, daß der Staat, der die zutage tretende politische Potenz bewertete, Kirche wie Geistlichkeit zu binden wußte. In dieser Ära des religiös-patriotischen Nationalismus gewann das Predikanten-Wort vor allem anderen Macht über Geist und Seele der Menschen. Sie wäre wohl noch gewaltiger geworden, wenn der deutsche Protestantismus nicht die historische Bürde seiner vielfältigen Aufspaltung und Zerklüftungen zu tragen gehabt hätte. Doch Rassenlehren (es gab mehr als nur eine), zunächst ethnisch-historisch, dann theologisch und schließlich mit Mittel naturwissenschaftlicher Methodik entwickelt und vertreten, ergänzten das Panorama und führten zu den absurdesten politischen Folgen, über die an dieser Stelle nicht zu handeln ist. Überblicken wir dies und anderes, hier noch nicht Gesagtes, so ergeben sich gewiß Folgerungen, so man will politologische Ableitungen. Die Menschen existieren nur in Kommunikation und in Gemeinschaft. Doch die Entfaltung des Individuums - Individualismus - ermöglicht Leben, mithin Entwicklung, aber Gemeinschaft überhaupt erst das Dasein. Das hat schon Aristoteles konzis ausgedrückt. Hierin liegt auch die letzte Ursache der vitalen Permanenz von Konflikten und Krisen.
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Dies bleibt grundlegend auch in Hinblick auf die Beschreibung und Präzisierung der komplexen Erscheinungen, die wir Nation bzw. Nationalismus nennen. Das letzte kann, genauer gesagt, Nationsbildung, aber auch expansive, gar aggressive Festigung, Sicherung, aber auch Ausbreitung der mit der Kategorie "Nation" gemeinten Substanzen bedeuten. Die Unterschiede, die gemeint - und nachweisbar - sind, scheinen deutlich; die Übergänge in der realen Geschichte hingegen sind schwimmend und mitunter mehrdeutig. Deshalb bedarf es stets der Rückbesinnung auf die Geschichte, um scheiden und urteilen zu können. Die Nation ist in Mittel- und Westeuropa in Auflösung begriffen, vielleicht stärker als in Amerika; in Ost- und Ostmitteleuropa erscheint sie in neuen Formierungen, was zur brisanten Entflammung alter und neuer nationalistischer Gegensätze führt. Offenkundig ist auch ein ungeheurer Wandel des Staates in seinen Realitäten, den der Begriff kaum ahnen läßt und der weit über das hinausgeht, was Verfassungen besagen oder anzeigen. Er bedeutet manchmal noch viel, häufig aber nur wenig. Der Bedeutungsrückgang, d. h. auch die inhaltliche Entleerung ist offenkundig. Daneben treten Organisationen zu länger- oder kurzfristigen Zwecken in Erscheinung, immer mächtiger auch überstaatliche, sogenannte Nongovernmental Organisations, die sich auf eigener Art zu legitimieren trachten. Eine Skala ließe sich denken, die ansetzt bei dem bloßen Territorialverband unterschiedlicher Stämme und Völker verschiedenartiger Kulturentwicklung und sogar vorübergehend, nicht lebenslänglich Ansässiger fremder Volkszugehörigkeit, wofür innerhalb der ehemals kolonialen Zone das Beispiel Namibias steht, dessen innerer Zusammenhalt, so es einen gibt, lediglich durch Verkehrsverbund und Wirtschaftsaustausch über verschiedenartige Produktionsstufen, in gewissem Umfang durch moderne Technik und durch eine einheitliche Rechtsordnung gewährleistet ist. Auf der anderen Seite reichte die Skala etwa bis zu der im Glauben wie im Wirtschaftsprozeß fest gefügten, in Sprache, Kult sowie weiteren Überlieferungen teils mythischer Art oder mit mythischem Hintergrund homogen gebildeten, besser noch: gebliebenen Gemeinschaft, die Anspruch macht, innerhalb fester Grenzen Volk wie Staat in einem zu sein, etwa Bhutan, das lange Zeit auf jede Außenpolitik verzichtete, aber Existenz und Unabhängigkeit des Drachenreiches über Jahrhunderte unverändert behauptete. Institutionen und Rechtsordnung ergeben sich aus überlieferter Sitte und invariabler Anschauung, unabhängig von Art und Umfang schriftlicher Niederlegung. Man sieht, daß sich hier eher ein Feld für Ethnologen und natürlich Soziologen auftut als für Historiker.
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Die auch manche Sozialgeschichte verpflichtende Vorstellung von einem alles übergreifenden Prozeß der Zivilisation in Gestalt permanenter Wandlung, Modernisierung genannt, stieß schon vor einiger Zeit auf Gegenpositionen in der Darstellung und Erforschung der Mythenwelt, die in allen Veränderungen und Wandlungen das Dauernde zum Ausdruck bringt und als kulturstiftend annimmt. Auch Historiker in der Ägyptologie und Orientalistik sind diesem Wege schon gefolgt, haben von Mythomotorik und Hypolepse der Kultur gesprochen, schöpferisch in modernen Ausdrücken, die indessen in einen weiten Hintergrund verweisen, vor dem alles Politische fast schon endlos zu schrumpfen scheint.
Internationale Politik, Minderheitenfrage und nationale Autonomie: Der Europäische Nationalitätenkongreß (1925-1938) Von Xose M. Nunez
Der Erste Weltkrieg war ein Moment des Aufbruchs in der Nationalitätenfrage in ganz Europa, teils wegen der Verbreitung des Nationalitätsprinzips durch die Kriegsgegner (vor allem durch die Entente) und auch auf Grund der späteren Verbreitung des Wilsonischen Idealismus. Nach dem Frieden von Versailles von 1918 konnten nicht alle nationalen Bestrebungen, besonders im Bereich Mittel- und Osteuropa, zufriedengestellt werden, da die praktische Anwendung des Selbstbestimmungsrechts vielfach auf zahlreiche Schwierigkeiten stieß, und vor allem, weil sich diese Anwendung den politischen Interessen der Siegermächte unterordnete, da diese einerseits daran interessiert waren, die Mittelmächte zu schwächen und andererseits einen cordon sanitaire um das bolschewistische Rußland zu legen. So wurden wiederum, obwohl im Europa nach 1918 neue Nationalstaaten entstanden waren und die ethnopolitische Landkarte eine gewisse Vereinfachung erfahren hatte, neue Nationalitätenprobleme (da neue Volksgruppen wie die Magyaren oder die Deutschen verschiedener Staaten diesen Status erhielten) geschaffen, welche großteils in den 20er Jahren durch die nationalistische und gleichmacherische Politik, die die neuen Nationalstaaten von Ostmitteleuropa weitgehend verfolgten, verschärft wurden. Und dazu kam noch die Beharrlichkeit der frustrierten nationalen Ziele (wie zum Beispiel die der ukrainischen Nationalisten) und die von der Außenpolitik der Verliererstaaten geführte Revisionspolitik. 1 Teils um die letztendlich nicht erfüllten Hoffnungen auf eine allgemeine Anwendung des Selbstbestimmungsrechts zu kompensieren und zufriedenzustellen und teils wegen des verbleibenden Wilsonschen Idealismus sowie I V gl. ein Überblick in X. M. NUiiez, National Minorities in East-Central Europe and the Internationalisation of their Rights (1919-1939), in: J. G. Beramendi. R. Mciiz & X. M. Nufiez (Hrsg.). Nationalism in Europe: Past and Present. Santiago de Compostela 1994. Bd. 1. S. 505-36.
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wegen des Drucks der öffentlichen Meinung in verschiedenen Staaten, welche die Nationalitätenprobleme für den Hauptauslöser des Ersten Weltkriegs hielten, wurde als Lösung die Internationalisierung der europäischen Minderheitenrechte gewählt, und zwar ab der Festlegung eines Protektionssystems für Minderheiten unter dem Schutz des Völkerbundes. Trotz seiner Fehler und seiner Unzulänglichkeiten gewährte dieses System Bedingungen und Mindestgarantien, um die Rechte der nationalen Minderheiten gegenüber jeder Diskrimination seitens der Staaten ihrer Zugehörigkeit zu schützen, solange es eine minimale politische Intention der Siegermächte gab, dies auch durchzuführen. 2 Nicht alle Mitgliedstaaten des Völkerbundes waren dazu verpflichtet (nur diejenigen, welche gezwungen worden waren, einen speziellen Minderheitenvertrag zu unterschreiben), aber der Vertrag verlangte gleichzeitig von den Minderheiten eine Aufgabe jeglichen Unabhängigkeitsstrebens oder Irredentismus. Doch allein die Existenz eines Minderheitenschutzsystems sowie die neue, internationale Dimension, welche die Nationalitätenprobleme bekommen hatte, und schließlich die Ausweitung der Interessen der öffentlichen Meinung in Europa in Fragen der Außenpolitik seit 1914, zusammen mit dem Beispiel der "Vordiplomatie", die von den mitteleuropäischen Nationalbewegungen den Staatskanzleien der Entente während des Krieges gegenüber praktiziert wurde, 3 waren Faktoren, welche dazu beitrugen, daß die Vertreter und Führer der nationalen Minderheiten des europäischen Kontinents versuchten, eine neuartige Form vordiplomatischer Außenpolitik der Nationalitäten (nationalist protodiplomacy) zu entwickeln,4 die vor allem bestrebt war, beim Völkerbund und bei dessen Mitgliedstaaten Einfluß zu nehmen, um eine Verbesserung der
2 Vgl. C. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes, Berlin 1979; P. Thornberry, International Law and the Rights ofMinorities, Oxford 1991, S. 38-52; S. Barsch, Le systeme de protection des minorites dans la Socil~te des Nations, in: A.Liebich u. A. Resz/er (Hrsg.), L'Europe Centrale et ses minorites: vers une solution europeenne?, Genf 1993, S. 37-50. Vgl. auch L. Mair, The Protection ofMinorities. The Working and Scope ofthe Minorities Treaties under the League of Nations, London 1928. 3 Vgl. zum Beispiel K. J. Ca/der, Britain and the Origins of the New Europe, 1914-1918, Cambridge 1978; H. u. C. Seton-Watson. The Making ofa New Europe: R. W. Seton-Watson and the last days of Austria-Hungary, London 1981. 4 Vgl. zum Begriff "nationalist protodiplomacy". I. D. Duchacek, The Territorial Dimension of Politics. Within, Among, and Across Nations, London 1986, S. 226-58. Zur theoretischen Diskussion über die Rolle der Nationalitäten und Nationalbewegungen innerhalb des Systems der internationalen Beziehungen, vgl. auch J. S. Bertelsen (Hrsg.), Nonstate Nations in International Politics. Comparative System Analyses, New York 1977; A. Heraklides. The Self-Determination of Minorities in International Politics, London 1990; J. Rothschild, Ethnopolitics. A Conceptual Framework, New York 1981, S. 173-212; M. Esman, Ethnic Pluralism and International Relations, in: Canadian Review of Studies in Nationalism XVIII: 1-2 (1990), S. 83-93.
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Gesetzeslage und der internationalen Politik zum Vorteil der nationalen Minderheiten zu erreichen. Am Rande des offiziellen Schutzsystems für nationale Minderheiten, jedoch großteils im Schatten und unter der politischen und gesetzlichen Schirmherrschaft dieses Systems, wurde von den nationalen Minderheiten selbst (oder zumindest von einem Teil seiner offiziellen Stellvertreter oder Führungsschichten) eine Serie von Initiativen in Verbindung mit Sektoren der öffentlichen Meinung im Westen durchgeführt (den Non-Govemmental-Organizations, wie man heute sagen würde, welche eine Art von Lobbying- Tätigkeit für den Völkerbund ausführten) und dem absichtlichen Zusammenspiel der Vertretungen jener Staaten, die an einer Änderung der Grenzen interessiert waren (vor allem Ungarn und Deutschland). Diese Initiativen wollten die Möglichkeit zu einer weiteren Verwirklichung des Schutzsystems der nationalen Minderheiten fordern, die Situation derselben durch die Sensibilisierung der öffentlichen Meinung der Mitgliedstaaten des Völkerbundes verbessern und eine Vermittlerrolle für die Interessen der eigentlichen nationalen Minderheiten auf internationaler Ebene spielen. Die ideologischen Prinzipien, welche ihr Auftreten bestimmen sollten, sind trotz ihres utopischen Charakters in vielen Aspekten bis zum heutigen Tag äußerst aktuell und stellen eine Verbindung zwischen der intellektuellen und gedanklichen Tradition der österreichischen Sozialdemokratie und einigen zionistischen Theoretikern dar, die auf eine Erreichung einer Harmonie zwischen den bestehenden Staaten und der völligen Freiheit der Nationalitäten hinzielt. Unabhängige Initiativen zur Zusammenarbeit zwischen den politischen Vertretern der "unterdrückten Nationalitäten" und Nationalbewegungen konnten schon auf einige Vorläufer vor 1918 hinweisen. Außer den verschiedenen Versuchen, innere Allianzen in einigen Staaten zu bilden (die gelegentliche Zusammenarbeit zwischen den Nationalbewegungen der Basken, Katalanen und Galicier in Spanien wäre ein BeispieI5), war schon im Schoß der ÖsterreichischUngarischen Monarchie am Ende des 19. Jahrhunderts ein "Nationalitätenkongreß" entstanden, der sich 1895 formierte und sich aus Rumänen, Slowaken und Serben zusammensetzte, die sich in Budapest versammelten, um gegen die repressive Nationalitätenpolitik der ungarischen Regierung zu protestieren, von dem aber nur ein Organisationskomitee bis 1899 überlebte. 6 1912 wurde in S Vgl. zu diesen Allianzen X. Estevez. De la Tripie Alianza al Pacto de San Sebastian (19231930). San Sebastian 1991. 6 Vgl. K. Hitchins. The Rumanians of Transylvania and the Congress of Nationalities. in: The Slavonic and East European Review XLVIII: 112 (1970). S. 388402.
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Paris die Union des Nationalites gegründet, an der anfänglich viele nationale Bewegungen des östlichen Mitteleuropas, ja, sogar einige aus dem Westen Europas (wie die Katalanischen Nationalisten) sowie pazifistische Organisationen und Persönlichkeiten aus der Politik und westliche Intellektuelle teilnahmen, die aber während des Konflikts in die Schweiz flüchtete, wo sie zunehmend in den Einflußbereich der Mittelmächte geriet, welche unter der Ägide des litauischen Nationalisten Paul Gabrys stand. Die Union des Nationalites hielt nur bis 1919, da ihr ursprünglicher Zweck, Vertreter in und Vermittlerin der unterdrückten Nationalitäten bei der Friedenskonferenz zu sein, nicht erfüllt werden konnte. Dennoch zeigten ihre theoretischen Richtlinien vor 1918 bereits interessante Prinzipien, insbesonders die Forderung nach einer internationalen Lösung, die die Rechte der nationalen Minderheiten garantierte. 7 Weitere internationale Organisationen, die aus der internationalen Friedensbewegung und der liberalen öffentlichen Meinung in Europa entstanden waren, zeigten sich schon vor 1914 als Verteidiger des Selbstbestimmungsrechtes und der Rechte der nationalen Minderheiten in Europa: von der Ligue Internationale pour la Defense du Droit des Peuples, 1910 in Paris gegründet, bis zur Organisation Centrale pour une Paix Durable, 1915 gegründet, und über verschiedene Kongresse der Friedensorganisationen und die ersten Schritte der internationalen Pro-Völkerbund Bewegung zu Ende des 19. Jahrhunderts, 8 erwiesen sich alle in mehr oder weniger großem Maß als Befürworter des Respekts vor der Freiheit der kleinen Nationen und der Toleranz gegenüber den Rechten der nationalen Minderheiten als Bestandteil einer neuen Welt, in der Friede und internationalen Verständigung herrschen würden. Die neue Tragweite, welche die nationalen Probleme nach dem Ersten Weltkrieg erreicht hatte, trug wesentlich dazu bei, daß zu Beginn der 20er Jahre neue Initiativen für die Artikulation europäischer Nationalitätenorganisationen entstanden. Diese Bemühungen standen weiterhin in enger Verbindung zu den Aktivitäten der regierungsunabhängigen pazifistischen Organisationen, die den Völkerbund unterstützten und ihren Einflußbereich auch in der Nachkriegszeit ausweiteten, wie etwa die Union Internationale des Associations pour la Societe des Nations (VIA), die Interparlamentarische Union, die International Law Association usw. Schon zu Beginn der 20er Jahre entstand in Genf ein Bureau International pour la Defense du Droit des Peuples, welches von einigen 7 Vgl. über die Entwicklung der Union des Nationalites X. M. Nuiiez, EI problema de las nacionalidades en la Europa de entreguerras. EI Congreso de Nacionalidades Europeas (1925-1938), Phil. Dissertation, Florenz, Europäisches Hochschulinstitut 1992, S. 93-l34.
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Vgl. NtHiez, EI Probierna, S. 141-60.
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ehemaligen Mitarbeitern der Union des Nationalites und von führenden Persönlichkeiten der in England arbeitenden Union 0/ Democratic Control betrieben wurde. Während seiner kurzen Existenz beschränkte sie sich auf das Publizieren eines Presseorgans (Le Droit des Peuples), welches auf die "unbefriedigten" nationalen Forderungen nach dem Vertrag von Versailles und auf die Organisation eines internationalen Kongresses für Völkerrecht im September 1921, an dem Delegierte verschiedener Nationalitäten teilnehmen sollten, der jedoch geringen Widerhall fand. 9 Die wichtigsten Bestrebungen jedoch erfolgten von Seite der nationalen Minderheiten selbst, besonders von den besser organisierten, denen bessere Mittel zur Verfügung standen und die ein größeres Zusammengehörigkeitsbewußtsein besassen: die deutschen Minderheiten. Seit 1918-19 waren in Deutschland mehrere Organisationen entstanden, die zum großen Teil von den Intellektuellen, Medien und Politikern des völkischen Rechtsnationalismus unterstützt wurden: eine Vielzahl von Hilfsvereinen für die Auslandsdeutschen, wie der Deutsche Schutzbund, der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA, der schon in 1881 gegründet wurde), der Volksbund für das Deutschtum im Ausland sowie eine Vielzahl von Vereinen, wissenschaftlichen Instituten und Institutionen. 1O Die Ideologie, welche das Netz dieser Hilfsvereine der deutschen Minderheiten im Ausland bildete, schwankte zwischen dem höchsten Ziel einer Vereinigung aller Deutschen in ein und demselben Staat, inklusive die Option des Anschlusses mit Österreich, und einer Sehnsucht nach vorkapitalistischen Organisationsformen der Gesellschaft. Die sogenannten Auslandsdeutschen wurden so für die meisten völkischen Ideologen zu einem idealtypischen Beispiel des wahrhaftigen Deutschtums, und zwar wegen ihrer traditionell ständischen Organisation, welche z. B. in den baltischen Ländern eine lange Tradition hatten. Obwohl sie das Vokabular des Wilsonismus oder jenes der klassischen nationalen Bewegungen (die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts, z. B.) 9 Vgl. R. Claparede, L'Organisation de la lutte pour le droit des peuples, Genf 1921. Das Bureau war jedoch sehr stark pro-polnisch orientiert, was es in bezug auf seine Finanzierungsquellen suspekt machte. \0 Vgl. P. Uvy, Le Gerrnanisme 11 l'etranger, Strasbourg 1933; K. H. Grundmann, Deutschtumspolitik zur Zeit der Weimarer Republik. Eine Studie am Beispiel der deutschen baltischen Minderheiten in Estland und Lettland, Hannover-Dören 1977; der Aussage eines Protagonisten in M. H. Boehm, Die Reorganisation der Deutschtumsarbeit nach dem ersten Weltkrieg, in: Ostdeutsche Wissenschaft V (1958). Vgl. auch X. M. Nunez, EI nacionalismo radical aleman y la cuesti6n de las minorias nacionales durante la Republica de Weimar (1918-1933), in: Studia Historica 1994. Zur volksdeutschen Kultur, vgl. auch W. Oberkrome, Volksgeschichte, methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993.
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verwendeten,!! verteidigten die bedeutendsten Theoretiker des Völkerrechts und der Volkstumsideologie, die großteils den der Konservativen Revolution nahestehenden politischen Kreisen angehörten, wie etwa Max-Hildebert Böhm, eine geopolitische Neuordnung des europäischen Kontinents auf Grundlage der wirklichen nationalen Volksgruppen, wobei zum Teil Standpunkte vertreten wurden, welche denen des heutigen "Europas der Völker" sehr nahekamen, wenn auch die konservativen deutschen Theoretiker dem deutschen Volk eine Hauptrolle in jener utopischen neuen ethnischen Ordnung Europas einräumten.!2 Die Existenz dieses privaten Verbundes politisch-kultureller Hilforganisationen für die deutschen Minderheiten im Ausland wurde ergänzt von der offiziellen Protektionspolitik, welche die deutsche Diplomatie entwickelte und ihren Landsleute, soweit es die begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten der Weimarer Republik zu Beginn der 20er Jahre zuließen, wirtschaftliche und politische Unterstützung zur Verfügung stellte. 13 Die ersten Versuche einer Internationalisierung des Minoritätenproblems durch die deutschen Minderheiten entstanden dennoch unabhängig und durch politische Eigeninitiative, wenn auch zu Beginn der 20er Jahre verschiedene unofficial diplomats auftauchten, die sich als Vermittler zwischen den deutschen Minderheiten und dem Völkerbund aufspielten wollten, indem sie Consulting Büros zur Abwicklung von Petitionen in Genf u. ä. mehr gründeten. Der exzentrische Baron Heyking (ein baltisch-deutscher Adeliger und früherer Diplomat des Zarenreiches) versuchte sich zu Beginn der 20er Jahre als authentischer Vertreter der Interessen der deutschen Minderheiten und anderer na11 Vgl. S. Suval, The Anschluß Question in the Weimar Era. A Study ofNationalism in Germany and Austria, 1918-1932, Baltimore 1974, S. xvi. 12 Vgl. R. Jaworski, Der Auslandsdeutsche Gedanke in der Weimarer Republik, in: Annali dell'Istituto Storico Italo-Germanico in Trento IV (1978), S. 369-86; W. Emmerich, Zur Kritik der Volksturnsideologie, Frankfurt a.M. 1971. Einige Beispiele der auslandsdeutschen Auffassungen der europäischen Nationalitätenfrage sind M. H. Boehm, Europa Irredenta, Berlin 1923; ders., Das eigenständige Volk. Grundlegung und Elemente einer europäischen Völkerideologie, Darmstadt 1965 [1932]; K. Trampier u. K. Haushojer (Hrsg.), Deutschlands Weg an der Zeitenwende, München 1931; K. Trampier, Staaten und nationale Gemeinschaften. Eine Lösung des europäischen Minderheiten-Problems, MüochenlBerlin 1929. Zum Aufbau der "Volksforschung" und zu ihren politisch-ideologischen Bedeutung, vgl. auch W. Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993. 13 Vgl. B. Schot, Nation oder Staat? Deutschland und der Minderheitenschutz. Zur Völkerbundpolitik der Stresemann-Ära, Marburg a.Lahn 1988; H. Pieper, Die Minderheitenfrage und das Deutsche Reich, 1919-1933/34, Hamburg 1974; C. Fink, Defender of Minorities. Germany in the League of Nations, 1926-1933, in: Central European History V:4 (1972), S. 330-57.
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tionaler Minderheiten vor dem Völkerbund zu profilieren, indem er eine große Privatkampagne zwischen den diplomatischen Korridoren und der UIA aufzog; dennoch endeten seine Projekte, welche scheinbar im Interessenbereich der baltisch-deutschen Großgrundbesitzer standen, kläglich ohne Erfolg. 14 Die führende Rolle sollte bald anderen Persönlichkeiten mit mehr Charisma und kräftigerer Unterstützung seitens der deutschen Minderheiten zufallen. Schon zwischen 1921 und 1924 verschafften sich verschiedene deutsche Medien, Ideologen und Vertreter der deutschen Minderheiten in der Frage der Notwendigkeit einer europäischen Koordination der Interessen des Auslandsdeutschturns und der übrigen nationalen Minderheiten des Kontinents Gehör. 15 Der erste Schritt war die Gründung des Verbandes der deutschen Minderheiten, eine gemeinsame Initiative der deutschen Parteien des Baltikums (Estland und Lettland), welche gewöhnlich die Interessen der deutschen Großhändler und des städtischen Bürgertums vertraten, die lieber an einem Weg der Verständigung mit den ethnischen und gesetzlichen Mehrheiten festhielten und schließlich, teils durch die Vermittlerrolle des Deutschen Schutzbundes in Deutschland, an einem gemeinsamen Strang mit dem von Rudolf Brandsch geleiteten Verband der Deutschen in Rumänien zogen. 16 Die erste europäische Konferenz der deutschen Minderheiten fand im Oktober 1922 in Wien statt, nach einem genau detaillierten Programm, das vom baltischen deutschen Politiker Ewald Ammende (aus Estland) ausgearbeitet worden war, und in dem der legale und nicht revisionistische Zweck der Organisation festgehalten wurde, der Wille zur Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen für die Verteidigung der Rechte der Minderheiten, die Festlegung gemeinsamer Ziele, die eventuell notwendige Gründung einer Vertretung oder eines ständigen Büros, um vor dem Völkerbund die Interessen der deutschen Minderheiten zu vertreten, und der Wunsch nach einer Ausweitung der Organisation auf andere 14 Vgl. Heykings Überlegungen zum Minderheitenproblem in ders .. La Conception de l'Etat et I'idee de la cohesion ethnique. Le point de vue du Droit public et des gens, Paris 1927. Nach 1925 wurde Heyking tatsächlich ein unabhängiger Publizist, der mit der Presse der Auslandsdeutschen Kreise über Thematiken der nationalen Minderheiten zusammenarbeitete und gute Beziehungen zu Intellektuellenkreisen in Frankreich und Großbritannien unterhielt.
15 Vgl. Nunez, EI problema, S. 293-4: ein Beispiel war C. Morocutti, Europa und die völkischen Minderheiten, Jena 1925. 16 Vgl. Nunez, EI problema, S. 295-307, für die ersten Jahre des Verbandes der deutschen Minderheiten. Für die deutschbaltische Politik in der 20er Jahren, vgl. M. Garte!!, Deutsch-baltische Politik zwischen den Weltkriegen. Die parlamentarische Tätigkeit von deutschbaltischen Parteien in Lettland und Estland, Bad Godesberg 1976; für einen Gesamtüberblick der politischen Tätigkeiten der deutschen Minderheiten in ganzen Europa, vgl. M. O. Balling, Einleitung, in ders., Von Reval bis Bukarest. Statistisch-biographisches Handbuch der Parlamentarier der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa, 1919-1945, Kopenhaguen 1991, Bd.l., s. xiii-xxxviii.
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europäischen Nationalitäten. 17 Die Organisation war anfanglich erfolgreich und sicherte sich ihren Bestand durch weitere jährliche Kongresse l8 in einer eigentlich ambivalenten Beziehung zur Wilhelmstraße, welche erst gegen 1922/23 auf Grund des Drucks von Carl-Georg Bruns, seit 1922 Rechtsberater der deutschen Minderheiten in Berlin, begann, sich für die Möglichkeiten eine Ausnutzung der Wege, die durch das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes geöffnet worden waren, zu interessieren. Der Verband der deutschen Minderheiten entstand nicht als direktes Produkt des äußeren Revisionismus der Außenpolitik der Weimarer Republik, sondern wurde von denjenigen Minderheiten betrieben, den baltischdeutschen und den deutschen aus Rumänien, die seit Jahrhunderten sehr entfernt von Deutschland wohnten und deshalb wenig "revisionistisch" waren, jedoch mit sehr geringem Interesse an einer politischen Eingliederung in den deutschen Staat. 19 Diese Grundlage, die späteren Erfolge, als solche wurden sie zumindest interpretiert, der deutschen Parteien im Baltikum der Jahre 1924/25, als diese den Erlaß eines großzügigen Gesetzes über die kulturelle Autonomie in Estland in Februar 1925 erreichten und weitere, bescheidenere Erfolge (ein Gesetz über die Autonomie der Schulen in Lettland),20 stärkten den Optimismus für Pläne zu einer Internationalisierung der Forderung der nationalen Minderheiten. Insbesonders das estländische Minderheitengesetz schien den Prinzipien der kulturellen Autonomie zu entsprechen, welches wiederum auf dem Personalitätsprinzip, das die österreichischen Sozialdemokraten zu Beginn des Jahrhunderts ausgerufen hatten, basierte und tatsächlich die Autonomie auf kulturellem Gebiet garantierte, getrennt vom politischen, für die Mitglieder einer nationalen Minderheit, welche, wenn es die Mehrheit wünschte, ihre eigenen Kulturräte bilden konnten, nachdem sich jeder Bürger einzeln und freiwillig in 17 Vgl. E. Ammende, Gründe, Aufgaben und Programm für eine Zusammenkunft der Vertreter aller deutschen Minoritäten in Europa, 20.9.1922 (Völkerbundsarchiv [V Al. Genf, 41/24379/24379).
,. Vgl. R. Brandseh, Fünf Jahre deutsche Minderheitenarbeit, in: Nation und Staat, 1 (1927), S. 92-98. 19 Die ehemalige polnische und DDR-Historiographie behauptete jedoch, der Nationalitätenkongreß wäre schon seit seinem Anfang ein direkter Instrument der deutschen "Revisionsstrategie" : vgl. M. Rothbarth, Grenzrevision und Minderheitenpolitik des deutschen Imperialismus, in: Jahrbuch für Geschichte 1981, S. 220-23, und A. Czubinski, Deutschlands Minderheitenpolitik 1918-1945, in: Polnische Weststudien 1: 1 (1983), S. 62-3.
20 Vgl. H. Weiss, Der deutsch-baltische Vertrag zur Lösung der Minderheitenfrage in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in E. G. Schulz (Hrsg.), Leistung und Schicksal. Abhandlungen und Berichten über die Deutschen im Osten, Köln 1967, S. 323-29; vgl. auch R. Rühlmann-JückenstorjJ, Das Schulrecht der deutschen Minderheiten in Europa, Breslau 1926, S. 32-48.
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einem Nationalkataster eingeschrieben hatte. Die Kulturräte übernahmen so die kulturellen und schulischen Aufgaben und Verwaltung der Minderheiten in jedem Bezirk und mit der Zeit konnten sie ihre eigenen Steuern erheben, um sich selbst zu fmanzieren. Sie konnten jedoch auf keinen Fall ihre Kompetenzen auf politische Bereiche ausweiten. Auf diese Art wollte man die politischadministrativen Bereiche von den kulturellen Belangen trennen, und somit konnte die Nationalitätenfrage "entpolitisiert" werden. Die estländische Lösung wurde schließlich enthusiastisch als Idealmodell zur Anwendung in allen Regionen Europas in denen es Nationalitätenkonflikte und Minderheitenprobleme gab, gelobt, wenn auch etwas unreflektiert. Durch diesen Impuls hin entstand die endgültige paneuropäische Organisation der europäischen Minderheiten und Nationalitäten, welche mit nur relativem Erfolg versuchte, die Interessen der nationalen Minderheiten vor dem Genfer Forum und vor den staatlichen Diplomatien zu vertreten: der Europäische Nationalitätenkongreß (ENK). 21 Gleichzeitige oder spätere Initiativen, auch jene der Kompetenz, zur Bildung nationalistischer Plattformen auf europäischer Ebene gab es genug in den 20er und 30er Jahren. Viele von ihnen gehörten ins Reich der Intrige zwischen der ungarischen Diplomatie und der deutschen und österreichischen völkischen Rechte, wenn auch einige dieser Organisationen, wie das Bureau Central des Minorires, gegründet 1934 in Genf vom Vorsitzenden der Ungarischen Partei Rumäniens im Exil Gustave de Köver, eine gewisse Stabilität genossen und sogar eine Vermittlerrolle spielten sowohl bei den Petitionen der ungarischen Minderheiten an den Völkerbund als auch bei den Konflikten mit ihren Wohnstaaten. 22 Keine dieser Organisationen hatte jedoch die Kontinuität und relative Bedeutung des Europäische Nationalitätenkongresses und waren weit davon entfernt, alternative ideologischen Argumente anzubieten. Der Europäische Nationalitätenkongreß entstand aus den Verhandlungen zwischen einigen baltischdeutschen Führungsschichten (z. B. die Abgeordneten Paul Schiemann und Ewald Ammende), den Führungskreisen der Deutschen in Transsylvanien (Rudolf Brandsch), also den treibenden Kräften des Verbandes 21 Vgl. NUiiez. EI problema. Bd.2; frühere Studien. nur wenig überzeugend. über den ENK waren E. Keimes, Der Europäische Nationalitätenkongreß (1925-1938), Phil. Dissertation, Universität Köln 1958; M. Rothbanh, Der Europäische Minderheitenkongreß als ein Instrument deutscher "Revisionsstrategie" . Grenzrevision und Minderheitenpolitik des deutschen Imperialismus (19251932), Phil. Dissertation, Universität Rostock 1983; R. Michaelsen, Der Europäische Nationalitätenkongreß (1925-1928). Aufbau, Krise und Konsolidierung, Frankfurt a.M. 1984. Vgl. auch eine zusammenfassende Synthese in X.M. NUiiez, Some International Aspects of Problems of Nationalities in Interwar Europe (1919-1939), in: Europa Ethnica 50: 1-2 (1993), S. 1-23. 22
Vgl. G. de Köver, Non! Geneve ne protege pas les minorites nationales, Genf 1938.
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der deutschen Volksgruppen, und den politischen Führungschichten anderer Nationalitäten und nationalen Minderheiten Europas: Magyaren, Slawen, vor allem der Slowenen Italiens, allen voran der bis 1925 slowenische Abgeordnete in Rom Josip Vilfan, dem Comite des Delegations Juives in Paris (unter dem Vorsitz von Leo Motzkin) und Nationalitäten Westeuropas, wie den Katalanischen Nationalisten im Exil, welche damals nach vordiplomatischen Druckmitteln auf die Diktatur des Generals Primo de Riveras in Spanien suchten. 23 Nach einer Reihe von vorausgegangenen Kontakten unter verschiedenen Minderheitenführem zwischen Mai und Juli 1925, welche besonders auf der Jahresversammlung der VIA in Warschau in Juli ertragreich waren, und einem Vorbereitungstreffen in Dresden im August jenes Jahres zwischen Josip Vilfan, Ewald Ammende und Paul Schiemann wurden die Grundlagen für eine geplante neue Organisation der Nationalitätenführer aus ganz Europa beschlosen. Auf Grund der Dresdner Abkommen sollten die Volksgruppen, welche daran teilnehmen wollten, entsprechend "organisiert" werden, d. h. repräsentative Organisationen und legitime Führer besitzen, sich ihrer kulturellen Persönlichkeit bewußt sein (in der mehrheitlichen Meinung der Bevölkerung) und sich an vier allgemeine Prinzipien halten: Anerkennung der "national-kulturellen Gewissensfreiheit", Toleranz gegenüber der Existenz anderer Volksgruppen mit gleichen Rechten und die Anerkennung des Rechtes der ethnischen Gruppen und Minderheiten auf eine Entwicklung ihrer Persönlichkeit "in eigenen öffentlich-rechtlichen Körperschaften - je nach den besonderen Verhältnissen territorial oder personal organisiert - und letztlich die Verteidigung des politischen und moralischen Kompromisses des Völkerbundes als Garant dieser Rechte. 24 Die erste Konferenz der europäischen Nationalitäten fand 1925 im September in Genf statt und wurde, entgegen aller Prognosen und trotz des Schweigens
23 Zu einer Kontextualisierung der Pro-Minderheiten Tätigkeit Josep Vilfans in Italien in den 20er Jahren vgl. C. Ganerer, Im Kampf gegen Rom. Bürger, Minderheiten und Autonomien in Italien, Wien/Frankfurt a.M./Zürich 1968, S. 390-450; über die Aktivitäten und die politische Persönlichkeit Leo Motzkins vgl. A. Böhm, Die zionistische Bewegung. Bd. 11: 1918 bis 1925, Berlin 1927, S. 88-97, und W. Laqueur, A History of Zionism, London 1972, S. 474-5; über die Auslandsaktivitäten des Katalanismus im Exil während der Diktatur Primo de Riveras vgl. X. M. Nuflez, 11 nazionalismo catalano e la diplomazia spagnola di fronte al sistema di protezione delle minoranze nazionali della Societa delle Nazioni (1919-1930), in: Storia delle Relazioni Internazionali VI:2 (1993). 24 Diese "Dresdner Unterlagen" befinden sich im Archiv Josep Vilfans (Bundesarchiv KoblenzNachlaß Vilfan [BK-NV].
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des Sekretariats des Völkerbundes und der Wilhelmstraße ein voller Erfolg. 25 Der Europäische Nationalitätenkongreß wurde als dauerhafte Verbindungsorganisation strukturiert, welche in der Praxis parallel zur VIA (Union des Associations pour la Societe des Nacions oder Weltverband der Völkerbundligen) fungierte. Die Mehrheit der Minderheitenführer, die bei ihren Aktivitäten auftrat, tat dies gleichzeitig bei den Foren der internationalen Pro-Völkerbundbewegung und sogar bei der Interparlamentarischen Union. 26 Daher war der Europäische Nationalitätenkongreß in der Praxis eine Organisation, die vor allem versuchte, eine "Vordiplomatie" im Schatten des neuen Windes in den internationalen Beziehungen zu entwickeln. Gleichzeitig kümmerte sich der Europäische Nationalitätenkongreß um Beiträge für Untersuchungen der Situation der nationalen Minderheiten Europas, indem er Forschungsaktivitäten unterstützte und zur Verbreitung von Information über Nationalitätenfragen beitrug. In dieser Hinsicht veröffentlichte der Europäische Nationalitätenkongreß 1931 einen umfangreichen Band mit Lageberichten, die von zahlreichen europäischen Minderheitenführern über alle europäischen nationalen Minderheiten recherchiert worden waren, Berichte, die übrigens nicht immer wörtlich zu nehmen waren. 27 Dennoch erreichte der ENK nicht, ein europäisches Institut für Nationalitätenkunde zu gründen, und obwohl es ihm gelang, eine internationale Journalistenvereinigung der nationalen Minderheiten auf die Füße zu stellen, blieben seine Aktivitäten doch bescheiden. 28 Dasselbe läßt sich über die internationale Expertenkommission über Minderheitenrechte, welche Ende der 20er Jahre unter dem Namen Association Internationale d'Etudes du Droit des Minorites mit Sitz in Den Haag geschaffen wurde, behaupten, da sie sich wegen notorischem Geldbeiträgernangel nicht etablieren konnte. Die zusätzlichen Pläne, europäische Vereinigungen für Schriftsteller, Lehrer und Professoren der nationalen Minderheiten zu schaffen, wurden nicht realisiert.
2S Vgl. Sitzungsbericht des Kongresses der organisierten nationalen Gruppen Europas 1925, Wien 1926; vgl. auch Ammendes Aufzeichnung "Richtlinien und Programm für eine Tagung der Vertreter aller nationalen Minderheiten in Europa". Frühjahr 1925 (VA, 41144950/30181), und die Berichte an die Wilhelmstraße: vgl. Ntifiez, EI problema, S. 466-70.
26 Vgl. die Aufzeichnungen über die Minderheitentätigkeiten der internationalen Organisationen, die ein Mitglied des Völkerbundssekretariats (der Kolumbianer M. Cespedes) schrieb, in ASN, S. 338/4. 27 Vgl. E. Ammende, Die Nationalitäten in den Staaten Europas, Wien 1931. Eine kritische Darstellung aus polnischer Sicht, der nach ihrer Meinung in diesem Buch eingeschlossenen "Manipulationen" von statistischen Angaben in L. Wasilewski, Aper~u critique sur "Die Nationalitäten in den Staaten Europas" , Warschau 1931). 28
Vgl. SB 1929 (Wien 1930), besonders S. 162-65.
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In den 20er Jahren etablierte sich der Europäische Nationalitätenkongreß zum ersten unabhängigen Diskussionsforum der europäischen nationalen Minderheiten, egal ob sie den Verträgen verpflichtet waren oder nicht. Durch die Debatten auf ihren jährlichen Kongressen und durch die verschiedenen Aktivitäten ergab sich ein zuverlässiger Maßstab für die Unzufriedenheit und Frustration der verschiedenen ethnischen Minderheiten Europas mit der internationalen Lösung die der Völkerbund in die Praxis umgesetzt hatte. Zur gleichen Zeit zeigte selbst die Geschichte des Europäischen Nationalitätenkongresses die Widersprüche und inneren Spaltungen, welche die verschiedenen europäischen nationalen Minderheiten charakterisierten. Einerseits gab es die das gegenseitige Abhängigkeits-/Unabhängigkeitsverhältnis in bezug auf die Subventionen und Geldanweisungen durch die offizielle deutsche Minderheitenpolitik, die vor allem ab dem Jahr 1927 weiterhin zunahmen. Die erste bedeutende Forderung nach Finanzhilfe seitens des Verbandes der deutschen Volksgruppen zur Unterstützung des Nationalitätenkongresses traf im Juli 1926 in der Wilhelmstraße ein und setzten sich dann fort, wobei sie gewöhnlicherweise an Vermittler der auslandsdeutschen Vereine und Kreise innerhalb Deutschlands kanalisiert wurden. Anfangs weigerte sich die Kulturabteilung VIA des Auswärtigen Amtes Fonds für den ENK auszuschütten, da es «gewisse innen- und außenpolitische Komplikationen» wegen der offiziellen Unterstüzung befürchtete (insbesonders die Ablehnung, die der Nationalitätenkongreß in verschiedenen Kanzleiämtern Osteuropas auslöste und die hartnäckigen Gerüchte, die von Anfang an in Genf zirkulierten, daß Deutschland heimlich den ENK finanzieren würde). Erst ab Februar 1927 wurden einigen der finanziellen Forderungen der deutschen Minderheitenführer , um ihre Geldbeiträge an die Organisationen des ENK zahlen zu können, mit Genehmigung Stresemanns, stattgegeben, denn nachdem der Nationalitätenkongreß nach seiner zweiten Versammlung erst einmal eine gewisse Stabilität erreicht hatte, begann die deutsche Diplomatie, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dies als propagandistische Waffe zur Beeinflussung der europäischen öffentlichen Meinung einzusetzen und so eine günstige Stimmung für die Entwicklung der ehrgeizigen Minderheitenpolitik Stresemanns zu schaffen. Nach dem Rückzug des Verbandes der nationalen Minderheiten Deutschlands aus dem ENK nach dessen dritten Kongreß (September 1927) begann die deutsche Diplomatie, die in der Nicht-Zulassung der Nordfriesen einen Triumph der "deutschen" Thesen gegenüber den von der Warschauer Regierung unterstützten "slawischen" Interessen sah, großzügig die wachsenden und immer ehrgeizigeren Bittgesuche der deutschen Minderheitenführer Aufmerksamkeit zu schenken. Trotzdem war diese Unterstützung immer an den globalen Entwurf der deutschen Außenpolitik gebunden. So wurde der Plan zur Errichtung eines Büros des ENK in Paris letztendlich nicht finanziert,
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um die Regierung Poincare nicht zu empören, da ja Deutschland schon zusätzlich die Autonomisten im Elsaß unterstützte; aber seit 1928 deckten sich die vom ENK verteidigten Ansichten und die Ziele der deutschen Minderheitenpolitik weitgehend. Dies bestätigt eine Aufzeichnung der Abteilung VI an von Weizsäcker, Leiter der Völkerbund-Abteilung des Auswärtigen Amtes: «Vor allem Deutschland hat ein Interesse daran, alle Bestrebungen zu unterstützen, die darauf gerichtet sind, den Völkerbund aus seiner bisherigen Trägheit und Indolenz auf dem Minderheitengebiet aufzurütteln und zu positivem Handeln zu veranlassen,..29 Ab diesem Zeitpunkt, und besonders ab Februar 1929, nahmen die politischen und fmanziellen Beziehungen zwischen den Führern des ENKs und der deutschen Diplomatie zu. Ammende hielt die Abteilung VI des Auswärtigen Amtes regelmäßig über seine Aktivitäten, Reisen und Verhandlungen auf dem Laufenden, die vor allem versuchte, die verschiedenen europäischen Kanzleiämter unter Druck zu setzen, damit sie den Minderheitenrechten in den großen Debatten günstig gesonnen wären, welche 1929 in der Genfer Liga auf Stresemanns Aufmunterung hin stattfanden. Bei Gelegenheit finanzierte auch die deutsche Diplomatie die Geldbeiträge anderer, nichtdeutscher Minderheiten an den ENK. Im Januar 1930 sollten die jüdischen Gruppen des Nationalitätenkongresses eine Unterstützung von der Abteilung VI erhalten, da sie sich nach der Krise von 1929 in einer recht prekären Wirtschaftslage befanden. 3D Nach dem Ende von Stresemanns diplomatischer "Offensive" im Völkerbund wurden die fmanziellen Beiträge der deutschen Diplomatie an den ENK jedoch immer zögernder, da der Nachfolger Stresemanns, Curtius, relativ wenig Interesse an der Minderheitenpolitik zeigte. Dazu kam noch eine gewisse Uneinigkeit zwischen den Forderungen Ammendes und der deutschen Minderheitenführer über die Ausrichtung der Nationalitätenpolitik, die sie der deutschen Außenpolitik aufzwingen wollten und den konkreten Zielen der Wilhelmstraße, welche auch mit Mißtrauen auf die vom ENK verteidigte Nationalitätentheorie schaute, z. B. auf die völlige Trennung zwischen Staatspolitik und Kulturpolitik. Daraus ergab sich eine zunehmende Verschlechterung der finanziellen Situation des Nationalitätenkongresses Anfang der 30er Jahre. 31 Trotzdem läßt sich jedoch die Geschichte des Europäische Nationalitätenkongresses andererseits nicht auf seine bloßen Verbindungen zur deutschen Diplomatie reduzieren und noch viel weniger auf seine angebliche Nebenrolle 29
Aufzeichnung der Abteilung VI an von Weizsäcker, Berlin, 7.4.1928 (PAAA, R. 60467).
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Aufzeichnung der Abteilung VI, Berlin, 9.1.1930 (PAAA R.60528).
31 Zur Frage der Finanzierung des Nationalitätenkongresses durch die deutsche Diplomatie bis 1933, vgl. Nuiiez, EI problema, S. 454-514.
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innerhalb einer weltweiten Strategie des "Revanchismus" oder der deutschen Revisionspolitik. Der ENK wurde tatsächlich zu einer Karte im diplomatischen Spiel der 20er und 30er Jahre, die von mehreren Spielern ausgespielt wurde (von der Wilhelmstraße, den verschiedenen nationalen Bewegungen und den Interessen der nationalen Minderheiten, aus denen sie bestanden), jedoch verdankte sie ihre Konsolidierung der Existenz eines Parallelraums zur offiziellen Politik jener Staaten, welche sich durch die Windungen des neuen internationalen Systems zog, das nach Versailles durch den Völkerbund in Kraft gesetzt worden war und einer neuen Verstehensweise der Außenpolitik unterlag, die darin bestand, daß das Hauptgewicht bei der Formulierung der Außenpolitik auf der öffentlichen Meinung lag, und welches auch durch die Existenz des Völkerbundes begünstigt wurde. In Wirklichkeit bewahrte der Europäische Nationalitätenkongreß immer eine legalistische Linie, respektierte die Doktrin des Internationalen Minderheitenrechts und versuchte nicht, den territorialen Revisionismus offen zu verteidigen, was ihm Probleme z. B. mit der Akzeptanz der ukrainischen und mazedonischen Nationalisten zwischen 1925 und 1928 einbringen sollte. Im Gegenteil, der Europäische Nationalitätenkongreß konzentrierte sich vielmehr auf die Ausarbeitung einer alternativen Doktrin, einem Maximalprogramm zur Lösung der Nationalitätenprobleme des damaligen Europas, und dies war vielleicht sein größter Beitrag trotz der folgenden internen Teilungen, die die Organisation erfuhr. Innerhalb des Europäischen Nationalitätenkongresses waren verschiedene Widersprüche ersichtlich, die sich so zusammenfassen lassen: 1) der Block der deutschen und magyarischen Minderheiten mit ihren zeitweiligen Alliierten; 2) slawische Minderheiten, die vor allem durch die starke Gruppe der polnischen Minderheiten und der nichtdeutschen Minderheiten Deutschlands vertreten waren, die sich 1928 vom Kongreß aus Protest gegen die Ablehnung der Nordfriesen als nationale Minderheit mit vollgültigen Rechten innerhalb des Europäischen Nationalitätenkongresses trennten; 3) jüdische Minderheiten, die von der aktiven Leitung des Comite des Delegations Juives in Paris instruiert wurden und die bis 1933 in voller Übereinstimmung mit den deutschen Minderheiten auftraten, als die ersten antisemitischen Maßnahmen in Nazideutschland seitens des Europäisches Nationalitätenkongresses unbestraft blieben, weil die deutschen Minderheitenführer den jüdischen Vorschlag, der ENK solle die Politik der deutschen Regierung offiziell kritisieren, explizit abgelehnt hatten, mit der Konsequenz, daß die jüdischen Minderheiten den ENK in September 1933 verließen; d) eine relativ "exotische" Gruppe mit vielleicht wenigem Gewicht, die vor allem aus den Nationalitäten Westeuropas bestanden, von denen besonders die katalanische Gruppe durch ihre finanziellen und politischen Beiträge hervortrat.
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Die evenementielle Entwicklung des Europäischen Nationalitätenkongresses ist eine relativ weitgehend erforschte Materie. Dennoch lassen sich zwei wichtige Einschnitte aufzeigen:
1. Der erste fand 1927-29 statt nach der Restrukturierung desselben auf Grund des Rücktritts eines Teils der slawischen Minderheiten, die dem Krisenpunkt im Eingreifen des Kongresses in den Debatten und Vorbereitungen für die große Diskussion über die Rechte der nationalen Minderheiten, welche in der Generalversammlung des Völkerbundes im Zusammenhang mit der von Stresemann entwickelten Strategie im Jahr 1929 stattfand, entsprach. Die erste bedeutende Spaltung innerhalb des ENK hatte als Auslöser die Zulassung der Nordfriesen Deutschlands als voll gültig anerkannte nationale Minderheit seitens des ENK, was von den nicht-deutschen Minderheiten Deutschlands nach dem zweiten Kongreß von 1926 gefordert wurde (dem Verband der nationalen Minderheiten Deutschlands), dessen Tragweite vielleicht darin bestand, daß dort zum ersten Mal eine Diskussion auf europäischer Ebene über die Definition einer "nationalen Minderheit" stattfand. 32 Das Problem für die Anerkennung der Nordfriesen innerhalb des ENK war ihre zahlenmäßige Geringfügigkeit und das Problem der Definition als "organisierte nationale Gruppe" laut den Zulassungsbestimmungen des Nationalitätenkongresses, da sich die friesische Bewegung bis zu diesem Moment sowohl in Holland als auch vor allem in Deutschland auf die Ebene der kulturellen Tätigkeiten beschränkt hatte, und das Fehlen einer echten Unterstützung seitens der Bevölkerung dieser ethnischen Gruppe, sich selbst eventuell als "nationalen Minderheit" zu betrachten. 1926 ernannte der ENK eine Kommission die die Anerkennungsfrage der Nordfriesen untersuchen sollte, doch war die Position der deutschen Minderheiten und sogar des Auswärtigen Amtes in der Friesenfrage äußerst mißtrauisch. 33 Der Nordfriesische Verein für Heimatkunde und Heimatliebe, gegründet 1902, verteidigte die friesische Kultur innerhalb des Zugehörigkeitswillens der Nord32 Ausführliche Hinweise auf die Debatte finden sich bei T. Steensen (Hrsg.), Die friesische Bewegung in Nordfriesland im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente, Neumünster 1986. 33 Insbesonders das Auswärtige Amt und das Innenministerium fürchteten, daß die Anerkennung der Nordfriesen als nationale Minderheit zu Folge haben könnte, daß Deutschland "moralisch" gesehen die den Dänen, Polen und Litauern versprochene Regelung der kulturellen Autonomie auch auf die Friesen ausdehen müßte. Vgl. die Aufzeichnungen Podewils an den Reichsminister des Inneren. Berlin 25.6.1927 (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes [PAAAl, R. 60465). Zur Gewährung der kulturellen Autonomie an die nichtdeutschen Minderheiten Deutschlands im Jahr 1928 als Geste des guten Willens, um später dieselbe Behandlung der deutschen Minderheiten in anderen Staaten fordern zu können, vgl. M. Broszat, Außen- und innenpolitische Aspekte der preußisch-deutschen Minderheitenpolitik in der Ära Stresemann, in: K. Kluxen u.a. (Hrsg.), Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung, München 1969, S. 393-445.
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friesen zur deutschen Nationalität und präsentierte im September 1926 eine von 13.000 Menschen unterzeichnete Treueerklärung an Deutschland, in der der Status einer nationalen Minderheit ausdrücklich abgelehnt wurde. 34 1927 wurde der dritte Nationalitätenkongreß von den Debatten um die Akzeptanz der Nordfriesen bestimmt, welcher sich vor allem die deutschen Minderheiten entgegensetzten. Da kein Komprorniß als Lösung gefunden wurde, verließ der Verband der nationalen Minderheiten Deutschlands den ENK, teils unter dem Druck der polnischen Diplomatie, welche eine Konsolidierung des ENK verhindern wollte. 3s Wie ich später erklären werde, sollte die Friesenfrage nur als Auslöser einer inneren Spaltung dienen, welche sich schon seit 1927 innerhalb des ENK abzeichnete: die Frage einer Anerkennung oder Nichtanerkennung der kulturellen Autonomie als gültige Lösung zur Verbesserung der Lage aller nationalen Minderheiten, unabhängig von ihrer numerischen Stärke, ihrer kulturellen Tradition oder ihrer sozialwirtschaftlichen Macht. Der ENK beabsichtigte nicht, zu einer Institution zu werden, welche nationalistische Bewegungen förderte, sondern er wollte diese nur dann anerkennen, wenn sie bereits eine gewisse soziale Unterstüzung genossen, eine kulturelle Tradition aufwiesen und definitiv eine ethnische Gruppe darstellten, die sich ihres Nationalcharakters bewußt war. Ab 1928 jedoch wurde die Mitarbeit eines guten Teils der slawischen Minderheiten (vor allem der polnischen) an den Aktivitäten des ENK wesentlich zurückhaltender, und sie bildeten sogar eine Art "innerer Gegenströmung", die sich zeitweise separat bei Sonderkonferenzen in einer Arbeitsgemeinschft der slawischen Minderheiten traf. 36 Diese Versuche, die slawischen Minderheiten vom ENK abzuspalten, scheiterten aber größtenteils nach dem Kongreß der 26 Delegierten der slawischen Minderheiten Europas im August 1928 in Wien deswegen, weil sich die Minderheiten Österreichs und die Slowenen Italiens weigerten, die Trennungsversuche, welche allem Anschein nach von den polnischen Minderheiten unternommen wurden, zu unterstützen. 37 2. Ein zweiter ereignete sich 1933 auf dem 9. Kongreß der Organisation, als der Europäische Nationalitätenkongreß die Aufsplitterung zwischen den )4
Vgl. Steensen, friesische Bewegung, S. 100-108.
JS Vgl. Sitzungsbericht 1927, Wien 1928, S. 50-62. Die Interessen der Warschauer Regierung werden von M. Rothbarth (Der europäische Minderheitenkongreß, S. 165-66) aufgrund der polnischen Quellen bestätigt: «Der Verband der nationalen Minderheiten in Deutschland wurde gleichsam zum Instrument der polnischen Politik, während der Europäische Minderheitenkongreß ganz im Dienste des imperialistischen Deutschland stans •. )6
Vgl. Michaelsen. Europäischer Nationalitätenkongreß, S. 406-13.
)7
Bericht der deutschen Botschaft in Wien, 21.8.1928 (PAAA, R.60467).
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jüdischen Minderheiten sah und unter den Bann der neuen Ordnung der Minderheitenpolitik des Dritten Reiches (die sogenannte Volkstumspolitik) geriet. Die Haltung des Europäischen Nationalitätenkongresses gegenüber der Judenverfolgung in Nazideutschland war zweischneidig. Anfänglich hoffte das Präsidium des Nationalitätenkongresses, daß die Judenfrage in Deutschland keine innere Spaltungen der Organisation hervorrufen würde, da es die Norm verbot, Einzelflille jeder Minderheiten zu diskutieren, und außerdem wurden die deutschen Juden, ebenso wie die englischen oder französischen, als der ethnischen Mehrheit ihrer Wohnstaaten "assimiliert" betrachtet. Trotzdem versuchte Leo Motzkin auf dem 9. Kongreß der europäischen Nationalitäten in Bern im September 1933 den Punkt "Dissimilation und Nationalitätenrechte" auf die Tagesordnung zu bringen, um damit zu erreichen, daß der ENK eine explizite Verurteilung der ersten diskriminierenden Maßnahmen gegen die deutschen Juden formuliere, weil er sie als Menschenrechtsverletzung und als Verletzung des Minderheitenrechts hielt. Dagegen widersetzte sich die Mehrheit der deutschen Minderheiten Europas, für welche die "nationale Dissimilation" nicht die Verfolgung oder Diskrimination der Juden bedeutete, sondern ihre Trennung von einer anderen ethnischen Gruppe, wodurch sie automatisch den Status einer nationalen Minderheit mit all ihren Rechten genossen. 38 Die im ENK vertretenen jüdischen Gruppen (angeführt von Motzkin, Emil Margulies und H. Rosmarin) legten Vilfan ihren Antrag vor, der ENK solle eine explizite Verurteilung der im Dritten Reich ergriffenen Maßnahmen formulieren. Nachdem der Organisationsausschuß der Nationalitätenkonferenz dem Vorschlag der jüdischen Gruppen nicht nachkam, zogen sich diese für unbestimmte Zeit aus der Organisation zurück. 39 Die jüdische Frage beendete schlußendlich die grundlegende Allianz, welche am Anfang des ENK zehn Jahre zuvor geherrscht hatte (deutsche und jüdische Volksgruppen) und versetzte so den Absichten der Organisation, sich als von der Interessen der deutschen Außenpolitik unabhängiges Forum vor der öffentlichen Weltmeinung zu präsentieren, einen harten Schlag. Trotz der verschiedensten Versuche, die von den Führern des ENK unternommen wurden, die jüdischen Gruppen wieder in die 38 Als der Vertreter der Deutschen aus Rumänien. Roth. erklärte: .Wir halten die Ausgliederung von andersgearteten. insbesondere andersrassigen Menschen aus einer Volkskultur grundsätzlich für berechtigt, wobei wir es jedoch auch für gerechtfertigt erachten. daß die durch die Dissimilation zu Minderheiten gemachten Menschengruppen bestrebt sind, die Rechte auch für sich geltend zu machen, für die unser Kongreß bisher eingetreten ist» (Sitzungsbericht 1933, Wien 1934, S. 25-26. Vgl. auch Brief Vilfans an Ammende, Wien, 12.9.1933 ("Zur Frage der deutschen Juden)" (BKNY). 39 Vgl. Sitzungsbericht 1933, Wien 1934, und Brief Motzkins, Margulies. Rosmarins und Farchys an Vilfan, Bern, 17.9.1933 (BK-NV).
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Organisation zurückzugewinnen (was soweit ging, daß der ENK sich sogar bereit erklärte, eine Delegation der "nationalen Minderheit der deutschen Juden" aufzunehmen), blieb deren Position unverändert. 4O Die jüdische Frage war auch gleichermaßen ein Motiv für die Dissonanzen unter den Führern der deutschen Minderheiten Europas, die im Nationalitätenkongreß vertreten waren. Verschiedenen Sektoren unter der Führung des baltendeutschen Paul Schiemann waren nicht gewillt, dem Nationalsozialismus nachzugeben. So vollzog sich die Spaltung zwischen diesem Sektor und den Kollaborationisten mit dem Dritten Reich, die von Werner Hasselblatt (der Mitglied des Volksdeutschen Rates und der neue Rechtsberater der deutschen Minderheiten in Berlin war, und damit zur Schlüsselfigur in den Beziehungen zu Ribbentrop und der deutschen Diplomatie wurde) angeführt wurden. Schiemann ging schließlich nach mehreren Problemen mit der Führungskreisen der deutschen Minderheit in Lettland (wegen des Gleichschaltungsprozesses, der nach 1933 innerhalb jener Minderheit stattfand) nach Wien freiwillig ins Exil, wo er zusammen mit dem Dr. Pant (Vorsitzender der Deutschen Christlichen Volkspartei Polens) und mit Karl Kotska (ehemaliger sudetendeutscher Bürgermeister, der gegen Henlein war) eine Organisation antinationalsozialistischer , deutscher Minderheiten gründete, den kurzlebigen Deutschen Verband zur Befreiung Europas, dessen Ziel «die Befreiung des nationalen Gemeinschaftsgefühls aus der Verquickung mit dem staatlichen Gemeinschaftsgefühl» war. Nach dem Anschluß Österreiches verschwand diese Dissidentengruppe letzendlich. 41 Der Europäische Nationalitätenkongreß geriet so nach 1933 in den Einflußbereich der konservativsten und der völkischen Linie nahestehenden Gruppierung, die in Deutschland, wie das Beispiel der Laufbahn Max-Hildebert Boehms zeigt, schon zum guten Teil vom Nationalsozialismus absorbiert worden waren. Er versuchte sich aber dennoch als legitimer Vermittler aller europäischen nationalen Minderheiten vor dem Völkerbund zu präsentieren teils, weil es dem Europäischen Nationalitätenkongreß gelang, die Interessenskonflikte, die zwischen den verschiedenen Organisationen der nationalsozialistischen Diplomatie tobten (, z. B. wurde er nicht direkt von der Volksdeutschen Mittelstelle Himmlers und Lorenz kontrolliert, sondern der ENK verständigte sich sogar direkt mit Ribbentrop und dem Auswärtigen Amt), auszunutzen, um eine relativ unabhängige Linie innerhalb der "Volkstumspolitik" zu 40 Vgl. Sitzungsbericht 1934, Wien 1935, S. 7-10, und Sitzungsbericht 1935, Wien 1936, S. 1415 und 35-36; Brief Vilfans an Emil Margulies, Wien, 3.4.1934 (BK-NV). 4\ Vgl. P. Schiemann, Ein europäisches Problem. Unabhängige Betrachtungen zur Minderheitenfrage, Wien/Leipzig 1937.
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entwickeln. 42 Diese Linie war in hohem Grade den Ereignissen in der internationalen Politik unterworfen, doch änderte der ENK seine grundlegenden politisch-ideologischen Forderungen nicht,43 und sogar Werner Hasselblatt warnte im April 1933 die Wilhelmstraße vor den gefährlichen "außenpolitischen Rückwirkungen", welche aus der Einführung der ersten antisemitischen Maßnahmen zu erwarten waren, welche die Juden von allen Verwaltungsposten ausschlossen. 44 Dennoch floß die flnanzielle Hilfe des ENK vom Auswärtigen Amt nach 1933 weiterhin durch dieselben, während der Weimarer Republik üblichen Kanäle. Allerdings war seit Ende des Jahres 1933 die Minderheitenpolitik innerhalb des Völkerbundes für das Dritte Reich nicht so interessant wie es in der Weimar-Ära gewesen war. Die politische Szene in Genf erlitt nach 1933 eine Phase des zunehmenden Zerfalls, nachdem sich Deutschland aus dem Völkerbund zurückgezogen hatte. 1934 zogen die Führer der verbleibenden Mitgliedsminderheiten im Nationalitätenkongreß ihre jährliche Versammlung vor, um eine Entscheidung bezüglich des polemischen Vorschlag Polens vor der Vollversammlung des Völkerbundes im September jenes Jahres, die Minderheitenverträge auf alle Mitgliedstaaten der Genfer Liga auszuweiten, zu treffen. Der 10. Kongreß der europäischen Nationalitäten in Bern beschloß die polnische Initiative zu unterstützen, wenn auch zu Recht befürchtet wurde, das dies nur ein Manöver war, um sich einseitig gegen die Erfüllung der Verpflichtungen des Minderheitenabkommens mit Polen zu stellen. Der ENK hoffte auf jeden Fall, daß die Verallgemeinerung der Minderheitenverträge keine Einschränkungen im Bereich der den 42 Vgl. Nufiez, EI problema, S. 515-41. Vgl. auch für den Kontext V. O. Lumans, Himmler's Auxiliaries. The Volksdeutsche MittelsteIle and the German National Minorities of Europe (19331945), Chapei Hili 1993, und H. Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933-1938, Frankfurt a.M. 1968, S. 165-70. 43 Bericht Ammendes an den Auswärtigen Amt, Aktuelle Aufgaben und Arbeiten der Europäischen Nationalitäten-Kongresse, o.d. [ca. 1934] (PAAA, R.60530). 44 Brief Hasselblatts an Geheimrat Dr. Roediger, Berlin, 3.4.1933 (PAAA, R.60595). Anfang Mai 1933 präsentierte Hasselblatt der Wilhelmstraße einen Bericht über "Rassenkampf und Aussenpolitik" , mit der Absicht, die möglichen Konsequenzen der antisemitischen Orientierung des Dritten Reiches für das Auslandsdeutsehtum zu diskutieren. Hasselblatt wollte keine endgültige Haltung zur Definition der deutschen Juden als eine "rassische Minderheit" einnehmen, und beschränkte sich darauf, die Komplexität einer solchen Darstellung aufzuzeigen. Er unterhielt auch verschiedene Kontakte mit dem Auswärtigen Amt und mit dem Staatssekretär, um eine gemäßigte Abfassung der antisemitischen Gesetze zu erreichen, welche den Interessen der deutschen Minderheiten im Ausland nicht schaden sollten. (vgl. Brief Hasselblatts an Roediger, Berlin, 5.5.1933; Aufzeichnung der Abteilung VI an Herrn Staatssekretär, Berlin, 4.5.1933, und die Berichte HasseIblatts: "Die Begriffbestimmung "minorire de race" " und "Zur Frage, ob die Juden im Deutschen Reich als Minderheit im Sinne der Minderheitenverträge aufgefasst werden könnten" (PAAA, R.60596).
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nationalen Minderheiten garantierten Rechte mit sich bringen würde. 45 Die im Vergleich zu anderen Jahren geringere Zahl der Delegierten, die an der Nationalitätenkonferenz teilnahmen, zeigte schon den Beginn des Verfalls des ENK an; die später folgende Verweigerung Polens, den Verpflichtungen des Minderheitenabkommens nachzukommen (September 1934), weil der Vorschlag einer allgemeinen Ausweitung nicht akzeptiert worden war, war ein eindeutiges Signal dafür, daß das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes schon in der tiefsten Krise steckte. Die 11. Konferenz der europäischen Nationalitäten vom September 1935 brachte nur eine wesentliche Neuigkeit: die erstmalige Teilnahme von Delegierten der deutschen Minderheit der Sudeten, konkret der Sudetendeutschen Partei Henleins (mittels der Delegierten für Auslandsbeziehungen der Partei, H. Rutha und durch W. Brand), welche jedoch auf dem Nationalitätenkongreß eine wesentlich gemäßigtere Position vertraten als jene, die sie in der tschechoslowakischen Innenpolitik einnahmen. 46 Wenigstens in der Theorie wandten sich die Resolutionen dieses 11. Kongresses entschieden gegen alle autoritären Regime, und gleichzeitig zeigte sich der Nationalitätenkongreß bereit, mit jedem Land und jeder Regierung zusammenzuarbeiten, um eine internationale Regulierung im Sinne der Minderheitenfrage zu erreichen. 47 Deshalb und in Verbindung mit der zwischen 1936 und 1938 von Berlin geförderten Freundschaftsstrategie mit Großbritannien sowie der Ausnutzung des günstigen Klimas für eine "Reparation" der Ungerechtigkeiten von Versailles, das unter einem großen Teil der öffentlichen Meinung der öffentlichen britischen Meinung vorherrschte und auch im Schutz der von London in jenen Jahren verfolgten Appeasementpolitik, versuchte der Europäische Nationalitätenkongreß sogar noch 1936-37 eine große Propagandakampagne in Großbritannien, um eine Unterstützung der britischen Diplomatie und der liberalen öffentlichen Meinung Englands für die Forderungen der Minderheiten in Genf 45 Vgl. Sitzungsbericht 1934, Wien 1935, S. 45-48. Dieser Kongreß beschäftigte sich auch weiterhin mit Fragen theoretischer Natur, wie der Aufbau und die praktische Festigung des Konzepts der Volksgemeinschaft.
46 So z. B. sprach W. Brand in seinem Referat zum Thema "Grenzen der überstaatlichen Volksgemeinschaft" vor dem 11. Kongreß der europäischen Nationalitäten über die Bereitschaft seiner Partei, das Prinzip der "Gleichberechtigung aller Völker" sowie die "geistig-kulturelle Verbundenheit" der ethnischen Gruppen mit ihren Mutterländern zu akzeptieren. Brand beschränkte sich darauf, eine Garantie fiir die kulturellen Rechte der Minderheiten zu fordern und ein Gleicberechtigungsprinzip innerhalb des Staates, aber auch eine wirtschaftliche Gesetzgebung, die den Notwendigkeiten jeder Nationalität entsprach sowie den Aufbau einer autonomen Verwaltung fiir jede Nationalität, was aber im Großen und Ganzen den Prinzipien des ENK, politische und kulturelle Einflußbereiche zu trennen, widersprach. 47
Vgl. Sitzungsbericht 1935, S. 101.
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zu erhalten. Der 13. Minderheitenkongreß fand im Juli 1937 eigens in London statt mit der Unterstützung verschiedener Persönlichkeiten, welche man unter der Bezeichnung "Minderheitenlobby" zusammenfassen könnte, politische Führer oder Sympathisanten der League 0/ Nations Union, des Royal Institute oj International Affairs sowie einige unabhängige englische Politiker und Abgeordnete. Obwohl der Kongreß ein gewisses Echo in diesen Kreisen und in den englischen Medien fand, fruchteten die Versuche der Führer des ENK, beim Foreign Office empfangen und gehört zu werden nichts, da die britische Diplomatie mit größtem Argwohn die Aktivitäten der mitteleuropäischen Minderheitenführer in London betrachtete. 48 Nach diesem Kongreß zerfiel die Organisation rasch, und der 14. Kongreß 1938 in Stockholm war nur Veranstaltung, gekennzeichnet von einer geringen Teilnahme an Delegierten, und es war nicht einmal möglich, einen Sitzungsbericht zu veröffentlichen. Darin wurden Themen wie die globale Beurteilung der europäischen Nationalitätenpolitik in der Zeit nach 1918 oder das Verhältnis zwischen "Nation und Religion" behandelt. 49 Doch nach dem Anschluß und der erzwungenen Teilung der Tschechoslowakei entfernte sich die Entwicklung der Ereignisse in Europa endgültig von den internationalen Spielregeln, die die Existenz von Organisationen wie den ENK ermöglicht hatten, der inzwischen schon nicht mehr wußte, an welche Schutzmacht er appellieren sollte, um die nationalen Minderheiten in Genf zu verteidigen. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die 15. Konferenz der europäischen Nationalitäten, die für den Herbst 1939 vorgesehen war, in ein Land verlegt wurde, dessen Führer die Nationalitätenbewegung anfangs mißtrauisch betrachtet hatten: Ungarn. 50 Der Europäische Nationalitätenkongreß trat kaum mehr als Vermittler vor dem Völkerbund in Fällen von einzelnen Petitionen von Minderheiten auf. Die offiziellen Beziehungen zwischen dem Nationalitätenkongreß und dem Völkerbund waren zwar konstant und relativ eng, gingen in Wirklichkeit jedoch nie über die Freundlichkeit und Diskretion hinaus. Das Völkerbund sekretariat mußte anerkennen, daß die Nationalitätenbewegung tatsächlich existierte, und 48 Vgl. NlÜiez. EI problema, S. 541-63. Der ENK ließ dem Foreign Office schon im Mai 1936 ein Memorandum zukommen. welches von der britschen Diplomatie wenig wohlwollend aufgenommen wurde. wenn sie meinte: «The leaders of the movement represent every focus of discontent in Europe and even if honest. are professional trouble makers. (vgl. Aufzeichnung des ENK an Foreign Office. "Memorandum on the Legal Status of European Minorities", o.d. (Mai 1936). und die Bemerkungen dazu von Makins. 3.6.1936. PRO/FO 371/20485). 49 Vgl. die Aufzeichnungen "XIV. Konferenz des Europäischen Nationalitätenkongresses. Vorläufige Teilnehmerliste" , und "Europäischer Nationalitätenkongreß Stockholm 1938. Stockholm. 9. Juni 1938" (BK-NV).
so
Vgl. Sitzung des Kongreß-Ausschusses. Stockholm. 24. August 1938 (BK-NV).
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deshalb interessierte es sich für ihre Diskussionen und für die Vorschläge, die vom ENK kamen, doch wich es keineswegs von seinen völlig divergierenden Kriterien bezüglich realisierbarer Lösungen für die Minderheitenfrage ab. Demzufolge gestand die Genfer Liga dem ENK nie den Status eines offiziellen Sprechers der europäischen Minderheiten zu, sondern höchstens den eines Geschäftssprechers oder "Gradmessers" ihrer Zufriedenheit mit dem Minderheitenschutzsystem. 51 Wie der Spanier Pablo de Azcarate, ein einflußreiches Mitglied der Minderheitensektion des Völkerbund sekretariats Jahr später schrieb, war das Genfer Minderheitenschutzsystem 1919 als günstige, politische Antwort auf ein konkretes Problem entstanden und mußte sich als solches an die momentane Realität anpassen. Seiner Meinung nach hätte die praktische Anwendung der Forderungen des Nationalitätenkongresses ganz einfach zu einem vorzeitigen Zerfall des Systems geführt. 52 Angesichts der Kälte, mit der ihre Vertreter beim Völkerbundsekretariat empfangen wurden, suchten die Führer des Nationalitätenkongresses andere Handlungsräume. Nachdem es sich um eine Organisation handelte, welche es ablehnte, in Einzelfälle oder in konkrete Konflikte einzugreifen, vermittelte sie auch nicht in den internen Querelen zwischen einer nationalen Minderheit und deren Staatsregierung. Der ENK versuchte ausnahmsweise nur noch in einigen Fällen zwischen 1927 und 1928 eine Vermittlerrolle bei Grenzkonflikten zwischen zwei Staaten in Minderheitsfragen einzunehmen (z. B. zwischen Österreich und Jugoslawien im Jahr 1927, als Ammende und Vilfan gemeinsame Anstrengungen unternahmen, um für die deutschen Minderheiten in Slowenien eine ähnliche Regelung wie in Estland zu erreichen, die auch noch durch das Projekt der kulturellen Autonomie für die Slowenen in Kärnten ergänzt werden sollte, die aber genau an den Plänen einer kulturellen Autonomie der slowenischen Minderheit in Kärnten scheiterte). 53 Seine Rolle spielte sich mehr im vordiplomatischen Bereich ab, in Genfer Kreisen oder gegenüber der Diplomatie der Mitgliedstaaten des Völkerbundes, und vor allem im Schoß der internationalen regierungsunabhängigen Organisationen, und in gleicher Weise auf dem Gebiet der theoretischen Ausarbeitung einer paneuropäischen Lösung der 51
Vgl. Nunez, EI problema, S. 343-55.
52
P. de Azcarate, La Societe des Nations et la protection des Minorites, Genf 1969, S. 61-72.
53 Zum Scheitern der kulturellen Autonomie in Kärnten vgl. O. Moritsch, Das Projekt einer Kulturautonomie für die Kärnmer Slowenen im Jahr 1927, in: Österreichische Monatshefte 20 (1978), S. 329-37. Es scheiterten auch verschiedene VermittIungversuche zwischen den dänischen und den deutschen Minderheiten in der Region Schleswig-Holstein auf beiden Seiten der Grenze, zum Teil wegen der Opposition des Verbandes der nationalen Minderheiten Deutschlands gegen die Lösung der kulturellen Autonomie.
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Nationalitätenprobleme. Ein idealistisches Programm, das keinen klaren Komprorniß mit den anhaltenden Forderungen nach einer Verbesserung und Ausweitung des bestehenden Systems des Minderheitenschutzes des Völkerbundes ausschloß. In dieser Hinsicht vertrat der Europäische Nationalitätenkongreß ein beinahe identisches Programm mit anderen internationalen Organisationen (von der International Law Association bis zur UIA), welches aus folgenden Forderungen bestand: (1) der Schaffung einer ständigen Minderheitenkommission innerhalb des Völkerbundes (in ihrer Art und Zusammensetzung ähnlich den Abrüstungskommissionen oder den Kolonialmandaten), die nach und nach auch aus einem Expertenkomitee zur Beratung in Minderheitenfragen für die verantwortlichen Politiker bei der Abwicklung von Petitionen der Minderheiten bestehen könnte; (2) der Verallgemeinerung der Verpflichtungen der Minderheitenverträge für alle Mitgliedstaaten der Genfer Liga; (3) der häufigeren Intervention, ja, sogar einer Hauptrolle, für den Internationalen Gerichtshof in Den Haag im Minderheitenschutzverfahren und (4) der Beschleunigung und Veränderung des Minderheitenschutzverfahrens durch mehr Öffentlichkeit des Verfahrens und durch mehrere Garantien für die nationalen Minderheiten, welche Überschreitungen seitens ihrer Wohnstaaten anzeigten. Der Europäische Nationalitätenkongreß spielte, manchmal hinter den Kulissen, eine kaum bekannte, doch bedeutende Rolle für die großen Debatten im Völkerbund über Minderheitenfragen, besonders in der Zeit von 1928 - 1930, durch intensive Propagandakampagnien und durch die Suche nach "vordiplomatischem" Einfluß auf die Mitgliedstaaten des Völkerbundrates, die den Rechten der nationalen Minderheiten "günstig gesonnen" waren (z. B. Finnland, Kanada oder Japan in verschiedenen Momenten, sogar Spanien 1931, aber meistens Deutschland). In diesen Fälle spielten die Führer des Nationalitätenkongresses (und besonders sein Generalsekretär Ewald Ammende) eher eine Rolle von Informationsvermittlern und von Agitatoren, um die Delegierten und Vertreter der verschiedenen Mitgliedstaaten zu beeinflussen. Damit die Vertreter einer nationalen Minderheit zum Nationalitätenkongreß zugelassen wurden, mußten sie als Vorbedingung eine Reihe von Postulaten mit einem kleinsten gemeinsamen Nenner akzeptieren: in erster Linie die Aufgabe des Irredentismus und des Unabhängigkeitsstrebens (d. h. der Forderung nach Selbstbestimmungsrecht) sowie eine Loyalitätserklärung gegenüber dem Staat, denen die Minderheiten angehörten. Aber trotzdem brachten im Lauf der Geschichte der Organisation mehrere Delegierte klar zum Ausdruck, daß sie ihre Forderungen nach allen Rechten, die mit dem Nationalitätsprinzip verbunden waren, nicht aufgaben. Dies traf vor allem auf einige Vertreter der nationalistischen Bewegungen ohne "Mutterland", wie den Katalanen oder den Ukrainern zu. 54 Dennoch zeigte die Aufmerksamkeit, mit der die jährlichen
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Konferenzen des ENK seit 1925/26 die Entwicklung und die Umsetzung der kulturellen Autonomie in Estland verfolgten, ganz klar, worin das offizielle Programm der Nationalitätenkongresses prinzipiell bestand. Hinzu kamen die Diskussionen gewöhnlicherweise nach Referaten, welche vorher an verschiedene Minderheitenführer der Organisationen vergeben worden waren, die sich mit einem weiten Problemkreis und mit den Fragen zur Situation der nationalen Minderheiten beschäftigten: z. B. in der 2. Konferenz der Nationalitäten (1926) wurde besonderes Augenmerk auf den Bericht über die "Sicherung der wirtschaftlichen Gleichberechtigung" gerichtet und auf Grund dessen der Entschluß gefaßt wurde, daß die verschiedenen Minderheiten, die Teil eines Staates bildeten, an der Führung der wichtigsten öffentlichen Betriebe und der Wirtschaftsbetriebe teilnehmen dürfen sollten, und es wurde ein "Rechtsschutz" gefordert, der die wirtschaftliche Diskriminierung der nationalen Minderheiten (was zweifellos mit den Agrarreformen, die zu Beginn der 20er Jahre in verschiedenen ostmitteleuropäischen Staaten durchgeführt wurden, in Verbindung gebracht wurde) verhindern mußte. 55 Ab 1926 beschäftigte sich der ENK auch mit der Diskussion des Problems der Staatenlosigkeit, des Entwurfs eines die nationalen Minderheiten weniger diskriminierenden Wahlrechts, das auch das Kriterium der numerischen Proportionalität korrigieren sollte, der Regelung der sprachlichen Rechte der verschiedenen ethnischen Gruppen innerhalb eines gleichen Staates56 oder sogar die Möglichkeiten, durch die eine nationalen Minderheit, welche von ihren "Stammvolk" getrennt war, ihre kulturelle Zusammenarbeit mit diesem verstärken könnte, ohne die Souveränität des eigenen Wohnstaates zu verletzen. 57 Ab 1932 wurden auch verschiedene Fragen im Zusammenhang mit der religiösen Identität der nationalen Minderheiten und deren Rechte auf Religionsausübung behandelt. 58 Ab 1927 wurde in den Diskus-sionen des ENK größeres Augenmerk auf die Fragen der internationalen Politik gelegt und auf die Auswirkungen, die die Nationalitätenfrage auf den Frieden in Europa hatte, wodurch man sich eine Aktivierung der internationalen öffentlichen Meinung sowie ein besseres Verständnis zwischen den ethnischen Gruppen eines gleichen Staates und des ganzen Kontinentes erhoffte. 59
S4
Vgl. z. B. Sitzungsbericht 1926, Wien 1927, S. 20-22.
SS Vgl. Sitzungsbericht 1926, S. 159-60 ("Resolution zum Punkt der wirtschaftlichen Gleichberechtigung"). S6
Vgl. Sitzungsbericht 1926, S. 160-64.
S7
Vgl. Sitzungsbericht 1930, Wien 1931, S. 148-49.
S8
Vgl. Sitzungsbericht 1932, Wien 1933.
Der Europäische Nationalitätenkongreß (1925-1938)
63
Dies sollte zu einem konstanten Faktor werden, ebenso wie die permanent kritische Haltung gegenüber der unzulänglichen Politik des Minderheitenschutzes des Völkerbundes und die Vorschläge für deren Verbesserung, die besonders in der 30er Jahren zunehmen sollten. Zwar hatte der ENK im Laufe seines Daseins das, was man als ein ehrgeizigeres Maximalprogramm bezeichnen könnte, welches jedoch in den Beschlüssen der Jahreskonferenzen nicht immer explizit zum Ausdruck kam, das aber doch stets in den Reden und Stellungnahmen der führenden Ideologen dieser Organisation präsent war. Woraus bestand nun dieses Maximalprogramm? Da die Beschaffenheit der Nationalitätenprobleme in Osteuropa sehr verschieden von denen in Westeuropa war,60 versuchten die vom Europäischen Nationalitätenkongreß vorgeschlagenen Lösungen, sich in erster Linie den speziellen Bedingungen des östlichen Mitteleuropas anzupassen. Die politischen Lösungen, die auf diesem Gebiet angewendet werden sollten, konnten nicht, außer in Ausnahmefällen, territoriale Autonomiestatute sein (wie sie in Spanien während der Zweiten Republik verwirklicht wurden), 61 sondern sie forderten eine Kombination aus Respekt vor den Minderheitenrechten und einer unveränderlichen politischen Struktur der Staaten, die immer multinational und multiethnisch sein würden (was einige Theoretiker schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts behaupteten). Der Europäische Nationalitätenkongreß verfocht ein Übereinkommen zwischen der Loyalität den Staaten gegenüber (und damit den bestehenden Grenzen gegenüber) und dem Respekt vor der Identität und den kulturellen Eigenarten der verschiedenen nationalen Minderheiten, zu welchem Zweck der ENK die theoretischen Debatten, die im österreich-ungarischen Vielvölkerstaat vor 1914 stattgefunden hatten, wieder aufnahm. Die Nationalitätenbewegung griff die Vorschläge der österreichischen Sozialdemokratie und anderer Autoren auf (wie Jellinek, Seipel),62 und insbesonders das Erbe der Lehre Otto Bauers und 59
Vgl. z. B. J. Vilfan, Les minorites ethniques et la paix en Europe, Wien 1929.
60 Vgl. zu dieser Frage M. Hroch, From National Movement to Fully-Fledged Nation, in: New Left Review 198 (1993), bes. S. 12-13; vgl. auch die klassischen Interpretationen von E. Lemberg, Geschichte des Nationalismus in Europa, Stuttgart 1950, S. 221-41, und Th. Schieder, Nationalstaat und Nationalitätenproblem,. in: Zeitschrift für Ostforschung 1:2 (1952), S. 161-81. 6\ Vgl. ein mitteleuropäischer Blick auf der Entwicklung der "nationalen Autonomie" innerbalb der spanischen Republik: T. Veiter, Nationale Autonomie, Wien 1938. 62 Vgl. H. Raschhojfer, Das altösterreichische Nationalitätenrecht und die deutschen Volksgruppen nach 1918, in S. Graf Bethlen (Hrsg.), Volksgruppenrecht. Ein Beitrag zur Friedenssicherung, München/Wien 1980, S.53-69; vgl. auch G. Stourzh, Problems of conflict resolution in multi-ethnic state: lessons from the Austrian historical experience, 1848-1918, in U. Ra'anan u.a. (Hrsg.), State and Nation in Multi-Ethnic Societies. The Breakup of Multinational Empires, Manchester/New York 1991, S. 67-80.
64
Xose M. Nunez
Karl Renners wurde von der europäischen Minderheitenbewegung auf eine neue und lebenstüchtige Zukunfts formel gebracht. 63 Das Konzept der kulturellen Autonomie sollte noch mehrere Jahre überleben und sollte tiefe Spuren in der Geschichte der Ideen hinterlassen, angefangen von den jüdisch-zionistischen Nationalisten vor 1919 bis hin zu den Menschewiken,64 und fand sogar ihre rechtliche Bestätigung (wenn auch nur kurzzeitig) in der provisorischen Rechtsordnung der 1918 gegründeten (und kurz dauernden) ukrainischen Republik. Ein früheres Vorbild stellte der Schweizer Nationalitätenstaat dar, obwohl dieser eher als ein Modell föderativen Zusammenlebens auf der Basis einer Territorialautonomie mehrerer Nationalitäten innerhalb desselben Staates gesehen wurde. 65 Ein letzter Gedankenanstoß , entscheidend im Fall der deutschen Minderheiten, war die Tradition des ständischen Gedankengutes vor allem unter den Deutschen des Baltikums, die seit Jahrhunderten in Berufs-, Religions-, Bildungs-, und Kulturverbänden ethnischer Natur gegliedert waren. Diese autonome Gliederung wurde 1918 in den neuen baltischen Staaten aufgehoben, das ständische Denken jedoch lebte als aktives Modell sozialer Organisation weiter und wurde mit Abstrichen auf national-kulturellem Gebiet angewendet. 66 Diese Grundlagen wurden von der europäischen Nationalitätenbewegung bei der Ausarbeitung einer zusammenfassenden Doktrin berücksichtigt, in der die Grundvoraussetzung, jenseits der einzelnen Reformbestrebungen des Verfahrens des Genfer Systems des Minderheitenschutzes, die Trennung der Aktivitäten und Kompetenzen zwischen der Kultumation und der Staatsnation war. Eine direkte Konsequenz der Trennung dieser Einflußbereiche mußte laut dem Europäischen Nationalitätenkongreß die Entpolitisierung der nationalen Fragen sein und die Eintragung jeder Person nach seiner freien und persönlichen Wahl
63 Vgl. die klassischen Werke von K. Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat. Leipzig/Wien 1902; ders .• Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Aufwendung auf Österreich. Leipzig/Wien 1918; O. Bauer. Die österreichische Revolution. Wien 1923; ders .• Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Wien 1924. 64 Vgl. z. B. O. Janowski. The lews and Minority Rights (1898-1945). New York 1966 [1933]; vgl. auch K. Stillschweig. Nationalism and Autonomy among Eastern European Jewry. New York 1944.
6' Vgl. Th. Schieder. Die Schweiz als Modell der Nationalitätenpolitik [1958]. in ders .• Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa (0. Dann u. H.-U. Wehler. Hrsg.). Göttingen 1992. S.303-28. 66 Vgl. W. Hasselblatt. Die Durchführung der Kulturautonomie in Estland. in: K. C. von Loesch (Hrsg.). Staat und Volkstum. Berlin 1926. S. 156-62.
Der Europäische Nationalitätenkongreß (1925-1938)
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in jene nationale Gruppe, der er angehören wollte. Dadurch war das Kriterium nationaler Zugehörigkeit des Einzelnen nicht mehr territorial, sondern persönlicher Natur, und nur wenn die nationalen Gemeinschaften in Frieden zusammenlebten und über die staatlichen politischen Gemeinschaften gestellt waren, konnte das Dilemma des Gegensatzes zwischen Nation und Staat im östlichen Mitteleuropa gelöst werden. Dieses allgemeine Programm, welches von einer negativen Sichtweise des Phänomens "Nationalismus" und von der Befürwortung der kulturellen Autonomie in Übereinstimmung mit dem vom estländischen Gesetz angebotenen, mehr oder weniger gleichlautenden Modell, gekennzeichnet war, wurde von der Mehrheit der Führer der im Europäischen Nationalitätenkongreß vertretenen Minderheiten getragen, wenn auch mit verschiedenen Abstrichen. Man kann sagen, daß der Chefideologe dieser Organisation der baltisch-deutsche Politiker Paul Schiemann war, der nämlich behauptete, daß sich die nationale Autonomie auf dem Kriterium der persönlichen Angehörigkeit fußen und in jenen Zonen zur Anwendung kommen müßte, wo die Minderheit in der kulturellen Autonomie die örtliche Mehrheit darstellte, das heißt, das Zugeständnis an eine rechtliche Minderheit, ihre eigenen Angelegenheiten und ihr kulturelles Leben (Schulen, Bibliotheken etc.) selbst zu verwalten, während im Gegenzug die Minderheiten den Staaten gegenüber, denen sie angehörten, loyal bleiben mußten. Auf diese Weise wären die kulturellen Gemeinschaften und die überstaatlichen Volksgemeinschaften den politischen Grenzen der Staaten übergeordnet und würden mit diesen friedlich zusammenleben, während die Staaten anational wären. Schiemann jedoch vertrat auch die Kompatibilität zwischen der Loyalität der Minderheiten zu ihren Mutterländern und ihrer politischen Zusammenarbeit mit den Staaten, zu denen sie sich zählten und wo sie wohnten. Die Wurzeln von Paul Schiemanns Vorschlag waren, wie auch im Fall Bauer, zutiefst liberal und demokratisch und versuchten, den offensichtlichen Widerspruch zwischen parlamentarischer Demokratie und Nationalitätenproblematik aufzuzeigen. 67 Für Schiemann wurde die Nation von zwei durch die Geschichte bestimmte Faktoren definiert, der Kultur und dem Volks geist; doch sollte die freiwillige Zugehörigkeit des Individuums an eine Volksgemeinschaft vor allem von dessen freiem Willen abhängen. Schiemann hielt sich immer an die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie und blieb auch bei seiner Ablehnung des Nationalstaates als einer "höherer" Form sozialer Organisation, weshalb auch seine Position zum Auf67 Vgl. Nl1nez, EI probierna, S. 410-7; M. Dörr, Paul Schiemanns Theorie von "anationalen Staat". Ein Beitrag zur europäischen Nationalitätenbewegung zwischen den beiden Weltkriegen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 8 (1957), S. 407-20; M. Garleff, Paul Schiemanns Minderheitentheorie als Beitrag zur Lösung der Nationalitätengrage, in: Zeitschrift für Ostforschung 25 (1976), S. 632-59.
5 Timmcrmann
66
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stieg des Autoritarismus klare Ablehnung bedeutete. Für den Baltendeutschen war die neue "nationalistische Welle" eine gefährliche Manipulation des Konzeptes der Nation, die den totalitären Zwecken einer "staatlichen Interessensgemeinschaft" dienen sollte. 68 Natürlich verloren die Theorien Schiemanns nach 1933 im Europäischen Nationalitätenkongreß an Bedeutung. Eine konservativere und in der ideologischen Tradition der völkischen Rechten verwurzelte Position nahm ebenso der Baltendeutsche Werner Hasselblatt ein, der den Ausdruck "nationale Minderheit" ausdrücklich zurückwies und den der "Volksgruppe" bevorzugte. 69 Hasselblatt schätzte die liberale Demokratie negativ ein, da sie für ihn nur ein Instrument war, mittels dessen die ethnischen Mehrheiten eines Staates den Minderheiten ihren Willen aufzwangen, was so weit ging, daß er das parlamentarische System als «Radikalismus sozialistischer und sozial revolutionärer Ideologie» bezeichnete. Diese Ablehnung der Demokratie verstärkte sich zunehmend in den 30er Jahren, was ihn (sowie andere völkische Theoretiker) schließlich dazu brachte, den Nationalsozialismus zu akzeptieren. Hasselblatt konzentrierte seine Forderungen auf die Befürwortung des "organisch-objektiven Substrates" der Nationalität (das Volkstum); obwohl auch er ein ähnliches Vokabular wie Schiemann und der Europäische Nationalitätenkongreß im allgemeinen verwendete, so war für ihn die kulturelle Autonomie doch vor allem ein wiedergewonnenes Gut der ständischen baltischdeutschen Traditionen. Hasselblatt suchte auch nach einer Trennung der Funktionen zwischen Nationalität und Staat, aber gleichzeitig strebte er nach einer allgemeinen Neuordnung der Grenzen in Europa, welche die kulturelle Vorherrschaft des "nordisch-protestantischen Kulturkreises" über die westliche Welt und den slawischen "eurasischen Osten" voraussetzte. 70 Die Ähnlichkeiten mit den Theorien Rosenbergs in dieser Richtung waren bald mehr als nur Zufall, obwohl seine unmittelbaren ideologischen Ursprünge teilweise anderswo lagen. Hasselblatt ging nicht soweit, die Unterwerfung anderer Völker durch das deutsche Volk zu predigen, geschweige denn deren Ausrottung, aber er sah doch im deutschen Volk ein "Führungselement" und
68
P. Schiemann, Die neue nationalistische Welle, in: Nation und Staat, 5 (1932), S. 799-811.
69
Vgl. M. H. Boehm, Volkstheorie und Volkstumspolitik der Gegenwart, Berlin 1935, S. 32-35.
70 Vgl. M. GarlejJ, Nationalitätenpolitik zwischen liberalem und völkischem Anspruch. Gleichklang und Spannung bei Paul Schiemann und Werner Hasselblatt, in J. von Henn u. C. J. Kenez (Hrsg.), Reval und die baltischen Länder. Festschrift für Helmuth Weiss zum 80. Geburtstag, Marburg a. Lahn 1980, S. 113-32.
Der Europäische Nationalitätenkongreß (1925-1938)
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sogar ganz Europa als einen «Erdteil volkhafter Gliederung und schöpferischer Volkspersönlichkeiten» die in einer neuen "Lebenseinheit" leben würden. 71 Neben den beiden Hauptströmungen, die die Nationalitätenbewegung dominierten und in groben Zügen den zwei bisher behandelten Linien folgten, die aber auch, wenigstens bis 1933, in einem gemeinsamen Programm kombinierbar waren, variierten die Positionen der verschiedenen nationalen Gruppen, die am Europäischen Nationalitätenkongreß zwecks einer Anerkennung des Programms der kulturellen Autonomie teilnahmen, je nach ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Potenz, ihrer politischen Reife und ihrer inneren sozialen Zusammensetzung. Die jüdischen und deutschen Minderheiten, mit Ausnahme der deutschen Minderheit in Ungarn, gehörten zu den überzeugtesten Verfechtern der kulturellen Autonomie und des Personalitätsprinzips, was zu einem guten Teil ihren eigenen politischen Traditionen entsprach. Auch die katalanischen Nationalisten verteidigten nach außen hin das Prinzip der kulturellen Autonomie als mögliche Lösung für die europäischen Nationalitätenprobleme, jedoch nur in Verbindung mit einer territorialen Autonomie, eine Lösung, die der Europäische Nationalitätenkongreß schließlich programmatisch akzeptierte, und zwar für jene Nationalitäten, welche als Voraussetzung in homogener Weise ein bestimmtes geographisches Gebiet bewohnten; darüber hinaus wirkte die Doktrintreue des katalanischen Nationalismus zum Selbstbestimmungsrecht, das der Europäische Nationalitätenkongreß ausdrücklich ablehnte, als gewichtiger Bremsklotz für einen überzeugenden Beitritt. 72 Ein ähnliches Dilemma stellte sich auch jenen nationalen Gruppen, die keine eigentlichen ethnischen Minderheiten waren, sondern wirkliche nationale Bewegungen oder "unterdrückte Nationen", die ihr Ziel einer Selbstbestimmung noch nicht verwirklicht hatten (Ukrainer, Weißrussen in Polen ... ) Die magyarischen Delegierten waren zumindest in den Anfangsjahren des Europäischen Nationalitätenkongresses bekannt für ihre Anerkennung und für ihr überzeugtes Eintreten für die kulturelle Autonomieformel. Dem gegenüber wiesen die slawischen Minderheiten im allgemeinen, Polen, Tschechen und nicht deutschstämmige Minderheiten in Deutschland, Dänen mit eingerechnet, diese Formel aus doktrinären Gründen zurück. Die kulturelle Autonomie wurde von ihnen als Instrument des Irredentismus oder als Verrat am Staat durch die Minderheiten gewertet, und ferner begünstigte es die reicheren und sozial bessergestellten Minderheiten, welche auf diese Weise über mehr und bessere Mittel zur Finanzierung ihres Kulturlebens verfügten, sowie auch diejenigen, die finanzkräftigen Mutterländern 71 Vgl. W. Hasselblatt, Völkerpolitik als Weg zur Lebenseinheit Europas, in: Nation und Staat, Bd. 17 (1943/44), S. 224-31.
s'
72
Vgl.
Nunez,
EI problema, S. 699-708.
68
Xose M. Nunez
angehörten. Nach ihrer Ansicht begünstigte die kulturelle Autonomie die "starken" Minderheiten den "schwachen" gegenüber. 73 So entbehrte die kulturelle Autonomielösung, obwohl sie als ideales Prinzip der europäischen Bewegung der nationalen Minderheiten während der 20er und 30er Jahre formuliert worden war, nicht einiger Widersprüche. Abgesehen von ihren idealistischen Zügen war ihre Anwendung in den Ländern des Baltikums in der Zwischenkriegszeit nicht so perfekt, wie man erwarten konnte (nur die deutschen und jüdischen Minderheiten, die wirtschaftlichen stärksten, waren fähig, sie durchzuführen), und die Realität dieser Epoche machte ihre Anwendung noch schwieriger (z. B. die freiwillige Einschreibung in einem Nationalitätenregister oder Nationalkataster wurde von den Deutschen in Ungarn aus Furcht vor repressiven Maßnahmen der Budapester Regierung verweigert). 74 Die Haltung der Führer der verschiedenen Minderheiten zur freiwilligen Eintragung in ein Nationalkataster war zum guten Teil von der numerischen Stärke und nicht von der ethnischen Herkunft abhängig: die deutschen Minderheiten verteidigten bei zahlreichen Gelegenheiten das Prinzip der Subjektivität, wenn es darum ging, ihre Nationalität zu wählen (das Bekenntnisprinzip), während die slawischen Minderheiten eher dazu tendierten, die Zugehörigkeit zu einer Nationalität in Übereinstimmung mit organisch-objektiven Faktoren zu verteidigen (vor allem die slawischen Minderheiten in Deutschland und Österreich, aber auch zum Beispiel die Deutschen in Ungarn.f5 Warum scheiterte letztendlich der Europäische Nationalitätenkongreß? Das Interessante an dieser Organisation lag nach meiner Meinung in der Tatsache, daß sie eine Art "Mikrokosmos" der Problematik der Minderheitenfrage in der Zeit zwischen 1918-39 darstellte, und weil ihre Aktivitäten die Widersprüche, welche die einen Minderheiten von den anderen trennten, mit einschloß.
73 Vgl. Nufiez, EI probierna, S. 406-9; vgl. auch eine ausführliche Darstellung der Polemik in M. Rothbarth, Kontroversen im Europäischen Nationalitätenkongreß. in: Studien zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen III (1980), S. 49-62. Über die unterschiedlichen Gesichtspunkte der Differenzen zwischen "schwachen" und "starken" Minderheiten vgl. die Schriften von 1. Skala, "Starke" und "schwache" Minderheiten, in: Kulturwehr 3 (1927), S. 1-8, und den Standpunkt der deutschen Minderheiten bei R. Brandseh, Starke und schwache Minderheiten, in: Deutsche Politische Hefte aus Großrumänien 7 (1927), S. 54-59. 74 Vgl. die kluge Kritik an der Lösung der "kulturellen Autonomie", die von einem Mitglied der Minderheiten-Sektion des Völkerbundes formuliert wurde: H. Krabbe, L'autonomie culturelle comme solution du probleme des minorites, 18.11. 1931 (VA, Genf, 4/ 32835/ 32835).
7S Vgl. Keimes, Europäischer Nationalitätenkongreß, S. 177-78; J. Bleyer, Nation, Volk, Nationalität. in: Nation und Staat. Bd. 3 (1929/30), S. 285-87.
Der Europäische Nationalitätenkongreß (1925-1938)
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- Erstens konnte die Lösung der Minderheitenrechte, so, wie vom Genfer System definiert, und auch das Modell der kulturellen Autonomie nach estländischem Vorbild, vom Großteil der nationalen Minderheiten Europas nur als Minimallösung betrachtet werden, die unter den momentanen (ungünstigen) Umständen akzeptabel war. Das heißt, unter internationalen Umständen, die generell für die nationalen Minderheiten ungünstig waren, konnten sich diese an den Völkerbund nur bestenfalls als Rettungsring wenden, hielten jedoch das Genfer System nicht als die ständige, definitive Lösung der Nationalitätenfrage. - Um jedoch eine effektive Verbesserung der gesetzlichen und politischen Bedingungen für die Existenz der nationalen Minderheiten durchzuführen, war in erster Linie eine echte Änderung der internationalen Lage notwendig, das heißt, des Gleichgewichts der Macht unter den Großstaaten Europas. So gesehen bedeutete der Aufstieg des Faschismus und der autoritären Systeme in Europa in der Zwischenkriegszeit kein gutes Zeichen für zukünftige Lösungen, die auf einer kulturellen Autonomie und auf dem harmonischen Zusammenleben zwischen Nationalitäten und Kulturen gegründet waren. Dazu kamen noch die Auswirkungen der allgemeinen sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheit. Für weite Sektoren der nationalen Minderheiten und ganz besonders für die deutschen konnten sich die Faschismen als weitere Alliierte für eine Neuordnung des Kontinents präsentieren, welche einige scheinbar ähnliche theoretische Aspekte wie die von den Theoretikern der Nationalitätenfrage zu Beginn der 20er Jahre verteidigten, aufwies (und daher kommt auch die in Richtung eines zunehmenden Autoritarismus orientierte ideologische Entwicklung von Max-Hildebert Boehm oder Werner Hasselblatt) . - Ein dritter Grund des Scheiterns war zweifellos die bekannt schwierige Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Nationalismen und im weiteren Sinn zwischen nationalen Bewegungen (oder Vertretern von nationalen Minderheiten) bei der Konsensfindung mit anderen theoretisch "ähnlichen" Bewegungen oder mit relativ ähnlichen politischen Forderungen, die jedoch in Wirklichkeit ihre eigene nationalen Interesse verfolgten. Dazu kommen noch die Spaltungsprozesse zwischen nationalen Minderheiten oder Nationalbewegungen West- und Osteuropas sowie die Abweichungen der Vorschläge für politische Lösungen zwischen den "starken Minderheiten" (deutsche, z. B.) und den "schwachen Minderheiten" (die Friesen, z. B.). - Und viertens: die Möglichkeiten für die Entwicklung einer Nationalitätenorganisation in der internationalen Szene, ohne um Hilfe bei den staatlichen Diplomatien ansuchen zu müssen und damit in eine Abhängigkeit zu fallen. die einige Historiker und die Theoretiker der Internationalen Beziehungen
70
Xose M. Nuilez
manchmal als extranational patronage bezeichneten, waren sehr begrenzt. 76 Es ist daher nicht verwunderlich, daß die dauernde Spannung zwischen dem Wunsch nach politischer und strategischer Unabhängigkeit der Führer des Europäischen Nationalitätenkongresses und seiner tatsächlichen Abhängigkeit von den Strömungen und Bewegungen der Diplomatien der verschiedenen Staaten sogar innerhalb des Völkerbundes unvermeidbar wurde.
76 Vgl. P. Smith, Introduction, in ders. (Hrsg.), Ethnie Groups in International Relations, Aldershotl New York 1991, S. 1-11; R. Pearson, National Minorities in Eastern Europe, 18481945, London 1983, S. 124-25.
111. Nationalbewegung und Nationalismus in territorialen Strukturen 1. Mitteleuropa
Die ungarischen Revisionsbestrebungen und die Großmächte (1920-1941) Von Istvän Nemeth
A. Außenpolitik in den Konsolidierungsjahren (1920-1926) Die ungarischen Beauftragten unterschrieben am 4. Juni 1920 im Schloß "Grand Trianon" bei Paris den als außenordentlich hart empfundenen ungarischen Friedensvertrag, da das Land keine Alternative hatte. Obwohl auf der Friedenskonferenz der Gesichtspunkt des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf Wilsons Initiative erwähnt wurde, ließ man dieses Recht im Falle Ungarns außer acht. Auf der anderen Seite wurde aber Polen neugegründet, die Tschechoslowakei ins Leben gerufen, und das Gebiet Rumäniens vermehrte sich um das Zweifache, das Gebiet Serbiens um das Dreifache. Die Vertragsbestimmungen von Trianon kamen im Falle Ungarns beinahe der Zersetzung gleich. Von seinem Territorium, das früher 324 000 Quadratkilometer ausmachte, blieben 93 000; von 20 Millionen Einwohnern blieben 8 Millionen. Der Friedensvertrag legalisierte die Abtrennung der Gebiete von Ungarn mit Nationalitätenmehrheit, wie die der Slowakei, der Karpato-Ukraine, Siebenbürgens und Kroatiens, den neugegründeten oder vergrößerten Ländern aber wurden völlig oder mehrheitlich von Ungarn bewohnte Landesteile zugesprochen. Die Verlustliste enthielt über 3 Millionen Ungarn - mehr als ein Drittel des Ungarnturns -, wenn man den Verlust der Nationalitäten nicht dazurechnet. Zur Tschechoslowakei kamen 1 Million, Rumänien 1,5 Millionen, dem SerbischKroatisch-Slowenischen Königreich 0,5 Millionen Ungarn. Von ihnen lebten 1,5 Millionen entlang der Grenze auf geschlossenen ungarischen ethnischen Gebieten.!
I Juhdsz, Gyula: Magyarorszäg külpolitikäja 1919-1945. (Die Außenpolitik Ungarns 1919-1945). Budapest, 1988. S. 66.
74
Istvan Nemeth
Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Ungarns im Spiegel der offiziellen Volkszählungen 2
ungarisch deutsch slowakisch rumänisch ruthenisch kroatisch serbisch wendisch, slowenisch zigeunerisch andere jiddis. heber insges.
1920
1930
7 155973 (89,6 %) 550062 (6,9 %) 141877 (1,8 %) 23695 (0,3 %)
800335 (92,1 %) 477 153 (5,5 %) 104786 (1,2 %) 16221 (0,2 %)
58931 (0,7 %) 17 132 (0,2 %) 6087 (0,1 %) 6989 (0,1 %) 26123 (0,3 %)
47337 (0,5 %) 7031 (0,1 %) 5464 (0,1 %) 7841 (0,1 %) 18946 (0,2 %)
7986875
8685 109
1941 Muttersprache Nationalität 11 367342 11 881 455 (77,5 %) (80,9 %) 719762 533045 (4,9 %) (3,6 %) 268913 175550 (1,8 %) (1,2 %) 1 100 352 1051026 (7,5 %) (7,2 %) 564 092 547770 (3,8 %) (3,7 %) 127441 12346 (0,9 %) (0,1 %) 241907 213 585 (1,6 %) (1,5 %) 69586 20336 (0,5 %) (0,1 %) 57372 76209 (0,4 %) (0,5 %) 30835 29210 (0,2 %) (0,2 %) 131 971 139041 (0,9 %) (0,9 %) 14679573
Der Grundwiderspruch des Versailler Friedenssystems bestand darin, daß die geschichtlich begründeten progressiven Entscheidungen durch große Ungerechtigkeiten und Fehleinschätzungen belastet waren. Die territorialen Regelungen von 1920 wurden im Geiste der sich als falsch erwiesenen Idee des Nationalstaates ausgeführt; in Wirklichkeit entstand eine Vielzahl von mittleren und kleineren Staaten. Sie waren aufgrund der ethnischen Verteilung aber keine echten Nationalstaaten, sondern eher Vielvölkerstaaten von kleinem Format. Das kollektive Recht der Minderheiten blieb nur ein leeres Versprechen. "Staat" und "Nation" standen in dieser Region - nach wie vor - in unaufhebbarem Gegensatz. Unter dem Drang der französischen Vorstellungen vom Nationalstaat wurden die verschiedenen Nationen zu voreilig - mangels der nötigen Voraussetzungen - in einem Staat vereinigt, und man nannte dies einen einheitlichen Staat.
2
Historia, 1991/2-3. sz.
Die ungarischen Revisionsbestrebungen und die Großmächte (1920-1941)
75
Das 1920 sanktionierte System hatte die mitteleuropäische Region wirtschaftlich und politisch ruiniert. Einer der Geburtsfehler der ganzen Regelung zeigte sich darin, daß die Beschlüsse unter den fast anarchistischen Bedingungen der Kriegsmangelwirtschaft ausgeführt wurden. Ein nächster organischer Fehler der Beschlüsse äußerte sich darin, daß sie die im spontanen Prozeß der Arbeitsteilung herausgebildete, komplementäre Wirtschaftsstruktur desorganisierte - meistens aufgrund machtpolitischer Erwägungen. Die Friedensbestimmungen setzten eine Kooperation neuen Typs zwischen Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei voraus: den westlichen Politikern war sogar eine lockere Konföderation willkommen. Durch das Friedenssystem erweckter nationaler Haß und gegenseitige Eifersucht förderte aber keinesfalls wirtschaftliche Rationalität, vielmehr das Zum-Dogma-Erheben der nationalistischen Irrationalität. Trotz allem schätzten führende Politiker die Vorteile höher, die aus der Zersetzung der Monarchie resultierten. Obwohl von den Siegermächten in nationaler Hinsicht homogenere Nachfolgestaaten geschaffen wurden, waren sie wirtschaftlich viel schwächer und instabiler. Die einst prosperierende Region wurde zerstört, ohne sie wirtschaftlich und außenpolitisch effektiv auszunutzen, ihr Lebensfahigkeit zu verleihen und sie verteidigen zu können. Die Neuregelung ignorierte die traditionelle Gefahrdung des Gebiets und die provisorische Zurückdrängung der Großmächte aus der Region nahm man als endgültig an. Die kleinstaatliche Zersplitterung brachte für die betroffenen Länder die Gefahr mit sich, gegen die eventuell aktiv werdenden Großmächte separat mit dem erforderlichen Gewicht nicht auftreten zu können. Das politische Schicksal der Region bewegte sich auf parallelen Bahnen mit den wirtschaftlichen Verhältnissen. Es war nicht gelungen, die Destabilisation zu beseitigen, die aus der Auflösung der Monarchie hervorging und eine Art regionale Konsolidierung herzustellen. Einer der Gründe dafür war, daß sich die USA bald vom mitteleuropäischen politischen Schauplatz zurückzogen, und auch das Interesse Englands nachließ. Die angelsächsischen Mächte begeisterten sich nicht für die 1921 gegründete Kleine Entente. Überdies ist es Frankreich nicht gelungen, seine Vorstellungen von der Konföderation durchzusetzen, seine Führerrolle unter den Verbündeten wurde immer mehr in Frage gestellt. Die Starrheit und Bedrohung der Kleinen Entente lenkte Österreich naturgemäß auf die Bahn des Anschlusses und Ungarn auf die der Revision von Trianon, auf die Zwangsroute der einzig möglichen Alternative. Das Hauptziel der ungarischen Außenpolitik war von Anfang an die integrale und nicht die ethnische Revision. Da die ethnischen Prinzipien bei der Feststellung der Grenzen außer acht gelassen wurden, konnte von der Anerkennung der Grenzen ungarischerseits nicht die Rede sein.
76
Istvan Nemeth
Durch den Widerspruch, der zwischen den Wilsonschen Prinzipien und dem realisierten Friedensvertrag bestand, spiegelte der Friedensvertrag im Bewußtsein der Menschen als eine willkürliche Aktion der Sieger wider, man ließ dabei die widersprüchlich wirkende Tatsache unbeachtet, daß infolge des Zusammenbruchs der Monarchie auch der Unabhängigkeitsdrang unterdrückter Nationen ans Ziel gelangen konnte. Nichtidentifizierung realer geschichtlicher Vorgänge vermischte sich mit tatsächlich schweren nationalen Beleidigungen, so konnte der Nationalismus, ideenbildend während der Dualismus, als wichtigster Bestandteil in dem ganzen System, auch im weiteren wirken und sozusagen die ganze Gesellschaft durchdringen. Die Argumentation der Revisionisten lautete folgendermaßen: der Zerfall des historischen Ungarn war bloß ein Resultat von der willkürlichen Einmischung durch die Siegermächte, so spielte die Nationalitätenpolitik des Dualismus im Verfall offenbar keine Rolle, die Abtrennung der Nationalitäten sei nicht endgültig, nicht unabänderlich, und die Wiederherstellung der vor 1918 gültigen ungarischen Grenzen hänge nur von einer Verschiebung in den Kräfteverhältnissen ab. Eine massenhafte Akzeptierung des von Beleidigungen durchdrungenen Irredentismus führte natürlich zur Herausbildung eines hysterischen Seelenzustands bei breiten sozialen Schichten3 • Die ungarische Außenpolitik der 20er Jahre wählte die totale Ablehnung der Friedensbeschlüsse. Dies wurde mit der Parole "nein, nein, nie" formuliert, und die Wiederherstellung des historischen Ungarns wurde ins Programm aufgenommen. In der Zwischenkriegszeit stellte die territoriale Revision nicht nur Rhetorik der ungarischen Politik dar, sondern eine wirkliche Richtlinie der Handlung. Die ungarische Außenpolitik wurde von der Position einer nicht existierenden Großmacht geführt und es wurde Träumen von der führenden Rolle im Donaubecken nachgejagt. Ungarn erhob Revisionsansprüche an jedes benachbarte Land, allein die österreichisch-ungarische Grenze erkannte es nach 1921 als endgültig an. Dieses außenpolitische Programm führte seine Gegner zusammen: die Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien schlossen ein Abkommen, in dem gemeinsames bewaffnetes Auftreten für jede Verletzung des Trianoner Vertrags in Aussicht genommen wurde4 • Die sich konstituierende Kleine Entente hatte 40 Millionen Einwohner. Sie wurde von Frankreich, von der damals stärksten 3
Juhlisz, S. 69-70.
4 Den Kern der Kleinen Entente bildete ein tschechisch-jugoslawisches Abkommen, welches am 14. August 1920 in Belgrad unterschrieben wurde. Rumänien schloß sich Abkommen im April 1921 an. Siehe: Adiim. Magoo: A kisantant 1920-1938 (Die Kleine Entente 1920-1938) Budapest. 1981. S. 54-55.
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Militärmacht des Kontinents, unterstützt. Die außenpolitischen Ambitionen des Reichverwesers Horthy, z. B. innerhalb zwei Jahren mit Rumänien abrechnen zu können, entbehrten jeder Realität. Man mußte einsehen, daß die territoriale Revision aus eigener Kraft nicht zu verwirklichen war, und eine radikale Veränderung der Situation konnte nur mit Hilfe von Großmächten vorgenommen werden kann. Die ersten ungarischen Versuche zur Revision führten in das Jahr 1920 zurück. Im Sommer 1920 war eine diplomatische Annäherung zwischen Frankreich und Ungarn auf eine ungarische Initiative zu verzeichnen. Der ungarische Außenminister , Pal Teleki, verlangte die Wiederherstellung der Integrität Ungarns. Außenminister Paleoloque betrachtete es als sein Hauptziel, Ungarn mit seinen Nachbarn auszusöhnen, da er klar eingesehen hatte, daß ohne Ungarn die politische und ökonomische Konsolidierung im Donaubecken unrealisierbar wäre. Die territorialen Forderungen a la Teleki waren aber offensichtlich irreal, da sie sich auf die grundsätzliche Veränderung des von Frankreich kürzlich unterzeichneten Friedensvertrags richteten. London und Rom aber traten der unter französischer Führung auszuführenden Revision entschlossen entgegen. Da Großbritannien, Italien und die Nachbarländer protestierten, scheiterten die französisch-ungarischen Verhandlungen5 • Im Laufe der Zeit machten die internationalen Ereignisse für die ungarische Regierung immer klarer, daß sie auf eine rasche Revision des Friedensvertrags nicht hoffen konnte. Sie war gezwungen zur Kenntnis zu nehmen, es gäbe nur die Möglichkeit, das Leben für längere oder kürzere Zeit zwischen den durch den Friedensvertrag festgestellten Grenzen einzurichten. Man mußte neue Wege suchen, um einer außenpolitischen Isolierung entgegentreten zu können. Die internationalen Verhältnisse boten aber Anfang der 20er Jahre keine Möglichkeit, keine Partner für eine auf lange Sicht gegen den Friedensvertrag wirkende Außenpolitik. England beteiligte sich an der Konsolidierung des Horthy-Regime aktiv und war von den Beschlüssen der Versailler Friedenskonferenz gar nicht begeistert6 • Es mißbilligte die Führerrolle Frankreichs in üstmitteleuropa sowie die Zerstörung der organischen Wirtschaftsbeziehungen. Horthys Ungarn galt in London als eine der wichtigsten Sperren vor der bolschewistischen Expansion. Dennoch war dies alles unzureichend für England, eine Art Außenpolitik zu betreiben, in der Ungarn ein zentraler Stellenwert zugekommen wäre. Es wollte 5
Adam, ebenda S. 48-50.
6 Di6szegi, lstwin: Ahatalmi politika masfel evszazada 1789-1939 (Anderthalb Jahrhundert Machtpolitik 1789-1939) Hist6ria - MTA Törtenettudomanyi Intezete, Budapest 1994, S. 302.
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die ungarischen Revisionsbestrebungen nicht in geringstem Maße fördern. England ließ sich von seinem Standpunkt nicht einmal durch die naive ungarische Drohung abbringen, daß sich Ungarn an Deutschland um Unterstützung wenden würde, falls England keine Hilfe leistet. Deutschland erschien zwar als der idealste Verbündete, doch in den ersten Jahren nach den Pariser Vorortverträgen trafen sich die Zielsetzungen der ungarischen Revisionspolitik mit der deutschen Erfüllungspolitik in keinem Punkt. Das nach einem deutsch-französischen modus vivendi strebende Deutschland durfte sich nicht mit einem Staat verbünden, der stets die sofortige und umfassende Revision reklamierte. Die Weimarer Republik sympatisierte mit dem Horthy-Regime nicht. 1923 wurden die ideologisch und emotionell determinierten Gegensätze zwischen Berlin und Budapest nur überbrückt, und die beiden Länder hatten sich bereit erklärt, zusammenzuarbeiten, in Wirklichkeit aber gab es zwischen ihnen keine gemeinsame Interessenbasis. Die Aufforderungen der ungarischen Regierung zum gemeinsamen Auftreten ließ man in Berlin einfach ohne Antwort. Ein engeres Verhältnis zwischen Ungarn und Deutschland kam trotz der Germanophilie vieler Magyaren, des Gefühls von der Schicksalgemeinschaft und der stets beteuerten deutsch-ungarischen Freundschaft nicht zustande. Außerdem verfolgte Deutschland eine Politik gegenüber Ungarn und Süd-Ost-Europa, die Ungarn nicht willkommen war. "Deutschland sieht sich hinsichtlich der Balkan- und Orientpolitik für die nächste Zeit darauf beschränkt, rein wirtschaftliche Ziele mit friedlichen Mitteln zu verfolgen. Damit hat Ungarn seine frühere Bedeutung, die es als ein in die Balkan- und Orientsphäre hineinreichender Staat für die deutsche Politik gehabt hatte, zur Zeit zum größten Teil eingebüßt. Deutschland hat, so sehr der Schmerz Ungarns über die Verstümmelung des alten ungarischen Reiches bei uns geteilt und verstanden wird, kaum ein unmittelbares Interesse an den Regenerationsbestrebungen Ungarns. ,,7 Die ungarisch-französischen Beziehungen verschärften sich 1925 infolge der Frankenfälscheraffäre8 • Die Regelung der Beziehungen zur Sowjetunion bot 7 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn - PA AA (B), Pol. Abt. H. Ungarn, Pol. 2. Bd. 2. Aufz. Min. Dir. Köpkes vom 4.4.1925. Zitiert nach Wulf-Dieter Schmidt-Wulffen: Deutschland-Ungarn 1918-1933. Eine Analyse der politischen Beziehungen. Dissertation Wien 1969. S. 380-381.
• Die Rechtsradikalen Deutschlands und Ungarns stellten seit 1920 Falschgeld her, um ihre revisionistische Kampagne damit zu finanzieren und die betroffenen Staaten zu schädigen. 1925 wurden gefälschte Francnoten ungarischer Herkunft in Haag entdeckt. Horthy und die Regierung wurden zu Recht der Mitwisserschaft beschuldigt. Die Bestrafung der Schuldigen war äußerst mild. Die französische öffentliche Meinung war überzeugt, daß nicht nur ungarische, sondern auch deutsche Rassisten hinter den Fälschungen ständen.
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auch eine Möglichkeit, die außenpolitische Isolation Ungarns zu durchbrechen. Die Sowjetunion erkannte - als einzige Macht - den Friedensvertrag von Trianon nicht an, die Aufnahme der Beziehungen hätte für Ungarn den Vorteil gebracht, seine außenpolitische Lage der Kleinen Entente gegenüber festigen, andererseits auch erhebliche Handelsverbindungen anknüpfen zu können. Zu dieser Zeit begann die traditionelle Außenpolitik ihren alten Rang in Moskau zurückzugewinnen, und der sowjetische Staat nahm die diplomatischen Beziehungen mit den europäischen Ländern auf. Über eine sowjetische Initiative, die Beziehungen zwischen beiden Staaten aufzugreifen, kam es schon 1922 auf der Konferenz in Genua zu einem ersten Gedankenaustausch. Die offiziellen Verhandlungen zwischen beiden Staaten fanden erst im Sommer 1924 in Berlin statt. Die ungarische Regierung versuchte - als Gegenleistung für die eventuelle Anerkennung der Sowjetunion - vorteilhafte Handelsbegünstigungen für Ungarn zu erreichen. Obwohl der ungarische Ministerrat die im September 1924 unterzeichnete ungarisch-sowjetische diplomatische Vereinbarung und den Handelsvertrag angenommen hatte, kam es nicht zu RatifIzierung. Unter dem Einfluß des konservativen Regierungswechsels in England und der Änderung in den englisch-sowjetischen Beziehungen beharrten der sich nach England orientierende Horthy und die anderen Gegner der Kontaktaufnahme zur Sowjetunion auf ihrem Standpunkt noch fester. Nachdem die RatifIkationsfrist ungarischerseits mehrmal verlängert worden war, betrachtete die sowjetische Regierung die Verhandlungen als abgeschlossen und das Abkommen als hinfällig. Wegen der unflexiblen, sowjetfeindlichen Politik der ungarischen Regierung wurden die diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion erst viel später, Anfang 1934, aufgenommen. 9 Nachdem die Kleine Entente Ungarn eng eingekreist hatte, tauchte doch der Gedanke auf, mindestens mit einem der drei Nachbarstaatenein befreundetes Verhältnis aufzubauen. Dieses Land konnte allein Jugoslawien sein, und die Bethlen-Regierung glaubte dadurch, die Kleine Entente aufzulockern. Nach einer Sondierung bei Italien nahm im August 1926 Horthy für eine Annäherung an den südslawischen Nachbar Stellung, und dies schien in Jugoslawien gut aufgenommen worden zu sein. In den Verhandlungen wurde klargelegt, daß Jugoslawien einen Freundschafts- und MiJitärvertrag verlangte, der seinen bestehenden Verpflichtungen, also den Verträgen mit der Kleinen Entente, nicht zuwiderlief. Dagegen wollte Bethlen die Neutralität im Falle eines Konflikts mit einem dritten Staat 9
Juhasz, S. 98-99.
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gewährleisten und erwähnte die Garantie der jugoslawisch-ungarischen Grenze nicht. Das Projekt hätte eigentlich die Verträge mit der Kleinen Entente abgeschafft. Auf diese Bedingungen konnte Jugoslawien natürlich nicht eingehen. Andererseits fand der Vertrag über die Neutralität auch bei Italien keinen Beifall, das sich in die im September 1926 in Genf eingeleiteten ungarischjugoslawischen Verhandlungen einmischte. Die Konsolidierung des Systems, die Behebung der finanziellen und ständigen militärischen Kontrolle durch den Völkerbund und damit die Wiederherstellung der formalen Merkmale der staatlichen Souveränität hatten die Voraussetzungen für Ungarn geschaffen, aus der internationalen Isolation auszubrechen und eine aktive Außenpolitik gegen die Friedensverträge auszubauen. Ende 1926 meldete sich Mussolini als Partner für diese Außenpolitik.
B. Die "aktive" Außenpolitik der Bethlen-Regierung (1926-1930) Als Ungarn sich politisch und wirtschaftlich konsolidierte, wurde die außenpolitische Begründung der revisionistischen Bestrebungen auf die Tagesordnung gesetzt. Unter den Siegermächten war auch das faschistische Italien mit dem Versailler Friedensvertragssystem unzufrieden. Mussolini rechnete mit Ungarn als Partner für seine Pläne mit der Absicht, die Machtverhältnisse in Mitteleuropa zu ändern und den italienischen Herrschaftsanspruch in Südosteuropa geltend zu machen. Der am 5. April 1927 unterzeichnete italienisch-ungarische Vertrag lO proklamierte "den ständigen Frieden und die ewige Freundschaft" zwischen beiden Staaten, der dazu gehörende Geheimvertrag verabredete eine engere politische Zusammenarbeit. Was die außenpolitische Isolation betraf, bedeutete der Vertrag für Ungarn einen Durchbruch, die Beziehungen zu der Kleinen Entente wurden aber - ohne besondere außenpolitische Vorteile - gespannter. Nachdem der italienisch-ungarische Vertrag unterzeichnet worden war, kam eine jeden Bereich des staatlichen Lebens erfaßte, offen revisionistische Propaganda in Gang, auch durch die sog. Rothermere-Aktion gefördert. Mussolini und Bethlen begegneten Lord Rothermere, dem Inhaber der englischen Zeitung "Daily Mail", der bereit war, in seinem Blatt im Interesse der Revision des Friedensvertrags von Trianon eine Kampagne zu starten. In einem Artikel vom Juli 1927 legte er dar, die Sicherheit in Miueleuropa könne nur durch die Veränderung der in Trianon festgestellten Grenzen geschafft werden, und er 10 Halnwsy, Denes; Nemzetközi szerzödesek 1918-1945 (Internationale Verträge 1918-1945). Budapest, Közgazdasägi es Jogi - Gondolat 1983. S. 266-271.
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bekannte sich zur Rückgliederung bestimmter Landteile mit rund zwei Millionen Einwohnern. Die englische Regierung grenzte sich von dieser Aktion ab, die die Nachbarländer zur engeren Solidarität bewegte und die Zunahme des französischen Einflusses zur Folge hatte. 1927 auf Initiative von Lord Rothermere wurde die Liga der Ungarischen Revision mit dem Ziel gegründet, im Ausland nichtoffizielle Beziehungen aufzubauen und durch Propagandaschriften die Weltöffentlichkeit zu beeinflussen. 11 Als Bethlen eine Revision auf friedlichem Wege - also unveränderte, integrale Wiederherstellung Ungarns - propagierte, war ihm klar, daß er einander eliminierende Begriffe angewendet hatte. Er meinte, nur eine Neugestaltung der europäischen Verhältnisse könne Erfolg für die ungarischen revisionistischen Bestrebungen versprechen. Nach der Unterzeichnung des italienisch-ungarischen Vertrags über die Freundschaft und Zusanunenarbeit folgten Maßnahmen im Interesse einer sofortigen militärischen Zusanunenarbeit mit dem Ziel, die ungarische Armee schnell aufzurüsten. Ende 1927 wurde versucht, italienische Waffen nach Ungarn zu liefern. Die an die Öffentlichkeit gelangte "Sankt-Gothardiner Angelegenheit" schwoll aber zu einem internationalen Skandal an. Die italienisch-ungarische Zusanunenarbeit und die Verstärkung der revisionistischen Propaganda wahrnehmend, verlängerten die Staaten der Kleinen Entente im Juni 1928 ihre früher unterzeichneten Verträge. Ein Jahr danach festigte sich der Block der Kleinen Entente in einer endgültigen Form. Die militärische Zusanunenarbeit der drei Länder gegenüber Ungarn wurde enger. Den ungarischen Außenpolitikern war von Anfang an klar: für Ungarn wäre ohne Deutschland ein tatsächlich wirksames System des Bundes unvorstellbar. Ministerpräsident Istvan Bethlen und der ungarischer Gesandte in Berlin, Kälman Kanya, trugen zur Annäherung an Deutschland, zum Zustandekommen des italienisch-deutschen Systems des Bundes bei, das auch Ungarn einbeziehen sollte. Bethlen hatte schon Ende 1926 vor dem italienisch-ungarischen Vertrag eine deutsch-ungarisch-italienische Zusammenarbeit angeregt. 12 Er bot seine Mittlerdienste an und bemühte sich darum, die "Mißverständnisse" zwischen Italien und Deutschland auszuräumen. Im Dezember 1927 hatte er in Genf dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann dargelegt, daß er eine Möglichkeit für die Besserung der deutsch-italienischen Beziehungen sehe. Stresemann 11
Juhasz, S. 109-110.
12 PA AA (B), Pol. Abt. 11. Italien, Pol. 3. Bd. 1. Bericht des deutschen Gesandten Budapest vom 16.12.1926.
6 Timmcrmann
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wollte aber die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen nicht aufs Spiel setzen, darum lehnte er die italienische Orientierung ab. 13 Bethlen ließ sich nicht von der Dreibund- beziehungsweise Vierbundidee unter Einschluß Österreichs abbringen. Ungeachtet der Gegensätze zwischen Deutschland und Italien versuchte der ungarische Gesandte Känya, im Januar 1928 ein Treffen zwischen den Außenministern Grandhi und Stresemann zu arrangieren. Das ungebrochene Interesse Ungarns an der Bethlenschen Kombination erläuterte er damit, daß das kleine Ungarn mit beiden Staaten ein gleich gutes Verhältnis wünsche. 14 Ministerialdirektor Köpke klärte Känya noch einmal über die deutsche Politik gegenüber Italien auf: "Wenn Mussolini damit unzufrieden sei, daß sein Liebeswerben von uns nur mit kühler Höflichkeit beantwortet werde, so dürfe nicht vergessen werden, daß wir im Interesse der nächsten Ziele unserer Außenpolitik darauf bedacht sein müßten, keine Schritte zu tun, die uns italienischerseits kaum irgendwelchen greifbaren Nutzen, dagegen aber in Frankreich Mißtrauen und erneute Entfremdung einbringen könnten ... 15 Die Chancen für ein öffentliches deutsch-italienischen Einvernehmen waren noch damals noch nicht günstig. Im Hintergrund traf man aber schon Vorkehrungen. Der deutsche militärische Nachrichtendienst forderte im Herbst 1928 mutmaßlich durch die Aktion von General BIomberg - den ungarischen militärischen Nachrichtendienst zu einer Vermittlerrolle auf, um die Zusammenarbeit zwischen den deutschen und italienischen Nachrichtendiensten auszubauen. Der ungarische Generalstab beurteilte die Lage dafür erst im Februar 1929 als geeignet. 16 Jena Ruszkay, der Leiter der Abteilung VI-2 beim Verteidigungsministerium, wurde im April 1929 in Deutschland freundlich empfangen, und die deutschen Offiziere wiederholten ihre vorherige Bitte, eine Vermittlerrolle in der Organisierung der Zusammenarbeit zwischen den deutschen und italienischen NachI) Iratok az ellenforradalom törtenetehez 1919-1945. (Akten zur Geschichte der Konterrevolution 1919-1945). IV. kötet. (Bd. IV). A magyar ellenforradalmi rendszer külpolitikaja 1927. januar I. 1931. augusztus 24. (Die Außenpolitik des ungarischen konterrevolutionären Regimes). Budapest, 1967, S. 106. f.
14
PA AA (B), Büro des Reichsministers 35, Bd. I. Aufz. Schuberts vom 5.1.1928.
15 PA AA (B), Pol. Abt. 1I. Ungarn, Pol. 2. Bd. 3. Büro des Staatssekretärs Tsch, Bd. 3. Aufz. Köpkes vom 3.11.1927. 16 Nemeth. IstVlin: A magyar-nemet katonai kapcsolatok kerdesehez 1928-1934. (Zur Geschichte der ungarisch-deutschen militärischen Beziehungen 1928-1934). Budapest 1983/3. S. 390.
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richtendiensten zu übernehmen. Mit dem Besuch von Ruszkay in Berlin wurde die deutsch-ungarische Zusammenarbeit in diesem Bereich eingeleitet. Der ungarische Militärattache in Berlin, Döme Sztojakovics, knüpfte eine enge und regelmäßige Verbindung mit den höheren Beamten des Reichswehrministeriums an, die schon Anfang 1929 ihm die zukünftigen deutschen militärischen Ziele zusammenfaßten: die Rückeroberung des Memel-Gebiets, des polnischen Korridors und Oberschlesiens, kleinere Korrekturen an der polnischen Grenze und der Anschluß. I7 Die Leiter der ungarischen Generalstabes formulierten schon Anfang 1929 ihre Forderung: eine engere Zusammenarbeit zwischen den politischen und militärischen Führern und Ausbau des Bündnissystems im Interesse der revisionistischen außenpolitischen Ziele. Die regelmäßigen Zusammenkünfte, militärischen, politischen, ökonomischen Lageanalysen, ihre aktive informative Zusammenarbeit mit dem Außen- und Innenministerium, die organische Einordnung der Militärdiplomatie in die bilateralen Verbindungen in der ungarisch-italienischen und ungarisch-deutschen Beziehung, auch ihre Aktivität in der Organisierung des deutsch-italienisch-ungarischen Blocks sind exakte Beweise dafür, daß sie bei den außenpolitischen Entscheidungen in der Nähe der Machthabenden standen. 18 Das alles geschah, als die ungarisch-deutschen Beziehungen in ihrer Gesamtheit das von Ungarn erwünschte Niveau noch durchaus noch nicht erreicht hatten. Parallel mit dem Ausbau des deutschen Agrarschutzsystems wollte die deutsche Industrie ihre ausländischen Absatzgebiete zurückerobern. Diese zielstrebige deutsche Wirtschaftspolitik brachte Ungarn in eine immer schwierigere Lage. Die ungenügende Regelung der wirtschaftlichen Beziehungen wurde in den Äußerungen der ungarischen Politiker als einziger Maßstab für die Bewertung der ungarisch-deutschen Beziehungen bestimmt. Während man als Argument die Untrennbarkeit politischer und wirtschaftlicher Fragen betonte, wurde durch die deutsche Politik die Trennbarkeit politischer und wirtschaftlicher Fragen behauptet, und man blieb bei wirtschaftlichen Angelegenheiten hart. 19 Anfang Dezember 1932 stellte die offizielle deutsche außenpolitische 17
Ebenda. S. 392.
18 Vargyai. Gyula: A hadsereg politikai funkci6i Magyarorszagon a harmincas evekben. (Die politischen Funktionen der Armee in Ungarn in den 30er Jahren). Akademiai Kiad6. Budapest 1983. S.60.
19 Nemeth. lstwin: A magyar-nemet kapcsolatok fö vonasai az 1920-30-as evek fordul6jan. (Die Haupnendenzen der ungarisch-deutschen Beziehungen an der Wende der 20er und 30er Jahren). Politika-Tudomany. 1985/3-4. S. 99.
6*
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Stellungnahme eine vollständige außenpolitische Interessengemeinschaft nur in der Frage der Abrüstung fest, man beurteilte die konkreten Ziele der Grenzrevision unterschiedlich, man behauptete sogar, daß Deutschland und Ungarn auf diesem Gebiet gemeinsam nicht auftreten können und eine gegenseitige aktive Förderung von beiden Seiten nicht erwartet werden kann. Im Gegensatz zu den ungarischen Ambitionen und Erwartungen wurde politische Gleichgültigkeit hinsichtlich der Rolle Ungarns in Südosteuropa offenbar. Man hielt wohl die Schwächung der Staaten der Kleinen Entente. die von Frankreich politisch und militärisch abhängig waren, für erwünscht, man ordnete aber diese Auffassung den mit diesen drei Ländern verbundenen wichtigen wirtschaftlichen Interessen unter, und man ließ Ungarn keine besondere Behandlung zuteil werden. 20 In der Frage der ungarländischen deutschen Minderheit wurden gegenseitig bittere Äußerungen und Beschuldigungen laut. Die Meinungsunterschiede verschärften sich über das Schulwesen des Ungarndeutschtums, seine kulturelle und politische Tätigkeit, die Agitation verschiedener Verbände des Deutschen Reichs in Ungarn, den abgestimmten gemeinsamen Auftritten deutscher und ungarischer Minderheiten in den Nachbarländern, die den ungarischen revisionistischen Zielen dienen sollten, all dies belastete die ungarisch-deutschen Beziehungen durchgehend schwer. 21 Unter diesen Umständen überlebten allein die ungarisch-deutschen militärischen Beziehungen die Erschütterungen der Weltwirtschafts krise ungebrochen. Ihre ausgeglichene Entwicklung - parallel mit dem zunehmenden politischen Einfluß der Armee in beiden Ländern ab 1929-1930 - trug zur Normalisierung der ungarisch-deutschen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen aktiv bei, später auch zur engeren Verflechtung der ungarisch-deutschen Verbindungen. Ende November 1930 besuchte Bethlen Berlin mit der Absicht, die deutschungarischen Beziehungen zu verbessern. Er wurde überaus höflich empfangen, aber der Erfolg seiner Gespräche war sehr gering. Außenminister Curtius wünschte gleich gute Beziehungen zu allen Staaten Süd-Ost-Europas, also auch zu der Kleinen Entente. Er unterstrich den deutschen Standpunkt, keine Bünd20
PA AA (B). Pol. Abt. 11. Ungarn. Pol. 2. Bd. 4. Aktenvermerk (1.12.1932).
2\ Nemeth, ISlvan: A magyarorszägi nemet kisebbseg a magyar-nemet kapcsolatokban az 19201930-as evek fordul6jän. (Die ungarländische deutsche Minderheit in den ungarisch-deutschen Beziehungen an der Wende der 20er und 30er Jahren). Teil I: A Politikai F6iskola Közlemenyei. 1981/2-3. S. 88-109., Teil 11: ebenda. 1982/4. S. 42-55. Zur Geschichte der Deutschen in Ungarn siehe: Tilkovszky, Loränt: Zeitgeschichte der Ungarndeutschen seit 1919. Budapest, 1989. Brunner, Georg (Hrsg.): Die Deutschen in Ungarn. Südosteuropa-Studien 45. München, 1989.
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nisse oder keine Bildung einer Staatenkombination anzustreben. Das war eine deutliche Absage an Bethlens Revisionsblockidee . Curtius erklärte ferner, diesen Standpunkt auch gegenüber Grandhi vertreten zu haben, um von vornherein jeden Versuch Bethlens abzublocken, die deutsche Regierung mit seinem Plan zu belästigen. Deutschland hoffe, von Fall zu Fall in gemeinsamen interessierenden Fragen mit Italien zusammenarbeiten zu können, etwa in den Abrüstungsverhandlungen. Die Entwicklung der politischen Zusammenarbeit mit Ungarn dachte er sich von der gleichen Art. 22 • In seiner Entäuschung über Deutschlands außenpolitischen Kurs offenbarte er nach seiner Rückkehr, daß ihm in erster Linie daran gelegen war, Deutschland für einen Revisionsblock zu gewinnen. Er war erschüttert wie sehr die deutsche Politik von der Angst vor Frankreich beherrscht war, wie wenig man es in Deutschland verstand, Revisionspolitik zu machen. 23 Auch die Minderheitenfrage wurde letztendlich ergebnislos vertagt. Das von Bethlen angestrebte italienisch-deutsch-ungarische Bündnis war noch nicht realisierbar, der Plan diente aber als Grund für die spätere außenpolitische Konzeption. Doch erst nach seinem Berlin-Besuch konkretisierte er vor der Öffentlichkeit, was er unter Revision versteht: "Es sind Gebiete, die zweifellos ungarisch sind. Diese sollten ohne weiteres zum Mutterland rückgegliedert werden. In den Gebieten, wo die Situation nicht so eindeutig ist, wäre die Lösung eine Volksabstimmung." Seine Aussprüche zeigten gleichzeitig auch die Unklarheit und Unsicherheit des ungarischen Revisionsprogramms. 24 Nach der Unterzeichnung des italienisch-ungarischen Vertrags über Freundschaft strebte die ungarische Regierung nach der Erweiterung der Beziehungen. Sie hoffte, daß Polen - im Einverständnis mit Italien - eine Vermittlerrolle in der Normalisierung der rumänisch-ungarischen Beziehungen spielen werde, um zur Auflockerung der Kleinen Entente beitragen zu können. Im November 1928 wurde ein Vertrag über die polnisch-ungarische schiedsrichterliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Ende der 20er Jahre boten sich neue Chancen für den Ausbau der türkischungarischen Beziehungen. 1927 kam es auf Initiative der türkischen Regierung zu einer Annäherung, die für beide Länder Vorteile versprach: Ungarn konnte durch die Türkei zumindest eine indirekte Verbindung an die Sowjetunion knüpfen und seine Position Rumänien gegenüber stärken, die Türkei konnte 22
PA AA (B), Büro des Reichsministers, 35. Bd. 2. Aufz. vom 25.11.1930.
23
PA AA (B), Pol. Abt. 11. Ungarn 2A. Aufz. des Auswärigen Amtes von 12.12.1930.
24
Romsics. Ignac: Bethlen Istvan. Politikai eletrajz. Budapest, 1991. S. 195.
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sich hingegen durch Ungarn an Italien nähern, um den französischen Einfluß in Griechenland im Gegengewicht zu halten. Im Januar 1929 unterzeichneten Ungarn und die Türkei einen Vertrag über die Neutralität und das Versöhnungsverfahren bzw. über vereinbarte Schiedsgerichte. Der Vertrag trug zur Erweiterung der Beziehungen zwischen beiden Ländern bei. Es war von der türkischen Regierung mehrmal vorgeschlagen worden, diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufzunehmen, und die türkische Regierung hat ihre Vermittlerrolle entgegenkommend angeboten. Bethlen war aber diesem Vorschlag gegenüber - mit Berufung auf innenpolitische Gründe - ablehnend. 25 Im Interesse der Förderung des italienischen Einflusses im Mitteleuropa und der Durchsetzung der ungarischen revisionistischen Pläne war es wichtig, Österreich von der französisch-tschechoslowakischen Orientierung abzulenken. Aufgrund des italienisch-ungarischen Vertrags arbeiteten beide Regierungen eng zusammen, um eine rechte Wende in Österreich vorzubereiten. Dabei übernahm Ungarn eine Vermittlerrolle zur österreichischen Heimwehr. Der geplante Putsch verlor aber an Aktualität, als Johannes Schober im September 1929 seine Regierung bildete. Seine Person hielt Mussolini für garantiefähig, um eine rechte Wende herbeizuführen und eine italienisch-österreichisch-ungarische Zusammenarbeit zustandezubringen. So lehnte die italienische Regierung den Plan des Heimwehr-Aufstandes ab und stellte auch die materielle Unterstützung dafür ein. Da die Tätigkeit der Schober-Regierung von italienischer und ungarischer Seite als günstig beurteilt wurde, schlug Mussolini Bethlen vor, nachdem der österreichisch-italienische Vertrag über Freundschaft unterzeichnet worden war, einen österreichisch-ungarischen Vertrag zu schließen. Im Januar 1931 wurde dieser Vertrag mit einem Geheimprotokoll über die Abstimmung der gegen die Kleine Entente zu treibenden Politik in Wien unterzeichnet. 26
C. Die Wirkung der Weltwirtschaftskrise auf die ungarische Wirtschaft und Außenpolitik (1930-1932) Die Auswirkung der Weltwirtschaftskrise war für die mittel- und südosteuropäischen Staaten besonders verheerend, die nicht imstande waren, die Probleme, die sich aus ihrer einseitig aufgebauten wirtschaftlichen Struktur ergaben, in den 20er Jahren zu beseitigen. Ihre finanziellen Rekonstruktionen 2S
Juhlisz. S. 115-116.
" Ebenda. S. 117-118.
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und ökonomischen Investitionen wurden meistens aus überdimensionierten Krediten gedeckt, diese Kredite spielten dann eine wichtige Rolle in der Kreditkrise und in dem finanziellen Zusammenbruch. Infolge der Wirtschaftskrise traten auch innere Gegensätze in diesen Ländern im Prozeß einer zunehmenden Polarisation hervor, ihre äußere wirtschaftliche, die politische Abhängigkeit nahm weiter zu, ihre Streitigkeiten spitzten sich zu. Die Weltwirtschaftskrise wurde von Frankreich, Deutschland und Italien, aber auch von einigen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas als geeigneter Ansatzpunkt zur Realisierung ihrer politischen Zielsetzungen verstanden. Mit seinem "Paneuropa"-Plan vom 1. Mai 1930 versuchte der französische Außenminister durch die Schaffung der "Vereinigten Staaten von Europa" die Nachkriegsgrenzen auf dem Kontinent und die Machverhältnisse von 1918 vertraglich festzuschreiben und Deutschlands ständig wachsendes Wirtschaftspotential in einem System kollektiver Sicherheit zu neutralisieren. Der deutsche Außenminister legte seinerseits im März 1931 im Gegenzug das Projekt einer deutsch-österreich ischen Zollunion vor, womit er offensiver als je zuvor Außenwirtschaftspolitik zu einem politischen Druckmittel zu machen gedachte. 27 Die deutschen Präferenzangebote und der Tardieuplan vom März 1932 als letzte Versuche zur Konsolidierung des Status quo in diesem Raum - der französische Premier schlug eine ökonomische Reorganistion unter den fünf Donaustaaten Österreich, Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien auf der Basis gegenseitiger Präferenzen vor und stellte Rekonstruktionsanleihen in Aussicht 28 - bezeichneten die wichtigsten Etappen des durch die Krise freigesetzten Kräftespiels. Die Agrarblockbestrebungen unter Führung Polens und Rumäniens und das britische Zollunionsprojekt - die Unabhängigkeit der Kleinstaaten gegenüber den konkurrierenden Industriernächten zu stärken - erwiesen sich angesichts der ökonomischen Zwänge als wenig aussichtsreich. 29 Das im März 1931 veröffentlichte deutsch-österreichische ZollunionsprojektJO durchkreuzte die Bemühungen, die im Interesse eines italienisch-österreichisch27 Bernd-Jürgen Wendt: "Mitteleuropa"- Zur Kontinuität deutscher Raumpolitik im 20. Jahrhundert. In: Ungarn-Deutschland. Studien zu Sprache, Kultur, Geographie und Geschichte, München 1983. S. 310. 28
Ebenda, S. 315.
29 Sundhaussen, Holm: Die Weitwirtschaftskrise im Donau-Balkan-Raum und ihre Bedeutung für den Wandel der deutschen Außenpolitik unter Brüning. In: Aspekte deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang Benz und Hermann Graml. Stuttgart 1976, S. 160. 30 Nemetorszäg nemzetközi szerzödesei 1918-1945. (Die internationalen Verträge Deutschlands 1918-1945). Dokumentumgyiijtemeny (Eine Dokumentation). Hrsg.: Nemeth. Istvan. Budapesl, 1994. S. 91-92.
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ungarischen Blocks fortgesetzt wurden, die Haltung Italiens versteifte sich, es zeigte eine stufenweise Annäherung zum französischen Standpunkt. Das Zollunionsprojekt stellte die Bethlen-Regierung vor ein schweres Problem. Einerseits betrachtete sie dieses Ereignis als Rechtfertigung ihrer Vorstellungen über die revisionistischen Zielsetzungen, da die Chancen sich für ein neues Bündnissystem vermehrten. Andererseits konzentrierte sich die ungarische Außenpolitik 1930-1931 auf Kreditaktionen. Die damit verbundenen Bestrebungen stellten auch die Besserung der französisch-ungarischen Beziehungen in den Vordergrund. Inmitten der Krisenverhältnisse sah die französische Orientierung vorteilhafter aus, was aber die Zurückdrängung der revisionistischen Bestrebungen voraussetzte. Die Zollunionskrise lenkte Frankreichs Aufmerksamkeit zunehmend auf Ungarn, das eine Schlüsselstellung im Hinblick auf die wirtschaftliche Kooperation und politische Annäherung der Donauländer einnahm. Den Generalkurs ihrer Außenpolitik veänderte aber die Bethlen-Regierung auch im weiteren nicht. Ihre Hauptrichtung zielte - neben der italienisch-österreich ischen Linie - auf die erhoffte Annäherung zwischen Deutschland und Italien. Der Ministerpräsident gab auch die Idee der integralen Revision nicht auf, er betrachtete die Besserung der französischen Beziehungen als eine zwangsmäßige Taktik. Im Sommer 1931, durch die finanzielle Krise bedrängt suchte die Regierung Wege und Mittel für eine rasche ausländische Anleihe. Der englische Geldmarkt konnte nicht helfen, stimmte aber zu, daß die ungarische Regierung mit Frankreich Verhandlungen führte. Daraus resultierte eine Vereinbarung vom August 1931 über eine Anleihe von fünf Millionen Pfund. Die Besserung der Beziehungen mit Fran-kreich - auf einem von der Taktik bestimmten Niveau führte vorübergehend zu gewissen Kompromissen in den Beziehungen, die Ungarn mit der Kleinen Entente pflegte, und es wurden vorübergehend die revisionistischen Bestrebungen zurückgedrängt. Darum ging es aber wohl nicht, daß Frankreich und seine Verbündeten Bethlen für einen geeigneten Partner hielten, der ihre politischen Vorstellungen verwirklicht. 31 Der neue ungarische Ministerpräsident, Gyula Kärolyi - von den französischen Blättern im Zeichen einer eventuellen Verstärkung der französischen Orientierung begrüßt - hatte in seinem Regierungsprogramm vom August 1931 die revisionistischen Ziele nicht erwähnt. Er wurde im Winter 1931 auf den Vorschlag des tschechoslowakischen Außenministers Benes aufmerksam, eine JJ
Juhasz. S. 128-129.
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baldige wirtschaftliche Kooperation und Zollunion zwischen der Tschechoslowakei, Österreich und Ungarn zu realisieren. Karolyi reagierte und erwähnte, daß die Befriedigung der Revisionsansprüche eine Vorbedingung für die vorgeschlagene wirtschaftliche Zusammenarbeit wäre. Es genügte, den Verdacht von Italien zu erwecken: Italien startete eine Gegenaktion, es stimmte der Unterzeichnung der Brocchi-Verträge zu (20. Februar 1932), sie wurden aber wegen Einzelheiten nicht in Kraft gesetzt. Die deutsch-französische Rivalität in Ungarn wurde zum Spiegelbild des innerungarischen Ringens zwischen den Politikern, die nach wie vor am Primat des Revisionismus festhalten wollten und jenen, die zu einem Arrangement mit Frankreich und der Kleinen Entente bereit waren, um eine Wirtschaftskatastrophe zu verhindern, die Regime und Staat gefährden könnte. 32 Was den Tardieuplan betraf, war die Stellungnahme Ungarns im Grunde genommen nicht ablehnend. Es sah so aus daß, die Außenpolitik schon nicht mehr auf Deutschland sich konzentrierte, die wirtschaftliche Kooperation mit den Nachbarländern wurde nicht automatisch mit der Notwendigkeit einer Revision in Zusammenhang gebracht. Es war aber nur eine kurze Episode in der ungarischen Außenpolitik, die mit dem französischen Plan für die Sanierung der Krise zusammenhing. Als sich die Krise in Frankreich vertiefte und der Sanierungsplan fiel, machte sich die außenpolitische Mäßigung nicht mehr geltend und es verschwand der offenbar nicht allzu ernst vorgetragene Wunsch, den Nachbarländern wirtschaftlich sich anzunähern. Durch den Zusammenbruch des nach dem Ersten Weltkrieg zustandekommenen internationalen Finanz- und Kreditsystems gezwungen, standen die mitteleuropäischen Länder vor dem brennenden Problem, ihre Wirtschaftspolitik umzugestalten. Die revanche-revisionistische Politik gewann in den besiegten Ländern mehr an Raum. Sie war politisch durch den Vormarsch der extremen Rechten fundiert. Mit der Einstellung der westlichen Kredite nämlich verkümmerte die an die Westmächte geknüpfte Verbindung. Von 1932 an war Frankreich nicht mehr imstande seinen politischen Einfluß in den mitteIosteuropäischen Ländern mit wirtschaftlichen Mitteln zu unterstützen. Da auch England ab 1932 zunehmend Desinteresse an den mittelosteuropäischen Problemen zeigte, blieb Frankreich allmählich allein gegenüber Deutschland, das sich wirtschaftlich und politisch zu einem Machtfaktor entwickelte.
32
Schmidt-Wulffen, ebenda, S. 516-517.
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Anfang Oktober 1932 bildete Gyula Gömbös die Regierung, dessen außenpolitisches Programm wieder eine enge Freundschaft mit Italien und den Ausbau intensiver Verbindungen mit Deutschland zum Ziele hatte. 33 In dieser Zeit begann sich in der Öffentlichkeit der Siegerstaaten die Überzeugung durchzusetzen, daß man einem kriegerischen Zusammenstoß durch eine Revision vorbeugen sollte. Dies wurde seit Jahren in Italien in den Rang der offiziellen Politik erhoben. Großbritannien trat von Anfang an mäßigend den hegemonistischen Bestrebungen Frankreichs entgegen. Verständlicherweise zeigten sich in dieser Hinsicht die Staaten der Kleinen Entente äußerst passiv. "Der deutsche Erfolg in der Gleichberechtigungsfrage hat auch in Ungarn den an dem Wert der deutschen Freundschaft Zweifelnden den Rücken gestärkt und den Kurs der französischen Freundschaft sinken lassen. Diese Entwicklung wird gefördert durch das übergreifen der Finanzkrise auf den französischen Markt und, damit verbunden, die Abneigung des französischen Kapitals, größere Beträge nach Südosteuropa zu plazieren ... Die von Gömbös immer wieder betonte Forderung nach Revision des Vertrags von Trianon, wenn auch mit friedlichen Mitteln, wird jedoch einer wirklichen Annäherung an Frankreich auch weiter im Wege stehen" - berichtete der deutsche Gesandte nach Berlin. 34
D. Die Achse Berlin-Rom und Ungarn (1933-1939) Nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, setzte sich die ungarische Diplomatie in rege Bewegung, und neben der schon seit Jahren betonten wirtschaftlichen Kooperation wünschte Ungarn auch eine engere politische Zusammenarbeit und daraus folgend eine besondere Behandlung für sich. Einer der wichtigsten Befürworter dieser Zusammenarbeit war der Gesandte Kälman Kanya, der, Berlin verlassend, zum Außenminister avancierte. Er legte dem Präsidenten der deutsch-ungarischen Arbeitsgemeinschaft dar: die Aufgabe Deutschlands sei, die unzufriedenen Völker Europas zu sammeln. Seiner Meinung nach sollte Ungarn gute Beziehungen zur Sowjetunion ausbauen, um Schutz gegen Rumänien zu finden, die Beziehungen mit Italien seien gegen Jugoslawien auszuspielen, der Tschecho13 Pritz, Plil: Magyarorszag külpolitikaja Gömoos Gyula miniszterelnöksege idejen 1932-1936 (Die Außenpolitik Ungarns während des Ministerpräsidents Gyula Gömoos 1932-1936). Akademiai Kiad6, Budapest 1982, S. 65. 34 Zentrales Staatsarchiv, Potsdam IZStA/, 09.01, Länderabteilung II. Nr. 40 000 Jahresbericht 1932 betreffend Ungarn. Budapest, den 16. Januar 1933.
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slowakei gegenüber müsse Ungarn freundliche politische Beziehungen an Deutschland knüpfen. 35 Ministerpräsident Gyula Gömbös meinte: das alte Ziel werde durch die Ernennung Hitlers nähergebracht, die Freundschaft mit Italien sollte mit den freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland ergänzt werden. Er rechnete damit, daß Ungarn an den Grenzen der Interessensphären von Italien und Deutschland freien Raum im Karpatenbecken findet. Wie er selbst darlegte: im Norden auf Deutschland, im Süden auf Italien gestützt, sollte Ungarn seine revisionistischen Forderungen zur Geltung bringen. Im Sommer 1933 wichen aber die ungarischen außenpolitischen Vorstellungen von den deutschen Bestrebungen erheblich ab. Beim Treffen zwischen Hitler und Gömbös im Juni 1933 war der deutsche Reichskanzler mit den gegen die Kleine Entente gerichteten ungarischen Bestrebungen wohl einverstanden, doch sprach er aus, daß er die Revisionspolitik Ungarns nicht in jeder Richtung fördern könne, auf deutsche Hilfe könnten die Magyaren nur bei Aktionen gegen die Tschechoslowakei rechnen. Deutschland wollte nämlich Jugoslawien und Rumänien durch allmähliche wirtschaftlichen Druchdringung in den Interessenkreis des deutschen Kapitals einbeziehen und dabei die Tschechoslowakei von Frankreich isolieren. Man durfte also noch nicht hoffen, daß die Annäherung zwischen Deutschland und Ungarn zur restlosen Anerkennung und Förderung der ungarischen Revisionsansprüchen führte. Außerdem gelangte Italien - das bei der Verteilung der mitteleuropäischen Interessensphären an den Widerstand von Hitler stieß stufenweise zur Absicht, mit Frankreich eine Übereinkunft zu erzielen. Dadurch schaffte es ungünstige Vorbedingungen für die ungarischen revisionistischen Bestrebungen und für die Realisierung der geplanten Gleichgewichtspolitik. Deshalb meinten die führenden ungarischen Außenpolitiker, das Hauptinteresse Ungarns sei "in guter Gesundheit" auskommen zu können, bis die Zeit für eine Revision reif werde. 36 35
PA AA (B), Pol. Abt. 11. Ungarn, Pol. 2. Bd. 4. Aufz. Draegers, 2.2.1933.
36 Juhäsz, S. 141-142. Über die Bedeutung Ungarns in der deutschen Südosteuropa-Zielsetzungen siehe: Riemenschneider, Michael: Die deutsche Wirtschaftspolitik gegenüber Ungarn 1933-1944. FrankfurtlBern ... 1987., Höpjner, Hans-Paul: Deutsche Südosteuropapolitik in der Weimarer Republik. FrankfurtlBern, 1983., Hillgruber, Andreas: Deutsche Außenpolitik im Donauraum 19301939. In: Die Zerstörung Europas. Frankfurt/Berlin 1988, S. 137-146., Romsics, 19nac: Magyarorszag helye a nemet Del-Kelet-Eur6pa politikäban 1919-1944. (Ungarn in der deutschen Südosteuropa-Politik 1919-1944). In: Budapest, 1992/10. S. 10-39., Broszat, Martin: DeutschlandUngarn-Rumänien. In: Funke, Manfred (Hrsg.): Hitler-Deutschland und die Mächte. Düsseldorf, 1976. S. 524-564., Schröder, Hans-Jürgen: Der Aufbau der deutschen HegemonialsteIlung in Südosteuropa 1933-1936. In: Marifred Funke, ebenda, S. 757-773., Wendt, Bernd-Jürgen: Südost-
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Gömbös vertrat den Standpunkt, daß die allgemeinen internationalen Interessen von Deutschland und Italien mit dem Status quo von Beschützern übereinstimmt, sie müßen also aufgrund der Verteilung der Einflußbereiche übereinstimmen. Den von Mussolini betonten italienisch-österreichisch-ungarischen Block faßte er als ein Gebilde auf, das gegebenenfalls als mitteleuropäischer Verbündeter Deutschlands in Betracht kommen konnte. Während der Verhandlungen in Rom 1934 erkannten Mussolini und Dollfuß, daß Ungarn eine eigenständige Stellung in der Entwicklung der deutsch-ungarischen Beziehungen einnahm. Das Ziel der ungarischen Außenpolitik war auch 1934 die Offenhaltung der Revisionsmöglichkeiten: Grenzrevision, Minderheitenschutz, militärische Gleichberechtigung. Zum ersten Mal ist auch von maßgebender ungarischer Seite ein konkretes territoriales Revisionsprogramm mitgeteilt worden, während es früher der ungarischen Taktik entsprach, von dem Totalitätsanspruch der Heiligen Krone auszugehen und über die konkreten territorialen Ziele einen Schleicher zu decken. Graf Bethlen, Ministerpräsident a. D., bezeichnete in seinen im Sommer 1934 in England gehaltenen Vorträgen als Ziel der ungarischen territorialen Revision: Rückgliederung der mit überwiegend magyarischer Bevölkerung bewohnten Grenzgebiete ohne Abstimmung, Autonomie mit nachfolgender Volksabstimmung für Slowaken und Ruthenen, Volksabstimmung im Banat, Bacska und Baranya, Selbständigkeit Siebenbürgens. Mit dem in der zweiten Jahreshälfte 1934 zunehmenden Druck, dem Ungarn ausgesetzt war, ging ein sehr viel vorsichtigerer und zurückhaltenderer Ton in der Revisionsfrage einher. Selbst Bethlen stellte die territoriale Revision hinter das aktuellere Problem des Schutzes der ungarischen Minderheiten zurück und empfahl eine vorsichtige Politik in der Revisionsfrage, um größere Rückschläge zu vermeiden. Dieser Empfehlung des Grafen Bethlen entsprach auch die Haltung der Regierung. Es wurde am Jahresschluß nach der Genfer Entscheidung im ungarisch-jugoslawischen Konflikt und im Schatten der italienischfranzösischen Annäherung eine sehr viel vorsichtigere Ausdrucksform um die Revision gewählt und der friedliche Charakter der ungarischen Revision sowie
europa in der nationalsozialistischen Großraumwirtschaft. In: "Der Führerstaat" : Mythos und Realität. Stuttgart, 1981. S. 414-427., Ranki, György: Hitler hatvannyolc tärgyahisa 1939-1944. (Hitler's 68 Verhandlungen mit südosteuropäischen Staatsmänner). Budapest, 1983., Vogel, Derlef: Deutschland und Südosteuropa. Von politisch-wirtschaftlicher Einflußnahme zur offenen Gewaltanwendung und Unterdrückung. In: Michalka, Wolfgang (Hrsg): Der Zweite Weltkrieg. München/Zürich 1990. S. 532-550.
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die Achtung vor der Prozedur des Artikels 19 sehr viel stärker betont, als es der inneren Überzeugung entsprachY Ungarn versuchte auch 1934, seine politischen Freundschaften zu Deutschland, Italien und Österreich zu erhalten und auszubauen und Polen neu dazu zu gewinnen. Zu einer Konkretisierung der gegen die Tschechoslowakei gerichteten Tendenz einer ungarisch-polnischen Annäherung kam es dabei nicht. Im Mai 1935 spornte Göring Ungarn an, die deutschen Bestrebungen zu verstehen, er meinte, die Kleine Entente konnte durch einen Ausgleich mit Jugoslawien und eine Konzentration der Kräfte gegen die Tschechoslowakei desorganisiert werden. Im Mai 1935 war eine Annäherung in den deutsch-italienischen Beziehungen zu beobachten. In den ersten Monaten nach der Kriegserklärung gegen Äthiopien - Anfang 1936 - näherte sich Mussolini Deutschland. In seiner schriftlichen Erklärung bestätigte er eigentlich die deutsche Pläne gegen Österreich und die Tschechoslowakei. Im Oktober 1936 wurde ein deutsch-italienisches Geheimprotokoll unterzeichnet, in dem unter anderen festgestellt wurde: "Die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Donaubeckens werden von beiden Regierungen im Geiste einer freundschaftlichen Kooperation behandelt" .38 Der Versuch der ungarischen Außenpolitik innerhalb des italienisch-deutschen Bündnisses auf das Gleichgewicht der Kräfte zu bauen, mißglückte letztendlich. Wegen der dominierenden Überlegenheit Deutschlands konnte von Gleichgewicht keine Rede sein. Deutschland verpflichtete sich gegenüber den ungarischen revisionistischen Bestrebungen in keiner Hinsicht. "Die aktive Außenpolitik" Bethlens nutzte die durch Deutschlands Wiederaufrichtung grundsätzlich veränderte internationale Lage aus. Diese Außenpolitik wurde in Form einer Balancierung zwischen beiden Großmächten fortgesetzt. Eine Zeitlang wurde dieser Außenpolitik etwas Gewicht und gewisse Selbständigkeit beigemessen. Die erhofften Änderungen der internationalen Kräfteverhältnisse beanspruchten kaum anderthalb Jahrzehnte. Die ungarische außenpolitische Konzeption scheiterte aber eben im Moment, als ihr Sieg nah zu sein schien. Nach dem Zustandekommen der Achse war das deutsche Machtübergewicht unter den Achsenmächten schon nicht mehr im Gleichgewicht zu halten.
37 ZStA, 09.01. Länderabteilung H. NT. 40 000, Politische Jahresübersicht 1934 betreffend Ungarn. Budapest, den 11 Januar 1935. 38
Nemetorszäg nemzetközi szerzödesei ... S. 114.
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Inzwischen zeigte die englische Regierung große Gleichgültigkeit den mitteleuropäischen Angelegenheiten gegenüber. Der Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, Robert Vansittart, legte dem ungarischen Geschäftsträger in London dar, daß sich die englische Regierung nicht verpflichten und helfen könne, die Gegensätze im Donaubecken auszugleichen und die Zukunft der hiesigen Völker zu gewährleisten. Der Raum bot für die englische Wirtschaft keine besondere Möglichkeit. In der ersten Etappe der Daränyi-Regierung entfaltete sich in der ersten Hälfte 1937 eine mäßigere Innen- und Außenpolitik. Wiederholt drückte sich folgender Anspruch in den Vordergrund: Ungarn sollte sich im erhöhten Maße auf Italien stützen, bzw. die Verbindung mit England wieder aufnehmen. Die ungarische Regierung wollte wissen, wie hoch die englische Regierung die Toleranzgrenze gegenüber Hitlers Bestrebungen stellte, wie weit Ungarn in der Zusammenarbeit mit den Deutschen gehen durfte, ohne das Risiko eines allgemeinen Konflikts in Europa einzugehen, was eine Existenzfrage des Systems sein konnte. Anfang 1937 bahnte die Kleine Entente auf Englands Anregung und mit Einverständnis der Sowjetunion Verhandlungen mit Ungarn an. Die Verhandlungen führten erst im Sommer 1938 zu dem Ergebnis, daß Ungarn gleiches Recht für die Aufrüstung in dem Bieder Abkommen anerkannt wurde. 39 Bis dahin aber brachte das Jahr 1937 für Deutschland noch mehr Gewinn an Raum. Nachdem Hitler erfahren hatte, daß England nur untätig zusah, stellte er den Anschluß und die Besetzung der Tschechoslowakei auf die Tagesordnung. Im Laufe dieser Aktionen folgte die deutsche Außenpolitik gegenüber Ungarn ein doppeltes Ziel: Ungarn sollte auf die Annexion Österreichs gleichgültig reagieren und eine aktive Rolle im Überfall auf die Tschechoslowakei spielen.
E. Territoriale Zunahmen Ungarns am Vorabend und in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges (1938-1941) Am 13. März 1938 drückte die ungarische Regierung als erste ihre Glückwünsche an Deutschland zur "blutlosen Ausführung" des Anschlusses aus. Österreichs Besetzung entfesselte gleichzeitig Panik und stärkte die deutschfreundlichen Kräfte in Ungarn erheblich. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre parallel zur Festigung des deutschen Machtübergewichts in Mitteleuropa startete jede neue Regierung in Ungarn im Verhältniss zu ihrem Vorgänger mit einem mäßigeren Programm ihre Außen- und Innenpolitik, doch sie ging dann 39
Adam. Magda ...• S. 225.
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später in der Zusammenarbeit mit Deutschland viel weiter, und auch in der Innenpolitik erfolgte eine weitere Verschiebung nach rechts. Dabei spielte eine entscheidende Rolle das von der ganzen ungarischen Elite gestellte grundsätzliche außenpolitische Ziel: die territoriale Revision, die nur im Bündnis mit Deutschland vorzustellen war. Nach dem Anschluß als nächstes Ziel folgte der deutsche Angriff gegen die Tschechoslowakei. Das Projekt "Fall Grün", das die politischen und militärischen Prinzipien des Überfalls auf die Tschechoslowakei festsetzte, hatte die Absicht, Ungarn und Polen durch territoriale Zuwachschancen für den Plan zu gewinnen. Im August 1938 aber - mit Berufung auf die Gefahr eines sich stark ausdehnenden Krieges - lehnte Horthy die Teilnahme an der Zerstückelung der Tschechoslowakei ab, ermahnte sogar Hitler zur Vorsicht. "Ungarn - sagte ich - hat selbstverständlich revisionistische Ansprüche der Tschechoslowakei gegenüber, wir wünschen doch diese Ansprüche mit friedlichen Mitteln geltend zu machen. ,,40 Im September 1938 lehnte er erneut den deutschen Plan ab, einen ungarischen Angriff gegen die Tschechoslowakei zu eröffnen, während Hitler mit den Westmächten verhandelt. Horthy leitete aber den deutschen Wünschen entsprechend eine intensive diplomatische Aktion gegen die Tschechoslowakei ein. Am 22. und 28. September richtete er eine energische Note an Prag, die Rückgliederung der von Magyaren bewohnten Landesteile sowie Autonomie für die Slowakei und die Karpato-Ukraine fordernd. Weitere Schritte hatte er aber nicht getan, dabei wirkte die warnende Note der englischen Regierung auch mit. Die ungarische Regierung beschloß, daß sie anstelle der regulären Einheiten sog. Freischaren einsetzen würde. Die bewaffneten Banden wurden aber verspätet nach der Unterzeichnung des Münchener Abkommens über die tschechoslowakische Grenze gebracht. 41 Aufgrund des Anhanges des Münchener Abkommens vom 29. September 1938 sollten Ungarn und Polen versuchen, auf bilateralen Verhandlungen mit der tschechoslowakischen Regierung die territorialen Probleme zu lösen. Falls während drei Monaten keine Vereinbarung zustande komme, sollten die Probleme vor eine Konferenz gebracht werden. 42 Im Oktober 1938 wurden die tschechoslowakisch-ungarische Verhandlungen ohne Erfolg abgebrochen. Die deutsche Regierung war bereit, zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn zu 40
Horthy, Mikl6s: Emlekirataim (Erinnerungen). Europa-Historia, 1990, S. 211-212.
4\
Juhtisz S. 191.
42
Nemetorszag nemzetközi szerzodesei S. 124.
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vermitteln. Sie sagte aber, daß die ungarischen Forderungen die ethnischen Grenzen nicht überschreiten dürften. Der erste Wiener Schiedsspruch43 wurde nach Verhandlungen zwischen Ribbentrop und Ciano am 2. November 1938 im Großsaal des Wiener Schlosses Belvedere - ohne Mitwirkung von England und Frankreich - verkündet. Im Sinne dieses Schiedsspruchs wurden Landesteile von insgesamt 12.400 km2 mit 1.000.000 Einwohnern (in der Mehrheit Magyaren), mit den Städten Kassa, Ungvar, Munkacs rückgegliedert. 44 Viele führende Politiker des Regimes meinten, daß die Kleine Entente durch die Rückgliederung der Karpato-Ukraine von der Tschechoslowakei und die Herstellung einer gemeinsamen polnisch-ungarischen Grenze schon abgeschafft sei und die so zustande gekommene "horizontale Achse" auch ein gewisses Gegengewicht gegen den deutschen Druck bedeute. Im Herbst 1938 war das größte Hindernis im Wege der Rückkoppelung der Karpato-Ukraine selbst Deutschland. Im Zusammenhang mit antisowjetischen Plänen nämlich rückten Vorstellungen wieder in den Vordergrund, die auf die Herstellung einer "selbständigen" Ukraine gerichtet waren. Dazu könnte eine unter deutscher Führung stehende Karpato-Ukraine als Basis dienen. Da die polnische Mitarbeit auf viel niedrigerem Niveau stand als es geplant war das polnische Außenministerium versprach als Förderung anstelle der geforderten vier Divisionen nur Freischaren, und da auch eine Verzögerung von deutscher und italienischer Seite mitwirkte, war Deutschland gezwungen, die Idee der Besetzung der KarpatoUkraine durch deutsche Truppen vorübergehend beiseite zu schieben. 45 An der Wende von 1938 zu 1939 wollte das von Bela Irnrecty umgestaltete Kabinett in seiner Außenpolitik mit den Achsenmächten enger zusammenarbeiten. Am 24. Februar 1939 schloß sich Ungarn dem Antikominternpakt an, dennoch hatte das deutsche Auswärtige Amt das Besetzungsverbot für die Karpato-Ukraine noch immer nicht aufgehoben. Da die ethnographischen Beweise bei diesem Gebiet völlig unhaltbar waren, bemühte sich der neue Ministerpräsident, Pal Teleki, ein gelehrter Geograph, die Großmächte in erster Linie durch wirtschaftsgeographische und geopolitische Gründe von der Notwendigkeit der Rückgliederung der Karpato-Ukraine zu überzeugen. Durch die Ereignisse in der Slowakei veraniaßt, beschlossen die deutschen Politiker, Ungarn freie Hand in der Karpato-Ukraine zu geben. Am 12. März 1939 empfang Hitler den ungarischen Gesandten in Berlin, Döme Szt6jay, und 4J
Ebenda. S. 126-128.
44 Balogh. S.; Gergely J.; Izsilk L.; Jakab S.; Pritz P.; Romsics I.: Magyarorszäg a XX. szazadban. (Ungarn im 20. Jahrhundert). Budapest. 1985. S. 197.
4S
Juhtisz S. 200-201.
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forderte ihn auf, seine Regierung darüber zu informieren, daß die Tschechoslowakei vor einer Zerstörung stehe. Deutschland werde die Unabhängigkeit der Slowakei anerkennen, der karpato-ukrainischen Regierung werde aber eine gleiche Anerkennung binnen 24 Stunden nicht ausgesprochen. Ungarn erhielt also 24 Stunden für die Lösung der ruthenischen Frage. Am 14. März rief die Slowakei aufgrund einer Vereinbarung mit Deutschland ihre Unabhängigkeit aus. Am 15. März, nach den bei Munkacs und Ungvar provozierten Grenzenzwischenfällen, setzten die ungarischen Truppen zum Angriff an. 46 Binnen kurzer Zeit erreichten sie die polnische Grenze und rückeroberten mit dem Gebiet der Karpato-Ukraine 12.061 km2 , mit rund 600.000 Einwohnern, in der Mehrheit Ruthenen, die Magyaren betrugen rund 40,000. 47 Vom Frühling des Jahres 1939 betrachtete die von Pal Teleki geführte Regierung, die bewaffnete Neutralität des Landes vor Augen haltend, als ihre Hauptaufgabe, Siebenbürgen zu wiedererwerben. Vom Standpunkt der revisionistischen Ansprüche aus wurde Deutschland immer mehr ambivalent, seine Stärke, seine Dynamik dienten auch im weiteren als Basis für Bestrebungen, die sich auf die Veränderung des Status quo richteten. Nach der Unterzeichnung des Münchener Abkommens aber durchkreuzten die Bestrebungen Deutschlands die ungarischen Ansprüche. Die deutsche Außenpolitik versuchte, die ungarisch-rumänischen Gegensätze auszugleichen und die Beziehungen beider Länder zu normalisieren. Anfang 1939 rückte deshalb die Vorstellung in Regierungskreisen in den Vordergrund, die Revision gegenüber Rumänien sollte ohne aktive Förderung Deutschlands, nur auf ungarische Waffen stützend, ausgeführt werden, sobald die internationalen Kräfteverhältnisse es in Mitteleuropa ermöglichen. Obwobl Ungarn im Juli 1939 in einer schriftlichen Erklärung feststellte, daß es in einem allgemeinen Krieg der Politik der Achsenmächte folgen werde, hielt Hitler eine weitere Förderung der ungarischen Revisionspläne für nicht möglich. Anfang September gelang es Teleki, Ungarns bewaffnete Neutralität zu gewährleisten und dem Kriegseintritt auszuweichen: Die ungarische Regierung lehnte nämlich die deutsche Bitte ab, die Kaschauer Eisenbahnlinie für Truppentransporte nach Polen in Anspruch nehmen zu können. Auch später bewies die ungarische Regierung wohlwollende Neutralität gegenüber Polen.
46
Ebenda. S. 212-213.
47
Magyarorszag a XX. szazadban ... S. 202.
7 Timmcrmann
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Die Revision in Siebenbürgen sollte nach dem Programm der Teleki-Regierung noch vor der Beendigung des europäischen Krieges durchgeführt werden. Die Regierung durfte aber ohne deutsche Zustimmung nichts tun. Sie versuchte, die günstigen Änderungen in den internationalen Verhältnissen für eine Revision gegenüber Rumänien auszunutzen. Dazu ergab es eine Gelegenheit schon im Juni, als die Sowjetunion die rumänische Regierung aufforderte, Bessarabien und die Nord-Bukowina zurückzugeben. Nun setzte sich der ungarische staatliche, diplomatische und militärische Apparat in Bewegung. Aber die Befriedigung der territorialen Forderungen hing auch im weiteren von Hitler ab, der im Juli 1940 seinen früheren Standpunkt änderte. Er rechnete damit, daß er im Interesse der ungestörten Ausführung der gegen die Sowjetunion geplanten Truppenbewegungen durch die Befriedigung der ungarischen und bulgarischen territorialen Forderungen gegenüber Rumänien alle Hindernisse in Südosteuropa beseitigen konnte. Er wußte genau, daß er für die Inanspruchnahme der ungarischen Eisenbahnlinien "bezahlend" mindestens partiell auch weitere ungarische Revisionsbestrebungen befriedigen mußte. Für ihn war aber auch Rumänien strategisch und wirtschaftlich äußerst wichtig. Der territorialen Auseinandersetzung zwischen Ungarn und Rumänien wollte er ein Ende bereiten, während er als Gegenleistung für die Rückgliederung erheblicher Landteile die Erlaubnis der ungarischen Regierung zum Durchzug deutscher Truppen verlangte und gleichzeitig aber auch Rumänien, da es auf nicht zu große Gebiete verzichten mußte, nicht entmutigen wollte. Hitler dachte, bei einer partiellen Revision werden weder die ungarischen noch die rumänischen Wünschen erfüllt, um so leichter könnten beide Länder in den Dienst der deutschen Kriegsmaschinerie gestellt werden. Nach den erfolglosen Verhandlungen zwischen Ungarn und Rumänien waren beide Regierungen bereit, das schiedsrichterliche Verfahren unter Mitwirkung von Deutschland und Italien gelten zu lassen. 48 Der Schiedsspruch wurde am 30. August 1940 im Wiener Schloß Belvedere unterzeichnet. 49 Im Sinne des Schiedsspruchs wurden Landesteile rückgegliedert, ihre Größe betrug 43,104 km\ mit 2,4 Millionen Einwohnern, davon waren 1,4 Millionen Magyaren, die übrigen in der Mehrheit Rumänen. In Südsiebenbürgen blieb noch eine erhebliche ungarische Minderheit zurück: 400.000. 50 Durch den zweiten Wiener Schiedsspruch wurden die ungarischen Revisonsforderungen nur partiell befriedigt, aber als Gegenleistung verlangte Deutschland folgendes: Ungarn sollte "felsenfest" an 48
Juhtisz S. 236-237. Rumänien im Blickfeld deutsch-ungarischer Interessenpolitik siehe:
Nebelin, Manjred, Deutsche Ungarnpolitik 1939-1941. Opladen 1989., S. 77-153. 49
Nemetorszag nemzetközi szerzödesei ... S. 150-152.
'0
Magyarorszag a XX. szazadban ... S. 206.
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der Seite Deutschlands bleiben, es sollte Deutschland mit Rohstoffen und Lebensmitteln über die gültigen Verträge fördern und die politischen Organisationen des Ungarndeutschtums gewährleisten, radikale Schritte im Bereich innenpolitischer Reformen und in der Judenfrage, personelle Änderungen im politischen Leben ausführen, sich durch Verträge den Achsenmächten anschließen. Vom Oktober 1940 an wurde Ungarn zu einem deutschen Aufmarschgebiet, dann - gewisse Vorteile hoffend - schloß sich das Land als erstes dem Dreimächteabkommen an. Im Herbst 1940 blieb Jugoslawien das einzige "geöffnete Fenster" für Ungarn, das noch dem Land ermöglichte, gewiße Kontakte mit den Westmächten aufrechtzuerhalten, seine Position gegenüber der Slowakei und Rumänien zu stärken. Obwohl Ungarn vom Dezember 1940 an durch einen Vertrag "der ewigen Freundschaft" mit Jugoslawien verbunden war, zögerte Horthy nicht, Ende März 1941 nach dem Umsturz sich dem deutschen Feldzug gegen Jugoslawien anzuschließen. Als Entgelt erkannte Hitler Ungarns territoriale Ansprüche gegenüber Jugoslawien an. Am 11. April, nachdem die Ustascha in Zagreb das "unabhängige" Kroatien ausgerufen hatten, überschritten die ungarischen Truppen die Südgrenze. 51 Sie besetzten 11.425 km2 (Batschka, das Dreieck in Branau, das Murgebiet) mit über eine Million Einwohnern (davon 60 % Magyaren).52 Die Kriegserklärung Ungarns an die Sowjetunion am 27. Juni 1941 war ein besonderer Fall des Eintritts in einen Krieg. Die Sowjetunion bedrohte Ungarn nicht stärker als die anderen europäischen Großmächte, und zwischen den beiden Ländern gab es keine territorialen Gegensätze. Selbst Deutschland verlangte keine Hilfe von Ungarn, außer der Verstärkung der ungarisch-sowjetischen Grenze. Hintergrund der ungarischen Kriegserklärung war einerseits die seit zwanzig Jahren vorhandene ideologisch-politische Aversion. Führende ungarische Politiker sahen im Krieg gegen die Sowjetunion eine angemessene Gelegenheit, den Bolschewismus zu stürzen, in dem sie auch für die gesellschaftlich-politische Bedrohung ihres Landes eine Gefahr sahen. Anderseits kam ihre traditionelle Revisionsbestrebung in einer indirekten Form zum Ausdruck: da die Rivalen Ungarns, Rumänien und die Slowakei, sich dem deutschen Angriff sofort angeschlossen hatten, versuchte Ungarn, seine nachteilige Haltung durch SI A Wilhelmstraße es Magyarorszag. Nemet diplomaciai iratok Magyarorszagrol 1933-1944. (Die Wilhelmstraße und Ungarn. Deutsche diplomatische Akten über Ungarn 1933-1944). (Hrsg.): Ranki György. Pamtenyi Ervin. Tilkovszky Lorant. JuhQsz. Gyula. Budapest. 1968. S. 574-576.
52
7'
Ebenda. S. 207.
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einen schnellen Kriegseintritt zu modifizieren. Die ungarischen Politiker rechneten damit, daß Deutschland Ungarn im Besitz der zurückgegebenen Gebiete bestärken, ihm sogar weitere Gebiete überlassen würde. Infolge der Ausbreitung des Krieges standen Deutschland und seine Verbündeten bald den drei stärksten Mächten der Welt gegenüber, und der Ausgang des Krieges unterlag keinem Zweifel mehr. Auf der Pariser Friedenskonferenz, die unter Mitwirkung von 21 Siegerstaaten des Zweiten Weltkrieges im Juli 1946 zugammentrat, stellte sich bald heraus, daß die Alliierten Großmächte die Friedensziele der ungarischen Ferenc Nagy-Regierung nicht unterstützten. Das ungarische Projekt zielte gegenüber Rumänien, das auch als "besiegter Staat" an der Konferenz teilnahm - mit Berufung auf den rumänischen Waffenstillstandvertrag, der über die Zugehörigkeit Siebenbürgens nicht entschieden hatte - einen Gebietsanspruch von 22.000 krn2 • Die Siegermächte hatten aber in ihrer gemeinsamen Sitzung vom 5. September 1946 den inzwischen auf 3.000 krn2 herabgesetzten ungarischen Gebietsanspruch abgelehnt und die ungarisch-rumänische Grenze in dem vor dem Zweiten Wiener Schiedsspruch bestimmten Zustand wiederhergestellt.
Internationale und außenpolitische Zusammenhänge der slowakischen Nationalbewegung 1914-1925 Von Milan Krajcovic
Der nationalpolitische und ökonomische Aktivismus in der slowakischen nationalen Bewegung steigerte sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Die Widerspiegelung dessen war das neue Programm der integrierenden politischen Organisation - des Zentralkomitees der Slowakischen Nationalpartei - aus dem Jahr 1913, angenommen bei der Tagung im Zentrum der nationalen Bewegung in Turciansky Sväty Martin und nachher der erste Versuch im Frühjahr 1914 bei der Budapester Beratung sämtlicher politischer Richtungen in der Bewegung - der bürgerlichen als auch der sozialistischen - zur Schaffung einer Dachorganisation der nationalen Bewegung - des Slowakischen Nationalrats. Die Bemühungen um die Lösung der slowakischen Frage im internationalen Kontext äußerten sich vor allem durch das Auftreten der tschechoslowakischen unitarischen Richtung, die von der jungen fortschrittlichen Generation mit V. Srobär, A. Stefänek u.a. an der Spitze durchgesetzt wurde. Das Hauptgewicht lag in der Allianz der unterdrückten Völker Ungarns - der Rumänen, Slowaken, Serben und der ungarischen Deutschen und Ruthenen, die für den Sommer 1914 einen Kongreß der unterdrückten Völker in Wien vorbereiteten, der jedoch durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht zustande kam. Auch die Beratungen mit der tschechischen Vertretung anläßlich der Tagung der Delegationen in Budapest im Jahr 1914 bedeuteten einen ernsten taktischen und strategischen Zug für das gemeinsame Vorgehen im Krieg. Ebenfalls die konzentrierte Aktion der Organisation Ceskoslovenskä jednota (Tschechoslowakische Einheit) in Prag im April 1914, die sämtliche tschechische politische Parteien zUr Herausgabe eines Memorandums gegen die Unterdrückung und zur Unterstützung der Bewegung der Slowaken sowie Rumänen in Ungarn vereinte, war ein Vorzeichen der künftigen politischen Aktion dieser Richtung. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges, im Sommer und im Herbst 1914, gab die slowakische nationale Bewegung, ähnlich wie die Bewegungen übriger Nichtmagyaren in Ungarn eine loyale Erklärung ab und verkündete die Unterbre-
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chung ihrer politischen Tätigkeit (6. August 1914). Zur Zeit des Militärregimes bis zur politischen Diktatur, vor allem in den ersten Kriegsmonaten, als sich in Ungarn die antislawische und hauptsächlich antiserbische Hysterie und eine pogromähnliche Atmosphäre ausbreiteten, kam diese auch in die Städte der Slowakei, wofür die Ausschreitungen in Trnava, Martin u. ä. Beweise waren. Mehr als tausend Slowaken kamen im Krieg in Gefängnisse für die Zugehörigkeit oder auch nur für ihre Sympathien zur nationalen Bewegung, oder aber für die Ablehnung des Krieges. Erst das Protestmemorandum des Vorsitzenden der Slowakischen Nationalpartei Dula an Premier Tisza, am 20 August 1914 während einer persönlichen Audienz überreicht, bereitete dieser Verfolgung der Slowaken in Ungarn teilweise ein Ende. In dieser Situation war es klar, daß sich der Schwerpunkt der slowakischen nationalen Bewegung von der inneren Front ins Ausland, vor allem zur einige hunderttausend Personen zählenden Emigration in den USA und in der ersten Phase des Krieges auch zu den Kreisen der traditionellen Emigration und der Gefangenenlager im zaristischen Rußland verschob. In einem Artikel im amerikanischen Hlas (Die Stimme) vom 11. November 1914 lesen wir: "Wir wollen für unsere Slowakei eine völlige Selbständigkeit." In der Monarchie wurden neben dem integrierenden Zentrum der nationalen Bewegungin Martin, das jedoch bis Frühjahr 1918 passiv blieb (trotz der Tatsache, daß die tschechische Politik l bereits in den bekannten Deklarationen seit 1917 auch im Reichsrat die international-politische Lösung der slowakischen Frage in der tschechoslowakischen Option vorlegte), im Krieg einige Aktivisierungszentren der slowakischen Politik geschaffen. Mehr oder weniger wurden vier Richtungen gebildet: in der West- und Mittelslowakei war dies durch die Herausgabe der slovenske l'udove noviny (Slowakische Volkszeitung), in Bratislava die katholisch-klerikale Richtung (A. Hlinka, F. Juriga), in Ruzomberok, Budapest und später hauptsächlich in Prag war dies die aktive tschechoslowakische Richtung (A. Stefanek, F. Votruba u. a.) und in Wien, mit M. Hodza an der Spitze, die großösterreichische Richtung (deren Organ Slovensky tyzdennik - Das Slowakische Wochenblatt war) mit einer leicht tschecho-slowakischen Lösung. Diese Richtungen integrierten das Zentrum der Slowakischen Nationalpartei in Martin. Während des Krieges stieg schließlich die Bedeutung der Slowakischen sozialdemokratischen Partei mit ihrem Organ 1 Mehr bei Galandauer, J.: Ako sa slovenska otizka presadzovala do ceskeho politickeho programu v obdobi priprav samostatneho ceskoslovenskeho statu (1916-1918). (Wie sich die slowakische Frage im tschechischen politischen Programm zur Zeit der Vorbereitungen des selbständigen tschechoslowakischen Staats (1916-1918) durchsetzte.). In: Historicky casopis, Bratislava (Hel, 1971, S. 177 ff.
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Robotnicke noviny (Arbeiterzeitung) in Bratislava. Die Mehrzahl der slowakischen nationalpolitischen Presse, mit der protschechischen Tageszeitung Slovensky dennik in Budapest an der Spitze, wurde im Krieg jedoch verboten, und kontinuierlich wurde nur Narodne noviny (die Nationale Zeitung) in Martin herausgegeben, um den Preis der Farblosigkeit und von der militärischen und ungarischen politischen Zensur häufig "gebleicht". 2 Bei den Führern der slowakischen Emigration in der Befreiungsaktion während der ersten Etappe des Krieges, als zu Hause die Bedeutung der Tschechoslowakischen Richtung in der nationalen Bewegung stieg, war dies hier jedoch eher in der Minderheit. Die Führer der Emigration in der Leitung der zentralen Slowakischen Liga in Amerika stellten sich durch ihre Memoranden aus den Jahren 1914 und 1915 an die Staaten der Entente eher auf die Plattform der nationalen Identität und gegen die Idee der erfundenen "tschechoslowakischen Nation". Ähnlich war es auch in Rußland, im traditionellen Slovensky Spolok L'. Stura (L'. Srurs Slowakischer Verein) in Moskau mit dem angesehenen Universitätsprofessor Kvacala an der Spitze. Allmählich jedoch gewann die Leitung des tschechoslowakischen ausländischen Widerstandes an Boden, mit Masaryk in London sowie Benes und dem Slowaken Stefänik in Paris an der Spitze, auch organisationsmäßig in den Organisationen der ausländischen Tschechen und Slowaken. Das Cleveland-Abkommen zwischen der amerikanischen tschechischen und der amerikanischen slowakischen Repräsentation aus dem Jahr 1915 für die Verwirklichung des föderalen Dualismus im geplanten nationalen Staat der Tschechen und Slowaken als auch der tschechoslowakische Kongreß in Kiew im Jahr 1916 unter Teilnahme der Delegation der Slowakischen Liga in Amerika mit dem Programm der tschechoslowakischen Gleichberechtigung im künftigen Staat kann als Gipfel dieser ersten Etappe des Emanzipationswiderstandes während des Krieges betrachtet werden. 3 Die ehemalige tschechoslowakische marxistische Geschichtsschreibung stellte über die slowakische nationale Bewegung faktisch nur eine Konzeption der Lösung der slowakischen Frage dar - die tschechoslowakische. Ein Bild dessen sind Serien von Halbwahrheiten in offiziellen Synthesen bis zur Gegenwart. Im 2 Vgl. z.B. die marxistischen Interpretationen: Hronsky, M.: Siovensko za prvej svetovej vojny a vznik ceskoslovenskeho ~tatu 1918. (Die Slowakei im Ersten Weltkrieg und die Entstehung des tschechoslowakischen Staats 1918.). In: HC. 1979, S. 222 ff. Butvin, J.: Domaci narodnooslobodzovaci boj Siovakov za prvej svetovej vojny. (Der heimische nationale Befreiungskampf der Slowaken im Ersten Weltkrieg. In: HC, Bratislava 1984, S. 864 ff. J Mehr bei Krajcovic, M.: Geneza a vyvrcholenie narodnooslobodzovacich koncepcii v revolucii 1918. (Die Genese und der Gipfel der nationalen Befreiungskonzeptionen in der Revolution 1918.) In: Vznik samostatneho ceskoslovenskeho a jugoshivskeho statu v roce 1918, Brno 1990, S. 74 f.
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Ersten Weltkrieg wurden jedoch mehrere Konzeptionen einer staatsrechtlichen Lösung für die Slowakei konkret formuliert und definitiv durchgesetzt, die ihren historischen Hintergrund in der nationalen Bewegung des 19. und des beginnenden 20. Jahrhundert hatten. 4 So bedingte die historische Entwicklung während des Krieges und zur Zeit des Waffenstillstands im Emanzipationskampf die Existenz mehrerer staatsrechtlicher Befreiungskonzeptionen für die Slowakei. Eine jede dieser internationalen Orientierungen und staatsrechtlichen Konzeptionen hatten in der slowakischen Politik, zu ihrer Zeit in der internationalen Politik und zum gegebenen Stand der Entwicklung der militärischen und politischen Situation an den europäischen Fronten ihre realen Aussichten und Höhepunkte, freilich auch eine Auswirkung auf die innenpolitischen Proportionalitäten der Aktivität oder Passivität im Inneren der nationalen Bewegung in der Slowakei. Das bedeutendste Befreiungsprojekt für die Slowakei war das tschechoslowakische, und es trat auch als erstes auf. Dies geschah durch ein öffentliches Auftreten mit dem staatsrechtlichen Programm bei den Landsleuten in den USA schon in den Jahren 1914-1915 (auch in der Kolonie in Warschau im Jahr 1914). Die Slowakische Liga gab zwei Memoranden für die Selbstbestimmung der Slowakei und die erste Landkarte der künftigen Tschechoslowakei heraus, nachdem sie mit der tschechischen Repräsentation in Amerika das sog. Cleveland-Abkommen (1915) über die föderative, gleichberechtigte Stellung beider Nationen im künftigen Staat beschlossen hatte. Das Pittsburg-Abkommen (Mai 1918) dessen feierliche Ausfertigung auch der Präsident der Tschechoslowakei Masaryk unterzeichnete, führte dann diese Konzeption schließlich auch staatsrechtlich zur endgültigen Realisation in der internationalen Politik. Aber seit 1919 gestattete die tschechische Repräsentation diese Abkommen in der Innenpolitik des neuen Staats niemals zur Geltung kommen zu lassen und setzte die unitarische Idee der sog. tschechoslowakischen Nation durch. Die polnisch-slowakische Konzeption der Befreiung der Slowakei hatte ihre Vorkriegswurzeln schon in den Kontakten katholischer Vertreter. Die polnische Variante war pragmatisch scheinbar real in der Hinsicht, daß beide Kriegsblöcke mit der Erneuerung des polnischen Staats rechneten, so daß dieses 4 Butvin, 1.: Vonkajsie otäzky politiky slovenskej maloburzoazie na prelome storoci (1895-1901). (Äußere Fragen der Politik der slowakischen Kleinbourgeoisie um die Wende der Jahrhunderte (1895-1901). In: Ceskosloensky casopis historicky, Praha 1984. S. 546-574. Potemra. M.: Siovenska otäzka v europskom kontexte v rokoch 1901-1914. (Die slowakische Frage im europäischen Kontext in den Jahren 1901-1914). In: HC. Bratislava 1980. S.21O f.
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Bündnis der Slowaken scheinbar als das praktischste erschien. Dem führenden amerikanisch-slowakischen Vertreter Jankola erschienen die Polen den Slowaken gegenüber zahlenmäßig viel zu überlegen, und das gab den Ausschlag. Trotzdem schrieben seit Mai 1915 die österreichischen Diplomaten aus Übersee auch über eine überraschende Bildung der polnisch-slowakischen Konzeption der Befreiung als ein Ziel. Diese Konzeption blieb jedoch nur eine Randerscheinung. Sie hatte im Krieg und während des Waffenstillstands ihre Bedeutung. Es ist bekannt, daß Hlinka die internationale Politik seiner Volkspartei und die autonomistische Aktion für die Anwendung der föderativen Prinzipien des Pittsburg"Abkommens im neuen Staat auf der Friedenskonferenz in Paris verwirklichte. Pilsudski empfing in Warschau schon im Juni 1919 geheim zwei Repräsentanten der Martiner Politik - der Führung der Slowakischen Nationalpartei, wobei einer von ihnen als Jm Mudron identifiziert wurde. Er hatte jedoch kein Verständnis für die Selbstbestimmung der Slowakei, es ging ihm lediglich um ein Bündnis mit Ungarn. Im Lager des Großmächteblocks der Entente (Frankreich, Rußland, England) wurden Initiativen parallel zu den Initiativen des Dreibundes für eine besondere Lösung der slowakischen Frage sichtbar. Der österreichische Generalstab legte der Regierung in Budapest im Jahr 1915 einen Vorschlag zur separaten sprachlichen Lösung im Schulwesen der Slowakei vor. Diese Initiative wurde durch eine ausländische tschechoslowakische Aktion hervorgerufen. Die Regierung in Budapest entsandte Kommissar Kürthy nach Martin, der im Oktober 1915 ein Projekt für ein Abkommen vorlegte. Dieses war aber nicht zufriedenstellend für die Entente, wie sich die Initiative einer staatsrechtlichen Lösung der slowakischen Frage auf der Basis der russophilen Konzeption äußerte. Das war seit den anfänglichen russischen Siegen im Ersten Weltkrieg gegen Ende 1914 und zu Beginn 1915, als die russischen Armeen auch in die Ostslowakei eingedrungen waren. Es handelte sich um das Projekt der Schaffung eines selbständigen slowakischen Staates - des Fürstentums Slowakei unter der Ägide eines Mitglieds des Hauses Romanow. Das Akzeptieren des monarchistischen Prinzips auch in dieser Variante der slowakischen Staatlichkeit war keineswegs ein Zug der Rückschrittlichkeit oder des Konservativismus. Zu jener Zeit war dies in Europa ein überwiegendes Prinzip. Für einen neu entstehenden Staat war die Obhut einer bedeutenden Herrscherdynastie eher eine bedeutende internationale Stütze. Die Befürworter dieser Konzeption der slowakischen Staatlichkeit hatten bedeutende Positionen im traditionellen Zentrum der slowakischen Politik in Martin mit Vajansky an der Spitze inne. Die Initiative ging teilweise von der Regierung Rußlands und vom Verein der Landsleute StUr in Moskau hervor. Dies war indirekt gegen die politische Befreiungsaktion Masaryks im Westen gerichtet, der noch vor dem Krieg wegen seiner Kritik an der absolutistischen
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Regierung (Samoderschawie) zur Persona non grata im vorrevolutionären Rußland erklärt wurde. Dazu kam, daß St. Petersburg vom massenhaften Überlaufen der tschechischen und slowakischen Militäreinheiten überrascht war. Grundlegende diplomatische Urkunden zum Projekt sind erhalten im diplomatischen Archiv in Moskau: Slowazkij wopross vom Juni 1916 und Kvacalas Memorandum an die russische Regierung vom Juli 1916,5 über internationalrechtliche und staatsrechtliche Varianten der Lösung der slowakischen Frage und dem angeblich überwiegenden Interesse um die russische Option an der Slowakei. Es ist noch hinzuzufügen, daß die Konzeption der prorussischen Selbständigkeit der Slowakei nach der Februar-Revolution in Rußland 1917 aus der internationalen Politik vollkommen verschwunden war. Die demokratische Revolution Rußlands bedingte den vollkommenen Sieg der tschechoslowakischen Konzeption im Widerstand. Auch in fachlichen Kreisen wird die hungarophile Konzeption oft vergessen. In den politischen, und das auch in den national fühlenden Kräften in der Slowakei, vor allem in den Schichten des wirtschaftlich höher entwickelten Bürgertums, wurde auch die Emanzipationskonzeption betont - die Konzeption der Umgestaltung Ungarns in einen demokratischen Staat - die sog. Schweiz des Ostens. Ihr Protagonist war noch während des Krieges in der politischen Führung in Martin Jän Mudron, der Sohn des ehemaligen langjährigen Vorsitzenden der Slowakischen Nationalpartei Pavol Mudron, und während des Waffenstillstands BazovskY. Außerdem wurde sie auch durch die Befürchtungen der nationalen Bourgeoisie in der Slowakei vor der vernichtenden Konkurrenz der höher entwickelten tschechischen Industrie im künftigen nationalen, auf der tschechoslowakischen Konzeption gegründeten Staat bedingt. Die Slowakei gehörte zu den industriell am meistenentwickelten Ländern des alten Ungarn. Ähnlich war es mit Böhmen in Österreich, aber Ungarn war viel rückständiger. Seit dem Waffenstillstand, nach dem 13. November 1918, tauchte plötzlich auch eine antitschechoslowakische Konzeption irgendeiner ungarisch-slowakischen Föderation (Archiv des Ministers O. Jäszi in Budapest) auf. Ihre internationalpolitische Bedeutung wurde auf Punkt 17 der Militärkonvention gegründet, unterzeichnet in Belgrad mit Ungarn und die Slowakei administrativ an Budapest bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages bindend, verlor diese jedoch an Realität schon im Dezember 1918. In der Politik der Regierung in Budapest blieb sie jedoch auch weiterhin präsent. Dies alles
S Mehr darüber Krajcovic, M.: Martin ako jedno z centier narodnoemancipacnych hnuti. (Martin als eines der Zentren der nationalen Emanzipationsbewegungen). In: Martin v slovenskych dejimich. Matica slovenska 1986. S. 71.
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rief eine Verlängerung des Befreiungskampfes in der Slowakei im Vergleich zu Böhmen hervor. Die Ausgliederung der Slowakei aus Ungarn war blutig. Die Kämpfe in der Slowakei dauerten noch fast ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Der führende Darsteller der slowakischen Emigration Kirschbaum6 betonte die Notwendigkeit, die westliche Konzeption der internationalen Beziehungen der slowakischen Frage zu bearbeiten. Er wies darauf hin, daß die Slowaken westliche Bildung erhalten haben, und trotzdem bemühte sich die heimische Geschichtsschreibung seit dem Entstehen der CSR in der antideutschen tschechischen Tendenz des Unitarismus, die slowakische Frage immer nur im panslawistischen Kontext auszulegen. Dies fällt uns ein, wenn wir zur Charakteristik einer weiteren Richtung der internationalen Lösung der slowakischen Frage kommen, in der heimischen Geschichtsschreibung ebenso verschwiegen, bzw. verurteilt, und zwar zur groß-österreichischen Richtung, die während des Krieges als die pragmatischste in der Führung der nationalen Bewegung überwog und bis Mai 1918 andauerte, als of-fiziell die vollkommen tschechoslowakische Orientierung verabschiedet wurde. Sie beruhte auf den bedeutenden Traditionen der Vergangenheit, nicht nur der Jahre 1848-1849, sondern vor allem auf den Bindungen seit der neunziger Jahre mit Luegers christlich-sozialer Bewegung und dann auch Hodzas Mitgliedschaft im sog. Kreis Belwedere des Thronfolgers Franz Ferdinand. Die Führung der nationalen Bewegung neigte zu dieser Konzeption aus rein pragmatischen Gründen, einerseits deshalb, weil sie die tschechische Option lange für eine Utopie hielt, und schließlich waren sie für eine großösterreichische föderative Lösung auch wegen des tausendjährigen ungarischen Komplexes in der slowakischen Entwicklung. Noch gegen Ende des Krieges gab es Zweifel über die Tschechen, als Nachrichten über das sudetendeutsche Problem für die Tschechen kamen: Nämlich, daß in der Alternative, wo die Großmächte den Tschechen eine Bedingung stellen würden, entweder die historische Grenze - Böhmen, oder eine Verbindung mit den Slowaken einzugehen, die Tschechen bereit waren letztere zu verlassen. Die Slowaken hatten freilich die großösterreichische Lösung nicht mehr akzeptiert, als am 22. Oktober 1918 bei der letzten Sitzung des Kronrats der Premier Burian in seiner Antwort an Präsident Wilson vorschlug, das Gegenargument mit der slowakischen Frage zu benützen, daß diese keine Verbindung mit den Tschechen wünschten, sie wollten lediglich die Autonomie. Als Zeichen der Loyalität den Habsburgern gegenüber haben die Slowaken die "Große nationale Versammlung" nicht mehr verwirklicht, es war zu 6 Kirschbaum, J.: My~lienka samostamosti v slovenskej minulosti. (Der Gedanke der Selbständigkeit in der slowakischen Vergangenheit). In: Most, Cleveland, 111954, S. 129.
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spät! Die Slowaken konnten zu jener Zeit wegen der Abwesenheit des Mittelstands und der Intelligenz noch keinen eigenen selbständigen Staat bilden. Die optimale Lösung war daher die Verbindung mit den Tschechen. Der Abgesandte Juriga erklärte im Parlament in Budapest am 19. Oktober 1918 im Namen des Slowakischen Nationalrats die Selbstbestimmung für die Slowakei, die Teilnahme an der Friedenskonferenz, und am 30. Oktober 1918 gab der Slowakische Nationalrat in Martin, einhundert Vertreter der Nation, die bekannte Deklaration der slowakischen Nation für eine Verbindung mit den Tschechen in einem selbständigen Staat ab. Die Zeit des Waffenstillstandes in den Jahren 1918-1920 bzw. bis zur Ratifizierung der Friedensverträge in den europäischen Parlamenten im Jahre 1921, d. h. bis zur Überbrückung der internationalen politischen Krise in Mitteleuropa seit dem Jahre 1922, bildete eine international und pOlitisch eigenartige historische Zeitspanne, die in der slowakischen Geschichtsschreibung der Vergangenheit in ihrer Periodisierung vernachlässigt wurde, ja, weitgehend unbekannt blieb. Neben den subjektiven Kräften in der slowakischen Gesellschaft bildete diese Zeit durch ihre international-politisch dualistische Lösung des Schicksals der Slowakei, seiner international-rechtlichen Stellung verschiedener Kombinationen in dieser Richtung, einen objektiv sicheren Raum auch für die dualistische Lösung der slowakischen Frage zur Zeit der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik Die führenden slowakischen politischen Kreise waren jedoch unvorbereitet, schwach und uneinheitlich. Die slowakische Presse in der Emigration schrieb, man hätte mit der Autonomie sofort während des Umsturzes beginnen sollen. In dieser Richtung ist auch die Depesche des Präsidenten Masaryk aus Washington an Minister Bene§ vom 3. November 1918 indikativ, sollte es kein slowakisches Parlament geben, wird es auch keine anderen Landtage geben. 1 Die slowakische Repräsentation teilte sich in zwei Gruppen auf, ein Teil ging, von niemandem beauftragt, nach Prag und ein Teil des Slowakischen Nationalrates in Martin war zu zögernd, oportunistisch und, wie weiter angeführt, auch zu materialistisch, um ein revolutionäres slowakisches Parlament zu gründen, so ein Fait accompli schaffend - ein Gegengewicht zu Prag, ähnlich wie dies die übrigen unterdrückten Nationen des ehemaligen Ungarns machten. Nach dem bolschewistischen Überfall war dies nicht mehr möglich. Es entstand eine Psychose der Angst um die Slowakei. Das Jahr 1919 entschied.
7 Archiv T.G. Masaryka (T.-G.-Masaryk~Archiv), Ustav T.G. Masaryka (Institut des T.G. Masaryk), Prag (ATGM), Francie K 4, Washinton 3.11.1918, "Achtet auf die Parlamente. Gibt es kein slowakisches, gibt es keins." Slovensky narod, Budapest 18.4.1920.
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Paragraph 17 des Belgrader Waffenstillstands der Entente mit Ungarn vom 13. November 1918 überließ Ungarn die administrative Souveränität über die Slowakei bis zum Friedensabkommen, was die nebelhaften Garantien der Allianz an Prag über die Slowakei zweifelhaft machte (Pichons Brief an BeneS vom August 1918). Benes schrieb am 7. Dezember 1918 dem Premierminister Kramar, die Frage der Slowakei sei im Prinzip durch Pichons Brief gelöst. 8 Der politische Kampf um die Korrektur des Belgrader Militärabkommens war freilich langwierig, obwohl die französische Regierung im Rundschreiben an ihre Botschaften vom 29. November das Dokument in einem protschechoslowakischen Geist interpretierte. Noch im Februar 1919, als die Slowakei de facto schon der Souveränität der Tschechoslowakischen Republik oblag, kam aus Paris eine Note nach Budapest, daß sich das Belgrader Militärabkommen lediglich auf die Balkanfront beziehe. 9 Zur Zeit des Friedensvertrags von Trianon stand die innere dualistische tschecho-slowakische nationale Befreiungsbewegung auf ihrem Höhepunkt. Die slowakischen Repräsentanten im Ausland, vor allem Stefänik, Markovic, Osusky u. a. wurden sich dessen bewußt, daß es von äußeren taktischen internationalen Gründen wichtig sei, das slowakische Subjekt international zeitweise zu unterdrücken, damit die Wilsonsche Konzeption der Selbstbestimmung und der Vereinigung der Nationen (daher die zwei Äste der Tschecho-slowakischen Nation) voll zur Geltung komme. Sie hielten es nicht für möglich, die Frage der Föderation bei der Friedenskonferenz zu lösen, um den Vertretern der alten staatsrechtlichen Ordnung in Mitteleuropa keine Argumente in die Hände zu geben, nämlich die Eingliederung der föderativen Einheit der Slowakei in eine breitere mitteleuropäische Konstellation, die aus verschiedenen Gründen für die slowakische nationale Identitätskonzeption nicht so optimal gewesen wäre wie die tschechoslowakische Option. Auch in der realisierten internationalen Rechtslinie der territorialen Ausgliederung der Slowakei ist im Grunde während des Ersten Weltkrieges und des Waffenstillstands in den Jahren 1918-1921, im Prozeß der Vorbereitung und der Konstitutierung des neuen Staats der Tschechen und der Slowaken das dualistische Prinzip immer gegenwärtig geblieben, was sich auch in der offiziellen Benennung auf der Friedenskonferenz und in den Urkunden der Weltdiplomatie - Tschecho-Slowakei - widerspiegelte, bzw. auch dadurch, daß die Frage der Autonomie, der Staatlichkeit der Slowakei in der internationalen Politik aktuell blieb und nicht einmal durch den Friedensvertrag von Trianon mit Ungarn unterging. Prag hat die unitarische Konzeption 8
Archiv des Nationalmuseums Prag (ANM), Pz.K.Kramara, K 6.
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Hadtörtenelmi levelrar, Fegyverszüneti bizottsäg, Budapest, Dobosz 5, Budapest 11.2.1919,
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auch im neuen Namen des Staates durch die zentralistische Verfassung vom 29.2.1920 definitiv durchgesetzt. In diesem Zusammenhang sind wir der Auffassung, daß die Entwik-klung der Ereignisse in der Slowakei im Jahre 1919, die Einführung der Militärdiktatur und die militärischen Auseinandersetzungen mit der ungarischen bolschewistischen Armee die dualistische Konzeption der Lösung des tschecho-slowakischen Verhältnisses nicht nur innenpolitisch, sondern auch international bedingt haben. Logisch ergab sich eine neue Atmosphäre hautpsächlich in den herrschenden staatsbildenden Kreisen. Die Psychose der Bedrohung der Republik von der Slowakei her zerschmetterte die Chancen für eine dualistische Lösung, ja auch nur für eine theoretische Einführung des dualistischen Prinzips in der Legislative, wie dies die Delegationen der amerikanischen Slowaken forderten. Trotz der Tatsache, daß durch die Stabilisierung des zentralistischen Regimes und der Militärdiktatur in der Slowakei die innenpolitische Raison d' etre für einen Kampf für die dualistische Konzeption dahinschwand (die Inhaftierung des Führers der Opposition Hlinka wegen einer Reise zur Friedenskonferenz nach Paris), wurde die Frage nach internationalen Garantien für eine Autonomie, bzw. Staatlichkeit der Slowakei in der Weltpolitik nicht verschwiegen. Dazu bringen wir eine Reihe diplomatischer Dokumente. Es sei auch auf das Überleben alter Vorstellungen zur Frage des dualistischen Prinzips der Entstehung der Tschecho-Slowakei aufmerksam gemacht, nämlich der Bilder aus der Literatur der Zwischenkriegszeit, die vorwiegend publizistischen und glorifizierenden Charakters zweier führender Persönlichkeiten waren und nachher auch jener der marxistischen, normalisierenden Geschichtsschreibung, die die antidualistischen Konzeptionen zu noch größeren Verzerrungen weiterführte. Erst jetzt eigentlich kommt die Zeit der wirklich wissenschaftlichen Auswertung der Problematik der Befreiung der Slowakei. Die Dachorganisation der Slowaken in Amerika, die Slowakische Liga (Slovenska liga) wurde im Namen der Nation schon auf Grund des aus Martin, dem Zentrum der nationalen Bewegung, 1906 abgesandten Memorandums beauftragt zu verhandeln. Dies ist eine der grundlegenden Korrekturen der negativen Wertungen des Cleveland- (1915) und des Pittsburg- (Mai 1918) Abkommens in der unitarischen Geschichtsschreibung über die föderative Regelung des zukünftigen nationalen Staats der Tschechen und der Slowaken. Dann wurde in die amerikanisch-slowakische Repräsentation ein Teil der Repräsentation der heimischen slowakischen Intelligenz zum zeitweiligen Mitwirken entsandt. Weiter war eine subjektiv überwiegende Mehrheit der slowakischen politischen Kräfte während des Widerstands als auch knapp vor sowie nach der Martiner Deklaration (vom 30.10.1918 für die Selbstbestimmung der Slowakei in der Tschechoslowakischen Republik) für ein\! Autono-
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mie. So sandte einer der Verfasser einer der Varianten der Deklaration, Stodola, an den Vorsitzenden der Slowakischen Nationalpartei, Dula, am 26.10.1918 Unterlagen aus Budapest (freilich per ungarische Amtspost!) und benutzte die Formulierung: "Die sehr bedeutende Frage - die Frage der Autonomie im Rahmen des zukünftigen Gebildes kann nicht umgangen werden". Außerdem forderte sein Bruder, Kornel Stodola, aus Wien am 17.10., Dula solle sich die Autonomie von den Tschechen bestätigen lassen. Zoch, der Verfasser der Deklaration, schreibt am 24.10. an Dula, er stimme mit Stodolas Text überein, d. h. er trete für die Autonomie ein. Prag wich in Richtung Autonomie nach der Martiner Deklaration zurück. Ich nehme an, dies geschah mit Rücksicht auf die immer häufigeren Kontakte der Mitglieder des slowakischen Nationalrats mit Kärolyis Regierung in Budapest. Dula schickte am 23. 11. 1918 seinerseits an die auf der nationalidentifizierenden Platt-form stehenden Mitglieder des slowakischen Nationalrats ein Rundschreiben, in dem er u.a. schreibt: " ... als ich über unsere Autonomie mit den entscheidenden tschechischen Leuten verhandelte, versprachen diese, die Slowakei würde die volle Autonomie erhalten ... die autonomen Rechte würden unter die Kompetenz des Landtags fallen ... ". 10 Die slowakische amerikanische Repräsentation sah die Garantien des Pittsburg-Vertrags auch darin, daß Masaryk die kalligraphische Urkunde des Pittsburg Vertrages schon als gewählter Präsident unterzeichnete. Auch die tschechische amerikanische Repräsentation forderte von Prag die Bestätigung des Prinzips bona fide, auf Grund dessen sie ihrerseits den Pittsburg-Vertrag unterzeichnete und die Autonomie der Slowakei unterstützte. Zum Nichtzustandekommen des slowakischen Staatswesens: Die Autonomie wurde in erster Reihe von der Schwäche der slowakischen Politik, der traditionellen Uneinigkeit ihrer Repräsentanten und der staatsrechtlichen Nichtvorbereitung verursacht. Die Polen warfen den Slowaken vor, 11 daß sie traditionell die Schaffung einer starken Organisation und die staatsrechtlichen Fragen vernachlässigten. Wie neue Nachforschungen beweisen, war der größte Mangel bei den heimischen Politikern jedoch nicht der Opportunismus, der Alibismus und engstirnige materielle Interessen, die es ihr nicht ermöglichten, von Anfang
10 Litenirny archiv Matice slovenskej v Martine (Literaturarchiv der Matica slovenskä in Martin) (LAMS), Fond SNR, 94 K 5, 94 K 31, 94 E 54,. Stämy slovensky ustredny archiv Bratislava (Das Slowakische staatliche Zentralarchiv Bratislava). Fond S. Zoch. 11 Slovensky närod (Die slowakische Nation), Budapest, 21.3.1920. Nr. 31, Tragedia Slovenska, o c1anku Glosu Naroda 0 ceste A. Hlinku do Pariza (Die Tragödie der Slowakei, über den Artikel im Glos Naroda von A. Hlinkas Reise nach Paris).
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an einen konsequenten Standpunkt für die Autonomie einzunehmen. Im Ersten Weltkrieg war die Führung in der Slowakei auch über die ausländischen Vertretungen gut informiert, und deshalb war die sog. Passivität zielbewußt. Vor allem war Dula imstande, sich den verschiedenen Aktionen der Regierung für ein aktives Auftreten während des Krieges und dem Vorlegen von Forderungen zu widersetzen. Diese, um nicht vaterlandsverräterisch gegen Ungarn zu erscheinen, hätten freilich den ausländischen Widerstand kompromittiert. Darüber gibt es Materialien auch aus der deutschen Diplomatie, wobei selbst Berlin einen Druck ausübte, um die Regierung in Budapest die Slowaken durch Konzessionen gegen eine Auslandsaktion für ein Auftreten gegen die Entente zu gewinnen. Dies gehörte zum Positiven der Martiner Führung. Es gibt jedoch ernste Indizien, daß sie aus engstirnigen Interessen, aus Angst um ihre Stellung als Führer des Volkes heraus sogar gegen die Führung der Slowakischen Liga protestierte, daß sie im Namen der Nation Verträge abschloß, da dazu die heimische Führung angeblich berechtigt sei, d. h. es ging um die Reaktion auf den Cleveland-Vertrag vom 22. Oktober 1915 über einen föderativen gemeinsamen Staat. Ein solcher Brief eines Landsmannes befindet sich in Masaryks Archiv. Ähnlich ernst belasten die Vertreter der Slowakei auch die Anschuldigungen seitens der slowakischen Emigrationspresse, diese hätten aus eng materiellen Interessen ihre Kenntnisse über den Pittsburg Vertrag verheimlicht und seien nicht gleich vom Anfang an gegen Srobär, dem diktatorischen Minister für die Slowakei, und für die Autonomie aufgetreten. Diese Anschuldigungen hatten ihren Ursprung in gut informierten sozialistischen Kreisen. 12 12 ATGM Anglie K 10, Gagtown vom 1.11.1915. Der Landsmann Michal Miklovic schreibt an Masaryk, "Heute kursieren die Nachrichten, es solle die so lange verlangte Tschecho-Slowakische Selbstverwaltung (d. h. Selbständigkeit M.K.) in Europa geben. Die amerikanischen slowakischen Patrioten möchten ein religiöses System haben, damit wieder nur sie sich ergötzen können, und dem Volk möchten sie wieder endlose Versprechen geben. Aus Budapest und aus Martin hat man ihnen schon eine Nachricht geschickt, sie brauchen nicht zu befürchten, daß die nationale Politik ohne sie gemacht werde. Auch Sie, Professor Masaryk, werden sie nicht anerkennen ... ". Siovensky narod, Nr. 30,21.4.1921, der Leitartikel Na polceste (Auf halbem Wege) ..... wenn sie es verheimlichen, dann sagen sie nicht die Wahrheit, die Führer der Nationalen Partei, daß sie nicht schon von Anfang an vom Pittsburg-Abkommen wußten, aber nicht einem ist es eingefallen, Srobar öffentlich aufzufordern, er möge bekennen, was er von diesem Abkommen halte. Er schwieg und mit ihm auch die Führer der Nationalen Partei, die sich damals größere Sorgen darüber machten, wo sie ihren Sohn als Gespann oder ihren Bruder als Berater ... unterbringen könnten ... ". Schon ein Jahr früher und noch schärfer in Siovensky narod, am 2. 2. 1920, brachte diese Artacke der Sozialist Milan Strba auf Grund der Artikel über soziale Gleichheit und in der Wiener Freie Presse: " ... Hodza und Vo haben in der Vergangenheit verbreitet, so wären Panslawen, damit Onkel Duchaj von Bobrinski Rubel bringen möge ... Mit dem nahenden Umsturz wandten sie sich an Prag, wenn sie noch vorher über die tschechischen Brüder loszogen, daß diese ohne sie und ohne sie auch nur zu fragen, das Pittsburg-Abkommen abgeschlossen haben, wie sie sich anschickten, sich dagegen zu stellen, dann ihnen jedoch austrägliche Plätze schenkten ... " Auch F. Peroutka variiert in seinem Werk den Gedanken, daß nicht die Tschechen, sondern die slowakischen Regierungsvertreter den straffen Zentralismus auf dem Gewissen hätten.
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Schließlich wurde die slowakische Politik während des Krieges positiv hervorgehoben auch durch eine neuentdeckte Angabe, die Benes bei seiner Ankunft in die Emigration anführt. Im Memorandum an die Führungen der Landsleute in Rußland als auch in Amerika behauptet er über seine Mission, daß seine Entsendung aus der Heimat nach einem Abkommen auch mit slowakischen Politikern erfolgte, die mit dem Programm der ausländischen Aktion einverstanden waren. 13 Diese Behauptung von Benes war von besonderem Gewicht für die Landesführung in Rußland, da in den Jabren 1915-1916 dort mehrere Dokumente der Führung russischer Slowaken für eine dualistische Lösung entstanden (das Kiewer-Manifest Unser Ziel, die Moskauer Grundsätze der Slowaken in der tschecho-slowakischen politischen Aktion, und sogar für eine selbständige Slowakei mit prorussischer Orientierung [Memoranden des Prof. J. Kvacala] u.a.).14 Der international politische und militärische Prozeß des Anschlusses der Slowakei an den erneuerten historischen tschechischen Staat verlief auf dualistischer Ebene. Die konkreten militärpolitischen Verhältnisse während des Waffenstillstands in Miueleuropa und die überwiegenden Interessen der Siegermächte führten zur Durchsetzung des zentralistischen Regimes auf der Grundlage der Durchsetzung der Staats idee der Fiktion der tschechoslowakischen Nation (siehe Artikel in der Ber-liner Morgenpost vom 19. August 1918 "Eine erfundene Nation"). Andererseits wurde in dieser Richtung auch die Entscheidung der slowakischen Nation in der demokratischen Revolution (die Resolution der Versammlung in Liptovsky Mikulas vom I. Mai 1918 und das Memorandum von Martin) für ein gemeinsames, aber gleichberechtigtes Zusammenleben mit der brüderlichen tschechischen Nation mißbraucht. Unter diesen Umständen verlief bei der Selbstbestimmung der Slowakei nicht das klassische Modell des internationalen rechtlichen Schemas bei der Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechts der Nation, wie dies die übrigen benachbarten Nationen taten, als die Bürger zeitweilig eigene autonome Regierungen und Parlamente bildeten, bis es allmählich zur Unifizierung kam (so z. B. in Ungarn die Jugoslawen, Rumänen, Ukrainer, Deutschen). Dies verhinderten zum Teil 13 ATGM Anglie K 1 VIII-7, E. Bend, Pripis Svazu do Ruska, Pariz prosinec 1916 (Schreiben des Verbandes nach Rußland, Paris, Dezember 1916), "mit den Slowaken hat unser Prager Komitee einige mal verhandelt und wir bekamen im großen und ganzen die Billigung für unsere Auslandsarbeit. Wir brauchten daher einen bedeutenden Slowaken im Komitee ... durch seine großen Fähigkeiten, sein großes Ansehen in Frankreich, war Milan R. Stefänik dafür prädestiniert". 14 Mehr darüber Krajcovic. M.: Geneza a vyvrcholenie närodnooslobodzovacich koncepcii v revolucii 1918 (Entstehung und Höhepunkt der nationalen Befreiungskonzeptionen in der Revolution 1918). In: Vznik samostatneho ceskoslovenskeho a jugoslävskeho stätu v roce 1918. Brno 1990. S.
73f.
K Timmcrmann
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die militärischen Operationen in der Slowakei, aber auch die Realisierung eines schwachen Fait accompli durch die Prager Regierung mit einer militärischen Besetzung der Slowakei. Die internationale Aktualisierung der slowakischen Frage, der Autonomie und der Staatlichkeit wurde natürlich von der ungarischen Regierung stark angespornt, und sie mißbrauchte auch das Programm der slowakischen nationalen Identität und der Staatlichkeit. Es ist bekannt, daß die sog. staatsbildende, d. h. die offizielle Propaganda in der Tschechoslowakischen Republik den Stimmen für die Autonomie ein Anhängeschild des "Magyarentums" verlieh. Da es in der Slowakei eine strenge Zensur und seit März1919 auch eine Militärdiktatur gab, war die heimische Öffentlichkeit über den ausländischen Aspekt nicht so gut informiert, wie wir dies heute aus den Zeitschriften der Emigration jener Zeit erkennen können. Wegen der Einstellung Prags zur Autonomie begann dann paradoxerweise die ungarische Regierung diese Karte auszuspielen, und A. Apponyi ging als Chef der ungarischen Delegation Anfang Januar nach Paris zur Friedenskonferenz mit dem Gesetzentwurf über die Autonomie der Slowakei, den die ungarische Regierung am 7.1.1920 annahm. 15 In der Fachliteratur wird er überhaupt als ein Gesetz der breitesten Autonomie in der ungarischen Geschichte gewertet. Dieser Entwurf war nicht ernst gemeint. Dies stellte einige Wochen später selbst Jehlicka, der promagyarische slowakische Exponent in der Emigration fest. Daher ging er nach Polen, um dort für einen selbständigen slowakischen Staat mit der Orientierung auf Polen 16 zu agitieren (Gazeta Warszawska, 7.1. 1920. Programm für die Selbständigkeit der Slowakei. Von F. Jehlicka). Die ungarische Delegation nutzte in Paris die Fehler Prags in der slowakischen Frage geschickt aus. So fügte sie z. B. den offiziellen Dokumenten der Friedenskonferenz ihre eigenen Noten bei, wo sie die Entlassung Hlinkas aus dem Gefängnis und seine Aufnahme in die Friedensdelegation (d. h. die ungarische) verlangte. Sie übersetzte und legte der Konferenz als Note Srobärs Promemoria den amerikanischen Slowaken vor, in denen er begründete, warum in der Slowakei die Autonomie nicht sofort sein könne. Dabei ähnelten die Begründungen Apponyis gegen das Pittsburger-Abkommen in Paris auffallend den
15 Ein ungarischer Autonomieentwurf für die Slowakei (vom 7. Jänner 1920). In: Nation und Staaat, Wien, Jahrgang H, 1928129, S. 703 f.
16 Kovacs. E.: Magyar-Iengyelkapcsolatok a ket vilaghaborU között. (Die ungarisch-polnischen Kontakte zwischen den zwei Weltkriegen). Budapest 1971. S. 63 f. Chab. v.: Andrej Hlinka, Praha 1924, S. 138 f. Delik. L.: Hra 0 Siovensko (Das Spiel um die Slowakei), Bratislava 1992. Ebenfalls Bartiova. A. He 1972 S.363 f.
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Argumenten seiner Widersacher von der anderen Seite, d. h. von Prag. 17 Andererseits vereitelte der amerikanische Slowake Stefan Osusky im Namen der tschechoslowakischen Delegation die Bestrebungen der amerikanischen Slowaken der Delegation, A. Hlinkas u.a. nach der Einreihung des Pittsburg-Abkommens in die Dokumenten der Friedenskonferenz. Aus der Sicht der oben angeführten Prämissen, die in dieser konfusen internationalen Situation aufkamen, konnte noch im Februar 1919 der englische Botschafter in Bern l8 seine Ansicht verbreiten, daß sich England bei der Friedenskonferenz angeblich für die Wiederherstellung Ungarns in der Form eines föderativen Staats mit der Slowakei und mit Siebenbürgen einsetzen werde. Dann erfolgte der bolschewistische Umsturz in Budapest, die militärischen Operationen, die Besetzung eines bedeutenden Teils der Slowakei, die Niederlage der Bolschewiken als auch die rumänische Besetzung von Budapest und dadurch ein neues militärisch-politisches Zeitalter in diesem Teil Europas. Auch vom Gesichtspunkt der Widersprüche hinsichtlich des internationalrechtlichen Anspruchs der Stellung der Slowakei trat die Frage des Plebiszits in den Vordergrund, die auch zur letzten Waffe der Propaganda der Integrität Ungarns als auch der ungarischen Delegation in Paris wurde, aber geben wir es zu: Auch der Hoffnung eines Teils der slowakischen Autonomisten, die vor allem in der Emigration auf einer unbestimmten Grenze des Patriotismus standen, der slowakischen Identität und der Staatlichkeit, des Plonophilentums, Hungarophilentums bis "Magyaronentums". Bei der Bewertung dieses Phänomens wird in der kommenden Forschung mehr Einfühlungsvermögen nötig sein als bisher (die bekannten einseitigen Bewertungen J. Kramers). Für eine klare Abgrenzung dieser Bewegung herrschte damals in Mitteleuropa zu viel Verwirrung. Trianon war ein Markstein. Nach dieser Zeit stand die Emigrationspolitik der Gruppe um Jehlicka bereits eindeutig im Solde Budapests. Hlinka distanzierte sich bereits während seiner Haft von den Aktivitäten Jehlickas im Ausland. In einem Interview aus dem Gefängnis äußerte er sich 17 Archiv Jugoslavije (Archiv von Jugoslawien), Belgrad, Fond Delegacija Kraljevina SHS na Mirovnoj konferencije u Parizu 1919-1920., FSC 69,28,20 Die ungarische Note XXIII, Annexe 13, Srobar 0 auton6mii Slovenska (Srobar über die autonomie der Slowakei).
18 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn (PA AA)R 8868 Bern 25.2.1919. Zum Aussagewert der deutschen diplomatischen Quellen, die Prag sicher nicht freundschaftlich zugeneigt waren: Wie üblich führt jede geheime diplomatische Relation die Glaubwürdigkeit ihrer Quelle an, und besonders in Prag hatten sie ihre Konfidenten in den höchsten Regierungskreisen. Eine breitere Bewertung bringt M. Alexander in seiner Edition, Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag, Teil 1. 1918-1921. München-Wien 1983. Ebenfalls in seiner Studie im Sammelwerk zum Kirschbaum-Jubiläum, Slovak Politics, Cleveland-Rome 1983: Slovakia in the Files of the German Foreign Office 1918-1921, S. 69-155.
8"
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einem Redakteur der Prager Zeitschrift Cas (Die Zeit) gegenüber, daß bei der Übergabe des Memorandums für die selbständige Slowakei an die amerikanische Delegation in Pest, Jehlicka nicht beauftragt gewesen (also nicht von der Slowakischen Volkspartei) sei. Er handelte daher für seine eigene Person. Und das, obwohl Srobär im unveröffentlichten Teil seiner Memoiren aus dem Jahre 1919 anführte, daß Hlinka mit der emigrierten Fraktion seiner Volkspartei, mit Jehlicka und der autonomistischen Gruppe in Polen in Verbindung stand (Unger, Mnohel' und Co.) durch einen gewissen Jurenda. Auch das Organ der Volkspartei Sloväk [Der Slowake] sprach sich am 17.1.1920 für einen selbständigen Staat aus l9 • Anläßlich der Gründung des Slowakischen Nationalrats im Exil in Krakau im April 1920, bei der Proklamierung des selbständigen slowakischen Staats und der Bildung einer provisorischen Regierung mit Jehlikka an der Spitze am 25.2.192, wies Hlinka öffentlich in einem Interview auf die Unterschiede zwischen seiner Politik und der Politik der Emigration hin, als er seine Politik im Unterschied zu jener von Krakau als die Politik der allmählichen Schritte zur Erlangung der Autonomie im Rahmen der Tschechoslowakischen Republik bezeichnete. 2o Die deutsche Diplomatie bewertete die Proklamierung der selbständigen Slowakei im Exil ebenfalls nur als Symbol und unterstrich, daß das Volk in der Slowakei nichts mehr als eine Autonomie im Rahmen des bestehenden Staats verlangte. Trotzdem, wie aus den zitierten diplomatischen Quellen ersichtlich ist, waren auch diese Aktionen für die ausländische Presse ein weiterer Anlaß, sich mit der slowakischen Frage, der Frage der Autonomie der Staatlichkeit der Slowakei, zu befassen. Wie wir aus der Erforschung des Archivs der deutschen Diplomatie sehen, ist in diesen Quellen die Frage nach den Aussichten und den Vorbereitungen eines Aufstands in der Slowakei für deren Loslösung von der CSR sehr oft genannt, was in den Schriften vor allem J. Kramer recht einseitig bewertete. In der ungarischen Literatur befaßte sich damit fundiert die Monografie von E. Kovacs und bei uns L. Deäk. 21 Auch im neutralen Haag herrschte in den diplomatischen Kreisen die Überzeugung,22 daß sich die Bevölkerung der Slowakei im Falle einer Volksbefragung "lieber für eine selbständige Republik entschließen würde". Hier möchte 19
LAMS, Fond V. Srobar, Handschrift der Memoiren aus dem Jahre 1919,173 MI. S. 56.
20
Siovenky narod 3.19.6.1921, Boj Hlinku
0
Augon6miu (Hlinkas Kampf um die Autonomie).
21 Kovacs, E.: op.cit .. S. 22f. PA AA Bonn. R 8870. Wien 14.10.1919. Ganz geheim, über die Verhandlungen in Wien zur Vorbereitung des Aufstands.
" PA AA Bonn. R 9091, Böhmen, Haag 28.1.1919. Bericht auf Grund von Informationen des Korrespondenten in Ungarn aus Nieuwe Ronerdamsche Courant vom 25.1.1919.
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ich meine persönliche Ansicht betonen, daß ich nicht überzeugt bin von der Effektivität eines Plebiszits für die Geltendmachung der Autonomie der Slowakei schon zur Zeit des Waffenstillstands. Aber durch die Eingliederung des Pittsburg-Abkommens in die Verfassung hätte die Frage der Autonomie legislativ gelöst und deren Geltendmach-ung in der Praxis um 5-10 Jahre verschoben werden können. Diese Standpunkte vertrat schließlich auch die Slovenska liga (Slowakische Liga) in Amerika, und selbst Hlinka im Gespräch mit Srobar und mit Präsident Masaryk trat für diese Lösung ein. Der Slowakische Nationalrat in Martin als ein zentrales revolutionäres Organ der Selbstbestimmung und der Autonomie der Slowakei beging den Fehler, die staatsrechtliche Initiative jener Gruppe zu überlassen, die eigenwillig nach Prag ging und dort ein zweites Machtorgan der Nation und eine Repräsentation für die Slowakei gründete. Die deutschen Diplomaten haben diese Gruppe, den slowakischen Klub in der Nationalversammlung in Prag treffend als "hochbezahlt" , d. h. als gekaufte slowakische Darsteller bezeichnet, wobei nur drei bis vier davon wirkliche Vertreter der Nation waren, und zu einem Drittel setzte sich dieser Klub aus tschechischen Slowakophilen zusammen. Die Konzeption der nationalen Identität beim Umsturz und der Gestaltung der Stellung der Slowakei in der internationalpolitischen und militärischen Krise wurde daher von Verhandlungen und Auftritten sowie den Kontakten des Slowakischen Nationalrats und Hodzas mit Karolyis Regierung gebildet. Das Legitime dieser Autonomität verliehen der slowakischen Politik die §§ 17 und 3 des Belgrader Waffenstillstands. Weiter waren dies: Hlinkas Mission zur Friedenskonferenz nach Paris, die Kontakte des Slowakischen Nationalrats und dessen Mitglieder mit den Deutschen in Ungarn (Brandsch und die Abkommen mit den Zipser Deutschen und der Preßburger Gruppe), mit den Rumänen, mit den Jugoslawen, den Ruthenen, mit Warschau, die Aktionen der amerikanischen slowakischen Repräsentation bei den Regierungskreisen der USA und auf dem internationalen Feld für die slowakische Autonomie und Staatlichkeit, das Pittsburg-Abkommen und für die gegenwärtige Exilliteratur auch die gesamten Aktivitäten Jehlickas in Wien, Ungers und Co. in Krakau, für mich jedoch lediglich einige ihrer Memoranden und das auch mit Vorbehalt nur bis Trianon. Der freiwillige Rückzug des Slowakischen Nationalrats von seinen Positionen zugunsten der tschechoslowakistischen Vertretung war vom Gesichtspunkt der globalen geschichtlichen Perspektive der tschecho-slowakischen Beziehungen nicht richtig, obwohl er vom Gesichtspunkt der realen Situation der slowakischen pragmatischen Politik der kurzfristigen Ziele der Stabilisierung der Situation der Slowakei, die Einführung der Diktatur inbegriffen, eine positive Auswirkung hatte.
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Trotz der Unterdrückung ausdrucksvollerer Äußerungen für eine Autonomie in der öffentlichen Meinung der Slowakei während des Ausnahmezustands kam man noch im November 1919 bei Geheimverhandlungen der Politiker Österreichs und Deutschlands in Wien zum Schluß, daß "die Tschechen vor der Selbständigkeit der Slowakei Angst haben! ,,23 Ein weiterer bedeutsamer Beweis über die bestehende Kontinuität der Ansichten in der Diplomatie über die dualistische Lösung des Geschicks der Slowakei als eines internationalen Problems ist ein durch meine eigene Forschung entdeckter Bericht eines deutschen Informanten aus der Kanzlei des Präsidenten der Republik Masaryk. Die deutsche Politik hatte ihre Informanten in beiden Zentren der Politik der Regierung in Prag und in Paris. Der Informant aus der Präsidentenkanzlei machte auf einen Brief aus Paris von BeneS an Masaryk aufmerksam. Er warnte, daß die antitschechische Bewegung in der Slowakei bei der Friedenskonferenz in Paris für Prag einen sehr ungünstigen Eindruck hervorrufe und schwere Folgen haben könne. Den Worten des Informanten zufolge kommentierte Masaryk diesen kritischen Widerhall der Entwicklung in der Slowakei: "Er beurteilt die künftige Entwicklung der slowakischen Frage sehr pessimistisch" .24 Einem weiteren diplomatischen Bericht zufolge "vereitelt" die Regierung in Prag "mit allen Mitteln Informationen ins Ausland über die wirkliche Lage in der Slowakei und verfälscht die Pressenachrichten systematisch" .25 Die Militärzensoren in der Slowakei strichen Stellen in den Zeitungen gerade aus diesem Aspekt. Minister Houdek schrieb vertraulich an Srobär: "Ich bin überzeugt, daß, wenn die Tschechen so weitermachen, verlieren sie in ein-zwei Jahren sämtliche Sympathien bei den Slowaken ... Du würdest nicht glauben, wie die antitschechische Stimmung anwächst". 26 Die deutsche Geheimpolitik verfolgte besonders nachdrücklich die Frage der Slowakei auch wegen ihren territorialen Ansprüche den Tschechen gegenüber aus der Sicht der sudetendeutschen Frage. Es ist von Bedeutung, daß schon vor dem Entstehen der CSR in der deutschen Diplomatie Kalkulationen einer Unterstützung des Entstehens eines gemeinsamen Staates der Tschechen und der Slowaken unter der Bedin-
23 PA AA Bonn. R 8872 Geheim Akten. Berlin 20.11.1919. R 887016.11.1919. Das Konsulat in Brno bewertet die Situation auch mit der Ansicht. daß im Falle der Loslösung der Slowakei die weitere Existenz des tschechischen Staats fraglich sei.
24
PA AA Bonn. R 6103. Prag 21.2.1919.
2S
PA AA Bonn. R 9099. Alexander, M.: zitierte Studie. S. 106.
26
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gung aufkamen, daß Prag die von Deutschen bewohnten Gebiete abtritt. 27 Diese internationale Bedingtheit der Lösung der Frage Deutsch-Böhmens und der Slowakei wurde in der Fachliteratur bislang nicht bearbeitet. Auch über die wichtigen Verhandlungen der Emigration mit Kramär in Genf im Oktober 1918, vor der Entstehung des Staats, berichtete der deutsche Botschafter in Bern aus seinen gut informierten Konfidentenquellen nach Berlin, 28 daß bei den geheimen Verhandlungen von Kramar und Co. mit der Exilvertretung Benes Osusky u.a. der ungewisse Standpunkt Amerikas in der Frage der tschechischen Deutschen das Hauptproblem darstellte. Dem geheimen Bericht zufolge kamen sie überein, daß man im Notfall bei der Abtretung Deutschböhmens, "unter allen Umständen die Vereinigung mit der Slowakei fordern würde". Zur Rede kam dabei auch die umgekehrte Alternative. Den Slowaken wurden drei Ministerplätze versprochen. Im Februar 1919 berichtete eine weitere deutsche Konfidentin aus Benes Kanzlei bei der Friedenskonferenz in Paris, die Amerikaner hätten die tschechische Delegation darauf aufmerksam gemacht, "sie müßten ihre Forderungen herabsetzen, andernfalls würden sie sie nicht unterstützen ... ,,29 Deshalb verfolgte die deutsche Diplomatie manche slowakische, Prag desintegrierend betreffende Tendenzen mit Sympathien und verurteilte Hlinkas Mission nach Paris nicht (der Bericht aus Prag zu Benes Expose zu dieser Frage vom 7.10.1919)30 und auch ähnliche Tendenzen in der amerikanischen Slowakischen Liga, ähnlich wie beim Vatikan. Sie meinte, daß die slowakische Delegation bei der Friedenskonferenz zwar keinen unmittelbaren Erfolg erreichte, sie erfüllte jedoch das Ziel und machte darauf aufmerksam, es existiere auch ein anderer Blick der Slowaken auf die Lösung der Stellung der Slowakei. 31
27 PA AA Bonn, R 9086, Österreich 101, Wien 23.10.1918, der Gesandte Prinz Stolberg berichtet, "Die Slowaken wollen zum Tschechen Staat. Der Abfall der 13 Komitate kann die Freigabe Deutschböhmens erleichtern ... " 28
PA AA Bonn, R 9092, Bern 31.10.1918.
29
PA AA Bonn, R 9091, Berlin 29.1.1919, Prag 8.2.1919.
30
Alexander. M.: zitierte Studie, S. 79,111. PA AA Bonn, R 9103, Prag 7.10.1919.
3\ PA AA Bonn, R 9105, Frankfurt 3.1.1920. Die Delegation der Slowaken nach Paris mit Hlinka an der Spitze konnte keine reale Bedeutung haben, da sie nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags mit Österreich zu Saint Germain entsandt wurde, der im Prinzip entschieden hat. dessen waren sich die Mitglieder der Delegation wohl bewußt, daß es sich hierbei lediglich um eine politische Mission handelte.
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Dazu informierte die Zentrale der deutschen Berichterstattung für den Osten in Frankfurt am 3.1.1920 die Regierung, daß die autonomistische Bewegung eine neue Delegation zur Friedenskonferenz in Paris vorbereite. Für die neue Aktion, für die Autonomie der Slowakei bei der Friedenskonferenz seien neue Reisepässe für bestimmte Persönlichkeiten notwendig. Die finanzielle Unterstützung komme von Graf Bethlen, und die reaktionäre ungarische Regierung hoffte daher auf eine Verbindung mit der Slowakei. 32 In den Regierungskreisen in Berlin wurde im Februar 1920 die neue Delegation von Jehlicka (und Kmosko) nach den Verhandlungen in Wien heimlich empfangen. Die Delegation legte Abschriften der autonomistischen Dokumente für Paris vor. Sie traten im Namen von Hlinkas autonomistischer Bewegung in der Slowakei auf. In Berlin gewährte man ihnen verschiedene grenz- und valutenmäßige Vergünstigungen. Jehlicka verlangte auch Vergünstigungen für eine Reise zu den Landsleuten in Amerika. Im erhaltenen Protokoll von der Verhandlung in Berlin vom 25.2.1920 erklärte lehlicka das Ziel der vorhergehenden slowakischen autonomistischen Delegation nach Paris im Jahre 1919 an der Spitze mit Hlinka. Es ging um die Autonomie der Slowakei. Er legte dazu die offiziellen Memoranda of the Slovacs33 bei als Beilage Nr. 2 des Protokolls. Es ist mir nicht bekannt, ob es sich hier um das ursprüngliche Memorandum von Hlinka handelt, das er im August 1919 in Paris den Delegationen bei der Friedenskonferenz vorlegte, oder um ein neues proungarisches Memorandum von Jehlicka, welches er dann im Westen auch in der Zwischenkriegszeit herausgab. Als Beilage Nr. 3 des Protokolls der deutsch-slowakischen autonomistischen Verhandlung im Jahre 1920 wurde die Landkarte der autonomen, selbständigen Slowakei vorgelegt (im Impressum ist angeführt "Herausgegeben in Banskä Bystrica"). Ihre graphische Darstellung der ethnischen Zusammensetzung entsprach den ungarischen Interessen, auch Bratislava war als Pozsony bezeichnet. Interessant ist auch die zusammenfassende Analyse der Zentrale des deutschen Nachrichtendienstes für den Osten über die Slowakei vom 11.12.1919, wo die Regierung in Berlin aufmerksam gemacht wurde, sich vor dem allgemeinen Irrtum des Einflusses der ungarischen Propaganda und der Attacken aus Prag in acht zu J2
Ibidem.
33 Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag 1., S. 666. Alexander veröffentlicht nicht alle Dokumente. PA AA Bonn, Böhmen, R 9105. Berlin 25.2.1920, Wien 24.2. und 16.2.1920. Wiener Mirtagspost 25.2 .• Verhandlungen lehlickas mit Ungarn und Polen. Ceske slovo 9.2.1920. Auf lehlickas Memorandum antwortete Osusky in Paris mit der Herausgabe seiner Replik. Archiv Federalneho ministerstva zahranicnych veci Praha (Archiv des föderalen Außenministeriums Prag). Fond Mirova konference. K 180.
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nehmen, wonach die slowakische autonomistische Bewegung magyarisch gesinnt sei: "Die Slowaken wollen sich vom tschechischen Staat losreißen. 34 Mit Hinzuziehung der mährischen Slowaken geht es um die Bildung eines selbständigen slowakischen Staats, der Ungarn freundschaftlich gesinnt wäre." Deshalb berichtet die Nachrichtenzentrale in ihrer Berichterstattung an die Regierung in Berlin vom 18.12.1919, daß die Ungarn in Paris mit allen Mitteln ein Plebiszit in der Slowakei erreichen wollen. Im Falle eines Mißerfolgs dieser internationalen Variante legte der Wiener Botschafter Berlin am 7.1.1920 ein Elaborat des ungarischen 35 Militärnachrichtendienstes über den Ausbruch eines allgemeinen Aufstands in der Slowakei vor, weil "die Stimmung des slowakischen Volkes einheitlich gegen die Tschechen ist", mit der Slovenska l'udova strana (der Slowakischen Volkspartei) an der Spitze. Die Partei fordert eine "vollständige Autonomie für die Slowakei". Auch wenn Hlinkas Mission in Paris nicht den gewünschten Erfolg erreichte, durch Mitwirkung von Benes und Osusky hatte sie eine Bedeutung, schließt das Geheimdokument, da "sie vor dem Ausland die Tatsache dokumentierte, daß das slowakische Volk kein vorbehaltloser Anhänger der tschecho-slowakischen Idee ist, ja daß es dagegen eine Bewegung eines keineswegs bedeutungslosen Teils der Nation gibt. Es ist jedoch als Irrtum vorauszusetzen, daß Hlinkas Partei die vollständige Loslösung der Slowakei von Böhmen fordere, dies verlange lediglich die proungarische Fraktion" . Wir führten an, daß es auch in der Leitung der Auslandsaktion Konflikte wegen der dualistischen Konzeption im Laufe des Ersten Weltkriegs 1915-1918 gab. Benes hatte deswegen einen Konflikt mit Osusky in Paris im Jahre 1916. Auch der persönliche Streit Benes mit General Stefänik im Jahre 1918 artete zu Ende des Jahres in einen unüberwindlichen Widerspruch aus. Der Exilliteratur zufolge ist auf Grund der ausländischen Quellen (französische Memoiren, Ambroses Briefe u.a.) längst bekannt, daß sich dies steigerte und es nach Stefäniks Rückkehr aus Rußland Anfang 1919 zum definitiven Bruch kam. Es gab auch eine Interpretation, daß Benes Gene-ral Stefänikin zu einer Reise zu den tschechoslowakischen Legionen in Rußland hineinmanövrierte, obwohl der französische General Janin als Kommandant bereits dorthin fuhr, nur um Stefanik aus dem Hauptfeld des Kampfes um die Macht bei der Gründung des Staates und der Eröffnung der Friedenskonferenz auszuschalten. Dann wandte sich Stefänik angeblich gegen die inadäquate Vertretung der Slowaken in der Friedensdelegation in Paris. Am 9.4.1919 schrieb Benes seinem Intimus Mar14
PA AA Bonn, R 9104, Frankfurt 11.12.1919.
15 PA AA Bonn, R 9104, Wien 7.1.1920. ebenfalls R 74167, Wien 12.4.1920. Der Bericht betonte. daß die autonomistische Bewegung in der Slowakei nicht proungarisch sei.
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kovic in die Heimat "mit Stefänik hatte ich einen Konflikt. .. es ist Schluß zwischen uns ... ich glaube ganz". Stefänik seinerseits schrieb an Masaryk aus Paris, daß unsere Sachen bei der Friedenskonferenz ganz schlecht stünden, während Benes dem Präsidenten gegenüber betonte, ein Abkommen mit Stefänik sei ganz unmöglich. Dies ergänzt auch eine jahrzehnte lange Legende der slowakischen Emigrationshistoriographie, die sich auf Teile der Memoiren des Mitglieds der amerikanischen Friedensdelegation BonsaI stützte, daß Stefänik in der amerikanischen Delegation die Autonomie, ja, sogar die Selbstbestimmung der Slowakei forderte, was jedoch Oberst House als auch Präsident Wilson mit einem Hinweis auf die Gefahr der Balkanisierung pazifizierten. Jedoch selbst Vnuk, als Repräsentant der extremen Emigrationshistoriographie, hielt dies für eine Phantasmagorie. 36 Zur Zeit des Waffenstillstands und der anfänglichen Destabilisierung der internationalen Stellung der neuen nationalen Staaten geriet die Frage der Slowakei in den Vordergrund des Interesses der Öffentlichkeit noch bei der Ratifizierung des Friedensvertrages von Trianon, vor allem durch Diskussionen im italienischen und englischen Parlament, zum Teil jedoch auch in Artikeln der italienischen und französischen Presse. Weiter waren dies vor allem internationale Aktivitäten autonomistischer Kräfte in der Slowakei als auch im Ausland, die Bewegung der Protestversamrnlungen amerikanischer Landsleute für das Pittsburger Abkommen, Reisen der Delegationen aus beiden Lagern der Slowakei zu den Landsleuten nach Amerika (Jehlicka, Dvorcäk, Moys, Srobär u. a.) und das Vorlegen von Memoranden der Emigration amerikanischer Slowaken und Hlinkas Volkspartei an Regierungen, internationale Organisationen und den Völkerbund. Ein objektiver Historiker muß natürlich zugeben, daß die unitarische Konzeption der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik im Vergleich zur dualistischen, bestimmt durch das Pittsburg-Abkommen und durch andere historische Äußerungen, in der konkreten historischen Zeit des Waffenstillstands auch für die Slowakei gewisse internationale Positiva aufzuweisen hatte. Wir sind uns der tschechischen Verdienste bei der Befreiung der Slowakei aus 36 S. Bonsai, Suitors and Suppliants, 1946, S. 157. Nach Bonsai besuchte Stefänik in Sachen Slowakei zweimal die amerikanische Delegation, zu Beginn des Jahres 1919 und dann noch sechs Wochen später, als er aus Italien zurückgekehrt war, wo er u.a. darauf hinwies, daß Bene~ mit den Slowaken wie mit einer niedrigeren Nation umgehe. Sloväk v Amerike (Der Slowake in Amerika), 14.5.1969. Siovensko v retrospektive dejin (Die Slowakei in der Retrospektive der Geschichte), Lausanne 1976, S. 82,88. ATGM. Francie (Frankreich) K4, 19. 1. 1918. Masaryk kritisierte Stefäniks Konservativismus. Masaryk an Bene~,7.4.1919 ... Ich erhielt einen Brief von Milan. Sehr pessimistisch über den Stand unserer Angelegenheiten in Paris". 8. 4. 1919, ..... mit Stefänik ist eine Aussöhnung unmöglich? Wirklich?"
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dem tausendjährigen ungarischen Bund bewußt. Dies sollte jedoch nicht um den Preis einer neuen Ungerechtigkeit geschehen. Wir kennen auch die Frage, ob die Slowakei im Jahre 1919 für eine Autonomie bzw. gar für eine Souveränität reif war, obwohl hierbei die Ansichten der Fachleute auseinandergehen. Hier ging es freilich nicht nur um eine konkrete kurzfristige Staatspolitik, hier wurden die Grundlagen unserer gesamten bisherigen und vielleicht auch der zukünftigen Entwicklung gelegt. Die Tatsache, daß das dualistische Prinzip in der Verfassung aus dem Jahr 1920, wenn auch nur theoretisch, legislativ abgelehnt wurde, rief eine Reihe von Fehlern bei der Gestaltung der tschechischen und slowakischen Staatlichkeit hervor, deren Folgen noch bis heute zu spüren sind. Die Fehler, die Prag in der slowakischen Frage in den Jahren 1918-1920 machte und auf der Grundlage des Zentralismus und Tschechoslowakismus auch in der Zwischenkreigszeit fortsetzte, und sie dann nach 1945 durch die Nichteinhaltung der drei Prager Abkommen wieder erneuerte, führten logischerweise und gesetzmäßig im Jahr 1993 - nach dem Fall des totalitären kommunistischen Regimes - zu einem friedlichen Untergang der Tschechoslowakei und zum Entstehen zweier selbständigen Staaten - der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik.
Österreich 1918 bis 1945 - eine nationale Frage? Von Helmut Bleiber
Lassen Sie mich einleitend die Äußerungen von zwei namhaften Schriftstellern zitieren, deren Ansichten über die wünschenswerte Gestaltung der Beziehungen zwischen dem nach der Auflösung des Habsburgerreiches 1918 verbliebenen Restösterreich einerseits und Deutschland andererseits dokumentieren. Anfang des Jahres 1919 reflektierte Robert Musil in seinem Essay "Der Anschluß an Deutschland" darüber, was eine Nation sei. Nation sei keine mystische Einheit, jedoch "als Sprachgemeinde ein natürlicher Leistungsverband, das Sammelbecken, innerhalb dessen sich der geistige Austausch zunächst und am unmittelbarsten vollzieht". Musil teilte die weit verbreitete Auffassung von Österreichs Unfähigkeit zum ökonomischen Überleben. Ihm tue "das Aufgehen in Deutschland not und zwar sowohl dann, wenn morgen schon die aus dem Osten kommmende Bewegung der Welt eine neue, die Grenzen brechende Gestalt geben sollte, wie dann, wenn im Westen die Beschränktheit von gestern noch einmal siegen sollte. In beiden Fällen werden ungeheure Aufgaben gestellt sein, die zur Lösung der zweckmäßigst zusammengeführten Kraft bedürfen. ,,1 Als zweiten Zeitzeugen rufe ich Thomas Mann auf, damals ähnlich wie Musil noch weit entfernt vom Gipfel seines Ruhmes, wenn auch im Vergleich zu diesem - vor allem als Autor der "Buddenbrooks" - bereits weitaus bekannter. Im Oktober 1920, anläßlich der Volksabstimmung in Kärnten über die künftige Zugehörigkeit zu Jugoslawien oder zu Österreich schrieb er den Satz: "Ein Diener am deutschen Wort darf an das Kommen des Tages glauben, da alles, was deutsch spricht, in einem Staate und Reiche versammelt sein wird. ,,2 Wenige Wochen später äußerte er sich: "Ich bin überzeugt, daß der Anschluß
1 Roben Musil. Der Anschluß an Deutschland. in: Derselbe. Gesammelte Werke. Bd.8. Reinbeck 1978, S.1035, 1042. 2
Thomas Mann, Grüße aus Kärnten, in: Aufsätze. Reden, Essays, Bd.3, Berlin 1986. S.78.
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Österreichs an Deutschland nur eine Frage der Zeit ist, und bekenne mich von Herzen zu dem Wunsch, daß er sich bald vollziehen möge. ,,3 Es erscheint nicht erforderlich, hier im einzelnen auszuführen, daß die zitierten Auffassungen der beiden Schriftsteller nicht als abseitige Meinungen von vereinzelten Außenseitern zu bewerten sind. Sie entsprachen den Vorstellungen und Wünschen der großen Mehrheit der Bevölkerung in Österreich, aber auch in Deutschland. In der Literatur ist mehrfach und überzeugend darauf hingewiesen worden, daß und wie dieses Anschlußstreben breiter Bevölkerungskreise von dominierenden wirtschaftlichen und politischen Kräften Deutschlands für expansionistische Ziele ausgenutzt wurde. 4 Allgemeine Menschenrechtsforderungen, wie die nach Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts wurden zur Manipulierung der Massen im Interesse des Vormacht- und Hegemoniestrebens der Deutschland beherrschenden Eliten mißbraucht. Dieser Zusammenhang ist nicht zu übersehen. Indessen erklärt der Hinweis auf einen solchen Zusammenhang nicht, warum er sich herstellen konnte. Manipulierung von Massen setzt ihre Manipulierbarkeit voraus, und diese erfordert, daß wenigstens teilweise oder zumindest scheinbar an echte Bedürfnisse, Interessen und Erfahrungen dieser Massen angeknüpft wird. Das gilt auch in unserem Fall. Die Popularität der Anschlußforderung nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie sowie im besonderen dann auch der Vollzug des Anschlusses im März 1938 und seine bekannten Begleitumstände sind aus ökonomischen und politischen Interessen des deutschen Finanzkapitals allein nicht zu erklären. Sie zu begreifen und zu verstehen erfordert, der Frage nachzugehen, inwiefern dabei auch Bedürfnisse und Wünsche breiter Bevölkerungskreise mit im Spiele waren. Die Popularität der Anschlußforderung nach 1918 ist zuerst und bevor sie als Vehikel deutschen Machtstrebens benutzt werden konnte, zu begreifen und zu verstehen als eine Folge deutscher oder präziser mitteleuropäischer Geschichte im 19.Jh., im besonderen als Ergebnis unerfüllt gebliebener Hoffnungen und Forderungen der deutschen nationalen Bewegung in der Aufstiegsphase der bürgerlichen Gesellschaft. Damit bin ich bei der ersten von zwei Fragen, zu denen ich einige Überlegungen äußern möchte, der Frage nach den historischen Voraussetzungen dafür, daß sich die l
Derselbe, Heim, ins Reich, in: Ebenda, S.83.
4 Vgl. Mirjam Kölling, Die Annexionsbestrebungen des deutschen Imperialismus gegenüber Österreich im Frühjahr 1919, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd.l(1967), S.180 ff.; dieselbe, Deutschland, Österreich und der Anschluß 1918-22, phi\. Diss. Berlin (Ost) 1965; Narben Schausberger, Der Griff nach Österreich. Der Anschluß, Wien! München 1979; derselbe, Anschlußideologie und Wirtschaftsinteressen 1918-1938, in: Heinrich Lutz/Helmut Rumpier (Hg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20Jahrhundert, Wien 1982, S.282 ff.
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überwältigende Mehrheit der Österreicher 1918 als der deutschen Nation zugehörig empfand. S In den Jahren und Jahrzehnten seit der Wiedererrichtung des österreichischen Staates im Jahre 1945 hat sich, wie mehrere seriöse soziologische Untersuchungen darlegen, 6 bei der großen Mehrheit der Bevölkerung ein eigenständiges österreichisches Nationalbewußtsein herausgebildet. Eine Nation Österreich ist damit nicht mehr nur das beschworene Wunschbild einiger Publizisten und Politiker, sondern historische Realität. Herrscht über dieses Faktum heute weitgehend Übereinstimmung, so gehen die Auffassungen darüber, wie weit in die Vergangenheit zurück die Vorgeschichte dieser Nation Österreich reicht bzw. welches historische Ereignis die entscheidende Wendemarke hin zu diesem Ergebnis war, weit auseinander. Der damalige Bundespräsident Franz Jonas hat 1972 gemeint, von "einer schon um 1500 wirksamen schicksalhaften Verbundenheit der alten Erblande und heutigen Bundesländer" ausgehen zu können. 7 Andere Stimmen meinen, in Österreich das"Profil zweier Jahrtausende "zu erkennen,8 und glauben, daß die Länder, die das heutige Österreich bilden, schon seit dem Regnum Noricum um 180 v. ehr. "ein Zusammenstrebendes gewesen"9 seien. Der Wiener Historiker Ernst Bruckmüller wiederum hält es nicht für angängig, Kontinuitätslinien hin zu einer österreichischen Nation bis zur Spätantike zurück suchen zu wollen. Erst die Entstehung der Länder und S Die folgenden Ausführungen stützen sich teilweise auf Helmut Bleiber, Deutschland und Österreich im 19.Jahrhundert - Anmerkungen zur nationalen Frage, in: Bulletin des Arbeitskreises "Zweiter Weltkrieg", 1988, Nr.I-4, S.6 ff. - Über Standpunkte,Probleme und weiterführende Literatur zur Gesamtthematik informieren Agnes Blänsdorj, Staat - Nation -Volk: Österreich und Deutschland. Zu Gerald Stourzhs Auseinandersetzung mit Karl Dietrich Erdmann, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht,Jg. 42 (1981),H.12,S.767 ff.; Karl Dietrich Erdmann, Die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 38 (1987), H. 10, S. 597 ff. ; Fritz Fe//ner,Das Problem der österreichischen Nation nach 1945, in: Otto Büschl James J. Sheehan (Hg.), Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte und Gegenwart, Berlin 1985, S.193 ff. ; Dieter Langewiesche, Deutschland und Österreich. Nationswerdung und Staatsbildung in Mineleuropa im 19. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg.42 (1991), H.12, S.754 ff.; derselbe, Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift, Bd. 254 (1992), S. 361 ff. ; Hans Mommsen, Österreichs Weg vom habsburgischen Nachfolgestaat zur demokratischen Nation, in: Helmut Konradl Wolfgang Neugebauer (Hg.), Arbeiterbewegung - Faschismus - Nationalbewußtsein, Wien 1983, S.391 ff.
6
Zuletzt Albert F.Reiterer (Hg.), Nation und Nationalbewußtsein in Österreich, Wien 1988.
7 Franz Jonas, Die österreichische Nation profiliert sich, in: Georg Wagner (Hg), Österreich. Von der Staats idee zum Nationalbewußtsein. Studien und Ansprachen, Wien 1982, S.186.
8
Georg Wagner, Österreich-Profil zweier Jahrtausende, in: Derselbe (Hg.), Österreich, S.203 ff.
9
Ebenda, S.1l7.
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von Landesbewußtsein im Gebiet des heutigen Österreichs im Hochmittelalter markiert nach seiner Meinung den Beginn einer Entwicklung, die für die Ausprägung einer österreichisch-nationalen Eigenständigkeit Bedeutung erlangte. IO Zutreffend erscheinen mir solche Deutungen nur insoweit, als sie die Ausbildung bzw. das Vorhanden sein regionaler Besonderheiten für die in Rede stehenden Territorien konstatieren. Daß dieses Phänomen hier einen die Zukunft präjudizierenden qualitativ anderen Charakter gehabt haben sollte, als entsprechende besondere regionale Ausprägungen etwa in Bayern, Schwaben, Nieder-und Obersachsen, Mecklenburg oder in noch anderen Teilen des Reiches, dürfte indes höchst fragwürdig sein. Größere Bedeutung darf zweifellos der Verweis auf das Jahr 1866 und das damit verbundene Ausschließen Österreichs aus der deutschen Nationalstaatsgründung im 19.Jh. beanspruchen. Im 1984 erschienenen Band 4 der in der DDR erarbeiteten "Deutschen Geschichte" wird in diesem Zusammenhang an das Scheitern des demokratischen großdeutschen Lösungsversuchs der Einheitsfrage infolge der Niederlage der Revolution von 1848/49 erinnert. "Die deutschsprachigen Teile der Habsburgermonarchie wurden auf den Weg einer nationalen Sonderentwicklung gedrängt, den sie nach 1866 endgültig einschlugen. ,,11 Aber auch diese Aussage wird von der historischen Realität, die sie beschreiben will, nicht voll gedeckt. Gewiß steht außer Frage, daß das Ende des Deutschen Bundes und das Eingehen seiner Erbmasse mit Ausnahme Österreichs in das im Jahr 1871 unter preußischer Führung gegründete kleindeutsche Reich eine gravierende Zäsur in der österreichischen Geschichte darstellt. Die staatliche Trennung Österreichs von dem, wenn auch sehr lockeren, so doch immerhin vorhandenen Gesamtverband deutscher Staaten, wie der Deutsche Bund ihn verkörperte, war damit vollzogen. Seine staatliche Selbständigkeit war perfekt. Gleichermaßen kann nicht bezweifelt werden, daß auch sozialökonomische Strukturen vorhanden oder doch in Ausbildung begriffen waren, wie sie zumeist als konstitutive Elemente von Nationsbildungsprozessen begriffen werden. Dennoch gab es weder 1866/70 noch 1918 oder 1938 eine österreichische Nation - und dies 10 Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung, Wien/ Köln/ Graz 1984, S.20. 11 Walter Schmidt u.a., Deutsche Geschichte, Bd. 4: Die bürgerliche Umwälzung von 1789 bis 1871, Berlin (Ost) 1984, S. 510.
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einfach deshalb, weil zu keinem der genannten Zeitpunkte ein größerer Teil oder gar die Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung Österreichs sich als zu einer besonderen österreichischen Nation gehörend verstand. Dieses Phänomen verweist zwingend darauf, daß außer einer Reihe anderer Faktoren auch nationales Bewußtsein zu den unabdingbaren Voraussetzungen für die Entstehung einer Nation gehört. Der Versuch einer Erklärung dafür, warum es in den deutschsprachigen Gebieten der Habsburgermonarchie auch in den Jahrzehnten nach 1866 nicht zur Ausbildung eines besonderen österreichischen Nationalbewußtseins kam, wird vor allem folgende Aspekte zu berücksichtigen haben: 1. Der Ausschluß Österreichs aus der deutschen Nationalstaatsgründung stürzte viele Österreicher in eine tiefe Identitätskrise. Ohne Österreich, das über Jahrhunderte hinweg die Vormachtstellung in Deutschland innegehabt hatte, war ihrer Meinung nach das neue Deutsche Reich unvollkommen, war die deutsche Nation zerrissen zugunsten eines preußisch-kleindeutschen Sonderinteresses. An die Sieger von 1871 gerichtet dichtete Franz Grillparzer: "Ihr glaubt, Ihr habt ein Reich geboren, fund habt doch nur ein Volk zerstört" .12 Ein deutscher Nationalstaat ohne Österreich war aus dieser Sicht ein Unding. Der Ausschluß Österreichs aus Deutschland wurde geistig-mental nicht akzeptiert, weil er der traditionellen Stellung Österreichs in Deutschland zuwiderlief. 2. Die deutsche Nationalbewegung, die im Verlaufe der ersten Hälfte des 19.Jh. breite Massen des Volkes erfaßt hatte, war von Anfang an großdeutsch orientiert gewesen. "So weit die deutsche Zunge klingt" lautete die Antwort auf die Frage "Was ist des Deutschen Vaterland?" im Gedicht Ernst Moritz Arndts. 13 Während die Mehrheit des Großbürgertums getreu seiner antirepublikanischen Haltung die Fortexistenz der bestehenden Fürstenhäuser , insbesondere der Hohenzollern und Habsburger wünschte und sich daher auch mit den Ergebnissen von 1866 bzw.1870/71 abfand, lebte in der demokratischen Linken der Traum von einer großdeutschen Republik fort, wie sie die Revolutionäre von 1848/49 erstrebt hatten. Insbesondere die österreichische Sozialdemokratie hielt bekanntlich - wir kommen darauf zurück - an dieser Forderung fest. 3. Die Ausbildung eines spezifisch österreichischen Nationalbewußtseins erhielt keinerlei Impulse von der Habsburgermonarchie, sondern wurde von dieser 12 Zitiert nach Brigitte Hamann, Die Habsburger und die deutsche Frage im 19.Jahrhundert. in: Heinrich Lutz/Helmut Rumpier (Hg.), Österreich und die deutsche Frage. S.229. 13
Ernst MoriTz Arndt. Gedichte. Berlin 1865. S.233.
9 Timmcrmann
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eher behindert. Aus der inneren Struktur und Beschaffenheit dieses Staatswesens, insbesondere aus seinem Charakter als Vielvölkerstaat ergab sich, daß jede nationale Bewegung eine Gefährdung seiner Existenz bedeutete. Die Habsburgermonarchie sah sich einer übernationalen, einer universalen Staatsidee verpflichtet. 14 4. Die staatliche Trennung von Deutschland hatte keineswegs eine solche in geistig-kultureller Hinsicht zur Folge. Mit Recht ist sogar von einer "Gegenläufigkeit politischer und kultureller Entwicklung nach 1866" gesprochen worden. 15 "Nun das politische Band gelöst war, erstarkte das geistige mehr und mehr, sichtlich von Jahr zu Jahr", schrieb Karl Emil Franzos im Vorwort zu seiner 1883 erschienenen Anthologie "Deutsches Dichterbuch aus Österreich" . 16 Das Motiv für diese verstärkte Hinwendung zu deutscher Kultur und ihrer Pflege in der deutschsprachigen Bevölkerung der Habsburgermonarchie ist zweifellos in deren Sorge um die Bewahrung ihrer geistigen Überlegenheit und damit des Führungsanspruchs ihrer Eliten gegenüber den anderssprachigen Bevölkerungsmehrheiten der Habsburgermonarchie zu suchen. Eric Hobsbawm hat in seinem in deutscher Übersetzung 1991 erschienenen Buch "Nationen und Nationalismus" die Auffasung vertreten, nationale Bewegungen und Nationalismus hätten historisch gesehen den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit überschritten. 17 Unbestreitbar erzwingt die Entwicklung der Wirtschaft, der Technik, des Verkehrs- und Kommunikationswesens die Überwindung nationaler Abgrenzungen und Beschränkungen. Großräumige re Organisationsformen der Gesellschaft, als die Nation sie bieten kann, sind ein unumgängliches Erfordernis der Gegenwart und Zukunft. Gleichzeitig beobachten wir, daß trotz solcher über die Nation hinausweisender Entwicklungstendenzen Nation und Nationales bis zum heutigen Tage alles andere als überholt, zweitrangig oder nebensächlich geworden sind. In Europa, dem Erdteil, 14 Ernst Hoor, Wandlungen der österreichischen Staatsidee. Vom Heiligen Römischen Reich zur österreichischen Nation in: Georg Wagner (Hg.), Österreich, S.438; Roben A. Kann, Das deutsche Reich und die Habsburgermonarchie 1871 bis 1918, in: Robert A. Kann/ Friedrich E.Prinz (Hg.), Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, Wien! München 1980, S.143 ff.
IS Hubert Lengauer, Kulturelle und nationale Identität. Die deutsch-österreichische Problematik im Spiegel von Literatur und Publizistik der liberalen Ära (1848-1873), in: Heinrich Lutz/ Helmut Rumpier (Hg.), Österreich und die deutsche Frage, S.21O. 16
Karl Emil Franzos, Deutsches Dichterbuch aus Österreich, Leipzig 1883, S. VII.
17 Eric J.Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a.M.I New York 1991, S. 194,214.
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der sie historisch zuerst hervorgebracht hat, beweisen sie ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Gleichzeitig vollziehen sich, vor allem in der Dritten Welt, bis heute Nationsbildungsprozesse, Vorgänge, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Ob das Phänomen des Nationalen in der Geschichte der Neuzeit seinen Höhepunkt wirklich hinter sich hat, erscheint zumindest fragwürdig. Die Virulenz seines Auftretens in der gegenwärtigen Weltarena spricht jedenfalls dagegen, Nationales als historisches Auslaufmodell zu verstehen. Umso dringlicher erscheint die intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema. Dies ist auch deshalb besonders geboten, weil Nationales nicht selten in die Nähe von Mystik und Mythen gerückt wird. Dagegen geht es doch in aller Regel um ganz handfeste Interessen. Die jeweiligen realen Interessen sichtbar zu machen, die sich in jeweiligen Haltungen zu nationalen Fragen in der Vergangenheit manifestierten, halte ich für eine wichtige Aufgabe historischer Forschung und Darstellung. Die Geschichte Österreichs bietet für diesen Zusammenhang eklatante Zeugnisse. An zwei Beispielen will ich versuchen, die Interessenbestimmtheit der jeweiligen Haltung zum Nationalen zu demonstrieren. Die Habsburgermonarchie brach bekanntlich im Herbst 1918 auseinander. Am 21. Oktober 1918 erklärte die provisorische österreichische Nationalversammlung, den Staat Deutsch-Österreich gründen zu wollen. Drei Wochen später, am 12. November, beschloß sie das Gesetz über die Form des neuen Staates. Artikel 1 des Gesetzes lautete: Deutsch-Österreich ist eine demokratische Republik, Artikel 2: Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik. Am 22. November erfolgte die Erklärung über den Umfang und die Grenzen des Staatsgebietes von Deutsch-Österreich. Beansprucht wurde die Gebietshoheit über das gesamte geschlossene Siedlungsgebiet der deutschsprachigen Bevölkerung innerhalb der bisher im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder. Ausgeschlossen wurden ausdrücklich die von Slowenen bzw. Italienern bewohnten Gebiete Kärntens und Tirols, eingeschlossen wurden ausdrücklich die deutschsprachigen Gebiete Böhmens und Mährens. Es ist unbestritten, daß diese Beschlüsse der provisorischen österreichischen Nationalversammlung, die am 12. März 1919 von der inzwischen gewählten Nationalversammlung einstimmig bestätigt wurden, den Wünschen der großen Mehrheit der Bevölkerung entsprachen, für die sie sich zuständig glaubte. Das Streben nach staatlichem Anschluß an Deutschland war in den deutschsprachigen Gebieten der zerfallenen Habsburgermonarchie allgemein. Weit verbreitet war die Vorstellung, daß Österreich als ein Land, das - wie Karl Renner schrieb -"übrig geblieben" war, "ein Gebirgsland, das nicht leben und nicht 9·
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sterben kann", 18 nach der Trennung vom Gesamtterritorium des bisherigen Reichs ökonomisch nicht überlebensfahig und aus diesem Grunde zwingend auf die Aufnahme in Deutschland angewiesen sei. Otto Bauer hat später berichtet, daß im Oktober 1918, als die Führung der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie für den Anschluß an Deutschland zu werben begann, von der Masse der Arbeiterschaft Unverständnis geäußert wurde. "Sie hatte", so schrieb er, "den deutschen Imperialismus während des Krieges allzu tief gehaßt, als daß sie sich nun hätte für den Anschluß an dasselbe Deutschland begeistern können" .19 Der Sieg der Novemberrevolution 1918 in Deutschland veränderte die Voraussetzungen. In der politisch bewußten Arbeiterbewegung wurde die im Grunde seit 1848 niemals völlig aufgegebene Vorstellung wieder virulent, die Arena in den Dimensionen Großdeutschlands würde einen günstigeren Kampfplatz für die Verwirklichung ihrer Ziele darstellen. Das Anschlußverlangen der Bevölkerung in den deutschsprachigen Gebieten Böhmens und Mährens wurde zusätzlich von den Befürchtungen vor der Perspektive gespeist, sich als nationale Minderheit in einem tschechischen Staat einrichten und arrangieren zu müssen. Daß die Anschlußbestrebungen Deutsch-Österreichs den Repräsentanten des Deutschen Reiches, dessen Expansionspläne soeben an der Überlegenheit der Entente gescheitert waren, wie ein Geschenk des Himmels erscheinen mußten, liegt auf der Hand. Bereits 1916 hatte der langjährige Vorkriegskanzler Fürst Bülow formuliert: "Selbst wenn wir den Krieg verlieren sollten, werden wir die Partie doch gewinnen, denn wir werden Österreich annektieren" .20 Von den vielfältigen Aktivitäten, die im Sinne dieser Zielstellung entfaltet wurden, verweise ich hier nur auf das sogenannte Berliner Protokoll vom 2. März 1919, das die Ergebnisse mehrtägiger Verhandlungen zwischen dem Außenminister des Deutschen Reiches, Graf Brockdorff-Rantzau, und dem Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Deutsch-Österreich, Otto Bauer, festhielt. Sein Inhalt reichte von der Absichtserklärung, "mit tunlichster Beschleunigung über den Zusammenschluß des Deutschen Reiches
18 Zitiert nach Alfred D.Low, Die Anschlußbewegung in Österreich und Deutschland, 1918-1919, und die Pariser Friedenskonferenz, Wien 1975, S. 203. 19
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Otta Bauer, Die österreich ische Revolution, in: Derselbe, Werkausgabe, Bd.2, Wien 1976, S.
20 Zitiert nach Joachim Petzold, Zur Problematik progressiver Anschlußbemühungen in Österreich und Deutschland im Zeitraum der Ersten österreichischen Republik, in: Bulletin des Arbeitskreises "Zweiter Weltkrieg", S. 39.
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und Deutsch-Österreichs einen Staatsvertrag abzuschließen", bis zur Fixierung von Maßnahmen, mit denen der bisherigen Hauptstadt des Habsburgerreiches Wien eine exzeptionelle Stellung auch innerhalb des erstrebten großdeutschen Reiches gesichert werden sollte. Bemerkenswert unter dem uns interessierenden Gesichtspunkt von der Wirksamkeit jeweiliger spezifischer Interessen ist die Tatsache, daß seitens der offiziellen Vertreter des Deutschen Reiches die Anschlußfrage in der fraglichen Zeit, das heißt vor Abschluß des Friedensvertrages, wesentlich zurückhaltender behandelt wurde, als dies von österreichischer Seite aus geschah. Der Grund dafür waren nicht etwaige grundsätzliche Vorbehalte. Er ergab sich einzig und allein aus der Befürchtung, der Anschluß Österreichs könnte sich auf das Bemühen kontraproduktiv auswirken, die zu erwartenden Forderungen nach Gebietsabtretungen vom Bestand des Reiches in den Grenzen von 1871 zurückzuweisen beziehungsweise möglichst einzuschränken. Die Pariser Vorortverträge vom Sommer und Herbst 1919 machten bekanntlich allen deutschen und deutsch-österreichischen Anschlußhoffnungen einen Strich durch die Rechnung. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, allen voran Frankreich, waren nicht gewillt, zuzustimmen, daß dem eben niedergerungenen und geschwächten Gegner Deutschland durch den Anschluß Österreichs neue Ressourcen und Kräfte zuflössen. Daß dabei die vom Präsidenten der USA Woodrow Wilson als Prinzip für die anstehenden staatlichen Neuordnungen verkündete Doktrin vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, auf die sich natürlich auch die Sprecher der deutschsprachigen Bevölkerung Österreichs, Böhmens und Mährens beriefen, öffentlich ihre politische Unschuld verlor, nahm man in Kauf. Die Pariser Vorortverträge des Jahre 1919 waren über Jahrzehnte hin ein Gegenstand schärfster Ablehnung und Kritik, sowohl in der deutschen als auch in der österreich ischen Geschichtsschreibung. Erst in dem Maße, wie nach 1945 sich allmählich ein neues österreichisches Selbstbewußtsein ausbildete, zu dem auch die definitive Annahme österreichischer staatlicher Selbständigkeit gehörte, gewann in der österreichischen Historiographie eine andere Sicht auf diese Verträge Raum, die in mancher Hinsicht Beurteilungen der Pariser Vorortverträge ähnelt, wie sie seit eh und je etwa von tschechischen, polnischen oder rumänischen Historikern vorgetragen wurden. Auf ein zweites Beispiel, das die Interessengebundenheit der Haltung zur nationalen Frage augenfällig demonstriert, will ich verweisen, auf die Haltung der Kommunistischen Partei Österreichs zur Frage, ob Österreich eine Nation sei in den dreißiger Jahren. Noch zu Beginn der dreißiger Jahre hatte die KPÖ sich zu einem "Anschluß Sowjet-Österreichs an Sowjet-Deutschland" bekannt. 2 !
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Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 begannen jedoch intensive Auseinandersetzungen darüber, wie der Gefahr eines Anschlusses an Nazideutschland am wirksamsten zu begegnen sei. Auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1935 wurden von Vertretern der KPÖ dazu noch divergierende Standpunkte vorgetragen. 22 Während ein Sprecher sich scharf gegen den Österreich-Kult des SchuschniggRegimes wandte und die Zugehörigkeit der Österreicher zum deutschen Volk betonte, forderte der KPÖ-Sekretär Johann Koplenig, den vorhandenen österreichischen Patriotismus nicht dem Austrofaschismus zu überlassen, sondern als mögliche Potenz im Kampf gegen die Anschlußgefahr zu begreifen. In ihren Bestrebungen, sich mit der Frage einer österreichischen Nation zu befassen, wurde die Leitung der KPÖ durch den wegen seiner Verteidigung im Reichstagsbrandprozeß bekannt gewordenen bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff, der damals an der Spitze der Komintern stand, bestärkt. Erst nach mehreren Beratungen zwischen Kominternführung und KPÖ-Leitung im Frühjahr 1936 gab letztere eine theoretische Untersuchung zur Frage einer österreichischen Nation in Auftrag. Im Frühjahr 1937 veröffentlichte die in Prag erscheinende theoretische Monatsschrift der KPÖ "Weg und Ziel" das Ergebnis dieser Bemühungen in Gestalt von mehreren Aufsätzen aus der Feder von Alfred Klahr, 23 dem am österreichischen Sektor der internationalen LeninSchule der Komintern in Moskau wirkenden Parteitheoretiker der KPÖ. Klahr ging von der ethnischen Zugehörigkeit der Österreicher zum deutschen Volke aus. Noch 1918 habe die Möglichkeit für die Einbeziehung der Deutschösterreicher in die deutsche Nation bestanden. Das Zusammenleben auf dem Territorium der Republik Österreich seit 1918, insbesondere aber der Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschland seit 1933, hätten nationsstiftend gewirkt. Gefördert worden sei diese Entwicklung zur eigenen Nation durch das Vorhandensein der besonderen katholisch geprägten kulturellen Traditionen Österreichs, die Klahr zwar als vorwiegend fortschrittsfeindlich, aber im Kampf gegen die drohende Gefahr einer Annexion durch Hitlerdeutschland als nützlich bewertete. Klahr trat dafür ein, österreichischen Patriotismus zu propagieren,
21 Zitiert bei Kurt Skalnik, Auf der Suche nach der Identität, in: Erika Weinzierll Kurt Skalnik (Hg.), Österreich 1918-1938: Geschichte der Ersten Republik, Graz 1983, S.15.
22 Vergleiche zum Folgenden Winfried R.Garscha, Überlegungen zur österreichischen Nationswerdung. Die Etappe 1932/33 bis 1938, in: Bulletin des Arbeitskreises "Zweiter Weltkrieg", S. 47 ff. 21 Diese und weitere Aufsätze des Autors zum Thema in: Alfred Klahr, Zur österreichischen Nation. Wien 1994.
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österreichisches Nationalbewußtsein zu fördern und den Prozeß der Nationswerdung zum Abschluß zu bringen. Die Ergebnisse von Klahrs Analyse wurden im August 1937 zur offiziellen Parteilinie erklärt. Sie dienten nun als Richtschnur bei den Bemühungen der KPÖ um eine antinationalsozialistische Volksfront in Österreich. Der nationale Schwenk der österreichischen Kommunisten in der Mitte der dreißiger Jahre hat sehr unterschiedliche Beurteilungen erfahren. Aus linker nationalnihilistischer Sicht und im Hinblick auf ihre Marginalisierung in der politischen Szene Nachkriegsösterreichs ist ihnen vorgeworfen worden, mit ihrer Erfindung der österreichischen Nation hätten sie nur die Geschäfte anderer besorgt. "Die kommunistischen Patrioten waren nur die Stuntmen im nationalen Filmepos, dessen Hauptrollen mit Männern wie Kurt Waldheim besetzt wurden". 24 Kritische Stimmen aus anderen Richtungen haben immer wieder moniert, die Entscheidung der österreichischen Kommunisten für die österreichische Nation sei einem politischen Kalkül entsprungen. Diese Feststellung ist unbestreitbar richtig. Zu fragen wären die Kritiker dieses Faktums, was daran Besonderes sei. Die unmittelbare Wirkung des Werbens für eine österreichische Nation ist im einzelnen schwer zu bestimmen. Jedenfalls muß sie wohl als sehr gering angenommen werden. Eine große Mehrheit der Bevölkerung Österreichs begrüßte im März 1938 den Anschluß an Deutschland. Der Einfluß, den die Nationalsozialisten in Österreich gewinnen konnten, sei, so ist geurteilt worden,25 vor allem der Tatsache zu danken gewesen, daß sie als die sichersten Garanten des Anschlusses galten. Abgelehnt wurde das Konzept einer österreichischen Nation bekanntlich auch von der österreichischen Sozialdemokratie. Ihre führenden Vertreter, sowohl Karl Renner als auch Otto Bauer, ließen sich auch durch die Tatsache, daß der Anschluß nun unter nationalsozialistischen Vorzeichen erfolgt war, in ihrer großdeutschen Haltung nicht beirren. Im Juli 1938 kommentierte Otto Bauer das Geschehene: "Österreichische Klerikale und Monarchisten mögen im Ausland Komitees gründen, die von der Wiederherstellung eines österreichischen Staatswesens phantasieren, mögen sich einbilden, eine österreichische Irredenta organisieren zu können. Das ist kindisches Spiel ... Wir können das Rad der Weltgeschichte nicht zurückdrehen ... Die
24
Gerhard Scheit, Jahns Schüler,in: Konkret, 1994, H.I0, S.36.
2S
Nikolaus von Preradovich, Der nationale Gedanke in Österreich 1866-1938, Göttingen (1962),
S.30.
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Helmut Bleiber
Zukunft der deutschästerreichischen Arbeiterklasse ist die Zukunft der deutschen Revolution ". 26
Wie ungesichert die Perspektive Österreichs als selbständiges Staatswesen bis weit in die Kriegsjahre hinein noch war, mag der Verweis auf zwei Äußerungen bzw. Gegebenheiten aus dem Lager der Antihitlerkoalition verdeutlichen. Zu erinnern ist einmal an die Teilungspläne für ein besiegtes Deutschland, die von den Regierungen der westlichen Alliierten damals erörtert wurden. Bemerkenswert für unser Thema ist die Tatsache, daß dabei auch das Projekt eines süddeutschen Staates, der Österreich einschließen sollte, auftaucht. 27 Zu erinnern ist zweitens an die Stalinrede vom 6. November 1941, in der sich die Äußerung findet, bis zum Jahre 1938, also einschließlich des Anschlusses Österreichs und der Annexion des Sudetenlandes, habe man die Hitlerleute für nationale Politiker halten können,28 eine Äußerung, die zumindest davon zeugt, daß der damalige Hauptrepräsentant des kommunistischen Lagers die These der österreichischen Kommunisten von der Existenz einer österreichischen Nation noch keineswegs verinnerlicht hatte. Festen Grund gewannen die Bestrebungen zur Rekonstituierung des österreichischen Staates erst mit der von der Moskauer Außenministerkonferenz im Oktober 1943 verabschiedeten Deklaration über Österreich, in der es hieß, daß alle von den Aggressoren vorgenommenen Veränderungen null und nichtig seien und die Wiederherstellung eines freien und unabhängigen österreichischen Staates das Ziel der Vereinten Nationen sei. 29 Für seine Entwicklung ab 1945 sollten sich die Bemühungen um die theoretische Begründung einer österreichischen Nation als wichtige geistige Vorarbeit erweisen.
26
OUo Bauer, Österreichs Ende, in: Derselbe, Werkausgabe. Bd. 9, Wien 1980. S. 844.
27
Fritz Fellner, a. a. 0., S. 195.
28 lose! Stalin, Über den großen vaterländischen Krieg der Sowjetunion. Berlin 1945. S. 20. Über unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Zukunft Österreichs innerhalb der Moskauer Führungsspitze - Außenminister Molotow habe "großdeutsch" gedacht - berichtet Ernst Fischer, Erinnerungen und Reflexionen, Frankfurt a.M. 1987. S. 459. 29
Felix Kreissler. Der Österreicher und seine Nation: Ein Lernprozeß mit Hindernissen. Wien
1984. S. 295 ff.
Europäische Utopie und nationale Realität im deutschen Liberalismus 1890-1933' Von Marc-Wilhelm Kohfink
Als am 22. Juli 1848 der liberale Philosoph Amold Ruge im Paulskirchenparlament den Antrag stellte, einen Völkerkongreß zum Zwecke der europäischen Entwaffnung ins Leben zu rufen, unterstützten ihn nur einige radikalliberale Abgeordnete. 2 Ruge argumentierte, daß die europäischen Nationen besser als durch Waffen oder dynastische Abkommen durch zwischenstaatliche Vereinbarungen, gleichsam von außen gesichert werden sollten. Sofort nach Beginn des Ersten Weltkriegs entwickelten Liberale nicht-annexionistische europäische Föderationspläne 3 und diskutierten in der Nachkriegszeit mit den Schlagworten "Paneuropa" und "Mitteleuropa" Konzepte für eine Föderation europäischer Nationalstaaten. 4
In dieses Spannungsverhältnis zwischen nationalem Machtstaat und europäischer Friedensordnung ordnet sich die Geschichte des liberalen Europagedankens ein. Es läßt sich zeigen, daß es auch nach 1890, d.h. nach der inneren Reichsgründung, im postliberalen Zeitalter5 des Imperialismus einen liberalen I Die hier vorgestellten Überlegungen gehen auf ein von der Volkswagenstiftung mit einem zweijährigen Stipendium bedachtes Dissertationsprojekt zurück.
2 Veit Valemin, Der Völkerbundgedanke in der ersten deutschen Nationalversammlung 1848/49, in: ders., Die 48er Demokratie und der Völkerbundgedanke, Berlin 1919, S. 9-19, bes. Ilf. 3 Für die Diskussion in den Preußischen Jahrbüchern vgl. Ernst Zitelmann, Haben wir ein Völkerrecht?, in: PJb 158 (1914), S. 472-495; Hans Delbrück, Realpolitischer Pazifismus, in: PJb 166 (1916), S. 177-187, bes. 180f, 187. Friedrich Naumanns "Mitteleuropa"-Bestseller erschien im Winter 1915/16. 4 Vgl. Reinhard Frommelt, Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933, Stuttgart 1977; Walter Lipgens, Europäische Einigungsidee 1923-1930 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten, in: HZ 203 (1966), S. 4689, 316-363.
, Vgl. James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfangen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770-1914, München 1983, S. 259.
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Europagedanken6 gab, der untrennbar mit einer staatsbürgernationalen Auffassung vom nationalen Idealstaat verbunden war und gleichzeitig im Widerspruch zur realen nationalen Politik der Liberalen stand. Der europäische Gedanke tauchte zwischen 1890 und 1933 in allen organisatorischen Ausformungen des Liberalismus auf. Liberale Parteien und Organisationen hatten ihn in ihren Programmen7 , und dem Liberalismus nahestehende bürgerliche Reformbewegungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bekannten sich zu ihm. 8 Dies blieb von der bisherigen Europaforschung fast unbemerkt. So fand die von Schieder als "bemerkenswert"9 bezeichnete Verknüpfung der europäischen Idee mit dem Friedensgedanken, wonach die Europäische Einheit zur Bürgschaft des Friedens werden sollte, weder in der Friedens-, noch in der Liberalismus- oder der Nationalismusforschung eine erkennenswerte Resonanz. Dem Urteil Gollwitzers, die Europaidee sei zwar ein Teil der liberalen Ideenwelt, die aber seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach und nach verblaßte, hat man wenig hinzuzufügen gewußt. 10 Europapläne wurden meist ideengeschichtlich als Entwürfe von Gelehrten (Leibniz, Herder) oder Politikern (Mazzini) aufgearbeitet. Fragen nach der Funktion des Europagedankens
6 Der Begriff "Europa " ist mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt. Europa konnte. analog zur Nation. die "Imagined Community" einer Völkerfamilie sein. die sich als zusammengehörig betrachtete. Nie fehlte es an Europadefinitionen. die sich auf gemeinsame Geschichte und Kultur oder •natürliche' Grenzen beriefen. Teilweise wurde mit Begriffen wie die "Gemeinschaft der Kulturvölker" oder der "Lebensraum der weißen Rasse" gearbeitet. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden als "Tochter Europas" oder "jüngeres Europa" mit in die gedachte Ordnung Europas einbezogen. Hieran wird deutlich. daß Europa nur scheinbar eine geographische Einheit bezeichnete. Europa meinte in Wahrheit eine politisch-kulturelle Einheit. Vgl. Man/red Fuhrmann. Europa - Zur Geschichte einer kulturellen und politischen Idee. Konstanz 1981. 7
Vgl. Geoffrey Barraclough. Die Einheit Europas als Gedanke und Tat. Göningen 1964. S. 41.
8 Für die Verbindung des Europagedankens mit dem lebens reformerischen Vegetarismus bei dem 48er Revolutionär und Weggefährten Gustav Struves vgl. Wolfgang R. Krabbe. Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göningen 1974, S. 156. Hier auch der Entwurf eines Europaplans. 9 Vgl. Theodor Schieder. Nationalbewußtsein und europäische Einigung. in: Michael Jeismann/ Henning Ritter (Hg.). Grenzfalle. Über neuen und alten Nationalismus. Leipzig 1993. S. 215-239. bes.227. 10 Heinz Gollwitzer. Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1951. S. 282.
Europäische Utopie und nationale Realität im deutschen Liberalismus 1890-1933
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wurden nicht gestellt. 11 Erst in neue ster Zeit betrachten einzelne Arbeiten im Zusammenhang mit einer erweiterten Nationalismusforschung die Entstehung europäischer Nationalstaaten und übergreifender gesamteuropäischer Gemeinsamkeiten unter formationsgeschichtlichen Gesichtspunkten. 12 Historiker umschreiben die Zeit nach 1890 als "postliberale" Ära, in der weder von der Bürokratie, noch von den für den Liberalismus so wichtigen gesellschaftlichen Gruppen - weite Teile der Wirtschaft und der akademischen Berufe, der Landwirtschaft und des Handwerks - neue Impulse ausgingen. In den Parlamenten habe es noch eine liberale, zerrissene Minderheit ohne jedes Selbst- und Zielbewußtsein gegeben. 13 Andererseits begann nach der Verabschiedung Bismarcks eine soziale 14 und nationale 15 Aufbruchzeit, die sich in einer liberalen "Vereinsrevolution" (Sheehan) widerspiegelte. 16 In den 1890er Jahren wurden so gegensätzliche und für den Europagedanken wichtige Vereinigungen wie die "Deutsche Friedensgesellschaft" (1892) und der "NationalSoziale Verein" um Friedrich Naumann (1896) gegründet. Am Aufbau der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) seit 1892 wirkten liberale Reichstagsabgeordnete mit. Durch die Gründung der DFG entstand erstmals eine liberale politische Organisation, die aufbauend auf ihrem Hauptziel, der internationalen Verrechtlichung, Pläne für ein vereintes Europa mas11 Hier scheint sich auch für die frühen Phasen des Europagedankens eine Änderung zu vollziehen. Die von Christian fansen (Bochum) gegenwärtig erstellte Habilitationsschrift über "Die 48er Linke von der Niederlage der Revolution bis zur Konstituierung des Deutschen Reiches (1849-79)" versucht mit einem sozialhistorischen Zugriff" europäisch-föderalistischer Lösungsmöglichkeiten für die deutsche Frage" an die 1848er-Linke zu binden. 12 Vgl. den Sammelband herausgegeben von Günther Lattes, Region, Nation, Europa, Heidelberg 1992. Darin bes. Heinz Duchardt, Föderalismus, Nationalstaatsidee, Europagedanke, im deutschen Ancien Regime und im 19. Jahrhundert - eine Quadratur des Kreises?, S. 162-176. Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994.
13 Zum Liberalismus als "Geschichte eines Untergangs" vgl. insbes. farnes f. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770-1914, München 1983, hier S. 256, ebenso S. 319. 14 Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, S. 11, bes. 27f.
"Die nationale Aufbruchsstimmung betonend, vgl. Michael feismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbild und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992, S. 387. 16 Gangolf Hübinger, 'Machtstaat, Rechtsstaat, Kulturstaat' . Liberale Verfassungspolitik im Deutschen Kaiserreich, in: Hans Mommsen/ firi Koralka (Hg.), Ungleiche Nachbarn. Demokratische und nationale Emanzipation bei Deutschen. Tschechen und Slowaken (1815-1914), Essen 1993, S.56.
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senwirksam zu propagieren versuchte. Ortsgruppen der DFG gründeten sich in der Regel im sozialen, organisatorischen und weltanschaulichen Umfeld der linksliberalen Parteien. 17 Die Zahl der Friedensvereine stieg von vier Vereinen im Jahre 1886, auf sechs 1893 und zwölf 1894. 1895 gab es bereits 26, 1896 schon 45 und 1897 55 Friedensvereine. Bis zur Jahrhundertwende wuchs die Zahl der Ortsgruppen auf nahezu 70 mit etwa 5000 Mitgliedern. Mit dem langsamen, aber stetigen Wachstum der organisatorisch orientierten Friedensbewegung nahm auch ihre inhaltliche Differenzierung zu. Obwohl die Schaffung einer organisierten und geregelten Schiedsgerichtsbarkeit das eigentliche Hauptziel der liberalen Friedensbewegung war, forderten Pazifisten vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder die Organisation Europas. 18 Man müsse an die Stelle der militant-aggressiven Politik der Epoche 19 einen gesicherten Rechtszustand zwischen den Völkern herstellen. Die vorgeschlagenen Mittel reichten von der Kodifizierung des Völkerrechts bis zur Herstellung eines Staatenbundes. Das Bekenntnis zum europäischen Gedanken galt auch für die mit dem Vereinsliberalismus eng verbundenen liberalen Parteien. Dem Gedanken am nächsten stand die süddeutsche, in einer partikularistischen Tradition stehende, linksliberale Deutsche Volkspartei. In ihrem Programm vom 21. September 1895 nannte sie sich "eine Partei des Friedens. [ ... ] Sie erstrebt einen Friedensund Freiheitsbund der Völker. ,,20 Die Volkspartei wolle alle Bestrebungen unterstützen, "welche der Annäherung der Völker, dem friedlichen Ausgleich der zwischen ihnen entstehenden Streitigkeiten und der gegenseitigen Verminderung der Kriegsrüstungen,,21 dienten. Zur friedlichen Konfliktregelung forderte die Volkspartei eine Einsetzung ständiger internationaler Schiedsgerichte. 22
17
Vgl. Karl Hall, Pazifismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 46.
18 Mit der Betonung auf der Schaffung einer Weltorganisation, ohne die ein europäischer Staatenbund unmöglich sei: Walther Schücking, Die Organisation der Welt, Leipzig 1909, S. 64f. 19 Wolfram Wette, Einleitung. Probleme des Pazifismus in der Zwischenkriegszeit, in: Karl Hall (Hg.), Pazifismus in der Weimarer Republik. Beiträge zur historischen Friedensforschung, Paderborn: 1981, S. 15. 20
Wilhelm Mammsen (Hg.), Deutsche Parteiprogramme, München 1960, S. 161.
21
Ebenda.
22 Vgl. ebenda, S. 163; Karl Hall, Krieg und Frieden und die Liberalen Parteien, in: ders.l Günther List (Hg.), Liberalismus und imperialistischer Staat, Göningen 1975, S. 72-88, bes. 74.
Europäische Utopie und nationale Realität im deutschen Liberalismus 1890-1933
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Auf der parlamentarischen Ebene wirksam wurde das europäische Engagement von Liberalen in der 1889 auf Initiative des Engländers William Randal Cremer und des Franzosen Frederic Passy gegründeten Interparlamentarischen Union. In den jährlichen Konferenzen der Union wurden Fragen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und des Völkerrechts beraten. 23 Im Jahre 1891 wurde Deutschland dort von zwölf Freisinnigen und vier Nationalliberalen vertreten. Danach gründete sich am 14. Dezember 1891 ein "Deutsches Komitee für Schiedsgericht und Frieden" aus 60 Abgeordneten vornehmlich der Deutsch-Freisinnigen Partei. Zu ihren prominenten Mitgliedern gehörten Max Hirsch, Karl Baumbach. Rudolf Virchow. Heinrich Dohrn, Ludwig Bamberger, Heinrich Rickert, Ludwig von Bar und Theodor Barth. 1912 hatte die IPU insgesamt 3640 Mitglieder aus 21 nationalen Gruppen. Die deutsche Gruppe unter Führung des Abgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) Richard Eickhoff gehörte mit 157 Mitgliedern zu den kleineren Vertretungen. 24 Als sich 1910 die drei linksliberalen Parteien zur Fortschrittlichen Volkspartei vereinigten. forderten sie im neunten Punkt ihres Einigungsprogramms die "Annäherung der Völker", den "Ausbau des Völkerrechts und der internationalen Schiedsgerichtseinrichtungen " .25 Trotz ihrer organisatorischen und weltanschaulichen Nähe blieb die konkrete Zusammenarbeit zwischen liberalen Parteien und der Friedensgesellschaft eher die Ausnahme. Beide sind aber als komplementäre Teile des Gesamtliberalismus zu verstehen. Mit dem Ersten Weltkrieg trat der europäische Gedanke mehr in den Vordergrund des liberalen Interesses. Der Krieg eröffnete die Möglichkeit, verkrustete nationale Strukturen zu überwinden und zu einer neuen übernationalen europäischen Ordnung zu gelangen. Die von Hans Delbrück herausgegebenen liberalkonservativen Preussischen Jahrbücher, die sich in den Jahren vor 1890 wiederholt mit verwandten Fragen einer gemeinsamen europäischen Sprache beschäftigt hatten, thematisierten bereits kurz nach Kriegsausbruch die interna23 Vgl. Fredrik Sterzet. The Interparliamentary Union. Stockholm 1968. S. 9-18; Richard EickhojJ. Die internationale Schiedsgerichts bewegung. Berlin 1910. S. 16. 24 Sie lag damit nicht nur hinter den Vertretungen anderer Großmächte. wie Frankreich (516) und Großbritannien (228). sondern auch hinter den mittleren und kleinen Staaten Europas wie Schweden (281) oder Dänemark (179). Vgl. Wilfried Eisenbeiß. Die bürgerliche Friedensbewegung in Deutschland während des Ersten Weltkrieges. Organsiation. Selbstverständnis und politische Praxis 1913/141919. Frankfurt/M. 1980. S. 56f. 25
Vgl. Mommsen. Deutsche Parteiprogramrne. S. 176.
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tionale Verrechtlichung als wünschenswertes ZieL In den Preußischen Jahrbüchern beklagte der Völkerrechtlerund Bodenreformer Ernst Zitelmann, daß sein Traum vom "ewigen Frieden" vernichtet sei; ebenso die Hoffnung, daß "die sich täglich verdichtenden Fäden der Kulturbeziehungen zwischen den einzelnen Völkern stark genug sein würden, um eine Wiederaufbrennen uralten Völkerhaßes und wildester Roheit zu verhindern. ,,26 Zitelmann bedauerte die Mangelhaftigkeit des Haager Schiedsgerichts und hoffte auf den Ausbau des Völkerrechts und die unentbehrliche organisatorische Verknüpfung der Kulturstaaten nach Ende des Kriegs. 27 Ein knappes Jahr später, im November 1916, bekannte sich Delbrück in einem vielbeachteten Aufsatz über "Realpolitischen Pazifismus" in den Preußischen Jahrbüchern für die Nachkriegszeit zu sicheren Grenzen und Verhältnissen in Europa. 28 Über die Einhaltung dieser völkerrechtlichen Prinzipien solle eine völkerrechtliche Gemeinschaft mit einer zu schaffenden Exekutive wachen. Eine mögliche Einschränkung der nationalen Souveränität sei besser als eine Zustand ohne jeden "überstaatlichen Organismus". 29 Dieser Wandel zum Europagedanken vollzog sich auch bei anderen. Maximilian Harden hatte sich zunächst in seiner "Zukunft" kriegsbegeistert gegeben. Im Sommer 1914 war er als überzeugter Nationalist und Patriot, als Annexionist und Machtpolitiker für den Krieg eingetreten, hatte die unbeschränkte Okkupation der feindlichen Länder gefordert und geschrieben, Macht gehe vor Recht. 30 Ab Mai 1915 wandte er sich aber gegen einen Siegfrieden. Seit Ende 1916 setzte er sich für einen Verständigungsfrieden im Sinne Wilsons ein. Das Deutsche Reich solle sich nach Ende des Kriegs in das System westeuropäischer Politik einordnen. Mit der Schaffung eines internationalen Schiedsgerichtshofs, den man mit konkreten Machtmitteln versehen solle, müsse das Recht an die Stelle der Gewalt in den internationalen Beziehungen treten. 31 Als Ende 1917 der Friedensvertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet wurde, setzte 26
Ernst Zitelmann, Haben wir ein Völkerrecht?, in: PJb 158 (1914), S. 472-495, bes. 472.
27
Ebenda, bes. S. 486, 495.
28
Hans Delbrück, Realpolitischer Pazifismus, in: PJb 166 (1916), S. 177-187, bes. 180f, 187.
29
Ebenda.
30
Uwe B. Weller, Maximilian Harden und die 'Zukunft'. Bremen: 1970, S. 262.
31 Vgl. Hans Joachim Goebel, Maximilian Harden als politischer Publizist im Ersten Weltkrieg, Frankfurt/M.: 1977, S. 196f.
Europäische Utopie und nationale Realität im deutschen Liberalismus 1890-1933
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sich Harden u.a. für einen europäischen Völkerbund und ein Weltschiedsgericht ein. 32 Der Krieg hatte in Harden einen durchgehenden Bewußtseins- und Gesinnungswandel hervorgerufen. Es dürfe nicht der Sinn des Krieges gewesen sein, neue Nationalismen zu züchten. Die Europaidee, die Harden nun entwickelte, ging von der Notwendigkeit einer europäischen Gemeinwirtschaft und der deutsch-französischen Verständigung aus. Harden rief die 'guten Europäer' auf, die Einigung ihres Erdteils zu erstreben, denn nur sie allein könnten ihn vor dem wirtschaftlichen Untergang retten. Er beschwor die Nationen, die Völkerbundsidee nicht durch nationalistischen Egoismus zu korrumpieren. Man dürfe die unaufhaltbare Entwikklung zur Internationalisierung des Kontinents nicht zu bremsen versuchen, sondern müsse neue Fortschritte auf dem Weg zu einem vereinigten Europa erstreben. Nur die Vereinigten Staaten von Europa dürften künftig noch der Betrachtung wert sein. 33 Im Frühjahr 1923 legte Harden mit seinem Buch "Deutschland, Frankreich, England,,34 seinen Beitrag zur Frage der europäischen Einigung vor. 35 Als er den Europäern "Suchet, Europäer, den Weg nach Europa!" zurief, würdigte ihn der Führer der Paneuropa-Bewegung Graf Coudenhove-Kalergi als einen "Politiker aus Passion, getrieben durch die Leidenschaft dreifacher Liebe: zu Deutschland, zu Europa, zur Wahrheit. Er ist deutscher Patriot, guter Europäer und Fanatiker der Wahrheit. ,,36 Harden wolle ein "blühendes Deutschland in einem glücklichen Europa"37. Ähnlich verhielt es sich mit Friedrich Naumanns nationalsozialer Bewegung. In den Grundlinien des National-Sozialen Vereins galt die ungehemmte äußere Macht den National-Sozialen als Voraussetzung sozialer Reformen im Inneren. 38 Obwohl sich Naumann seit 1899 mit dem Gedanken einer
32
Vgl. Weller, Maximilian Harden, S. 252.
J3
Vgl. ebenda, S. 309.
34
Maximilian Harden, Deutschland, Frankreich, England, Berlin 1923.
35 Harry F. Young, Maximilian Harden. Censor Germaniae. Ein Publizist im Widerstreit von 1892 bis 1927, Münster: 1971, S. 262. 36
Richard N. Coudenhove-Kalergi, Krise der Weltanschauung, Wien 1923, S. 125.
37
Ebenda.
38
Vgl. Mommsen, Deutsche Parteiprogramme, S. 167.
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kontinental europäisch-mitteleuropäischen Organisation beschäftigte39 , traten diese Pläne erst 1915/16 in den Vordergrund. Mit Friedrich Naumanns Bestseller "Mitteleuropa" tauchte dann zum ersten Mal der Gedanke eines partiellen europäischen Zusanunenschlusses all derjenigen Staaten auf, die weder zum englischen, noch zum russischen Weltbunde gehörten. Diese Gemeinschaft der Übriggebliebenen40 sollte zunächst das Deutsche Reich und die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns, "in ferner Zukunft" auch Frankreich umfassen. 41
Naumann erwartete, daß sich nach und nach auch die kleinen Randnationen dem mitteleuropäischen Verbande anschließen würden. 42 Mitteleuropa sollte eine militärische Sicherheitsgemeinschaft, eine rassische Gemeinschaft "unseres mitteleuropäischen Typs ,,43 und angesichts der im Kriege vollzogenen Abschließung vom Weltmarkt, eine Wirtschaftsgemeinschaft sein. 44 Mitteleuropa sollte eine Stufe auf dem Weg zu einer in der Zukunft sich abzeichnenden Menschheitsorganisation, den "Vereinigten Staaten der Erdkugel" sein. 45
Naumann ging davon aus, daß sich diese Menschheitsorganisation auf der Basis von "Menschheitsgruppen" entwickeln werde. Eine davon sollte Mitteleuropa sein.
Auch im Umfeld des organisierten Pazifismus führte die Situation des Krieges zu einem Aufschwung der Europa-Idee. Insgesamt bestanden in Deutschland am Ende des Krieges sechs Organisationen, die sich der internationalen Zusanunenarbeit widmeten: Die "Interparlamentarische Union", der "Verband für internationale Verständigung", die "Deutsche Friedensgesellschaft" (diese drei noch aus der Friedenszeit stanunend), der "Bund Neues Vaterland", der "Nationale Frauenausschuß für Dauernden Frieden" und die "Zentralstelle Völkerrecht" (diese drei im Verlauf des Krieges gegründet).46 Größere Bedeu39 Vgl. Dieter Düding. Der Nationalsoziale Verein 1896-1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus. München/Wien 1972, S.70f. 40
Vgl. Friedrich Naumann, Mineleuropa, Berlin 1916, S. 194.
41
Vgl. ebenda, S. lff.
42
Vgl. ebenda, S. 178.
4J
Vgl. ebenda, S. 62.
44
Vgl. ebenda. S. 134ff.
4S
Vgl. ebenda, S. 165.
46 Vgl. Ernst Jäckh. Der Völkerbundgedanke in Deutschland während des Weltkrieges, Berlin 1929, S. 10.
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tung kam auch der im März 1917 gegründeten "Gesellschaft für Völkerrecht" zu. Zu den nach Kriegsende wie Pilze aus dem Boden schießenden Völkerbundplänen gesellte sich auch schnell eine "Deutsche Liga für Völkerbund", der zahlreiche Vertreter des politischen und geistigen Lebens Deutschlands beitraten. Insgesamt läßt sich festhalten, daß der europäische Gedanke im Kaiserreich zunächst auf die programmatische Ebene im bürgerlichen Pazifismus und einiger liberalen Parteien beschränkt war, seit Beginn des Weltkriegs aber immer mehr durch die liberale Publizistik in die Tagesdiskussion eindrang. Die innerhalb der liberalen Bewegung diskutierten Europapläne gingen nach 1918 in liberale Parteiprogramme ein. So verpflichtete sich die Deutsche Demokratische Partei in ihrem Programm vom Dezember 1919 dazu, das zukünftige "friedliche Zusammenleben der Völker in einer Welt des Rechts" vorzubereiten. 47 Den zusammen mit dem Versailler Friedensvertrag aus der Taufe gehobenen Völkerbund lehnte man aber als einen "Völkerbund der Sieger" ab. "Niemals nehmen wir das Diktat der Gewalt als bleibende Rechtsordnung hin ... 48 Stattdessen sollten die Beziehungen der Völker zueinander nicht "durch Macht und Unterdrückung, sondern von Gerechtigkeit und Freiheit"49 geprägt sein. Der Völkerbund müsse eine internationale Arbeitsgemeinschaft darstellen und dürfe keine Mächteallianz gegen Deutschland sein. 50 Die Nationalliberalen hatten vor dem Krieg das bisherige System der Hochrüstung unterstützt und Opferwilligkeit verlangt, wo das Ansehen und die Wehrkraft der Nation in Frage stehe. Die Erhaltung von Heer und Flotte bei voller Leistungsflihigkeit blieb eine Konstante nationalliberaler Politik über den Weltkrieg hinaus. 51 In den Grundsätzen der nationalliberalen Nachfolgepartei, der Deutschen Volkspartei, vom Oktober 1919 bekämpfte sie alle "Zersetzungsbestrebungen, die an die Stelle des Bekenntnisses zum nationalen Staat
47
Vgl. Mommsen, Deutsche Parteiprogramme, S. 509.
48
Von S. 509 ebendort zitiert.
49
Ebenda, S. 510.
so Vgl. ebenda. SI Vgl. die "Ziele und Bestrebungen der Nationalliberalen Partei" v. Januar 1907 und den "Wahlaufruf der Nationalliberalen Partei" v. November 1911, zitiert bei Mommsen, Deutsche Parteiprogramme, S. 169, 177.
10 TImmcnnann
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und zum deutschen Volkstum das Weltbürgertum setzen wollen. ,,52 Sie hielt solche Auffassungen für dem deutschen Empfinden gegenüber "wesensfremd. ,,53 Wenn nachher auch Stresemann der deutschen Außenpolitik eine proeuropäische Wendung geben konnte, so änderte das nichts an der grundsätzlichen Distanz der DVP gegenüber dem europäischen Gedanken. 54 Den Völkerbund ablehnend, erhoben sich am Anfang der 20er Jahre immer lautere Stimmen, die einen effektiven Bund der europäischen Staaten als Regional-Union im Rahmen des Völkerbundes vorschlugen. Unter den Schlagworten "Miueleuropa" bzw. "Paneuropa" tauchten Organisationen auf, die sich vorwiegend als europäische Einigungsbewegungen verstanden. Insbesondere die 1923 ins Leben gerufene Paneuropa-Union des Grafen Richard v. Coudenhove-Kalergi machte den Europa-Gedanken mit einem klar umrissenen Programm zu einem Gattungsbegriff für alle Einigungsbewegungen der 20er und 30er Jahre. Nach ihrem Selbstverständnis war die Paneuropa-Union eine "überparteiliche Massenbewegung zur Einigung Europas. ,,55 CoudenhoveKalergi gelang es, mit Erich Koch-Weser und Wilhelm Heile prominente Liberale als Anhänger zu gewinnen. Als 1926 der Sozialdemokrat und Reichstagspräsident Paul Löbe an die Spitze der deutschen Sektion der PaneuropaUnion trat, zeigte sich, daß auch die Sozialdemokratie zu den pro-europäischen Kräften in Deutschland gehörte. Dies schlug sich im September 1925 im Heidelberger Programm der SPD nieder. Sie trat für die "aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa" ein. 56 Von den Sozialdemokratischen Zeitschriften waren
S2
Ebenda, S. 522.
S)
Ebenda.
S4 Für Stresemann sollte sich die europäische Einigung bereits 1924 in Analogie zum Deutschen Zoll verein aus einem wirtschaftlichem Zusammenschluß entwickeln. Stresemann blieb seiner Priorität einer wirtschaftlichen Einigung bis zu seinem Tode treu. Vgl. Lipgens, Europäische Einigungsidee, hier S. 65, 8lf.
SS Vgl. den Beschluß des Zentral rats der Paneuropa-Union vom 5.10.1926, zitiert nach: Richard N. Coudenhove-Kalergi, Europa erwacht!, Zürich/Wien/Leipzig 1934, S. 162. S6 16. Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Parteitag in Heidelberg 1925. in: Dieter Dowe/ Kurt Klotzbach (Hg.). Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie. Berlin/Bonn 1984. S. 215-224. hier 224.
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die "Sozialistischen Monatshefte" dem Europagedanken gegenüber besonders aufgeschlossen. 57 Nachdem er sich 1925 von Coudenhove getrennt hatte, gründete und trug der DDP-Politiker und Gefolgsmann Naumanns, Wilhelm Heile, zusammen mit dem zionistischen Politiker Alfred Nossig den deutschen "Verband für Europäische Cooperation" .58 Nossig hatte bereits seit 1923 einen "Europäischen Friedensbund " propagiert59 und ein "Komitee für die Interessengemeinschaft europäischer Völker" gegründet, zu dem Heile 1924 gestoßen war. Der Zusammenschluß wurde vorwiegend durch Parlamentarier der DDP, der SPD, aber auch des Zentrums und der DVP unterstützt. Im Gegensatz zur Paneuropa-Bewegung gelang es dem Verband nicht, sich eine Massenbasis zu geben. Am 19. Mai 1925 debattierte der Reichstag im Vorfeld des Locarnopaktes über die Frage eines deutsch-französischen Sicherheitspaktes, den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund und die Schaffung der "Vereinigten Staaten von Europa"60 Im Anschluß an eine Rede Rudolf Breitscheids, 1908 Mitbegründer der linksliberalen Demokratischen Vereinigung, seit 1912 SPD-Politiker und ab 1922 Hauptsprecher der SPD in außenpolitischen Fragen, zeigte sich, daß der Europagedanke bei SPD, DDP, DVP, dem Zentrum und der Bayerischen Volkspartei mit grundsätzlicher Unterstützung rechnen durfte. Breitscheid hatte in seiner Rede die Gleichberechtigung Deutschlands in der "europäischen Völkergemeinschaft" , die Anerkennung der Grenzen im Westen, den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund und die "Vereinigten Staaten von Europa" gefordert. Es gebe etwas Höheres als militärische Machtentfaltung. "Das ist das konsequente Verfolgen des Gedankens, sich einzuordnen, sich gleichberechtigt einzuordnen in ein System europäischer Staaten, in diesem Staatensystem zu leben ohne den Gedanken an das Vergangene, nur mit dem Gedanken an das Kommende, gleichberechtigt in einem System zu leben und dabei jene Idee vor S7
Zurecht die inhaltliche Unbestimmtheit des sozialdemokratischen Europabegriffs betonend vgl.
Dieter Grohl Peter Brandt, Vaterlandslose Gesellen. Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992, S. 185.
S8 1926 als "Verband fiir europäische Verständigung" gegründet. Zu vernachlässigen sind hier der "Europäische Zollverein" , den der Direktor des Wolffschen Telegraphenbüros 1924 ins Leben gerufen hatte. Vgl. Jürgen C. Hess, Europagedanke und nationaler Revisionismus. Überlegungen zu einer Verknüpfung in der Weimarer Republik am Beispiel Wilhelm Heiles, in: HZ 225 (1977), S. 572-622. S9 Karl HoLl, Europapolitik im Vorfeld der deutschen Regierungspolitik. Zur Tätigkeit proeuropäischer Organisationen in der Weimarer Republik, in: HZ 219 (1974), S. 38f. 60 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Bd. 385, 63. Sitzung, 1885 bis 1954.
10'
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Augen zu haben, die von Ihnen (nach rechts) heute als Utopismus hingestellt wird, die aber die Realpolitik von morgen sein wird, die Idee der Vereinigten Staaten von Europa. [ ... ] Wir kommen zu ihr auf dem Wege über die wirtschaftliche Verständigung. ,,61 Für das Zentrum sprach der katholische Theologe Ludwig Kaas, der sich zu zwischenstaatlichen Beziehungen bekannte, die auf dem "kategorischen Imperativ des göttlichen Sittengesetzes" beruhten. Deutschland müsse als kulturelle Führungsmacht vorangehen, "in der Luft liegende [ ... ] europäische Gruppierungen"62 zu schaffen. Distanzierter zeigte sich der für die DVP sprechende Freiherr von Rheinbaben. Er warnte vor Utopismus, erkannte aber die Notwendigkeit an, daß sich die europäischen Nationen auf der Basis der deutschen Gleichberechtigung zunächst einmal wirtschaftlich verständigten, "damit etwas mehr Vereinigung und Einigkeit in Europa Platz greift. ,,63 Graf Bernstorff von der Deutschen Demokratischen Partei äußerte sich eingehend zu den Vereinigten Staaten von Europa, wobei er ihre Coudenhove-Kalergische Ausprägung, nämlich die Union ohne England zu vollziehen, ausdrücklich ablehnte. Die Vereinigung Europas mit Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied sei aus sicherheits- und wirtschaftspolitischen Gründen notwendig. 64 Die Coudenhove-Kalergischen Pläne lehnte auch Graf v. Lerchenfeld für die Bayerische Volkspartei ab. Nach seiner Auffassung sollte das vereinigte Europa einen besseren Schutz der deutschen Minderheiten gewähren. 65 Zwar schien die europäische Idee 1925 mit überparteilicher Unterstützung rechnen zu dürfen66 , doch wurde in der Debatte auch deutlich, daß es keinesfalls Einigkeit über die Funktion und die Zusammensetzung der Vereinigten Staaten von Europa gab. Diese Idee bildete vielmehr je nach weltanschaulichem Standpunkt die Folie für unerfüllte revisionistische, wirtschaftspolitische oder ethische Wunschvorstellungen. Zwischen dem Locarno-Vertrag 1925 und der Genfer Weltwirtschaftskonferenz 1927 verdichtete sich die Diskussion über politische und wirtschaftliche Aspekte einer europäischen Verständigung. Die ganze Spannbreite der in dieser Zeit entstandenen politischen Programme zeigt der im Mai 1926 erschienene
61
Ebenda. 1893.
62
Ebenda. 1908.
63
Ebenda. 1919.
64
Ebenda. bes. 1934.
M
Ebenda. bes. 1945f.
66
V gl. Frommelt, Paneuropa oder Mitteleuropa. S. 28f.
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Sammelband über die "Europäische Zollunion"67. Zu den 21 Autoren zählten so bekannte liberale DDP-Politiker wie Georg Gothein und Theodor Heuss. Der Sammelband bewies erneut, wie weit die Anschauungen über den Weg zum Zusammenschluß, über die Mitglieder und Ziele des europäischen Bundes auseinandergingen. Die Vorstellungen reichten von einem deutsch-französischen Bündnis bis zu einem deutsch dominierten Mitteleuropa-Konzept. Von diesen vagen europäischen Föderationsversuchen unterschied sich Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Bewegung vor allem durch die inhaltliche Klarheit ihres Programms, als dessen alleiniger Prophet der Graf sich empfand und das er mit einem autoritären Führungsstil durchzusetzen versuchte. Wiederholte Versuche, den Heile/Nossig-"Verband für europäische Verständigung" organisatorisch mit der Paneuropaunion zu verbinden, scheiterten an Coudenhove-Kalergis Führungsanspruch. 68 Dies wurde besonders im Anschluß an den ersten, von über 2000 europäischen Politikern, Pädagogen, Juristen und Geschäftsleuten besuchten Paneuropa-Kongreß im Oktober 1926 in Wien deutlich. Coudenhove-Kalergi nutzte die zeitgemäßen Techniken der Massemobilisierung und präsentierte dem Kongreß eine Paneuropa-Flagge, ein Paneuropa-Sonnenkreuz und einen Paneuropa-Wahlspruch. 1932 sollte eine Art Paneuropa-Uniform folgen. 69 Briand, der zusammen mit Stresemann am 16. Oktober 1926 den LocarnoVertrag als regionalen Sicherheitspakt zwischen Frankreich, Belgien und Deutschland unterzeichnete, richtete als einziger Außenminister eine Grußadresse an den Wiener Paneuropa-Kongreß. Im Mai 1930 trat Briand nach Vorankündigungen vom 5. und 9. September 1929, in denen er sich für eine Art europäisches "Bundesverhältnis" ausgesprochen hatte, mit einem Memorandum an die Öffentlichkeit, das folgende vier Punkte enthielt: 1. Abschluß eines Vertrages mit dem Bekenntnis zur moralischen Union, der Bekräftigung der Solidarität der europäischen Staaten und der Zielvorgabe einer friedlichen Organisation Europas.
67
Hanns Heiman (Hg.), Europäische Zollunion. Beiträge zu Problem und Lösung, Berlin 1926.
68
Die Beziehungen zwischen den Vereinigungen aufarbeitend vgl. Holl, Europapolitik, S. 33-94.
69 Die Bedeutung, die Coudenhove-Kalergi symbolischen Fragen widmete, zeigt sich darin, daß er in fast keinem seiner zahlreichen Schriften auf eine eingehende Erläuterung der PaneuropaSymbolik verzichtet. V gl. beispielhaft Richard N. Coudenhove-Kalergi, Pazifismus, Wien 1924, S. 26; ders., Das Pan-europäische Manifest, Wien/Leipzig 1924, S. 19; ders. Paneuropa, Wien/Leipzig 21926, S. 155; ders., Kommen die Vereinigten Staaten von Europa? Glarus 1938, S. 48f.
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2. Schaffung von legislativen und exekutiven Organen des Bundes und eines Büros zur Vorbereitung der europäischen Union. 3. Festlegung des Vorrangs der politischen Einigung vor der wirtschaftlichen. Bewahrung der nationalen Souveränität und Schaffung eines Binnenmarktes. 4. Auswahl besonderer Arbeitsgebiete für die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Zusammenarbeit in Europa. 70 Die Reaktion auf den Briandschen Vorstoß waren verhalten. Die großen liberalen Zeitungen befreundeten sich mit ihm nur langsam. Die Frankfurter Zeitung, das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung begrüßten Briands Initiative als "Wunsch aller Vernünftigen", doch mischten sich deutliche Bedenken über die Realisierbarkeit der Briandschen Vorschläge unter die allgemeine Befürwortung. 71 Nachdem Stresemanns Nachfolger im Amt, Julius Curtius, dessen Versöhnungskurs mit Frankreich nicht weiterzuführen bereit war, scheiterte das Briandsche Memorandum unter anderem an der Ablehnung der deutschen Regierung. 72 Diese Wendung in der deutschen Außenpolitik und der Sieg der NSDAP in den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 von 2,6 (1928) auf 18,3 % der Wählerstimmen engte die Handlungsräume liberaler Europapolitik zunehmend ein. Im Februar 1931 ging Heiles "Comitee für Europäische Cooperation" in der "Deutschen Liga für Völkerbund" auf. Zur Gründung einer Paneuropäischen Partei, die auf dem 3. Paneuropa-Kongress im Oktober 1932 in Basel beschlossen wurde, kam es infolge der Machtübernahme Hitlers in Deutschland nicht mehr. 73 Im August 1934 wurde fast die ganze PaneuropaLiteratur verboten. Obwohl ihre realhistorische Bedeutung gering war, läßt sich sich festhalten, daß die Europa-Idee im Liberalismus zwischen 1890 und 1933 zwar präsent war, aber ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen konnte. Verglichen mit der Friedensbewegung des 19. Jahrhunderts und ihrer Absage an Massen-
70 Wegen seiner ausführlichen Zitate interessant: Richard N. Coudenhove-Kalergi. Europa erwacht!. Zürich/Wien/Leipzig 1934. S. 114-123. 71 Vgl. Dorothee Badehaus. Die Europabewegung in der Politik nach dem ersten Weltkrieg und ihr Widerhall in der Presse von 1918-1933. München Diss. phil 1951. S. 117f.
72
Zu den Gründen für die Ablehnung vgl. Lipgens. Europäische Einigungsidee. hier S. 343-360.
7) Vgl. Coudenhove-Kalergi. Europa erwacht!. S. 150. S. 155; ders .• Die europäische Nation. Stuttgan 1953. S. 104.
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mobilisierung und politische Symbolik74 , hat der europäische Gedanke zwischen 1890 und 1933 einen Wandel vom philosophischen Entwurf einzelner Denker zu den Ansätzen einer Massenbewegung durchgemacht. Hinter der Unterstützung, die Europapläne in der Zwischenkriegszeit erhielten, stand in Deutschland der Wunsch einer Revision der als entwürdigend empfundenen Bestimmungen des Versailler Vertrages und der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes für die exportorientierten Branchen der deutschen Wirtschaft. In diesen Plänen sollte die europäische Einigung den politischen Rahmen für eine in Großregionen gegliederte Neuordnung der Weltwirtschaft abgeben. Das proeuropäische Engagement muß weiter vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Vereinigten Staaten von Amerika, der Sowjetunion und Asiens gesehen werden. Europa wurde dadurch vom Zentrum der Welt nicht gerade an den Rand gedrückt, aber diese Entwicklung war ein deutliches Anzeichen für die Enteuropäisierung der Welt. Allen Plänen für ein föderalistisches Europa zwischen 1890 und 1933 ist gemeinsam, daß sie von einer territorialen Bestandsgarantie der europäischen Nationen ausgingen und sie diese Nationen als Staatsbürgernationen definierten. 75 Der Pazifist Alfred H. Fried betonte 1910, daß "kein vernünftiger Mensch" an eine "Zusammenwürflung der Staaten zu einem Einheitsbrei mit Zentralgewalt"76 denke. Alle Einzelstaaten sollten in ihrer Selbständigkeit und Eigenart erhalten werden77 • Auch in Naumanns "neuem Oberstaate" Miueleuropa sollte, abgesehen von "gewissen notwendigen Zugeständnissen "78, die Souveränität seiner Mitgliedsstaaten nicht angetastet werden. Dies blieb ohne Abstriche bis
7' Die angeblich von Kaiser Wilhelm geschaffene und innerhalb der Friedensbewegung wiederholt kolportierte europäische Flagge, hatte einen eher anekdotischen Charakter, da der Großteil der Pazifisten die Fahnenfrage als Nebensächlichkeit betrachtete. Vgl. Alfred H. Fried, Der Kaiser und der Weltfrieden, Berlin 1910, S. 50-52, Ludwig Quidde, Die Friedensfahne Wilhelms H. in: Friedenswarte 29 (1929), S. 12-14. 7S Nach Lepsius basiert eine Staatsnation idealerweise auf folgenden Grundannahmen: 1. nach außen auf der Anerkennung des eigenen und anderer Staatswesens, 2. nach innen auf den naturrechtlieh begründeten staatsbürgerlichen Individualrechten im Geltungsbereich der Verfassungsordnung und 3. auf der Verknüpfung der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte mit wirtschaftlichen. sozialen und kulturellen Voraussetzungen. Vgl. M. Rainer Lepsius. Nation und Nationalismus in Deutschland. in: Jeismann/ Ritter (Hg.). Grenzfalle. S. 193-214. bes. 209-211. 76
Fried. Der Kaiser und der Weltfrieden. S. 176.
77
Vgl. ebenda.
78
Naumann. Mitteleuropa. S. 232f.
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Ende der 20er Jahre bei allen liberalen Europaorganisationen aktuell. 79 Eine Einigung Europas sei nur "auf föderalistischem Weg möglich, ohne Hegemonie, auf Grund des Mitbestimmungsrechtes sämtlicher Nationen über ihr eigenes Schicksal, "so schrieb Coudenhove-Kalergi. In der Minderheitenfrage sollte in den liberalen Europaplänen kein Einwohner aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit von den staatsbürgerlichen Rechten ausgeschlossen werden. Für das zwischenstaatliche Verhältnis bedeutete der Gedanke der Staatsnation, daß sich im Idealfall kein Staat als Hüter volksnationaler Minderheiten in anderen Staaten aufzufassen brauchte. Er konnte sicher sein, daß alle Minderheiten als vollwertige Staatsbürger mit allen Freiheitsrechten anerkannt wurden. SI SO stammt die kürzeste staatsnationale Definition der Nation von Fried: "Eine Nation ist die Zusammenfassung einer Anzahl Menschen, die sich unter ein gemeinsames Gesetz gefunden haben, ohne Unterschied ihrer Abstammung, Rasse, Sprachverschiedenheit. " Fried fügte hinzu: "Wenn man von der deutschen Nation spricht, meint man die in Deutschland geborenen Polen mit, ebenso wie bei der Schweizer Nation die Einwohner französischer, italienischer und deutscher Abstammung mit gemeint sind. "S2 Auch in anderen Europaplänen wurde das Selbstbestimmungsrecht für die Minderheiten im Reich anerkannt. Delbriick plädierte für die Wiederherstellung und die völkerrechtliche Bestandsgarantie Polens. Minderheiten sollten in Zukunft mit "weitherziger Toleranz" behandelt werden. 83 In Naumanns Miueleuropa sollten die Einzelstaaten mit einer geänderten, toleranten Minderheitenpolitik eine neue Basis für das Zusammenleben zwischen dem deutschen Mehrheitsvolk, den Juden und Polen schaffen. s4 "Es wird auch hier nach dem Kriege eine große Revision aller Methoden stattfinden müssen, eine Löslösung vom Germanisierungszwang"85, schrieb Naumann. 79 Vgl. Coudenhove-Kalergi, Paneuropa, S. 142; Wilhelm Heile, Nationalstaat und Völkerbund. Gedanken über Deutschlands europäische Sendung, Halberstadt 1926, S. 29f.
80
Richard v. Coudenhove-Kalergi, Held oder Heiliger?, Wien/Paris/Leipzig 1927, S. 78.
81 Mit Betonung auf die Lösbarkeit innerer und äußerer Konflikte durch den liberalen Nationalstaat vgl. M. Rainer Lepsius, Der europäische Nationalstaat: Erbe und Zukunft, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen: 1990, S. 256-269. bes. 260. 82 Alfred H. Fried, Friedens-Katechismus. Ein Compendium der Friedenslehre. Dresden/Leipzig/Wien 1895, S. 20.
83
Delbrück. Realpolitischer Pazifismus. bes. S. 180f, 187.
84
Vgl. Naumann, Mineleuropa. S. 71, 74f.
8\
Vgl. ebenda. S. 75.
Europäische Utopie und nationale Realität im deutschen Liberalismus 1890-1933
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Nun verstand sich das Deutsche Reich auch für die liberalen Europafreunde nicht explizit als Staatsbürgernation, sondern als "Volks- und Kulturnation " . 86 Der Pazifist und Völkerrechtler Walter Schücking nahm an, daß sich durch das konkrete historische Zusammenleben eine gemeinsame nationale Kultur gebildet habe und argumentierte wie andere Liberale selbstverständlich mit den "Werten unseres Volkstums"87, die es zu schützen gelte. Von diesem Bekenntnis zur Volks- oder Kulturnation machten auch solche Liberale keine Ausnahme, die sich zum Beispiel wie Hans Delbrück oder Martin Rade in den von ihnen herausgegebenen Zeitschriften gegen die strikten Maßnahmen der preußischen Polenpolitik aussprachen. Volksnation und Staatsnation existierten im Denken der Liberalen nebeneinander. Je nachdem, beriefen sie sich auf die eine oder andere Defmition der Nation: Liberale Parlamentarier bekannten sich auf der III. Interparlamentarischen Konferenz zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für jede Nationalität. 88 Anderseits wollte man dieses Recht den Polen, Dänen und den Franzosen in Elsaß-Lothringen nicht gestatten, da sie deutsche Staatsbürger seien und dem deutschen Staatsvolk angehörten. Erst in der offenen Situation des Krieges standen diese Definitionen zur Disposition. Grenzen sollten jetzt nur unter Berücksichtigung des nationalen Selbstbestimmungsrechts neu gezogen werden. Zu Friedenszeiten war noch der Bestand der Nation über die individuelle Freiheit gestellt worden. Dieses etatistische Denken führte dazu, daß auch die europäisch orientierten Pazifisten die "Realpolitik" im deutschen Kaiserreich keinesfalls verurteilten89 oder eine Auflehnung gegen die bestehenden Gesetze forderten. 90 Das Nebeneinander scheinbar gegensätzlicher Positionen betraf nicht nur die Definition der Nation, sondern ganze Politikfelder wie die Rüstungs- und die Kolonialpolitik. Die Anhänger der Europaidee besaßen keine genauen Vorstel86
Lepsius, Nation und Nationalismus, S. 211.
87 Vgl. Walter Schücking, Die wichtigste Aufgabe des Völkerrechts, Stuttgart 1912, S. 11; Adolj Friedländer, Die Bedeutung der Suggestion im Völkerleben, Stuttgart 1913, S. 11; Otto Opet, Der Schutz der nationalen Minderheiten, Berlin 1919, S. 7. 88
Vgl. Johann v. Bloch, Der Krieg, Bd. 5, Berlin 1899, S. 48.
89 Vgl. Gustav Rühle, Zum 25-jährigen Jubiläum der Deutschen Friedensgesellschaft [1917], in: Georg Grosch (Hg.), Deutsche Pazifisten. Eine Sammlung von Vorkämpfern der Friedensbewegung in Deutschland, Stuttgart 1920, S. 29. 90 Vgl. OUo Umfrid, Friede auf Erden. Betrachtungen über den Völkerfrieden, Esslingen 1897, S. 14.
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lungen von den möglichen außenpolitischen Wirkungen der Hochrüstung, des Kolonialismus und des damals vielzitierten "zukünftigen Kriegs." Vielmehr erlagen auch sie den Verlockungen eines vitalen Imperialismus und erhofften sich wie Friedrich Naumann auf diesem Wege sogar ihre eigene "Erneuerung" .91 Vereinzelte Appelle, Verträge über Flottenrüstungsbeschränkungen mit England abzuschließen 92 , wurden von anderen, wie dem FVP-Reichstagsabgeordneten Richard Eickhoff, ins Reich der Zukunft verbannt. Er hielt einen solchen Vertrag "wenn nicht [für] ausgeschlossen, so doch so unwahrscheinlich wie nur möglich. ,,93 Eickhoff war es auch, der in Wahrnehmung der Interessen der Stahlindustrie seines Wahlkreises Solingen-Remscheid im Reichstag erhöhte Rüstungsausgaben für Bajonette verlangte und der seine Wiederwahl 1907 unter anderem der Unterstützung durch die "vaterländischen Verbände" verdankte. 94 In der Regel erschöpften sich die Argumente der Liberalen gegen die Hochrüstung auf deren hohe Kosten und die Unwilligkeit ihrer Wähler, diese Kosten zu tragen. 95 Die Mehrzahl vertagte das Rüstungsproblem auf eine in der Zukunft liegende europäische Staatenorganisation. 96 Ihre Argumente, daß Rüstungsmittel besser zugunsten der Volksbildung und Wissenschaft zu verwenden seien, zeugen allenfalls von der Wertschätzung für Bildung, die diese im Liberalismus genoß. 97 Insgesamt kann für die Zeit vor 1914 angenommen werden, daß steigende Rüstungsausgaben auch bei den Anhängern des Europagedankens nicht als friedensgefährdend betrachtet wurden. Man war vielmehr überzeugt, daß Aufrüstung eine zwar teure, aber wirkungsvolle Garantie für den Frieden 91 Zum Krieg vgl. Lothar Albertin, Das Friedensthema bei den Linksliberalen vor 1914: Die Schwäche ihrer Argumente und Aktivitäten, in: Holl/ List; Liberalismus und imperialistischer Staat, S. 89-198, bes. S. 98f. Ebenso der Beitrag von Karl Holl im selben Sammelband: Krieg und Frieden, S. 72-88, bes. 82. 92 Vgl. Alfred H. Fried, Die Grundlagen des revolutionären Pacifismus, Tübingen 1908, S. 36; Schücking, Die Organisation der Welt, S. 79.
93
EickhojJ, Die internationale Schiedsgerichts bewegung, S. 35.
94
Vgl. Holl. Krieg und Frieden. S. 76.
95 V gl. Christian Lange, Die Interparlamentarische Union und die Rüstungsherabsetzung, in: o.A., Die Interparlamentarische Union von 1889 bis 1939. Lausanne et al. 1939, S. 69. 96 So besonders Otto Umfrid und Alfred H. Fried. Vgl. Fried, Unter der weis sen Fahne!. S. 6; ders., Kurze Aufklärung über Wesen und Ziel des Pazifismus, BerlinILeipzig 1914, S. 14f; ders .• Vom Weltkrieg zum Weltfrieden. Zwanzig Kriegsaufsätze. Zürich 1916. S. 77; Umjrid. Friede auf Erden, bes. S. 49, 53. Ebenso Alfred Nossig. Die Politik des Weltfriedens. Die deutsch-französische Annäherung und die Kontinentalunion, Berlin 1900. S. 8f. Allgern. vgl. Albertin, Das Friedenstherna. S. 94. 97 Vgl. Walter Schücking, Kultur und Internationalismus [1910], in: ders. (Hg.), Der Bund der Völker, Leipzig 1918. S. 54; Otto Umjrid, Völkerevangelium. Esslingen 1913. S. 29.
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darstelle. Die wechselseitigen Nachrüstungen waren ihnen zwar unsympathisch, doch sie waren bereit, diese Realitäten als unumstößlich zu akzeptieren. Die Einstellung zur Hochrüstung änderte sich im Verlaufe des Krieges so grundlegend, daß Abrüstung und vertrauensbildende Maßnahmen zum diplomatischen Reisegepäck der deutschen Friedensdelegation, zum Programm der DDP und der Pazifisten98 nach dem Krieg gehörten. Während nach dem Weltkrieg gegen den Widerstand der Altpazifisten99 Wehrdienstverweigerung und Friedenserziehung 100 in der Friedensbewegung in den Vordergrund traten, übernahm die Paneuropa-Bewegung die Vorkriegsposition der Linksliberalen zur Hochrüstung. 101 Abrüstung hielt CoudenhoveKalergi erst fiir die Zeit "nach dem Siege des Friedensgedankens möglich" .102 Auch die möglichen Interessenkonflikte bei der kolonialen Aufteilung der Welt lagen außerhalb des Wahrnehmungsbereichs der liberalen Europafreunde. Viele sahen in der Propaganda fiir Kolonialpolitik ein Integrationsinstrument. In sie konnte ein breites Spektrum von liberalen Wertvorstellungen und Interessen einfließen, die sich in der Realität womöglich nicht miteinander vertrugen. 103 Ganz abgesehen von sozialimperialistischen Implikationen befiirworteten Liberale grundsätzlich den Kolonialismus. Umfrid hielt ihn fiir eine notwendige Maßnahme, um "überschüssige Bevölkerung" in "freien Gebieten"
98 Vgl. Ursula Fonuna, Der Völkerbundgedanke in Deutschland während des Ersten Weltkrieges, Zürich: Diss. phil 1974, S. 189; Das Kasseler Programm der DFG vom 15. Oktober 1919, abgedruckt in: Stefan Appelius, Zur Geschichte des kämpferischen Pazifismus. Die programmatische Entwicklung der Deutschen Friedensgesellschaft 1929-1956. Oldenburg 1988, S. 147-151, bes. 150.
99 Eindringlich aber auf verlorenem Posten, Ludwig Quidde (DDP): "Der Pazifismus aber will eine neue Welt aufbauen, erfüllt von der Idee des Rechtes, getragen von den solidarischen Interessen der Menschheit. Das ist etwas viel Größeres, viel Weitergehendes als die Verhinderung des Krieges durch Heeresdienstverweigerung. Wer den Pazifismus in dieser Forderung aufgehen läßt. verengert seinen Gesichtskreis und macht ihn ärmer. Er ist innerhalb der pazifistischen Bewegung gewissermaßen Reaktionär und kehrt zu dem Standpunkt jener zurück, die in den Anfängen der Bewegung gemeint haben. mit dem Ruf 'Die Waffen nieder' sei alles getan." Aus: Ludwig Quidde. Die Geschichte des Pazifismus, in: Kurt Lenz/ Walter Fabian (Hg.). Die Friedensbewegung. Ein Handbuch der Weltfriedensströmungen der Gegenwart. Unter Mitarbeit von hervorragenden in- und ausländischen Vertretern des Pazifismus. Berlin 1922, S. 32.
100 Vgl. Friedrich Wilhelm Foerster, Angewandte politische Ethik. Anmerkungen zum Verständnis der gegenwärtigen Weltlage, Ludwigsburg 1922, S. 120. 101
Vgl. Coudenhove-Kalergi, Pazifismus, S. 29; ders., Paneuropa, S. 60.
102
Coudenhove-Kalergi, Pazifismus, S. 29.
103
Vgl. Sheehan, Der deutsche Liberalismus, S. 238.
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unterzubringen. 104 Daneben trat der Wunsch, "unzivilisierte Völkerschaften" zu entwickeln 105, aber auch gegen schwere Mißbräuche durch die Kolonialmächte zu schützen. 106 Obwohl erwartet wurde, daß die Kolonien rund dreimal so viel kosten könnten, als sie einbrächten, sahen die Europafreunde hier eine gemeinsame Kulturaufgabe der zivilisierten europäischen Völker. 107 Besonders die afrikanischen Völker seien der "Vormundschaft Europas noch lange bedürftig"108. Schon 1896 tauchte der Gedanke einer gemeinsamen europäischen Kolonialverwaltung auf. 109 Das Ziel der Kolonialpolitik sollte es sein, mit Hilfe eines "freien und aufgeklärten Regiments" Kolonien schrittweise nach dem Vorbild Australiens in die Unabhängigkeit zu entlassen. 110 Das nach dem "Reifegrad " der Kolonialbevölkerung abgestufte Mandatssystem des Völkerbundes kam nach dem Weltkrieg diesen Forderungen sehr nahe. Die freundliche Haltung des Linksliberalismus zum Kolonialismus fand sich nach dem Weltkrieg bei Coudenhove-Kalergi wieder. Ein gemeinsames europäisches Kolonialreich in Afrika ermöglichte durch Auswanderung noch "vielen Menschenmillionen einen Ausweg aus der europäischen Hölle" .lll Außerdem sollte Afrika in die künftige Kornkammer und Rohstoffquelle Europas verwandelt werden. ll2 Mit ihrer grundSätzlichen Befürwortung von Hochrüstung und Imperialismus gerieten die Liberalen in keinen Widerspruch zu ihrem proeuropäischen Engagement. Die europäische Idee läßt sich daher nicht im engeren Sinne als eine 104 Vgl. Otto Umfrid, Europa den Europäern. Politische Ketzereien, Eßlingen 1913, S. 5, 43, 120. bes. 17: Kolonialismus als "Lebensfrage" angesichts des drohenden "Erstickungstod(es)" eines Volkes; hierzu: Christo! Mauch/ Tobias Brenner. Für eine WeIt ohne Krieg. Otto Umfrid und die Anfänge der Friedensbewegung, Schönaich 1987. S. 80. 105
Vgl. J. Novicow, Die Föderation Europas. BerlinlBern 1901, S. 562.
'06
Vgl. Umfrid. Völkerevangelium, S. 41; ders. Europa den Europäern, S. 120.
107 Vgl. ebenda, S. 57-60. Über die "Undenkbarkeit" auf den Ausdehnungsprozeß der "weißen Rasse" zu verzichten. Vgl. Nossig, Die Politik des Weltfriedens, S. 10.
108
Umfrid, Europa den Europäern, S. 55.
109
Vgl. Helmut Mauermann. Das internationale Friedensbüro 1892 bis 1950. Stuttgart 1990. S.
115. 110
August Forel. Die Vereinigten Staaten der Erde. Lausanne 1914. S. 14.
"' Richard N. Coudenhove-Kalergi, Apologie der Technik. WienlLeipzig 1922. S. 8. 112 Vgl. Coudenhove-Kalergi. Paneuropa. S. 145; ders., Held oder Heiliger? S. 48; ders .• Europa erwacht!. S. 215; ders .• Kommen die Vereinigten Staaten von Europa? S. 69.
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Utopie verstehen, die der verschärften Rüstungs- und Kolonialpolitik der Epoche entgegengestellt wurde. 113 Die Hinwendung zu einer gemäßigt imperialistischen Politik schloß keineswegs die internationale Verständigung aus. 114 Woran lag dies? Eine Erklärungsmöglichkeit ist die These, daß die Befürworter der Europaidee zwischen nationalistischer Gegenwarts- und zukünftiger nationaler Europapolitik unterschieden. Dazu ist es notwendig, einen Blick auf den besonderen Charakter von "Prinzipien" im Liberalismus zu werfen. Schapiro bezeichnete sie als "in einem zwar universellen, aber doch relativen Sinne wahr". Die Wahrheiten des Liberalismus seien zahlreich und vielfältig. Einige träfen zwar auf einen "bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, ein bestimmtes Volk zu, galten aber nicht an einem bestimmten anderen Ort, zu einer anderen Zeit oder für ein anderes Volk. ,,115 Folgt man dieser Argumentation, dann vermag man im zukünftigen, föderalistischen Europa eine Projektion liberaler Ideale in die Zukunft zu erkennen. Wenn schon nicht die europäische Gegenwart vom friedlichen Interessenausgleich geprägt war, dann sollte zumindest das in der Ferne liegende Europa so geordnet sein! Ihr Zukunftseuropa war nach Nietzsches Worten - das "grüne Weideglück" friedlicher kapitalistischer Nationen. 116 Das zukünftige Europa sollte den Bestand der Nation sichern. Eine europäische Organisation lag im friedlichen Interesse aller europäischen Nationen. Die fortgeschrittenen europäischen Nationen bildeten in den Augen der europäisch orientierten Liberalen bereits eine Wirtschaftsgemeinschaft, eine kulturelle Gemeinschaft und eine Kommunikationsgemeinschaft. Außerdem gab es ein gemeinsames Interesse an Entwicklungen in der Wissenschaft, um z.B. Krankheiten zu bekämpfen. Schließlich nahmen liberale Europafreunde an, daß das Bewußtsein dieser Interessen bei den Bürgern der Nationalstaaten zu einem "europäischen Nationalismus" führe, der die Organisation Europas oder der 113 Zu Realität und utopischem Gegenentwurf vgl. Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991, S. 5f. 114 Dies zeigt sich deutlich an Theodor Barths gemäßigtem Imperialismus zusammen mit seinem Bemühen um deutsch-englische Verständigung. Ein anderes Beispiel ist Ernst Jäckh, der zusammen mit Paul Rohrbach zu den engagiertesten Propagandisten eines "liberalen Imperialismus" gehörte und am 17. Dezember 1918 die Deutsche Liga für Völkerbund gründete, deren erstes Ziel "die Vereinigung und Koordination der zersplitterten Völkerbundsarbeit und die Werbung für den Völkerbund in den breitesten Kreisen des deutschen Volkes" war. Vgl. Fortuna, Der Völkerbundsgedanke in Deutschland, S. 47; Wolfgang J. Mommsen, Wandlungen der Liberalen Idee im Zeitalter des Imperialismus, in: Holll List; Liberalismus und imperialistischer Staat, S. 109-149, bes. 128.
115 Vgl. Salwyn Schapiro, Was ist Liberalismus, in: Lothar GaU (Hg.), Liberalismus, KönigsteinlTs.: 31985, S. 20-36, bes. 25. 116 Vgl. Roger Chickering, Imperial Germany and a world without war. The peace movement and German society 1892-1914, Princeton 1975, S. 119.
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Kulturnationen erleichtere. Dieser europäische Nationalismus sei mit dem nationalen Nationalismus vereinbar. Der vielgelesene Russe Novicow schrieb: "Man behauptet, daß sich der europäische Patriotismus schwer bilden muß, weil er immer den nationalen Patriotismus gegen sich haben wird. Diese Idee ist völlig irrtümlich, weil die lokale Vaterlandsliebe und die europäische Vaterlandsliebe nicht nötig haben, in Gegensatz zu treten, sondern nebeneinander bestehen können, was wir in kleinerem Maßstabe in verschiedenen Ländern beobachten können. Der badische und bairische Patriotismus können den deutschen Patriotismus nicht ausschließen. ,,117 In gleicher Weise definierte Coudenhove-Kalergi das "paneuropäische Gemeinschaftsgefühl" als "Krönung und Ergänzung des Nationalgefühls. ,,118 Für Europa zu sein, war für europäisch orientierte Liberale nur mit einem grundsätzlichen Bekenntnis zur Nation und zur nationalen Politik denkbar. Indem die europäisch orientierten Liberalen die Nation in eine feste überstaatliche Ordnung einzubinden versuchten, stellten sie ihre Europa-Idee in die Tradition ihrer großen Ordnungsentwürfe. Die Liberalen verstanden sich stets als die Partei der großen Ordnungsfragen. In dem herandrängenden Massenzeitalter entwarfen die europäisch orientierten Liberalen die Utopie eines Reichs der "neuen Menschen"lI9. Diese sollten als europäische Staatsbürger "mit Pflichten und Zielen [ ... ] an dem Aufbau dieser neuen Welt"120 mitarbeiten. Im Europa der Zukunft sollte auf "Verstandespolitik" , nicht auf einer auf Massensuggestion beruhenden "Gefühlspolitik" aufgebaut sein. 121 Da es für die Liberalen eine von Interessen losgelöste abstrakte Vernunft gab, war vernünftige Zukunftspolitik von der Nationalität der Handelnden losgelöst denkbar. Nationalität sollte dann wie die Religion reine Privatsache sein und unter dem Schutz der europäischen Staatenorganisation stehen. Coudenhove-Kalergi forderte 1923, in einer Zeit, die vom "Nationalitätenkampf" geprägt war, daß
117
J. Novicow, Die Föderation Europas, BerliniBern 1901, S. 615.
118
Coudenhove-Kalergi, Paneuropa, S. 153.
119
Richard N. Coudenhove-Kalergi, Paneuropa. Die europäische Seele, Leipzig 1928, S. 24.
120
Ebenda, S. 23.
121
Otjried Nippold, Ziele und Aufgaben des Verbandes fiir internationale Verständigung, Stuttgart
1913, S. 8.
Europäische Utopie und nationale Realität im deutschen Liberalismus 1890-1933
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Deutschland in Zukunft völliges "desinteressement" an "seinen Stammesbrüdern" zeige, um freundliche Beziehungen zu seinen Nachbarn aufzubauen. 122 Das geeinte, auf der Versöhnung der Völker aufgebaute Europa werde dann den Schutz nationaler Minderheiten garantieren. 123 Was für die Minderheiten galt, sollte für sämtliche Individuen gelten: Europa sollte die von den Nationalstaaten angegriffenen Rechte des Individuums sichern. Europa sollte die Rechte von Mann und Frau angleichen, die Garantie der Menschenrechte 124 und die persönliche Freizügigkeit l25 bringen und garantieren. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß in der Trennung zwischen Europa als Bezugsgröße zukünftiger Politik und der Befürwortung von Hochrüstung und Imperialismus als gegenwärtiger Realpolitik der Schlüssel für das Verständnis des liberalen Europagedankens liegt. Auch wenn die Liberalen die europäische Idee hinter den inneren Ausbau des Reiches zurückstellten, blieb die europäsche Idee, die Einordnung der Nation in einen rechtlich abgesicherten europäischen Rahmen, doch ein Element des liberalen Weltbildes. In Verbindung mit dem Europagedanken wurde die Nation dann als liberale Staatsbürgernation definiert und eine friedliche Zusammenarbeit der Kulturvölker entworfen. Aus der kleinlichen Tagespolitik heraus präsentierten sich die Liberalen als der großen Ordnungsentwürfe.
122
Coudenhove-Kalergi, Krise der Weltanschauung, S. 92.
123
Ders .. Europa erwacht!, S. 183; ders., Kommen die Vereinigten Staaten von Europa?, S. 81.
124
Vgl. J. Novicow, Die Föderation Europas. BerlinlBern 1901, S. 115,731.
125 Heile. Wilhelm, Europäische Cooperation auf dem Gebiete des Verkehrs, in: Deutsches Comitee für europäische Cooperation (Hg.), Europäische Cooperation, Berlin 1929, S. 30-48, bes. 33-37.
Wir müssen vor allem die übliche Verwechslung fernhalten, daß ein Volk einfach die Summe der Staatsbürger sei, es ist eine über die lahrhundene reichende Lebenseinheit von Menschen gemeinsamer seelischer An, die sich körperlich und geistig von Geschlecht zu Geschlecht fonzeugen, und die aus sich ein gemeinsames Besitztum von Kulturgütern und Idealen entwickeln. Wilhelm Stape[l
Radikaler, völkischer Nationalismus in Deutschland 1917-1933 Von Stephan Vopel
Dem deutschen Volkstum wird zugerechnet: - wer deutscher Abkunft ist; - wer die deutsche Sprache als Mutter- und Familiensprache nachweist, ausgenommen, er ist nachweisbar blutlich mit einem farbigen oder dem jüdischen Volkstum verbunden; - wer die deutsche Staatsbürgerschajt erlangt. Leopold v. VietinghojJ-ScheeP
I W. Stapel, Volk. Untersuchungen über Volkheit und Volkstum, Hamburg 1941 4 (4. Aufl. der Volksbürgerlichen Erziehung, Hamburg 1917), S. 27. (Hervorhebung i.O.) Stapel (1882-1954) war als Herausgeber des "Deutschen Volkstums" und Leiter der "kulturpolitischen Volkstumsabteilung" der "Hanseatischen Verlagsanstalt", des Hausverlags des "Deutschnationalen HandlungsgehilfenVerbands ", außerordentlich einflußreich. Zu Stapel siehe G. Stark, Entrepeneurs of Ideology. Neoconservative Publishers in Germany. 1890-1933. Chapei Hili 1981; I. Harnei. Völkischer Verband u. nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband 1893-1933. S. 123 ff.; apologetisch: H. Keßler. Wilhelm Stapel als politischer Publizist. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Nationalismus zwischen den beiden Kriegen. Nürnberg 1967. 2 L. v. Vietinghaff-Scheel, Vom Wesen u. Aufbau des Völkischen Staates, Berlin 1933, S. 23. Vietinghoff-Scheel (1868-7) war von 1913 bis zur Auflösung 1939 Hauptgeschäftsfiihrer des "Alldeutschen Verbands", dem ältesten und radikalsten der nationalistischen Agitationsverbände bürgerlichen Zuschnitts. Zum Alldeutschen Verband nach 1918: A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890-1939, Wiesbaden 1954; W. Krebs, Der Alldeutsche Verband in den Jahren 1918 bis 1939 - ein politisches Instrument des deutschen Imperialismus, Phil. Diss. BerlinlOst 1970; B.S. Charnberlin, The Enemy on the Right. The Alldeutsche Verband in the Weimar Republic, 1918-1926; Phil. Diss. University of Maryland 1972. Keine dieser Arbeiten reicht auch nur entfernt an die Untersuchung Rager Chickerings für die Zeit vor dem Weltkrieg heran: R. Chickering, We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan German League. 1886-1914, Boston 1984.
1I Timmcrmann
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§ 1.1.
Staatsangehöriger ist, wer dem Schutzverband des Deutschen Reiches angehön und ihm dafiir besonders verpflichtet ist . ...
§ 2.1.
Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder anverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen.
Reichsbürgergesetz, vom 15. September 1935]
Für das Verständnis der politischen Entwicklung der Weimarer Republik spielt die Analyse des Nationalismus eine entscheidende Rolle. Dies hat zuletzt Hans Mommsen wieder mit Nachdruck hervorgehoben. 4 Der Streit um konkurrierende Nationsvorstellungen überlagerte in vielfaltiger Weise andere, politische, wirtschaftliche und soziale Konflikte. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand dabei die Frage, wer zur Nation dazugehören sollte. Die Vorstellung der Nation als einer Abstammungsgemeinschaft, genauer: des deutschen Volkes als einer bis in die Vorgeschichte zurückreichenden Gemeinschaft, erwies sich in diesem Zusammenhang als außerordentlich durchsetzungsfahig. Dazu trug ihre große ideologische Flexibilität entscheidend bei. 5 Der ethnisch verstandene Nations-Begriff konnte ebenso mit Ideen der Herdersehen Volksgeistlehre verbunden werden wie mit biologistischem Rassismus. Aus der Perspektive des sozialgeschichtlich orientierten Historikers stellen sich die wesentlichen Fragen nach der Entstehung und Entwicklung spezifischer Nationalismen folgendermaßen: Erstens, welche ideologischen Konstruktionen bilden den Kern des Nationalismus, inwieweit greifen sie auf ideologische Traditionsbestände zurück, und welche Deutungsmuster der Wirklichkeit bieten sie an? Zweitens, wer sind die sozialen Träger des Nationalismus, und welche Interessen und Mentalitäten ermöglichen seine Rezeption? Drittens ist nach den Organisations- und Kommunikationsstrukturen der nationalistischen Bewegung zu fragen sowie nach den konkreten Rahmenbedingungen, unter denen der Nationalismus politische Dominanz oder zumindest entscheidenden Einfluß gewinnt. 6
] Zitiert nach: W. Hofer (Hg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, S. 284. 4 H. Mommsen, Nationalismus in der Weimarer Republik, in: O. Dann (Hg.), Die deutsche Nation. Geschichte - Probleme - Perspektiven, Vierow 1994, S. 83-95.
5 Der hier vertretene Ideologie-Begriff geht zurück auf C. Geertz, Ideology As a Cultural Sytem, in: ders., The Interpretation of Cultures, N.Y. 1973, S. 193-233. 6 H. Mommsen, Nation u. Nationalismus in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: W. Schieder u. V. Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland Bd. 2, Göningen 1986, S. 162-185.
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Die folgenden Thesen zum völkischen Nationalismus sind nach drei Themenbereichen geordnet. Den Ausgangspunkt bilden Überlegungen zur Theorie des Nationalismus, die den Charakter der Nation als eines gedanklichen Konstruktes hervorheben. Hierauf folgt ein kurzer Abriß zur Entstehung des völkischen Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg, da wesentliche Bestandteile der völkischen Ideologie bereits im Kaiserreich formuliert worden sind. Den eigentlichen Hauptteil und Gegenstand der Analyse stellt die Entwicklung des völkischen Nationalismus in der Weimarer Republik dar. Das wichtigste Kennzeichen dieser Phase seiner Ge-schichte ist die politische Massenwirksamkeit, wie sie durch die "Vaterlandspartei" angekündigt und durch den Nationalsozialismus zum Höhepunkt geführt wurde.
In der geschichtswissenschaftlichen Nationalismus-Forschung ist in den letzten zwei Jahrzehnten ein Perspektivenwechsel vollzogen worden.? In der älteren Nationalismus-Forschung überwogen bis dahin statische Ansätze, die Nationen als feststehende Größen betrachteten und in erster Linie den Prozeß der Staatsbildung als dynamischen Prozeß auffaßten. Zu einer Systematisierung in Form von Typologien verschiedener Nationstypen gelangen die Vertreter dieser Ansätze, indem sie jene Merkmale, die für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation zu einem bestimmten Zeitpunkt entscheidend sind, zum Wesen der jeweiligen Nation selbst verallgemeinern. Die bekanntesten Varianten dieser Richtung sind die durch Friedrich Meinecke bekannt gewordene Unterscheidung von "Staats-" und "Kulturnationen" und die damit in engem Zusammenhang stehende Abgrenzung eines "westeuropäischen", "subjektiven" Nationsbegriffes gegenüber einem "mittel- und osteuropäischen", "objektiven" durch Hans Kohn. s Indem die Vertreter dieser Ansätze analytische Merkmale historisch festschreiben , übersehen sie die Wandelbarkeit von Nationsvorstellungen. In der neueren Nationalismus-Forschung hingegen wird der Charakter der Nation als eines kulturellen Artefakts mit politischen und sozialen Funktionen 7 Einen annähernden Überblick über die längst ausgeuferte Literatur bieten H.-V. Wehler, Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte, München 1993; H.A. Winkler u. T. Schnabel, Bibliographie zum Nationalismus, Göningen 1979; K. W. Deutsch u. R.L. Meritt, Nationalism and National Development. An Interdisciplinary Bibliography 1935-1965, Cambridge/Mass. 1970; spez. zum deutschen Nationalismus: D.K. Buse u. ).e. Doerr, German Nationalism . A Bibliographical Approach, (Bd. 5 der Canadian Review ofStudies in Nationalism) N.Y. 1985. Zur Einführung in die Nationalismus-Forschung: H. Mommsen, Der Nationalismus als weltgeschichtlicher Faktor. Probleme einer Theorie des Nationalismus, in: ders ., Arbeiterbewegung u. nationale Frage, Göningen 1979, S. 15-60; P. Alter, Nationalismus. Frankfurt a.M . 1985.
8 F. Meinecke, Weltbürgertum u. Nationalstaat. München 19691 ; H. Kohn, Die Idee des Nationalismus . Ursprung u. Geschichte bis zur Französischen Revolution, Frankfurt 1962.
11°
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zunehmend hervorgehoben. 9 Hilfreich für die historische Analyse ist es, in der Nation "zunächst eine gedachte Ordnung" zu sehen, die eine jeweils näher definierte Kollektivität von Menschen als zusammengehörig bestimmt. 1O Wer zur Nation dazugehört - diese Frage wird durch die jeweils besonderen Kriterien der Ordnungsvorstellung der Nation entschieden. Diese Kriterien werden kulturell vermittelt und sind ebenso Faktor wie Produkt sozialer und politischer Interessen und Konflikte. Nationsvorstellungen sind daher, was die äußerliche Konstanz des Nations-Begriffs leicht verdeckt, formbar und veränderbar. Vergleicht man verschiedene Nationsvorstellungen anband der Frage, welches Merkmal für die Zugehörigkeit zur jeweiligen Nation konstitutiv sein soll, läßt sich leicht eine Typologie unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen von Nationen erstellen. Rainer Lepsius hat für die Analyse der Geschichte von Nation und Nationalismus in Deutschland eine solche Typologie entwickelt. In einer vereinfachten Variante lassen sich ethnische, kulturelle und staatsbürgerliche Kriterien der Zuordnung voneinander unterscheiden. Sie begründen jeweils den Typ der Volks-, der Kultur- und der Staatsnation. 11 Die Volksnation beruht auf der Fiktion der Abstammungsgemeinschaft. Der "Nachweis" ethnischer Zugehörigkeit wurde historisch zunächst anband kultureller Kriterien, vor allem der Sprache, geleistet. Mit der Entwicklung und der Popularisierung des Rassenbegriffs und des Darwinismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zunehmend rassische Vorstellungen der Abstammung in den Vordergrund gestellt. Die Vorstellung der Nation als einer
9 Aus der umfangreichen neueren Literatur hier nur die wesentlichen: E. Hobsbawm. Nationen u. Nationalismus. Mythos u. Realität seit 1780. Frankfurt 1991; E. Gel/ner, Nationalismus u. Moderne, Berlin 1991; B. Andersan, Die Erfindung der Nation, Frankfurt 1988; J. Breuilly, Nationalism and the State. N.Y. 1982; J. Armstrang, Nations before Nationalism, ChapeI Hili 1982; M. Hrach, Social Preconditions of National Revival in Europe, Cambridge 1985. Die Darstellung von H. Schulze, Staat u. Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, ist von eigentümlicher Ambivalenz gekennzeichnet. Während Schulze einerseits die Nationen charakterisiert als "geistige Wesen, ausgebrütet von einer durchaus überschaubaren Anzahl von Gelehrten, Publizisten und Dichtern - Volksnationen in der Idee, noch längst nicht in der Wirklichkeit" (189), ist gleich darauf vom "Erwachen der vielen europäischen Volksnationen zum Bewußtsein ihrer selbst" die Rede (190).
'0 M.R. Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in: H.A. Winkler (Hg.), Nationalismus in der Welt von heute, (Geschichte u. Gesellschaft, Sonderheft 8) Göttingen 1982. S. 12-27. Der Begriff der "gedachten Ordnung" geht zurück auf E. Francis, Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens, München 1957, S. 9 ff. Grundlegend bereits Max Weber, für den sich die Nation erst durch einen "Gemeinsamkeitsglauben" konstituiert; M. Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft. Tübingen 1972'. S. 242 ff. 11
Lepsius, Nation u. Nationalismus, S. 15 ff.
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ethnischen Abstammungsgemeinschaft bildet den Kern jener Ideologie, die hier als völkischer Nationalismus bezeichnet wird. Die Kulturnation konstituiert sich über gleiche kulturelle Traditionen, als deren wesentlichstes Merkmal meist die Sprache gilt. Die Idee der Kulturnation ist politisch neutral und wurde realhistorisch sowohl mit der Idee der Volksnation als auch mit der Vorstellung der Staatsnation verbunden. Ähnlich wie durch den Begriff der Volksnation konnte auch durch den Begriff der Kulturnation der Anspruch auf Eingliederung außerhalb der Staats grenzen lebender "Deutscher" aufrechterhalten werden und gleichzeitig mißliebigen sozialen Gruppen die Zugehörigkeit zur Nation bestritten werden. Die Staatsnation wird durch die Zugehörigkeit zu einem politisch verfaßten Staatswesen konstituiert. 12 Sie umfaßt alle Staatsbürger. In Deutschland wurde der Nationalstaat, auf den sich die Vorstellung der Staatsnation bezieht, historisch zuerst als Machtstaat legitimiert. Erst durch die Weimarer Verfassung trat der Anspruch auf Verwirklichung demokratischer Herrschaftsformen auf. Insgesamt hat die Vorstellung der Nation als Staatsnation in Deutschland nur schwer gegen die älteren Vorstellungen der Volks- und der Kulturnation durchgesetzt werden können; vielmehr wurden jeweils Bestandteile dieser Vorstellungen integriert. Noch zahlreicher als Definitionen der "Nation" sind jene des Begriffs "Nationalismus". Unter Bezugnahme auf Ernest Gellner soll hier unter Nationalismus eine Ideologie verstanden werden, die fordert, daß politische und nationale Einheiten deckungsgleich sein sollten. \3 Was den Nationalismus gegenüber den meisten anderen "Glaubenssystemen"14 auszeichnet, ist das außerordentlich hohe Maß an Loyalität, das er vom Individuum gegenüber dem Solidaritätsverband der Nation einfordert. Im Extremfall wird für die Nation der Vorrang vor allen anderen sozialen Verbänden gefordert.
12 Im Gegensatz zu Lepsius halte ich jene Nationsvorstellung, welche die Kollektivität der Staatsbürger mit jener der Nation in eins setzt, zwar an individuelle Gleichheitsrechte, nicht aber notwendig an demokratische Herrschaftsverfahren gebunden. In Absetzung von Lepsius' Typus der "Staatsbürgernation" spreche ich daher von der "Staatsnation" (so auch P. Walkenhorst, Nation, Volk, Rasse. Radikaler Nationalismus im deutschen Kaiserreich 1890-1914, unveröff. Mskr., Bielefeld 1994). Dieser Begriff der Staats nation ist von jenem der älteren Forschung natürlich zu unterscheiden. 13
E. Gel/ner, Nationalismus u. Moderne, S. 8.
14 Zum Begriff "Glaubenssystem" siehe T. Parsons, Belief Systems and the Social System: The Problem of the Role of Ideas, in: ders., The Social System, London 1952, S. 326-383.
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Aus dieser Sichtweise von Nation und Nationalismus ergibt sich auch, in welcher historischen Beziehung die damit bezeichneten Phänomene zueinander stehen: In dem Sinne, daß Nationsvorstellungen stets von einem harten Kern hochmotivierter ideologischer Propagandisten entwickelt und verbreitet und unter günstigen Bedingungen massenwirksam werden, läßt sich sagen, daß der Nationalismus der Nation vorausgeht: "Nicht die Nationen sind es, die Staaten und Nationalismen hervorbringen, sondern umgekehrt. ,,15 Analytisch betrachtet ist die Reichsgründung 1871 mit der Frage verknüpft, inwieweit die älteren Vorstellungen der Volks- und der Kulturnation auf Dauer durchsetzungsfähig bleiben konnten oder ob sie einem Staatsnationalismus weichen mußten. Die Bedeutung dieser Frage ergab sich auch aus der besonderen Form des ersten deutschen Nationalstaats. Das Territorium des Kaiserreichs umschloß einerseits ethnische Minderheiten, wie Polen und Dänen, zum anderen schloß es große Bevölkerungsgruppen aus, die bis dahin stets zum Kernbestand eines zu schaffenden Nationalstaates gezählt hatten, insbesondere natürlich die Deutsch-Österreicher. Gewichtet man die Verteilung unterschiedlicher Nationsbegriffe im Kaiserreich, zeichnet sich die zunehmende Dominanz eines machtstaatlichen Nationsverständnisses ab. Die Vorstellungen einer Volks- bzw. einer Kulturnation hingegen blieben an Bedeutung zurück. Gleichzeitig allerdings verlor der deutsche Nationalismus in weiten Kreisen seiner sozialen Trägerschaft seinen Charakter einer liberalen Emanzipationsideologie und wurde statt dessen mit konservativem Inhalt gefüllt. 16 Parallel dazu wurden von den extremen Ideologen der Volksnation bereits jene radikalen Vorstellungen entwickelt, die massenwirksam zuerst unter den Ausnahmebedingungen des Ersten Weltkrieges, dann aber vor allem in der Weimarer Republik zur "Weltanschauung" breiter Teile der Bevölkerung wurden. 17 Die Ideen von Paul de Lagarde (1827-1891) und Julius Langbehn " Gellner. Nationalismus u. Moderne. S. 87. 16 Die zuletzt von Heinrich Winkler - unter Berufung auf Ludwig Bamberger - formulierte. einflußreiche These vom "Funktionswandel" des deutschen Nationalismus in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre übersieht den langfristig viel wichtigeren inhaltlichen Wandel; H.A. Winkler. Vom linken zum rechten Nationalismus. in: Geschichte u. Gesellschaft. 4 (1978). S. 5-28. Die Denkfiguren Inhaltswandel bzw. Funktionswandel sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen. daß es nicht nur einen. entweder seine Funktion oder seinen Inhalt ändernden. Nationalismus gibt. sondern vielmehr unterschiedliche und miteinander konkurrierende Nationsvorstellungen. 17 Zur Kontinuität völkischer Ideologie vgl. W. Altgeld. Volk. Rasse. Raum. Völkisches Denken u. radikaler Nationalismus im Vorfeld des Nationalsozialismus. in: R. Lill u. H. Oberreuter (Hg.). Machtverfall u. Machtergreifung. Aufstieg u. Herrschaft des Nationalsozialismus. München 1983.
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(1851-1907), Eugen Dühring (1833-1921) und Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) wurden von radikalen antisemitischen und nationalistischen Verbänden, seit den 1890er Jahren dann vor allem vom "Alldeutschen Verband" aufgenommen und verbreitet. 18 Die völkische Ideologie bestand aus fünf Elementen: Der Kernpunkt des völkischen Denkens bestand in der Auffassung von der Nation bzw. dem Volk als ethnischer Abstammungsgemeinschaft. Der von den Völkischen vertretene "Volks"-Begriff war ebenso vor- wie außerstaatlich geprägt. Vorstaatlich, weil das Volk in dieser Konzeption als metaphysische, kulturelle oder rassische Einheit der politischen, staatlichen Verfaßtheit vorausgeht. Außerstaatlich, weil sich die Grenzen des so bestimmten Volkes nicht mit den Staatsgrenzen deckten. 19 Mit der völkischen Nationsvorstellung war häufig eine antisemitische Einstellung verbunden. Diese war zuerst wesentlich religiös-kulturell begründet, wurde dann aber zunehmend durch einen sozialdarwinistisch argumentierenden Rassismus aufgeladen. Aus dem postulierten Gegensatz zwischen "Deutschen" und "Juden" wurde so ein "Kampf ums Überleben" zwischen "Arierturn" und "Semitentum" . 20 Eng mit der Auffassung eines sozialdarwinistischen Völkerkampfes verknüpft war ein spezifisch völkischer Imperialismus. Das völkische Expansionsstreben war keineswegs nur nach Übersee gerichtet. Bereits lange vor den extremen
S. 95-119; ders., Die Ideologie des Nationalsozialismus u. ihre Vorläufer. in: K.D. Bracher u. L. Valiani (Hg.), Faschismus u. Nationalsozialismus, Berlin 1991. S. 107-136; F. Stern. Kulturpessimismus als politische Gefahr. Bern-Stuttgart-Wien 1963; G.L. Masse, Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus. Frankfurt a.M. 1991 2 • 18 Allgemein: K. Schilling, Beiträge zu einer Geschichte des radikalen Nationalismus in der Wilhelminischen Ära 1890-1908. Diss. Köln 1968; G. Eley. Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck. New HavenlConn. 1980; ders .• Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, Münster 1991; H.-V. Wehler, Historische Verbands forschung. Zur Funktion u. Struktur der nationalen Kampfverbände in Deutschland. in: ders., Historische Sozialwissenschaft u. Geschichtsschreibung. Göttingen 1980, S. 151-160. Zum Alldeutschen Verband: Chickering, We Men; M. Peters. Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908-1914). Ein Beitrag zur Geschichte des völkischen Nationalismus im spätwilhelminischen Deutschland, Frankfurt a.M. 1992. 19 R. Kasel/eck u.a., Volk. Nation, Nationalismus. Masse, in: ders .• O. Brunner u. W. Canze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 7, 1992. S. 141-431. bes. 407.
20 Zum Zusammenhang von Antisemitismus. Rassismus und Sozialdarwinismus siehe P.E. Becker. Sozialdarwinismus. Rassismus. Antisemitismus u. völkischer Gedanke. Stuttgart 1990; G.L. Masse. Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt 1990.
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Kriegszielforderungen der Alldeutschen gab es einen "Drang nach Osten", die Forderung nach deutscher Kolonisation in Ost- und Südosteuropa. 21 Schließlich ist als letzter Bestandteil völkischer Ideologie die Wunschvorstellung einer bestimmten inneren Staats- und Gesellschaftsordnung zu nennen. Die Stoßrichtung der Völkischen war antisozialistisch und antiliberalistisch. Sie forderten einen ständisch verfaßten Gesellschaftsaufbau, der gleiche politische Rechte ausschloß. Trotz des starken agrarromantischen Einschlags war aber das wirtschaftlich antimodernistische Element begrenzt. Keineswegs sollte die Industrialisierung rückgängig gemacht, sondern lediglich die für das Bürgertum antizipierte sozioökonomische und politische Bedrohung ausgeschaltet werden. 22 Obwohl z.B. die Alldeutschen durchaus antigouvernemental handelten, wenn sie ihre Interessen gefährdet sahen, unterstützten sie bis 1914 das bestehende politische System. Der radikale Nationalismus dieser Zeit war ein spezifisch bürgerliches Phänomen. Er speiste sich aus der säkularen Krisenerfahrung bürgerlicher Gruppen im Gefolge der wirtschaftlichen und politischen Modernisierung. 23 Gleichzeitig stellten Nationalismus und Antisemitismus, Rassismus und Imperialismus kulturelle Deutungsmuster bereit, die im völkischen Nationalismus zu einem hochgradig eplosiven Gemisch vereinigt wurden. Die politische Kraft und Massenwirksamkeit des radikalen, völkischen Nationalismus erwies sich zum ersten Mal unter den Krisenbedingungen des Ersten Weltkrieges am Erfolg der "Deutschen Vaterlandspartei" .24 Der Anlaß für ihre Gründung im August 1917 war die Verabschiedung der sog. "Friedens2\ Siehe etwa die Pläne des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, Ernst Hasse, für "das größere Deutschland": Deutsche Politik, I.Bd., 3. H.: Deutsche Grenzpolitik, München 1906, S. 152-174. Für eine ideologiekritische Analyse des Topos siehe W. Wippermann, Der "deutsche Drang nach Osten". Ideologie u. Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981; eine auf die politische Funktion des Imperialismus bezogene Analyse bei W.D. Smith, The Ideological Origins of Nazi Imperialism, N. Y. - Oxford 1986. 22 Siehe etwa das einflußreiche "Kaiser-Buch" des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbands, Heinrich Claß (1868-1953), das pseudonym veröffentlicht wurde: D. Frymann, Wenn ich der Kaiser wär' - politische Wahrheiten u. Notwendigkeiten, Leipzig 19142 • 21 Vgl. H. Mommsen, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: J. Kocka (Hg.), Bürger u. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288-315. 24 Eine gute Untersuchung zur Vaterlandspartei fehlte bislang. Unbefriedigend sind K. Wortmann, Geschichte der Deutschen Vaterlandspartei, 1917-1918. Halle 1926; G.E. Etue, The German Fatherland Party 1917-1918. Diss. Berkeley 1959; R. Ullrich, Die Deutsche Vaterlandspartei 1917/1918, Diss. Jena 1971. Erst nach Abschluß des vorliegenden Beitrags wurde mir die Düsseldorfer Dissertation zur Vaterlandspartei von Heinz Hagenlücke bekannt (erscheint voraussichtlich 1995). Seine Ergebnisse konnten leider nicht mehr berücksichtigt werden.
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resolution" durch die Mehrheitsparteien (Zentrum, Sozialdemokratie und Fortschrittliche Volkspartei) im Reichstag. Diese Resolution forderte einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, bedeutete also eine Absage an die extremen Kriegszielforderungen, wie sie unter dem Einfluß nicht nur der alldeutschen Propaganda zum Bestandteil der Erwartungen weiter Teile der Bevölkerung, auch innerhalb der Arbeiterschaft, geworden waren. Darüber hinaus signalisierte sie das Zustandekommen einer neuen parlamentarischen Mehrheit mit einer dezidiert liberal-demokratischen, auf Parlamentarisierung drängenden Stoßrichtung. 25 Sie bedrohte damit sowohl die Interessen radikaler Nationalisten als auch jene der konservativen Machteliten. Mit der Einrichtung des "Kartells der schaffenden Stände", in dem sich 1913 die "Deutsch-Konservative Partei" mit dem "Centralverband Deutscher Industrieller", dem "Bund der Landwirte" und dem "Reichsdeutschen Mittelstandsverband" verbündeten, war ihr Schulterschluß bereits öffentlich in Erscheinung getreten. In den ersten Kriegsjahren beschränkte sich die Aktivität des "Kartells" auf die Unterstützung der Kriegszielpropaganda durch die Gründung von zunächst geheimen Kriegszielausschüssen. Der wichtigste war der von der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie finanzierte "Unabhängige Ausschuß für einen Deutschen Frieden", der von dem Berliner Historiker Dietrich Schäfer (1845-1929) geführt wurde. Zu seinem Vorstand gehörte auch der preußische Generallandschaftsdirektor a.D., Wolfgang Kapp (1858-1922),z6 Unter seiner Leitung wurde die Verabschiedung der Friedensresolution zum Anlaß genommen, den schon länger gehegten Plan einer "Bewegung von unten" zu verwirklichen, welche "breite Kreise des kleinen Mittelstandes und der Arbeiterschaft unter der Parole des starken Friedens ... mobilisieren sollte ,,27 , um so die erhoffte Militärdiktatur unter der Führung Hindenburgs und Ludendorffs nach unten abzusichern. Der erste Vorsitzende der Deutschen Vaterlandspartei wurde Großadmiral a.D. Alfred v. Tirpitz (1849-1930).28 Finanziert wurde die Vaterlandspartei von der Schwerindustrie; allein das Rheinisch-Westfälische 2~ Hierzu u. zum folgenden D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien u. Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands, Köln 1970, S. 497 ff.; ders., Zwischen Repression u. Manipulation: Konservative Machteliten u. Arbeiter- u. Angestelltenbewegung 1910-1918, in: Archiv für Sozialgeschichte, 12 (1972), S. 351-432; ders., Vom Neokonservatismus zum ProtoFaschismus: Konservative Partei, Vereine u. Verbände 1893-1920, S. 218 ff. 26 Kapps Amtszeit als Generallandschaftsdirektor war am 30. Juni 1916 abgelaufen; seine Wiederwahl wurde von der Regierung Bethmann-Hollweg nicht bestätigt, und erst nach dessen Fall konnte Kapp sein Amt wieder antreten; Wortmann, Vaterlandspartei, S. 26.
27
Stegmann, Neokonservatismus, S. 218.
28 Zu Tirpitz siehe R. Scheck, Intrigue and Illusion: Alfred Tirpitz As a Right-Wing Politician 1914-1930, Diss. Brandeis 1993.
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Kohlensyndikat stellte 1918 zwei Millionen Mark bereit. 29 Organisatorisch unterstützt wurde sie vom Bund der Landwirte, vom Alldeutschen Verband und vom Unabhängigen Ausschuß für einen Deutschen Frieden. Offiziell vertrat die Partei lediglich außenpolitische, d.h. Kriegszielforderungen; innenpolitisch gab sie vor, neutral zu sein. Ihren wahren Charakter aber konnte sie nicht verbergen; einem aufmerksamen Beobachter wie Max Weber entging nicht, daß "der Zweck auch hier wieder kein nationaler, sondern rein innerpolitische Demagogie ist." Das eigentliche Ziel sei "der Widerstand gegen die unabweisliche innere Neuordnung" .30 Organisatorisch und propagandistisch war die Vaterlandspartei außerordentlich erfolgreich. Auf ihrem Höhepunkt im Juli 1918 gehörten ihr rund 800.000 Einzelmitglieder in über 2.500 Ortsgruppen an. Durch die korporative Mitgliedschaft erreichte die Mitgliederzahl sogar 1,25 Millionen. 31 (Zum Vergleich: die bis dahin mitgliederstärkste deutsche Partei, die Sozialdemokratie, hatte am Vorabend des Ersten Weltkrieges knapp 1, 1 Millionen Mitglieder Y) Die Vaterlandspartei stellte in doppelter Hinsicht eine radikale Neuschöpfung in der deutschen Politik dar: zum einen war sie die erste Organisation, die über eine bloße Kooperation von radikalen Nationalisten und konservativen Machteliten hinausging, indem sie zu einem eigenständigen politischen Faktor wurde, der einen radikalen antisozialistischen, antiliberalistischen und antisemitischen Nationalismus propagierte. Zum anderen gelang es hier zum ersten Mal, nicht nur Junker, Bauern, Teile des Besitz- und Bildungsbürgertums und kleinbürgerliche Gruppen zu mobilisieren, sondern auch Angestellte und Arbeiter zu gewinnen. Die Ähnlichkeiten und Parallelen mit der späteren NSDAP sind keineswegs zufallig. Vielmehr ergibt eine genaue Analyse ideologische, personelle und stilistische Kontinuitätslinien. Vieles spricht daher dafür, die Vaterlandspartei als "protofaschistische Bewegung" (Dirk Stegmann) einzustufen. 33
29
Stegmann, Erben Bismarcks, S. 507.
30 Aus einem Artikel Webers für die "Münchener Neueste Nachrichten" vom 30. September 1917; zitiert nach: ders., Ges. politische Schriften, Tübingen 19885 , S. 229 ff. (Hervorhebung i.O.).
31
Stegmann, Neokonservatismus, S. 219.
J2 Angabe nach: G. Füllberth, Vom Reformismusstreit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1899-1914), in: J. v. Freyberg u.a. (Hg.), Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Von 1862 bis zu Gegenwart, 19893 , S. 41. 33
Stegmann, Neokonservatismus, S. 220.
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Nach Kriegsende wurde die Vaterlandspartei satzungsgemäß, vor allem aber notgedrungen aufgelöst. Ihr Vermögen und Inventar, einschließlich der Mitgliederkartei, wurden der am 22.11.1918 als Sammlungspartei des rechten Spektrums der Vorkriegsparteien gegründeten "Deutschnationalen Volkspartei" überschrieben. 34 Die Kriegsniederlage und in ihrem Gefolge die "steckengebliebene Revolution"35 sowie der Friedensvertrag von Versailles stellten die Gesellschaft der Weimarer Republik vor umfassende Aufgaben. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Revolution war die von dem linksliberalen Staatsrechtler Hugo Preuß (1860-1925) entworfene Verfassung, durch die der Charakter der Weimarer Republik als parlamentarischer Demokratie bestimmt wurde. Theoretisch war damit die wichtigste Voraussetzung für einen staatsbürgerlich orientierten Nationalismus gegeben, in dessen Zentrum eine durch individuelle Gleichheitsrechte und parlamentarische Verfahrensformen legitimierte "Staatsbürgemation" steht. 36 Statt dessen aber setzte sich im Laufe der Weimarer Republik ein radikaler, völkischer Nationalismus zunehmend durch. Hierfür sind in erster Linie vier Ursachen anzugeben: erstens die qualitativ und quantitativ völlig neuartige Erfahrung des Ersten Weltkrieges, die eine ganze Generation prägte und tendenziell psychosozial destabilisierend wirkte. Die Niederlage und ihre Folgen wirkten für die Verarbeitung der Kriegserfahrung als zusätzlicher Filter, der die Deutung des Kriegserlebnisses nachhaltig beeinflußte. 37 Zweitens wurden durch den Kriegsausgang völlig neue außenpolitische Rahmenbedingungen geschaffen: Durch den Versailler Friedensvertrag wurden die expansionistischen Ambitionen des deutschen Nationalismus begrenzt und das Deutsche Reich für die Kriegsschäden haftbar gemacht. Außerdem beinhaltete er Gebietsabtretungen und damit den Ausschluß zusätzlicher deutschsprachiger Bevölkerungsteile aus dem staatlichen Verband und verwehrte den Anschluß der Deutsch-Österreicher an den deutschen Staat. Drittens war der deutsche Nationalstaat als parlamentarische Demokratie auch innenpolitisch auf eine völlig 34 Ebda., S. 225; Ullrich, Vaterlandspartei, S. 320. Zur DNVP siehe L. Henzman, DNVP. Right-Wing Opposition in the Weimar Republic 1918-1924, Lincoln 1963; W. Liebe, Die Deutschnationale Volkspartei 1918-1924, Düsseldorf 1956; J. Striesow, Die Deutschnationale Volkspartei u. die Völkisch-Radikalen 1918-1922, 2 Bde., Frankfurt 1981; A. Thimme, Flucht in den Mythos. Die Deutschnationale Volkspartei u. die Niederlage von 1918, Göttingen 1969.
3S
Zur Einführung: U. Kluge, Die deutsche Revolution 1918/1919, Frankfurt 1985.
36
Lepsius, Nation u. Nationalismus, S. 23 ff.
37 Für einige grundsätzliche Überlegungen zu dieser Thematik siehe R. Koselleck, Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: W. Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes, München 1992, S. 324-343.
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neue Basis gestellt. Die verschiedenen konkurrierenden Nationsvorstellungen mußten sich mit dieser veränderten Legitimationsgrundlage staatlicher Herrschaft auseinandersetzen. Schließlich sind die besonderen Krisen und Belastungen zu nennen, denen die Gesellschaft in den Jahren der Weimarer Republik ausgesetzt war. Dazu gehören die Revolution von 1918/19, die Inflation der Anfangsjahre , die in der Hyperinflation des Jahres 1923 gipfelte, sowie die schwere wirtschaftliche Depression der Jahre 1929 bis 1933 und die damit verbundene Massenarbeitslosigkeit. 38 Vor diesem Hintergrund bildeten sich die besonderen Merkmale des völkischen Nationalismus aus, wie ihn auch die NSDAP vertrat, und dessen Hauptnutznießer sie seit 1928 wurde. Diese Merkmale sollen im folgenden kurz skizziert werden. 1. Der radikale, völkische Nationalismus profitierte insbesondere von zwei mentalitätsprägenden Faktoren. 39 Zum einen hatten viele Angehörige der nach 1890 geborenen Generationen ihre politische Sozialisation in Schule, Lehre, Universität, Militär und Kirche unter dem Einfluß der Vorreiter des völkischen Nationalismus erhalten, jener Studienräte, Kaufleute, Professoren, Berufsoffiziere und Pastoren also, die - häufig als Studenten - in den 1880er Jahren die erste Welle des völkischen Nationalismus gebildet hatten. 4o Seit den 1890er Jahren rückten diese in Schlüsselpositionen politischer Sozialisation ein und wirkten als Multiplikatoren völkischer Ideologie. Zum anderen veränderte die Erfahrung des Ersten Weltkriegs Bewußtseinsformen und Mentalitäten der Bevölkerung. Ganz abgesehen von individuellen psychischen Deformierungen als Folge unmittelbarer Kriegserlebnisse wuchs durch den Zusammenbruch vertrauter Sinnzusammenhänge die Bereitschaft, 38 Zur Einführung: D. Peukert. Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt a.M. 1987; H. Mommsen, Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933, Frankfurt a.M. - Berlin 1990; H.A. Wink/er, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993.
39 Zum Begriff der Mentalitätsgeschichte siehe V. Sellin, Mentalitäten in der Sozialgeschichte, in: W. Schieder u. V. Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland Bd. 3, Göttingen 1987, S. 101-121; T. Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Darmstadt 19672, S. 77 ff; H. Schulze.
Mentalitätsgeschichte - Chancen u. Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft u. Unterricht. 36 (1985), S. 247-270. 40 N. Kampe, Studenten und "Judenfrage" im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988; K. Jarausch, Students, Society and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic Illiberalism, Princeton 1982.
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neue, radikale Sinndeutungen zu übernehmen. 41 Sprache und Symbolik des Krieges wurden auf die zivile Gesellschaft übertragen. So wurde z.B. die "Frontgemeinschaft" . das vielbeschworene Ideal der klassenübergreifenden Einheit der Frontkämpfer, zur Verstärkung des älteren Bildes der "Volksgemeinschaft" genutzt. Die "Volksgemeinschaft" wurde zu Beginn der Weimarer Republik von allen Parteien propagiert, wobei die begriffliche Identität über die Verschiedenartigkeit der inhaltlichen Ausgestaltung leicht hinwegtäuschte. Im Sinnzusammenhang des völkischen Nationalismus richtete "Volksgemeinschaft" sich gegen den individualistischen Liberalismus ebenso wie gegen sozialistischen Klassenkampf, nicht aber gegen die Existenz sozioökonomischer Klassen an sich. 42 Für die Generation der jungen Kriegsteilnehmer und jener, die den Krieg als Kinder und Jugendliche erlebten, kam es so zu einer Überlagerung einschneidender Erfahrungen, die im Zusammenspiel eine Disposition für die Übernahme eines radikalen Nationalismus schufen. 43 Der prägende Einfluß des Krieges beschränkte sich dabei keineswegs auf die Symbolik. Der "ästhetisierende Gewaltmythos" ä la Ernst Jünger und anderer fand sein Korrelat in der Bereitschaft der Freikorps und anderer paramilitärischer Verbände und Geheimorganisationen, politische Konflikte mit Gewalt zu lösen. 44 2. Der völkische Nationsbegriff wurde auch in der Weimarer Republik gegenüber anderen, konkurrierenden Nationsvorstellungen entwickelt. In Ermangelung äußerlich erkennbarer "rassischer" Kriterien für die Zuordnung zum "Volk" benutzten die völkischen Theoretiker der Weimarer Republik Hilfskonstruktionen wie Sprache oder "geistige Gemeinschaft", die dem Vor41 E. Leed. No Man's Land. Combat and Identity in World War I. Cambridge 1979; U. Linse. Das wahre Zeugnis. Eine psychohistorische Deutung des Ersten Weltkriegs. in: K. Vondung (Hg.). Kriegserlebnis . Göningen 1980. S. 90-114.
42 Siehe z.B. H. Meyer. Der deutsche Mensch. 2. Buch: Deutsche Volksgemeinschaft. München 1925. 43 Zum historischen Generationsbegriff im Zusammenhang der Kriegs- und Nachkriegszeit siehe R. Wohl. The Generation of 1914. Cambridge/Mass. 1979; M. Kater. Generationskonflikt als Entwicklungsfaktor in der NS-Bewegung vor 1933. in: Geschichte u. Gesellschaft. 11 (1985). S. 217-243. Grundsätzlich: H. Jaeger, Generationen in der Geschichte. in: Geschichte u. Gesellschaft, 3 (1977). S. 429-51. 44 K.H. Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, München 1978; K. Prümm, Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre, 2 Bde., Kronberg/Ts. 1974; K. Theweleit, Männerphantasien, Bd. 2: Männerkörper - Zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Hamburg 19932 ; J.M. Diehl, Paramilitary Politics in Weimar Germany, Bloomington 1977; H.-J. Maueh, Nationalistische Wehrorganisationen in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung u. Ideologie des "Paramilitarismus" , Frankfurt a.M. 1982.
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stellungs bereich der "Kulturnation " entlehnt waren. 45 Die unterschiedlichen Mischungsverhältnisse rassischer bzw. kultureller Definitionselemente ergeben die ganze Bandbreite völkischer Vorstellungen, die aber stets auf die Fiktion der ethnischen Abstammungsgemeinschaft rekurrierten. Die Kriegsniederlage und in ihrem Gefolge der staatliche Zusammenbruch waren nicht nur von sozialpsychologischer Bedeutung, sondern schufen auch die politische Notwendigkeit, über die Legitimationsbasis staatlicher Herrschaft neu zu verhandeln. Die Definition der Nation als Basis staatlicher Legitimität bekam daher hervorragende Bedeutung. Die Vorstellung der "Staatsnation" wurde von den völkischen Ideologen scharf attackiert. Angesichts der außenpolitischen Bedingungen der Nachkriegszeit hatte ein sich nach dem Vorbild des Kaiserreichs rein machtstaatlich legitimierender Staatsnationalismus keine Chance. Hinzu kam: Auch wenn das Streben nach einer Revision des Versailler Vertrages kein Reservat der radikalen Rechten war, unterschieden sich die Parteien der Weimarer Koalition von ihnen doch in der Wahl der Mittel und der Reichweite ihrer Zielvorstellungen. 46 Der "nationalen Opposition" fiel es leicht, die Vertreter der Koalitionsparteien als "Erfüllungspolitiker" zu diffamieren und so die "national-politische" Legitimität ihrer Politik zu bestreiten. Am nachhaltigsten wirkte der Kampf gegen die Verfassung, die mit ihrer Garantie individueller Gleichheitsrechte und liberaldemokratischer Verfahrensformen parlamentarischer Repräsentation die Basis der staatlichen Legitimation bildete. Die insbesondere von Carl Schrnitt einflußreich formulierte Kritik am liberalen System hob auf das Spannungsverhältnis zwischen Parlamentarismus und Demokratie ab und stellte ihn als einen unauthebbaren
45 Zum "Volks"-Begriff in der Weimarer Republik: K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962, S. 308 ff.; zur Entwicklung der Ideologie des "Volks"Begriffs: W. Emmerich, Zur Kritik der Volkstumsideologie, Frankfurt 1971; scharfsinnig, wenngleich weitgehend ahistorisch L. HojJmann, Das "Volk". Zur ideologischen Struktur eines unvermeidbaren Begriffs, in: Zeitschrift f. Soziologie, 20 (1991), S. 191-208. 46 Zum Revisionismus siehe W. Wette, Ideologien, Propaganda u. Innenpolitik als Voraussetzungen der Kriegspolitik des Dritten Reiches, in: W. Deist u.a. (Hg.), Ursachen u. Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, Stuttgart 1979; M. Salewski, Das Weimarer Revisionssyndrom, in: Aus Politik u. Zeitgeschichte, B 2/80, S. 14-25; J. Heß, "Das ganze Deutschland soll es sein" - Die republikanischen Parteien u. die Deutsche Frage in der Weimarer Republik, in: J. Becker u. A. Hillgruber (Hg.), Die deutsche Frage im 19. u. 20. Jahrhundert, München 1982, S. 277-317; ders., "Das ganze Deutschland soll es sein". Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der DDP, Stuttgart 1978.
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Gegensatz dar. 47 So unterschiedlich die Positionen und Gegenentwürfe der völkischen Kritiker waren, so entschieden waren sie in ihrer Ablehnung des bestehenden politischen "Systems". 48 3. In die Auseinandersetzung um die Nationsvorstellung und den inneren Staatsaufbau konnten die alten Feindbilder des völkischen Nationalismus, die durch den Krieg noch einmal radikalisiert worden waren, geschickt integriert werden. 49 Das "perfide Albion" , der "Erbfeind" Frankreich und das "materialistische" Amerika waren nicht mehr nur Konkurrenten äußerer Machtpolitik, sondern ihre innenpolitischen Traditionen wurden als Bedrohung der erwünschten inneren Wirklichkeit des zu schaffenden völkischen Staates gedeutet. Der Liberalismus erschien in dieser Perspektive als die eigentliche Waffe der siegreichen Westmächte und die Liberaldemokratie als Zeichen der tiefsten Niederlage Deutschlands. 50 Der durch die Sowjetunion verkörperte "Bolschewismus" hingegen spielte eine sehr viel geringere Rolle in der völkischen Publizistik. 51 Diese im Kern politische Frontstellung der Völkischen wurde antisemitisch und rassistisch abgestützt. So galten sowohl Liberalismus als auch Bolschewismus als Produkte jüdischen Geistes und Werkzeuge des "Weltjudentums" 41 C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1979s (zuerst: München 1923). Zur neueren Diskussion um Carl Schmitt siehe R. Mehring, Vom Umgang mit Carl Schmitt. Zur neueren Literatur, in: GG, 19 (1993), S. 388-407. 48 Der zuerst durch Mohler in die wissenschaftliche Geschichtsschreibung eingeführte Begriff der "Konservativen Revolution" zur Kennzeichnung der politischen Strömungen zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus trägt in diesem Zusammmenhang mehr zur Verwirrung als zur Klärung bei. Schuld daran ist die analytische Einengung auf politische Deutungsmuster im Spannungsfeld von Konservatismus und Liberalismus; die Bedeutung des Nationalismus bzw. konkurrierender Nationsvorstellungen gerät dadurch weitgehend aus dem Blick. A. Mahler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932, 19722 ; K. Santheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962; H. Gerstenberger, Der revolutionäre Konservatismus. Berlin 1969: K. v. Klemperer, Konservative Bewegungen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1962. Irreführend auch die Abgrenzung vom Nationalsozialismus der Weimarer Republik; dieser ist, was Ideologie und Sozialstruktur betrifft, von der völkischen Bewegung jener Jahre gar nicht zu trennen. An dieser teleologisch geprägten Perspektive krankt auch die Analyse von S. Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. 49 Zum Begriff des "Feindbildes" siehe H.-M. Bernhardt, Voraussetzungen, Struktur u. Funktion von Feindbildern. Vorüberlegungen aus historischer Sicht, in: C. Jahru.a. (Hg.), Feindbilder in der deutschen Geschichte, Berlin 1994, S. 9-24.
so So z.B. A. Maeller v.d. Bruck, Das Dritte Reich, Hamburg 1931 3 , S. 79-131. SI Dies muß natürlich für die einzelnen Strömungen innerhalb der Völkischen differenzierter formuliert werden. Aber selbst für einen "Honoratiorenverband " wie die Alldeutschen spielte das Gespenst einer äußeren Bedrohung durch den Bolschewismus nur eine geringe Rolle, verglichen mit dem Haß auf Juden. Liberale und Sozialisten.
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im Kampf gegen das deutsche Volk. Auch der Kampf gegen die französische Besatzung wurde durch das Bild der "schwarzen Schmach" kolonialer Truppen rassistisch aufgeladen. Die schon in der Ära Bismarcks gebrandmarkten inneren "Reichsfeinde" , Sozialisten, Katholiken und Juden, wurden auch während und nach dem Ersten Weltkrieg beschuldigt, ihre angeblichen internationalen Bindungen über die Loyalität zum deutschen Volk zu stellen. In der "Dolchstoß"-Legende fand das bereits während der Auseinandersetzung um die Kriegsziele entwickelte Bild der Heimatfront, die der kämpfenden Truppe in den Rücken fällt, seine mythische Ausgestaltung. 52 Die denunziatorische Formel der "schwarz-rot-goldenen Internationale" spiegelt beispielhaft das Vorgehensmuster der Völkischen wider, unter dem Schild des Vorwurfes einer illoyalen, ja verräterischen Haltung der eigenen Nation gegenüber die Verteidiger einer liberalen Staats- und Nationsvorstellung auszuschalten. Dennoch verbreiterte sich die ideologische und soziale Basis der völkischen Bewegung nach dem Krieg. Vieldeutige Konzeptionen wie "Reich" oder "deutscher Sozialismus" boten Anknüpfungspunkte, über die Katholiken und Sozialisten, nicht aber Katholizismus und Sozialismus, vereinnahmt werden konnten und sollten. Dieses Vorgehen war begrenzt erfolgreich, wie etwa die Beispiele von Martin Spahn, Ernst Niekisch oder August Winnig zeigen, über die weitere Einbrüche in das katholische bzw. sozialistische Lager erreicht wurden. 53 Unversöhnlich aber blieb die Haltung gegenüber den Juden. Bereits während des Krieges hatte eine scharfe antisemitische Agitation begonnen, die drei Topoi instrumentalisierte: die sogenannte "Ostjudenfrage" , die Rolle der Juden in der Kriegswirtschaft sowie die angebliche "Drückebergerei" der
52 Zur Einfiihrung und mit zahlreichen bibliographischen Angaben: U. Heinemann, Die Last der Vergangenheit. Zur politischen Bedeutung der Kriegsschuld- u. Dolchstoßdiskussion, in: K.D. Bracher, M. Funke u. H.-A. Jacobsen (Hg.), Die Weimarer Republik 1918-1933, Bonn 19882 •
53 Zum Rechtskatholizismus siehe K. Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie u. Diktatur (1929-1934). München 1969; G. Clemens. Martin Spahn u. der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik. Mainz 1983; dies., Rechtskatholizismus zwischen den Weltkriegen. in: A. Langner (Hg.). Katholizismus. nationaler Gedanke u. Europa seit 1800. Paderborn 1985. Zur Verbindung zwischen Sozialismus und radikalem Nationalismus: L. Dupeux, "Nationalbolschewismus" in Deutschland 1919-1933. München 1985; O.·E. Schüddekopf, Linke Leute von rechts. Die national revolutionären Minderheiten u. der Kommunismus in der Weimarer Republik. Stuttgart 1960. Zum "Lager"·Begriff: K. Rohe. Wahlen u. Wählertraditionen in Deutschland. Frankfurt 1992. S. 21 ff.
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Juden vor dem Frontdienst. 54 Die bereits 1915 einsetzende antisemitische Kampagne wurde weitgehend von völkischen Organisationen, vor allem den Alldeutschen, gesteuert. Über ihren subjektiven Antisemitismus hinaus verfolgten die Völkischen vor allem zwei kühl kalkulierte politische Ziele: Zum einen konnte mit Hilfe des Antisemitismus die Regierung attackiert werden, und zum anderen schien in den Jahren von 1917 bis 1924 der Antisemitismus das Mittel der Wahl zu sein, um völkischen Organisationen eine Massenbasis zu verschaffen. 55 Mit der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Stabilität ließ aber die politische Massenwirksamkeit des Antisemitismus deutlich nach. Bei der Beurteilung der Bedeutung des Antisemitismus für die völkische Bewegung muß daher unterschieden werden zwischen der Funktion des Antisemitismus für die Binnenintegration radikaler völkischer Organisationen einerseits und seiner Anziehungskraft nach außen, etwa auf die Wähler völkischer Parteien, andererseits. 56 Letztere muß eher gering veranschlagt werden; darauf weisen insbesondere Untersuchungen zur Wahlpropaganda der NSDAP nach 1928 hin. 57 Unter den Feindbildern der nationalsozialistischen Wahlpropaganda rangierte demnach die Sozialdemokratie an erster Stelle, gefolgt vom katholischen "Zentrum" und der "Bayerischen Volkspartei". Kommunisten und Juden spielten demgegenüber kaum eine Rolle. Vieles deutet darauf hin, daß der Antisemitismus auch in der Weimarer Republik die Funktion eines "kulturellen Codes" besaß, mit dessen Hilfe die völkische Bewegung symbolisch repräsentiert und von jenen politischen Kräften abgegrenzt werden konnte, die als Vertreter liberaler oder soziali54 w.T. Angress, Das deutsche Militär u. die Juden im Ersten Weltkrieg, in: MGM, 1 (1976), S. 77-146: E. Zechlin, Die deutsche Politik u. die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969; W. Jachmann. Die Ausbreitung des Antisemitismus, in: W.E. Masse (Hg.), Deutsches Judentum in Krieg u. Revolution 1916-1923. Tübingen 1971: H. Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt 1988, S. 165 ff. 55 Für den scharfen Kurs gegen "die Politik v. Bethmann-Hollwegs" siehe die gleichnamige Hetzschrift Hans v. Liebigs (München 19192); zur Gründung etwa des "Deutschvölkischen Schutzu. Trutz-Bundes" durch die Alldeutschen und dessen Propaganda in der Frühphase der Weimarer Republik siehe U. Lohalm, Völkischer Radikalismus, Hamburg 1970.
56 H.A. Winkler, Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik u. der Antisemitismus, in: B. Martin u. E. Schulin (Hg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte. München 1981, S. 271289; I. Kershaw, Ideology, Propaganda, and the Rise ofthe Nazi Party, in: P. Stachura (Hg.), The Nazi Machtergreifung, London 1983, S. 162-181. Eine gegenteilige Position vertritt George Mosse, für den der Antisemitismus die wesentliche ideologische Voraussetzung für den Erfolg der NSDAP darstellt; G.L. Masse, Völkische Revolution, S. 309 ff. 51
G. Paul, Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1990.
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stischer Grundsätze zumindest nach außen die Bekämpfung des Antisemitismus befürworteten. S8 4. Die Frontstellung der völkischen Nationalisten gegen die Weimarer Verfassung, gegen Liberalismus und Sozialismus, gegen den Versailler Vertrag, die Westmächte und die Sowjetunion, und vor allem gegen die - im völkischen Wahn allgegenwärtigen - Juden war eindeutig. Ganz und gar nicht eindeutig waren dagegen die positiven Zielsetzungen der Völkischen. Schlüsselbegriffe wie "Staat", "Volk", "Reich" oder "Führer" besaßen eine große Anziehungskraft, gerade wegen ihrer schillernden Bedeutung. Sie bewegten sich innerhalb eines ideologischen Koordinatennetzes, das aus Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus, Imperialismus und der Ablehnung des liberalen Staatsgedankens gewebt war und in dem die Übergänge fließend waren. Hinsichtlich der Radikalität der politischen Forderungen bestanden durchaus Unterschiede zwischen den einzelnen Positionen. So reichten die Auffassungen hinsichtlich der "Judenfrage" von der Absicht, die jüdische Bevölkerung zu Staatsbürgern zweiter Klasse zu machen, mit denen ein Konnubium zu vermeiden sei, S9 über den Plan, ihnen die staatsbürgerlichen Rechte ganz abzuerkennen, sie unter Fremdenrecht zu stellen und wenn nötig auszuweisen/li) bis zu der offenen Aufforderung, "die Juden aus dem deutschen Vaterlande hinauszupeitschen" und der Drohung, "wenn wir Deutschvölkischen einmal zur Macht gelangen würden", würden die "Juden nicht nur an den Pranger, sondern an den Galgen gebracht. ,,61 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang aber nicht die genaue Zuordnung einzelner Positionen auf einem Kontinuum der politischen Radikalität, sondern vielmehr der Hinweis darauf, daß die verschiedenen Positionen keineswegs scharf voneinander geschieden waren, da sie sich innerhalb desselben ideologischen Koordinatennetzes bewegten. Dieser Umstand erklärt mit, warum der mörderischen Rassenpolitik der Nationalsozialisten nach 1933 so wenig Widerstand entgegengesetzt wurde. Gewaltsame Geburtenverhütung durch Sterilisation, Kastration, Abtreibung und Eheverbot, die "Euthanasie"Aktion, der Massenmord durch Einsatzgruppen und Gaskammern an Juden, 58 Siehe Shulamit Volkov, Antisemitismus als kulturel1er Code, zuletzt in: dies., Jüdisches Leben u. Antisemitismus im 19. u. 20. Jahrhundert, München 1990, S. 13-36. S9
W. Stapel, Antisemitismus u. Antigermanismus, Hamburg 1928.
60 25-Punkte Programm der NSDAP von 1920; zit. nach: W. Hofer, Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Frankfurt 1957, S. 28 ff.
61 Öffentliche Äußerungen Alfred Roths, Hauptgeschäftsführer des "Deutschvölkischen Schutzund Trutz-Bundes"; zit. nach: Lohalm, Völkischer Radikalismus, S. 224 f.
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Sinti und Roma, psychisch Kranken und geistig Behinderten sind ohne den völkischen Rassismus nicht zu verstehen. 62 Die Bedeutung völkischer Ideologie für die Akzeptanz nationalsozialistischer Herrschaftspraxis ist auch für die gewaltsame Expansionspolitik der Nationalsozialisten hervorzuheben. 63 Das Dogma des "Lebensraumes" im Osten für das "Volk ohne Raum" und die damit verbundenen "ethnischen Säuberungen", aber auch die Expansionspläne nach Norden, Westen und Süden sind bereits durch die Kriegszielpläne der Alldeutschen popularisiert und in der Weimarer Republik weiter verfolgt worden. 5. Die Bedeutung der radikalen völkischen Verbände lag neben der Rekrutierung und Indoktrinierung eigener Mitglieder, sowie der agitatorischen Beeinflussung der Öffentlichkeit, auch in der systematischen Unterwanderung anderer nationalistischer Organisationen. Wenngleich die immer wieder unternommenen Versuche, die divergierenden Kräfte der völkischen Bewegung auf der Führungsebene zu koordinieren, weitgehend erfolglos blieben, gelang es radikalen Verbänden wie dem "Alldeutschen Verband" und dem "Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bund" durch das Hineingehen ihrer Mitglieder in zunächst "gemäßigte" nationalistische Organisationen, wie den "Stahlhelm" oder den "Jungdeutschen Orden", diese zu radikalisieren. Als eine Art von "Lackmus-Test" völkischer Radikalisierung läßt sich die Frage der Mitgliedschaft von Juden ansehen: so lehnten der "Jungdeutsche Orden" 1922 und der "Stahlhelm" 1924 die Aufnahme von Juden kategorisch ab. 64 Neben und zwischen diesen beiden Richtungen bestand ein organisatorisch schwer greifbares Netzwerk einzelner Gruppen und Intellektueller, deren Ideen durch Gesprächskreise und publizistische Medien mit meist geringer Auflage Verbreitung fanden. Hier sind in erster Linie jene Autoren zu nennen, die zumeist unter den Begriffen "Konservative Revolution", "antidemokratisches Denken", "neuer" bzw. "soldatischer Nationalismus" etc. subsummiert werden. 65 62 Hierzu siehe H.-W. Schmuhl, Rassismus unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft, in: K.D. Bracher. M. Funke u. H.-A. Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Düsseldorf 1993 2, S. 182-197. 63 Siehe H. Graml, Rassismus u. Lebensraum. Völkermord im Zweiten Weltkrieg, in: Bracher u.a., Deutschland 1933·1945. S. 440-451; W.D. Smith, Ideological Origins. 64 K. Hornung, Der Jungdeutsche Orden, Düsseldorf 1958, S. 51 ff.; V. Berghahn, Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten, 1918-1935, Düsseldorf 1966, S. 66 f.
6S Mahler, Konservative Revolution; Sontheimer, Antidemokratisches Denken; Breuer, Anatomie; Prümm, Soldatischer Nationalismus.
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Die zahlenmäßige Stärke der völkischen Bewegung läßt sich nicht genau bestimmen. Problematisch ist die Annäherung über die Mitgliederzahlen der völkischen Parteien und Verbände, da einerseits viele Personen häufig mehreren Organisationen angehörten, andererseits so nur die "aktiven" Verfechter völkischer Ideologie ins Blickfeld geraten. Um dennoch eine Vorstellung von der Größenordnung zu erhalten, seien Mitgliederzahlen einiger der größten völkischen Verbände genannt: Deutschvölkischer Schutz-u. TrutzBund, 200.000 Mitglieder (1919-1922); Stahlhelm, 260.000 (1925) bzw. 327.000 (1932); Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband, 150.000 (1918) bzw. 400.000 (1932); Jungdeutscher Orden, 200.000 (1922/1923).66 Die soziale Zusammensetzung variierte von Organisation zu Organisation. Ältere Verbände wie der Alldeutsche Verband behielten ihren Charakter als "Honoratiorenverband" . Der radikale Antisemitismus des Schutz- und TrutzBundes bewies seine Anziehungskraft vor allem im Kleinbürgertum des Alten und Neuen Mittelstandes; Arbeiter waren unter seinen Mitgliedern kaum zu fmden. Die für eine erfolgreiche Werbung in der Arbeiterschaft erforderliche sozialrevolutionäre Propaganda war der bürgerlichen Leitung des Bundes zu suspekt; sie blieb der NSDAP als Nachfolgerin überlassen. 67 Eine wesentlich breitere soziale Basis besaß der Stahlhelm: Schätzungen weisen neben dem kleinbürgerlichen Element auf einen Arbeiteranteil von 30 bis 50 Prozent hin. 68 Die Verbreitung des völkischen Nationalismus ist nicht nur nach der organisierten Mitgliederschaft seiner Organisationen zu ermessen. Ein weiterer Parameter seiner sozialstrukturellen Durchsetzungsfahigkeit und politischen Wirksamkeit ergibt sich, wenn man der These folgt, wonach die NSDAP ihre Wahlerfolge seit 1928 wesentlich ihrer Identifikation mit dem völkischen Nationalismus verdankt. 69 Die Ergebnisse der neueren historischen Wahlforschung ver66 Alle Werte sind gerundet; Angaben nach: Lohalm, Völkischer Radikalismus, S. 90; Berghahn, Stahlhelm, S. 85, Anm. 3, S. 286 f.; S. Börtger u. W. Fritsch, Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband, in: D. Fricke (Hg.), Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, 2 Bde. Leipzig 1968-1970, S. 702-714; K. Finker, Jungdeutscher Orden, in: Fricke, Bürgerliche Parteien, S.227-237. 67
Lohalm, Völkischer Radikalismus, S. 110 ff.
68 A. Klotzbücher, Der politische Weg des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, in der Weimarer Republik, Diss. Erlangen 1965, S. 43 f.; K. Finker, Die militaristischen Wehrverbände in der Weimarer Republik, Habil. Potsdam 1964, S. 112. 69 Grundlegend: M.R. Lepsius, Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966. Diese Interpretation wird gestützt durch eine regionenbezogene Analyse der Wahlergebnisse, die zu folgendem Schluß gelangt: "Je länger und intensiver
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weisen auf die sozialstrukturelle Heterogenität der NSDAP-Wählerschaft nach 1928. 70 Demnach stellte die Arbeiterschaft 40 Prozent der NSDAP-Wähler, der Alte Mittelstand 45 Prozent, der Neue Mittelstand hingegen nur 17 Prozent. Gleichzeitig gelangen der NSDAP auch deutliche Einbrüche in das katholische und in das sozialistische Lager. Der Zusammenhang von Geschlecht und Nationalismus soll an dieser Stelle nicht näher erörtert werden. Die Bedeutung von Geschlechtsstereotypen für die Konstruktion insbesondere der völkischen Nationsvorstellung liegt auf der Hand, ist aber bislang nur ansatzweise näher untersucht worden. 71 Auch die Rolle von Frauenverbänden für die völkische Bewegung ist noch weitgehend ungeklärt. 72 Von einer geschlechts spezifischen , homogenen und kollektiven Orientierung von Frauen in der Weimarer Republik kann keine Rede sein. 73 Dies gilt auch für das Wahlverhalten von Frauen. Dennoch ist, gerade im Lichte immer noch vertretener gegenteiliger Ansichten, auf neuere Untersuchungen hinzuweisen, denen zufolge Frauen eine wesentliche, aber nicht über ihren Anteil an der Bevölkerung hinausgehende Rolle für die Wahl erfolge der NSDAP spielten. 74 die nationale politische Kultur, deren Träger in der Vergangenheit vor allem die Parteien des nationalen Lagers gewesen waren, die politischen Mentalitäten einer Landschaft hatten prägen können, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, daß diese Regionen, und zwar auch dann, wenn sie relativ hohe Katholikenanteile oder Arbeiteranteile aufwiesen, der NSDAP hervorragende Stimrnenergebnisse bescherten." K. Rohe, Wahlen u. Wählertraditionen, S. 160. 70 Hierfür und die folgenden Angaben: J. Falter, Wer verhalf der NSDAP zum Sieg?, in: Aus Politik u. Zeitgeschichte, B 28/29 (1979), S. 3-21; ders., Hitlers Wähler, München 1991. 71 Hervorzuheben sind G.L. Mosse, Nationalismus u. Sexualität,. Bürgerliche Moral u. sexuelle Normen, Reinbek 1987'; K. Theweleit. Männerphantasien, Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, 1993'; C. Witrrock, Weiblichkeitsmythen. Das Frauenbild im Faschismus u. seine Vorläufer in der Frauenbewegung der 20er Jahre, Frankfurt a.M. 1983. 72 Vgl. R. Bridenthal u.a (Hg.), When Biology Became Destiny: Women in Weimar and Nazi Germany, N.Y. 1984; R. Evans, The Feminist Movement in Germany, 1894-1933, London 1976; U. Frevert, Frauengeschichte zwischen bürgerlicher Verbesserung u. neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986; B. Greven-Aschojf, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland, 1894-1933, Göttingen 1981; C. Koonz, Mothers in the Fatherland: Women, the Family, and Nazi Politics, N.Y. 1987. 7} H.-G. Jaschke, Zur politischen Orientierung von Frauen u. Frauenverbänden in der Weimarer Republik, in: D. Lehnert u. K. Megerle (Hg.), Politische Teilkulturen zwischen Integration u. Polarisierung, Opladen 1990, S. 143-160.
74 Falter, Hitlers Wähler, S. 136-146; H. Boak. "Dur Last Hope": Women's Votes for HitlerA Reappraisal, in: German Studies Review, 12 (1989), S. 289-310; J. Stephenson, National Socialism and Women before 1933, in: P. Stachura (Hg.), The Nazi Machtergreifung, London 1983, S. 33-48.
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Stephan Vopel
Zusammenfassend läßt sich entsprechend den eingangs skizzierten Fragen festhalten: Erstens, der völkische Nationalismus beruhte auf der Vorstellung der Nation als einer ethnischen Abstammungsgemeinschaft, die nach innen den Vorrang vor allen anderen sozialen Verbänden genießen sollte und eine antiliberale Staats- und Gesellschaftsordnung forderte. Nach außen vertrat er einen aggressiven Imperialismus. Begründet wurden diese Ansprüche durch die Bezugnahme auf Vorstellungen des Antisemitismus und des Rassismus. Zweitens, die soziale Trägerschaft wurde zunehmend heterogener, der völkische Nationalismus durchdrang immer weitere Teile der Bevölkerung und kann daher spätestens seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr als ein spezifisch bürgerliches Phänomen aufgefaßt werden. Zur Erklärung der Rezeptionsbereitschaft muß daher auf jeweils spezifische Interessenlagen und Mentalitäten verwiesen werden. 75 Schließlich ist auf den engen Zusammenhang der Organisations- und Kommunikationsstrukturen der völkischen Bewegung bei gleichzeitiger ideologischer Ausdifferenzierung zu verweisen. Ideologische, personelle und institutionelle Querverbindungen zwischen den verschiedenen Parteien, Verbänden und Intellektuellenzirkeln trugen dazu bei, daß scheinbar gemäßigte Organisationen zu "Durchlauferhitzern" für die völkische Bewegung wurden. Dabei zeigte sich, daß das radikale und aggressive Integrationsangebot des völkischen Nationalismus umso breiter rezipiert wurde, je schärfer die sozialen, ökonomischen und politischen Krisen waren.
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Ansätze hierzu bei Lepsius, Extremer Nationalismus.
Der Nationalismus der systemstabilisierenden Parteien der Weimarer Republik Von Karsten Ruppert
A. Europa nach dem Ersten Weltkrieg Das Ende des Ersten Weltkriegs war für die europäische Staatenordnung wie für den Nationalismus des Kontinents als Folge des Untergangs der vier imperialen Monarchien ein tiefer Einschnitt. Die zahlreichen Neugründungen, die aus dem zerfallenen zaristischen Rußland und den durch die Pariser Vorortverträge zerschlagenen Vielvölkerstaaten Osmanisches Reich, Österreich-Ungarn und Deutschland hervorgegangen waren, hatten ihre Wurzeln in nationalen Strömungen, die im Krieg zu einem Höhepunkt gelangt waren, und, sofern sie staatliche Selbständigkeit erlangten, diese dem Willen der Sieger verdankten. 1 Diese, ursprünglich vom amerikanischen Präsidenten Wilson auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker bei der Neuordnung Europas verpflichtet, hatten davon schnell Abstarid genommen. Die ethnische, sprachliche und religiöse Gemengelage Ost- und Ostmitteleuropas ließ nicht einmal die kulturelle Autonomie jedes Volkes zu, geschweige denn dessen politische Selbständigkeit. 2 Und schließlich sprachen nicht nur die objektiven Hindernisse, sondern noch mehr die Machtinteressen der Sieger gegen eine allzu großzügige Gewährung des Selbstbestimmungsrechts. Folglich ist es auch fast nur dort zur Anwendung gekommen, wo der Expansionismus der Parteigänger der Sieger, insbesondere Polens, Italiens und Griechenlands, auf Kosten der Feinde befriedigt werden konnte. Bei den Abstimmungen trat zwar gelegentlich das erstaunliche Phänomen auf, daß Minderheiten an fremdsprachige Staaten Anschluß suchten wie
I Vgl. Gerhard Schutz: Revolutionen und Friedensschlüsse 1917 - 1920. - 2. Aufl. - München 1969. - (dtv-Weltgschichte des 20. Jahrhunderts; 2)., S. 160 ff.; vgl. auch Rudolj Hiljerding: Realistischer Pazifismus. In: Die Gesellschaft 1. 1924, S. 97 ff.
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Vgl. bes. dazu Gerhard Schutz: Revolutionen und Friedensschlüsse, S. 233 ff.
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z.B. Polen an Deutschland und Slowenen an Österreich,3 doch haben sich diese eigentlichen Manifestationen des Prinzips nur dort bewährt, wo das Ergebnis eindeutig war, also schon vornherein feststand.
In allen anderen Fällen hat die Artikulation des Willens der Völker nur zur Verschärfung der nationalen Gegensätze beigetragen und deren anschließendes Zusammenleben erschwert. 4 Die westlichen Siegernationen hatten darüber hinaus ihr Verständnis von Nation bei der Schaffung der neuen Staaten zugrundegelegt. Doch fand sich in dem Teil Europas, in dem der ethnische und sprachlich-kulturelle Nationalismuss Tradition war, nicht die eine und unteilbare Nation, deren Konstituens eine ausgeprägte politische Wert- und Ordnungsvorstellung war. 6 Es bildete sich kein nationalstaatlicher Nationalismus, sondern die Völker kultivierten ihre jeweilige Eigenart. Die Idee, welche die Integration der westeuropäischen Staaten nachdrücklich gefördert hatte, zeigte nun in der Mitte und im Osten des Kontinents eine gegenteilige Wirkung: sie rüttelte an den Fundamenten der Neugründungen. Denn diese ehemaligen Teile von untergegangenen Vielvölkerstaaten schlossen jetzt entweder selbst nationale Minderheiten? ein oder bildeten mit anderen Völkern Nationalitätenstaaten. Träger des Nachkriegs-Nationalismus waren gerade die Staaten, die in ihren Nationalitäten eher eine Belastung als eine Bereicherung sahen. Auch ein international garantierter Minderheitenschutz konnte nicht verhindern, daß die neugewonnene staatliche Macht mehr zur Assimilierung als zur Gewährung kultureller Autonomie genutzt wurde. Der Nationalismus trübte in der Tat die Staatsräson. Obwohl es seine Aufgabe gewesen wäre, hat der Völkerbund das Problem nicht entschärfen können. Er war nicht mehr als der Resonanzboden für die Dauer-Querelen der europäischen Diplomaten. Wegen diesen Unzuläng3 Vgl. E. J. Hobsbawm: Nations and Nationalism since 1780: Programme, myth, reality. - 2nd ed. - Cambridge 1992, S. 132. 4 Vgl. Hildebert Boehm: Die Nationalitätenfrage. In: Nation und Nationalität. - Karlsruhe 1927. (Jahrbuch für Soziologie; 1. Erg.-Bd.), S. 128 f.
, Vgl. Friedrich Hertz: Wesen und Werden der Nation. In: Nation und Nationalität. - Karlsruhe 1927. - (Jahrbuch für Soziologie; 1. Erg.-Bd.), S. 54 ff. 6 Vgl. zu den unterschiedlichen Vorstellungen des Nationalismus in Europa: Hans Mommsen / Albrecht Martiny: Nationalismus, Nationalitätenfrage. In: Sowjetsystem und demokratische Gesell-
schaft: eine vergleichende Enzyklopädie. Freiburg u. a. 1971. Bd. IV, Sp. 628 ff.; vgl. auch
Friedrich Hertz: Wesen und Werden der Nation, S. 23 ff.
7 Vgl. dazu Hans Liermann: Das Minderheitenproblem. In: Volk und Reich der Deutschen I hg. von Bernhard Harms. - 3. Band. - Berlin 1929, S. 85 ff.
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lichkeiten etablierte sich neben dem Bund der Völker die internationale Zusammenarbeit der europäischen Völker und Minderheiten. Deren rührige Führer sorgten dafür, daß fast jeder Staat sich dem Nationalitätenproblem stellen mußte. 8 In der in Umwälzung begriffenen europäischen Staatengemeinschaft erlebte so der schon von vielen nicht mehr als zeitgemäß empfundene Nationalismus einen neuen Höhepunkt. Er kam jetzt aber nicht mehr vorwiegend in der Form der Mächterivalität des vergangenen Jahrhunderts zum Ausdruck, sondern als Nationalismus der Minderheiten und Irredenten. In dieser Neuordnung war die Lage gerade der mittel- und osteuropäischen Nationalitätenstaaten dadurch erschwert, daß sie im Machtkalkül der Sieger als Bollwerke gegen jegliche Veränderung gedacht waren. Die Stoßrichtung ging nicht nur, aber doch vorrangig, gegen das "Deutschtum"9, wie es in zeitgenössischer Terminologie hieß. Das Wiedererstarken Deutschlands sollte ebenso verhindert werden wie die Reaktivierung alter Loyalitäten zur Habsburgermonarchie. Das Problem des Nationalismus in Europa hatte aber nicht nur eine außenpolitische, sondern auch eine innenpolitische Dimension, die alle Staaten berührte. Die nationale Gesellschaft war in erheblichem Umfang neu zu begründen. In ihr verlangten jetzt mit Berufung auf ihren Beitrag im Kriege die zurückgesetzten Schichten Gleichheit mit der bisher die Nation vorwiegend repräsentierenden bürgerlichen Männergesellschaft. Mit dem Übergang vom Zensuswahlrecht zum gleichen Wahlrecht für Männer und Frauen wurde der Weg zu einem neuen nationalen Grundkonsens eingeschlagen. Dieser führte aber vor allem deswegen nicht zum Ziel, weil der Nationalismus insbesondere als Folge des Massenwahlrechts ein ideologisch differenzierendes Kriterium innerhalb der politischen Strömungen der Staaten wurde. Es prägte sich in zweierlei Formen aus. Zum einen organisierten sich die Nationalitäten, um teils systemkonform, teils systemüberwindend den Kampf um ihre Stellung in der Nation zu führen; zum anderen trieb die Frage, ob und wie weit sich die Parteien zu internationalen Bewegungen wie Marxismus, Sozialismus, Judentum und Kapitalismus bekannten zwei antagonistische Blöcke hervor. Schließlich wurde die Stiftung einer nationalen Identität gerade in den neugeschaffenen Staaten und bei den Verlierern noch dadurch erschwert, daß diese in Anpassung ihres politischen Systems und ihrer Gesellschaft an das Vorbild der Sieger einen
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Vgl. H. Boehm: Nationalitätenfrage, S. 122 ff.
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So H. Boehm: Nationalitätenfrage, S. 123.
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radikalen Bruch mit ihrer Vergangenheit vollzogen hatten. 10 Damit wurde im Bekenntnis zur alten oder neuen Ordnung ein weiterer Grunddissens geschaffen, der weit über die Parteien bis tief in die Gesellschaft hineinreichte. Die soziale Integration gelang noch weniger. Die mit der Behebung der Kriegsschäden, den Sozialleistungen für die Opfer und der Begleichung der Rüstungsschulden belasteten Volkswirtschaften ließen dazu keinen Spielraum mehr. Zumal auch die Produktivität der Weltwirtschaft deutlich eingebrochen war. Dies war nicht zuletzt eine Folge des Nationalismus gewesen. Der europäische Wirtschaftsraum der Vorkriegszeit war in eine große Zahl nationaler Volkswirtschaften zerfallen, die in der Krise kopflos geworden, zunächst nur an sich dachten. Bis zum Beginn der dreißiger Jahre hatte der Protektionismus, der teilweise an Autarkie grenzte, die Kapital- und Warenströme soweit ausgetrocknet, daß die Weltwirtschaft am Rande des Kollaps stand. ll Im Wechselspiele hatten sich politischer und wirtschaftlicher Nationalismus gegenseitig so gestärkt, daß die beiden Modelle, die in der Nachkriegszeit Stabilität verbürgen sollten, schon nach etwas über einem Jahrzehnt am Ende waren. Die von Frankreich initiierten Mächteallianzen zur Aufrechterhaltung des in den Pariser Vorortverträgen geschaffenen Systems, dem schon der türkische Nationalstaat Mustaf Kemals zuvor einen Schlag versetzt hatte, ebenso wie der Versuch Washingtons mit Hilfe der Außenwirtschaft, Europa zu konsolidieren, ohne in seine politischen Händel verstrickt zu werden. Die zaghaften Alternativen der Einbindung in supranationale Strukturen und der schiedsgerichtlichen Konfliktregelung, um die sich besonders der Völkerbund bemühte, kamen gegen die Interessen der Nationalstaaten nicht an. Dies wurde jetzt um so gravierender, als diese infolge des Scheiterns der nationalen und sozialen Integration einen erneuten Regimewechsel vollzogen, hin zu Autokratie, Diktatur oder Pseudoparlamentarismus. Die Lage war für Deutschland teils ähnlich, teils ganz anders. Durch die erzwungenen Abtretungen im Norden, Osten und Westen waren ihm Probleme mit nationalen Minderheiten erspart geblieben. 12 Mit dem Zerfall der bisher konkurrierenden Großmächte Rußland und Österreich-Ungarn eröffneten sich 10 Vgl. Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770 - 1990. - München 1993, S. 237ff.
11 Vgl. dazu auch Gi/bert Ziebura: Weltwirtschaft und Weltpülitik 1922/24 - 1931. - Frankfurt a. M. 1984. 12 Nach Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland, S. 334: Betrug der Anteil der ethnischen Minderheiten an der Gesamtbevölkerung in Deutschland um 1900 rund 7,5% (4,2 Millionen), 1925 dagegen nur noch 0,6% (374.000).
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zudem für die Republik im Osten ganz neue Perspektiven. Schließlich mußte das Reich seine Identität als Nationalstaat nicht mehr erst begründen. Doch und das war nicht leichter - hatte es sein tradiertes Nationalstaatsdenken nach der Niederlage in einem Weltkrieg der neuen Lage anzupassen. Entscheidend aber wurde, daß die nationale Gesellschaft unvollendet blieb. Vom Niedergang der Weltwirtschaft wie alle erfaßt, am stärksten aber mit den wirtschaftlichen Folgen des Krieges belastet, blieb die soziale Integration auf der Strecke. Das war die Voraussetzung dafür, daß in Deutschland der Nationalismus in einer ganz eigenen Form systemsprengend wirken konnte. Sie war ein Komplex aus der nie akzeptierten Niederlage, dem nie geheilten Bruch mit der nationalen Vergangenheit, der weiterwirkenden Orientierung am nationalen Machtstaat und dem Ressentiment, dem jeglicher Internationalismus, gleich ob marxistisch oder kapitalistisch, eine Machenschaft des "Weltjudentums" war. Erkennbar schwerer als für die neuen Nationalstaaten war es für Deutschland, sich in die Völkergemeinschaft einzugliedern. Als Verlierer des Kriegs und mit dem Stigma der Kriegsschuld behaftet, kam es anfangs aus der Rolle des Paria nicht heraus. Die junge Republik hatte draußen wie drinnen für Entwicklungen gerade zu stehen, die eigentlich nicht auf ihr Konto gingen. Der Regimewechsel, der ja gerade auch vollzogen worden war, um eine Brücke zu den Siegern zu schlagen, zahlte sich in dieser Hinsicht anfangs gar nicht und später kaum aus. Die Weimarer Republik hat in den gut 14 Jahren ihres Bestehens von allen Staaten vielleicht am schmerzlichsten erfahren müssen, daß im Europa der Zwischenkriegszeit der Nationalismus kaum Solidarität zwischen den demokratischen Systemen aufkommen ließ.
B. Das Parteiensystem der Weimarer Republik Zu der äußeren Belastung kam im Innern die grundsätzliche Ablehnung der Republik durch einen beträchtlichen Teil der gesellschaftlichen und politischen Kräfte. 13 Die Kommunisten wollten durch Putsche, Aufstände und parlamen13 Zum Überblick über das Parteiensystem der Weimarer Republik vgl. die zeitgenössische Pionierarbeit aus dem Jahre 1932 von Sigmund Neumann: Die Parteien der Weimarer Republik. - 4. Auf!. - Stuttgart 1977; die jeweiligen Parteiprogramme sind am leichtesten greifbar in der Zusammenstellung: Deutsche Parteiprogramme / hg. von Wilhelm Mommsen. - 2. Auf!. - München 1964. - (Deutsches Handbuch der Politik; 1); ergänzend und unter Beachtung der Konzessionen an marxistische Parteilichkeit ist heranzuziehen das Lexikon zur Parteiengeschichte: die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789 - 1945) / hg. von Dieter Fricke u. a. - 4 Bände. - Leipzig 1983 ff.; einen neueren Überblick hat Manin Vogt: Parteien in der Weimarer Republik. In: Die Weimarer Republik 1918 - 1933: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft / hg. von Karl Dietrich Bracher u. a. - Bonn 1987. - (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 251), S. 134 - 157, vorgelegt; zuletzt hat Hans Fenske: Deutsche Parteiengschichte von
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tarische Destruktion als deutsche Sektion der III. Internationale ihren Beitrag zum Kommen der Weltrevolution und der Diktatur des Proletariates leisten. Neben ihnen schwärmten die Unabhängigen Sozialdemokraten davon, mit Hilfe der Räte dem Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft zum Sieg zu verhelfen. Der Test auf die Realisierbarkeit ihres Programms blieb ihnen erspart. Denn bis 1922 war deutlich geworden, daß in der deutschen Arbeiterbewegung die Synthese von Basisdemokratie und Marxismus keine Überlebenschance hatte. Die USPD löste sich auf. Die Minderheit der Funktionäre und die Mehrheit der Anhänger schloß sich der KPD an, die damit über Nacht zur Massenpartei wurde. Der Rest, darunter die meisten Funktionäre und Abgeordneten, ging zur SPD. Dadurch wurde der allmählich schwindende Marxismus in dieser Partei nochmals gestärkt. Die Folge war, daß sie sich seitdem mit den wenig erfreulichen Realitäten der jungen Republik noch schwerer tat. Auf der Gegenseite des politischen Spektrums sammelte die Deutschnationale Volkspartei alle Gegner der liberalen Gesellschaft und der Parteienherrschaft von den preußischen Konservativen über evangelisch-nationale Gewerkschaftler bis hin zu den Antisemiten. Die DNVP erstrebte die Wiederherstellung der Hohenzollernmonarchie, einen starken Staat wie eine formierte Gesellschaft. Die wichtigsten Bindemittel, die diese heterogene Volkspartei zusammenhielten und ihre Anfangserfolge ausmachten, waren ihre fundamentale Negierung der Weimarer Republik und ihr Nationalismus. 14 Sie verstand es, Glanz und Größe des untergegangenen Kaiserreichs über die Zeiten zu retten, indem sie sowohl die Niederlage als auch die nationalen Demütigungen im Gefolge des Friedensschlusses den neuen Machthabern anlastete. Sie propagierte die weit über ihre Reihen hinaus rezipierte Verdächtigung von dem aus der Niederlage geborenen Staatswesen als einem Produkt der Sieger, das zur Wiederherstellung einer deutschen Großmachtstellung niemals in der Lage sein werde. Die Deutschnationalen trugen viel dazu bei, daß die in den bisherigen Erfahrungen wurzelnde und daher weit verbreitete Ansicht, daß nur ein autokratischer Staat auch ein nach außen mächtiger Staat sein könne, sich festigte. Darauf bauten dann die Nationalsozialisten auf, als die DNVP nach 1928 an Boden verlor, da sie die Spannungen nicht mehr auszuhalten vermochte, die den Anfangen bis zur Gegenwart. - Paderborn u. a. 1994, S. 151 - 201 das Weimarer Parteiensystem zusammengefaßt. 14 Zu der evangelischen Prägung dieses Nationalismus, der für einen Teil der Deutschnationalen typisch war, vgl. Wolfgang Tilgner: Volk, Nation und Vaterland im protestantischen Denken zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (ca. 1870 - 1933). In: Volk - Nation - Vaterland: der deutsche Protestantismus und der Nationalismus I hg. von Horst Zilleßen. - Gütersloh 1970, S. 160 ff.
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sich aus der wirtschaftlich motivierten partiellen Mitarbeit an der Republik und dem gleichzeitigen Kampf gegen sie ergaben. Die Hitler-Bewegung war als radikale Radau- und Putschpartei all derer gestartet, welche die Ursache ihres Elends in der Politik der Sieger, der Novemberrevolution und der Republik der Marxisten und Juden sahen. Wenn sie auch mit diesen Methoden zunächst nicht zum Ziele kam, so war doch so die Führung im Lager des zersplitterten völkischen Nationalismus errungen worden. Diese behielten die Nationalsozialisten auch, als sie den Kampf gegen Demokratie, Parlamentarismus und Pluralismus jetzt teils in den Parlamenten, teils auf der Straße führten. Er wurde gestützt von einer hemmungslosen Agitation gegen das Versailler System und dem Versprechen, dem deutschen Volk seine Selbstachtung wiederzugeben. So gern die gedemütigten Deutschen die Botschaft von ihrer rassischen und kulturellen Überlegenheit aufsogen, so hat doch erst die massenhafte wirtschaftliche Not und das Versagen des politischen Systems deren Vertrauen in die Weimarer Republik in einem solchen Maße erschüttert, daß sie in den Versprechungen Hitlers eine Alternative sahen. Zwischen diesen Extremen agierten die Parteien, die bereit waren, die Weimarer Republik, trotz je spezifischer Vorbehalte, als Grundlage ihres politischen Handeins zu akzeptieren. 15 In der Mitte stand die Partei, die schon durch ihren Namen diese Position zum Ausdruck brachte: das Zentrum. Es orientierte sich an christlichen und rechtsstaatlichen Prinzipien, und da es darüber hinaus ideologisch wenig festgelegt war, stand seine politische Vorstellungswelt mit den Grundlagen des Weimarer Staates in keinem unüberwindbaren Widerspruch. Es gab traditions- und konfessionsbedingte Vorbehalte, die aber mehr gegenüber der Gesellschaft als gegenüber Staat und Verfassung bestanden. 16 Um das Zentrum scharten sich die beiden liberalen Formationen des Bürgertums, auf der Linken in der Deutschen Demokratischen Partei das Handels- und Finanzkapital, bereichert um Freischaffende, Wissenschaftler und Künstler. Wie keine andere Bewegung haben die Linksliberalen den Zusammenbruch der Hohenzollernmonarchie als Befreiung aus ihrer politischen Isolation empfunden. Da sie darüber hinaus die Verfassung des neuen Staates am nachdrücklichsten geprägt hatten, haben sie ihn so stark wie keine andere Bewegung als den IS Der in der Abhandlung für diese Parteien verwendete Terminus "systemstabilisierend" ist zugegeben stilistisch plump, doch dafür semantisch treffend. Jede Alternative wie "republikanisch" oder "demokratisch" würde den Bogen von der SPD zur DVP nicht spannen und wäre teilweise beschönigend. 16 Eingehender dazu Karsten Ruppen: Die Deutsche Zentrumspartei in der Mitverantwortung für die Weimarer Republik: Selbstverständnis und politische Leitideen einer konfessionellen Mittelpartei. In: Die Minderheit als Mitte: die Deutsche Zentrumspartei in der Innenpolitik des Reiches 1871 - 1933 / hg. von Winjried Becker. - Paderborn u. a. 1986, S. 71 - 88.
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ihren angesehen - ganz im Gegensatz zu ihren rechten Gesinnungsgenossen von der Deutschen Volkspartei. Der Liberalismus der ehemaligen Nationalliberalen führte diese zwar an Parlamentarismus und Demokratie heran, ihre unkritische Identifikation mit dem untergegangenen monarchischen Nationalstaat erschwerte ihnen aber zunächst, sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Das bewirkten dann schließlich sowohl der Wunsch des industriellen Flügels nach wirksamer Interessenvertretung als auch der Drang nach politischer Mitgestaltung des Parteivorsitzenden Gustav Stresemann und des hinter ihm stehenden nationalen Bürgertums. Es ist nun für das politische System der Weimarer Republik außerordentlich bezeichnend, daß diese Parteien des Liberalismus und Politischen Katholizismus im Reich die eigentlichen Träger der Regierungsverantwortung waren. 17 Diese politischen Strömungen, die wenig ideologische Gemeinsamkeiten hatten, bildeten eine pragmatische Notgemeinschaft. Nicht ein umzusetzendes Programm hielt sie zusammen, sondern vor allem die Tatsache, daß sich niemand anders fand, um die in Weimar meist recht undankbare politische Alltagsarbeit zu machen. Diese Minderheitsregierungen, die im Reichstag kaum über ein Drittel der Mandate verfügten, erweiterten zeitweise ihre Basis, indem sie sich zur Sozialdemokratie oder den Deutschnationalen hin öffneten, wobei sich manchmal der linke oder rechte Liberalismus fernhielt. 18 Eine weitere Besonderheit des politischen Systems kam hinzu. Gleichgültig wie auch immer die Regierungen zusammengesetzt waren, die Außenpolitik wurde vom Anfang bis zum Ende von SPD und Zentrum getragen, denen sich spätestens seit dem Ruhrkampf des Sommers 1923 die beiden liberalen Parteien endgültig anschlossen. Dies war eine für Weimarer Verhältnisse von Umfang und Dauer her ganz ungewöhnliche Mehrheit. Sie beruhte vor allem darauf, daß die SPD, die bis Mitte 1932 stärkste Partei im Reichstag blieb, hier die Verantwortung nicht scheute, an der sie im Innern zu zerbrechen drohte. Denn ihre Anhänger waren ihr zwar auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie gefolgt, sie haben es aber nie verwunden, daß Wirtschaft und Gesellschaft die Revolution kaum verändert überstanden. Diese Hypothek und die an der Substanz zehrenden Kompromisse mit den bürgerlichen Koalitionspartnern trieben 17 Die für die deutsche Parteiengeschichte seit der Weimarer Republik so kennzeichnenden Koalitionen zwischen diesen beiden weltanschaulichen Antipoden vertieft historisch Winfried Beeker: Politischer Katholizismus und Liberalismus vom Kaiserreich zur Bundesrepublik. In: Die Minderheit als Mitte, S. 89 - 110. 18 Grundlegend dazu Michael Stürmer: Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924 - 1928. - Düsseldorf 1967. - (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 36).
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die SPD schon 1920 in eine nur nochmals kurz unterbrochene Distanz zur Reichspolitik und in noch abträglichere Träume von einer kommenden sozialistischen Gesellschaft.
C. Nationale Außenpolitik Die Parteien, die jetzt außenpolitische Verantwortung trugen, waren auf ihre Aufgabe kaum vorbereitet. Denn im Kaiserreich war die Außenpolitik ein Reservat der Krone gewesen und deshalb von den parlamentarischen Kräften absichtlich weitgehend abgeschottet worden. Sie hatten daher auf diesem Gebiet kaum Konzeptionen entwickelt, geschweige denn praktische Erfahrungen sammeln können. Nach dem Regimewechsel hat die Masse der Probleme, welche die Liquidierung des Krieges mit sich brachte, die Parteien zunächst völlig in Beschlag genommen. Als dann in den zwanziger Jahren Vorstöße zur "Demokratisierung der Außenpolitik" gemacht wurden, hatten sich die Strukturen schon so verfestigt, daß es bei Korrekturen blieb. Eine effektive parlamentarische Einwirkung auf die Außenpolitik wie eine Kontrolle des Auswärtigen Amts ist auch in der Republik nicht gelungen. Der Reichstag hat kaum gestaltend auf die Außenpolitik eingewirkt. Die Parlamentarier überließen vielmehr die Initiative den Diplomaten und Beamten und haben sich mit anschließender Information wie nachträglichem Räsonement in Ausschuß und Plenum begnügt. Das Auswärtige Amt hatte die unvermeidliche parlamentarische Leitung akzeptiert. Mit der außenpolitischen Koalition im Reichstag wurde ein Kompromiß dahingehend gefunden, ihr bei der Besetzung diplomatischer Spitzenpositionen ein Mitspracherecht einzuräumen, darüber hinaus aber den überkommenen Apparat unangetastet zu lassen. 19 Doch waren nicht nur die Einstellung der Parteien und die Strukturen ein außenpolitisches Erbe des Kaiserreichs, sondern auch Vorstellungen und Ideen, die jenseits von direkt anzuwendenden außenpolitischen Konzeptionen lagen. Beherrschend war die des nationalen Machtstaates. Sie war durch die emotionale Erregung des Krieges nochmals gesteigert worden und hatte fast alle Schichten des Volkes erfaßt. Daher war die Politik der Parteien, die jetzt handeln mußten, von dem kaum überbrückbaren Gegensatz zwischen dieser
19 Vg!. Peter Pistorius: RudolfBreitscheid 1874 - 1944: ein biographischer Beitrag zur deutschen Parteiengechichte. - Phi!. Diss. Köln 1970, S. 211 ff.; Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar. - Darmstadt 1985, S. 29 f.
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Tradition und den begrenzten Möglichkeiten Deutschlands nach 1918 geprägt. 2o Diese Grundspannung wurde aber immerhin dadurch gemildert, daß die Erfahrung des Krieges und der Niederlage in Zentrum, Liberalismus und Sozialdemokratie dem Bewußtsein zum Durchbruch verholfen hatte, daß das Verhältnis zu Krieg und Militär wie die Rolle Deutschlands unter den Völkern neu definiert werden müsse. Der alles beherrschende Ausgangspunkt der Außenpolitik der Weimarer Republik war der Vertrag von Versailles vom 28. Juni 1919 zwischen dem Deutschen Reich einerseits und den siegreichen Alliierten USA, Großbritannien, Frankreich und Italien andererseits. Dessen Vorbereitung und Abschluß haben die Parteien der regierenden Weimarer Koalition nur allzu gerne der Reichsregierung und dem Auswärtige Amt überlassen. Sie haben statt dessen trotz des harten Waffenstillstands aus schierer Ratlosigkeit und im Vertrauen darauf, daß die Feinde den Regimewechsel honorieren würden, weiterhin die Hoffnung auf einen annehmbaren "Wilson-Frieden" gefördert. Daher hat erst das Bekanntwerden der Friedensbestimmungen Anfang Mai 1919 den Deutschen bewußt gemacht, daß sie den Krieg verloren hatten, und bei nicht wenigen Politikern der unterschiedlichsten Richtungen haben sie einen niemals überwundenen Schock ausgelöst. Das gesamte deutsche Volk war sich darin einig, daß es sich mit der Abtretung größerer Gebietsteile im Westen und Osten, mit dem Verlust von Kolonien, mit Besatzung und dauernder Wehrlosigkeit ebenso wenig abfinden könne wie mit der Verurteilung als Kriegstreiber und der daraus abgeleiteten Leistung von Wiedergutmachung im vorgesehenen Umfang. Die Mehrheitssozialdemokraten sahen die stark umstrittene Bewilligung der Kriegskredite und ihre Burgfriedenspolitik gerechtfertigeI, da es nun offenbar sei, daß Deutschland einen Verteidigungskrieg gegen den Vernichtungswillen 20 Vgl. Theodor Schieder: Nation und Nationalstaat in der deutschen Geschichte. In: Theodor Schieder: Nationalismus und Nationalstaat: Studien zum nationalen Problem im modernen Europa / hg. von Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler. - 2. Aufl. - Göningen 1992, S. 153 ff.; Andreas Hillgruber: "Revisionismus" : Kontinuität und Wandel in der Außenpolitik der Weimarer Republik.
In: Historische Zeitschrift 237, 1983, S. 601 ff.
21 Vgl. zum Folgenden v. a. die Diskussion über die Friedensbedingungen auf dem Parteitag von 1919: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Weimar vom 10. bis 15. Juni 1919. - Berlin 1919, S. 237 ff.; darüber hinaus: Susanne Miller: Die Bürde der Macht: Die deutsche Sozialdemokratie 1918 - 1920. - Düsseldorf 1978. - (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 63), S. 275 ff. und Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924. - 2. Aufl. - Berlin 1985. S. 212 ff.; Hermann Lange: Ideen und Praxis der sozialdemokratischen Außenpolitik in der deutschen Republik (1918 1926). Diss. Erlangen 1949, S. 20 ff.
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seiner Feinde geführt habe. Es festigte sich ihre Überzeugung, daß der Kapitalismus seinen Kampf gegen den deutschen Sozialismus weiterführe. Denn die wirtschaftlichen Diskriminierungen und die finanziellen Leistungen würden zu einer verstärkten Belastung der Arbeiter führen und den Weg zu einer sozialen Gesellschaft auf unabsehbare Zeit verhindern. Wenn man sich auch der Ausbeutung des eigenen Landes durch das internationale Kapital widersetzte, so hat sich die MSPD doch am deutlichsten von allen systemstabilisierenden Parteien zur Wiedergutmachung der in Frankreich und Belgien verursachten Schäden bereit erklärt. Die Sozialdemokraten waren auch diejenigen unter ihnen, die den jähen Sturz der deutschen Großmacht, der sich bei Teilen der Liberalen zum Trauma auswuchs 22 , am besten verkrafteten. Die Einsicht, daß das Interesse der Arbeiterklasse dadurch wenig berührt sei und die nachwirkende Distanz zur Hohenzollernmonarchie förderten die Überzeugung, daß nicht um jeden Preis historische Rechte eingefordert werden müßten; vielmehr sei der politische Wille der Betroffenen zu respektieren und die Grenzziehungen müßten erträglich sein. Dennoch war man sich mit den Partnern darin einig, daß die von den Siegern proklamierten Ideale, die man ja teilte, in Versailles weitgehend blanker Machtpolitik geopfert worden seien. Trotz kritischer Distanz zum politischen System des untergegangenen Kaiserreichs waren die Liberalen stark in den Bann von dessen Nationalismus geraten. Sie fanden daher heftige Worte für den "Vernichtungsfrieden" , der ihnen nichts anderes zu sein schien als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln,23 und mancher von ihnen verfiel nach dessen Proklamierung in existenzielle Zweifel an Gott und der Welt24 . Sie konnten es sich jetzt noch leisten an liebgewordenen Vorstellungen festzuhalten. Die Rechtsliberalen standen von Anfang an in Opposition zur inneren und äußeren Entwicklung seit der Revolution, und die Linksliberalen25 wechselten aus der Regierunsgverantwortung in diese bequeme Stellung, als sicher war, daß ihre Koalitionspartner zusammen 22 Beispielhaft dafür die Rede Stresemanns: Der Weg des neuen Deutschland, die er am 29. Juni 1927 auf Einladung des Nobel-Komitees in Oslo hielt: In: Gustav Stresemann: Vermächtnis: der Nachlaß in drei Bänden / hg. von Henry Bernho.rd. - Berlin 1932, 33, hier Bd. 111, S. 449 ff. und Deutsche Stimmen 39, 1927, S. 449 ff. 23 Vgl. Kun von Lersner: Revision des Versailler Friedens. In: Deutsche Stimmen 30, 1920, S. 241 ff. 24 Vgl. als eine repräsentative Ansicht der Basis: Alexander Elster: Das Schlimmste ist der Geist. In: Deutsche Stimmen 31. 1919. S. 363 ff.
2S Zu ihnen ausführlich Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein": Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der Deutschen Demokratischen Partei. Stuttgart 1978. - (Kieler Historische Studien; 24), S. 76 ff.
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mit der Linken dem Vertrag eine Mehrheit im Reichstag sichern würden. Nun, da sie die Folgen ihrer Politik nicht mehr fürchten mußten, konnten sich die Demokraten darauf versteifen, daß das Los des Vaterlands nach der Verwerfung des alliierten Diktats nicht schlimmer sein könne als nach dessen Inkrafttreten. Die damit zugleich verfolgte Absicht, Samrnlungsbewegung der demokratischen Gegner des Versailler Vertrags zu werden, schlug bald fehl. Den linken Liberalen wurde rasch klar gemacht, daß das Bekenntnis zur Weimarer Republik sich nicht auf die innere Verfassung begrenzen ließ, sondern die Akzeptanz des außenpolitischen Fundaments miteinschloß. 26 Selbst die rechten Liberalen erkannten, daß sogar die bloße Interessenvertretung dieses Opfer verlangte. Dieser Pragmatismus machte ihre Annäherung an die Weimarer Außenpolitik geradliniger als die der Linksliberalen, die sich schwer taten, von nationalen Emotionen Abschied zu nehmen, so daß ihr Kurs noch bis in den Anfang der zwanziger Jahre hinein uneinheitlich und schlingernd blieb. 27 Die in der Verantwortung stehenden Parteien, Zentrum und die Sozialdemokratie,28 konnten sich dieser Einsicht von Anfang an nicht verschließen. Sie haben daher dem Vertrag im Juni 1919 zur Mehrheit verholfen, nachdem ihnen zuvor die anderen Parteien des Reichstags die patriotische Ehrenhaftigkeit ihres Handeins bestätigt hatten. Das Zentrum hat sich darüber hinaus an die "reservatio mentalis" geklammert, daß erzwungene und unerfüllbare Verträge nicht verbindlich seien. 29 Denn so wenig wie alle anderen wollten sich die beiden Parteien mit diesem "brutalen Diktat" abfinden, dem noch nicht einmal die linksliberalen Pazifisten zuzustimmen gedachten, da sie in ihm eine dauernde Quelle des Völkerhasses erblickten. 30 Im Gegensatz zu ihnen glaubten aber die Zustimmenden, daß das Reich der doppelten Bedrohung durch die innere Anarchie und den Einmarsch der Feinde im Falle der Ablehnung nicht stand26 Vgl. dazu auch Hanmut Schustereit: Linksliberalismus und Sozialdemokratie in der Weimarer Republik: eine vergleichende Betrachtung der Politik von DDP und SPD 1919 - 1930. - Düsseldorf 1975. - (Geschichte und Gesellschaft: Bochumer Historische Studien; 9), S. 67 ff. und 123 ff.
27 Vgl. Larry E. Iones: German Liberalism and the Dissolution of the Weimar Party System, 1918 - 1933.- Hili and London 1988, S. 119 ff. 28 Vgl. dazu auch Hermann Lange: Ideen und Praxis der sozialdemokratischen Außenpolitik, S. 20 ff. 29
Vgl. Germania 362/ 30. 12. 1932.
30 Vgl. Iürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein": Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der Deutschen Demokratischen Partei. - Stuttgart 1978. (Kieler Historische Studien; 24), S. 79 ff.
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halten würde. Ihr alles überragendes Motiv war, die Existenz des deutschen Volkes zu sichern durch den Erhalt von dessen Staat. 31 Daß dies trotz außerordentlicher Gefährdung gelungen ist, war ein Erfolg des nationalen Selbstbehauptungswillens und ist zugleich ein Beweis für die starke Identifikation gerade der ehemaligen "Reichsfeinde" mit dem 1871 gegründeten Nationalstaat. 32 Obwohl dies die vielleicht größte nationale Leistung der Republik überhaupt war, ist sie wenig ins zeitgenössische Bewußtsein gedrungen. Der diplomatisch-politische Kampf gegen die drückendsten Auflagen des Versailler Vertrags ist über weite Strecken mit der Weimarer Außenpolitik identisch, und vor allem in dieser Auseinandersetzung hat sich der Nationalismus der systemstabilisierenden Parteien geformt. Weit über die republikanischen Parteien hinaus, in deren Parteiprogrammen das "ethische Recht auf Revision" 33 außenpolitisches Essential war, bestand Einigkeit darüber, daß sich Deutschland von den Fesseln des Versailler Vertrags befreien müsse. Fast schon symbolisch ist dieser revisionistische Grundkonsens dadurch zum Ausdruck gekommen, daß am Verfassungstag 1922 das Deutschlandlied Hoffmanns von Fallersleben zur Nationalhymne erklärt wurde. 34 Freilich konnte die Revisionspolitik eine solch integrierende Wirkung nur entfalten, weil sich der Republik bis zum Ende die Frage nach deren letzten Zielen nicht stellte. Selbst unter den Parteien der außenpolitischen Koalition blieb offen, ob es nur darum gehe, die krassesten Auswüchse zu beseitigen oder ob das gesamte Vertragswerk über den Haufen geworfen werden solle. Von ihnen hat innerhalb dieses Rahmens die Volkspartei ihrer Außenpolitik am stärksten einen nationalen Anstrich gegeben, indem sie diese im gewollten Anklang an den Kampf gegen Napoleon zum Ringen um Deutschlands Befreiung machte. 35 Sie hat auch kein Hehl daraus gemacht, daß der durch diese Assoziation naheliegende Schluß }\ Vgl. dazu unter anderem earl Trimborn auf dem Reichsparteitag des Zentrums von 1920: Offizieller Bericht des 1. Parteitages der deutschen Zentrumspartei: Tagung zu Berlin vom 19. bis 22. Januar 1920. -Berlino. J., S. 5,15 f.; SusanneMiller: Die Bürde der Macht, S. 282 ff.; Dieter Groh / Peter Brandt: "Vaterlandslose Gesellen": Sozialdemokratie und Nation 1860 - 1990. München 1992, S. 178 ff. 12 V gl. auch Theodor Schieder: Nation und Nationalstaat in der deutschen Geschichte, S. 159; als zeitgenössische Stimme vgl. Wilhelm Kahl: Staat und Volk: Rede bei der Reichsgründungsfeier der Reichsregierung im Reichstag am 18. Januar 1931. - Berlin 1931.
}} So Kurt von Lersner. V gl. Die Deutsche Volkspartei und das Versailler Friedensdiktat. - Berlin 1921. - (Flugschriften der Deutschen Volkspartei; 28), S. 7. }4
Vgl. Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland, S. 262.
}, Vgl. Max Lohan: Vom deutschen Wesen. In: Deutsche Stimmen 30, 1920, S. 313 ff.; ergänzend: Rede Stresemanns auf dem Parteitag in Hannover am 30, März 1924. In: Gustav Stresemann: Vermächtnis I, S. 373 ff. 13'
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auch das Ziel ihrer Revisionspolitik sei: die Wiedergewinnung einer deutschen Großmachtstellung. 36 Ihre linken Gesinnungsgenossen standen ihnen dabei mit ihrem Streben nach deutscher "Weltgeltung" nicht nach. 37 Aber nicht nur die Liberalen, sondern alle republikanischen Kräfte, die Revision als völlige Negation verstanden, kamen dadurch in die Nähe derjenigen, die den Umsturz jeglicher bestehenden Ordnung wollten. 38 Zunächst aber war folgenreicher , daß die Revisionspolitik wegen dieses Verständnisses des Versailler Vertrags nie aus der Perspektive eines Kampfes gegen ein Unrecht herauskam. Deswegen wurde das Erreichte auch so wenig als Erfolg empfunden. Parteien und Volk sahen in ihm viel eher jeweils eine überfällige Selbstverständlichkeit als konstruktive Schritte zur Überwindung der Folgen des Krieges. Daher konnten auch die Parteien, welche die Außenpolitik trugen, so wenig Kapital aus ihren Leistungen schlagen. Und der Republik selbst kamen sie ebenfalls kaum zugute. Das wurde ganz besonders daran offenbar, wie wenig die gerade während der Existenzkrise erzielten nationalen Erfolge sich noch auswirkten. Denn die Bilanz konnte sich angesichts der Ausgangslage durchaus sehen lassen. Deutschland war schon nach wenigen Jahren in die Völkergemeinschaft zurückgekehrt und konnte dadurch die besonders demütigenden Vorwürfe als widerrufen ansehen. Das Reparationsproblem konnte versachlicht werden, die Leistungen herabgesetzt und schließlich am Ende sogar ganz beseitigt werden. Die alliierten Besatzungstruppen zogen vorzeitig ab, und einige durch die Militärkontrolle bedingten Beschränkungen der Souveränität fielen. Das Reich hatte auf die Dauer doch Nutzen daraus ziehen können, daß es als potentielle Großmacht erhalten geblieben war. Dies genügte, um begrenzte Ziele durchzusetzen, nachdem Frankreich an seinen ehemaligen Verbündeten nur noch begrenzt Rückhalt fand und im Osten an die Stelle zweier Großmächte ein cordon von Mittel- und Kleinstaaten getreten war. Die Möglichkeiten, die für Deutschland in der Nachkriegsordnung also durchaus gegeben waren, sind in der einseitigen Fixierung nicht gesehen worden, geschweige denn für das Konzept einer Alternative zur Revisionspolitik genutzt worden. 39 So kamen die systemstabilisierenden Parteien nicht aus der aussichtslosen Konkurrenz mit 36 Vgl. Werner von Rheinbaben: Außenpolitik. In: Deutscher Aufbau: Nationalliberale Arbeit der Deutschen Volkspartei f hg. von Adolj Kempkes. - Berlin 1927, S. 68 ff. 37
Vgl. Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 341 ff.
38 Darauf weist Michael Salewski: Das Weimarer Revisionssyndrom. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 2 f 30 (1980), S. 14 ff. hin. 3'
Vgl. dazu Andreas Hillgruber: "Revisionismus", S. 597 ff. und 618 ff.
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Entwürfen von denjenigen, die nur agitieren und nicht auch handeln mußten, heraus. Es war tragisch, daß den Nationalsozialisten ein guter Teil der Früchte der Revisionspolitik in den Schoß fiel. Was Großbritannien, ohne auf französischen Widerstand zu stoßen, ihnen im Zuge seiner Appeasementpolitik zugestand, hätte alle Wünsche der systemstabilisierenden Revisionisten erfüllt. Eine zu späte und sarkastische Bestätigung dafür, daß sie so überzogen wohl doch nicht gewesen sein können. 40 Ehe sich aber die ersten Erfolge der Revisionspolitik einstellten, hatten die Deutschen die Bestimmungen des Versailler Vertrags zu verwirklichen, die geforderten Leistungen uneingeschränkt zu erbringen und beim Kampf gegen den Kriegsschuldartikel, der für beide Seiten ein point d ' honneur war, Abstriche zu machen. In diesem Artikel hatten die Alliierten behauptet, daß ihnen der Krieg durch den vorsätzlichen Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen worden sei. In Noten zum Vertrag haben sie den Vorwurf nochmals dadurch verschärft, daß Deutschland unterstellt wurde, die Unterjochung Europas angestrebt und die Kämpfe besonders unmenschlich geführt zu haben. 41 Diese von den Siegern durchgedrückte Sicht des Krieges hatte für die Deutschen einen doppelten Stachel. Einmal widersprach sie dem durch Erfahrung und Propaganda befestigten Bild des nur sich selbst gegen eine Welt von Feinden verteidigenden Vaterlands. Der Reichspräsident und ehemalige kaiserliche Feldmarschall Hindenburg hat diese Überzeugung bei der Einweihung des Tannenberg-Denkmals im September 1927 eingängig formuliert: das deutsche Heer sei "reinen Herzens" ausgezogen und habe das Schwert mit "reinen Händen" geführt. 42 Zum anderen rechtfertigten die Sieger mit der erzwungenen Anerkennung der Kriegsschuld die das nationale Empfinden besonders schmerzenden Diskriminierungen sowie die Wiedergutmachungsleistungen, zu denen selbst die Deutschen im Ausland mit ihrem Vermögen herangezogen wurden. Da Selbstbild und Selbstwertgefühl tief getroffen waren, war die Empörung gewaltig und umfassend. Es wurde eine amtliche Propaganda gegen die deutsche Kriegsschuld in Gang gesetzt, die im Ausland Verständnis für den deutschen Standpunkt herbeizwingen wollte und diesen zugleich im Innem auf 40 Dies übersieht Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 317 ff. bei seiner Auseinandersetzung mit dem Weimarer Revisionismus und insbesondere mit dem der DDP. Erstaunlicherweise nimmt er selbst die Streichung der Reparationen auf der Lausanner Konferenz 1932 und den Durchbruch bei der Rüstungsbeschränkung in Genf 1932 / 33 nicht zur Kenntnis. 4\ Vgl. Heinrich Schnee: Kriegsschuldfrage, Kolonien, Auslandsdeutsehtum. In: deutscher Aufbau, S. 85.
42 Vgl. das Interview Stresemanns mit dem "Matin" am 21. 9. 1927. In: Gustav Stresemann: Vermächtnis III, S. 198 ff.
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breiter Basis abstützen sollte. 43 Mit Hilfe der internationalen Wissenschaft sollte so das erreicht werden, was politisch unmöglich war: die Entlarvung der alliierten Lügen durch die Wucht der Tatsachen. 44 Es sollte aber auch die deutsche Politik auf Kurs bleiben. Die in der Verantwortung stehenden Parteien haben aber sehr rasch deren Grenzen gespürt. 45 Denn sie schreckten immer wieder vor der allseitigen Forderung nach Notifikation des deutschen Standpunkts bei Verhandlungen mit den Alliierten zurück, wenn diese drohten, daß dann Substantielleres gefährdet werde. Ja, für sie entpuppte sich die leidige Forderung nach Zurückweisung der Kriegsschuld je mehr Deutschland seine außenpolitische Handllungsfreiheit wiedergewann als eine Selbstfesselung. Denn nun erkannte die Rechte darin ein probates Mittel, um die Annäherung von Siegern und Besiegten zu konterkarieren. Die konstruktiven Kräfte hätten daher jetzt gerne das Problem auf ihrem Minimalkonsens gelöst. Er bestand in dem Diktum Lloyd Georges, daß die Völker 1914 in den Krieg geschlittert seien. 46 Doch gingen drinnen wie draußen die Wogen der Emotion noch zu hoch, um eine Position konsensfähig zu machen, die alle mehr freisprach als verurteilte. Man war daher froh, als in der Mitte der zwanziger Jahre die Frage in Untersuchungsausschüsse und wissenschaftliche Kommissionen verlagert wurde und sich mit der Auffassung Stresemanns, daß mit der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund dessen moralische Rehabilitierung erfolgt sei,47 ein Schlupfloch auftat. Lediglich die Deutsche Volkspartei führte die Kampagne auf breiter Front weiter, da sie ihr unentbehrlich erschien, um die
43 Vgl. dazu Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage: politische Öffentlichkeit und Kriegs-· schuldfrage in der Weimarer Republik. - Göttingen 1983. - (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 59), S. 22 ff. 44
So Heinrich Schnee: Kriegsschuldfrage, Kolonien, Auslandsdeutschturn, S. 89.
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Zu den Positionen der einzelnen systemstabilisierenden Parteien zur Kriegsschuldfrage: DDP:
Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein" passim; Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage, S. 33 f. und 239 ff.; Zentrum: Friedrich Seil: Grundsätzliches zur Frage der Kriegsschuld. In: Das Zentrum 1923, S. 89 f.; Wilhelm Marx: Die Kriegsschuldfrage. In: Historisches Archiv der Stadt Köln, Nachlaß MarxlOl; zusammenfassend: Karsten Ruppen: Der deutsche Katholizismus im Ringen um eine Standortbestimmung des Reiches nach dem Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Kirchengecshichte 104, 1993, S. 213 f.; DVP: Heinrich Schnee: Kriegsschuldfrage, Kolonien, Auslandsdeutschturn, S. 85 ff. und das Matin-Interview Stresemanns vom 21. 9. 1927, S. 198 ff. Zur SPD vgl. Dieter Groh / Peter Brandt: "Vaterlandslsose Gesellen", S. 183 f.
46 Für die SPD vgl. dazu den Vorstandsbericht von Otto Wels auf dem Parteitag von 1919: Protokoll, S. 159 f. 47
Vgl. dazu Gustav Stresemann: Der Weg des neuen Deutschland, S. 453 f.
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Realpolitik ihres Vorsitzenden nach rechts abzusichern. 48 Als aber die Republik grundsätzlich durch den rechten Nationalismus herausgefordert wurde, haben auch die Parteien der Weimarer Koalition die Kriegsschuldfrage wiederentdeckt und sie zum Ausgangspunkt eines verschärften Generalangriffs auf den "Schandfrieden " gemacht. 49 Besondere Schwierigkeiten, wenn auch ganz anderer Art, hatte die MSPD mit der Kriegsschuldfrage. so Sie hätte es am liebsten ganz vermieden, sich mit dem Anteil des kaiserlichen Deutschland am Kriegsausbruch zu beschäftigen. Dies ließen aber die Unabhängigen und später der linke Flügel der wiedervereinigten Partei nicht zu, und schließlich erwartete auch die Sozialistische Internationale ein klärendes Wort. Wie die Linken die Alleinschuld-These zu übernehmen, um sie ohne größere Hemmungen zur Abrechnung mit dem alten Regime zu nutzen, verbot sich allerdings. Wäre doch dann die Bewilligung der Kriegskredite und die Burgfriedensallianz desavouiert gewesen, da sie ja auf der Überzeugung beruht hatten, einen Verteidigungskrieg gegen russischen Zarismus und westlichen Kapitalismus, nicht zuletzt zur Wahrung der sozialistischen Errungenschaften, geführt zu haben. Darüber hinaus hielten die Mehrheitssozialdemokraten eine den proletarischen Internationalismus schon längst überlagernde nationale Loyalität und die Furcht vor der Gefährdung der aufgrund ihres Patriotismus errungenen staatsbürgerlichen Anerkennung fest im Lager der Abwehrfront. Deren Grundüberzeugung bereicherten sie durch die vulgärrnarxistische Variante vorn imperialistischen Charakter aller kapitalistischen Nationen. Angesichts der zunächst geschlossenen und vehementen Verwerfung aller Bestimmungen des Friedensvertrags, welche die Souveränität und das nationale Ansehen Deutschlands schmälerten, ist es um so erstaunlicher, daß keine der 48 Vgl. beispielsweise E. Vogtländer: Die Deutschen. In: Deutsche Stimmen 30, 1920, S. 335 f. und Wilhelm Zieg/er: Die deutsche Volksbewegung und die Revision des Versailler Vertrags. In: Deutsche Stimmen 41, 1929, S. 642 ff. Diese Bewegung "aus den Tiefen der Volksseele" sei Ausdruck dafür, daß das deutsche Volk den Sinn für Würde und Charakter noch nicht verloren habe, ihre Erfolge wären nicht möglich gewesen, ohne "die innere Empörung, die ehrliche Aufwallung, das gute Gewissen und den männlichen Stolz eines ganzen Volkes". 49 Vgl. z. B. Fritz Bockius am 20. 1. 1930 im Reichstag. In: Verhandlungen des Reichstags: Stenographische Berichte und Drucksachen. - I. - VIII. Wahlperiode. - Berlin 1920 ff., hier Bd. 428, Sp. 5609 f.; und Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 177 ff.
so Vgl. dazu die Diskussion auf dem Parteitag von 1919: Protokoll, S. 237 ff.; die Rede Rudolf Breitscheids im Reichstag am 24. 6. 1930. In: Verhandlungen des Reichstags Bd. 425, Sp. 2821 f.; Heinrich August Wink/er: Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 206 ff. und Vlrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage, S. 29 ff., 244 ff. und Dieter Groh I Peter Brandt: "Vaterlandslose Gesellen", S. 183 f.
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systemtragenden Parteien unbedingt das alte Reich in seinem früheren Umfang wiederherstellen wollte. Darin kam wohl zum Ausdruck, daß die hinter ihnen stehenden gesellschaftlichen Kräfte zu ihm und seiner Minderheitenpolitik in einer abgestuften Distanz gestanden hatten. Folglich ist der Sozialdemokratie, die darüber hinaus von derartigen nationalen Fragen nie berührt war 51 , und dem Zentrum52 der Verzicht am leichtesten gefallen. Doch haben schließlich selbst die nationalen Liberalen einer umfassenderen außenpolitischen Zielsetzung wegen nicht mehr nach den alten Grenzen gestrebt. Die Parteiräson ließ es ihnen allerdings geboten sein, dies nicht allzu offenkundig werden zu lassen. 53 In einem zentralen Punkt hieß also Revision nicht völlige Negation, sondern lediglich Korrektur. Das war die Voraussetzung dafür, daß die Weimarer Republik wenigsten einmal völkerrechtlich die im Versailler Vertrag erfolgte Grenzziehung anerkannte. Denn mit der Billigung der Locarno-Verträge haben die vier Parteien im Oktober 1925 wenigstens die Westgrenze hingenommen. Aus grundsätzlichen Erwägungen hätten alle vier Parteien gerne eine Bekundung des Willens der Betroffenen gesehen. Sie waren sich ebenso sicher, daß diese in Elsaß-Lothringen zu Lasten des Reiches ausgefallen wäre wie in Eupen-Malmedy zu dessen Gunsten. Freilich zeigte sich gerade hier, wie schwer trotz aller Einsicht der Abschied von nationalen Anhänglichkeiten fiel und wie eng Verständigung und nationale Interessenwahrung verschlungen waren. Vielen war ein Trost, daß Elsaß-Lothringen Teil der deutschen Kulturgemeinschaft bleiben würde und seine friedliche Rückkehr nicht ausgeschlossen sei. 54 Bezüglich Eupen-Malmedys hatte man die Hoffnung noch nicht aufgegeben, im Zuge von bilateralen Wiedergutmachungsverhandlungen eine erneute Volksabstimmung zu erreichen. 55 'I Vgl. dazu die völlig marginale Bedeutung der Frage der Grenzziehung in der außenpolitischen Diskussion der Partei und in ihren Programmen. 52 Vgl. u. a. Walter Hagemann: Deutschland am Scheideweg: Gedanken zur Außenpolitik. Freiburg 1931, S. 84 ff.
'3 Vgl. die folgende Anm. und Rochus von Rheinbaben: Liberale Politik im neuen Reiche. Karlsruhe 1928. - (Wissen und Wirken; 55).
'4 So z. B. Werner von Rheinbaben: Die Außenpolitik der DVP. In: Europäische Gespräche 4, 1926, S. 228 f. und in: Deutscher Aufbau, S. 76. " Vgl. für die SPD: Rudolf Breitscheid am 19. 5. 1925 im Reichstag. In: Verhandlungen des Reichstags Bd. 385, Sp. 1890 f.; RudoljBreitscheid: Locarno. In: Die Gesellschaft 11,1925, S 497 ff.; Hermann Müller-Franken: Deutsch-französische Verständigung als europäische Friedensgarantie. In: Die Gesellschaft VII, 2, 1930, S. 413 ff.; Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1926 I hg vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. - Berlin o. J., S. 97 f. DDP: ]ürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 191 ff.; Zentrum: Karsten Ruppen: Im Dienst am Staat von Weimar: das Zentrum als regierende Partei in der Weimarer
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Obwohl dieser Vertrag, mit Nachdruck von der SPD, als Frucht und Etappe des neuen europäischen Geists der Verständigung gefeiert wurde, so waren dennoch bei denen, die ihn wollten, revisionistische und nationale Motive ausschlaggebend gewesen. Zunächst einmal ging man davon aus, daß die Besatzung im Westen erträglicher werden würde und vor allem, daß nun das Rheinland und die Saar endgültig gegenüber französischen Expansionsgelüsten gesichert seien. Weitreichender aber war, daß ohne Einverständnis Frankreichs die von allen angestrebte Revision der Ostgrenze nicht möglich sein würde. 56 Bei diesem nationalpolitischen Ziel flossen mehrere Motive zusammen. Es schmerzte besonders, daß Deutsche nun unter der Herrschaft osteuropäischer Völker leben mußten, denen man sich überlegen fühlte, da man ihnen Christentum wie Zivilisation gebracht hatte. Zudem geboten auch aktuelle machtpolitische Überlegungen hier den Hebel anzusetzen. Waren doch besonders Polen und die Tschechoslowakei gerade entstandene Staaten, die als schwach galten und mit beträchtlichen Minderheitenproblemen zu kämpfen hatten. Da aber der demokratische Revisionismus aus Einsicht in die deutsche Machtlosigkeit aber auch aus Überzeugung jegliche Gewaltanwendung verwarf, glaubte er mit der Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker am weitesten zu kommen. Denn die Deutschen, um die es ging, hatten über ihre nationale Zugehörigkeit nicht abstimmen können, oder aber ihr Wille war, wie in Oberschlesien (mit seiner für die Aufbringung der Reparationen unverzichtbaren Schwerindustrie), teilweise mißachtet worden. In Konsequenz von dem, was man selbst wollte, forderte man die überwiegend polnischen Gebiete des Kaiserreichs nicht zurück. Das Minimalprogramm lautete: Danzig, Korridor, Oberschlesien und vielleicht die ein oder andere Grenzkorrektur im Warthegau. Hinsichtlich der Deutschen in der Tschechoslowakei klangen die Forderungen verhaltener. Da sie ja eine Hinterlassenschaft der k.-u.-k. Monarchie waren, lag den Reichsdeutschen ihr Schicksal nicht so sehr am Herzen. Zuerst wollte man sehen, wie weit man mit dem polnischen Volk kam, dessen Recht auf einen Staat gegenüber der radikalen Rechten stets verteidigt wurde. 57 Demokratie 1923 - 1930. - Düsseldorf 1992. - (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 96), S. 172 ff. DVP: Werner von Rheinbaben am 19. 5. 1925 im Reichstag. In: Verhandlungen des Reichstags Bd. 385, Sp. 1917 ff. 56 V gl. dazu auch Hermann Hagspiel: Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich?: die deutsch-französische Außenpolitik der zwanziger Jahre im innenpolitischen Kräftefeld beider Länder. - Bonn 1987. - (Pariser Historische Studien; 24), S. 279 ff.
57 Wie vorhergehende Anm. Darüber hinaus: Erich Matthias: Die deutsche Sozialdemokratie und der Osten 1914 - 1945. - Köln u. a 1954, S. 53, 64 ff. und Karsten Ruppert: Der deutsche Katholizismus im Ringen um eine Standortbestimmung, S. 217 ff.
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Geduld und Bescheidenheit waren freilich auch angebracht. Denn trotz manchen Verständnisses, auf das die territorialen Forderungen der systemstabilisierenden Parteien draußen stießen, die Chance auf deren Verwirklichung war gering. Zu tief hätte ein Entgegenkommen in den Bestand anderer Staaten eingegriffen, und vor allem wäre eine Lawine ausgelöst worden, welche die gesamte staatliche Neuordnung Osteuropas unter sich begraben hätte. Da auch die Parteien sahen, welche Hindernisse sich hier auftürmten, gewann für sie der Schutz der Minderheiten und der Einsatz für die Volks- und Auslandsdeutschen als Kompensation einen beträchtlichen Stellenwert, zumal darin auch weitaus größerere Wirkungsmöglichkeiten zu liegen schienen. Hier hat sich ein für die Republik ganz typischer Nationalismus ausgeprägt, mit dem sie sich deutlich gegenüber monarchistischen wie antidemokratischen Gegnern profilieren konnte. Seine Wurzeln hatte er im letzten Krieg, der ja wie keiner zuvor auch in Deutschland die Massen mobilisiert hatte, die sich dadurch oft erst endgültig als Nation begriffen. Diese hat sich nicht zuletzt deswegen jetzt vor allem ethnisch-kulturell verstanden, weil ihre Angehörigen im Ausland von den Feinden haftbar gemacht wurden. Der in der Schicksalsgemeinschaft des Krieges geborene Volksnationalismus, der in mancher Hinsicht an die romantisch-bürgerliche Nationalbewegung anknüpfte, ist nach dessen Ende in Deutschland aus mehreren Gründen erst zu voller Blüte gekommen. Die deutschen Minderheiten in den abgetretenen Gebieten und neugebildeten Nationalstaaten wurden jetzt ebenso eine Aufgabe deutscher Politik wie der Einsatz für die Wiedergutmachung dessen, was den Auslandsdeutschen angetan worden war. Zudem hielten die nach Kriegsende Ausgewiesenen, Vertriebenen oder Zurückgekehrten das volksdeutsche Denken wach s8 , so daß die zahlreichen Organisationen unterschiedlichster Schattierung, die sich seiner annahmen, eine Massenbewegung repräsentierten. Für die, die politische Verantwortung trugen, war es besonders verlockend, sich diesen Nationalismus zu eigen zu machen. War doch, nachdem die Macht weitgehend verloren war, vom nationalen Machtstaat wenigstens die Nation als ethnische Einheit geblieben. Sie glaubten darüber hinaus, daß eine auf ihr basierende Volkstumspolitik der Republik beträchtliche Möglichkeiten als Folge des Zusammenbruchs der osteuropäischen Großmächte eröffnen würde. Daß dieser Nationalismus ausgreifender war als der des untergegangenen Kaiserreichs, den ja vor allem Bismarck der Stabilität des europäischen Staatensystems willen auf das Reich begrenzt wissen wollte,59 profilierte ihn gegenüber der Hohenzollernmonarchie 58
Vgl. Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland. S. 264 ff.
59
Theodor Schieder: Nation und Nationalstaat in der deutschen Geschichte. S. 153 ff.
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wie den inneren Gegnern nicht weniger als daß er frei von Überheblichkeit und Rassismus war. Ausfluß eines solchen Nationalismus wie auch des Revisionismus war der von den Parteien unterstützte Einsatz der Reichsregierungen für die deutschen Minderheiten. Sie haben unter anderem auch den Beitritt Deutschlands in den Völkerbund deswegen befürwortet, weil er in der Versailler Nachkriegsordnung als deren Schutz- und Kontrollorgan konzipiert war. Die Hoffnung allerdings, über ihn für die deutschen Minderheiten viel bewirken zu können, hat sich kaum erfüllt, und die Absicht, dort die Rolle eines Sprechers aller Minderheiten zu übernehmen, noch weniger. 60 Beim Einsatz der Regierungen und Parteien für die deutschen Minderheiten rangierten die, die einst zur Habsburgermonarchie gehört hatten, deutlich hinter denen in den verlorenen Reichsteilen. 61 Gegenüber dem prononcierten Nationalismus, mit dem vor allem die neuen Staaten versuchten, ihre Minderheiten im Staat zusammenzuhalten, berief man sich auf Menschenrechte, Völkerrecht und Kulturautonomie. So sollten die deutschen Minderheiten gesichert und gestärkt werden, bis sie entweder selbst über ihr Schicksal bestimmen konnten oder aber als Legitimation für angestrebte Grenzkorrekturen. Die Sozialdemokraten wollten in ihrer Unterstützung dieser Politik nicht so sehr das Nationale, sondern das Prinzipielle sehen: die Unteilbarkeit des Selbstbestimmungsrechts 62 . Dem daraus gezogenen Schluß, daß Minderheitenschutz auf strikter Gegenseitigkeit beruhen müsse,63 schlossen sich selbst die Rechtsliberalen an64 , da er für das neue Deutschland keine Herausforde-rung mehr war. Während die durch den Versailler Vertrag verlorenen "Grenzdeutschen" ein vorrangiges Anliegen der Politik waren, war die Hinwendung zu den Volksund Auslandsdeutschen nach dem Ersten Weltkrieg ein überwiegend gesellschaftliches Phänomen. Rührige Verbände entdeckten jetzt "Volksgenossen", 60 V gl. dazu Gustav Stresemann: Nationale Realpolitik: Rede auf dem 6. Parteitag der Deutschen Volkspartei in Dortmund am 14. November 1924. - Berlin 1924. - (Flugschriften der Deutschen Volkspartei; 56). S. 15; Werner von Rheinbaben: Außenpolitik. In: Deutscher Aufbau. S. 79 f. 6\ Vgl. dazu z. B. Rochus von Rheinbaben: Stresemann: der Mensch und der Staatsmann. Dresden 1928. S. 250.
62
Vgl. dazu Erich Matthias: Die SPD und der Osten. S. 67 f.
63
Vgl. das Görlitzer Programm von 1921. In: Deutsche Parteiprogramme. S. 458.
64 Vgl. Heinz Kramer: Um die Lösung der Minderheitenfrage. In: Deutsche Stimmen 38. 1926. S. 206 ff.
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die den meisten Deutschen bisher noch nicht einmal dem Namen nach bekannt gewesen waren. 65 Die SPD zog hier aufgrund ihres tradierten soziologischen Nationalismus schon nicht mehr mit, und der Volkspartei versperrte ihre Fixierung auf den reichsdeutschen Nationalismus den Zugang zur Problematik der Volksdeutschen. So haben sich vor allem Zentrum und DDP um die deutschen in Ost- und Südosteuropa gekümmert, die meist eine Hinterlassenschaft des zaristischen Rußlands und der Habsburgermonarchie gewesen waren. Für beide Parteien war die Hochschätzung des "Volkes" ausschlaggebend, das der Katholizismus mehr als organisch-gesellschaftliche Gegebenheit, die Linksliberalen eher politisch verstanden. Durch eigene Aktivitäten, Unterstützung der gesellschaftlichen Gruppen und vor allem der amtlichen Politik sollte "den Volksgenossen unter fremder Herrschaft ihr Volkstum erhalten"66 werden. Revisionistische oder irredentistische Absichten wurden damit nicht verfolgt. Das Zentrum fand in der Befruchtung fremder Kulturen durch die deutsche und in der Stärkung deutscher Katholiken im Ausland ausreichenden Lohn. Immerhin glaubte die Demokratische Partei, durch ihren Einsatz Ansatzpunkte zur Wiedererlangung der deutschen Weltgeltung erhalten zu können. 67 Noch größere Hoffnung setzte die Partei des Handels- und Börsenkapitals in dieser Hinsicht auf die Deutschen in Übersee. Hier galt es zusätzlich in bilateralen Verhandlungen alte Geschäftsverbindungen wiederzubeleben, die rechtlichen Diskriminierungen der Kriegszeit zu beseitigen und Wiedergutmachung der Enteignungen zu erstreiten68 • Die Linksliberalen wurden dabei tatkräftig von ihren rechten Gesinnungsgenossen unterstützt, für die die rechtliche Gleichstellung der Auslandsdeutschen eine Frage der Ehre und die Erneuerung von deren Ansehen eine des nationalen Prestiges war. 69 Im Zuge des Wandels vom reichsdeutschen Staatsbewußtsein zum ethnischen wie kulturellen Volksbewußtsein hatte für die Konstitution des Nationalismus 6' Vgl. Fritz Wertheimer: Auslandsdeutschturn und Deutschtumspolitik. In: Volk und Reich der Deutschen III, S. 207 ff. 66
So das Parteiprogramm der DDP von 1919. In: Deutsche Parteiprogramme, S. 510.
67 Vgl. ]ürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 223 ff. und Georg Schreiber: Auslandsdeutsche und Katholizismus. - 5. Aufl. - Münster 1930 (beachte auch die dort S. 39 f. zitierte Resolution des Katholikentags von 1927); vgl. weiterhin die von dem Zentrumsabgeordneten Georg Schreiber herausgegebene Reihe "Deutschtum und Ausland: Studien zum Auslandsdeutschturn " und das "Jahrbuch des Reichsverbands für die katholischen Auslandsdeutschen" .
68
]ürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 225 ff.
69 Vgl. Heinrich Schnee: Kriegsschuldfrage, Kolonien, Auslandsdeutschturn. In: Deutscher Aufbau, S. 94 ff. und die Rede des Parteivorsitzenden und Außenministers Stresemann vor dem Bund der Auslandsdeutschen am 29. 8. 1925. In: Gustav Stresemann: Vermächtnis Ir. S. 332.
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der Weimarer Parteien der "Anschluß" Österreichs an die deutsche Republik wohl einen noch höheren Stellenwert erlangt als die Minderheitenfrage . Die Bildung eines deutschen Staates in Mitteleuropa unter dem Einschluß Österreichs war ja seit dem Untergang des Alten Reiches im Jahre 1806 virulent. Bisher hatten dem die Gegensätze zwischen Hohenzollern und Habsburger und zwischen Protestantismus und Katholizismus entgegengestanden; vor allem aber hatte sich das Pro bi em nicht lösen lassen, wie die Österreicher zugleich Bürger eines deutschen Staates und Staatsvolk der Donaumonarchie sein konnten. Mit dem Sturz der beiden Dynastien und der Auflösung des Vielvölkerstaates waren diese Hindernisse mit einem Schlag beseitigt. Deswegen hatte Frankreich ja auch im Vertrag von St. Germain die Vereinigung der beiden Staaten untersagt, damit das Reich auf diesem Weg nicht wieder das an Macht gewinnen würde, was ihm in Versailles genommen worden war. 70 Als Folge der Umbrüche in Osteuropa und des Aufkommmens des Volksnationalismus haben noch 1918 die Sudetendeutschen und zu Beginn des Jahres 1919 das österreichische Parlament um Aufnahme im Reich nachgesucht. 71 Mit Rücksicht auf die anstehenden Friedensverhandlungen hatte die Reichsregierung die Angelegenheit dilatorisch behandelt; wohl aber hat die Nationalversammlung die alten Reichsfarben durch die der deutschen Einheitsbewegung ersetzt, um unter anderem diese Option für die Zukunft offenzuhalten. 72 Da deren Erfüllung zunächst ein Riegel vorgeschoben worden war, haben sich in beiden Ländern Verbände gebildet, um den Anschlußgedanken durch Manifestationen der gemeinsamen Kultur wie Geschichte und Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen zu fördern oder aber durch Angleichung von Recht und Institutionen die Zusammenführung vorzubereiten. 73 Mit diesen Organisationen waren in Deutschland die Parteien der Weimarer Koalition ideologisch und personell eng verknüpft. Denn sie teilten mit ihnen nicht nur das Ziel, sondern sie erkannten in diesem auch eine Chance, die Republik als Nationalstaat zu legitimieren und dem republikfeindlichen Nationalismus im 70
Vgl. Gerhard Schulz: Revolutionen und Friedensschlüsse, S. 233 ff.
71
Dtto Dann: Nation und Nationalismus. S. 266 f.
72 Karl Rohe: Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold: ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik. - Düsseldorf 1966. - (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 34) schreibt S. 237, Anm. 4, daß Hugo Preuß zunächst die alten Reichsfarben vorgesehen habe auf Betreiben des großdeutschen Historikers und österreichischen Gesandten in Berlin, Ludo Hartmann, sich dann aber für Schwarz Rot Gold entschieden habe. 73 Stanley Suval: The Anschluß Question in the Weimar Era: a study of nationalism in Germany and Austria, 1918 - 1932. - Baltimore and London 1974, S. 90 ff.
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Innern das Wasser abzugraben. Denn mit der vor allem vom Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold propagierten Anknüpfung an die großdeutschen Bestrebungen der Paulskirche wurde die Anschluß-Bewegung in die Tradition der deutschen Demokratie gestellt, um sie gegen den vorherrschenden Nationalismus des preußisch-kleindeutschen Obrigkeits staats auszuspielen. 74 Die deutsche Sozialdemokratie, die ganz im Gegensatz zur österreichischen 1918 ihre großdeutsche Tradition erst wiederentdecken mußte, blieb in der Anschluß-Frage gespalten. Während das Partei-Establishment sich an führender Stelle engagierte, fürchtete die Linke den erneuten Aufbruch der deutschen Bourgeoisie zur Beherrschung Europas .75 Die Partei selbst hat sich daher zurückgehalten. Das konnte sie um so mehr tun, als das ihr nahestehende Reichsbanner an vorderster Front kämpfte. Dabei wurde es nachdrücklich von dem stets großdeutsch orientierten Zentrum unterstützt. 76 Sahen doch die deutschen Katholiken nun die Gelegenheit zu einer späten Annullierung der Niederlage von 1866, wodurch zugleich der Katholizismus im Reich gestärkt würde. 77 Die "Deutsche Demokratische Partei" hingegen war von dem Gedanken fasziniert, die geflihrdete Weimarer Demokratie dadurch endgültig zu festigen, daß sie den Ruch der Niederlage abschüttelte, indem sie den großdeutschen Nationalstaat schuf. 78 Im Nationalismus der Linksliberalen wurde der Anschluß so zentral, weil er sich auch parteitaktisch gegenüber der Volkspartei, die sonst hier in der Vorderhand war, empfahl. Denn wegen seiner demokratischen, antimonarchischen und antipreußischen Stoßrichtung zeigte diese der Angliederung "Deutschösterreichs" die kalte Schulter. Andererseits wurde es ihr dadurch erleichtert, die Anschluß-Politik ihres Vorsitzenden mitzutragen. Denn die offizielle deutsche Außenpolitik blieb auf Distanz, da Stresemann die Rückgewinnung der preußisch-deutschen Irredenten vorging. 79 74
Vgl. dazu Karl Rohe: Das Reichsbanner, S. 233 ff.
7S V gl. dazu Alben L. Brancato: German Social Democrats and the Question of Austro-German Anschluß, 1918 to 1945. - Ann ArOOr, Mich., 1975, S. 70 ff. 76 Genau umgekehrt wie bei den sozialdemokratischen Parteien beider Länder war die Lage bei den christlichen Parteien. Der Politische Katholizismus in Deutschland förderte das Zusammengehen mit Deutschösterreich entschieden, wohingegen die Christlichsozialen der Alpenrepublik auf Begründung eines eiegenständigen österreichischen Staats bewußtseins hinarbeiteten. V gl. auch Karl Renner: Die Christlichsozialen und das Zentrum im Reich. In: Die Gesellschaft VI, 2, 1929, S. 137 ff.
77
Vgl. Walter Hagemann: Deutschland am Scheideweg, S. 99 ff.
78
Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 204 ff.
79 Vgl. Stanley Suval: The Anschluß Question in the Weimar Era, S. 127 ff. und Rochus von Rheinbaben: Stresemann, S. 250.
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Mit daher mäßigem Rückhalt an der offiziellen Außenpolitik versuchten die Anschluß-Befürworter, auch das Ausland von der Berechtigung ihres Anliegens zu überzeugen. Die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht war besonders vehement, da die Vereinigung zweifellos dem Willen beider Völker wie gemeinsamer Kultur und Geschichte entsprach. Mit Bitterkeit wurde darauf verwiesen, daß die Sieger den Eindruck der verlogenen Handhabung des Prinzips nur begegnen könnten, wenn es auch einmal zum Nutzen Deutschlands ausgeübt werde. Um den Anschluß darüber hinaus aus der Revisions-Perspektive zu befreien, wurde er mit einem gerüttelten Maß an Rabulistik den unnachgiebigen Franzosen als eine erste Etappe zur Einheit Europas schmackhaft gemacht und den europäischen Nachbarn als Voraussetzung des Friedens und Wiederaufbaus auf dem Kontinent. 80 Obwohl also Parteien und Verbände, auch getrieben von der Furcht der allmählichen Herausbildung eines österreichischen Staatsbewußtseins, drängten, hielten sie das einseitige deutsch-österreichische Vorpreschen mit dem Plan einer Zollunion im Frühjahr 1931 81 vom Zeitpunkt und dem Vorgehen her für verfehlt. Die Skepsis war berechtigt. Denn die demokratische Anschluß-Bewegung in beiden Ländern hat sich bis zum Ende der Republik nicht mehr davon erholt, daß Frankreich dieses Projekt mit den Mechanismen des Versailler Systems zu Fall gebracht hatte. 82 Ein so verstandener "Anschluß"-Gedanke war vielleicht neben der "Verständigungspolitik" die konstruktivste nationale Konzeption der Weimarer Republik gewesen. Denn die Außenpolitik der systemstabilisierenden Parteien war nicht nur revisionistisch und national, sondern sie wurde auch von dem Bemühen bestimmt, über die Abwehr alliierter Forderungen und die Überwindung von Versailles hinauszukommen. Diese Politik ist vor allem den bürgerlichen Parteien nicht leichtgefallen, da sie den Verzicht auf manche nationale Illusion und deutliche Abstriche bei den Revisionsforderungen verlangte. Die Volkspartei verband mit Verständigung nicht so sehr eine Politik neuen Inhalts als einen Wandel im außenpolitischen Stil. Aus der weit verbreiteten Ansicht heraus, daß das alte europäische Bündnissystem den Ausbruch 80 Vgl. Karl Rohe: Das Reichsbanner (wie Anm. 72), S. 233 ff.; ]ürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 213 ff.; Richtlinien der Deutschen Zentrumspartei vom 16. 1. 1922: Deutsche Parteiprogramme seit 1861 / hg. von Wolfgang Treue. - 4. Auflage. - Göningen 1968, S. 141; Das Junge Zentrum 1929, S. 269 ff.; Albert L. Brancato: German Social Democrats and the Question of Austro-German Anschluß, S. 85 ff. 81 Vgl. dazu Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar. - Darmstadt 1985, S. 531 ff. 82 Vgl. auch Hermann Hagspiel: Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich? (wie Anm. 56), S. 400 f.
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des Weltkriegs mitverursacht habe, trat sie durchaus für Schlichtung von Konflikten im gegenseitigen Einvernehmen und für eine aufrichtige und gleichberechtigte Zusammenarbeit ein. Doch war es für sie fraglos, daß die Interessen der Staaten dabei den Rahmen abstecken würden. 83 Es war gerade Reichsaußenminister Stresemann, der unter vorsätzlicher Ignorierung der deutschen Machtlosigkeit immer mal wieder darauf hinwies, daß sein Land schon eine entscheidende Vorleistung erbracht habe, indem es kriegerischer Vergeltung abgeschworen habe. In der Geschichte gebe es kein Beispiel für ein solches Verhalten einer wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und militärischen Großmacht; Deutschland verdiene daher das Vertrauen der anderen Völker und habe dadurch ein Recht auf deren Entgegenkommen erworben. 84 Wenn auch die anderen Parteien nicht im gleichen Umfang ihre Anhänger davon überzeugen mußten, daß Verständigung und Wahrung des Friedens kein Ausdruck von Schwäche seien, sondern realpolitischer Einsicht entsprängen und im deutschen Interesse lägen, so haben aber auch sie zunächst nationale Motive dazu bestimmt, diesen Kurs zu steuern: das Verhältnis zu den Siegern sollte entspannt werden, um diese zu größerem Entgegenkommen zu bewegen. 85 Innerhalb der Revisionspolitik wurde eine zweite Option eröffnet: was bilateral nicht zu erlangen war, sollte in internationaler Kooperation erreicht werden. Es war aber auch die Einsicht gewachsen, daß das Zeitalter der souveränen Nationalstaaten zu Ende gehe. Es sollte daher eine internationale Ordnung gleichberechtigter Nationen aufgebaut werden, in der supranationale Organisationen zwischenstaatliche Konflikte auf der Basis des Rechts schlichten würden. Friedenssicherung durch internationale Schiedsgerichtsbarkeit schien den Parteien nämlich das derzeit vordringliche und mögliche. Gegenüber weitergehendem Verzicht auf Souveränitätsrechte bestanden schon erhebliche
8J
Vgl. Werner von Rheinbaben: Außenpolitik. In: Deutscher Aufbau (wie Anm. 36), S. 83 ff.
84 Vgl. Gustav Stresemann: Neue Wege der internationalen Verständigung. In: Deutsche Stimmen 40, 1928, S. 301 ff.
8S Vgl. dazu Wilhelm Marx in: Weckruf 1926/ 1, S. 1 ff.; Redekonzept von Johannes Bell von 1929: Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Bell 11 und die Ausführungen von Marx und Constantin Fehrenbach auf dem Reichsparteitag von 1925: Offizieller Bericht des vierten Reichsparteitags der Deutschen Zentrumspartei. - Berlin o. J., S. 26 f. und 78 f.; lürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 285 ff.; vgl. auch Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein" - Die republikanischen Parteien und die Deutsche Frage in der Weimarer Republik. In: Die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert: Referate und Diskussionsbeiträge eines Augsburger Symposions 23. bis 25. September 1981 / hg. von lose! Becker und Andreas Hillgruber. - München 1983, S. 293 ff.
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Vorbehalte. 86 Die Überzeugung herrschte vor, daß die Nation nicht im Internationalismus aufgehen solle, sondern daß kulturelle Autonomie und politische Eigenständigkeit Vorbedingung jeder internationalen Zusammenarbeit seien. Daher neigten auch die bürgerlichen Parteien dazu, sich erst am Aufbau internationaler Organisationen zu beteiligen, wenn Deutschland seine Freiheit wiedererlangt habe. 87 Wenn die SPD auch solche Vorbedingungen nicht machen wollte, so war sie doch mit ihren Partnern einig, daß jegliche supranationale Kooperation sich nur auf der Basis völliger Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung vollziehen könne. 88 Das galt nicht zuletzt beim engeren Zusammenschluß des Kontinents, von dessen Unvermeidlichkeit alle überzeugt waren. Denn Europa hatte sich in einer zusehends enger verflochtenen Welt zu behaupten und sich den Herausforderungen der Flügelmächte USA und Sowjetunion zu stellen. Dies schien nur möglich, wenn die wirtschaftlichen Folgen des Krieges und die politische wie wirtschaftliche Zerklüftung überwunden und eine Wiederholung der Katastrophe durch Abbau des Mißtrauens und neue völkerrechtliche Institutionen überwunden würde. Genauere Vorstellungen davon bestanden nicht. Auf Ablehnung stießen die Europapläne des französischen Außenministers Briand, da sie das Ungleichgewicht auf dem Kontinent zementierten, und die Idee eines Einheitsstaats, da sie der europäischen Geschichte nicht gemäß sei. Demgegenüber gab man der schrittweisen Verflechtung von Wirtschaft und Kultur den Vorzug. Ob diese einst ihren Abschluß in einer überwölbenden politischen Organisation finden würde, mußte sich zeigen. 89
86 Vgl. H. Lange: Ideen und Praxis der sozialdemokratischen Außenpolitik. S. 69 ff.; Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein". S. 300 ff.; Karl Anton Schulte: Zentrum und neue Zeit.
In: Nationale Arbeit: das Zentrum und sein Wirken in der Weimarer Republik / hg. von Karl Anton Schulte. - Berlin u.a. 1929, S. 48 f. und Joseph Joos: Die politische Ideenwelt des Zentrums. Karlsruhe 1928, S. 56 ff. 87 Werner von Rheinbaben: Außenpolitik. In: Deutscher Aufbau, S. 83 ff.; Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 287 f. 88 So z. B. Rudolf Breitscheid im Reichstag am 25. 6. 1930. In: Verhandlungen des Reichstags Bd. 428, Sp. 5825 f. 89 Vgl. Ludwig Kaas im Politischen Jahrbuch der Zentrumspartei / hg. von Georg Schreiber. Mönchengladbach 1925, S. 31 f.; Walter Hagemann: Deutschland und seine europäische Mission. In: Junges Zentrum 1931/8, S. 3 ff. Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein". S. 290 ff .. S. 85 ff.
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Der SPD lag insbesondere mit Blick auf die Sowjetunion viel daran, daß jede Form des europäischen Zusammenschlusses gegen niemanden gerichtet sei. 90 Des weiteren achtete sie darauf, daß auf diesem Weg nicht eine verdeckte deutsche Hegemonie in Mitteleuropa aufgebaut würde. Zu diesem Mißtrauen bestand durchaus Anlaß, da das bürgerliche Lager mit solchen, der veränderten Lage angepaßten Vorstellungen liebäugelte. 91 Freilich war sie selbst vom Streben nach Dominanz so frei auch nicht. Die beste Garantie für eine friedliche Staatengemeinschaft schien ihr in der weltweiten Machtübernahme der Arbeiterparteien zu liegen, da nur sie kriegstreibenden Kapitalismus und Imperialismus in Schach halten könnten. 92 Der derzeit einzigen supranationalen Organisation von Gewicht, dem Völkerbund, standen alle vier Parteien grundsätzlich positiv gegenüber. In der ihm zugrundeliegenden Idee sahen sie ein geeignetes Mittel zur Stabilisierung der Beziehungen zwischen den Völkern und zur nötigen Kooperation in einer zusammenwachsenden Welt. Allerdings - und das wog schwerer - war er im Zusammenhang mit dem "Pfusch- und Gewaltwerk von Versailles"93 entstanden und als Instrument der Sieger gehandhabt worden. Das hatte in den Anfangsjahren insbesondere Deutschland bei dessen Entscheidungen über Danzig und das Memelland wie bei der Abstimmung in Oberschlesien erfahren. Folglich stand für die Parteien nach dem Beitritt Deutschlands 1926 fest, daß es eine seiner Hauptaufgaben sei, den Bund der Sieger zu einem wahren Bund der Völker zu wandeln. Die Sozialdemokraten, die von allen systemstablisierenden Parteien die idealistischste Sicht von der Entwikklungsfahigkeit des Bundes und dessen Möglichkeiten der Friedenswahrung hatten, unterbreiteten dazu auch die originellste Idee: der Staatenbund sollte zugunsten der Repräsentation der parlamentarischen Vertretungen der Mitgliedsländer umgewandelt werden. 94 90 Hermann Lange: Ideen und Praxis der sozialdemokratischen Außenpolitik, S. 86 f.; Erich Mattihias: Die SPD und der Osten, S. 68 ff. Zum Verhältnis der Deutschen Sozialdemokratie zur Sowjetunion vgl. jetzt auch die neuere Spezialabhandlung von Jürgen Zarusky: Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell : ideologische Auseinandersetzung und außenpolitische Konzeption 1917 - 1933. - München 1992. - (Studien zur Zeitgeschichte; 39).
9\ Vgl. dazu Karsten Ruppen: Der deutsche Katholizismus im Ringen um eine Standortbestimmung, S. 219; Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 300 ff. 92
Hermann Müller-Franken: Demokratische Außenpolitik. In: Die Gesellschaft I, 1924, S. 42 ff.
93
So der außenpolitische Sprecher des Zentrums Ludwig Kaas: In: Nationale Arbeit, S. 122.
94 Vgl. dazu Hermann Müller-Franken: Demokratische Außenpolitik, S. 42 f.; Dieter Groh / Peter Brandt: "Vaterlandslose Gesellen", S. 184 ff.; RudolfBreitscheid am 19. 5. 1925 und Johann-
Heinrich von Bernstorff am 22. 3. 1926 im Reichstag: Verhandlungen des Reichstags Bd. 385, Sp. 1893; Bd. 389, Sp. 6483.
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Es waren aber zunächst einmal nationale Motive, welche die Parteien bewogen, Deutschlands Beitritt anzustreben. Für die Volkspartei war ausschlaggebend und Vorbedingung, daß das Reich durch seine Aufnahme in den Völkerbundsrat als Großmacht anerkannt wurde und daß es dadurch - ohne daß dies ausdrücklich festgestellt worden war - von allen Schuldvorwürfen des Versailler Vertrags freigesprochen worden sei. Alle sahen in der neuerworbenen Position die Chance, auf die Verwaltung der unter Völkerbundsmandat stehenden deutschen Irredenten einzuwirken, und es bestand die Hoffnung, in den Organen des Bundes, die ausdrücklich für Minderheiten und Grenzrevisionen vorgesehen waren, im deutschen Sinne wirken zu können. 95 Als die systemstabilisierenden Parteien zu Beginn der dreißiger Jahre angesichts der Verhärtung der internationalen Beziehungen eine Bilanz der Verständigungspolitik zogen, fiel diese doch eher negativ aus. Es war bezeichnend, daß nicht darüber geklagt wurde, daß beim Abbau des Mißtrauens wie beim Aufbau Europas keine Fortschritte erzielt worden seien, sondern daß die nationalen Blütenträume nicht gereift waren. Mit der Mehrheit des Volkes hatte man tatsächlich geglaubt, daß als Folge der gewandelten Atmosphäre, die Revisionsansprüche Deutschlands vorurteilsloser gewürdigt würden und die Wiederherstellung von dessen uneingeschränkter Souveränität keine Frage mehr wäre. 96
D. Weimarer Nationalismus Während die anderen Parteien der außenpolitischen Koalition ein völlig fragloses Verhältnis zur Nation hatten, war das der SPD infolge verschiedenartiger Vorbelastungen gebrochen. Seit Marx und Engels hatte der Marxismus Staat und Nation in der weltgeschichtlichen Entwicklung nur noch eine untergeordnete Rolle zugebilligt, da der universale Kapitalismus diese in einer einheitlichen Weltkultur auflösen würde. In seiner derzeitigen Form wurde der 9S Dieter Groh / Peter Brandt: "Vaterlandslose Gesellen". S. 184 ff.; Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie fiir das Jahr 1927, S. 16 ff.; Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 252 ff.; Ludwig Kaas: Völkerbund als deutsche Aufgabe. In: Nationale Arbeit, S. 119 ff.; Walter Hagemann: Deutschland am Scheideweg, S. 40 ff.; Karl Mehrmann: Die Renaissance des Nationalgedankens. In: Deutsche Stimmen 34, 1922, S. 739 ff.; Werner von Rheinbaben am 19. 5. 1925 und Ernst Scholz am 20. 1. 1925 im Reichstag. In: Verhandlungen des Reichstags Bd. 385, Sp. 1918 und Bd. 384, Sp. 124. % Vgl. Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, S. 539 ff.; Germania 358 / 5. 8. 1930 und 120/24. 5. 1931 und Fritz Bockius am 20. 1. 1930 im Reichstag: Verhandlungen des Reichstags Bd. 428, Sp. 5609 ff.; Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 344 ff.und Jürgen C. Heß: Die republikanischen Parteien und die Deutsche Frage, S. 306 ff.
14·
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Nationalismus als die Ideologie der bürgerlichen Klassenherrschaft oder aber als Zeichen der Rückständigkeit gedeutet. Mit dieser Sicht und dem Bekenntnis zum internationalen Proletariat, das ja als weltgeschichtliche Klasse die Negation der Nation war, haben die deutschen Sozialdemokraten ihre außenpolitische Indifferenz und zum Teil auch ihre innenpolitische Passivität vor 1914 gerechtfertigt. So vom im Schwange befindlichen zeitgenössischen Nationalismus bemerkenswert wenig berührt, hatten sie sich durch den Imperialismus herausgefordert, unter dem Einfluß der bahnbrechenden Überlegungen der österreichischen Genossen nun doch verstärkt mit dem Phänomen der Nation befassen müssen. Man entdeckte, daß nicht alle politischen Strukturen ökonomisch bedingt seien und daß gerade die historisch gewachsenen sich gegenüber Umwälzungen als besonders resistent erwiesen. Noch ehe dann die Praxis den Beweis dafür lieferte, hatten marxistische Theoretiker die Möglichkeit erwogen, die Nation als Schicksalsgemeinschaft zu verstehen, die das Klassenbewußtsein in bestimmten politischen Situationen trüben könne. 97 Das durch marxistische Theorie und obrigkeits staatliche Erfahrung wie Repression bereits prekäre Verhältnis der SPD zur Nation wurde nochmals belastet. Die Bewilligung der Kriegskredite, die Einordnung in die Burgfriedensfront sowie die daraus folgende dauernde Spaltung der Arbeiterbewegung lösten nach der Niederlage ein Trauma aus, von dem die Partei nicht mehr loskam. 98 Das Gefühl der Ausweglosigkeit, des Vers agens und der falschen Entscheidung in einer erstrangigen nationalen Frage hat die Neigung, sich nationaler Themen anzunehmen, nicht gefördert. 99 Der Nationalismus der SPD zeichnete sich im Vergleich zu den drei anderen Parteien dadurch aus, daß er die historisch-ethnische Dimension so gut wie nicht kannteI()(), dafür aber am deutlichsten politisch war. Zentral sind Selbst97 Vgl. Hans Mommsen: Sozialismus und Nation: zur Beurteilung des Nationalismus in der marxistischen Theorie. In: Soziale Bewegung und politische Verfassung: Beiträge zur Geschichte der modernen Welt I hg. von Ulrich Engelhardt u. a. - Stuttgart 1976, S. 654 ff.; vgl. auch die Beiträge von Karl Marx, Friedrich Engels und August Bebel zu Nation und Nationalismus in: Der Marxismus: seine Geschichte in Dokumenten I hg. von [ring Fetscher. - 2. Aufl. - München 1973, S. 573 ff. 98
Dazu auch Paul Lensch: Am Ausgang der deutschen Sozialdemokratie. - Berlin 1919, S. 11 ff.
99 V gl. dazu die zeitgenössische Kritik an der Diskrepanz zwischen veralteter Doktrin und der inzwischen errungenen Position in Staat und Gesellschaft von Paul Lensch: Am Ausgang der deutschen Sozialdemokratie. 100 Zu den daraus resultierenden Schwierigkeiten mit nationalen Gedenktagen vgl. Detle! Lehnert: "Staatspartei der Republik" oder revolutionäre Reformisten"? In: Politische Identität und nationale Gedenktage: zur politischen Kultur in der Weimarer Republik I hg. von Detle! Lehnert; Klaus Megerle. - Opladen 1989. S. 89 ff.
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bestimmungsrecht und Gleichberechtigung. Die Nation, die ihre Freiheit der Selbstbestimmung verdankt, billigt dieses Recht auch jedem anderen Volk zu, da ihr bewußt ist, daß die raison d' etre ihrer Existenz der nationalen Selbstbehauptung Grenzen zieht. Daher ist auch nicht die schrankenlose Autonomie ihr Ideal, sondern die Einbettung in eine umfassendere Rechtsordnung. So sei der sozialistische Internationalismus Ausdruck des nationalen Prinzips des Proletariates, da er den Nationen gleiche Entwicklung in der Familie der Völker garantiere. Hingegen sei der konservative Nationalismus, der von einer feudalen Herrenschicht und der Bourgeoisie der Kapitalistenklasse getragen werde, dem nationalen Machtstaat verpflichtet. Dessen Wurzel sei die Gewalt; das komme im Innern durch die Herrschaft einer Klasse und nach außen durch das Streben nach Vorherrschaft zum Ausdruck. Die jüngste Vergangenheit habe gezeigt, wie die aus der Selbstbezogenheit der Nationalstaaten entspringende Rivalität leicht in deren gegenseitige Vernichtung umschlagen könne. Ebenfalls sei offenbar geworden, daß diese Nationalstaaten zu dem fremde Nationalitäten unterdrückenden Imperialismus tendierten, wie dies Deutschland gerade in Versailles am eigenen Leibe erfahren habe. Nur durch die Machtübernahme der Arbeiterklasse könne ein solcher Nationalismus überwunden und damit der Friede gesichert werden. 101 Der utopische Kosmopolitismus der Völkerverständigung korrespondierte mit dem Traum von der kommenden sozialistischen Gesellschaft. Auch bei der Entwicklung der sozialen und kulturellen Dimension war die SPD bemüht, ihren Nationalismus marxistisch zu fundieren, um damit dessen Schubkraft dem Klassenkampf nicht zu entziehen. Politiker und Theoretiker machten nämlich darauf aufmerksam, daß trotz der notwendigen Selbstbehauptung des Reiches gegenüber den Siegern die Schaffung einer nationalen Gesellschaft durch Abbau der Klassenschranken nicht vergessen werden dürfe. Denn erst wenn so die Grundlagen für die umfassende Teilhabe aller an den kulturellen Gütern gelegt seien, gäbe es eine nationale Gemeinschaft. Denn Sprache und Kulturgüter machten, anders als das Bürgertum weismachen will, noch keine Nation, sondern erst die kollektive Mentalität als Folge der Teilhabe aller daran. Der Streit ging darum, ob dieses Ziel in der gegenwärtigen Republik zu erreichen sei, daher die Arbeiterschaft sich dieses Zieles willen der Nation 101 Vgl. dazu die Beiträge von Karl Kautsky, OltO Bauer, Karl Renner und Max Adler. In: Der Marxismus, S. 580 ff.; weiterhin Eduard Bernstein: Sozialdemokratische Völkerpolitik: die Sozialdemokratie und die Frage Europa. - Leipzig 1917 und Hermann Lange: Ideen und Praxis der sozialdemokratischen Außenpolitik, S. 42 ff.
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anzunehmen habe, oder aber, ob es nur nach deren Überwindung zu verwirklichen sei. \02 Freilich haben diese theoretischen Debatten dort, wo das Schicksal der Republik entschieden wurde, nämlich beim Ringen um die nationalistischen Massen keine und das Propagieren der Erfüllungs- und Verständigungspolitik als politische Zweckmäßigkeit wenig Wirkung gehabt. So kam die SPD nicht aus dem Ruch heraus, die nationalen Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volkes nicht wahren zu können. Sie hatte das umgekehrte Problem wie die nationale Rechte, der das Zentrum gerne nationales Maulheldenturn vorwarf: aus politisch-psychlogischer Scheu machte sie zu wenig Worte um ihre nationalen Taten. Dieses Defizit versuchte das "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold", der stark von systembejahenden Sozialdemokraten geprägte politische Kampfverband der Weimarer Parteien, zu beheben. Durch Aktionen, Publikationen und Propaganda kämpfte es darum, die Massen, insbesondere die Arbeiter. an die Weimarer Republik heranzuführen, indem es deren ideologische Distanz zu Staat, Reich und Nation überwinden wollte. Der eminent politischen Dimension des Geschichtsbildes bewußt, wollte es diesen. Begriffen den vorherrschenden reaktionären Gehalt nehmen, indem es die alte Reichstradition gegen die preußisch-deutsche Monarchie ausspielte, die demokratischen Bewegungen dem Obrigskeitsstaat entgegensetzte und schließlich die Leistungen des Nationalstaats für die Integration der Unterschichten herausstellte. Mit dem Anschluß Österreichs wurde ihm ein realistisches nationales Ziel gewiesen. 103 Obwohl das Reichsbanner vor allem durch seine öffentlichen Auftritte weit über das Milieu hinaus wirkte, wurden diese und seine emotionale Sprache in den ihm nahestehenden Parteien und insbesondere vom linken Flügel der SPD kritisiert und bespöttelt. Doch als das Thema seit dem Beginn der dreißiger Jahre von den Nationalsozialisten immer mehr in den Vordergrund gedrängt wurde. dachten die Linksliberalen darüber nach, ob für ihren Niedergang nicht auch das Fehlen eines massenwirksamen Nationalismus verantwortlich sei. 104
102 V gl. dazu besonders das Referat Hermann Hellers auf der 3. Reichskonferenz der Jungsozialisten im April 1925: Staat. Nation und Sozialdemokratie. In: Hermann Heller: Gesammelte Schriften / hg. von Christoph Müller. - Bd. 1. Orientierung und Entscheidung. - 2. Aufl. - Tübingen 1992. S. 536 ff. und die Gegenposition von Max Adler a. a. O. S. 550 ff. Vgl. auch noch Hermann Heller: Sozialismus und Nation a. a. O. S. 437 ff. 103
Grundlegend dazu Kar! Rohe: Das Reichsbanner. S. 228 ff.
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}ürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein". S. 177 f.
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Und die SPD war froh, an die Arbeit des Reichsbanners anknüpfen zu können, als sie mit der Rechten in einen schon grotesken Wettstreit treten mußte, wer der bessere Deutsche sei und wer mehr im Krieg geleistet habe. lOS Jetzt und auch noch in der Emigration H16 wurde die emotionslose Politik beklagt und ein historisch fundiertes Staatsbewußtsein wie eine republikanische Nationalidee vermißt, die den Verzerrungen der Nationalsozialisten hätte entgegengestellt werden können. So zwiespältig wie die Erfahrung des Sozialismus mit der Nation gewesen war, so zwiespältig war auch das Erbe, das die SPD in die Weimarer Republik einbrachte. Der marxistische Flügel, für den die Republik nicht mehr als eine Plattform des Klassenkampfes war, sorgte mit den Pazifisten auch dafür, daß sich der republikanische Nationalismus der Partei in Grenzen hielt. In der Revisionspolitik berührten sie sich noch mit der Parteilinie, sie interpretierten aber deren Ausgangspunkt entschieden marxistisch und nicht national. Deutschland sei infolge des verlorenen Krieges in die Rolle des Proletariers unter den Nationen geraten und werde nun von den bourgeoisen Siegervölkern ausgebeutet. Diese lebten von dem Mehrwert, den der deutsche Proletarier in Form der Reparationen zu erbringen habe. Da die SPD jede Form der Ausbeutung bekämpfen müsse, sei ihr Widerstand, auch wenn er bedenkliche nationale Formen wie im Ruhrkampf annehme, berechtigt. 107 Allerdings sei der Fortbestand der kapitalistischen Weltordnung nach dem Krieg bestätigt worden; die SPD müsse daher keine nationale, sondern eine proletarische Außenpolitik betreiben. Ihre Eingliederung in die außenpolitische Koalition sei im Interesse der herrschenden Klasse, die den nationalen Machtstaat und den kapitalistischen Weltmarkt anstrebe. Die SPD habe aber den internationalen Kapitalismus zu bekämpfen und Außenpolitik im Interesse des deutschen und ausländischen Proletariates zu betreiben, das der eigentliche Verlierer des Kriegs sei. 108 10' Vgl. Erich Roßmann am 25. 2. 1932 im Reichstag. In: Verhandlungen des Reichstags Bd. 446, Sp. 2366 ff. und Kurt Schumacher am 23. 2. 1932 im Reichstag: a. a. O. Bd. 446, Sp. 2250 f.; vgl. auch Dieter Groh I Peter Brandt: "Vaterlandslose Gesellen, S. 197 ff. 106 Vgl. dazu auch Helga Grebing: Sozialdemokratie und Nation: zur Geschichte der Diskussion der "nationalen Frage" in der SPD vor und nach 1945. In: Sozialismus und Kommunismus im Wandel: Herrnann Weber zum 65. Geburtstag I hg. von Klaus Schönhoven und Dietrich Staritz. Köln 1993, S. 69 ff. Grebings Ausfiiiuungen zum Nationalismus der SPD in der Weimarer Republik sind allerdings beschönigend.
107
Vgl. Hermann Lange: Ideen und Praxis der sozialdemokratischen Außenpolitik. S. 55 ff.
108 Vgl. dazu das Referat von Max Adler auf der 3. Reichskonferenz der Jungsozialisten im April 1925. In: Hermann Heller: Gesammelte Schriften I, S. 550 ff. und die Diskussion darüber a. a. O. S. 553 ff.
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Die tiefe Kluft zwischen den staatsbejahenden Kräften lO9 und den Marxisten, für die die Überwindung aller Nationalstaaten durch die proletarische Weltrevolution ein Ideal blieb, ließ mehr als eine pragmatische Realpolitik und eine gemäßigte nationale Ideologie nicht zu. Linke und Pazifisten hielten das Bewußtsein dafür wach, daß Revision Verständigung und Internationalismus eigentlich widersprach. Der erkennbare Zwiespalt, daß die SPD einerseits Angst hatte, aus der Revisionsfront auszubrechen, sie sich dort aber andererseits nicht immer wohl fühlte, hatte hier seine Wurzel. Daß für die Linke die Außenpolitik traditionsgemäß einen geringen Stellenwert hatte, war überhaupt erst eine der Voraussetzungen für das Zweckbündnis mit den bürgerlichen Parteien. 110 Die andere ist wohl darin zu suchen, daß die Sozialdemokratie vom Nationalismus der Vorkriegs- und vor allem der Kriegszeit nicht unberührt geblieben war. Das Originellste, das die Arbeiterpartei in dieses Bündnis einbrachte, war dann auch ein marxistisches Vokabular, in das sich eine von den anderen Parteien kaum zu unterscheidende Bewertung der jeweiligen Vorgänge oft kleidete. Im Gegensatz zu den deutschen Genossen hatten die österreichischen Sozialdemokraten keine Probleme, Marxismus und Nation unter einen Hut zu bringen, da sie gegenüber diesem Phänomen in einer langen und fundierten Auseinandersetzung ein zeitgemäßes und unverkrampftes Verhältnis entwickelt hatten. 111 Bedingt durch diese innerparteiliche Konstellation hat die Sozialdemokratie der Außenpolitik der systemstabilisierenden Parteien einige markante Konturen gegeben. Sie hat sich am deutlichsten von der Großmachtpolitik losgesagt und sich für Frieden und Solidarität unter den Völkern eingesetzt. Je nach politischem Standpunkt wollte man durch die Kooperation demokratischer Staaten oder aber den internationalen Zusammenschluß der Arbeiterklasse dahin gelangen. Eine allgemeine, aber doch gleichmäßige Abrüstung auf das "Maß, das die innere Sicherheit der Staaten und die Erzwingung internationaler Ver-
109 Einige Vertreter des sozialdemokratischen Nationalismus skizziert Hermann Heidegger: Die deutsche Sozialdemokratie und der nationale Staat 1870 - 1920: unter besonderer Berücksichtigung der Kriegs- und Revolutionsjahre. - Göttingen 1956. - (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft; 25), S. 231 ff. 110 Vgl. dazu Paul Lensch: Am Ausgang der deutschen Sozialdemokratie, S. 30 ff.; Hermann Heller: Sozialistische Außenpolitik. In: Gesammelte Schriften I, S. 417 ff. So weist z. B. Peter Pistorius: Rudolf Breitscheid, S. 232 ff. darauf hin, welche schwere Stellung Breitscheid als Repräsentant der Außenpolitik der Parteifiihrung in der SPD hatte. 111
Vgl. Hans Mommsen: Sozialismus und Nation, S. 666 ff.
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pflichtungen" 112 erfordert, fügte sich in diese Politik ein, hatte aber auch den Zweck, den Militarismus im Innern zu schwächen. 113 Mit fast schon aufklärerischem Optimismus hat die SPD an den vernünftigen Interessenausgleich zwischen den Staaten geglaubt und auf Schiedsgerichte als Mittel der Konfliktlösung gesetzt. Folglich war sie auch unbeirrt und unberührt von ihrer jeweiligen Stellung zur Regierung eine verläßliche Stütze der Erfüllungspolitik Wirths wie der Verständigungspolitik Stresemanns. 114 Die damit einhergehende starke Westorientierung sah sie vorübergehend als unvermeidlich an. Nach dieser Phase sollte Deutschland aber zu einer Stellung frei von Bindungen und Allianzen zurückkehren. Darin stimmten ihr ihre Partner zu. Doch während für diese außenpolitische Handlungsfreiheit die deutsche Großmachtstellung unterstrich, wollten die Sozialdemokraten Deutschland mehr auf den Weg einer neutralen Mittelmacht führen und zunächst vor allem vermeiden, daß das Reich in eine westliche Allianz gegen die Sowjetunion eingespannt würde. 115 Die marxistische Ideologie machte die Sozialdemokratie auch zum profiliertesten Anwalt des Internationalismus. Freilich hatte sich für sie inzwischen die Problematik von nationaler Interessenpolitik und ideologischem Internationalismus verschärft. Spätestens mit dem Zerfall der Sozialistischen Internationale bei Ausbruch des Weltkriegs war die Illusion zerplatzt, daß der Nationalismus ein bürgerliches Phänomen sei, dem gegenüber sich die Solidarität des Proletariates behaupten würde. Diese vermißte die MSPD dann noch einmal besonders, als sie sich auf der ersten Nachkriegskonferenz der Sozialistischen Internationale Anfang 1919 wegen ihrer Haltung im Krieg auf der Anklagebank wiederfand und einem Ausschluß nur knapp entging. 1l6 Es waren aber nicht nur diese Erfahrungen, sondern auch die Tatsache, daß die sozialistischen Bruderparteien ebenfalls die 112 So das Görlitzer Parteiprogramm von 1922: Eduard Bernstein: Das Görlitzer Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. - Berlin 1922, S. 53. 113 Vgl. Görlitzer Parteiprogramm von 1922, S. 53 ff. und Hermann Lange: Ideen und Praxis der sozialdemokratischen Außenpolitik, S. 69 ff.
114
Vgl. dazu auch Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1926, S. 95 ff.
I\S Vgl. RudolfBreitscheid am 25.6. 1930 im Reichstag. In: Verhandlungen des Reichstags Bd. 428, Sp. 5819 ff.; Peter Pistorius: Rudolf Breitscheid, S. 211 ff. 116 Vgl. Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 209 ff.; vgl. auch Karl Renner: Zur Rechtfertigung des deutschen Proletariats. In: Karl Renner: Marxismus, Krieg und Internationale : kritische Studien über offene Probleme des wissenschaftlichen und des praktischen Sozialismus in und nach dem Weltkrieg. - Stuttgart 1917, S. 369 ff.
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nationale Befangenheit nicht überwanden, dafür verantwortlich, daß die Bekenntnisse zu Menschheitsverbrüderung und proletarischem Internationalismus tatenlose Deklamationen blieben. 117 Während die Schichten, die SPD und Zentrum repräsentierten, in Gegnerschaft bzw. Distanz zum untergegangenen Kaiserreich gestanden hatten, war das Bürgertum, das seine politische Heimat in der Weimarer Republik in den beiden liberalen Parteien fand, in die nationale Gesellschaft integriert gewesen. Freilich hatten die Linksliberalen nicht vergessen, daß der Nationalstaat zu den Bedingungen der agrarisch-junkerlichen Gesellschaft und des obrigkeitlichen preußischen Militarismus gebildet worden war. Sie hatten daher einen beträchtlichen Teil ihres Selbstverständnisses vor 1918 darin gefunden, Hort bürgerlicher Freiheiten zu sein. In die Republik brachten sie sowohl dieses Erbe wie als Folge ihrer gesellschaftlichen Integration eine starke Identifikation mit der Nation ein. 118 Nachdem in der Weimarer Reichsverfassung linksliberales Ideengut in weitem Umfang zur Grundlage des neuen Staatswesens gemacht worden war, lag es für die Deutsche Demokratische Partei nahe, beide Traditionen zu verbinden und sich als Trägerin eines demokratischen Nationalismus zu profilieren. Innerhalb der Partei war der Nationalismus das verbindende Element zwischen dem demokratischen Liberalismus und den nationalen Naumannianern, und zugleich war er Reflex der Bedürfnisse eines im Kriege noch weit mehr als die Arbeiterschaft und der Katholizismus emotionalisierten Bürgerturns, um dessen Gunst man ja mit den Nationalliberalen konkurrierte. 119 Der entscheidende Zweck des demokratischen Nationalismus lag aber bezeichnenderweise darin, nationale Werte und Empfindungen zugunsten des neuen Staates und dessen Verfassung zu mobilisieren. 120 Die DDP konnte dabei an die nationaldemokratische Bewegung seit dem Vormärz anknüpfen und sich einer in dieser Tradition gewachsenen Terminologie bedienen. Die Republik war das Vaterland, der kein Patriot seine Zuneigung versagen durfte; wer sie bekämpfte, war unnational. Die Demokratie wurde mit viel Tiefsinn und 117 Vgl. z. B. den Vorstandsbericht von Otto Wels auf dem Parteitag von 1919: Protokoll, S. 158 ff. und Rudolf Breitscheid: Außenpolitisches Programm der SPD. In: Europäisches Gespräch 4, S. 169 ff.
ll& Vgl. dazu auch Jürgen C. Heß: Die republikanischen Parteien und die "Deutsche Frage" , S. 280 ff.
119 Gertrud Bäumer: Grundlagen demokratischer Politik. - Karlsruhe 1928. - (Wissen und Wirken; 52), S. 49 f. 120 Zu den Bestrebungen, in diesem Zusammenhang den Verfassungstag zum Nationalfeiertag zu machen vgl. Elfi Bendikat: "Wir müssen Demokraten sein": Der Gesinnungsliberalismus. In: Politische Identität und nationale Gedenktage, S. 148 ff.
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Rückgriffen in die Geschichte als die für den Nationalstaat förderlichste politische Form gepriesen. Die modernen Nationen hätten sich im Ringen des Volkes mit den Fürsten um seine politischen Rechte gebildet. Der enge historische Zusammenhang von Emanzipation der Massen und Nation war Beweis dafür, daß diese vor allem in der Demokratie zur vollen Entfaltung komme. Denn nur die Herrschaft des Volkes erreiche die innere Einheit und die Identifikation mit dem Ganzen, indem sie rechtliche Gleichheit, unbeschränkten Zugang zu geistigen wie materiellen Gütern gewähre, die Vorherrschaft einer Kaste verhindere und alle zur politischen Mitarbeit und Mitverantwortung heranziehe. 121 Die DDP verstand also unter Nation auch die optimale Entfaltung aller Volkskräfte zum Wohle des einzelnen wie der Gesamtheit. Wenn sie zur Erreichung dieses Ziel die Volksgemeinschaft als die ideale innere Form einer demokratischen Staats- und Sozialverfassung empfahl, dann war damit die Brücke zu den Partnern geschlagen. Denn es gab kaum eine Parteirichtung, die ihre Sehnsucht nach nationaler Geschlossenheit nicht auf diese Formel brachte. Das Bewußtsein von der Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes sollte die tiefe soziale und weltanschauliche Zerklüftung, an der alle litten, überwölben. Für die Linksliberalen hieß Volksgemeinschaft selbstredend nicht Ausschaltung des Gegners um einer antipluralistischen Diktatur den Weg zu ebnen, sondern Einsatz für eine demokratische Bildungsund Sozialpolitik zur Festigung des nationalen Zusammenhalts. 122 Die Überordnung der Nation über die Teilinteressen der Gruppen und staatsbürgerliche Solidarität sollten aber nicht nur die Nation im Innern vollenden, sondern sie waren zugleich Voraussetzung nationaler Selbstbehauptung in der Gemeinschaft der Staaten. Hier hat sich die DDP in die Front der Parteien eingereiht, welche die Befreiung Deutschlands von den Versailler Fesseln mit Hilfe der Erfüllungs- und Verständigungspolitik suchten. Ihr Weg dahin war allerdings windungsreich und quälend gewesen. Denn die "Demokraten" sind aus dem Dilemma einer starken Nachwirkung des kaiserzeitlichen Nationalismus einerseits und Systembejahung andererseits in die Illusion geflohen, daß die Wiedererstehung des Reiches auf der Grundlage der ungebrochenen Moral des Volkes auch nach der Ablehnung des Versailler Vertrags und den aus ihm folgenden erzwungenen Durchführungen möglich sei. Erst im Ruhrkampf schwanden auch in ihren Reihen die letzten Zweifel an der Ernsthaftigkeit
121
Gertrud Bäumer: Grundlagen demokratischer Politik, S. 25 ff.
122
Vgl. dazu auch Kart Rohe: Das Reichsbanner, S. 248 f.
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alliierter Sanktions drohungen und an den begrenzten Möglichkeiten eines deutschen Widerstands. 123 Nach dieser Wende bemühte sich die DDP, im Rahmen der Revisions- und Verständigungspolitik ihr Profil nicht zu verlieren. Aus ihrem ethnisch-kulturellen Begriff der Nation heraus erstrebte sie den Zusammenfall der Staats- und Volksgrenzen. 124 Andererseits war in der Partei des Handels- und Börsenkapitals die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Fremden und die Überzeugung von der Notwendigkeit der Zusammenarbeit und des Austausches zwischen den Völkern am stärksten. Sie gewann daher ihrem Einsatz für Selbstbestimmung, Rechte der Minderheiten, Abrüstung und gleichberechtigten Zugang aller Staaten zu Rohstoffen und kolonialen Mandaten einen doppelten Aspekt ab. Indem Deutschland um Rechte kämpfe, die ihm grundlos vorenthalten wurden, ringe es sowohl um seine Selbstachtung als auch um die Reinheit und Universalität von Prinzipien, auf denen allein eine friedliche Weltordnung beruhen könne. 125 Trotzdem war die Partei ängstlich darum bemüht, daß ihr Verständnis auch für die Interessen der anderen und ihre Mitarbeit am Aufbau einer Völkerrechtsordnung zur Domestizierung des Machthungers der Nationen nicht als unnational und pazifistisch mißverstanden wurde. Sie zog einen klaren Trennungsstrich zu einem Internationalismus, der in der Menschheit und nicht in der Nation die maßgebenden Größe sah, und gegenüber der grundsätzlichen Verwerfung des Krieges bestand sie auf der Pflicht zur Verteidigung der Lebensrechte der demokratischen Nation. 126 Revision und Verständigung waren in der nationalen Politik der "Demokraten" keine Widersprüche. Die Annäherung an die Sieger, die den Linksliberalen deswegen leichter fiel, da diese ja Vorbilder demokratischer Nationen waren, sollte die atmosphärische Entspannung schaffen für die Verwirklichung des letzten Ziels des demokratischen Nationalismus: die deutsche Weltgeltung. Die "Demokraten" gingen nämlich davon aus, daß die Nachkriegsordnung so instabil sei, daß sich Deutschland nach der Wiedererringung seiner Souveränität l2l Vgl. Larry Eugene Jones: German Liberalism and the Dissolution of the Weimar Party System, S. 119 ff. 124
Vgl. dazu das Programm von 1919. In: Deutsche Parteiprogramme, S. 510.
125 Vgl. Genrud Bäumer: Grundlagen demokratischer Politik, S. 61 ff. und Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 234 ff. 126 Vgl. Genrud Bäumer: Grundlagen demokratischer Politik, S. 61 ff. Zur Wehrpolitik der DDP vgl. auch noch Hanmut Schustereit: Unpolitisch - überparteilich - staatstreu : Wehrfragen aus der Sicht der Deutschen Demokratischen Partei 1919 - 1930. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 16, 1974, S. 131 - 172.
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der Freiraum öffnen würde, um die deutsche Kulturnation, soweit sie dies wollte, in Mitteleuropa in einem Staat zusammenzuführen. 127 Dieser Anschluß-Gedanke war zentral im Nationalismus der Linksliberalen. Denn er entsprang erstens ihrem doppelten Begriff des "Volkes", der sowohl politisch im Sinne des Grund- und Freiheitsrechten verpflichteten Staatsvolks als auch ethnisch-kulturell im Sinne einer durch gemeinsame Abstammung, Sprache und Geschichte zusammengehaltenen Gemeinschaft war, und zweitens knüpften sich an die Vereinigung Deutschlands und Österreichs große Hoffnungen. Denn von der Erfüllung des nationalen Traums der Achtundvierziger Liberalen versprach sich die DDP eine so starke nationale und demokratische Legitimierung der Republik, daß diese dadurch endgültig gefestigt würde. Darüber hinaus sollte das "80 Millionen Volk" Basis einer dauerhaften Großmachtstellung sein. Dann wäre auch die falsche Weichenstellung korrigiert worden, daß der deutsche Nationalstaat von Kräften geschaffen worden war, die seinem geistigen Erbe eigentlich fern gestanden hatten. Und das wäre schließlich auch der beste Schutz davor, daß "Groß-Deutschland" imperialistischen Versuchungen erliegen könne. 128 Von allen Parteien der außenpolitischen Koalition ist der Deutschen Volkspartei die Annäherung an die Weimarer Republik am schwersten gefallen. Wie in ihrem ideologischen Substrat von Nation und Liberalismus sich hemmende und fördernde Elemente mischten, so hat sich auch ihr Nationalismus selbst dabei als janusköpfig erwiesen. Weil dieser stark in der Geschichte verwurzelt war, ist sie über den Kontinuitätsbruch von 1918 nie ganz hinweggekommen. Da die Niederlage erklärt werden mußte, räumte man zwar einige Unzulänglichkeiten des alten Systems wie die zu geringe Verankerung der Monarchie im Volk und militärische wie diplomatische Fehlentscheidungen im Krieg ein, neigte aber überwiegend dazu, die deutsche Vergangenheit, insbesondere die jüngste, zu glorifizieren. Das Kaiserreich stand für ein wohlgeordnetes Staatswesen, das dem Bürger Sicherheit und Wohlstand garantiert und das Ansehen Deutschlands in der Welt auf einen Höhepunkt geführt hatte. Der Revolution weit mehr als der Republik wurde verübelt, daß sie diese Sekurität des Bürger-
127
287.
Vgl. dazu auch Jürgen C. Hess: Die republikanischen Parteien und die "Deutsche Frage", S.
128 Vgl. dazu Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 336 ff. und Genrud Bäumer: Grundlagen demokratischer Politik, S. 36 ff.
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turns zerstört habe, würdelos mit dessen nationalem Empfmden umgegangen sei und wertvolle Überlieferungen gekappt habe. 129 In nichts kam das für die Partei provozierender zum Ausdruck als im Wechsel der Reichsfarben. Die Beibehaltung der alten Flagge wäre zum einen ein Akt der Vernunft gewesen, weil sich das neue Deutschland dadurch die in der Geschichte liegenden Emotionen und die in der Kontinuität liegenden Kräfte erhalten hätte. Zum anderen hätte es mit diesem Bekenntnis seinen Willen zur nationalen Selbstbehauptung unter Beweis gestellt, da die Feinde mit ihren Schmähungen der kaiserlichen Fahne das Deutschtum überhaupt besudelt hatten. Die Absage an das Symbol, unter dem die Deutschen gekämpft und geblutet hatten, sei ein Eingeständnis von Schwäche und Schuld. 13o Da die Nationalliberalen davon überzeugt waren, daß selbst der Wechsel des politischen Systems keinen der Nationalfarben hätte nach sich ziehen müssen, wurde ihr unablässiger Einsatz für Schwarz-Weiß-Rot zu einer Manie, die der inzwischen vollzogenen real politischen Annäherung an die neuen Verhältnisse mehr als einmal in die Quere kam. Nun war aber die Deutsche Volkspartei nicht so sehr vom nostalgischen Nationalismus erfaßt, daß sie darüber vergessen hätte, daß die neue Reichsflagge auch für Werte stand, denen sich der Liberalismus einst verpflichtet gefühlt hatte. Das machte den Blick frei für die Leistungen der Republik, die irrunerhin die revolutionäre Anarchie überwunden, den befürchteten gesellschaftlichen Umsturz abgewendet und die Reichseinheit erhalten hatte. Auf dieser Basis wollte die Partei zwar weiterhin der alten Größe gedenken und für ein der deutschen Geschichte wie dem deutschen Wesen gemäßes "Volkskaisertum" "auf gesetzmäßigem Wege" eintreten,13I die Verwirklichung ihrer Ziele aber zunächst der Zusarrunenarbeit mit anderen autbauwilligen Kräften wegen zurückstellen. 132 Diese Selbstbescheidung war sowohl Voraussetzung für Interessenpolitik wie des jetzt geforderten Nationalismus des Verzichts und der Tat. So wurde die IdentifIkation mit dem deutschen Volk als das alle histori129 VgJ. Rochus von Rheinbaben: Liberale Politik im neuen Reiche, S. 14 ff. und Gustav Stresemann: Die politische Lage (Rede auf dem Parteitag am 13. 4. 1919): In: Deutsche Stimmen 31,
1919, S. 297 ff.
130 V gl. Rochus von Rheinbaben: Liberale Politik im neuen Reiche, S. 17 f.; Gustav Stresemann: Die politische Lage, S. 313 ff. und F. E.Rode: Schwarz-Weiß-Rot. In: Deutsche Stimmen 36, 1924, S. 214 ff. III
Vgl. dazu auch das Parteiprogramm von 1919. In: Deutsche Parteiprogramme, S. 521.
132 Vgl. das Interview Stresemanns mit der New York Times am 4. 4. 1924: In: Gustav Stresemann: Vermächtnis I, S. 378 und dessen Aufsatz in "L' Europe nouvelle" vom März 1925: a. a. O. H, S. 327 ff.
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schen Umbrüche überdauernde Substrat der Nation 133 für Stresemann und seine Partei eine entscheidende Triebkraft ihrer Politik in der Republik. Neben der Geschichte konstituierte nämlich das Volk, auf das sich die Partei ja nicht ohne Grund in ihrem Namen bezog, den Nationalismus der Deutschen Volkspartei. Völkische Anklänge waren vorhanden,134 doch sie dominierten nicht. Es ist vielmehr die Überzeugung charakteristisch, daß das deutsche Volk bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten habe, die aber denen anderer Völker nicht überlegen seien. Frei von Rassismus war man bereit, zuzugestehen, daß das eigene Volk historisch und ethnisch nicht einheitlich sei, und frei von Chauvinismus war man geneigt, in gewissem Umfang einem Mangel an Begabung für Politik die Schuld an der gegenwärtigen Misere zu geben. Die Furcht schien nicht unbegründet, daß sich die deutschen in die Innerlichkeit zurückziehen und sich in einer unpolitischen Kultur einrichten würden statt sich den unerfreulichen Realitäten zuzuwenden. 135 In dieser Kultur, aus der gerade in der Zeit der nationalen Demütigung ein beträchtlicher Teil des Selbstbewußtseins gezogen wurde, wollten einige sogar nur eine spezifische Ausprägung des europäischen Geistes sehen. Wohl stärker als die meisten Deutschen sind die Mitglieder und Anhänger der Deutschen Volkspartei von der moralischen Verurteilung Deutschlands durch die Entente getroffen worden. Die tiefe Verletzung des Bildes von sich selbst wie der eigenen Nation wurde von vielen als persönliche Kränkung empfunden. Die Reden Stresemanns sind bis zu seinem Ende von diesem Affekt nicht frei. Dies war eine Folge der in der Partei nicht seltenen starken Identifikation des einzelnen mit der Nation. Mehr als andere zogen die Nationalliberalen ihr politisches Selbstwertgefühl aus "Ehre" und "Größe" des Vaterlandes. 136 Daher wurden sie die treibende Kraft und die Sperspitze des
133 Es ist möglich, daß die protestantisch-preußische Partei diese Sicht aus dem Protestantismus übernommen hatte. Vgl. dazu Wolfgang Tilgner: Volk, Nation und Vaterland im protestantischen Denken, S. 160 ff. 134 Vgl. z. B. Willy Boehm: Ziele und Wege nationaler Politik. In: Deutsche Stimmen 35, 1923, S. 317 ff.
IJS Vgl. Max Lohan: Vom deutschen Wesen. In: Deutsche Stimmen 30, 1920, S. 313 ff.; Friedrich von Oppeln-Bronikowski: Was ist deutsch? a. a. O. 38, 1926, S. 214 ff.; Alexander Elster: Der Begriff des Nationalen und Liberalen: a. a. O. 31, 1919, S. 227 ff.; Johannes Jacobi: Mehr
bewußtes Deutschtum! Fort mit dem Internationalismus! a. a. O. 30, 1920, S. 349 ff.
136 Vgl. dazu z. B. die Rede Stresemanns auf der Kulturtagung seiner Partei im Oktober 1924: In: Gustav Stresemann: Vermächtnis I, S. 543 ff. und dessen Rede auf dem Parteitag in Hannover am 30. März 1924: a. a. O. S. 373 ff.
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moralischen Revisionismus inner- und außerhalb des Parlaments gegen die Versailler Diskreditierungen. Freilich hat es die DVP dabei nicht gelassen, sondern sie hat sogar durch ihren Parteivorsitzenden eine führende Rolle beim praktischen Revisionismus der kleinen Schritte übernommen. Auch diese Wendung wurde ihr durch eine ihrer Leitideen erleichtert. Da man bisher an den Machtstaat geglaubt hatte und in der Geschichte vor allem einen Kampf zwischen Menschen und Völkern sah, war es nur folgerichtig nach dem Erwachen aus der Betäubung illusionslos den Versailler Vertrag als Konsequenz verlorener Macht zu verstehen. Da in Versailles also der Machtstaat, wenn auch mit für Deutschland negativen Folgen, bestätigt worden war, lag nichts näher, als seine Wiederherstellung anzustreben, da er sich als die bei weitem wichtigste Institution zur Wahrung der Lebensrechte eines Volkes erwiesen hatte. 137 Das war die Essenz der von Stresemann und seiner Partei nachhaltig mitgeprägten "Realpolitik". 138 Sie wollte ihre Ziele erreichen unter Ausnutzung der gegenseitigen Abhängigkeit der europäischen Staaten. Daß der Kontinent nicht zur Ruhe kam, solange Deutschland nicht befriedigt war und daß die europäischen Staaten nur gemeinsam aufsteigen oder ins politische und wirtschaftliche Abseits geraten konnten, war als fester Posten in die Rechnung eingestellt. In diesem Sinne und auf der Basis des "do ut des" wurde auch die Verständigung erstrebt als die für das machtlose Deutschland derzeit einzig mögliche Politik. Verständigung betrieb diese Partei also nicht aus Überzeugung; sie war ihr zunächst kein ethisches Gebot, sondern eine Notwendigkeit. 139 Um auf diesem Weg zum Erfolg zu kommen, war es auch zwingend, daß das deutsche Volk im immerwährenden geschichtlichen Ringen das jetzt nötige Mehr an Arbeit und Tüchtigkeit erbrachte und seine inneren Gegensätze soweit überwand, daß es wenigstens die Außenpolitik als seine Sache und nicht die
137 Vgl. dazu die Rede Stresemanns auf der Kulturtagung seiner Partei im Oktober 1924. In: Gustav Stresemann: Vermächtnis I, S. 547 f.; Emil Kloth: Sozialdemokratische und volksparteiliche Außenpolitik. In: Deutsche Stimmen 33, 1921, S. 780 ff. und Rochus von Rheinbaben: Stresemann, S. 86 ff.
138 Dazu und zum Folgenden vgl. Gustav Stresemann: Nationale Realpolitik, S. 6ff.; Rede Stresemanns vor der ausländischen Presse, 6. 9. 1923 und am 22. 11. 1923 im Reichstag. In: Gustav Stresemann: Vermächtnis I, S. 107 f. und 242 f.; Werner von Rheinbaben: Die Außenpolitik der DVP. In: Europäisches Gespräch 4, 1926, S. 223 ff. 139 Vgl. auch noch Gustav Stresemann: Grundfragen der deutschen Außenpolitik. In: Deutsche Stimmen 40, 1928, S. 675 ff.
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von Parteien begriff. 140 Die DVP setzte darauf, daß die "vaterländische nationale Grundauffassung" noch ausreichend vorhanden sei, um in diesem Sinne zu motivieren. Sie glaubte ja selbst ein Beispiel dafür zu geben, daß Patriotismus in Deutschland nicht nur gedeihe, wenn das Land in vollem Glanze stehe, sondern auch dann, wenn die arme und machtlose Nation Opfer fordere. 141 Die Partei und ihr Vorsitzender legten Wert darauf, daß diese von ihnen initiierte Politik keine Fortsetzung der Erfüllungspolitik der Anfangsjahre sei. Denn diese sei trotz guter Absichten gescheitert, da ihr der nationale Selbstbehauptungs- und Abwehrwillen gefehlt habe. In der trügerischen Hoffnung auf die Solidarität der Demokratien habe man mit kraftlosem Nachgeben Konzessionen erreichen wollen. Die Dimension der Macht sei vergessen worden, weswegen die deutschen Interessen auf der Strecke geblieben seien. 142 Während die Volkspartei den Parteien zu ihrer linken riet, das blinde Vertrauen in das Recht, westliche Werte und die internationale Solidarität der Klassen über Bord zu werfen, tadelte sie an der Rechten, daß diese, noch völlig beherrscht von den alten Machtkategorien, die neuen Möglichkeiten nicht erkenne und noch immer glaube, Deutschland könne anderen seinen Willen aufzwingen. 143 Die Nationalliberalen hatten es also durchaus verstanden, ihre Leitidee des Machtstaats den Möglichkeiten der Weimarer Republik anzupassen. Am faßbarsten war das daran geworden, daß sie ihre Forderung nach der Wiederherstellung der alten Reichsgrenzen 144 soweit revidiert hatten, daß sie sich mit der ihrer Partner deckte. Sie erwiesen sich auch in anderer Hinsicht als lernfähig. Ihnen war weitaus klarer als vielen Nationalisten, daß die Stellung der Nationen in Zukunft mehr durch ihre Leistungen in Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft bestimmt würden als durch das Militär. Dennoch blieb ihnen auch die militärische Gleichstellung des deutschen Durchsetzungsvermögens und des nationalen 140
Dazu auch noch Werner von Rheinbaben: Außenpolitik. In: Deutscher Aufbau, S. 74.
141 Vgl. die Rede Stresemanns auf dem Parteitag in Hannover am 30. 3. 1924. In: Gustav Stresemann: Vermächtnis I, S. 373 ff. und dessen Rede vor dem Bund der Auslandsdeutschen am 29. 8. 1925: a. a. O. H, S. 334. 142 Rochus von Rheinbaben: Liberale Politik im neuen Reich, S. 52 f. und Gustav Stresemann: Nationale Realpolitik, S. 8 ff. 143 Vgl. die Rede Stresemanns im Reichstag am 7.2. 1925. In: Gustav Stresemann: Vermächtnis H, S. 397 f.; Rochus von Rheinbaben: Liberale Politik im neuen Reich, S. 55 f.; Rede Eduard Dingeldeys am 25. 2. 1932 im Reichstag. In: Verhandlungen des Reichstags Bd. 446, Sp. 564. 144 So Stresemann in seiner Rede am 13. 4. 1919 im Reichstag. In: Deutsche Stimmen 31, 1919, S.319.
15 Timmcrmann
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Prestiges wegen wichtig. Wenn es aber vor allem darum ging, die Nation zur "materiellen, sittlichen und kulturellen Höhe"'45 zu führen, dann konnte es nur von Gewinn sein, dies in Verbindung mit anderen Völkern zu tun. 146 Obwohl die Bereitschaft vorhanden war, deswegen an ein Europa der Nationalstaaten zu denken und im Völkerbund mitzuarbeiten, so standen doch hier zunächst revisionistische Motive im Vordergrund. 147 Wie für ihre liberalen Kollegen so waren auch für die Zentrumspolitiker die Tage des Ringens um die Annahme der alliierten Friedensbedingungen,148 die "furchtbarsten", die sie je erlebt hatten '49 . Im Gegensatz zu jenen waren sie aber nicht so betäubt, um nicht zu erkennen, daß für das wehrlose Deutschland 1919 ein Friede, der das Reich in seiner Substanz erhielt und ein Schutz vor weiteren Gelüsten des französischen Nationalismus sein konnte, auch Vorteile barg. 150 Dennoch ist die Zustimmung zu dem im Kern verworfenen Vertrag l51 mit der Absicht erfolgt, seine moralischen, wirtschaftlichen und machtpolitischen Bestimmungen zu revidieren. 152 In der Folgezeit ist man zudem öfters der Versuchung erlegen, ihn immer mal wieder allzu simplifizierend für die desolate Lage der Nation verantwortlich zu machen. 153 Für die deutschen Katholiken war wie für die meisten Deutschen die Zumessung der Schuld am Kriegsausbruch in dem Umfang und der Form, wie 14S
So Rochus von Rheinbaben: Liberale Politik im neuen Reich, S. 62.
146 V gl. Julius Cunius: Außenpolitik ohne Illusionen. In: Deutsche Stimmen 41. 1929. S. 714 ff. und Rochus von Rheinbaben: Liberale Politik im neuen Reich. S. 62 ff. 147 Gustav Stresemann: Nationale Realpolitik. S. 15 ff. und Werner von Rheinbaben: Die Außenpolitik der DVP. In: Europäisches Gespräch 4, 1926, S. 229 ff.
148 Ausführlich dazu Rudolf Morsey: Die Deutsche Zentrumspartei 1917 - 1923. - (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 32). - Düsseldorf 1966, S. 180 ff. 149 So z. B. Wilhelm Marx: Die Kriegsschuldfrage. In: Historisches Archiv der Stadt Köln, Nachlaß Wilhe1m Marx 101. ISO A.a.O.; Carl Trimborn auf dem Reichsparteitag von 1920: Offizieller Bericht. S. 5 und Georg Schreiber: Grundfragen der Zentrumspolitik: ein politisches Handbuch in Frage und Antwort. Berlin 1924, S. 8.
1S1 Eindrucksvoll die Äußerung von Wilhelm Marx gegenüber dem amerikanischen Diplomaten Charles G. Dawes auf der Londoner Konferenz 1924 ("das größte Unrecht. das wohl seit Jahrhunderten einem Volk zugefügt worden sei"), ausführlich: Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx / hg. von Hugo Stehkiimper. - 4 Bände. - Köln 1968, hier Bd. I, S. 320 f. IS2
Vgl. Georg Schreiber: Grundfragen der Zentrumspolitik. S. 9.
1Sl Germania 15/ 18.1.1931; vgl. auch den Aufruf der Reichsregierung vom 28.6.1929 zum 10. Jahrestag der Unterzeichnung: Germania 295/ 28.6.1929.
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227
dies in Artikel 231 des Vertrages geschehen war, mit ihrem nationalen Selbstverständnis nicht vereinbar. 154 Sie glaubten daher bei dem von ihnen dagegen mitgetragenen Kampf nicht, nachprüfbare Beweise vorbringen zu müssen, sondern ihnen genügte die Überzeugung, daß eine große, auf ihre Vergangenheit stolze und ehrlich um das Wohl der Menschheit bemühte Nation 155 nicht die alleinige, einige meinten sogar am wenigsten, 156 Schuld an der Katastrophe tragen könne. Die Glorifizierung des Weltkrieges als eine Zeit deutschen Heidentums 1S7 und als ein Höhepunkt nationaler Solidarität und Kraftanstrengung hat zusätzlich die im politischen Umfang nötige Auseinandersetzung mit dieser Frage, mit den Gründen der Niederlage wie mit dem Krieg überhaupt erschwert. 158 Das hat die Partei, der nationales Prestigedenken im Grunde fern lag, nicht daran gehindert, sich allmählich von der Antikriegsschuldkampagne zurückzuziehen, als deutlich wurde, daß diese für die außenpolitische Handlungsfreiheit Deutschlands immer mehr zu einer Belastung würde. In dem ihm eigenen Pragmatismus war das Hauptziel der Außenpolitik des Zentrums nämlich, Macht und Ansehen des Deutschen Reiches wiederherzustellen durch die Milderung der wirtschaftlichen Lasten des Vertrages, durch die volle Rückgewinnung der nationalen Souveränität und mit Hilfe der militärischen Gleichberechtigung. Ein Konzept zur "Wiedergewinnung der nationalen Freiheit"ls9 hatte die Partei nicht gehabt. Dies schien sich zu erübrigen, da sie mit den Grundlinien der Außenpolitik Stresemanns und später Brünings übereinstimmte und das fallweise Vorgehen nach ihrer Ansicht den deutschen
154
So Wilhelm Marx: Die Kriegsschuldfrage.
ISS
So Germania 146/28.3.1930.
156 Vgl. Friedrich Seil: Grundsätzliches zur Frage der Kriegsschuld. In: Das Zentrum 1923, S. 89 f. 157
Vgl. Johann Giesbens: Das Zentrum und die kommenden Wahlen. - Berlin 1924, S. 10.
158 Ohne daraus weitere Konsequenzen zu ziehen, stellte Joos fest: "Auch ein verlorener Krieg, ein nationales Unglück hat seinen tieferen Sinn für ein Volk, das ihn zu erfassen vermag.": Vgl. Joseph Joos: Nationale Entwicklung und soziale Gemeinschaft. In: Nationale Arbeit, S. 485. 159 Zusammenfassend von seiten des Zentrums die Berichte von Kaas in den Politischen Jahrbüchern 1925 - 1928/ hg. von Georg Schreiber. - Mönchengladbach 1925 ff.; Richard Kuenzer: Die Außenpolitik des Zentrums: für Einheit und Freiheit des Reichs und für Verständigung zwischen den Nationen. In: Nationale Arbeit, S. 75 ff. ist eine wenig aufschlußreiche Faktensammlung. Vgl. auch noch {Josef] Wirth: Zur Reichstagswahl am 7. Dezember 1924. - Freiburg 1924, S. 3 und Joseph Joos: Jugend, Nationalismus und Pazifismus. In: Joseph Joos: Um das neue Deutschland. - Frankfurt a. M. 1925, S. 70.
15'
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Möglichkeiten mehr entsprach. l60 Allerdings hat sie deutliche Prioritäten gesetzt. Die Senkung der Reparationsleistungen, die grundsätzlich nicht bestritten wurden, auf das Maß "deutscher Leistungsfähigkeit" und vor allem die Behauptung ihrer Stammlande an Rhein und Ruhr und danach deren Befreiung von der feindlichen Besatzung dominierten in einem Maße ihre Außenpolitik,161 daß sie in der Weimarer Republik über weite Strecken nur eine Funktion dieser Ziele war. Die Revision der territorialen Bestimmungen des Friedensvertrages waren zweitrangig. In der Partei herrschten nicht einmal klare Vorstellungen darüber, was in dieser Hinsicht anzustreben sei. Die Schwierigkeiten, welche die Hohenzollernmonarchie mit den dem Zentrum einst verbundenen Polen und Elsässer gehabt hatte, haben es ihm jetzt erleichtert, nicht starr nach den alten Grenzen zu streben. Andererseits war es im stets großdeutsch orientierten politischen Katholizismus auch keine Frage, daß die Österreicher wie alle Deutschen unmittelbar jenseits der Grenzen dem Reich anzuschließen seien, da dies deren Willen wie gemeinsamer Ge-schichte und Kultur entspreche. Anders als ihre liberalen Partner hat die Zentrumspartei in den Auslandsdeutschen keine wirtschaftlichen und politischen Stützpunkte zum Aufbau einer deutscher Weltgeltung gesehen, sondern eher Repräsentanten deutscher Art und Kultur. Sie hat daher vornehmlich die Auslandskulturpolitik engagiert unterstützt und unter konfessionellem Aspekt durch eigene Aktivitäten ergänzt. 162 Das Verhältnis des Zentrums zu dieser von ihm mitgetragenen Erfüllungsbzw. Verständigungspolitik blieb zwiespältig. Es fehlte die letzte Entschiedenheit und der von nationalen Illusionen freie Realismus, um sie vorbehaltlos zu bejahen. 163 Wohl gerade deswegen hat es sie im Innern als die zeitgemäße Form nationaler Interessenwahrung propagiert und gehofft, damit Wählerschichten jenseits seines traditionellen Potentials zu erschließen. Doch honorierte ihm wie auch seinen Partnern die Nation die "nationale Arbeit" nicht. Dies vor allem wohl deswegen, weil die Schichten, die es dadurch gewinnen wollte, den 160 Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 305: "Unverkennbar folgte auch das Zentrum der Artischockentheorie " . V gl. darüber hinaus noch Karsten Ruppen: Der Einfluß christlich-demokratischer wie christlich-sozialer Ideen und Parteien auf Geist und Politik in der Weimarer Zeit. In: Christliche Demokratie in Europa: Grundlagen und Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert / hg. von Winfried Becker und Rudolf Morsey. - Köln, Wien 1988, S. 142 ff.
161
Ausführlich dazu die außenpolitischen Kapitel in Rudolf Morsey: Deutsche Zentrumspartei und
Karsten Ruppert: Im Dienst am Staat von Weimar.
162 Ausführlich dazu Karsten Ruppert: Der deutsche Katholizismus im Ringen um eine Standortbestimmung, S. 222 ff. 163
Vgl. auch Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 306 ff.
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Wandel zu einem neuen Nationalismus hin nicht nachvollzogen, und die Wähler, die diese Außenpolitik hätte ansprechen können, an Parteien gebunden waren, die sie mittrugen. 164 Die Außenpolitik der Deutschen Zentrumspartei war Ausfluß ihres Nationalismus, der im politisch-organischen Denken und christlichen Werten wurzelte,165 doch auch erkennbar durch das Kaiserreich geprägt worden war. An diesem orientierte sich vornehmlich die Nationalstaatsidee und die ihr zugrundeliegende vergleichbare Geschichtsauffassung. Daher wurde auch die nationale Einheit als kostbares Vermächtnis des untergegangenen Reiches angesehen, und deren Erhalt trotz aller Machenschaften von Feinden wie Separatisten als die große nationale Tat der Republik gefeiert. Manchem im Zentrum hat erst diese nationale Selbstbehauptung seinen Glauben an die Nation wiedergegeben, der ihm angesichts der politischen und sozialen Zerrissenheit abhandengekommen war. 166 An dem Nationalstaat" als einer neuzeitlichen Ausdrucksform völkischen Lebens"167 wollte man also ebenso festhalten wie an den Nationen als den gegebenen Organisationsformen der Völker. l68
Doch hat die Einsicht, daß die Übersteigerung des nationalen Prinzips im Weltkrieg zur Zerstörung Europas geführt hatte, Bemühungen gefördert, ihm zeitgemäßere Inhalte zu geben.
Denn die innen- wie außenpolitische Problematik des nachwirkenden wilhelmin-ischen Machtstaatsdenkens l69 ist durchaus gesehen worden. Es ist daher zum einen der Versuch unternommen worden, einen klaren Trennungsstrich zum Kaiserreich durch den Nachweis zu ziehen, daß die republikanische Demokratie die auf Dauer erfolgreichere Form der nationalen Selbstbehauptung
164
lürgen C. Heß a.a.O, S. 281 ff.
165
Vgl. Karsten Ruppen: Die deutsche Zentrumspartei in der Mitverantwortung, S. 71 ff.
166 Vgl. Wilhelm Marx: Der Weg des Zentrums, undatierte Rede (nach 1924). In: Historisches Archiv der Stadt Köln, Nachlaß Wilhelm Marx 231. 167
loseph loos: Jugend, Nationalismus und Pazifismus. In: Um das neue Deutschland, S. 69.
168 Vgl. 1. Fels: Nationalismus. In: Staatslexikon. - 5. Aufl. im Auftrag der Görres-Gesellschaft / hg. von Hermann Sacher. - Freiburg 1926 ff., Bd. III, Sp. 1497 f. 169 Vgl. "Das Reich": Germania 15/ 18.1.1931; Walter Gerhan (d. i. Waldemar Gurian): Um des Reiches Zukunft: nationale Wiedergeburt oder politische Reaktion? - Freiburg 1932, S. 17 sieht das Wesen des gesamten wilhelminischen Nationalismus im "Stolz auf die deutsche Weltstellung" und der Forderung "die deutsche Machtstellung stärker zu betonen". Seine Verwurzelung im "deutschen Volkstum" sei unpolitisch und nicht nachhaltig gewesen.
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sei. 170 Zum anderen versuchten die Zentrumsideologen die Verengung des Nationalismus auf die Macht als eine deutsche Verirrung zu erweisen; sie wollten hingegen die Nation vornehmlich auf ihre kulturellen Manifestationen, ihre Überlieferungen und ihre Geschichte gründen. 171 Am originellsten aber war die Relativierung der Nation durch den Rückgriff auf das Christentum. 172 Zunächst fiel es der Partei im weltanschaulich indifferenten Staat leichter, sich offen zum Spannungsverhältnis von Nation und katholischem Universalismus zu bekennen. 173 Darüber hinaus wurde angesichts der Perversion des zeitgenössischen Nationalismus zu einer Ersatzreligion daran erinnert, daß es für den Christen Pflichten gegenüber der Menschheit gebe, die höher stünden als die gegenüber dem Vaterland. 174 Die Verherrlichung der eigenen Nation mit einer Inbrunst, die nur dem Glauben gelten dürfe, sei blinder und würdeloser Fanatismus. Hingegen finde die Identifikation der Gläubigen mit der Nation durch die Verankerung in der Religion Tiefe und Grenze. Mit Berufung auf die alle Völker umfassende Liebe Gottes wurde die rassische, kulturelle oder sonstwie geartete Überlegenheit einer Nation über eine andere zurückgewiesen. Vielmehr sei es göttlicher Wille, daß sich der "Menschheitszweck" im Zusammenspiel einer Vielzahl und Vielfalt von Kräften verwirkliche. Die Bewahrung ihres Bestandes, die ungehinderte Entfaltung ihrer Anlagen und die Verfolgung ihrer Interessen seien daher das Recht jeder Nation. 175 Mehr mit dem Blick nach innen und in bewußt gezogener Grenze gegenüber den Spielarten des Nationalismus, mit dem sich die Republik herumzuschlagen
\70 V gl. loset Winh: Zur Reichstagswahl 1924 und Rudolf Morsey: Deutsche Zentrumspartei, S. 490 ff.; vgl. auch Emil Ritter: Jungmann, Volk und Staat. In: Kölnische Volkszeitung 573/ 27.7.1924. \7\ Emil Ritter: Die nationale Grundlage des neuen Zentrumsprograrnms. In: Das Zentrum 1922, S. 277; loseph laos: Jugend, Nationalismus und Pazifismus. In: Um das neue Deutschland, S. 69 ff.; und I. Fels: Nation. In: Staatslexikon, Sp. 1490 ff.; Georg Schreiber: Zentrum und deutsche Politik: ein Handbuch zu den Dezemberwahlen 1924. - Berlin 1924, S. 128 ff.
172
I. Fels a. a. O. Sp. 1498.
\73
Vgl. Friedrich Grebe: Sind wir national? - Berlin 1921, S. 15 ff.
\74 Vgl. die Rede von Joseph Joos auf einer Tagung der Arbeiterzentrumswähler vom 23.3.1924 in Hagen. In: Kölnische Volkszeitung 225/ 24.3.1924.
\75 Vgl. 1. Grebe: Nation und Nationalismus. In: Staatslexikon III, Sp. 1483 ff. und 1497 f.; loseph laos: Jugend, Nationalismus und Pazifismus, S. 64 ff.; Heinrich Teipel: Von deutschem Wesen und deutscher Politik. In: Das Zentrum 1923, S. 17 ff.; Heinrich Pesch: Nationalismus und Christentum. In: Festschrift Felix Porsch zum siebzigsten Geburtstag dargebracht von der GörresGesellschaft. - Paderborn 1923, S. 55 ff.
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hatte,176 wurde ein Patriotismus propagiert, der auch dem Gewissen des einzelnen sein Recht ließ. Er war stark genug, vor den Schwächen und Unvollkommenheiten des Vaterlandes die Augen nicht zu verschließen, ohne in seiner Intensität nachzulassen. 177 Dem Kampfruf von rechts, national sein heißt, gegen die Republik sein,178 stellte das Zentrum seine Devise entgegen, national sein heißt, dem Volke in jeder Lage dienen. 179 Dem konservativen Nationalismus, der die Handlungsmöglichkeiten einer besiegten Nation nicht begreifen konnte oder wollte, warf es ein destruktives Maulheldenturn vor und trat seiner Anmaßung, das Monopol auf das Nationale zu besitzen, mit dem Bekenntnis zu verschiedenen Spielarten des Nationalismus entgegen. 180
E. Würdigung Von allen systemstabilisierenden Parteien wurde der Nationalstaat ungebrochen und rückhaltlos bejaht. Auch die Sozialdemokratie hat dem Kaiserreich immer hoch angerechnet, daß es die deutsche Zerrissenheit überwunden hatte, und der Erhalt dieses Reiches war in Niederlage und Revolution ihre oberste Maxime gewesen. Sie hat freilich immer betont, daß die Nation im Innem noch weitgehend unvollendet sei. Die Idee des Nationalstaats war - angesichts der Kürze der Zeit ja auch kaum verwunderlich - noch stark vom souveränen Machtstaat der Vergangenheit geprägt. Daher blieb auch für die systemstabilisierenden Parteien der Leitstern die Wiedererringung einer deutschen Großmachtstellung im Konzert der Völker und Staaten. Dieses Weiterwirken des Nationalismus des wilhelminischen Reiches trotz Niederlage und Revolution ist um so erstaunlicher, als sich ja jetzt dessen Parias (Arbeiter), Diskriminierte (Katholiken und Juden) und Ausgeschalteten (liberales Bürgertum) seiner annahmen.
176 Dazu vor allem Kun Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik: die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. - München 1978, S. 100 ff., 114 ff. und S. 252 ff. 177
Joseph Joos: Jugend, Nationalismus und Pazifismus a. a. O.
178
Kun Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 254 f.
179 EmU Ritter: Die nationale Grundlage des neuen Zentrumsprogramms, S. 277 f. und Aufzeichnung von W. Marx über den Charakter des Zentrums. In: Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx I hg. von Hugo Stehkämper, Bd. III, S. 271 ff. 180
EmU Ritter: Die nationale Grundlage des neuen Zentrumsprogramms a. a. O.
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Es wurde aber auch bald gesehen, daß der Wandel des politischen Systems einen Wandel in den Mitteln und in den Zielen der Außenpolitik nach sich ziehen müsse. Dennoch erfolgte die Hinwendung zu internationaler Kooperation und Verständigung zunächst meist aus nationalen Motiven. Es wurden daher in den wenigen Jahren auch keine umfassenderen Ordnungskonzepte vorgelegt, geschweige denn solche, welche die Gegenseite hätten überzeugen können. Überlegungen und Praxis bewegten sich im Umfeld einer nicht weiter konkretisierten Schiedsgerichtsbarkeit und der Einsicht in die engere wirtschaftliche Verflechtung der europäischen Nationalstaaten. Dennoch lagen hier durchaus zukunftsträchtige Möglichkeiten, wenn sich die deutsche Politik erst einmal von dem Revisionssyndrom befreit hatte. Die demokratischen Parteien und gesellschaftlichen Kräfte versuchten für den neuen Nationalstaat auch ein zeitgemäßeres Selbstverständnis zu entwickeln. Dies konnten sie vor allem deswegen, weil ihr Nationalismus durch höhere Werte begrenzt wurde. Die DDP schützten Ideen der westeuropäischen Aufklärung, das Zentrum seine religiöse Fundierung, die SPD die Klassensolidarität und die DVP ihre Rechtstaatstradition vor Verabsolutierungen. Der neue Nationalismus sollte nicht mehr vorrangig mit militärischer Gewalt und Macht gleichgesetzt werden, sondern mit Sprache, Kultur und Volkstum. Seine historische Tiefendimension sollte er erhalten durch das verstärkte Herausstellen der liberalen und demokratischen Traditionen, die zu vollenden er beanspruchte, und seine nationale Legitimation sollte er finden in der Erfüllung des großdeutschen Traums und der Heimholung der Deutschen jenseits der Grenzen, sofern sie dies wollten. Eine nationale Politik, die zwar immer Revision blieb, doch aber auch niemals Revanche wurde, war die praktische Bewährungsprobe dieses Konzepts. Zunächst einmal erstaunt, wie erfolgreich die Revision war. Nur wenige Jahre nachdem Frankreich und Belgien versucht hatten, die Bestimmungen des Versailler Vertrags gewaltsam auszudehnen, hatte Deutschland seine nationale Souveränität fast ungeschmälert wiedererlangt, waren die wirtschaftlichen Auflagen beseitigt, wurde die militärische Gelichberechtigung grundsätzlich nicht mehr in Frage gestellt und hatten sich die moralischen Diskriminierungen via facti erledigt. Sicher, für die Verwirklichung der territorialen Forderungen und des realistischerweise auch nicht in den Vordergrund geschobenen großdeutschen Projekts war die Zeit zu kurz. Doch sollte die Republik nach ihrem Ende noch die Bestätigung erhalten, daß selbst die Garanten der europäischen Nachkriegsordnung diese Ziele für nicht völlig überzogen hielten. Das spricht doch dafür, daß die nationale Außenpolitik der systemstabilisierenden Parteien den Verhältnissen und Möglichkeiten eher angemessen war als chauvinistisch
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oder destabilisierend. 181 Zumal ja gerade an dem brisanten territorialen Revisionismus nicht starr festgehalten wurde. Der politische Wille der Elsaß-Lothringer sollte ebenso respektiert werden wie die Tatsache des polnischen Charakters der Kerngebiete der ehemaligen Provinz Posen, und schließlich war die Mehrheit der Verantwortung Tragenden schon früh zum Verzicht auf die ehemaligen deutschen Kolonien' bereit. Entscheidender aber war, daß die in Versailles festgelegte Stellung Deutschlands sich in die neue Nachkriegsordnung eben nicht einfügte. Die unumgängliche wirtschaftliche Wiederbelebung des Kontinents und seine dauernde Befriedung war gegen das verbliebene Machtpotential in seiner Mitte nicht möglich. Dieses wurde durch das in Osteuropa entstandene Machtvakuum und durch die von der Sowjetunion ausgehende Bedrohung Europas noch zusätzlich entlastet. Dennoch hatte die Revisionspolitik in der nationalistischen Atmosphäre der Zeit einen schweren Stand. Die Republik und die sie stützenden Parteien haben wenig von dem, was für die "nationale Befreiung" erreicht worden war, profitiert. Das lag wohl vor allem daran, wie die zweifellos drückenden und politisch wenig klugen Bedingungen des Versailler Vertrags in Deutschland aufgefaßt wurden. Es ist nämlich nie akzeptiert worden, daß sie Folge einer selbst zu verantwortenden Niederlage waren und daß sie Ausfluß der nationalistischen Geisteshaltung waren, der man bis vor kurzem noch selbst angehangen hatte. Daß die Revisionspolitik so zu keinem Zeitpunkt aus der Perspektive des Kampfes gegen ein Unrecht herauskam, hat ihre Erfolge verpuffen lassen. Was immer erreicht wurde, das Unrecht blieb. Wegen dieses Ungenügens haben auch die Parteien ihre Leistungen nur halbherzig herausgestellt. So wurden höchstens nationale Senhsüchte von je nach Partei unterschiedlich großen Teilen der eigenen Anhängerschaft befriedigt. Das reichte nicht, um der Weimarer Republik darüber hinaus eine Legitimation als demokratischer Nationalstaat zu verschaffen. Darin offenbart sich das Dilemma des Nationalismus der systemstabilisierenden Parteien. Es lag darin, daß sie national sein wollten, ja es auch sein mußten angesichts der nationalistischen Emotionen breitester Kreise der Bevölkerung und angesichts der extremen Konkurrenz von rechts, die allen alles versprach. Diesem rücksichtslosen Nationalismus gegenüber konnten sie aber nie national genug sein, da sie ja sehr wohl auch Neues schaffen wollten und so gut wie niemand sonst die Schranken kannten, die der deutschen Nation nach dem verlorenen Weltkrieg gezogen waren. 181 Gegen Jürgen C. Heß: "Das ganze Deutschland soll es sein", S. 347 ff., der in dieser Richtung argumentiert.
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Daß die Mehrheit der Deutschen schließlich auf der Bahn der Vernunft und des Möglichen nicht folgte, lag aber vermutlich nicht in erster Linie an der nationalen Außenpolitik selbst, als daran, daß die dafür in einer Demokratie unverzichtbare nationale Gesellschaft nur unvollkommen vorhanden war. Die schwere Aufgabe nämlich, aus der überkommenen Klassengesellschaft und den im Krieg verstärkt politisierten wie durch ihn depossedierten Massen eine sozial und politisch homogene Staatsbürgergesellschaft zu formen, wurde unlösbar, weil die sozialen Antagonismen vertieft und überlagert wurden durch den fundamentalen politischen Dissens als Folge der nicht verwundenen Niederlage und des Systemwechsels .
Nationalismus, Föderalismus und Separatismus in Deutschland nach dem Untergang des "Dritten Reiches" Die Perzeption der westlichen Siegermächte Von Edgar Wolfrum
Im Rückblick von fast vier Jahrzehnten bezeichnete der ehemalige Außenminister Frankreichs, Jean Sauvagnargues, die Stärkung der Länder im Rahmen der Bundesrepublik Deutschland als einen der wichtigsten Erfolge der französischen Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. l Dahinter verbarg sich das Glaube, daß allein ein starker Föderalismus eine wirksame Barriere gegen das befürchtete Wiedererwachen eines übersteigerten deutschen Nationalismus sei. Für Franzosen, ganz gleich von welcher Seite des parteipolitischen Spektrums sie auch kamen, war der deutsche "Nationalismus" die entscheidende Ursache der kriegerischen Geschichte zwischen Deutschland und Frankreich seit dem 19. Jahrhundert. Viel stärker als für die beiden anderen westlichen Siegermächte USA und Großbritannien stellte in der Wahrnehmung der Franzosen der deutsche nationale Einheitsstaat Bismarckscher - und das hieß für sie vor allem preußischer - Prägung ein Schreckgespenst dar. Zwei Fragen sollen im weiteren erörtert werden. Zum einen steht der Blickwinkel der westalliierten Siegermächte im Mittelpunkt: Mit welchen politischen Vorstellungen traten sie dem Problem des deutschen Nationalismus gegenüber? Inwieweit hatten sie Ideen von einem föderalistischen Aufbau eines künftigen deutschen Staates, und spielten vielleicht auch partikularistische Modelle eine Rolle? Am stärksten beleuchtet wird dabei die französische Sicht der Dinge, weil diese Siegermacht solchen Fragen besonders breiten Raum schenkte und Deutschlandpolitik für Frankreich zuvörderst Sicherheitspolitik bedeutete. Aber Frankreich war mit dem Problem Zentralismus oder Dezentralisierung auch deshalb am meisten befaßt, weil sich Alternativvorstellungen zu einem zen1 So Jean Sauvagnargues in einem Vortrag in Trier am 29.10.1984. Zitiert nach Rainer Hudemann, Entstehung des Landes und seiner Verfassung, in: Peter Haungs (Hrsg.), 40 Jahre RheinlandPfalz. Eine politische Landeskunde, Mainz 1986. S. 65.
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tralen und nationalen Staatsaufbau auf deutscher Seite im wesentlichen im süddeutschen Gebiet, wo die französische Besatzungszone lag, artikulierten. Deshalb richtet sich der Blick zum anderen auf die deutsche Seite. Welche deutschen Gegenkonzepte, so soll gefragt werden, entstanden nach dem Untergang des "Dritten Reiches" aus der Diskreditierung des Nationalismus, und worauf liefen ihre Zielperspektiven hinaus? Für Charles de Gaulle, dem Bannerträger der französischen Freiheit nach der traumatischen Niederlage von 1940 und dem provisorischen Regierungschef nach der Liberation von 1944, war der preußische Zentralismus das Grundübel Deutschlands. Dieser Zentralismus hatte in seinen Augen nicht allein den an sich so vielfaltigen Charakter der verschiedenen "deutschen Stämme" verfonnt, sondern auch den militärischen Expanisonsdrang des Deutschen Reiches verhängnisvoll befördert. In seiner Vorstellungswelt war das deutsche Aggressionspotential nur dann wirkungsvoll auszuschalten, wenn der "Corps Gennanique" künftig in einem möglichst lockeren Verband organisiert oder am besten in mehrere selbständige Länder aufgeteilt werden würde. 2 Daß damit zugleich eine französische Hegemonialstellung neu etabliert werden sollte, muß nicht eigens erwähnt werden. Während die französischen Kommunisten nach 1944/45 aggressiv-chauvinistische Töne anschlugen, gab es auf seiten der Sozialisten und der Volksrepublikaner zwar noch unpopuläre, aber viel zukunftsweisendere Gedanken. Europa könne, so hieß es aus ihren Reihen, nicht ohne, sondern nur mit Deutschland aufgebaut werden. Kontrolle der Deutschen durch ihre Integration in ein neu zu schaffendes Europa, sei daher das Gebot der Stunde. Diese beiden Parteien, die ab 1947 die Regierungsverantwortung trugen, versuchten dann auch den deutschlandpolitischen Kurs, den de Gaulle eingeschlagen hatte, zu korrigieren und die Franzosen auf neue Lösungen der Deutschen Frage vorzubereiten. Die alten Lösungsvorschläge hatten die Franzosen tatsächlich in eine Sackgasse geführt, und sie hatten sie von ihren westlichen Verbündeten entfremdet. 3 Doch nahezu alle Politiker Frankreichs blieben Gefangene der öffentlichen Meinung4 , die deutsch-feindlich war. Uon Blum, der große alte 2 Vgl. nach wie vor Gilben Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Pfullingen 1970, S. 32ff. Ernst Weisenjeld. Charles de Gaulle. Der Magier im Elysee, München 1990. S. 81ff. 3 Die beste Darstellung des Gesamtzusammenhangs ist Pierre Gerbet. Le relevement 1944-1949. Paris 1991. 4 Vgl. Dietmar Hüser. Frankreich, Deutschland und die französische Öffentlichkeit 1944-1950: Innenpolitische Aspekte deutschlandpolitischer Maximalpositionen, in: Stejan Manens (Hrsg.). Vom
Nationalismus, Föderalismus, Separatismus nach dem Untergang des "Drinen Reiches" 237
Mann der Sozialisten, konnte es sich als einer der wenigen erlauben, schon früh unpopuläre Dinge auszusprechen. Mitte Januar 1948 hatte er in "Le Populaire" deutlich gemacht, daß sich Frankreich an die Vorstellung eines neuen deutschen Staates werde gewöhnen müssen. Natürlich müsse "dieser Bundesstaat von allen Rückständen autoritärer Zentralisation nach preußischem Muster und hitlerschem Totalitarismus befreit werden. Aber ein Bundesstaat ist immer ein Staat. Wie weit auch immer die Dezentralisation, die Gewaltenteilung, die lokale Autonomie gehen mag, so besteht doch immer die Notwendigkeit von Zentralverwaltungen, zentralen Dienststellen und zentralen Gewalten. Und dies, scheint mir, hat die französische Öffentlichkeit - um nicht zu sagen die französische Regierung - die noch von der lang andauernden gaullistischen Obstruktion beindruckt ist, manchmal vergessen. ,,5 Das waren eindringliche Worte. Aber bis sie so offen ausgesprochen werden konnten, war noch ein weiter Weg zurückzulegen. Denn sie datieren aus dem Jahre 1948, und wir sind damit den Ereignissen weit vorausgeeilt. Das Spannungsverhältnis zwischen Nationalismus, Föderalismus und Separatismus sowie die "solution fran~aise" der Deutschlandfrage, also das Modell einer weitgehenden Dezentralisierung, erschließen sich am augenfälligsten, wenn man die französische Politik gegenüber den wiederentstehenden deutschen Parteien betrachtet, wie sie sich 1945 ausbildete. Um das Problem sogleich in seiner ganzen Schärfe zu verdeutlichen, seien zwei extreme zeitgenössische Positionen zitiert. Zunächst von der deutschen Seite aus: Kurt Schumacher, der erste Vorsitzende der Nachkriegs-Sozialdemokratie, brandmarkte die französische Politik als einen Versuch der "Balkanisierung" Deutschlands, die sie mit Hilfe der christdemokratischen Partei und im Verbund mit klerikalen und partikularistischen Interessen durchzusetzen suche. Die französische Seite war in der Wortwahl kaum zimperlicher: Der spätere französische Hochkommissar Andre Fran~ois-Poncet ließ an Schumacher kein gutes Haar. Seine abschätzigen Bemerkungen über den häufig zu nationalem Pathos greifenden Sozialdemokraten gipfelten darin, daß er ihn als "wilden Nationalisten" beschrieb, als grob, starrsinnig und alle negativen "preußischen" Eigenschaften in sich vereinigend. 6
"Erbfeind" zum "Erneuerer". Aspekte und Motive der französischen Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, Sigmaringen 1993, S. 19-64. S
Le Populaire, 11.1.1948 (übersetzung durch den Verfasser).
6 Zu Schumachers Verdikt: Sozialdemokratischer Pressedienst, 25.7.1949: Zum ersten Mal in der französischen Zone. Schumacher in Koblenz. Zur französischen Seite: Schreiben von Fram;:oisPoncet an das Außenministerium in Paris vom 26.11.1949, Archives de l'Occupation Fran~aise en Allemagne et en Autriche, Colmar (AdO), HCFA C. 65 xp 3-4. Allgemein dazu Edgar Woifrum,
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Edgar Wolfrum
Versuchen wir, den Grundlagen für solche gegenseitigen Diffamierungen nachzuspüren. Wenn die höchsten mit der Deutschlandpolitik betrauten französischen Dienststellen, der Quai d' Orsay und das Secretariat General aux Affaires Allemandes et Autrichiennes, deutsche Parteien beurteilten, so schlugen sie alle zunächst einmal über den gleichen Leisten. An oberster Stelle stand für sie die Frage nach dem Verhältnis der Parteien zum Föderalismus. 7 Zugespitzt könnte man formulieren, daß in französischen Augen nur solche Parteien gute Parteien waren, die der französischen Lösung des Deutschlandproblems aufgeschlossen gegenüberstanden. Sie durften sich also zumindest nicht entschieden für eine politische Einheit des "Reiches" einsetzen, sondern mußten einer weitgehenden Dezentralisierung und einem ausgeprägten, möglichst dissoziativen Föderalismus das Wort reden. In der SPD, die mit einem gesamtdeutschen, nationalen Anspruch auftrat, mochte sie sich dabei noch so sehr auf demokratische Traditionen berufen können, sahen die Franzosen bis weit in das sozialistische Spektrum hinein in erster Linie eine Bedrohung für die Ziele ihrer Deutschlandpolitik. Schon in den französischen Stellungnahmen zum Potsdamer Abkommen hatte sich der französische Außenminister George Bidault vehement gegen die Zulassung gesamtdeutscher Parteien ausgesprochen. 8 Paris hegte die allergrößten Befürchtungen, daß sich deutsche Parteien schnell im nationalen Rahmen wieder organisieren, so eine zentralstaatliche Entwicklung Deutschlands präjudizieren und die französischen dezentralistischen Absichten unterlaufen könnten. Die sowjetische Parteienpolitik wurde in Paris als eine Gefahr wahrgenommen, die genau in diese Richtung ging. Denn schon vor der Potsdamer Konferenz hatten die Sowjets - zumal von der alten Reichshauptstadt aus - mit der Zulassung von Parteien begonnen, deren "Führungsanspruch für ganz DeutschFranzösische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie. Politische Neuansätze in der "vergessenen Zone" bis zur Bildung des Südweststaates 1945-1952, Düsseldorf 1991. 7 Dies belegt die Fülle von Studien, die von verschiedenen französischen Dienststellen ausgearbeitet wurden. Vgl. etwa die folgenden Exposes: Les partis politiques et le fooeralisme, 12.4.1946, aus der Direction generale des affaires administratives, AdO, Commissariat W-H f) C. 2524. Die Betrachtungen von St. Hardouin für das Pariser Außenministerium vom 30.1.1947: Les partis allemands et leurs revendications nationales, AdO, CCFA Cab. Civ. Pol. II A. 4 p. 24. Ferner die großen Studien aus Koenigs Kabinett vom 26.12.1946, 31.12.1946, 12.1.1947 und Februar 1947: La vie politique des partis en Allemagne et leur attidude a I' egard de la question du fooeralisme, ebd. 8 Vgl. die Noten über Frankreichs Vorbehalte gegenüber dem Potsdamer Abkommen. Sie sind veröffentlicht im Europa-Archiv 9 (1954), S. 6745 ff. Hier v.a. die Note Nr. 2 vom 7. August 1945.
Nationalismus, Föderalismus, Separatismus nach dem Untergang des "Dritten Reiches" 239
land" sie damit herausstreichen wollten. Die Franzosen waren, ebenso wie die Sowjets, entschlossen, die Politik der Parteienlizenzierung in den Dienst der eigenen Deutschlandpolitik zu stellen. Das bedeutete, daß dem sowjetischen Modell von gesamtdeutschen Parteien das französische Modell von reinen Landesparteien gegenübergestellt wurde. Gegen die Beschlüsse der Potsdamer Gipfelkonferenz vom Juli und August 1945 protestierte Frankreich auch deshalb, weil es als Siegermacht minderen Status' nicht zur Konferenz eingeladen worden war. Zu dem Programm der Demokratisierung, welches die Großen Drei im besiegten Deutschland verwirklichen wollten und welches sie in Potsdam berieten, gehörten Dezentralisierungsbestimmungen unabdingbar dazu. Doch schon Zeitgenossen zeigten sich darüber besorgt, daß die erzielten Ergebnisse des Potsdamer Abkommens nur Formelkompromissen gleichkamen. 9 Tatsächlich verbanden die Siegermächte mit den einzelnen Begriffen je unterschiedliche Inhalte. Während für die Sowjetunion das Prinzip der Dezentralisierung auf Dauer ohne Bedeutung blieb, trachteten Amerikaner, und in geringerem Umfang auch Briten, nach einer im Nachkriegsdeutschland zu schaffenden föderalistischen Verfassungsstruktur , in welcher Vorstellungen über eine "grass-root" -Demokratie, das "checks and balances"-Prinzip, eine horizontale Gewaltenteilung und die Anknüpfung an föderalistische deutsche Traditionen mitschwangen. 10 Aber keine der Siegermächte verband mit der Devise "Dezentralisierung" derart sein Wohl und Wehe, wie es Frankreich tat. Das zeigte sich nicht allein in den politischen Äußerungen de Gaulles oder seiner Widersacher im innerfranzösischen Meinungsstreit. Auch aus der französischen Besatzungszone selbst und den dortigen Dienststellen der Militärregierung kamen manigfache konzeptionelle Beiträge zum Deutschiandproblem. Die besonnenen Stimmen drangen aus dem zivilen Verwaltungsapparat des Generalverwalters Emile Laffon an die Öffentlichkeit. In seinen ersten Anweisungen an die ihm untergebenen Provinzgouverneure machte er zwar auf das Erfordernis einer politischen Dezentralisierung in Deutschland aufmerksam, warnte aber im gleichen Atemzug davor, etwa separatistische Bestrebungen zuzulassen oder gar zu fördern und damit genau den Fehler zu wiederholen, den die Franzosen nach dem Versailler Friedensvertrag ab 1919 im Rheinland begangen und 9 George F. Kennan, Memoiren eines Diplomaten, Stuttgart 1968, S. 267. Allgemein: Wolfgang Benz, Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland, München
1986.
10 Siehe Marie Elise Foelz-Schroeter, Föderalistische Politik und nationale Repräsentation 19451947. Westdeutsche Länderregierungen, zonale Bürokratien und politische Parteien im Widerstreit. Stuttgart 1974, S. 12 ff.
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womit sie völligen Schiffbruch erlitten hätten. 11 Angesichts des völligen Zusammenbruchs und der Orientierungslosigkeit würden solche Aktivitäten wahrscheinlich zu einer Scheinblüte gelangen, aber langfristig um so stärker einen neuen, möglicherweise aggressiven Nationalismus nähren. 12 Zum gleichen Ergebnis war ein Jahr zuvor schon Rene Massigli, späterer französischer Botschafter in London, gekommen, als er für das Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten in Algier sich mit den de Gaulleschen Aufteilungsplänen kritisch auseinandergesetzt hatte. Aus seinen Überlegungen sprach gleichfalls die Mahnung zur Vorsicht, und er verhehlte nicht, daß er de Gaulles Aufteilungs- und Zerstückelungspläne für verhängnisvoll hielt. 13 Das französische Ansinnen richtete sich dabei nicht zuletzt auf das Saargebiet mit seinen Kohlegruben. In der öffentlichen Meinung Frankreichs wurde die Annexion der Saar 1944/45 breit diskutiert, und in einer Meinungsumfrage vom November 1944 sprachen sich 75 Prozent der Befragten für eine Annexion aus. Es erschien aber eher unwahrscheinlich, daß die Verbündeten Frankreichs einem derartigen Akt zustimmen würden. Bald gab deshalb die französische Politik einem wirtschaftlich an Frankreich angebundenen, aber autonomen Saargebiet den Vorzug. 14 Über eines gab es unter den Franzosen aber überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten: Der preußische Zentralismus wurde als Deutschlands und Europas Verderbnis betrachtet. Bismarcks gewaltsame Einigungspolitik müsse 11 Vgl. dazu auch Franziska Wein, Deutschlands Strom - Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919-1930, Essen 1992.
12 Principes de notre action en Allemagne occupee, 20.8.1945, AdO, CCFA Cab. Laffon C. 13. Anläßlich der Zulassung politischer Parteien hielt Laffon am 18.12.1945 die Landesgouverneure an, Parteien mit separatistischer Tendenz nicht zu erlauben. In einer föderalistischen Ausrichtung der großen Parteien sah er ein probateres Mittel, der "französischen These" zum Durchbruch zu verhelfen, wie aus dem folgenden Absatz deutlich wird: "Le souvenir des echecs en Rhenanie au lendemain de la guerre 1914-1918 dus 11 la collusion trop apparente des elements separatistes avec I'occupant fran!;ais doit nous inciter aujourd'hui 11 chercher des moyens d'action au sein meme des grands partis proprement allemand. La constitution d 'un parti dont le programme serait avant tout le separatisme ne peut manquer de reveiller le sentiment national allemand et realisera contre nous I'union de toutes les tendances. II nous sera certainement possible de trouver parmi des dirigeants des differents partis des elements sur lesquels nous pourrons fonder les bases d 'une influence fran!;aise." AdO, CCFA, Dir. Int et Cult. C. 232 p. 44 d. 78.
13 Massigli leitete in Aigier das "Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten". Ab 1944 mischte sich de Gaulle in die außenpolitischen Planungen ein und ordnete an, daß die Abtrennung der Rheingebiete in die Pläne des Kommissariats aufgenommen werden müsse. Dem kam Massigli nur widerstrebend nach. Vgl. Le probleme de la paix avec l'Allemagne, 2.3.1944, AdO, C-II-O Cons. Pol. 195. 14 Vgl. Rainer Hudemann/ Raymond Poidevin (Hrsg.), Die Saar 1945-1955. Ein Problem der europäischen Geschichte, München 1992. Zum Umfrageergebnis S. 23.
Nationalismus. Föderalismus. Separatismus nach dem Untergang des "Dritten Reiches" 241
wieder rückgängig gemacht werden - so wies etwa Pierre Schneiter . Chef des deutschlandpolitisch besonders dogmatischen Pariser Generalsekretariats für deutsche und österreichische Angelegenheiten. den Deutschen einen Weg in die Zukunft; sie sollten zur Tradition der Vor-Bismarck-Ära zurückkehren. 15 Und die große französische Tageszeitung "Le Monde" hatte im Februar 1945 ihren Lesern mitgeteilt, daß es eine Mär sei, von zweierlei Deutschland zu reden, wie es die Franzosen traditionell oft taten, vom philosophischen Weimarer und vom militärisch-aggressiven Potsdamer Deutschland. Wenn es zwei Deutschland gebe, dann nur in dem Sinne, daß auf der einen Seite ein amorphes, passives, arbeitssames und gefügiges Volk stehe und auf der anderen Seite herrscherische, kriegslüstemde preußische Junker, die sich um Hitler geschart hätten. Für "Le Monde" waren die Zusammenhänge klar: Der Nazismus hatte die Erbschaft des "prussianisme" angetreten. 16 Meinungsführend in der frühen französischen Föderalismusdiskussion nach 1945 waren eher dem gaullistischen Spektrum zuzurechnende Deutschlandexperten und Germanisten sowie Diplomaten und Besatzungsbeamte aus dem Umfeld von Ge-neral Pierre Koenig. In keiner anderen Frage wurde in den ersten beiden Nachkriegsjahren so viel Papier beschrieben und so zahlreiche Studien angefertigt, wie in der, wo die Grundlagen des deutschen Föderalismus zu suchen seien und wie er am besten wiederbelebt werden könne. 17 Die Franzosen bedienten sich dabei einer stark völkerpsychologischen Argumentationsweise und scheuten sich nicht, eine Linie von der prähistorischen Ausformung deutscher Stämme bis zur heutigen "diversite allemande" zu ziehen. Dabei wurde noch in der Präambel der Weimarer Verfassung - die vom "deutschen Volk, einig in seinen Stämmen" sprach - ein Indiz für die widernatürliche Zusammenfügung der "Deutschländer" wahrgenommen, deren Höhepunkt mit der Knebelung historischer und kultureller Traditionen durch den unitaristischen nationalsozialistischen Führerstaat erreicht worden sei. Mit dessen Untergang habe Deutschland seine eigentliche Bestimmung, nämlich die Kleinstaaterei, den Partikularismus und den Lokalpatriotismus wiedergefunden. und darauf gelte es nun aufzubauen. Daß dies in der eigenen Zone relativ leicht zu bewerkstelligen sein werde. war für die renommierten Deutschlandexperten IS Pierre Schneiter auf einer Deutschlandreise im September 1946. V gl. La France en Allemagne Nr. 2. August/September 1946. S. 10. 16
Le Monde. 6.2.1945.
17 Besonders rühriger Verfasser von Föderalismusstudien war der Germanist Edmond Vermeil. Vgl. etwa die Studien: La diversite allemande et les bases d'un federalisme. 0.0. (Anfang 1946). AdO. CCFA Cab. Civ.Pol. V Al); Les bases du federalisme allemand 4.4.1946. AdO. W-H f) C. 2561.
16 limmcrrnann
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eine ausgemachte Sache, da insbesondere die süddeutschen, traditionell antipreußischen "Stämme", das "romanische Deutschland", Bestandteil des französischen Besatzungsgebiets war. In diesem Teil Deutschlands würden aufgrund der Historie französische Einflüsse vorherrschend sein. Im Norden sei das "germanische Deutschland" zu finden, von dem schon Julius Cäsar sagte, daß seine Lebensgrundlage der Raub bilde; im Nordosten treffe man auf das im Windschatten der europäischen Zivilisation gelegene "slawische Deutschland". Als Lösung des Deutschlandproblems schwebte dem Verfasser vor, je eine süddeutsche, norddeutsche und ostdeutsche Konföderation zu bilden. 18 Was die neuen deutschen Parteien anlangte, in denen sich zum ersten Mal nach dem Untergang des "Dritten Reiches" wieder (gesamt-) deutsche und nationale Interessen artikulierten, so blieb den Franzosen die SPD Kurt Schumachers ob ihres "Nationalismus" zutiefst suspekt. 19 Viel günstiger wurden die stark föderalistisch ausgerichteten Christdemokraten beurteilt. Der ganze "Abgrund der deutschen Seele" öffnete sich den Franzosen aber in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in der sowjetischen Besatzungszone. Sie galt als "nationalbolschewistisch" und als bedrohliche Verbindung von deutschem Nationalismus und russischem Expanionismus. 20 Viele französische Beobachter fühlten sich an den frankophoben Nationalbolschewismus erinnert, wie er im Gefolge des Ruhrkampfes von 1923 aufgekommen war. Damals hatte er mit der Rede Karl Radeks auf den von Franzosen hingerichteten und von den Nationalsozialisten wie den Kommunisten gleichermaßen zum Märtyrer erhobenen Albert Leo Schlageter einen Gipfelpunkt erreicht. Als selbst in der Schweizer Zeitung "Die Weltwoche" ein Artikel unter der Überschrift "Liegt im Nationalbolschewismus die deutsche Zukunft" veröffentlicht wurde, sah man sich auf französischer Seite in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Denn die Zeitung war zu einer sehr düsteren Prognose gelangt. Die Russen würden, so schrieb sie, mit dem Vehikel der SED und mit nationalen Parolen versuchen, "Deutschland, das der Schlüssel zum Kontinent geblieben ist, auch von innen her zu erobern - und man muß sagen: die Aussichten einer solchen Politik sind groß" .21
18
Ebd. (La diversite.. .).
19 Vgl. aber zu Schumachers Patriotismus: Wolfgang Benz, Kurt Schumachers Europakonzeption, in: Ludolf Herbst (Hrsg.), Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt, München 1990, S. 47-61.
20
Vgl. Wolfrum, Französische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie, S. 160 ff.
21
Die Weltwoche, 31.5.1946.
Nationalismus, Föderalismus. Separatismus nach dem Untergang des "Dritten Reiches" 243
Als im Alliierten Kontrollrat 1946 wieder einmal um eine gesamtdeutsche Parteiendirektive grungen wurde, lautete die von Paris an seine Kontrollratsmitarbeiter vorgegebene Marschroute denn auch schlicht und einfach: "Alle Lösungen zurückweisen, die auf eine Zentralisation der Parteien abzielen"22. Gleichwohl wurde den Franzosen bald bewußt, daß sie gegen den Strom der Zeit schwammen und ihre westlichen Verbündeten den französischen Standpunkt nicht mehr nachvollziehen konnten. Der erste große Konflikt brach mit den Briten aus, und zwar anläßlich der Englandreise des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher im Dezember 1946. Ein Proteststurm ging durch Frankreich, da man in dem offiziellen Besuch eine nicht hinnehmbare Aufwertung von Schumachers nationalen Forderungen erblickte. 23 Und während der Moskauer Außenministerkonferenz vom Frühjahr 1947,24 die die SED mit Kampagnen zur deutschen Einheit begleitete, zeichnete sich für viele Franzosen das Menetekel eines national geeinten, zentralistischen Deutschlands ab. Zahlreiche Studien wurden erstellt, in denen es hieß, daß die größten Unbekannten bislang noch die nationalen Elemente in Deutschland seien, welche bisher in keiner Partei eine Bleibe gefunden hätten, sowie die HJ-Generation, die ebenfalls noch im Abseits stehe. Diese Kräfte, so die Furcht, könnten nun in den nationalen Sog der SED geraten. Ganz allgemein registrierten die Franzosen seit 1947 nicht nur eine Abschwächung der föderalistischen Gedanken in Deutschland, sondern ein Wiedererwachen des deutschen Nationalgefühls. Der Traum eines partikularistischen "Zollverein"-Deutschlands war endgültig ausgeträumt. Ein bezeichnendes Eingeständnis des Mißerfolgs auch der eigenen Deutschlandpolitik war, daß die beiden Zeitschriften "Cahiers du Rhin" und "Le Fait du Jour", die namhaften Deutschlandexperten Frankreichs als Foren gedient hatten und föderalistische bis partikularistische Ideen priesen, ihr Erscheinen einstellten. Dies legt in der Tat den Schluß nahe, "daß beide Blätter ihre Existenz Subventionen verdankten, die zu fließen aufhörten, als die dadurch zu fördernde Politik keine Chance zur Realisierung mehr hatte" .25 Aber jagte die französische Politik wirklich nur einer Chimäre nach? Gab es nicht doch auf deutscher Seite nach 1945 Gegenvorstellungen zum nationalen Wiederaufbau? Und wie agierten die beiden anderen westlichen Siegermächte? Die größten Hoffnungen setzte Frankreich auf Südwest- und Süddeutschland 22
Vgl. ebda .• S. 281.
23
Vgl. ebda .• S. 165.
24 Allgemein dazu: Martina Kessel. Westeuropa und die deutsche Teilung. Englische und französische Deutschlandpolitik auf den Außenministerkonferenzen von 1945 bis 1947. München 1989. 25
16·
Hennig Köhler. Das Ende Preußens aus französischer Sicht, BerlinlNew York 1982, S. 46.
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und hier insbesondere auf Bayern. In der Tat war Bayern ein wesentlicher Mittelpunkt der Föderalismusdebatte im Nachkriegsdeutschland der Jahre 19451947. Hier schienen sich die französischen Wünsche zu bestätigen, daß das "romanische" Deutschland sich in einer Absetzungsbewegung vom "preußischen" Norden befinde und der erste Ministerpräsident nach 1945, Wilhelm Hoegner, SPD, tat alles, um diesen Eindruck zu bestätigen. Und dennoch täuschten sich die Franzosen. Denn an eine Abspaltung von Deutschland wurde nicht gedacht, das garantierte allein schon die amerikanische Besatzungsmacht. In der US-Zone wurde bereits im Oktober 1945 ein Länderrat eingerichtet. Er sollte die Rechts- und Verwaltungsgleichheit sichern, aber auch die Vorzüge föderalistischer Lösungen für Deutschland unter Beweis stellen. Am Ende sollte er also das Modell eines übergeordneten Zusammenschlusses abgeben. 26 Auch mit Blick auf die (National-) Staatlichkeit Deutschlands zeigte sich somit das Charakteristikum der amerikanischen Deutschlandpolitik: Praktische Entscheidungen obsiegten über theoretische Vorüberlegungen. Finanzminister Henry Morgenthaus Auffassung vom September 1944, "die deutsche Nation trage die Veranlagung zu kaltblütiger, vorsätzlicher Aggression in sich" und deshalb müsse man Deutschland zugunsten der benachbarten Staaten aufteilen, 27 mündete zwar in restriktive besatzungspolitische Direktiven. Und diese blieben formal auch lange in Kraft. In der Praxis jedoch wurden sie rasch fallen gelassen. Das Demokratisierungskonzept von General Lucius D. Clay setzte zwar auf der Ebene der Länder an, zielte aber von Beginn an auf die Schaffung eines Gesamtstaates. Die Länder samt ihren Verfassungen waren lediglich Etappen und dienten übergeordneten "nationalen" Zielen. Diese Politik des "von unten nach oben" hatte das amerikanische "nation building" zum Vorbild. 28 Auch die Briten hatten ihre früheren Dismemberment-Pläne für Deutschland nach kurzer Zeit über Bord geworfen. Sie, die ihrer Maxime der klassischen Gleichgewichtspolitik auf dem Kontinent folgten, erblickten im Aufbau der Länder in ihrer Zone die Bausteine eines neuen Bundesstaates. Dabei betrachteten sie zentral staatliche Elemente nicht von vornherein als Übel. 29 Im Grunde genommen lagen die Ordnungsvorstellungen der Briten und der Amerikaner "Vgl. Rudolf Morsey. Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969. München '1995. S. 8f. 11 Zitiert nach Frank R. Pfetsch, Ursprünge der zweiten Republik. Prozesse der Verfassungsgebung in den Westzonen und in der Bundesrepublik, Opladen 1990, S. 160.
28
Ebda., S. 162.
29
Vgl. ebda .• S. 184ff.
Nationalismus. Föderalismus. Separatismus nach dem Untergang des "Dritten Reiches" 245
nicht allzuweit auseinander. Die bekannte Rede des amerikanischen Außenministers Byrnes vom 6. September 1946 in Stuttgart konnten beide Siegermächte vorbehaltlos unterschreiben. Byrnes kritisierte die noch immer nicht erreichte Wirtschaftseinheit Deutschlands. Um sie zu schaffen, schlug er die Errichtung zentraler Verwaltungsstellen vor. Zugleich plädierte er dafür, daß eine deutscher Nationalrat die politische Neugestaltung eines föderalistisch organisierten Deutschlands vorantreiben sollte. 30 Derweil blickte die französische Siegermacht wie gebannt nur auf ihre eigene Zone. Und sie sammelte akribisch alle deutschen Alternativvorstellungen zur Wiedererichtung eines Nationalstaates, die hier auftauchten. Sie sah so etwa in Wilhelm Röpke einen Verbündeten, denn der in die Schweiz emigrierte Theoretiker des Neoliberalismus, wurde zu einem frühen Verfechter einer westdeutschen Konföderation. 31 Renaissance hatte aber auch der Gedanke, man müsse an das christlich-abendländische Erbe anknüpfen, an die Traditionen der Geschichte des nur losen verbundenen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Von hier aus sollte die Zukunft eines christlichen Abendlandes begündet werden, das gleichermaßen Riegel gegen den sowjetischen Kommunismus und gegen den amerikanischen Konsumismus darzustellen hatte. Eine solche Berufung auf das christliche Abendland blieb bis in die 50er Jahre hinein virulent. 32 Daneben aber entstanden unmittelbar nach dem Untergang des "Dritten Reiches" zahlreiche andere Vorschläge, die freilich kaum über den Tag hinaus Bestand hatten. Sie waren ein Produkt der Niederlage, ein Produkt der Katastrophe, die das "Dritte Reich" für die Deutschen und ihren Nationalstaat bedeutete. Einige ihrer Formen hat man zu Recht als "Katastrophen-Autonomismus" bezeichnet. 33 Dynastische Kreise aus Württemberg-Hohenzollern zum Beispiel propagierten von Zeit zu Zeit krude Ideen einer" Alpinen Union" oder "Donau-Konföderation". Im Oktober 1945 wurde in Bregenz vom "Aktionskomitee des alpenländischen demokratischen Bundes" ein "Alpenland-Plan" präsentiert. Eine antipreußisch und katholisch-konservativ ausgerichtete Konföderation sollte sich danach um das Dreieck Wien - Genf - Karlsruhe gestalten, )0 V gl. lohn Gimbel, Byrnes Stuttgarter Rede und die amerikanische Nachkriegspolitik in Deutschland, in: Vfz 20 (1972), S. 39-62.
)1
Wilhelm Röpke, Die deutsche Frage, Zürich 1945.
12
Vgl. etwa Friedrich Heer, Die Tragödie des Heiligen Reiches, Wien/Zürich 1952.
)) Hans-Pe/er Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945-1949, Neuwied/Berlin 1966 (und öfter), S. 409.
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und die deutschen Teile sollten vollkommen unabhängig von Deutschland sein. 34 Des weiteren drangen Gedanken eines "Alpenlandes" an die Öffentlichkeit, das - am ehemaligen Habsburger Reich orientiert - vom südbadischen Raum bis nach Südtirol reichen sollte. 35 Im Badischen versteiften sich einige führende Politiker darauf, eine "Badische Republik" zu gründen und machten zugleich Anleihen bei Sigismund Karl Freiherr von Reitzenstein. Dieser war von 1832 bis 1842 Präsident des badischen Staatsministeriums gewesen und hatte seit der Gründung des Großherzogturns Baden im Jahre 1806 für eine Allianz zwischen Baden und Frankreich optiert. Noch im Januar 1946 wurde allen Ernstes Reitzensteins Partikularismusmodell als Vorbild für die damalige Situation gelobt. 36 Die Schrift eines Konstanzer Archivars, Otto Feger, machte jedoch am meisten Furore, zumindest mit Blick auf ihre Auflagenhöhe. "SchwäbischAlemannische Demokratie" hieß das Buch, das in papierknapper Zeit eine erstaunliche Auflage von 240.000 Exemplaren erreichte. 37 Feger sprach sich darin für die Gründung eines autonomen Staates von badischen Alemannen und württembergischen und bayerischen Schwaben aus. Auch er legte den Akzent auf den traditionellen Gegensatz Preußen-Süddeutschland und sah in einer autonomen, kantonal geliederten alemannischen Demokratie mit starker Anlehnung an Frankreich die "historische Mission des Schwabenturns, dem deutschen Volke einen neuen Weg in die Weltöffentlichkeit zu zeigen. ,,38 Abgesehen davon, daß Feger den historischen Mythos und die politische Realität vermischte und verwischte, deckten sich seine Argumente in einem solchen Ausmaß mit Vorstellungen gaullistischer Deutschlandpolitiker , daß man auf eine Auftragsarbeit im Dienste der französischen Siegermacht schließen kann. Seit nämlich General de Gaulle im Herbst 1945 eine ausgedehnte Reise durch die französische Besatzungszone gemacht und bei Ansprachen vor deutschen Persönlichkeiten auf die alten Bande zwischen Frankreich und Südwestdeutschland abgehoben hatte, riß die Flut von rigorosen Dezentralismus-Studien aus den Besatzungsdienststellen nicht mehr ab. Deren Zielkonzeption lag auf der Hand: Frankreich mußte versuchen, in einem künftigen deutschen Staat ein 34
Dokumentiert in AdO, Bade C. 2128.
3S Vgl. Bernhard Dietrich, Alpenland. Vorschlag einer staatlichen Neubildung im kommenden Abendland. Konstanz 1945. 36
Dazu Wolfrum, Französische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie, S. 284ff.
31
Dtto Feger, Schwäbisch-Alemannische Demokratie. Aufruf und Programm, Konstanz 1946.
38
Ebda., S. 229.
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gewichtiges Wort mitzureden. Dies sollte in Form eines Südwestdeutschen Staatenbundes geschehen. Aber neben dieser Interessensicherung barg das Neugliederungskonzept ein dynamisches Element. Die französisch besetzten Länder Südwestdeutschlands sollten den künftigen staatlichen Aufbau Deutschlands beeinflussen. Ihnen wurde die Rolle eines Botschafters und Vorreiters des dissoziativen Föderalismus zugeschrieben, sie sollten über ihre Grenzen hinaus eine Sogwirkung entfalten und auf die umliegenden süddeutschen Länder ausstrahlen. Der günstigste Fall wäre dann eingetreten, wenn sich die Anziehungkraft der projektierten Konföderation soweit ausgewirkt hätte, daß es zu einer Zusammenarbeit aller süddeutschen Länder der französischen und amerikanischen Besatzungszone gekommen wäre. Diese hätten dann ein föderatives Gegengewicht gegen den von den Briten präferierten unitaristischen Norden Deutschlands bilden können. 39 Allerdings scheiterten solche Planspiele bereits am amerikanischen Verbündeten, der die propagierte südwestdeutsche Zwergstaaten-Konföderation als ein typisches französisches Hirngespinst belächelte. Die französischen Konzeptionen blieben Eintagsfliegen. Der Zug der Zeit lief in eine andere Richtung. Die Initiative des neuen bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard, CSU, sämtliche deutsche Ministerpräsidenten für Juni 1947 nach München einzuladen, war nicht nur die erste und einzige gesamtdeutsche Begegnung der Länderchefs, sondern auch "der Kulminationspunkt gesamtdeutscher föderalistischer Bestrebungen und zugleich ihr Ende". 40 Im Vorfeld der Konferenz hatte Kurt Schumacher seinen schlimmsten Befürchtungen Ausdruck gegeben. Für ihn konnten nur die deutschen Parteien und nicht die Länder die berufenen Vertreter nationaler Interessen sein. Schumacher hatte die westdeutschen Länderschefs davor gewarnt, föderalistische Tatsachen zu schaffen. Und er hatte vernichtende Worte gegenüber den ostdeutschen Ministerpräsidenten gefunden: "Wir halten es für selbstverständlich, daß sich die anderen Ministerpräsidenten nicht vom totalitären Lärm der schwarz-weißroten Kommunisten erpressen lassen. Für ebenso selbstverständlich aber erachten wir auch, daß sie nicht mit einer staatsrechtlichen Konzeption für Deutschland antworten, die föderalistisch ist. ,,41 Die Ministerpräsidentenkonferenz begann mit einem Eklat. Noch ehe sie richtig anfing, verließen die Regierungschefs aus der Ostzone München, weil sie sich mit ihren Vorstellungen zur 19
Vgl. die Studien im Bestand AdO, CCFA Cons. Pol. 196 C. III-O.
40
Karl Dietrich Erdmann, Das Ende des Reiches und die Neubildung deutscher Staaten, Stuttgart
41
Zitiert nach ebda., S. 269.
1983, S. 266.
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Tagesordnung nicht durchsetzen konnten. Aber gerade wegen dem Streit, der Ausdruck des aufziehenden Kalten Krieges war, wurde die Konferenz zum Katalysator für die Weststaatsgründung Anfang 1948, als auf der Londoner Konferenz die entscheidenden Weichen für den Weststaat gestellt wurden, konnte man auf französischer Seite einen Rückfall zur rigiden "solution franc;:aise" feststellen. Erneut wurde an höchster Stelle über eine Autonomie Süddeutschlands und die Konstruktion eines SüdStaates sinniert. In Frankreich kam es zu einem letzten Aufbäumen, bevor man den Weststaat akzeptierte. Der in Paris ansässige Journalist und intime Kenner innerfranzösischer Verhältnisse, Alfred Frisch, war erstaunt über die ultraföderalistischen Argumente, die plötzlich aus den diplomatischen Requisiten hervorgeholt wurden. Seiner Ansicht nach handelte es sich dabei um ein "taktisches Verschleppungsmanöver", also um einen letzten Versuch, vom französischen Standpunkt zu retten, was zu retten war. "Vielleicht", so schrieb er, "spielen dabei auch gewisse politische Spekulationen und Träumereien eine Rolle. Rheinland und Bayern waren immer Lieblinge Frankreichs. Man hat hier etwas naive Auffassungen über das verwerfliche 'Preußenturn' und ist der Ansicht. daß die Bayern und die Süddeutschen im allgemeinen bessere Menschen oder, wenn man sich so ausdrucken darf, schlechtere Teutonen sind als die verdammten Preußen. Man hofft, von dieser Überzeugung ausgehend auf eine Anlehnung der süddeutschen Länder an Frankreich und träumt von all den vielseitigen politischen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben könnten. Die Artikelserie des 'Monde' über Bayern war in dieser Beziehung bezeichnend. Es ist klar, daß auch die geringste Zentralisierung die Verwirklichung dieser Träume unmöglich macht. ,,42 Diese Perzeption der deutschen Verhältnisse nach 1945 wurzelte in einem Deutschlandbild, das alle ambivalenten Erfahrungen deutsch-französischer Geschichte seit dem beginnenden 19. Jahrhundert verarbeitete. 43 Sie hatte auf britischer und amerikanischer Seite wenig Entsprechungen. Als Mächte, die von außen auf den europäischen Kontinent blickten und dort ein Gleichgewicht der Kräfte wünschten, bezogen sie in ihre Wahrnehmung auch das klassische französische Hegemonialstreben mit ein. Das Deutschlandbild aber, dem die meisten Franzosen nachhingen, hatte sich in einem langen historischen Prozeß herausgebildet, und es ist ein müßiges Unterfangen, in diesem kollektiven 42 Informationsbericht aus Frankreich (für das deutsche Büro für Friedensfragen) vom 13.1.1948, Bundesarchiv Koblenz 35/458. 43 Dazu allgemein Wolfgang Leiner, Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, Darmstadt 1991.
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Bildervorrat "richtige" und "falsche" Elemente zu unterscheiden. Denn politisch wirkungsmächtig sind Perzeptionen allemal - auch dann, wenn es sich um Fehlperzeptionen handeln sollte.
2. Osteuropa
Die Nationalbewegung in der Ukraine Aufschwung und Niedergang (1914 - 1925) Von Volodymyr Jewtuch
In diesem Beitrag werde ich die Hauptelemente in der ukrainischen Nationalbewegung in der Zeit zwischen 1914 und 1925 analysieren. Als Endziel dieser Bewegung sehe ich den Autbau eines unabhängigen Staates an. In der genannten Periode war das ukrainische Volk ganz nah der Verwirklichung seines Strebens, einen eigenen Staat aufzubauen. Andererseits zeigte diese Periode auch, wie weit die Realisierung eines unabhängigen Staates auf dem Territorium der Ukraine war. Die Führer der ukrainischen Nationalbewegung waren sich selbst nicht klar über die Wege und Formen zu einem eigenen Staat. Die breiten Massen der ukrainischen Bevölkerung waren nicht bereit, die Idee eines unabhängigen Staates effektiv zu unterstützen und aktiv an der Realisierung dieser Idee mitzuwirken. Diese Situation war die Folge einer Reihe objektiver und subjektiver Ursachen. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß in der genannten Periode der zweite Versuch zur Schaffung eines ukrainischen Staates unternommen wurde. Der erste Versuch datiert aus dem 17. /18. Jahrhundert, als die Kosakenrepublik an den Dnjeprufern in der Nähe der heutigen Stadt Saporoshje entstand. Damals konnte man die Merkmale eines selbständigen Staates sehen: Machtstrukturierung, die vom russischen Zentrum unabhängig gewesen war; eigene Streitkräfte; primitive unabhängige Wirtschaft; es formierte sich eine eigene Diplomatie, die um Anerkennung der Kosakenrepublik kämpfte, usw. 1 Um den Inhalt und die Entwicklung der ukrainischen Nationalbewegung zu begreifen, muß man erstens sein Endziel präzisieren, zweitens die Ursachen, die diese Bewegung beeintlußt haben, entdecken, drittens die Triebkräfte analysieren. Ein solcher Zugang zur Analyse der ukrainischen Nationalbewegung in der Periode von 1914 bis 1925 gewährleistet die objektive EinschätI Nalyvaiko. D .• Kosaz' ka chrystyjanska respublika. Kyjiv. 1992; Smolij. V.A .. Ukrains' ka kosaz' ka dershava. in: Ukrainskyi istorychnyj shurnal. 1991. N 4.
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Volodymyr Jewtuch
zung ihres Aufschwungs und Niedergangs. Die genannte Zeitspanne ist nicht zufällig gewählt. Nach 1914 und insbesondere nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstand eine Situation, in der das ukrainische Volk seine reelle Chance für den Aufbau eines unabhängigen Staates ausnutzen konnte. Danach war es klar geworden, daß sich diese Chance zur Illusion gewandelt hatte. Im Kontext des behandelnden Themas und der Periode möchte ich zwei Dinge betonen: Erstens, der Begriff "Ukraine" beinhaltet die Territorien, die heute den Staat Ukraine bilden; zweitens, die ukrainische Nationalbewegung bezeichne ich als die Bewegung der Bevölkerung der ukrainischen Territorien (darunter auch Vertreter anderer Nationalitäten) zur Befreiung von fremden Einflüssen und für den Aufbau eines eigenen ethnopolitischen Gebildes.
A. Umstände, die die Nationalbewegung beeinflußten Unter diesen waren die wichtigsten die, die durch die territoriale Zersplitterung der ukrainischen Länder bedingt wurden. Wir können sogar behaupten, daß zur damaligen Zeit überhaupt keine einheitliche ukrainische nationale Bewegung existierte. Ein Bild der Realität kann wie folgt gezeichnet werden: 1. Ein Teil der Ukraine in ihren heutigen geographischen Grenzen war Bestandteil des russischen Imperiums und später der Sowjetunion. Dieser Faktor verursachte in großem Maße die sogenannte östliche föderative Orientierung (nach M. Gruschevs'ky. National-territoriale Autonomie der Ukraine im Rahmen der föderativen Russischen Republik). 2 Hier ist zu ergänzen, daß eine solche Orientierung auch durch die ukrainische Intelligenz, die zu verschiedenen Zeiten nach Moskau und Petersburg gezogen war und dort bestimmte günstige Positionen im gesellschaftlichen Leben besaß, nicht unterstützt wurde. 3 2. Der andere Teil der Ukrainischen Länder gehörte nach dem Ersten Weltkrieg zu Polen. Vorher gehörte Galizien und ein Teil der Bukowina zum österreichisch-ungarischen Imperium, was mit der ersten Aufteilung Polens im Jahr 1772 (Galizien) verbunden war. Die Bukowina wurde dem Imperium zwei Jahre später angeschlossen. Bis 1786 stand die Bukowina unter Militärverwaltung. 1849 wurde sie Galizien angeschlossen, später wurde sie eigene 2
Gruschevs'ky, J. M., Chto taki ukrainzi i tschoho vony chotschyt'. Kyjiv, 1991. S. 121.
3
Tlwtschenko. V. M .• Ukraina - rossija: problemy nazional'noji svidomosti. Kyjiv, 1993.
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Provinz in Österreich-Ungarn. Diese Situation nötigte der Nationalbewegung ein spezifisches Handeln ab: ihr Hauptkem war die Befreiung von der polnischen und österreichischen Herrschaft. Die Bewegung entfaltete sich in beiden Teilen gesondert, und es gab kaum Verbindung zwischen diesen zwei Zweigen. Auf der Ebene der Führer der Nationalbewegung existierten einige Kontakte. Im Vergleich zu dem Teil, der zu Rußland gehörte, war für die Bevölkerung von Galizien und der Bukowina ein höherer Grad des nationalen Bewußtseins kennzeichnend. In Galizien zum Beispiel formierten sich Miltäreinheiten (Sitschovi stril' zi), die später auch in die anderen Länder der Ukraine gezogen sind und dort eine wesentliche Rolle in der Befreiungsbewegung spielten. 4 Die überwiegende Tendenz in beiden Zweigen war das Streben nach eigenem selbständigem Staat. 3. Nach Beendigung des Ersten Weltkrieges und dem Anschluß der Bukowina an Rumänien entstand eine neue Situation: der Kampf gegen die rumänische Unterdrückung. 4. Ein Teil der heutigen Ukraine (nämlich Transkarpatien) gehörte bis 1919 zu Ungarn und von 1919 bis 1939 der Tschechoslowakei an. Die Besonderheiten der ukrainischen Nationalbewegung bestand hier in der Existenz und in dem ideologischen Gegenüber von zwei Gruppierungen: einer, die sich aktiv für Vereinigung in einem einheitlichen unabhängigen ukrainischen Staat einsetzte, und einen anderen, die Transkarpatien als Bestandteil des sowjetischen Rußlands sah. 5 Das bedeutete, daß die Nationalbewegung in den ukrainischen Ländern wenigstens aus vier Zweigen bestand, was, wie es schon oben beton wurde, durch die territoriale Zersplitterung der Ukraine bedingt war.
B. Die Triebkräfte der Ukrainischen Nationalbewegung Unter den Triebkräften verstehe ich die Organisationen (Parteien) und die ausgesprochenen Träger der ukrainischen Idee, deren Realisierung ein ethnopolitisches Gebilde war. Diese Ideenträger waren vor allem die Führer der entsprechenden Parteien. Unter mehreren Parteien, die damals in der Ukraine
4
Bitez 'kyj, B. / Kozur, V. / Makor, Ju., Istorija Ukrainy. Tschernivzi 1994. S. 125.
S
Markus, V., Pryjednannja Sakarpats'koji Ukrainy do Radjans'koji Ukrainy. Kyjiv, 1992. S. 17-
28.
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existierten, erwähne ich sechs, die eine wesentliche Rolle in der Durchführung der ukrainischen Idee (auf theoretischer oder praktischer Ebene) gespielt haben: I. Die Gesellschaft der Ukrainischen Fortgeschrittenen (Tovarystvo Ukrains'skych Postupivziv), seit 25. März 1917 "Bund der Ukrainischen Autonomisten-Föderalisten" (Sojuz Ukrains' kych Avtonomistsv-Federalistiv), die von M. Gruschevs' kyj geleitet wurde. Der Charakter der Tätigkeit dieser Partei war durch die Plattform bestimmt; die Führer dieser Partei standen für den Bund mit Moskau und bestimmten den Platz der Ukraine im Rahmen der russischen Föderation mit einem autonomen Statut. 2. Die Ukrainische Sozial-Demokratische Partei (USDP). Die Hauptprinzipien dieser Partei standen denen der Gesellschaft bzw. des Bundes sehr nahe. Sie unterstützte die Idee der ukrainischen Autonomie als die beste Garantie demokratischer und nationalpolitischer Rechte der Völker Rußlands. Im Gegensatz zum Bund der Ukrainischen Autonomisten-Föderalisten stand die USPD für die Autonomie außerhalb Rußlands. Von ernstzunehmender Seite wird behauptet, daß diese Partei mit den Menscheviki in Rußland wegen der Anerkennung der Autonomie der Ukraine und der Tatsache, daß die Menscheviki am USPD-Parteitag teilnahmen, verglichen werden kann. 6 Der anerkannte Führer der USPD war Volodymyr Vynnytschenko. Am 28. April 1918 betonte er während der Sitzung der Zentral'naja Rada (der ersten ukrainischen Regierung vom 17.3. 1917): "In der Sache nationaler Wiedergeburt dürfen wir uns auf niemanden, auf keine Autonomie in einem fremden Staat verlassen.,,7 3. Die Partei der Sozialistischen Revolutionäre. Diese Partei stand auf der Grundlage des revolutionären Sozialismus und proklamierte die These, daß die Lösung der nationalen Frage nur unter sozialistischer Gesellschaftsordnung möglich wäre. 8 Das bestimmte das Streben der Parteimitglieder , die Ukraine in einen Bund mit dem sozialistischem Rußland aufzunehmen. Auf ihrem Parteitag im April 1917 wurde festgelegt, daß die Ukraine ihre national-territoriale Autonomie in der Föderation mit Rußland als erwünschte Perspektive anstreben müsse. In ihrer Tätigkeit kennzeichnete sich diese Partei durch Extremismus aus, z.B. sofortige unentgeltliche Übergabe von Land an Bauern.
6
Nahajevs 'kyj, 1., Istorija ukrains' koji dershavy dvadzjatoho stolittja. Kyjiv, 1993. S. 73.
7
Bahatopartijna ukrains'ka dershava na potschatku XX st. Kyjiv, 1992. S. 17.
8
Nahajevs 'kyj, 1., op. eil. S. 73.
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4. Die Partei der Ukrainischen Sozialisten für Selbständigkeit (Partija Ukrains'kych Sozialistiv-Samostijnykiv) agierte unter dem Motto "Der Boden an Bauern, die Werke an Arbeiter". Die Partei verlangte 1914-1918 die sofortige Ausrufung der Ukrainischen Volksrepublik. Die Realisierung der Bedürfnisse des ukrainischen Volkes sahen die Führer im Rahmen der sozialistischen Idee. 5. Die Ukrainische Demokratische Bauernpartei (Ukrains' ka DemokratytschnoChliborobs' ka Partija) mit dem Zentrum in Poltava war eine auf die Staatlichkeit der Ukraine gerichtete Organisation. Sie wurde von berühmten Trägern der ukrainischen Staatlichkeit (wie, zum Beispiel V.Lypyns'ky) geleitet. Die Partei trat für die vollständige Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine ein. 6. Die Ukrainische Föderativ-Demokratische Partei (Ukrains'ka FederatyvnoDemokratytschna Partija). Diese Partei entstand auf der höchsten Welle der Nationalbewegung im Dezember 1917, und die Forderung sofortiger Erklärung der Selbständigkeit war das Ziel. Diese Selbständigkeit wurde in einer besonderen Art verstanden - die Autonomie der Ukraine sollte mit der Einheitlichkeit des russischen Staates übereinstimmen und diese Einheitlichkeit nicht verletzen9 • Unter den Mitgliedern dieser Partei waren Vertreter der älteren Generationen besonders stark vertreten. Außerdem gab es noch eine Reihe von Parteien, deren Bedeutung allerdings nicht so wichtig im politischen Leben war. Aber das genannte Spektrum von Parteien mit ihren Zielen zeugte davon, daß es in der ukrainischen Nationalbewegung, wenn nicht Gegensätze, dann doch Nichtübereinstimmung vorhanden war. Das betraf in erster Linie die Formen des Existierens des ukrainischen Staatsgebildes: eine Gruppe von Parteien bestand auf Selbständigkeit der Ukraine, die andere Gruppe zog verschiedene Formen der Autonomie vor. Und sogar im Rahmen dieser Unterschiede gab es keine klaren Vorstellungen über Autonomie und Selbständigkeit. Eine solche Situation erschwerte das Erreichen des Zieles der Bewegung und hatte ihre negative Wirkung auf das Schicksal des ukrainischen Volkes und seines Staates - es gelang den Bolscheviki, den Platz im Bewußtsein eines wesentlichen Teils der ukrainischen Bevölkerung für sich zu erhalten und sie in den Sozialismus einzubeziehen.
9
Bahatopartijna ukrains' ka dershava ... , S. 78.
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C. Der Aufschwung und Niedergang der ukrainischen Nationalbewegung Den Aufschwung der ukrainischen Nationalbewegung verbinde ich mit folgenden Realitäten: 1. Mit der Entstehung der Zentral' naja Rada vom 17. März 1917. Das war das erste in der ukrainischen Geschichte gewählte Organ des parlamentarischen Typs. Das Hauptziel der Tätigkeit der Zentral' naya Rada war das Erreichen der nationalen Einheit des ukrainischen Volkes und die Wiedergeburt der Staatlichkeit. Die provisorische Regierung in Rußland hat die Zentral' naya Rada nur als eine Art von Kreisorgan in fünf (aus neun) Governements anerkannt. Nach dem Sturz der provisorischen Regierung proklamierte der dritte Universal die Ukrainische Volksrepublik im Rahmen einer Föderativen Union mit Rußland. Der vierte Universal erklärte am 22. Januar 1918 die ukrainische Volksrepublik als "selbständigen, von niemandem abhängigen, freien, souveränen Staat des Ukrainischen Volk". 2. Mit einer neuen Form des ukrainischen Staatsgebildes: Hetmanat (am 29. April 1918, General Pavlo Skoropadsky wurde zum Hetman der Ukraine genannt). Der Hetmanat existierte bis zum 14. Dezember 1918. Obwohl diese Macht diktatorisch eingesetzt und unter der Aufsicht der deutschen Okkupationsleitung in der Ukraine funktionierte, hatte sie trotzdem eine stimulierende Rolle im Wachsen des nationalen Bewußtseins unter den Massen der ukrainischen Bevölkerung gespielt 3. Mit dem Direktorium der Ukrainischen Volksrepublik (am 14. Dezember 1918), das den Hetman P. Skoropads'ky als Verräter des ukrainischen Volkes erklärte. 4. Mit der Gründung der Westukrainischen Volksrepublik, die am 19. Oktober 1918 vom Ukrainischen Nationalrat ausgerufen wurde. Unter der Verwaltung der Westukrainischen Volksrepublik befanden sich Galizien, die Nordbukowina und Transkarpatien. 5. Mit dem Versuch zur Schaffung des einheitlichen Staates auf der Basis der Vereinigung der Ukrainischen Volksrepublik. Am 3. Januar 1919 fand eine gemeinsame Sitzung des Präsidiums des Ukrainischen Nationalrates und des Staats sekretariats der Westukrainischen Volksrepublik, am 22. Januar 1919 fand die Vereinigung von zwei Teilen des ukrainischen Volkes, des westlichen und östlichen, statt.
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Den Niedergang der ukrainischen Nationalbewegung in den 20er Jahren verbinde ich mit dem Verschwinden des ukrainischen Nationalstaates und der Aufteilung seines Territoriums unter verschiedenen Staaten: sowjetisches Imperium (Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik), Polen (westliche Länder), Ungarn (Transkarpatien), Bukowina (Rumänien). Als Folge emigrierten die meisten Führer der ukrainischen Nationalbewegung in die Nachbarländer, hauptsächlich in die Tschechoslowakei, nach Deutschland, Österreich und Frankreich. Unter den Emigranten waren die Gründer der Ukrainischen Volksrepublik, die Leitung der Parteien, die Sympathisanten der Idee des ukrainischen Nationalstaates lO • Unter neuen Umständen begann eine neue Etappe der nationalen Befreiungsbewegung des ukrainischen Volkes. Hauptziel dieser Bewegung war dasselbe wie vor 1918 - ein souveräner ukrainischer Staat. Die Besonderheiten der Nationalbewegung in den Ländern, die den anderen Staaten (westlich der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik) angehörten, bestand darin, daß sie auf die Befreiung von der Unterdrückung der entsprechenden Mächte und auf die Vereinigung des ukrainischen Volkes in einem einheitlichen Staat gezielt waren. Was die nationale Bewegung in der Sowjetukraine anbetrifft, so war sie unter starken Druck der bolschewistischen Ideologie und Terrorpraxis geraten. Zahlreiche Prozesse gegen die ukrainische Intelligenz, Entkulakesierung und Deportation des Teils der Anhänger der Idee eines selbständigen Staates, Hungersnöte 1932-1933 und antiukrainische Aktionen des Moskauer Regimes unterdrückten die Nationalbewegung in der östlichen Ukraine. Die sowjetische Politik hatte als Ziel die Entwurzelung der nationalen Gefühle und die totale Russifizierung des ukrainischen Volkes. Unter politischen und ideologischen Hauptfaktoren, die den Niedergang der ukrainischen Nationalbewegung verursachten, waren auch solche wie: 1. Zersplitterung dieser Bewegung (territoriale und ideologische); 2. unklare Vorstellungen über die Formen und den Charakter des Staates als Endziel der Bewegung; sich voneinander unterscheidende und manchmal kontroverse Auffassungen der Selbständigkeit und Autonomie von führenden Kräften der ukrainischen Nationalbewegung; 3. geringe Unterstützung der Nationalbewegung durch das Volk, insbesondere auf dem Land;
10 Troschtschyns'kyj, V. P., Mishvojenna ukrains'ka emigrazija v Jevropi jak istorytschne i sozial' no-politytschne javyschtsche. Kyjiv. 1994.
17'
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4. starker Druck der bolschewistischen Ideologie und der Staatsideologien in den benachbarten Ländern, in denen ukrainische Bevölkerung wohnte; 5. schwache internationale Anerkennung und kaum Unterstützung der ukrainischen Nationalbewegung von außen. Die Jahre zwischen 1914 - 25 haben eine bemerkenswerte Spur in der Geschichte des ukrainischen Volkes und insbesondere In der Nationalbewegung gezogen. Heute, in der Zeit des Aufbaus eines selbständigen Staates, spielt die Erfahrung der analysierten Periode eine konstruktive Rolle: man berücksichtigt die Erfolge und lernt, die begangenen Fehler zu korrigieren.
Die Ukraine auf dem Wege vom zaristischen zum sowjetischen Unitarismus Von Claus Remer
Das Jahr 1917 war auch für die ukrainische Nationalbewegung ein Höhepunkt der Entwicklung. Nach jahrhundertelanger Russifizierungspolitik des vorgeblich monolithisch-unitarischen Zarismus bildete sich nach dessen Sturz im Februar 1917: - erstens die Ukrainische Zentralrada (eine Art Vorparlament) im März 1917 unter Führung des bekannten Historikers Mychajlo Hrusevs'kyj, die sich für die ukrainische Autonomie im Rahmen des Russischen Reiches aussprach, - zweitens trat im April 1917 ein ukrainischer Nationalkongreß zusammen, der die Positionen der Zentralrada bestätigte, aber die endgültige Entscheidung über eine nationalterritoriale Autonomie der Ukraine einer gesamtrussischen Konstituierenden Versammlung überließ, die erst im Januar 1918 zusammentrat und von den Bolschewiki dann aufgelöst wurde, - drittens entstand im Juni 1917 die erste ukrainische Regierung, das Generalsekretariat der Rada, unter Leitung des sozialdemokratischen Schriftstellers Volodymyr Vynnytschenko 1 , - viertens existierte im Frühjahr und Sommer 1917 eine Art Dreifachherrschaft durch das zeitgleiche Wirken der Organe der ukrainischen Zentralrada, der Komitees der Petrograder Provisorischen Regierung vor allem in den ukrainischen Städten und durch die Aktivitäten der zahlreichen Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten, die auch in der Ukraine vor allem unter dem Einfluß der Sozialrevolutionäre, der Menschewiki und der Bolschewiki standen,
1
Vgl. seine 1949 in Paris geschriebenen Erinnerungen über diese Ereignisse: Volodymyr Vynnyt-
schenko: Zapovit borcjam za vyzvolennja. Kyjiv 1991.
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- fünftens wurde nach der Eroberung der politischen Macht durch die Bolschewiki Ende Oktober 1917 in Petrograd und anderen Orten am 7. November 1917 mit dem III. Grundgesetz der Rada, dem sogenannten III. Universal, die Ukrainische Volksrepublik (Ukrajins'ka Narodnja Respublika UNR) als föderativer Teil der Russischen Republik erklärt, - sechstens ist im Dezember 1917 eine ukrainische Sowjetregierung in Charkiv geschaffen worden, so daß auf diese Weise für einige Wochen in der Ukraine auch eine Doppelherrschaft zweier ukrainischer Regierungen bestand und - siebtens wurde schließlich mit dem IV. Universal der Zentralrada vom Januar 1918 die Loslösung der Ukrainischen Volksrepublik von Sowjetrußland proklamiert. 2 Man kann resümieren, daß die Rada apriori nicht zur Separation drängte, sondern die Errichtung der Sowjetmacht in Rußland die Loslösungsschritte der Ukraine in Gang setzte. Damit wurden auf diesem Territorium historische Tatsachen geschaffen, die den Zerfall des unitaren zaristischen Staates besiegeln halfen, die die beginnende Errichtung eines unabhängigen ukrainischen bürgerlich-demokratischen Staates markierten und die auch durch die zeitweilige und später wiederhergestellte Sowjetmacht in der Ukraine das Ziel der Bolschewiki verdeutlichten, unter dem sogenannten Banner des proletarischen Internationalismus keine Trennung der Ukraine von Sowjetrußland zuzulassen. Solche Tendenzen einer welthistorischen Missionierung waren auch schon zur Zeit der großen Französischen Revolution und in der Geistesgeschichte Rußlands der vergangenen Jahrhunderte anzutreffen. Ähnlich, wenn auch spezifischer waren die Motive gelagert, die die zaristische Monarchie und die weißgardistischen Generale des Bürgerkrieges veranlaßten, eine selbständige Ukraine nicht zuzulassen. Für den Zarismus gab es viele Gründe, die im Verlauf von Jahrzehnten zum Teil auch zu objektiven
2 Vgl. über diese Vorgänge u. a.: V. lu. KruJyns'kyj/ lu. A. Levenec': Istorija Ukrajiny. Podiji. Fakty. Daty.Dovidnyk. Druge vydannja, dopovnene i pereroblene. Kyjiv 1993 (im folgenden: Krusyns'kyj); Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. München 1994, S. 167 ff; Rudolf A. Mark: Das Problem einer ukrainischen Nationalstaatsbildung im 20. Jahrhundert. In: Guido Hausmann/Andreas Kappeler (Hrsg.): Ukraine. Gegenwart und Geschichte eines neuen Staates. Baden-Baden 1993, S. 82 ff (s. hier auch den Beitrag von A. KappeIer, S. 70 ff); Rudolf A. Mark: Die gescheiterten Staatsversuche. In: Frank Go/czewski (Hrsg.): Geschichte der Ukraine.GÖningen 1993, S. 172 ff; Wolfdieter Bihl: Aufgegangen in Großreichen: Die Ukraine als österreichische und russische Provinz. In: Ebenda, S. 126 ff; Kerstin S. lobst: Die ukrainische Nationalbewegung bis 1917. In: Ebenda, S. 156 ff; OCerki istorii Kommunisticeskoj Partii Ukrainy. Izd. cetvertoe, dopolnennoe. Kiev 1977 (im folgenden: OCerki), S. 174 ff. Die Daten bis zum 1. 2. 1918 werden nach dem bis dahin in Rußland geltenden Julianischen Kalender angegeben.
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Faktoren für die großen Schwierigkeiten bei der Konstituierung einer unabhängigen ukrainischen Republik wurden. So hat bekanntlich der Zarismus im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts die dann als Neurußland bezeichneten Gebiete am Schwarzen Meer (die von Ukrainern nur schwach besiedelt waren) erobert und einverleibt, das Kosaken-Hetmanat am Dnepr liquidiert und als Ergebnis der drei Teilungen Polens die rechtsufrige Ukraine (die im 19. Jahrhundert offIziell nur noch als Südwestliche Gouvernements bezeichnet wurden) an Rußland angeschlossen. Zu den Gründen gehörte im Süden natürlich auch das Zurückdrängen der Gefahr, die vom Osmanischen Reich für Rußland und Mitteleuropa ausging. Aber die Hauptgründe, mit den eroberten ukrainischen Gebieten so zu verfahren, waren sein Großmachtstreben, die Vereinnahme aller erreichbaren Slawen unter dem Zaren "aller Reußen", die Russifizierungspolitik, die politische, militärische und wirtschaftliche Einflußerweiterung in Richtung Osmanisches Reich, Balkan, Ost- und Mitteleuropa, also das Ausnutzen der geostrategischen Lage der Ukraine als "Fenster" nach Süden und Westen. Hinzu kam das Ausbeuten ihrer wirtschaftlichen Potenzen, zunächst nur als "Kornkammer" und "Zuckerdose" sowie die gewinnbringende Nutzung der Häfen am Schwarzen Meer, seit den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts aber auch zunehmend ihrer industriellen Rohstoffquellen und der rasch wachsenden industriellen Anlagen. Von den zuletzt genannten strategischen Überlegungen ließ sich dann auch die Sowjetmacht leiten. Die ukrainsche Nationalbewegung hatte es also schon aus objektiven Gründen bis zum Jahre 1917 außerordentlich schwer, sich zu formieren, zu artikulieren und auch nur erste Schritte zur Selbständigkeit der Ukraine zu unternehmen - sofern sie es wollte. Dies betraf Bedingungen, die in ihren Auswirkungen zum Teil auch noch unter der Sowjetrnacht zum Tragen kamen und ebenso seit der Unabhängigkeit der Ukraine im August 1991 eine Rolle spielen, so zum Beispiel: 1. Die diktatorisch gesetzte Rechtslage. Die großrussischen zaristischen und später die konstitutionellen Grundlagen der UdSSR ermöglichten faktisch kein Ausscheren der Ukraine aus dem russischen bzw. sowjetischen Machtbereich. 2.Die Herrschaftselite. Nahezu die gesamte Führungsschicht, die Verwaltungs-, Heeres-, Bildungs- und Kirchenelite , die Großgrundbesitzer, Großkaufleute und andere Säulen des russischen Reiches in der Ukraine waren oft Russen oder wenigstens russifizierte Polen, Ukrainer, Juden usw. Unter den eingeschränkten Bedingungen der Sowjetmacht gab es in den zwanziger Jahren
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und später nach dem 20. Parteitag der KPdSU in den sechziger Jahren eine gewisse Ukrainisierung, die sogenannte Korenizacija (wörtlich: "Einwurzelung"), indem verstärkt Ukrainer in Leitungsfunktionen von Partei, Staat, Wirtschaft und nicht zuletzt von Kultureinrichtungen eingesetzt wurden. Die ethnische Herkunft der Leiter ist zwar nicht das allein Ausschlaggebende, sondern ihre Politik, aber die in den meisten Jahrzehnten der Sowjetmacht existierende Vorherrschaft der Russen und die schleichende Ausgrenzung der Ukrainer war Ausdruck einer ganz bestimmten Nationalitätenpolitik, der gewaltsamen Unterordnung unter den Internationalismus, unter den russischsowjetischen Patriotismus und unter die Zielstellung der Herausbildung eines Sowjetvolkes, das in hohem Maße russisch geprägt werden sollte. Heute hat sich das Ganze zum Teil schon umgekehrt, indem der "große Treck" der Russen aus den früheren Unionsrepubliken stattfindet. Manche schätzen, daß mehr als zweieinhalb Millionen Russen in die Heimat ihrer Vorväter flüchten möchten, "aber Rußland wehrt sie ab." Neoimperiale russische Kräfte erhoffen sogar, daß die von ihnen als "russische Kolonien im Nahen Ausland" bezeichneten russischen Bürger über kurz oder lang die Rolle als "fünfte Kolonnen" übernehmen. 3 Das könnte auf fruchtbaren Boden fallen, da gegenwärtig auch die Tendenz vorhanden ist, früher geschaffenes Unrecht durch Russen durch neues Unrecht an Russen zu vergelten. 3. Die Assimilierung. Durch die Modernisierungsschübe, die die Ukraine seit den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dann unter der Sowjetmacht durch die vor allem in den östlichen Gebieten der Ukraine vollzogene Industrialisierung, durch die Entwicklung des Schwarzmeerraumes, durch den Eisenbahnbau, durch das zum Teil rasante Aufblühen der Städte und städtischen Ortschaften und durch die schrittweise Ausbreitung von russischer Bildung und Kultur erfuhr, erhöhten sich aus diesen mehr objektiven Gründen das Übergewicht und die Rolle russischer Fachleute und ihrer Familien in der Ukraine, obgleich der Zuwachs der ukrainischen Bevölkerung, ihres Nationalbewußtseins, ihrer Kultur usw. nicht auf der Stelle blieb. Dies führte in den rund einhundert Jahren zu einer kaum aufzuhaltenden, aber von zaristischer und sowjetischer Macht auch kräftig und z. T. gewaltsam geförderten Assimilation der Ukrainer an die Russen.
3 Vgl. hierzu: Ulrich Heyden: Der große Treck. In: Freitag, Nr. 47 vom 18. 11. 1994, S. 3; Jürgen Nätzold: Rußlands "nahes Ausland". Bedingungen der Unabhängigkeit am Beispiel der Ukraine. In: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens. Heft 8/1994, S. 711 ff.
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Dieses Übergewicht der Russen in der Ost- und Südukraine sowie in den Städten und Industriezentren, die phasenverschobene Entwicklung der verschiedenen Landesteile, die Tatsache, daß z. B. die Westukraine die wenigsten Jahre unter sowjetischen Herrschaftsverhältnissen verbrachte, die unterschiedlichen natürlichen Bedingungen (Flachland, Gebirge, Schwarzrneerklima usw.) die Ukraine ist immerhin fast doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland - , das Vorhandensein zahlreicher ethnischer Minderheiten, verschiedener Weltanschauungen und Religionen und weitere Momente haben deutlich unterscheidbare Regionen hervorgebracht, die heute einen ukrainischen Staat auf föderaler Grundlage möglich werden lassen. Die slawisch-sprachlich-geschichtliche, auch kulturell-religiöse Nähe der Ukrainer zu den Russen und zum Teil auch zu den Polen hat es den national bewußten Ukrainern nach Jahrzehnten und Jahrhunderten der Beherrschung und Unterdrückung vor allem durch Russen und Polen sehr schwer gemacht, allein sich gedanklich von diesen engen Bindungen zu lösen und die Charakteristika und das Genuine des ukrainischen Ethnos, der ukrainischen Geschichte und Staatsauffassung, der eigenen Kultur und Sprache, der Mentalität sowie des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens bewußt zu machen. Mit dem Blick auf die Bildung des unabhängigen ukrainischen Staates in den Jahren 1917/18 soll in großen Schritten skizziert werden, wie sich die Forderungen nach ukrainischer Autonomie und nach einem selbständigen Staat herausgebildet haben. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt zweifellos die Hauptaufmerksamkeit der kleinen Phalanx nationalbewußter Ukrainer der Bewahrung und Entwicklung der ukrainischen Sprache (die zur Bauernsprache geworden war), der literarischen und historischen Denkmäler. Allerdings tauchten 1825 bei einigen wenigen Dekabristen und schließlich bei der ersten "ukrainischen", 1846/47 in Kyjiv gegründeten Geheimgesellschaft "Bruderschaft des Heiligen Kyrill und Method" politische Forderungen in der Form auf, daß sie einen Bund, eine Föderation aller slawischen Völker mit einem entsprechenden Parlament und Sitz in Kyjiv verlangten. 4 Der Gedanke einer Föderation impliziert nach unserem heutigen Verständnis auch eine ukrainische Autonomie, aber sie und erst recht ein ukrainischer Staat waren wohl damals noch nicht vorstellbar. Es mußten erst noch einige weitere Jahrzehnte vergehen, bis der Gedanke einer Separierung der Ukrainer von Rußland und der Westukrainer (der sog. 4 Volodymyr Mijakovs'kyj: Unpublished and Forgotten Writings. New York 1984, S. 83 ff; Bihl, a. a. 0., S. 146; lobst, a. a. 0., S. 159 f.
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Ruthenen) von Österreich-Ungarn, dort insbesondere von den in Galizien dominierenden Polen, von den in der Bukowina prävalenten Rumänen und zum Teil von den in der Karpathenukraine vorherrschenden Ungarn und Slowaken artikuliert wurde. 5 Dies geschah erst in den neunziger Jahren. Die großrussischen Wortführer stempelten die zur Autonomie oder sogar zur Separation tendierenden Ukrainer sogleich als "Mazepisten" ab. 6 Einer der ersten, der die Frage der Separierung der Ukraine aufwarf, war Julijan Bacyns'kyj. Er wollte die Unabhängigkeit der Ukraine in das Programm der ersten ukrainischen Partei, der 1890 in der Westukraine gegründeten Ruthenisch-Ukrainischen Radikalen Partei (Rus'ka-Ukrajins'ka Radykal'na Partija - R-URP) aufgenommen wissen, fand aber damals noch keine Mehrheit dafür. Doch fünf Jahre später nahm er diese Forderung in seine Schrift "Ukraina irredenta" auf, zu einer Zeit, als diese Partei nun auch die Errichtung einer ukrainischen Republik verlangte.? Da die Westukrainer über die politischen Verhältnisse in der russischen Ukraine informiert waren, muß man solche Postulate nach Unabhängigkeit und eigener Republik zwar mit Respekt zur Kenntnis nehmen, aber zu dieser Zeit befand sich die Mehrheit der Westukrainer zur loyaler eingestellten k. u. k. Monarchie nicht in offener Konfrontation. Das Aufstellen solcher politischen Forderungen erfolgte in der Ostukraine ungefähr zehn Jahre später. Hier sprach sich die 1900 in Charkiv gegründete, erste ukrainische Partei, die Revolutionäre Ukrainische Partei (Revoljucina Ukrajins'ka Partija - RUP) in ihrem 1903 angenommenen Programm für eine selbständige ukrainische Republik, für eine Großukraine "von den Karpaten bis zum Kaukasus "8, ja, vielleicht bedingt durch die radikaleren sozialen und nationalen Konflikte im Zarismus, zunächst sogar für die Diktatur des Proletariats und für einen ukrainischen sozialistischen Staat aus. 9 Damit lag die programmatische Nähe zur etwa zeitgleich (1898) gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) und deren Parteiprogramm von 1903 S Der Anteil der Ruthenen an der dortigen Gesamtbevölkerung betrug jeweils um 1890 in Galizien 43,1 Prozent, in der Bukowina 41.8 Prozent und in den ungarischen Komitaten, abnehmend von Ost nach West. 46,4 bis 10,4 Prozent; vgl. Bihl. a. a. 0 .. S. 130. 6 S. M. Korolivskij, M. A. Rubac, N. I. Suprunenko: Pobeda sovetskoj vlasti na Ukraine. Moskva 1967 (im folgenden: Korolivskij), S. 59. 68. 7 Ju. Bacyns'kyj: Ukraina irredenta (mit einem Vorwort von V. Dorolienko). Berlin 1924; Jobst. S. 165 und Anmerkung 27. S. 323 f.
8 Ebenda. S. 167; Mark: Das Problem einer ukrainischen Nationalstaatsbildung ...• S. 85; vgl. auch fiir die Zeit 1918: Peter Borowsky: Deutsche Ukrainepolitik 1918 unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftsfragen. Lübeck und Hamburg 1970. S. 290. 9
Jobst. S. 167.
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auf der Hand. Doch es war nicht überraschend, daß die ganz streng nach internationalistischen Prinzipien strukturierte Partei Lenins weder eine Vereinigung noch enge Zusammenarbeit mit der ukrainischen RUP, mit dem jüdischen "Bund" und anderen ethnischen Arbeiterparteien zuließ. Aber auch für die ukrainischen Parteien und Organisationen muß man in Rechnung stellen, daß sie im Prozeß des Formierens und Artikulierens eigener Positionen die Unterschiede zu anderen politischen und nationalen Zusammenschlüssen benannten und sich auf diese Weise "abgrenzten". Die programmatisch-organisatorische und zum Teil sektiererische Ausgrenzung nichtbolschewistischer Parteien und Gruppen durch die Leninsche Partei spiegelte sich auch in den späteren sowjetischen Geschichtsdarstellungen wider. So erfuhren nicht einmal in der achtbändigen (nicht abgeschlossenen) Geschichte der KPdSU (Moskau 1968 - 1982) die Existenz, das Anliegen, die Führer der ukrainischen Bruderpartei RUP (die sie eigentlich war) trotz gewisser inhaltlicher Übereinstimmung eine Erwähnung oder gerechte Beurteilung. 10 Auf diese Weise wurden bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der LeninPartei Grundsteine und Strukturen sichtbar, die in den folgenden Jahren, insbesondere 1917 in Sowjetrußland und dann in der UdSSR, zu gravierenden Fehleinschätzungen und Taten in der Nationalitätenpolitik führten. Im großen und ganzen gesehen wurden mit den Strukturen auch Inhalte der bolschewistischen Parteikonzeption nach 1917 auf den sowjetischen Staatsaufbau übertragen. 11 Nach 1903 bildete sich aus Mitgliedern der RUP unter anderem die Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Ukrajins'ka Socialdemokratycna Robotnicja Partija - USDRP), deren einer Teil nur eine ukrainische Autonomie im Rahmen Rußlands wollte, während ein anderer als strategisches Ziel einen unabhängigen ukrainischen Staat anvisierte. 12 Die RUP war überhaupt eine Art "Mutterpartei" , auf die sich verschiedene Mitglieder späterer Parteibildungen 10 Im Band I dieser Geschichte der KPdSU, Moskau 1968, hieß es auf S. 331 über das auf dem Gründungsparteitag der SDAPR angenommene Statut, daß sich in den auf Vorschlag des "Bundes" (der auf dem 2. Parteitag 1903 die SDAPR verließ) und des Delegierten aus dem ukrainischen Katerynoslav in den §§ 1 und 7 aufgenommenen Festiegungen "über die Autonomie der örtlichen Komitees ... die mangelnde Reife der Bewegung, die Zersplitterung und Handwerkelei" zeige. Wenig später wurden diese "Zugeständnisse" aus dem Statut entfernt und der strenge Zentralismus und Internationalismus verankert. 11 Vgl. auch: WJadysJaw A. Serczyk: Historia Ukrainy. Wroclaw, Warszawa, Krakow 1990, S. 336 ff; derselbse: Die sowjetische und die "polnische" Ukraine zwischen den Weltkriegen. In: Golczewski (Hrsg.): Geschichte der Ukraine, a. a. 0., S. 203.
12
Mark, ebenda; Jobst, S. 168.
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beriefen, so zum Beispiel die des Ukrainischen sozialdemokratischen Bundes ("Spilka"), der Ukrainischen Volkspartei, der 1908 gegründeten Gesellschaft der ukrainischen Progressisten (Postupovciv), der u. a. der berühmte Historiker M. Hrusevs'kyj angehörte, der Gruppe der ukrainischen Sozialrevolutionäre (seit April 1917 als selbständige Ukrainische Partei der Sozialrevolutionäre) u. a. 13 Doch die Mehrzahl der ukrainischen Arbeiter- und kleinbürgerlichen Parteien und Organisationen saß praktisch zwischen zwei Stühlen, zwischen den beiden Hauptrichtungen der Arbeiter- und der konsequent demokratischen Bewegung in ganz Rußland, den Bolschewiki einerseits sowie den Menschewiki und Sozialrevolutionären andererseits, so daß der Einfluß der "rein" ukrainischen Parteien und Organisationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr begrenzt blieb. Die russische Revolution von 1905 bis 1907 stellte vor allem die sozialen, wirt-schaftlichen und politischen Auseinandersetzungen mit der russischen Selbstherrschaft in den Mittelpunkt, so daß die nationalen Unterschiede und Gegensätze im Schatten der Existenzfragen der Volksmassen standen. Diese Einstellung traf in hohem Maße auch für die Februarrevolution 1917 und die anschließenden Monate zu, weil die Forderungen breitester Volksschichten nach Beendigung des Krieges und Beseitigung des Hungers, weil die Rufe nach Frieden, Brot und Boden im Vordergrund standen. Hier traf wohl zu, was Bertolt Brecht elf Jahre später in die noch heute aktuellen Worte faßte: "Das eine wisset einjür allemal: Wie ihr es immer dreht und wie ihr's immer schiebt, Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Erst muß es möglich sein auch armen Leuten Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden. ,,14
Dennoch ermöglichten der Sturz des Zarismus und die auf sehr schwachen Füßen stehende Provisorische Regierung in Petrograd, daß sich die nationalbewußten Ukrainer - wie erwähnt - unter dem Dach der Zentralrada sammeln konnten und nun bewußt auf die ukrainische Sprache, Geschichte und Kultur, auf historische, zumeist kosakische Begriffe (z.B. Rada, Universal, Hetman, Sie-Schützen), auf entsprechende Traditionen, Symbole, Kleidungsstücke usw. zurückgriffen. Trotz der Schaffung autonomer Vertretungskörperschaften, ukrainischstaatlicher Einrichtungen, von - hinsichtlich Mitgliederzahl und Einfluß - relativ 1J I. F. Kuras: Torzestvo proletarskogo internacionalisma i krach melkoburzuaznych partij na Ukraine. Kiev 1978, S. 37 ff.; Korolivskij, S.62f. 14
Bertalt Brecht: Stücke 1. Berlin 1973. Werke in fünf Bänden. Band 2, S. 103.
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schwachen ukrainischen Parteien und Organisationen konnte sich das politische Gewicht der nationalbewußten Ukrainer angesichts der vielen gesamtrussisch orientierten politischen Parteien und Organisationen, insbesondere der Sowjets, der verbliebenen russisch-staatlichen Einrichtungen, des Offizierskorps, der Kirchenhierarchie, des über Jahrhunderte gewohnten Denkens in russischen Werten und Kategorien in der Ukraine nur sehr langsam und partiell ausbreiten. Das bedeutete, "daß Wörter wie Staat und Nation für die Massen der bäuerlichen Bevölkerung abstrakte Begriffe darstellten, für die sie - wie sich bald zeigte - nicht zu mobilisieren waren. ,,15 Anders gesagt, die Bolschewiki hatten unter anderem den Vorteil, daß sie im bestimmten Rahmen bekannte (groß)russische Denkrichtungen hinter sich hatten. Das ergab eine Mischung von Antizarismus und zugleich dem Bekenntnis zum großrussischen "Mütterchen Rußland", von Zusammenhalt aller Unterdrückten im inneren sozialen Krieg sowie zugleich dem Zusammenschluß aller Völker Rußlands gegen die Invasion der Mittelmächte (ohne den Krieg fortsetzen zu wollen). Die nationalbewußten Ukrainer dagegen warfen völlig neue Fragen auf: Zusammenarbeit der Rada mit den Mittelmächten, Trennung von Rußland und von der zum Teil langen gemeinsamen Geschichte, wenigstens potentielle Zerstörung verwandtschaftlicher und nicht zuletzt arbeitsteiliger Beziehungen zwischen dem sogenannten "Groß-" und "Kleinrußland" , eine Trennung, die dort heute von vielen noch gar nicht so empfunden und als notwendig betrachtet wird. Die Unfähigkeit und Schwäche sowohl der Petrograder Provisorischen Regierung als auch der nationalen Kräfte in der Ukraine, ihr Unvermögen, im Revolutionsjahr 1917 die zentralen Forderungen der Massen nach Beendigung des Krieges, nach Verteilung von Brot und von Land an die Bauern zu lösen, ermöglichten es den Bolschewiki, im Oktober/November 1917 die politische Macht zu erobern. Es gab und gibt die Auffassung, daß sie - um das mit einem modernen Begriff auszudrücken - nur ein zeitweiliges Protestpotential ausgenutzt haben, daß es nur ein Putsch bolschewistischer Usurpatoren war, die sehr bald abwirtschaften würden. Doch so einfach war das nicht. Die Sowjetregierung beendete sofort den Krieg und verteilte das Land der Großgrundbesitzer an die Bauern. Die wesentlichsten Bestandteile des Dekrets über den Grund und Boden stammten nicht einmal von den Bolschewiki, sondern von den Sozialrevolutionären l6 , die wenig später auch verfolgt wurden. Aber die Massen mußten lange auf Brot und Demokratie warten. Und trotz der Leninschen Verkündung der Deklaration der Rechte der Völker Rußlands am 2. November 1917 l' Mark, ebenda, S. 86. 16
W. I. Lenin: Rede über die Bodenfrage. In: Werke. Band 26. Berlin 1961, S. 249 ff.
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änderte sich in der sowjetischen Nationalitätenpolitik unmittelbar und in den nächsten Jahrzehnten - ungeachtet des wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs - im politischen Bereich nur wenig. Auch die weißgardistischen Generale hielten in den Kämpfen der Jahre 1917 bis 1920 und später an dem Grundsatz des "einheitlichen unteilbaren Rußland" fest. In dieser Petrograder Deklaration vom 2. November 1917 wurden die Gleichheit und Souveränität aller in der russischen Republik wohnenden Nationen, ihr Recht "auf freie Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates", die Aufhebung aller Privilegien und die "freie Entwicklung der nationalen Minderheiten" verkündet. l ? Doch genau einen Monat später erklärte die Lenin-Regierung zwar, sie erkenne "die Ukrainische Volksrepublik (hier also die offizielle Bezeichnung; C. R.) sowie ihr Recht an, sich von Rußland zu trennen", "ohne jede Einschränkung und bedingungslos", aber im gleichen Atemzug, im gleichen Dokument vom 3. Dezember 1917, wurden der Rada in einem auf 48 Stunden begrenzten Ultimatum vier Bedingungen gestellt, wonach sie die Sowjets und die Sowjetmacht in der Ukraine anzuerkennen habe, keine weitere "Desorganisierung der Front" vornehmen dürfe (das bezog sich darauf, daß die Rada ukrainische Militäreinheiten schuf) und daß sie den Kampf sowjetischer Truppen gegen General Kaledin im Donund Kubangebiet zu unterstützen habe. Bei Nichteinhaltung dieser Bedingungen - was ja wohl selbst bei bestem Willen innerhalb von 48 Stunden nicht möglich war - müsse sich die Rada "als im offenen Kriegszustand mit der Sowjetmacht in Rußland und in der Ukraine ... betrachten. ,,18 Im Unterschied zum Verhalten der Sowjetregierung gegenüber Finnland klafften im Falle der Ukraine Worte und Erklärungen der Lenin-Regierung sowie ihre reale praktische Politik weit auseinander. Damit gingen die Bolschewiki zur offenen Liquidierung der ukrainischen Zentralrada und ihrer Organe über, obwohl (oder eben weil) sie mehrheitlich aus Sozialrevolutionären und Sozialdemokraten bestanden und keineswegs "Agenten", "Werkzeuge der Konterrevolution" 19 usw. waren. Eine entscheidende Auseinandersetzung fand im Zusammenhang mit der Einberufung und dem Verlauf des 1. Gesamtukrainischen Sowjetkongresses am 6. Dezember 1917 in Kyjiv statt. Noch Mitte und Ende November waren sich führende russische und 17 Deklaration der Rechte der Völker Rußlands. In: Die ersten Dekrete der Sowjetmacht. Hrsg. von H. Schütz/er und S. Striegnitz. Berlin 1987, S. 68 f. 18 W. I. Lenin: Manifest an das ukrainische Volk mit ultimativen Forderungen an die Ukrainische Rada. In: ebenda, S. 358 ff.
19
Vgl. z. B. Oeerki, a. a. 0., S. 245.
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ukrainische Bolschewild einig gewesen, daß man die Einberufung dieses Kongresses zusammen mit der Zentralrada durchführen könne. 20 Doch als Ergebnis der immer schärfer gestellten Machtfrage und insbesondere, nachdem die Lenin-Regierung die aus ihrer Sicht unbefriedigende Antwort der Rada auf das Ultimatum der Sowjetregierung beraten hatte, beschloß sie Vollmachten, um gegen die Zentralrada "zu handeln" .21 Auf dem zwei Tage später, am 5. Dezember in Kyjiv eröffneten 1. Gesamtukrainischen Sowjetkongreß, an dem neben den offiziell Gewählten auch über 2 000 Vertreter bäuerlicher Vereinigungen ("Spilki") teilnahmen und die Rada ihre Positionen gegenüber Sowjetrußland bekräftigt hatte, verließen 127 bolschewistische Delegierte die Tagung und gingen nach Charkiv, das bis 1934 Hauptstadt der Sowjetukraine blieb. Hier hatte sich inzwischen die Sowjetmacht durchsetzen können. Zusammen mit den Sowjetdelegierten aus Charkiv, aus den Gebieten des Don und des Raumes Krivij Rih (Krivoj Rog) konstituierten sie sich am 11.112. Dezember ebenfalls als 1. Geamtukrainischer Sowjetkongreß. Die Ukraine wurde zur Sowjetrepublik erklärt und ein Zentrales Exekutvkomitee aus 41 Personen gewählt. Am 17. Dezember 1917 bildete sich schließlich die erste ukrainische Sowjetregierung mit Artem (F. Sergeev), S. Bakins'kyj, E. Bos, V. Zatons'kyj und anderen. Doch sie arbeitete über zweieinhalb Monate ohne Vorsitzenden, bis am 4. März 1918 N. Skrypnyk als Vertreter des Zentralkomitees der SDAPR ( B ) zum Vorsitzenden der ukrainischen Sowjetregierung gewählt wurde. 22 Schon am 8. Dezember 1917 hatte der Rat der Volkskommissare O. Antonov-Ovsejenko, den aktiven Teilnehmer am Sturm auf das Winterpalais und an der Verhaftung der Provisorischen Regierung, zum Befehlshaber der sowjetischen Truppen in der Ukraine ernannt, und es war der entsprechende Militärstab bei Charkiv am 12. Dezember 1917 gebildet worden. Unterstützt von 12 000 Rotgardisten aus Sowjetrußland begann die militärische Offensive gegen die Zentralrada am 4. Januar und wurde am 18. Januar 1918 Kyjiv erobert. 23 Die vertriebene ukrainische Zentralrada ist dann bekanntlich durch die deutschen und österreich-ungarischen Truppen nach Beginn ihrer Invasion am 18. Februar 1918 wieder eingesetzt worden. Das Ziel Deutschlands und 20
Ebenda, S. 241.
21
Lenin, ebenda, S. 569 (Daten im Anhang).
22
Krufyns'kyj, S. 123; Ocerki, S. 243 bis 247.
23 Krufyns'kyj, S. 124; Die Streitkräfte der UdSSR. Abriß ihrer Entwicklung von 1918 bis 1968. Berlin 1974, S. 21.
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Österreich-Ungarns bestand erstens darin, Lebensmittel und Rohstoffe aus der Ukraine zu erhalten (was ihnen aber so gut wie nicht gelang24 ) und zweitens die Ukraine als strategisches Objekt im Kampf gegen Sowjetrußland und Polen sowie später als Sprungbrett für noch weitreichendere Expansionen zu benutzen. Auch dies scheiterte infolge der Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg. Die Nationalukrainer wurden 1918 und später zwischen den Angriffen der sowjetrussischen, polnischen und russisch-weißgardistischen Angriffen zerrieben. Die Ukrainische Volksrepublik scheiterte jedoch nicht zuletzt an ihrer politischen und militärischen Schwäche und Unentschlossenheit, an ihrer unzureichenden Verankerung in den Volksmassen, am Unvermögen, z.B. durch Taten die ukrainischen Bauernrnassen als feste Bundesgenossen zu gewinnen, "an den sozial ökonomischen und nationalpolitischen Entwicklungsdefiziten, d. h. an der fehlenden Basis einer national optierenden ukrainischen Bevölkerung. ,,25 Hier muß die weitere Entwicklung, die Einsetzung des großrussischen Pavlo Skoropads'kyj als sogenannter Hetman durch die Deutschen, die Bildung der Westukrainischen Volksrepublik am 13. November 1918 in L'viv (Lemberg) und des Direktoriums am 14. November 1918 in Kyjiv, ihr Zusarnmenschluß am 22. Januar 1919 und ihre Niederlagen in den Wirren des Bürgerkrieges, nicht im einzelnen nachgezeichnet werden. Die Ursachen sind im allgemeinen bekannt. Es ging hier darum, die ersten Schritte einer ukrainischen Selbständigkeit und der sowjetrussischen Reaktion darauf deutlich zu machen, weil bereits in diesen ersten Monaten unter dem "Banner des proletarischen Internationalismus" letztlich das großrussische Denken hervorschaute und den Ukrainern damals keine echte Chance einer nationalstaatlichen Entwicklung - warum nicht eventuell auch im gleichberechtigten Bündnis mit Sowjetrußland? - eingeräumt wurde. Die Historiographie in Ost und West zeichnete sich in den vergangenen Jahrzehnten bei der Darstellung dieser Ereignisse durch erhebliche Unterschiede aus. Es ist heute für mich recht erstaunlich, wenn ich mir die Standardwerke der Geschichtsschreibung der UdSSR und anderer früherer sozialistischer Staaten ansehe. Natürlich sind wir heute offensichtlich klüger als vor Jahren und wissen noch besser, welchen gewaltigen Faktor der Kampf um Selbstbehauptung und Selbstbestimmung der einzelnen Völker darstellt. Aber in wohl allen einschlägigen, z. B. sowjetischen Darstellungen ist die Mißachtung der nationalen Anliegen für die gesamte Sowjetperiode evident. In 24
Borowsky, passim.
25
Mark. ebenda.
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diesen Abhandlungen ist die Problematik stets moskauzentristisch oder am Rande und dann so dargestellt worden, als ob es generell und so auch in der Nationalitätenpolitik 1917/18 und später keine Alternativen gegeben hätte. Alle Gegenkräfte wurden im Prinzip nur abgrundfeindlich und lächerlich dargestellt. Aber auch bei der Berücksichtigung und Wertung einzelner Tatsachen gab und gibt es zwischen "Ost" und "West" Unterschiede. Ein Beispiel dafür: Während der 1. Gesamtukrainische Sowjetkongreß in Kyjiv früher von der sowjetischen Geschichtsschreibung ignoriert oder nur als eine Versammlung abgetan wurde, gibt es noch heute eine Reihe westlicher Darstellungen26 , die den fast gleichzeitig stattfmdenden, gleichfalls so bezeichneten 1. Gesamtukrainischen Sowjetkongreß in Charkiv nicht oder kaum nennen. Die letztlich gültige Antwort können uns die ukrainischen Historiker von heute und morgen geben, wenn sie auch bisher unbekannte Quellen ausgewertet haben. Die jüngste Publikation aus Kyjiv, die mir zugänglich ist, stammt aus dem Jahre 1993, und dort sind m. E. zu Recht beide Kongresse unter dieser Bezeichnung genannt und kurz vorgestellt worden. 27 Eine Wende zeichnet sich in den früheren sowjetischen Republiken schon ab. So sagte mir vor kurzem der Dekan der Historischen Fakultät der Universität Minsk, Professor Dr. Peter Schupljak, als er und ein Mitautor mir den jüngst erschienenen, von der Belorussischen Akademie herausgegebenen, rund 530 Seiten umfassenden ersten Band der "Narysy gistoryi Belarusi" , einer auf zwei Bände angelegten Darstellung der Geschichte Belorußlands, übergaben: "Zum ersten Mal schreiben wir nun die Geschichte unseres Landes, unserer Republik, selbst, nicht in Moskau!"
26 Beispielsweise Mark: Die gescheiterten Staatsversuche. In: Golczewski (Hrsg.): Geschichte der Ukraine. S. 178. 27
KruJyns '/cyj, S. 123.
18 TImmermann
Die Mazedonische Frage und die bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen (1918-1934) Von Irena Stawowy-Kawka
Gegenstand der vorliegenden Abhandlung ist die Darstellung bulgarischjugoslawischer Beziehungen im Kontext des mazedonischen Problems sowie die Beantwortung der Frage, auf welche Art und Weise dieses Problem die Beziehungen zwischen den beiden Ländern von Ende 1918 bis 1934 beeinflußte. Wir haben es hier mit einem politischen Problem zu tun, das auch heutzutage zu den am meisten kontroversen auf dem Balkan gezählt wird. Der bis auf den heutigen Tag existierende Streit um die mazedonische Frage ist politischer Exponent der bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen seit Ende des 19. Jahrhunderts. Bereits in jener Zeit versuchten die Bulgaren, ausschlaggebenden Einfluß in den mazedonischen Organisationen zu gewinnen, in der Hoffnung, ihre eigenen politischen Pläne verwirklichen zu können, d. h. Mazedonien an Bulgarien anzuschließen. Diese Rolle spielte die größte mazedonische Organisation, die IMRO (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation), im deren Rahmen in Sofia das Zentrale Mazedonische Komitee (Vrhoven makedonski komitet) gegründet wurde. Das Ziel des Komitees war die Einigung Mazedoniens und sein Anschluß an Bulgarien. Die Vertreter dieser Richtung wurden "Verhovisten", die politische Doktrin selber "Verhovismus" genannt. Die verhovistische Richtung in der mazedonischen Bewegung war es, die die bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen am stärksten beeinflußte. Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte keine Normalisierung der politischen Beziehungen zwischen Bulgarien und Jugoslawien mit sich. In dem Memorandum, das der Ministerpräsident des Königreiches Jugoslawien Nikola PaSii l auf der Pariser Friedenskonferenz vorlegte, forderte er eine Änderung I K. Maneew, W. BystrickY, Bylgarija i nejnite sysedi 1931-1939, Sofia 1978, S. 26; D. Todorovii, lugoslavija i ballcanske drZave 1918-1923,Beograd 1979, S. 27-46.
18·
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der Grenze mit Bulgarien sowie den Anschluß der Ortschaften: Vidin, Gorna Dzumaja, Caribrod, Tryn, Bosilegrad, Strumica und Petric. Ihrerseits forderte die bulgarische Regierung, indem sie sich auf den serbisch-bulgarischen Vertrag von 1912 sowie die Beschlüsse der Londoner Konferenz von 1913 berief, den Anschluß der sog. "Streitzone" in Mazedonien sowie von Westthrazien und Süddobrudscha an Bulgarien. 2 Zu diesem Zweck entsandte Bulgarien inoffizielle Missionen in die westliche Region (die Mission von Gdow und Cokow), die außer den genannten Gebieten auch den Anschluß der Ortschaften in Westmazedonien Bitola, Prilep, Veles sowie Pirot in Südosten forderten. Zur gleichen Zeit entsandte das Vollzugskomitee der Mazedonischen Gesellschaften in Bulgarien, das hauptsächlich von den "Verhovisten" geleitet wurde, ein Memorandum an die Pariser Friedenskonferenz (die Unterschriften unter dem Memorandum wurden um die Jahreswende 1918/1919 gesammelt), in dem sie den Anschluß des gesamten Mazedonien an Bulgarien forderten. Abschließend hieß es in dem genannten Dokument: Das Vollzugskomitee der Mazedonischen Gesellschaften bittet Sie, Herr Vorsitzender, im Namen von 200.000 mazedonischer Auswanderern in Bulgarien und im Namen der mazedonischen Bevölkerung, die z. Z. ihren Willen nicht frei ausdrücken kann, sowie im Interesse des Rechtes und eines dauerhaften Friedens auf dem Balkan, vor dem hohen Areopag zivilisierter Nationen, das über das Schicksal anderer Nationen und die Grenzen ihrer Staaten entscheidet, mit der Bitte auftreten zu dürfen, daß Mazedonien, als Ganzes und ungeteilt, an sein Mutter- und Vaterland Bulgarien angeschlossen werden kann. 3 Nachdem in Bulgarien die Bauernpartei die Macht übernommen hat, wurden die führenden Vertreter der verhovistischen Richtung in der IMRO, Alexander Protogerow, der im September 1918 die Verteidigung Sofias gegen meuternde Truppen leitete, sowie Todor Alexandrow, verhaftet. Nach kurzer Zeit flüchteten sie mit Hilfe von königlichen OffIzieren aus dem Gefängnis und entwickelten eine breit angelegte terroristische Tätigkeit mit dem Ziel, ein autonomes Mazedonien zu gründen, wobei sie seinen späteren Anschluß an Bulgarien planten. Der bulgarische Regierungschef Alexander Stambolijski strebte eine Wende in der für Bulgarien ungünstigen Entwicklung der Beziehungen mit Jugoslawien an. Die jugoslawische Seite verhielt sich aber äußerst vorsichtig. In seiner Rede auf dem Kongreß der Radikalen Partei im Dezember 1921 sagte Pa§ii: " ... 2 Dokurnenti i materiali za istorijam na bilgarskija narod, Sofija 1969, Dok. 299, S. 409 und Nr. 300, S. 410-417.
3
Ibidem, Dok. Nr. 303, S. 426, 427.
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gegenüber Bulgarien hegen wir keinerlei böse Absichten, es fällt aber schwer, die traurigen Kriegsereignisse zu vergessen. Ich erwarte, daß es (d. h. Bulgarien - Anm. I.S.K.) wirklich Reue zeigen und eine andere Politik führen wird, dann werden auch wir bereit sein, unseren Standpunkt ihm gegenüber zu ändern. »4 Diese Rede wies gar nicht auf die Absicht hin, eine schnelle Annäherung erreichen zu wollen, um die es Stambolijski ging. Eines der Argumente, mit Hilfe deren die Bulgaren Jugoslawien von der Notwendigkeit der Zusammenarbeit überzeugen wollten, war das Problem des Zugangs der beiden Länder zu dem Ägäischen Meer für Jugoslawien in Saloniki, für Bulgarien in Dedeagac Getzt Alexandrupolis). S Ein wichtiger Faktor,.der die Verständigung beider Länder erschwerte, war die Tätigkeit der IMRO sowie zahlreicher anderer mazedonischer Komitees und Gesellschaften, wie Zentrales Mazedonisches Komitee, Föderatives Mazedonisches Komitee, Ilindenisches Komitee u. a. Die hauptsächlichen Gebiete der terroristischen Tätigkeit der IMRO in Bulgarien lagen im Umland von Kjustendil, Gorna Dzumaja Getzt Blagoevgrad), Petric, Newrokop Getzt Goce Delcev). Terroristische Aktionen wurden nicht nur auf dem Gebiet des jugoslawischen Mazedonien durchgeführt, sondern auch in Bulgarien gegen die Regierung Stambolijskis, die eine Besserung der Beziehungen mit Jugoslawien anstrebte. Einige Tage nach seiner Rückkehr aus Belgrad wurde der Innenminister Dimitrow, Mitglied der Bauernpartei, getötet. Die Aktionen der IMRO richteten sich auch gegen mazedonische Politiker, die die Methoden des geführten Kampfes verurteilten oder aber ihre unterschiedliche Meinung zu dem mazedonischen Problem vertraten. Mit der fortschreitenden Intensivierung der terroristischen Tätigkeit der IMRO, die die Grenze zwischen Jugoslawien und Bulgarien im wahrsten Sinne des Wortes in Flammen setzte, wurden die jugoslawisch-bulgarischen Beziehungen immer gespannter. Während der Hochzeit des Königs Alexander in Belgrad im Juni 1922 kam es zu einer Einigung des Königreiches SHS mit Rumänien und Griechenland über das mazedonische Problem. Im Namen dieser Länder wurde eine gemeinsame Note an die Regierung Bulgariens verfaßt, die von dem rumänischen Gesandten in Sofia überbracht wurde. 6 In dieser Note verlangten die genannten Regierungen entschlos• Archiwum Akt Nowych (AAN) IArchiv der Neueren AktenI. Warschau. MSZ IAuswärtiges AIntl. B. 5985. Bericht des polnischen Gesandten in Belgrad Oka:cki vom 14.12.1921. , Über die Aktivitäten zahlreicher mazedonischer Organisationen in den Jahrenl921-1923 und über das Programm BKP zur Frage Mazedoniens s. Dokumenti i material i .... Dok. 305-312. S. 29439. 6
AAN. MSZ. B. 5984. Bericht Oka:ckis vom 12.6.1922.
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sen, Überfalle und Blutvergießen an der Grenze zwischen Jugoslawien und Bulgarien, die in den letzten Wochen stark zunahmen, zu beenden. In der Antwort auf die Note schlug Bulgarien vor, eine internationale Kommission einzuberufen mit dem Ziel, das Problem der Überfalle sowie das der angeblichen Unterstützung für die Verantwortlichen seitens der Sofioter Regierung zu untersuchen. Gleichzeitig bestritt die bulgarische Regierung jedwedes Zusammenwirken mit den "KomitadZi"-Gruppen (Kämpfer der IMRO). Sie wies vielmehr auf die Unmöglichkeit hin, angesichts der aufgrund des Friedensvertrages von Neuilly durchgeführten Abrüstung die Situation unter Kontrolle zu bringen. Auch bei seinem guten Willen wäre Bulgarien nicht in der Lage, eine bewaffnete Bevölkerung und die große Zahl mazedonischer Flüchtlinge in Schranken zu halten - erklärte Stambolijski zur bisherigen Tätigkeit der IMRO. Die Regierung Jugoslawiens war überzeugt, daß keine gemeinsame Aktion beider Länder notwendig wäre, um die Tätigkeit der terroristischen IMRO unterbinden zu können. In Belgrader Kreisen war man vielmehr der Meinung, daß dies von dem guten Willen der bulgarischen Regierung abhängig wäre. Die Bulgaren schlugen hingegen im Juni 1922 vor, eine gemischte jugoslawischbulgarische Kommission zu bilden, die den gesamten Grenzverkehr regulieren sollte. Jugoslawien lehnte diesen Vorschlag ab und drohte sogar Repressalien (eine bewaffnete Aktion) an, falls die Terroraktionen fortgesetzt werden sollten. Daraufhin wandte sich Bulgarien an den Rat des Völkerbundes und übergab ihm die Entscheidung des Streites, wobei es jedoch gleichzeitig das Problem der "bulgarischen Minderheit" in Jugoslawien ansprach.? Jugoslawien , von dem bulgarischen Standpunkt überrascht, erklärte sein Einverständnis, den Konflikt in direkten Verhandlungen mit Bulgarien zu lösen. Auf diesem Wege wurde das Problem der "bulgarischen Minderheit" sowie das ihrer Rechte in Jugoslawien aus der Tagesordnung des Völkerbundes gestrichen. Die jugoslawische Regierung bestätigte ihr Einverständnis, indem sie an Sofia eine Note richtete, in der sie - unter Berufung auf die Artikel 118-120 des Vertrages von Neuilly - gleichzeitig forderte, daß Bulgarien alle mazedonischen Organisationen verbiete sowie alle bulgarischen, aus Mazedonien stammenden Beamten des Grenzdienstes entläßt. Die beiden Forderungen lehnte Bulgarien mit der Note vom 16. August 1922 als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten kategorisch ab. Die genannte Note nahm Jugoslawien zur Kenntnis,
7
AAN, MSZ, B. 5984, Bericht des polnischen Legationsrates Smogorzewskis vom 4.9.1922.
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ohne jedoch zu reagieren, da es befürchtete, daß das Problem der "bulgarischen Minderheit" in Jugoslawien vom Völkerbund erneut erörtert werden könnte. 8 Stambolijski nutzte die Unterstützung Frankreichs, das konsequent eine Annäherung zwischen Jugoslawien und Bulgarien anstrebte, und suchte nach Möglichkeiten, die Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern zu entspannen und zu bessern. Im März 1922 stellte der bulgarische Gesandte in Belgrad Kosta Todorow dem jugoslawischen Außenminister Momcilo Nincil einen Entwurf vor, den Eisenbahnverkehr zwischen Bulgarien und Jugoslawien zu normalisieren und zu verbessern. Für Bulgarien würde eine Eisenbahnverbindung über Jugoslawien Exportwege nach Westen öffnen, für Jugoslawien würde der Transit über Bulgarien den freien Weg nach der Türkei bedeuten. Der Entwurf stieß auf Interesse des jugoslawischen Außenministeriums. 9 Außerdem wurden bulgarisch-jugoslawische Verhandlungen über die Bekämpfung des Terrorismus auf beiden Seiten der gemeinsamen Grenze aufgenommen. Es wurden einführende Diskussionen begonnen über die Einberufung einer gemischten Kommission zur Kontrolle des Grenzverkehrs sowie über die Entlassung von Beamten, die aus Jugoslawisch-Mazedonien stammten oder aber der Zusammenarbeit mit Terroristen verdächtigt waren. Zum Kampf gegen den Terrorismus entsandte die Sofioter Regierung zwei Bataillone nach Petric und Melnik. Es waren politische Aktionen, die dem Besuch Stambolijskis in Belgrad im November 1922 zuvorkamen. Wie der bulgarische charge d'affaires Ludskanow-Cankow bekanntgab, erklärte sich die Regierung Jugoslawiens bereit, den bulgarischen Ministerpräsidenten zu empfangen, und zwar unter Einflußnahme und auf Drängen Frankreichs. 10 . Die Gespräche in Belgrad brachten lediglich nur einen Teil der von Stambolijski erwarteten Ergebnisse. Die Regierung Jugoslawiens versprach, auf der in dieser Zeit tagenden Konferenz in Lausanne die Forderung nach der Bildung eines neutralen Korridors entlang des Marica bis zu dem Hafen Dedeagac zu unterstützen, wenn Bulgarien im Gegenzug den jugoslawischen Anspruch auf Nutzungsrechte im Hafen Saloniki unterstützte. Die bulgarische Regierung verpflichtete sich darüber hinaus, den Bestimmungen des Vertrages von Neuilly zu folgen und verzichtete auf alle möglichen territorialen Forderungen gegenI
AAN, MSZ, B. 5985, Bericht Oka:ckis vom 22.3.1922.
9
AAN, MSZ, B. 5984, Bericht Smogorzewskis vom 20.10.1922.
10
ANN, MSZ, B. 5983, Bericht Oka:ckis vom 27.9.1921.
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über Jugoslawien. Beschlossen wurde die Bildung einer gemischten bulgarischjugoslawischen Kommission zur Regelung aller bestehenden Streitfragen. 11 Stambolijski nahm Belgrader Regierungskreise sowie die Presse für sich ein, die letztere sprach sich für Annäherung aus. Die Besserung der Beziehungen zwischen Bulgarien und Jugoslawien führte zu einer Verschärfung der inneren Lage in Bulgarien sowie zur Intensivierung der Aktionen der IMRO. Am 4. Dezember 1922 übernahm eine der bewaffneten Gruppierungen der IMRO"Verhovisten" die Macht in der Ortschaft Kjustendil. Nach Kjustendil kam aus Sofia der Oberbefehlshaber der bulgarischen Streitkräfte Minister Tomow, der mit den Anführern der Aktion Gespräche aufgenommen hat. Innenminister Daskalow entsandte dorthin bewaffnete Einheiten der Garde (Zelene garde) der Bauernpartei, um Ordnung herbeizuführen. Die bulgarische Garnison der Stadt, Stambolijski gegenüber feindlich gesonnen, verhielt sich neutral. Die Ereignisse in Kjustendil zeigten deutlich, daß die von Alexandrow geführte Organisation sehr kräftig und daß die bestehende Staatsmacht nicht voll imstande war, die innere Ordnung im Lande aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wurden auch Aktionen der IMRO auf dem Gebiet Jugoslawiens intensiviert. Ihr Terrorismus richtete sich hauptsächlich gegen die serbische Bevölkerung, die sich als Ergebnis einer gezielt geführten Aktion massenweise in Mazedonien ansiedelte. Ihrerseits gingen die serbischen Behörden mit der IMRO zusammenarbeitenden Bevölkerung rücksichtslos um. Die von der Sofioter Regierung gegen die IMRO unternommenen Schritte brachten Protegorow, einen der führenden Vertreter dieser Organisation, dazu, die Vereinigung der gesamten mazedonischen Bewegung in Bulgarien vorzuschlagen. Der Vereinigungskongreß fand Ende Januar 1923 statt. Die bisher bestehenden Kampfeinheiten wurden dem Oberkommando der Gesellschaft "Ilinden" unterstellt. Die neue, vereinigte Organisation begann, die Zeitschrift "Unabhängiges Mazedonien" herauszugeben. In Wirklichkeit stand die Politik der mazedonischen Organisation weiterhin unter dem Einfluß der "Verhovisten", d. h. der Gruppe um Aleksandrow. Unter ihrem Kommando führte die mazedonische Organisation weiterhin ihren Kampf, dessen Ziel es war, eine Annäherung zwischen Jugoslawien und Bulgarien unmöglich zu machen. Bewaffnete Gruppen überschritten weiterhin die Grenze und verbreiteten Gerüchte über die Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes zur Befreiung Mazedoniens im Frühjahr 1923. Am 25. Januar 1923 verurteilte Stambolijski in einer Rede die
11
AAN, MSZ, B. 5984, Chiffretelegramm Smogorzewskis vom 11.11.1922.
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Tätigkeit der mazedonischen Organisationen. Einige Tage später wurde auf ihn ein Attentat verübt, das jedoch mißlang. t2 Ein weiterer konsequenter Schritt Starnbolijskis war es, am 23. März 1923 eine Vereinbarung mit Jugoslawien zu unterzeichnen. Die Vereinbarung, in Ni!; unterschrieben, betraf: gemeinsame Aktionen gegen Terroristen entlang der bulgarisch-jugoslawische Grenze, die Zusammenarbeit der Grenzschutzdienste, Auslieferung von Strafflilligen sowie Verfolgung von Personen, die Terrorakte unterstützt hatten und Amnestie für Auswanderer, die heimkehren möchten. \3 Auf die Unterzeichnung der Konvention mit Jugoslawien reagierten die mazedonischen "Verhovisten" mit Terroraktionen in den Städten Kjustendil und Newrokop sowie Sabotage auf dem Gebiet von Jugoslawisch-Mazedonien. Die bulgarische Opposition nannte die Vereinbarung von Ni!; nationalen Verrat. Starnbolijski verlor in zahlreichen politischen Kreisen an Einfluß und Popularität. Nach der Parlamentswahl im April 1923 "verschärfte" Starnbolijski seinen Kurs gegen die Kommunisten, die - nach seinem Ermessen - den Kern der Opposition gegen seine Regierung darstellten. Die innere Krise wurde von den bürgerlichen Gruppierung sowie reaktionären Offizieren ausgenutzt, die in der Nacht zum 9. Juni 1923 einen Militärputsch durchführten. An dem Putsch beteiligten sich auch aktiv die Einheiten der IMRO. Ministerpräsident Starnbolijski wurde gefangengenommen und ermordet. In Bulgarien begann eine Diktaturperiode. Der neue Ministerpräsident, Alexander Zankow, unterstellte den von Mazedoniern bewohnten Kreis Petric als eine Art Lehen der ausschließlichen Verwaltung seiner einstigen Mitarbeiter aus der IMRO. Sie gründeten dort eine eigenständige, 8.000 Mann starke Truppe, die aus den sog. "Komitati" bestand, und verwandelten den Kreis Petric in einen Staat im Staat. Die Einheiten der IMRO beteiligten sich auch daran, den in der Nacht zum 20. September ausgebrochenen kommunistischen Aufstand niederzuschlagen.
12 T. Wlachow, Wyrchowizmyt i welikobylgarskite !owinisti krepiteli nabylgarskija monarchizym. Sofija 1947, S. 21-23; H. SundJulUssen. Geschichte Jugoslawies. 1918-1980. Stuttgart 1982. S. 75; G. Rhode. Die südosteuropäischen Staaten von der Neuordnung nach dem I. Weltkrieg bis zur Ära Bulgarien 1918-1968. in: Th. Schieder (Hrsg.) Handbuch der Europäider Volksdemokratien. schen Geschichte. Bd. 7. Stuttgart 1979. S. 1247.
m
13 Die Stellungnahme zu dem in Ni! unterzeichneten Abkommen ist in der Rede Ni~il enthalten. die er vor dem jugoslawischen Parlament am 8.6.1923. hielt. s. M. NinCil: Spoljna politika Kraljevine Srba. Hrvata i Slovenaca u god. 1922-1924. Beograd 1924, S. 29/30 und B. Kesjakow: Prinos kym diplomatit\eskataistorija na Bulgarija 1878-19253. Sofija 1925. S. 283/283. Text 202.
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Die Einheiten Alexandrows erstickten den Aufstand im Kreis Razlog und beteiligten sich, zusammen mit den Einheiten Zankows, an der Zerschlagung der Aufständischen im nördlichen Teil Bulgariens. Persönliche Abrechnungen zwischen Mitgliedern der IMRO und der Kampf um die Führung im der Organisation führten dazu, daß der bisherige Anführer dieser Organisation, Alexandrow, ermordet wurde. Als der hauptsächliche Inspirator und Organisator der politischen Szene Mazedoniens erschien der ehemalige Sekretär Alexandrows aus der Zeit seines Aufenthaltes in Sofia, Iwan (Waneo) Mihajlow. Da er die Rolle des Anführers der IMRO beanspruchte, verwirklichte er eifrig die Pläne der bulgarischen Regierung. Mihajlows Terroristen setzten ihre Aktionen fort, die eine Zersplitterung und Verfeindung der politischen mazedonischen Bewegung bezweckten. Dem Terrorismus Mihajlows fielen auch führende Vertreter der mazedonischen Bewegung zum Opfer: am 13. September 1924 wurde in Sofia HadZi-Dimov, der damalige Anführer der mazedonischen Linken, getötet, im Jahre darauf in Mailand Caulev, Ül Wien, Panica, und in Prag der ehemalige Minister der Bauernregierung, Daskalow. 14 1926 kam es in Bulgarien zu inneren Umbildungen und auch zum Rücktritt Zankows, des Anführers des Staatsstreiches von 1923. Neuer Ministerpräsident wurde Andrej Ljaptschew, der zwar aus der Stadt Resen in jugoslawischen Mazedonien stammte, aber trotzdem nicht weniger als Zankow antiserbisch eingestellt war. Die hauptsächliche Schwierigkeit bestand darin, daß jede damalige bulgarische Regierung gezwungen war, das Gewicht der starken und gut organisierten mazedonischen Emigration, die dem rechten Flügel der IMRO untergeordnet war, zu berücksichtigen. Die Anführer dieser Organisation waren mit keinerlei Form des Ausgleiches in den bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen einverstanden. Die sehr schwierige Lage an der Grenze zwischen Bulgarien und Jugoslawisch-Mazedonien war Anlaß zur Unruhe in Belgrad sowie Ursache zahlreicher Spannungen zwischen den beiden Regierungen. Die Einheiten der IMRO, die aus Bulgarien nach Serbisch-Mazedonien hinübergingen, erhielten in manchen Fällen Unterstützung der dortigen Bevölkerung, bei der die Serben verhaßt waren. Wenn die Bevölkerung die IMRO unterstützte, dann eher wegen ihrer antiserbischen Einstellung denn als .Zeichen ihrer Unterstützung für das Programm der IMRO selber, die damals schon deutlich mit der bulgarischen Regierung verbunden war. Die mazedonische Bevölkerung wollte sich zwar vom serbischen Joch befreien, sie wollte aber auch wiederum an Bulgarien 14
D. Vlahov, Makedonija. Momenti od istorijata na makedonskiot narod. Skopje 1950. S. 308.
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fallen. Dieses Problem ist bis heute nicht völlig geklärt und wird von der mazedonischen Geschichtsschreibung einerseits und der bulgarischen andererseits unterschiedlich dargestellt. Da zahlreiche Quellen unzugänglich sind, andere wiederum während des letzten Weltkrieges zum Teil vernichtet wurden, bestehen wenige Chancen, das Problem eindeutig zu klären. Es war ziemlich auffallend, daß sich die Aktivitäten der aus Sofia geleiteten IMRO fast ausschließlich gegen Jugoslawien (das Königreich SHS) richteten und lediglich in einem viel geringeren Maße gegen den anderen Nachbarn, d. h. Griechenland, dem ja ein viel größerer Teil Mazedoniens gehörte als Jugoslawien. Dies läßt sich nur zum Teil damit erklären, daß wegen der von der griechischen Regierung durchgeführten Aussiedlungen und massenhaften Kolonisierung des Ägäis-Mazedonien von Griechen aus Vorderasien eventuelle Aktionen der IMRO in Ägäis-Mazedonien auf keine Unterstützung der dortigen Bevölkerung rechnen konnten, wie es in Serbisch-Mazedonien der Fall war. Es scheint, daß der ausschließlich oder fast ausschließlich antiserbische Charakter der IMRO-Sabotageaktionen damit im Zusammenhang stand, daß sich der Antagonismus der Sofioter Regierungskreise viel stärker gegen die Serben als gegen Griechenland richtete. lS Der Ausgleich in den jugoslawisch-bulgarischen Beziehungen auf einer breiteren internationalen Ebene erwies sich als sehr schwer realisierbar. Die Beziehungen zwischen den beiden slawischen Ländern wurden von einer Menge komplizierter politischer, territorialer und nationaler Probleme bestimmt, die aus der Vergangenheit geerbt wurden. Die unternommenen Versuche, die Beziehungen zu bessern, wurden durch gegenseitiges Mißtrauen, häufige Zwischenfälle und gegenseitige Beschuldigungen erschwert oder gar unmöglich gemacht. Die beiden Seiten bedienten sich Methoden, die in keinem Fall den gültigen Normen und internationalen Konventionen Rechnung trugen. Die terroristischen Aktivitäten Iwan Mihajlows Anfang der dreißiger Jahre verursachten, daß die Beziehungen immer gespannter wurden, was jedwede Verständigung von vornherein unmöglich machte. Außerdem unterstützte der jugoslawische Gesandte in Sofia Vukcevii ein breit angelegtes Spionagenetz in Bulgarien, währendjugoslawische Industrie- und Finanzkreise seit 1931 halfen, die Opposition gegen die Regierung des Ministerpräsidenten Nikola Muscha15 Im Oktober 1925 kam es an der bulgarisch-griechischen Grenze zu einem Zwischenfall, bei dem ein griechischer Soldat erschossen wurde. Daraufhin überschritten griechische Truppen nahe der Ortschaft Kula die bulgarische Grenze und nahmen die Stadt Petri~ unter Artilleriebeschuß. Die lokale IMRO-Organisation mobilisierte ihre Abteilungen. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den IMRO-Abteilungen und griechischen Truppen. Mehr dazu vgl. J. Barras, The League of Nations and the Great Powers. Tbe Greek-Bulgarian Incident 1925, Oxford 1970.
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now aufzubauen. Die Hilfe für die mit Jugoslawien verbundenen Emigranten aus dem Bulgarischen Volks- und Bauernverband (BZNS) betrachtete die bulgarische Regierung als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Bulgariens. Die Forderung Muschanows hingegen, "der bulgarischen Minderheit" in Mazedonien gebürende Rechte zu gewähren, wurde von Belgrad mit großem Mißtrauen aufgenommen und rief dort Verbitterung hervor. Häufige Provokationen verursachten wachsende Spannung in den gegenseitigen Beziehungen, wofür sich die beiden Seiten gegenseitig verantwortlich machten, während sie gleichzeitig ihre Bereitschaft erklärten, die Lage zu verbessern. Wesentliche Anzeichen einer Verbesserung in den bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen konnten erst seit 1933 beobachtet werden. 16 In dieser Zeit entwikkelte der neue Gesandte Bulgariens in Belgrad Kjoseiwanow, Befürworter gutnachbarlicher Beziehungen zwischen den beiden Ländern, eine sehr aktive Tätigkeit. Im Herbst 1933 kam es zu einigen Treffen der Herrscher beider Balkanstaaten. Das erste fand am 18. September auf dem Bahnhof in Belgrad, das andere in Ewksinograder Palast bei Wama statt. Im Dezember 1933 folgte der Besuch von König Boris in Belgrad. Trotz einer wesentlichen Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen blieb das Problem der "bulgarischen Minderheit" in Serbisch-Mazedonien, das von Bulgarien ständig hervorgehoben wurde, immer aktuell, parallel dazu auch bulgarische Forderungen, die gemeinsame Grenze zu korrigieren, was von Jugoslawien entschieden abgelehnt wurde. Belgrad zeigte freilich weiterhin sein Interesse an einer Annäherung mit Bulgarien, was eine zusätzliche Garantie für .die Verteidigung territorialer Interessen Jugoslawiens bedeuten konnte. Belgrad strebte die Einbeziehung Bulgariens in den am 9. Februar 1934 abgeschlossenen Balkanpakt an. Die jugoslawisch-bulgarische Annäherung förderte Frankreich. Sie war jedoch für Italien nicht erwünscht, das dank Unterstützung Bulgariens die Außenpolitik Jugoslawiens in Schach halten konnte. Die jugoslawische Diplomatie unternahm Anstrengungen, eine zweiseitige Vereinbarung mit Sofia zu erreichen und startete eine Aktion, Bulgarien dem Balkanpakt anzuschließen. Zu wesentlichen Änderungen in dieser Angelegenheit kam es erst in den Jahren 1934/35. Am 19. Mai 1934 verübten die Mitglieder der Gruppe "Swe-
'6 In Threr Arbeit: Polska-JugoslEawia 1934-39, WroclEaw 1977, schreibt A. Garlicka auf Seite 26 über die Versuche einer Verständigung mit Bulgarien, die Jugoslawien im Jahre 1932 unternommen haben soll. Einen anderen Standpunkt vertreten K.Manfew und W. BystrickY, op. cit., S. 68, die die Anfänge der jugoslawisch-bulgarischen Annäherung auf 1933 datieren. Auch E. Barker schreibt in ihrer Arbeit: Macedonia. Its Place in Balkan Powers Politics, London 1950, auf Seite 27: "Die Beziehungen zwischen Jugoslawien und Bulgarien bleiben bis zum Jahre 1933 gespannt" .
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no" und der Militärbund einen Staatsputsch und übernahmen die Macht in Bulgarien, indem sie eine neue Regierung mit Oberst Kimon Georgijew an der Spitze bildeten. Georgijew selbst und die von ihm repräsentierten Militärkreise sowie auch Vertreter des überparteilichen Zirkel "Sweno" waren entschlossen, eine dauerhafte Besserung in den Beziehungen mit Jugoslawien herbeizuführen. Dieses Bestreben wurde seither zum hauptsächlichen Ziel der bulgarischen Außenpolitik und sollte Bulgarien helfen, die politische Isolation zu überwinden, in die Bulgarien durch den antibulgarischen Balkanpakt geraten war. Georgijew unternahm auch den Versuch, einen Durchbruch in den Beziehungen mit anderen Nachbarländern zu erreichen, die kurz vor dem Regierungssturz in Bulgarien zu einer Isolation dieses Landes auf dem Balkan führten. Die größte Bedeutung für die weitere Entwicklung der bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen kam jedoch den entschiedenen politischen Willen Georgijews zu, der unaufhörlich seine Bereitschaft erklärte, sich Jugoslawien anzunähern. 17 Nach dem 19. Mai 1934 beschloß die bulgarische Regierung, die IMRO Mihajlows aufzulösen. Indem sie die wichtigste, von Jugoslawien gestellte Bedingung für die weitere Annäherung zwischen den beiden Ländern erfüllte, wollte sie auch zugleich das Vertrauen der jugoslawischen Regierung gewinnen. Die regulären Truppen der bulgarischen Armee besetzten schnell den Kreis Petric und zerschlugen die dort stationierten Kampfeinheiten der IMRO. Der Kreis wurde verwaltungsmäßig aufgeteilt, Teile wurden den Kreisen Plowdiv und Sofia angeschlossen. Eine mazedonische Demonstration in Sofia, die dagegen protestierte, wurde durch die Polizei zerschlagen. 18 Mazedonische Anführer, die sich in Sofia aufhielten, wurden entweder verhaftet oder gezwungen, auf jede politische Betätigung zu verzichten. Lediglich Mihajlow gelang es, über die türkische Grenze zu fliehen. Verhaftet wurden auch Mitglieder des Vollzugskomitees der IMRO, Nastew und Draganow, die bei einem Versuch, die türkische Grenze zu überschreiten, festgenommen wurden. 19 Darüber hinaus wurden auch zahlreiche Mitarbeiter und Funktionäre der legalen Mazedonischen Bruderschaften verhaftet, deren Vorstände wurden aufgelöst. Es wurden Wahlen neuer Vertreter der Mazedonischen Bruderschaften und Gesellschaften durchgeführt, die in keinerlei Beziehungen zu Mihajlow standen. Trotzdem bestand weiterhin eine starke Opposition, an der Anhänger
17
Z. Avramovski: Balkanske zemlje i velike sile 1935-1937, Beograd 1968, S. 237-261.
11
"SlovenskY pfehled" 1934, Nr. 6, S. 105.
19 Ibidem, Nr. 9, S. 271; I. Stawowy-Kawka, Macedonia w polityce paftstwba.ecaftskich w wieku, Krak6w 1993, S. 64-66.
xx
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des alten Kurses beteiligt waren. Anstelle der nun verbotenen "Mazedonischen Wahrheit" begann die Wochenzeitung "Mazedonisches Wort" zu erscheinen. Die Regierungen Bulgariens und Jugoslawiens wandten sich an die Türkei mit der Forderung, Mihajlows auszuliefern, er selber wurde aufgefordert, vor dem Militärgericht in Sofia vorstellig zu werden. Die Türkei kam dem Auslieferungsantrag nicht nach, erlaubte aber Mihajlow die Ausreise. Das Gericht in Gorna Dzumaja verurteilte den Flüchtling zum Tode. Alle diese Maßnahmen erlaubten eine Annäherung zwischen den beiden Ländern, und die Regierungskreise konnten nun behaupten, daß "die Mazedonische Frage gelöst wurde". Es ist aber wenig wahrscheinlich, daß Bulgarien auf seinen Anspruch auf Mazedonien verzichtete. Man kann eher davon ausgehen, daß zumindest in jener Zeit das Problem Mazedoniens aus politischen Gründen auf die lange Bank geschoben wurde und so die bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen tatsächlich nicht wesentlich belastete. OffIZiell hat die bulgarische Regierung den Funktionären der aufgelösten IMRO die antijugoslawische Propaganda verboten. In Belgrad lebten jedoch und waren auch, wenn auch nicht besonders intensiv, die Auswanderer aus der Bauernpartei Stambolijskis politisch aktiv, was auf Unbehagen Sofias stieß und zu gegenseitigen Mißverständnissen führte. Trotzdem schien es damals, daß der Streit um Mazedonien erlosch. Die mazedonischen Organisationen in verschiedenen europäischen Ländern20 und in Amerika blieben aber weiterhin aktiv, wobei sie vornehmlich an dem Kurs von Mihajlow festhielten. Es kam auch zu einer Verständigung zwischen Mihajlow und der antijugoslawischen, kroatischen "Ustaäa"-Organisation Ante Pavelüs. 21 Freundschaftliche Beziehungen zwischen Jugoslawien und Bulgarien brachten Fruchte: Am 25. Januar 1937 wurde der Vertrag über "die ewige Freundschaft"22 und am 31. Juli 1938 das Abkommen zwischen Bulgarien und den Mitgliedern des Balkanpaktes in Saloniki unterzeichnef3.
20 Noch nach ihrer Auflösung war es ein ehemaliges IMRO-Mitglied, der Chauffeur Mihajlows, der arn 9.10. 1934 König Alexander von Jugoslawien in Marseille ennordete. 21
S. Troebst, Mussolini, Makedonien und die Mächte 1922-1930, Köln-Wien 1987.
22 B. KriZ/1liJ1l, Vanjska politikajugoslavenske dd.ave 1918-1941, Zagreb 1978, Dok. Nr. 21, S. 165; K.H. Schlarp, Jugoslawien- Vielvölkerstaat in der Krise. Die Geschichte eines gescheiterten Experiments, in: B. Bonwetsch u. M. Grieger (Hrsg.) Was früher hintenn Eisernen Vorhang lag. Kleine Osteuropakunde vom Baltikum bis Bessarabien Dortmund 1991, S. 182.
23
D. Sirlcow: Wyn§nata politika na Bylgarija 1938-1941, Sofija 1979, S. 41-56.
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Erst im April 1939 erinnerte sich Bulgarien an seine territorialen Ansprüche gegenüber Jugoslawien, und in den folgenden Jahren, d. h. den Kriegsjahren, spielte das Problem Mazedoniens in der deutschen Politik auf dem Balkan die Schlüsselrolle. Die Erwartungen Bulgariens Mazedonien gegenüber wurden dann präzisiert und auch realisiert.
Jugoslawischer Nationalismus zwischen den Weltkriegen Das Nachspiel des Krieges Von Guy Warner
A. Einführung Am Ende des Ersten Weltkrieges war die Zerstörung im Land, das Jugoslawien werden sollte, furchtbar und weitverbreitet. Eine Million Serben, das heißt, ein Drittel der Bevölkerung, war tot. Auch die Jugoslawen in der Habsburger Monarchie hatten schwere Verlust an Menschenleben und Finanzen erlitten. Die Überlebenden waren erschöpft und unterernährt. Der Verlust an Vieh würde erst nach zwanzig Jahren wieder gutgemacht werden können, und die Getreideproduktion war um 25 bis 50% gefallen. Die Sparkassen waren erschöpft, und es gab wenig Geld für Kapitalanlagen; die steigende Inflation ruinierte viele Leute der Mittelklasse. Und der Optimismus im Handel war tief gesunken. 1 Rekonstruktion und nationale Entwicklung wurden weiterhin kompliziert durch die neuen Grenzlinien, welche die Kommunikationssysteme der früheren Nationen durchschnitten. Das neue Königsreich hatte sechs verschiedene Zollbereiche, fünf Geldsorten, vier Eisenbahnsysteme und drei Banksysteme geerbt. 2 Um die Situation noch mehr zu komplizieren, waren Slowenien und Kroatien von ihren Märkten im ehemaligen Österreich-Ungarn abgeschnitten. In einem Land, das hauptsächlich aus Bauern und sehr verschiedenen Arten der Landwirtschaft bestand, brachte eine Landreform der neuen Regierung schwere Probleme, und das galt auch für die Einführung einer neuen Währung und einer gemeinsamen Gesetzgebung. 3 Elend und Armut herrschten in den ersten Tagen des Königreichs.
1
Phi/ip Longwonh, The Making of Eastern Europa, New York, 1994, S. 69.
2 Dimitrje, Djordjevic, "The Yugoslawv Phenomenon", in The Columbia History of Eastern Europe in the Twentieth Century New York 1992, S. 325.
3
Djordjevic, S. 315.
19 TImmermann
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Für die neugeborene Nation herrschte leider der Ausspruch nec tecum sine te (nicht mit dir, aber auch nicht ohne dich), welches die Idee des südslawischen Nationalismus immer noch charakterisierte. 4 Vor und auch nach dem Ersten Weltkrieg erkannte das Königreich seinen multinationalen Charakter nicht an. Vor und während des Krieges aber bestanden die Anhänger der jugoslawisehen Vereinigung auf dem Wunsch, 'unser Volk' zu vereinigen. 5 Die Bevölkerung, von ausländischer pro-jugoslawischer Aktivität abgeschnitten, wartete auf die militärischen Resultate des Weltkonflikts. Gegen Ende des Krieges wuchs die Allgemeinstimmung für Vereinigung. Im August 1918 schätzte General Stjepan Sarkotic, der letzte kaiserliche Gouverneur von Bosnien, daß 100% von Dalmatien für eine jugoslawische Vereinigung war, und daß zirka 60% von Kroatien Slowenien, Bosnien und Herzegovina eine Vereinigung billigten. 6 Aber das war typisch für die oft sehr verschiedenen Ansichten der Politiker und des Volkes an sich. Die jugoslawischen Sozialisten der Habsburg-Monarchie und auch die serbischen Sozialisten waren von der Idee der südslawischen Vereinigung fest überzeugt, aber sehr verschieden in ihrer Auffassung, wie dies zustande kommen sollte. 7 Die südslawischen Sozialisten träumten von einem Reich, bestehend aus "einer Nation", einer "demokratischen Konföderation" im habsburgischen Kaiserreich, in welchem jede Mitgliedsnation kulturelle Autonomie genießen würde. Aber die serbischen Sozialisten stimmten mit dieser Idee der Selbstbestimmung nicht überein, ein Phänomen, das erst im Nachspiel des Ersten WeltkriegS aufkam. Dies war aber nicht sofort zu erkennen. Die erste Nachkriegsnummer der serbischen Sozialistenveröffentlichung Radnick Novine, vom 2. Dezember 1918, drückte den sozial und kulturell akzeptierten Glauben aus, daß Serben, Kroaten, und Slowenen ein Volk seien, denn sie haben dieselbe Sprache und andere ethnische Züge gemeinsam. Weiterhin fühlten sie sich als ein Volk und wollten vereinigt werden. Daher repräsentierte ihre Einigung zu einem nationalen Staat eine große politische, ökonomische und kulturelle Notwendigkeit, die nicht in Frage gestellt werden
4
Djordjevic, S. 306.
S
Djordjevic, S. 310.
6
Djordjevic, S. 310.
7 Wayne S. Vucinich "Nationalism and Communism", in Contemporary Yugoslavia, Berkeley 1969, S. 236.
8
James MayalI, Nationalism and International Society, Cambridge 1990, S. 38.
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konnte. 9 Sogar die Kommunisten waren einem "geeinten Jugoslawien" gewogen.
B. Elemente der Zersplitterung Trotz solcher Hoffnung konnte die jugoslawische Einheit nicht leicht erreicht werden. Die Bevölkerung war durch die südslawische Ethnie verbunden, aber durch spezifische nationale Loyalitäten getrennt, vereint in gemeinsamer nationaler Frage, aber auseinandergehalten durch die Mundarten, eins in der Not für das Überleben, aber aufgesplittert durch Geschichtsablauf, Alphabete, Religionen und Kulturen; die Idee eines Jugoslawien ist in der Vergangenheit und der Gegenwart befürwortet und angegriffen worden wegen der gemeinsamen und auseinandergehenden Interessen von Menschengruppen, die unwiderruflich gemischt sind, gebunden sowohl als auch feindlich eingestellt sind. 10 Obwohl sie zu Ende des Ersten Weltkriegs im Verlangen nach Frieden und Unabhängigkeit von fremder Beherrschung und Unterdrückung übereinstimmten, hatten sie doch keine einheitliche Philosophie, auf der sie eine neue politische Gesellschaft autbauen konnten. ll Ihr "Erbe war der Fluch des Separatismus. ,,12 Beherrscht von verschiedenen Mächten, trugen die geopolitischen Zustände im Balkan dazu bei, zentrifugale Tendenzen zu stärken; man bestand auf Andersartigkeit und Diffusion mehr als auf Vereinigung. So waren die Jugoslawen nicht imstande, an der politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und religiösen Entwicklung teilzunehmen, wie es andere Nationen taten, und "als der alte Traum von nationaler Einheit sich endlich verwirklichte, waren separatistische Stammesinstinkte bereits zu tief verwurzelt, um Loyalitäten einen Weg zu schaffen."13 Trotzdem wachten 1918 zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Jugoslawen in demselben Land auf. Einen ernsten Widerstand gegen eine Vereinigung gab es nicht. Man war enthusiastisch über den Sieg und das Kriegsende und voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft. 14 Aber dieser Zustand hielt sich nicht lang, 9
Vucinich, S. 238.
10
Djordjevic, S. 306.
11
J. B. Hoptner, Yugoslavia in Crisis: 1934-1941 (New York 1963), S. 2.
12
Jospeh S. Roucek, The Politics of the Balkans (New York 1939), S. 62.
\3
Roucek, S. 62.
14
Djorjevic, S. 314.
19*
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denn, wie John Stuart Mill sagte, freie Istitutionen sind beinahe unmöglich in einem Land, das aus verschiedenen Nationalitäten besteht. Um erfolgreich zu sein, müssen nationalistische Bewegungen politisch homogen sein - je mehr, desto besser - und benötigen Einheit, die auf religiösem Glauben, Sprache, Stammeszugehörigkeit oder Übereinstimmung von Werten und Gebräuchen basieren. 15 Von diesem Standpunkt aus gesehen, war Jugoslawien von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Es war, wie Minogue sagte, "besiegt durch Definition" .16 Manchmal beginnt "der Nationalisismus als ein Dornröschen und endet als ein Frankenstein Monstrum".17 Er ist eine Art Fantasie, die oft nur "sehr schwache Beziehungen zum konkreten nationalen Leben hat" .18 Leider war das für das Jugoslawien nach dem Ersten Weltkrieg "der intensivste und auch der schlechteste" Nationalismus. 19 Für Europa im allgemeinen war der Nationalismus, "diese Mischung von nationalem Selbstbewußsein, ethnischer Leidenschaft, Kulturpolitik, schon seit langem eine Lebensphilosophie. ,,20 Besonders im östlichen Europa "ging der Nationalismus so tief und stark, daß er eine elementare, beinahe eine Schwerkraftnatur zu besitzen schien"21 Er ist eine Quelle politischer Instabilität und eine reductio ad absurdum des Nationalprinzips geblieben. 22 Dies war und ist auch noch besonders wahr in bezug auf die ursprünglichen ethnischen Gruppen, aus denen das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen 1918 bestand. Für diese Gruppen war der "spezifische Nationalismus mit einem Regionalismus verwickelt; oder falls solch ein Wort existierte, mit 'Ethnokratismen' verschiedener Art: religiös, sprachlich, kulturell und wirtschaftlich. 23 Diese Volksgruppen hatten keine gemeinsame Heimat; ihre Geschichte, Religion, IS
K. R. Minogue, Nationalism, New York 1967, S. 11.
16
Minogue, S. 11.
17
Minogue, S. 7.
18
Minogue, S. 213.
19
Minogue, S. 21.
20 Ivo J. Lederer, "Nationalism and the Yugoslavs, in Nationalism in Eastern Europe, Peter F. Sugar Ivo J. Lederer, (Hg.) Seanle 1969, S. 396. 21
Lederer, S. 396.
22
Minogue, S. 137.
23
Lederer, S. 396.
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kulturellen Traditionen, Alphabete und ihre Sozialstrukturen waren sehr verschieden. "Der Titel 'Jugoslawe' [Südslawe] repräsentierte 1918 einen Versuch, die trennenden Elemente zwischen den Gruppen dieser Vereinigung zu verwischen. 24 Trotzdem wurde die Idee des "Jugoslawismus" eine kulturpolitische Bewegung, die sich entwickelte, um eine gemeinsame kulturelle Identität, Befreiung und Vereinigung zu fördern. Und für eine Weile beherrschte diese Idee den separaten Nationalismus, zerstörte ihn aber nicht. Die Nation blieb das Mosaik, wie es war und auch noch ist; sie wurde nicht zum Schmelztopf, der so nötig gewesen wäre. Das Ganze fing an als ein Stückwerk von sich befeindeten und widersprüchlichen Religionen, welche verschiedenen Denominationen treu waren. Da waren die serbischen Orthodoxgläubigen (48 %), die römischen Katholiken (37%), Mohammedaner (11 %) und auch Griechische Katholiken. Altkatholiken, Lutheraner, Calvinisten, Adventisten, Juden und andere. Die drei größten Gruppen trugen besonders stark zur Zersplitterung nationalistischer Ziele bei. Es herrschte gegenseitiges Mißtrauen. Man bekämpfte die Motive und Taten der anderen. Die Katholiken sahen die Orthodoxen als Kirchenabtrünnige des elften Jahrhunderts und als Instrumente einer serbisch freundlichen Regierung an; die Orthodoxgläubigen mißtrauten den internationalen Beziehungen der römisch-katholischen Kirche. Die Tendenz der römischen Katholiken, die nicht nur von einheimischen Pfarrern, sondern auch von einem fremden Papst beherrscht waren, war verdächtig. Man sagte von den serbischen Seelsorgern, daß sie "mehr für das serbische Königreich als das Königreich Gottes kämpften. 25 Und Papst Pius X. verkündete, daß "eine endgültige Abrechnung mit Serbien, die die Monarchie bedrohte, können müßte. ,,26 Aber weder römische noch orthodoxe Katholiken trauten der von den Türken eingeführten Religion des Korans, den Minaretten und Moscheen. Die sich oft bekriegenden katholischen Gruppen waren doch wenigstens Religionsbrüder . Das aber war nicht der Fall mit Christen und Mohammedanern. Um die Lage noch mehr zu komplizieren, stimmten die Religionsgruppen gar nicht mit den Mischungen von Nationalitäten überein. Obwohl Serben, Kroaten und Slowenen kulturell und national die Mehrheit bildeten, war doch das Land selbst "die verwickelste Mischung von Rasse,
24
Lederer, S. 397.
2S
Djordjevic, S. 310.
26
Djordjevic. S. 310.
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Sprache, Gewohnheiten und Glauben, die man sich nur vorstellen kann. ,,27 Die Serben, welche vierhundert Jahre von den Türken beherrscht worden waren, wurden von Kroaten und Slowenen gleichermaßen als Barbaren betrachtet. Die Kroaten und Slowenen hingegen befanden ihre eigene Kultur als älter und auf höherer Stufe, infolgedessen fühlten sie sich kulturell überlegen. Trotzdem besetzten Serben im Königreich schon von Anfang an kulturell höhergestellte Positionen und hielten sich immerfort in den wichtigsten diplomatischen und militärischen Stellen. Tatsächlich war nur in fünf Monaten der Zwischenkriegsjahre der Regierungschef kein Serbe; Kroaten und nichtslawische Minderheiten wurden als Bürger zweiter Klasse betrachtet. Sogar die Slowenen erreichten allmählich einen hohen Grad von Autonomie im Staat. 28 Da sie unter österreichischer Herrschaft Erfahrungen in der Verwaltung gesammelt hatten, waren sie besser geschult als ihre südslawischen Mitbrüder . Deshalb erhielten sie oft hohe Posten in der Verwaltung. Die Tatsache, daß die herrschenden Serben die Slowenen oft bevorzugten, kann wenigstens teilweise dadurch erklärt werden, daß in Slowenien nie sehr starke Separatistengruppen existierten, und daß "serbische Herrschaft in Slowenien nie denselben Groll als in Kroatien erregte. ,,29 Sogar die slowenische Sprache wurde im Lauf der Zeit offiziell anerkannt. Aber Slowenisch war nur eine Sprache unter anderen, und so war auch dies ein Teil des Problems mit dem jugoslawischen Nationalismus. Obwohl Serben und Kroaten dieselbe Schriftsprache hatten, gebrauchten die einen das lateinische, die anderen das kyrillische Alphabet. "Es bilden sich große Schwierigkeiten", so schrieb Minogue, "wenn die Theorie einer nationalen Sprache mit Regionen, in denen keine Mundart sichtlich die Herrschaft hat, zusammenstößt. "30 Außerdem wird die Frage der Sprache von allen anderen feindlichen Gefühlen einer gemischten Gruppe beeinflußt, und so fühlt sich jedes Element dieser Gruppe bedroht. 31 Obwohl das serbische Element dominierte, war es doch unfahig, Spracheneinheit zu schaffen. Dieser Mangel an Einheit spiegelte sich in den mündlichen Überlieferungen ab und auch im Konflikt nationaler Symbole, wie zum Beispiel in der Musik, in den Feiern, Symbolen und Zeremonien. König Alexander verbannte alle Symbole individueller Gruppen und ersetzte sie mit einer einzigen jugoslawischen Fahne. Er 27
Roucek. S. 58.
28 Alan Palmer, The Lands between: A History of East-Central Europe since the Congress of Vienna New York. S. 190-191. 29
Palmer, S. 191.
30
Minogue, S. 121.
31
Minoque, S. 121.
Jugoslawischer Nationalismus zwischen den Weltkriegen
295
verschob auch den Feiertag der nationalen Konstitution, ein serbischer Nationalfeiertag, vom 28. Juni auf den 6. September, um Konflikte zwischen den Bürgergruppen zu vermeiden. Nichtsdestoweniger gab es wenig oder gar keine Regierungsrnaßnahmen, die jugoslawische Einheit in der Zwischenkriegszeit irgendwie wirklich zu fördern. Natürlich waren die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Völkergruppen ein weiteres Hindernis. Die ungleichen ökonomischen Verhältnisse fachten die Flammen des Separatismus weiter an. Die inkonsistente, aber weitverbreitete Zerstörung des Ersten Weltkrieges und die frappante Ungleichheit in der wirtschaftlichen Entwicklung im Vorkriegs-Jugoslawien trugen wesentlich zu den Schwierigkeiten der Zwischenkriegsjahre bei. 32 Nachdem man sich vom Krieg erholt hatte, begannen die industrialisierten Kroaten und Slowenen sich gegen die Steuern zu wehren, die zur Unterstützung der rein agrarischen Regionen von Serbien, Bosnien, Herzegowina, Montenegro und Mazedonien nötig waren. Es war der alte Konflikt zwischen reich und arm. Mayall behauptet, ökonomische Not - wirkliche und nur eingebildet - hatte tatsächlich oft die Flammen nationalistischer Revolution angefacht. 33 Und der Streit über die Notwendigkeit der ökonomischen Ausnutzung von Minoritäten hat nationalistischen Bewegungen oft als wichtiger Teil Ihrer Ideologie gedient. 34
C. Geschichte zwischen den Kriegen Wie die Zwischenkriegszeit in Jugoslawien, so ging auch der jugoslawische Nationalismus durch drei Stadien. In der Tat, so Minogue, da Nationalismus eine politische Bewegung mit dem Ziel nationale Identität zu erreichen ist und diese zu verteidigen, folgten die meisten Nationen diesem Prozeß. Zuerst gab es da "stirrings", wie er es nennt, eine Zeit, in der eine Nation oder Nationalität unter Unterdrückung anderer litten. Eine solche Nation fühlte sich nicht nur physisch unterdrückt, sie revoltierte auch gegen fremde Ideen und strebte nach einer kulturellen Identität. Da die drei größten ethnischen Gruppen im Zwischenkriegs-Jugoslawien vor dem Ersten Weltkrieg zu anderen größeren Nationen gehört hatten, gehörten sie ins erste Stadium. Das zweite Stadium, der "Kampf" um Unabhängigkeit, hatte gewöhnlich eine Unabhängigkeits12
Vucinich. S. 5.
11
James MayalI. Nationalism and International Society. Cambridge 1990 S. 70.
14
Minogue. S. 25-32.
296
Guy Warner
erklärung oder/und eine Konstitution als Grundlage. Dieser Vorgang war mit Gewalt, Demonstrationen oder/und mit friedlichen Verhandlungen verbunden. Man erfand oder hob Volkshelden und Nationalwerte hervor, welche für nationales Ehrgefühl nötig waren. Das dritte Stadium, Konsolidierung und Verfestigung, trat ein, wenn das überhaupt der Fall sein sollte, wenn die neugeborene Staatsnation imstande war, ihre eigene Wirtschaft zu entwickeln und nationalen als wie auch internationalen Status erreicht hatte. Nichts destoweniger liefen kulturell komplexe Nationen wie also Jugoslawien die Gefahr, sich aufzulösen, wenn ihr Kampf für Unabhängigkeit zu Ende war. 35 Was die nationale Entwicklung in Jugoslawien komplizierte, waren zwei Arten von Nationalismus, denen Serben, Kroaten und Slowenen ausgesetzt worden waren, und welche sie in der Zwischenkriegszeit aneinander praktizierten. Handman identifizierte diese als "Unterdrückungsnationalismus" und "Irredentism" (wörtlich, ein Unerlöstsein). Im ersteren versucht eine stärkere Gruppe eine schwächere zu kontrollieren und zu unterdrücken mittels ökonomischer, politischer und administrativer Maßnahmen. Die zweite von Handmans Kategorien "ist gewöhnlich ein Nationalismus, der lauter schreit als das unterdrückte Volk" ,36 größere Gruppen unterdrücken kleinere und finden so einen Stimulus in deren Leiden. Man nannte das Jahr 1918 den Zenith des jugoslawischen Staats. Freie Menschen waren im Begriff, eine neue Nation und eine neue Regierung zu erschaffen. Diesem Jahr indessen "folgten Zeiten allmählichen Zerfalls, da regionale Unterschiede und Nationalimen - vielleicht war das unvermeidlich sich zu entwickeln begannen. "37 Drängende soziale, ökonomische und Grenzprobleme wurden beiseite geschoben, während Partei und Parlamentsaktivitäten sich auf die "nationale Raserei" konzentrierten. Gleich von Anfang an hatten Serben und Kroaten andersartige und ungleiche Träume für ihr Land, und ihr gegenseitiges Mißtrauen wurde zum "Symbol der Trennung in der Familie. "38 Serben bevorzugten einen Zentralismus, während die Kroaten, die sich Autonomie erhofften, für einen lockeren Staatenverband kämpften. Die Serben, welche sich als Befreier ihrer kroatischen Brüder betrachteten, wünschten nichts als eine starke zentrale Regierung; für sie war "der Föderalismus ein Fluch, 3S
Minogue, S. 25-32.
36 Max Sylvius Handman, "The Sentiment of Nationalism", Polititical Science Quarterly, 36, (1921), S. 104-109.
37
Lederer, S. 434.
38
Lederer, S. 435.
Jugoslawischer Nationalismus zwischen den Weltkriegen
297
nah verwandt dem Separatismus. ,,39 Als nun das Königreich gegründet und die Serben sicher an der Macht saßen, "beschränkte sich die Regierung auf die Selbstkontrolle. ,,40 Die Kroaten, welche ihre ethnische Identität zu bewahren suchten, stellten sich den Serben als Opposition entgegen. Es folgten bittere Konflikte zwischen den Parteien, "in welchen Verbündete und Erzfeinde die Seiten auf dem politischen Schachbrett wechselten. ,,41 Aus der serbischen Perspektive waren die Kroaten "eine anscheinend unassimilierbare nationale Gruppe, deren politische Wünsche die innere Sicherheit des Staates bedrohten. ,,42 Die Kroaten, in ihrem nationalistischen Stolz, wurden zu Hindernissen oder Mörder in diesem Staat. Und obwohl das Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg für Jugoslawien unvergleichliche Möglichkeiten schuf, steuerte die Herrschaft der Serbischen Radikalen Partei über seine neun Nationalitäten und das fortwährende "Kroatenproblem" die neue Nation in stürmische Zeiten. Trotz Verfassung und König Alexanders Bemühungen, sein Volk zu einen, fuhr das Land fort, sich in viele sich gegenseitig bekämpfende Parteien und Nationalitäten aufzusplittern. Versuche mit Demokratie und Parlamentarismus, die zwischen 1919 und 1929 gemacht wurden, hörten schließlich auf. Das zweite Stadium im Jugoslawien zwischen den Kriegen begann plötzlich am 6. Januar 1929 mit königlichem Staatsstreich und anschließender Diktatur Alexanders. Die Konstitution wurde aufgehoben und die alten Provinzen abgeschafft. Ethnische Turnvereinigungen wurden aufgelöst und an ihrer Statt ein Gesamtjugoslawischer Turnverband gegründet. Das Land wurde umorganisiert, mit wenigen Provinzen - nur neun - welche die Namen von Flüssen trugen, um gefährliche, provozierende Namen wie "Serbien" und "Kroatien" zu vermeiden. Sogar das Land selbst, das "Königreich von Serbien, Kroatien und Slowenien," wurde auf "Jugoslawien" umgetauft. Eine erdrückende Kontrolle über die Presse wurde ausgeübt; widerständische Volksführer wurden ins Gefängnis geworfen, Parteiaktivitäten eingeschränkt. Überraschenderweise fand all dies keinen sofortigen Widerstand, vielleicht, weil die Menschen des politischen Streites müde waren, weil Geschäftsleute sich wirtschaftliche Stabilität erhofften, und weil wenige an der Permanenz des neuen Regimes glaubten. 43 39
Hoptner, S. 3.
40
Hoptner, S. 3.
41
Djordjevic, S. 318.
42
Hoptner, S. 21.
43
Djordjevic, S. 319.
298
Guy Warner
Der König machte energische Versuche, die monarchische Diktatur populär zu machen. Ohne Leibwache wanderte er durch die Straßen von Zagreb, sprach mit den Bürgern und befürwortete enthusiastisch die Solidarität des Vaterlands. 44 1931 führte er eine neue Verfassung ein, welche ihm weitgehende Macht gab. Diese war bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Kraft. Das Ziel des Königs war, einen gemeinsamen Patriotismus zu schaffen, welcher die vererbten Nationalismen der Vergangenheit überwinden sollte. 45 Besonders um den Fehlschlag des demokratischen Staates, das kroatische Problem zu lösen, zu überwinden. Später identifizierte sogar Mussolini dies als ein nationales Problem, das weder geleugnet noch verheimlicht werden sollte. 46 König Alexanders Versuche, separate Nationalismen zu unterdrücken, indem er die jugoslawische Einheit von oben erzwingen wollte, erstickte die Opposition nicht, sondern stärkte sie. 47 Der König wurde gezwungen, Konzessionen zu machen, und am 3.9.1931 gewährte er seinem Volk eine neue Verfassung. Drei Jahre später starb er, von kroatischen Ultranationalisten während eines Staatsbesuches in Frankreich ermordet. Alexanders Testament bestimmte einen Regenten, der während der Unmündigkeit seines Sohnes, des späteren Peter 11., herrschen sollte. Der erste Regent, Prinz Paul, ein britisch-geschulter Gentleman, war mit der Hitze der einheimischen Politik vollkommen unvertraut. Den Serben schien er pro-kroatisch, den Kroaten pro-serbisch. Ideologische Polarisation trieb die Gruppen nach extrem rechts und links; einige der linksgerichteten Gruppen fanden Unterstützung bei Mussolini, einem alten Feind Jugoslawiens. Die kroatischen Nationalisten waren Faschisten, antiserbisch, antisemitisch und befürworteten den Krieg um ein autonomes Kroatien. Ende 1938 begann die Opposition gegen die Politik der Regierung Kroaten und Serben gegen ihren gemeinsamen Feind zu treiben. 1935 wurden die Ereignisse in Jugoslawien weitgehend durch Hitlers wachsende Macht beeinflußt. Frankreich, welches sich auch von Deutschlands Macht immer mehr bedroht fühlte, stellte seine fmanzielle Unterstützung ein, von der Jugoslawien so lange abhängig gewesen war. Die Besetzung Prags in 1939 durch Deutschland vertiefte die Furcht einer sowieso schon nervösen Nation. Es schien keine Lösung des Problems der nationalen Überein44 Stephen Clissford, (Hg.), A Shon History of Yugoslavia from early limes 10 1966, Cambridge 1966, S. 180. 41
Polonsky, S. 100, S. 104.
46
Hoptner, S. 20.
47
Vucinich, S. 19.
Jugoslawischer Nationalismus zwischen den Weltkriegen
299
stimmung zu geben. Am 4. August 1939 kam es zu einem "Verständnis", welches eine sich selbst regierende Provinz von mehr als vier Millionen schuf, mit einer kroatischen Mehrheit und einer serbisch-mohammedanischen Minderheit. Merkwürdigerweise sahen die Kroaten die jüngst von den Deutschen gegründete Slowakei als Erfüllung ihres Traums an. Daher fachte das "Verständnis" eigentlich nur das nationalistische Element der kroatischen Bauernführer weiter an. "Ihr Ziel war die Zersörung Jugoslawiens. ,,48 Unter solchen Umständen sah die Nation der deutschen Invasion am 6. April 1941 entgegen.
D. Abschluß Die Zwischenkriegszeit der jugoslawischen Geschichte, obwohl kurz, war durch eine Reihe von Krisen gekennzeichnet; sie erstanden aus der schwierigen Aufgabe, einen Staat aus nie zuvor zusammengehörenden Regionen zu schaffen. 49 Einige Geschichtswissenschaftier bestehen darauf, daß das Gewebe der Nation nicht fest gewoben war und es auch nicht werden konnte. Ohne Titos feste Hand würde es sich unwiderruflich ausgefasert haben. Lederer hingegen glaubt, daß trotz oder sogar wegen ihrer nationalistischen Probleme, die jugoslawische Nation nicht nur Bestand hatte, sondern auch in vieler Hinsicht gedieh. 5o Die Entwicklung einer jugoslawischen Gegenbewegung gegen serbischen und kroatischen Nationalenthusiasmus war eine positive Kraft. 51 Dank der föderalen Regierung, "der Urquell eines bindenden Nationalismuses" ,52 und dank dem Schlagwort einer "gemeinsamen Nationalität", so glaubt Lederer, würde die jugoslawische Nationsstruktur sich nicht aufgelöst haben, aber die Invasion von 1941 und der nachfolgende Krieg machten ihr ein Ende. Jedoch scheint es, daß die Zustände im gegenwärtigen Ex-Jugoslawien Lederers Bemerkungen über die Zwischenkriegszeit einen interessanten geschichtlichen Aspekt verleihen.
48
Vucinich, S. 30.
49
Vucinich, S. 3.
50
Lederer, S. 435.
51
Lederer, S. 435.
52
Lederer, S. 435-436.
Die rumänische Nationalbewegung in der Bukowina und die Bildung Groß-Rumäniens Von Mihai-Stefan Ceausu
In diesem Beitrag beschreiben wir die von der rumänischen Nationalbewegung in der Bukowina vorgeschlagenen Mittel für die Verwirklichung der Nationaleinheit und die Art und Weise, wie diese während der Bildung GroßRumäniens in die Tat umgesetzt worden war. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges versuchte das vom 16. Oktober 1918 verfaßte Manifest des Kaisers Karl im letzten Augenblick, das österreichischungarische Kaiserreich zu retten, indem es die Umwandlung des Kaiserreiches in einen föderativen Staat versprach. Gleichzeitig wurde das Selbstbestimmungsrecht für die sich in dem Kaiserreich befindenden Völker mittels ihrer Nationalräte anerkannt. 1 Das Manifest kam aber zu spät. Infolge der Radikalisierung ihrer Nationalbewegungen neigten die Völker aus dem Kaiserreich entweder zur Gründung von eigenen Nationalstaaten oder zur Einigung der gleichethnischen bevölkerten Länder. Auf diesem internen Hintergrund und unter dem starken Druck von draußen, seitens der Entente, war der Zusammenfall und die Zergliederung Österreich-Ungarns unvermeidbar. Unter diesen Bedingungen trat die rumänische Nationalbewegung in der Bukowina in einen Wiederbelebungs- und Radikalisierungsprozeß, nachdem sie vier Jahre lang den Interdiktionen und dem strengen Regime der Kriegsgesetze unterworfen war. 2 Angesichts der Zufriedenstellung der Nationaldesiderata der bukowinischen Rumänen, die nach der Einigung aller Rumänen in einen einzigen Staat trachteten, zeichneten sich jetzt drei Aktionsgruppierungen - einigermaßen separat aus. Die erste Gruppierung bildeten die auf dem Territorium des Rumänischen I Hugo Hantsch, Die Geschichte Österreichs, Zweiter Band, Graz - Wien - Köln, 1953, S.570; Fram;:ois Fejtö, Requiem pour un empire defunt. Histoire de la destruction de I' Autriche - Hongrie,
Paris, 1993, S. 296.
2 Teodor Ba/an, Suprimarea miscarilor nationale din Bucovina pe timpul razboiului mondial. 1914 - 1918, Cernauti, 1923; Erich Prokopowitsch, Die Rumänische Nationalbewegung in der Bukowina und der Dako-Romanismus, Graz - Köln, 1965, S. 130 - 158.
302
Mihai-Stefan Ceausu
Königreiches befindenden bukowinischen Flüchtlinge an der Spitze des Universitätsprofessors Ion Nistor; eine andere Gruppierung war aus bukowinisch-rumänischen Parlamentariern gebildet; die dritte Gruppierung war diejenige, die sich an der Spitze der Nationalaktion der Rumänen aus der Bukowina befand. Was die politische Aktionsgruppe der sich in Rumänien befindenden bukowinisch-rumänischen Flüchtlinge anbelangt, stellte man aus dokumentarischer Sicht fest, daß die Mehrheit dieser Gruppe die Intellektuellen bildeten. Diese Flüchtlinge repräsentierten jenen Teil, numerisch klein, aus der jungen Generation der rumänischen Nationalbewegung aus der Bukowina: An der Spitze Ion Nistor, George Tofan, Iorgu Toma, Ion Gramada, Dimitrie Marmeliuc, u.a; diese Generation bildete sich unter dem Einfluß der aus Rumänien kommenden nationalistischen Ideen im Geiste der national-irredentistischen und panrumänischen Ideen heran. Als Anhänger einer Außenlösung für die Verwirklichung des rumänischen Nationalproblems aus der Bukowina zweifelten diese an der Fähigkeit der rumänischen politischen Innenkräfte, dieses Problem zu ihren Gunsten zu lösen. Als Folge flüchteten diese irredentistischen Intellektuellen, einige von ihnen sogar am Anfang des Krieges, auf das Territorium des Rumänischen Königreiches. Sie erwarteten von diesem die Befreiung ihrer Heimat von der Fremdherrschaft und dadurch die Verwirklichung der Nationaleinheit. Auf dem rumänischen Territorium gaben sich die Flüchtlinge als Wortführer der unter der Fremdherrschaft zu Hause Gebliebenen aus, für die es unmöglich war, ihre Option betreffend das Nationalproblem frei auszusprechen. Um ihre Ideen zu verwirklichen, übten diese Vertreter des irredentistichen Extrems der rumänischen Nationalbewegung aus der Bukowina zusammen mit der politisch-nationalistischen Gruppierung der Rumänen aus Siebenbürgen, die nach Rumänien flüchteten, eine richtige Propagandakampagne durch Kundgebungen, Versammlungen, Konferenzen und durch die Presse3 angesichts des Eintritts Rumänien in der Krieg aus. In ihrer Auffassung war das die einzige mögliche Lösung zwecks der Bildung Groß-Rumäniens durch die Angliederung der Bukowina und der anderen rumänischen Provinzen aus dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich an Rumänien. In dem Wunsch aber, der rumänischen und fremden Öffentlichkeit zu beweisen, daß das österreichisch-ungarische Kaiserreich ein politischer Anachronismus war, der aufgelöst werden mußte, um die rumänischen Nationaldesiderata zu verwirklichen, hatten sie in 1 Congresul romanilor de peste hotare aflatori in tara, Bucuresti, 1915; Teodor balan, op.cit., S. 188 - 192; Vasile Gh. Miron, Ioan V. Cocuz, Unirea Bucovinei cu Romania, in: "Suceava. Anuarul Muzeului ludetean" , V/1978, S. 51 - 53.
Die rumänische Nationalbewegung in der Bukowina
303
ihrer Propagandatätigkeit mehrmals die Darstellung der Lage der in der Provinz zurückgebliebenen Rumänen übertrieben. Die Aktion der bukowinischen Militanten identifizierte sich mit dem von Ion I. C. Bratianu und seiner Partei geäußerten Standpunkt, der den Vorschlag machte, daß die rumänischen Nationalbestrebungen im wesentlichen durch die eigenen Bemühungen Rumäniens verwirklicht werden sollten. 4 Deshalb traten viele der bukowinischen Flüchtlingen freiwillig in die rumänische Armee ein, die als eine Befreiungsarmee betrachtet wurde, und einige von ihnen - wie zum Beispiel Ion Gramada - opferten sogar ihr Leben im Namen dieses Ideals während der Verteidigungskämpfe an der Moldau, im Sommer 1917, in der Zeit der deutsch-österrichischen Offensive. s Im Herbst 1918 hatte "das Nationalkomitee der sich in der Moldau und Bessarabien befindenden siebenbürgischen und bukowinischen Rumänen und des Freiwilligenoffizierskorps" am 6./19. Oktober als Antwort auf das Manifest von Kaiser Kar! von Habsburg dem König Ferdinand von Rumänien eine Manifesterklärung geschickt, die der "österreichisch-ungarischen Monarchie das Recht abstritt, sich mit dem Schicksal der Rumänen aus Siebenbürgen und der Bukowina zu befassen." Da durch dieses Manifest alle Föderalisierungsversuche des Hauses Habsburg abgewiesen wurden, behaupteten die Flüchtlinge erneut, daß ihr politisches Ideal bezüglich des Nationalproblems nur durch" die Bildung des rumänischen Elements in einem einzigen freien Nationalstaat unter rumänischem Herrschergeschlecht möglich war". Im Namen "der sich auf dem rumänischen Territorium befmdenden siebenbürgischen und bukowinischen Rumänen", die sich als Wortführer der "von zu Hause unterdrückten Brüder" ausgaben, verlangte man vom König von Rumänien wiederholt, daß das ganze von Rumänen in überwiegender Mehrheit bevölkerte Territorium von der Habsburgermonarchie befreit und vom Rumänischen Königreich annektiert werden sollte, und zwar gemäß dem Bündnisvertrag Rumäniens mit der Entente. 6
• Mihai-Stejan Ceausu, Ion Nistor, luptatorul pentru unirea Bucovinei cu Romania, in: Ion Nistor. 1876 - 1962, hg. von AI. Zub, 1993, S. 114 - 115. 5 Pompiliu Nistor, Corpul voluntarilor romani ardeleni - bucovineni, in: "Gazeta Transilvaniei", 16 august - 14 septembrie 1922; Silvestru Netea, Cateva amintiri de acum 20 de ani in urma, in: Amintiri razlete din timpul unirii. 1918, Hrsg. von Ion Nistor, Cernauti, 1938, S. 268 - 270. 6
Ion Nistor, Unirea Bucovinei. 28 Noembrie 1918. Studiu si documente de ..... , Bucuresti,
1928, S. 29-30.
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Mihai-Stefan Ceausu
Da die Flüchtlinge weiterhin glaubten, daß die Verwirklichung der Nationaleinheit nur durch "dem Sieg der rumänischen Armee" und durch die unmittelbare Handlung der "öffentlichen Vertreter des befreienden Rumänien beim Friedenskongreß"erzielt werden konnte, verneinten die Flüchtlinge gleichzeitig den in der Bukowina zurückgebliebenen Rumänen die Möglichkeit, sich frei zu äußern. Als Folge verlangten sie, daß "alle Deklarationen der Rumänen aus Siebenbürgen und der Bukowina, die diesen Nationalberstrebungen widersprachen" , nicht beachtet werden sollten, weil sie von den "feindlichen Behörden erzwungen worden waren". 7 In Kischineu wurde in derselben Zeit ein Exekutivkomitee der bukowinischen Flüchtinge mit folgenden Mitgliedern gebildet: N. Cotos, Emanuel Iliut, Teodor V. Stefaneli, George Tofan und Ion Nistor als Vorsitzender, die eine starke Propaganda im Geiste der in dem Manifest geäußerten politischen Ideen zu entfalten vorhatten. 8 Das Exekutivkomitee hatte sogar "eine Statut zum Aufbau des rumänischen Propagandadienstes in der Bukowina" aufgestellt, dem vom Innenministerium Rumäniens am 1. November 1918, also vier Tage nach der Konstituante der Bukowina vom 27. Oktober zugestimmt wurde. Die Vorschriften des Statuts betreffend der Bildung eines Propagandadienstes, der die bukowinische Bevölkerung "über die Berechtigung und Notwendigkeit der Einigung der Bukowina mit allen rumänischen Ländern aufklären sollte, nachdem diese Einigung schon von der Konstituante der Bukowina behauptet worden war, bewiesen einen Isolierungszustand der Flüchtlinge; durch diesen Dienst wollte man sowohl die in der Bukowina zurückgebliebenen rumänischen politischen Spitzen als auch ihre Aktionen aus der Perspektive "der Reinheit ihrer nationalen Gefühlen", die von dem Dienst der bukowinischen Flüchtlinge geprüft werden mußten, zensieren. 9 Was die zweite Gruppierung anbelangt, kann man festhalten, daß infolge des kaiserlichen Manifests die fünf rumänischen Abgeordneten aus dem Wiener Parlament, die alle Rumänen aus der Habsburgermonarchie und nicht nur die
7lbidem. 8
Doina Huzdup, Un episod din viata lui Ion NistOT. Chisinau 1918, in: Ion Nistor. 1876 - 1962,
S. 124-125. 9
Ion Nistor, op.cit., S. 84 - 86, nT. V , VI.
Die rumänische Nationalbewegung in der Bukowina
305
Rumänen aus der Bukowina lO zu vertreten meinten, sich in den Rumänischen Nationalrat umformierten. Der neue Rumänische Nationalrat, geführt von Claudiu Isopescul-Grecul, weigerte sich, Solidaritätserklärungen dem Kaiser gegenüber abzugeben, und lehnte das kaiserliche Manifest als unvollständig ab, weil es über Ungarn und über das Schicksal der sich dort befindenden Rumänen nichts erwähnte. In der Sitzung vom 22. Oktober 1918, die als Folge der Insistenz der Mitglieder des Rumänischen Nationalrates einberufen wurde, präzisierte man in diesem Sinne durch den Abgeordneten Isopescul-Grecul vor dem Parlament und der österreichischen Regierung den rumänischen Standpunkt. Die Rumänen verlangten jetzt das Selbstbestimmungsrecht angesichts der Einigung aller rumänischen Provinzen aus Österreich und Ungarn in einen einzigen Staat als ein selbstverständliches Recht der Rumänen. 11 Der Abgeordnete Keschmann, der sich dem rumänischen Standpunkt anschloß, erklärte im Namen der Deutschen auf der Bukowina, daß diese das Schicksal der Rumänen teilen möchten. In Gegensatz zu diesem befand der Abgeordnete rumänischer Herkunft, Nicolae Vasilco, Leiter der parlamentarischen Gruppe der Ukrainer auf der Bukowina, in seiner Rede, in der er den Norden der Bukowina für die Ukraine beanspruchte und verlangte ein Plebiszit zwecks der Einigung der Bukowina mit Siebenbürgen. 12 Der Abgeordnete George Grigorovici faßte die Einstellung der rumänischen Parlamentarier aus der Bukowina bezüglich des Problems der nationalen Einheit zusammen und behauptete: "Die Einigung der Rumänen ist ein Ideal und ein Ziel, das die Rumänen für immer und ewig verfolgen werden, in jeden Moment und unter allen Umständen, ohne Rücksicht auf die momentane politische Konstellation oder die Art und Weise wie sie die Zukunft gestalten werden. ,,13 Nach Auffassung dieses bukowinischen Politikers konnte die Einigung auf föderalistische Weise erzielt werden, entweder durch die Einigung aller Rumänen aus dem Kaiserreich und aus dem Rumänischen Königreich mit dem neuen demokratischen und föderalisierten Österreich oder durch die Gruppierung aller 10
Constantin Isopescul- Grecul, Amintiri asupra evenimentelor din 1918, in: Amintiri razlete ... ,
S. 180 - 182. 11
Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten, Wien, 1918. S. 4641 - 4647.
12
Ibidem. S. 4654 - 4664.
13
Ibidem, S. 4648.
20 Timmcnnann
306
Mihai-Stefan Ceausu
rumänischen Provinzen aus Österreich und Ungarn um das Rumänische Königreich. Gegenüber den Gebietsansprüchen der Ukraine betonte Grigorovici, daß die Bukowina gänzlich der Heimat zurückgegeben werden mußte, von der sie vor 140 Jahren "auf eine völlig verwerfliche Art und Weise das Völkerrecht betreffend" getrennt wurde, auch wenn sie mit der Zeit, dank der österreichischen Politik, ein polyglottes Land geworden war". 14 Am zweiten Tag nach dieser Sitzung waren die Abgeordneten George Sirbu, Aurel Onciul und George Grigorovici in die Bukowina gefahren, um in Verbindung mit den Spitzen der rumänischen Nationalbewegung aus der Provinz zu treten und sie über die getroffenen Entscheidungen des Rumänischen Nationalrates aus Wien zu informieren. 15 Die anderen zwei Abgeordneten, Isopescul-Grecul und Teofil Simionovici waren, um weiterhin Kontakt mit den Vertretern der siebenbürgischen Rumänen Iuliu Maniu und Miron Cristea zu haben, angesichts einer gemeinsamen Aktion in Wien geblieben. Gleichzeitig verfolgte man die Anknüpfung eines permanenten und direkten Kontakts des Rumänischen Nationalrates mit den Vertretern der anderen Nationalräte der Völker aus der gewesenen Monarchie als auch mit der politischen Welt aus der Hauptstadt Österreichs. 16 Als man über die Aktion der Nationalemanzipierung von Czernowitz erfuhr, hatte der Rumänische Nationalrat aus Wien - telegraphisch - sich vorbehaltlos den Entscheidungen des Rumänischen Nationalrates angeschlossen. Dadurch hatte sich die rumänische Aktion aus Wien der Aktion aus Czernowitz angeschlossen und in diese sich integriert. Die Mehrheit der Mitglieder des Rumänischen Nationalrates aus Wien waren in die Reihen der neuen Repräsentativorgane des in der Bukowina gebildeten öffentlichen Lebens eingetreten, während Constantin Isopescul-Grecul als Vertreter des Rumänischen Nationalrates in Czernowitz geblieben war. 17 In der Bukowina aber hatte die rumänische politische Nationalaktion einen eigenen Weg genommen, gestützt auf die politischen Innenmächte. Die Initiative hatte einer beschränkten Gruppe von Intellektuellen aus Czernowitz
14
Ibidem, S. 4647 - 4653.
15
George Sarbu, Amintiri din vremea Unirii, in: Amintiri razlete ... , S. 376 - 377.
16
Constantin Isopescu - Grecul, op.cit. . S. 183.
17 Teodor Balan, Bucovina in razboiul mondial, in: .. Codrul Cosminului ". Buletinul Institutului de Istorie si Limba al Universitatii din Cernauti, VII1929 - 1930, Cernauti, 1930, S. 92 - 93.
Die rumänische Nationalbewegung in der Bukowina
307
gehört, an der Spitze des Universitätsprofessors Sextil Puscariu und des Arztes Isidor Bodea. 18 Während der Diskussionen über die Innenlage Österreichs und die weltpolitische Situation hatten diese Anfang Oktober die Möglichkeit der Auflösung der Habsburger Monarchie erkannt. Angesichts dieser Möglichkeit stellte man am 13. Oktober 1918 das Problem der Bildung eines lokalen Initiativrates ein, welcher mittels eines eigenen Presseorgans "Die Stimme der Bukowina" betitelt, die rumänische Öffentlichkeit vorbereiten sollte. 19 Vor der Erscheinung der ersten Nummer fanden Beratungen zwischen der neuen politischen Nationalgruppierung und einigen Vertretern der Parteien und der rumänischen politischen Gruppierungen aus der Bukowina am 15. Oktober im Hause des Barons Alecu Hunnuzaki statt. An diesen Beratungen nahm unter anderen auch Aurel Onciul, der Vorsitzende der Demokratischen Partei und Abgeordnete im Wiener Parlament, teil. Alle Versuche von Puscariu, Onciul zu überzeugen, daß die einzige richtige Haltung der Anspruch auf die ganze Bukowina für die Rumänen richtig war, waren ergebnislos. Aurel Onciul blieb bei seiner Idee betreffend der Notwendigkeit, daß die Rumänen sich auf einen Kompromiß mit den politischen Vertretern der Ukraine einigen sollten, ein Komprorniß, der die Abtretung der Gebiete nördlich des Pruts an die Ukraine und die Einigung der restlichen Bukowina mit dem Rumänischen Königreich unter der Habsburgennacht vorsah; diese Idee veröffentlichte er in der Zeitung "Das Blatt des Volkes" .20 Eine neue Abgrenzung der neuen Nationalgruppierung von den damaligen politischen Vertretern der Rumänen auf der Bukowina fand mehrere Tage später statt, und zwar am 17. Oktober, anläßlich der Veröffentlichung des kaiserlichen Manifests. Eusebie Popovici verlangte von Puscariu, im Namen der Nationalpartei das Erscheinen der Zeitung bis nach der Einberufung einer Nationalversammlung der Rumänen auf der Bukowina zu verlegen; diese Nationalversammlung sollte sich als Konstituante ausrufen. Alecu Procopovici,
18 Cornelia Bodea, lsidor Bodea. Sextil Puscariu si Bucovina, in: "Glasul Bucovinei". Revista trimestriala de istorie si cultura, Cernauti - Bucuresti. 1994. nr.3, S. 35 - 36. 19
Sexril Puscariu, Cum a luat fiinta " Glasul Bucovinei", in: Amintiri razlete ..... , S. 334 - 336.
20
"Foaia Poporului", Cernauti, 9.122. Oktober 1918.
20·
308
Mihai-Stefan Ceausu
Maximilian Hakman, Vasile Bodnarescu und andere Intellektuelle um Puscariu gruppiert, lehnten kategorisch ab. 21 In dem Programmartikel der ersten Nummer "Die Stimme Bukowinas" vom 9.122. Oktober 1918 mit dem Titel "Was wollen wir?" verlangte die neue politische Nationalgruppierung die Unabhängigheit für die Rumänen auf der ganzen Bukowina, ihre Zusammenarbeit mit den Rumänen aus Siebenbürgen um die Verwirklichung der Nationaleinheit und die Ernennung von eigenen Abgeordneten, gewählt aus der Reihen der rumänischen Nation für den zukünftigen Friedenskongreß, die ihre Desiderata vertreten sollten. Als Antwort auf die Ansprüche des Ukrainischen Nationalrates aus Lemberg auf den Norden der Bukowina bis zum Siret für Ostgallizien, ein Gebiet, das größtenteils von den Ukrainern bevölkert war, beanspruchte in demselben Programartikel die neue rumänische Nationalbewegung - im Namen des Geschichtsrechts - die ganze Bukowina für die Rumänen. 22 Der neuen Nationalgruppierung schloß sich von Anfang an der bekannte Politiker Iancu Ritter von Flondor23 an, der an die Spitze der rumänischen Nationalbewegung aus Czemowitz kommend, sie in den Sieg zu führen gewußt hatte. Infolge der Beharrlichkeiten von Iancu Flondor und der politischen Spitzen um die Zeitung "Die Stimme Bukowinas" gruppiert, wurde am 14.127. Oktober 1918 eine Nationalbewegung der Rumänen aus Czernowitz einberufen, an der Vertreter aus allen Schichten der Bukowina teilnahmen. Diese proklamierte sich zur Konstituante und entschied sich im "Namen der nationalen Souveränität" für die Vereinigung der ganzen Bukowina mit den anderen rumänischen Ländern für einen unabhängigen Nationalstaat. Die Nationalversammlung, die Konstituante geworden war, gründete einen Rumänischen Nationalrat in Czernowitz als ein Repräsentativorgan der Rumänen auf der Bukowina. Der Nationalrat war aus 50 Mitgliedern gebildet, die aus allen Sozialschichten der bukowinisch-rumänischen Gesellschaft gewählt waren; der Nationalrat mußte "das rumänische Volk aus der Bukowina" führen, seine Rechte verteidigen und es bei der zukünftigen Friedenskonferenz durch Abgeordnete vertreten.
21
Sextil Puscariu, op.cit .• S. 337 - 339.
22
"Glasul Bucovinei", Cernauti, nr.l. von 22. Oktober 1918.
23 Über Iancu Ritter von Flondor siehe: Constantin Loghin, Iancu cavaler de Flondor ( 1865 1924), Cernauti, 1944; Mihai Pfnzaru, Iancu Flondor eroul Bucovinei, Chisinau, 1992; Radu Economu, Iancu Flondor ( 1865 - 1924), in: "Glasul Bucovinei" , Cernauti - Bucuresti. 3/1994, S. 39 - 45.
Die rumänische Nationalbewegung in der Bukowina
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Der Rat hatte ein Exekutivkomitee aus seinen Reihen ernannt, gebildet aus 14 Staatsssekretären mit Iancu Flondor als Vorsitzenden. Es wurden auch drei Abteilungen des Nationalrates gegründet: eine Außen-, eine Verwaltungs- und eine Versorgungsabteilung . 24 Alle rumänischen Abgeordneten aus dem Wiener Parlament wurden in das Exekutivkomitee des Rumänischen Nationalrates gewählt, und die Anwesenden George Grigorovici und George Sirbu wurden neben Iancu Flondor in die Delegation gewählt, die beauftragt worden war, dem österreichischen Gouverneur von Etzdorf die Entscheidungen der Konstituante der Bukowina zur Kenntnis zu bringen und die Machtübergabe an die Konstituante zu verlangen. Etzdorf hatte aber keine bejahende Antwort gegeben, weil die genauen Anweisungen seitens des Wiener Kabinetts fehlten, und der Rumänische Nationalrat konnte sich nicht durchsetzen, weil ihm die notwendige Militärrnacht fehlte, um in der Bukowina eine Nationalgarde zu bilden. Die Vertreter der ukrainischen Nationalbewegung hatten die Entscheidungen der Rumänischen Konstituante abgewiesen und durch den Entschluß der Nationalversammlung der Ukrainer vom 3. November 1918 aus Czernowitz beschlossen sie die Vereinigung der Bukowina mit dem am 18. Oktober auf dem Territorium des österreichischen Galliziens gegründeten ukrainischen Staat. Die Ukrainer verlangten ihrerseits vom Gouverneur, ihnen die Macht zu übergeben, was dieser aber abwies. Etzdorf verlangte, daß die Bukowina bis zur Entscheidung der Friedenskonferenz sowohl von den Vertretern der ukrainischen als auch von denen der rumänischen Nation regiert werden sollte. Als Folge trat der Nationalrat der Ukrainer mit dem rumänischen Abgeordneten Aurel Onciul in Kontakt, der mit dieser Idee einverstanden war. Infolge der unter dem österreichischen Gouverneur geführten Verhandlungen beschlossen die beiden Seiten, daß der Norden der Bukowina bis zum Prut von den Ukrainern und der südliche Teil bis zum Siret-Fluß von den Rumänen beherrscht werden sollte, und das Gebiet zwischen Siret- und Prut-Fluß sollte ein ukrainisch-rumänisches Kondominium bilden. 25 Iancu Flondor erklärte dem österreichischen Gouverneur am 4. November, daß der Rumänische Nationalrat den von Onciul geschlossenen Pakt nicht anerkannte und die Rumänen weiterhin die Entscheidungen der Konstituante 24 "Monitorul Bucovinei", Cernauti, nr.l. von 14. November 1918; Ion Nistor, Unirea Bucovinei ... , nr. VII, S. 86 - 90.
2S "Czernowitzer Morgenblan", Czernowitz, nr.J56. von 4. November 1918; Teodor Balan, op.cit., S. 93 - 97.
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vom 27. Oktober behaupteten, indem sie im Namen des Geschichtsrechts die ganze Bukowina zurückforderten. Flondor machte dem österreichischen Gouverneur deutlich, daß er die Intervention der rumänischen Armee in der Bukowina durch einen nach Jassy geschickten Delegierten verlangt hatte, um den von der ukrainischen Armee ausgelösten Unruhen ein Ende zu setzen und die Anfänge der Bolschewisierung der Bevölkerung zu unterdrücken. 26 Am 4. November 1918 in Jassy angekommen, wurde Vasile Bodnarescul, der Abgesandte des Rumänischen Nationalrates aus Czernowitz, von dem Präsidenten der Ministerräte, Alexandru Marghiloman, empfangen, dem er den Text der Resolution der Nationalversammlung vom 27. Oktober übergab, der die von den Ukrainern in der Bukowina geschaffene Situation und die Beanspruchung der Intervention der rumänischen Armee vorstellte. Bei all diesen Anliegen, angesichts der Lage Rumäniens als ein im Krieg besiegter Staat, antwortete Marghiloman, daß er ihm nur Waffen für die Bildung einer Nationalgarde versprechen konnte. Nach seiner Rückkehr in Czernowitz wurde Bodnarescu wieder nach Jassyam Abend des 5. November - geschickt mit dem ausdrücklichen Auftrag, der rumänischen Regierung zu zeigen, "daß die kritische Lage des Rumänischen Nationalrates auf der Bukowina die unverzügliche Intervention der rumänischen Armee verlangte". 27 Die Lage auf der Bukowina verschlimmerte sich am 6. November 1918 durch die Übernahme der politischen Macht durch28 die Vertreter der Ukrainer, verbündet mit Aurel Onciul. Somit schien die Aktion des Rumänischen Nationalrates eine Niederlage erlitten zu haben. Angesichts dieser Perspektive und der Insistenz von Vasile Bodnarescu beschlossen der König von Rumänien und die neue rumänische Regierung, die verlangte militärische Hilfe zu gewähren. Durch den Befehl des Kriegsministers vom 6. November 1918 beschloß man nach vorheriger Rücksprache mit der Entente, daß die achte Division in die Bukowina vorrücken und diese bis Czernowitz besetzen sollte29 • Damit diese Gebietsverletzung nicht als ein von den Rumänen hervorgerufener "casus belli" 26
Aurel Turcan, Misiunea mea pe länga guvernul Etzdorf. in: Amintiri razlete ... , S. 470 - 473.
27
Teodor Balan, Rolullui Vasile Bodnarescul in preajma Unirii, Cernauti, 1938, S. 7 - 9.
28 "Czernowitzer Morgenblan", Czernowitz, nr.159. vom 7. November 1918; Teodor Balan. Bucovina in razboiul mondial. S. 93 - 94. 19 Intrarea armatei romane in Bucovina si cooperarea ei cu celelalte institutii de stat pentru educarea straturilor sociale. in: Zece ani de la Unirea Bucovinei. 1918 - 1928. Cernauti. 1928. S. 37.
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betrachtet werden sollte, schickte gleichzeitig der Präsident der rumänischen Regierung dem österreichisch-ungarischen Botschafter in Bukarest ein Telegramm, in dem er mitteilte, daß die Aktion der rumänischen Armee auf Beschluß des Rumänischen Nationalrates durchgeführt wurde, da die kaiserlichen Behörden die Provinz verlassen hatten und man nach dem Schutz der Bevölkerung vor der Anarchie trachtete. 30 Obwohl sie auf keinen bewaffneten Widerstand stieß, verlief das Vorrücken der rumänischen Armee ziemlich langsam. Damit sich der Rhythmus des Vorrückens der rumänischen Armee nach Czemowitz beschleunigen sollte, drohte der Rumänische Nationalrat am 9. November mit seinem Rücktritt. 31 Infolge des Rückzugs der ukrainischen Truppen hatte der Rumänische Nationalrat am 10. November effektiv die politische Macht in Czemowitz übernommen; in dieser Funktion hatte am 11. November die rumänischen Truppen in der Hauptstadt die Bukowina empfangen. 32 Bei der Nachricht des Einzugs der rumänischen Truppen in Czemowitz am 11. November hatte Ion Nistor im Namen der bukowinisch-rumänischen Flüchtlinge dem König von Rumänien ein Festtelegramm aus Kischineu geschickt, in dem er als Wortführer der Rumänen aus der Bukowina seinen Dank "für die vielerwartete Befreiung und Einverleibung der Bukowina - in alle Ewigkeit - an die Urheimat", ausdrückte. 33 In der Bukowina vereinte sich am 12. November 1918 der Rumänische Nationalrat in einer öffentlichen Sitzung und stimmte einem provisorischen Grundgesetz der Bukowina ZU. 34 Das Gesetz, den autonomen Traditionen folgend, bestimmte, daß der von er Konstituante der Bukowina gegründete Rumänische Nationalrat die höchste Gewalt des Landes und seine Stellung auch als gesetzgebende Körperschaft ausübte. Gleichzeitig wurde eine Regierung der Bukowina gebildet mit Iancu Flondor als Präsidenten und einer Anzahl von Staatssekretären. Diese Staatssekretäre, aus den Reihen der rumänischen intellektuellen Elite gewählt, waren - jeder alleine und alle zusammen - dem Rumänischen Nationalrat verantwortlich. 30
Staats Archiv Bukarest. Microfilme Austria. Rolle 119.
31
Teodor Balan. Rolullui Vasile Bodnarescul ...• S. 30 - 32.
12
Ion Nistor. Unirea Bucovinei ...• S. 42 - 43.
II
Idem. Istoria Bucovinei. Bucuresti. 1991. S.387- 388.
34
Idem. Unirea Bucovinei ...• S. 113 - 114.
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In der Sitzung vom 13. November hatte er ein besonderes Regierungsprogramm vorgestellt;35 dieses Programm sah den Erlaß eines neuen Wahlgesetzes in der Bukowina aufgrund des allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrechts vor, das die Teilnahme aller Schichten, Nationalitäten und Konfessionen an der Tätigkeit in der Kammer der Bukowina, die Durchführung einer Agrarreform, die Gründung einer bukowinischen militärischen Legion, beabsichtigte. 36 Die Analyse der Sitzungsprotokolle des Rumänischen Nationalrates vom 12. und 13. November zeigte, daß die Führer der rumäniehen Nationalbewegung der Bukowina zu jenem Zeitpunkt der Meinung waren, daß die Einigung mit Rumänien durch die Vorschriften der Konstituante vom 27. Oktober durchgeführt worden war unter Voraussetzung der Bewahrung einer lokalen Autonomie mit Vertretern in dem lokalen und zentralen Parlament - alles unter der Schutzherrrschaft des rumänischen Könighauses. Das war auch der Sinn der am 15. November dem König von Rumänien geschickten Botschaft durch den Rumänischen Nationalrat. Die Regierung Rumäniens wünschte aber die bedingungslose Vereinigung der Bukowina mit Rumänien. In dieser Hinsicht wurde ein Brief Iancu Flondors vom Regierungschef durch den bukowinischen Flüchtling Dimitrie Marmeliuc geschickt, in dem er ihn unverzüglich nach Jassy einlud, um mit der Regierung über die bedingungslose Vereinigung zu sprechen. Das Problem wurde vertagt, nachdem er zur Diskussion mit dem Staatssekretärenrates der Bukowina bestellt wurde, und man beschloß für die Verhandlungen die Entsendung des Sekretärs des Außenministeriums nach J assy. 37 Nach seinem Empfang vom König am 22. November 1918 kam es zu einem Treffen zwischen Sextil Puscariu und Ion Nistor, der an demselben Tag aus Kischineu von der rumänischen Regierung nach Jassy gerufen wurde. Diese informierte Puscariu über die Tatsache, daß die bukowinischen Flüchtlinge und die Politiker aus Rumänien, wie z.B. Ion I. C. Bratianu, mit der kumulativen Vereinigung der von den Rumänen bewohnten Provinzen Österreich-Ungarns mit dem rumänischen Staat nicht einverstanden waren, sondern sie äußerten sich für eine direkte Vereinigung mit Rumänien. Nach den Gesprächen war Puscariu mit der bedingungslosen Vereinigung der Bukowina mit dem Rumänischen Königreich einverstanden. 38 " Sextil Puscariu, Memorii. Bucuresti, 1978, S. 338. 16
Ion Nistor, op.cit., S. 119 - 125.
17 Sextil Puscariu, Cäteva scrisori, in: Omagiu lui Ion I. Nistor. 1912 . 1937, Cernauti, 1937, S. 12 - 13. 18
Mihai-SteJan Ceausu, op. eit., S .119.
Die rumänische Nationalbewegung in der Bukowina
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Infolge dieser Verhandlungen kehrte Sextil Puscariu am 23. November zusammen mit Ion Nistor nach Czernowitz mit einem von der rumänischen Regierung zur Verfügung gestellten Sonderzug zurück. Nistor mußte als Bevollmächtigter der rumänischen Regierung alle Probleme betreffend der bedingungslosen Vereinigung behandeln. Der Rumänische Nationalrat hatte schließlich die Einberufung eines allgemeinen Kongresses der Bukowina angenommen, der über die bedingungslose Vereinigung mit Rumänien abstimmen sollte. Als er nach Jassy zurückkehrte, hatte Nistor der rumänischen Regierung am 24. November einen Bericht zur Annahme der Einberufung des Einigungskongresses vorgestellt. 39 In der vierten Sitzung des Rumänischen Nationalrates in Czernowitz vom 25. November las George Tofan eine Mitteilung im Namen der bukowinischen Flüchtlinge vor, durch die sich zu den Änhängern der bedingungslosen Vereinigung Rumäniens erklärten. 4o Diese Sitzung des Rates hatte die Einberufung des allgemeinen Kongresses vom 15.-28. November 1918 beschlossen, der sich über die bedingungslose Vereinigung mit Rumänien zu äußern hatte. Nach seiner Rückkehr aus Jassy hatte Ion Nistor am 27. November dem Rumänischen Nationalrat das von ihm redigierte Projekt des Einigungsaktes vorgestellt, das schließlich vom Rat genehmigt wurde. Der vom 15.-28. November 1918 in Czernowitz vereinigte allgemeinen Kongreß der Rumänen hatte einmütig den Antrag der bedingungslosen Vereinigung der Bukowina mit Rumänien zugestimmt mit den Gebieten, die sie 1774 von den Österreichern dem Moldauischen Gebiet weggenommen bekam. An dem Entschluß der Vereinigung seitens der sich in der Bukowina befindenden nationalen Minderheiten hatten sich nur die Deutschen und Polen angeschlossen, während die Juden und die Ukrainer an der Arbeiten des Kongresses nicht teilgenommen hatten. 41 Infolge dieses Entschlusses, der den Sieg des radikalen Flügels der rumänischen Nationalbewegung verzeichnete, von den bukowinischen Flüchtlingen dargestellt, hatte die Bukowina als politische Individualität zu existieren aufge-
39
Ibidem, S. 119 - 120.
40
"Monitorul Bucovinei" , Cernauti, 1919, fasz. 6, S. 2.
41
Ibidem, fasz. 8, S. 2 - 4; fasz. 9, S. 1 - 4; fasz. 10, S. 3 - 4.
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hört. Die Einigungsgesetze, die der Bildung Groß-Rumäniens gefolgt waren, lösten jedwelche Form von provinzieller Autonomie auf und ordneten die Bukowina als auch die anderen Provinzen in den Rahmen des rumänischen einheitlichen Nationalstaates ein. in dem nur ein Zentrum der Macht existierte. das in Bukarest.
Mehrheit und Minderheiten im Nationalstaat Rumänien 1918 - 1945 Von Dan Berindei
Nach einem langen historischen Prozeß erlebte Rumänien im Jahre 1918 die Vollendung seines Werdegangs zum Nationalstaat. Jahrhundertelang hatten die Rumänen in zwei unabhängigen, dann autonomen Fürstentümer - Walachei und Mo1dau - und in Siebenbürgen gelebt. Seit dem 15. Jahrhundert erkannten die Mo1dau und Walachei die Oberhoheit des Sultans an und zahlten Tribut an die osmanische Pforte. Trotzdem erlitten sie nicht das Schicksal der Balkanischen Völker, die völlig unterjocht wurden. So bewahrten die beiden Fürstentümer bis ins 19. Jahrhundert ihre Autonomie als staatliche Entitäten. Siebenbürgen wurde zuerst von den ungarischen Königen erobert, dann, nach dem Niedergang des Königreichs Ungarn, wurde es im 16. Jahrhundert zum autonomen Fürstentum unter der Oberhoheit des Sultans. 1699 wurde Siebenbürgen von Österreich annektiert - dieser Zustand dauerte bis 1867, als es wieder Teil des Ungarischen Königreichs wurde. In Siebenbürgen waren die Rumänen seit dem 14. Jahrhundert einem Regime sozialer, politischer, konfessioneller und implizit wirtschaftlicher und kultureller Diskriminierung ausgesetzt. Im 14. Jahrhundert verloren sie ihren Adel, und seit 1437 wurden sie als Geduldete betrachtet. 1 Diese Situation dauerte bis zum Hermannstädter-Landtag von 1863, obwohl die Rumänen in Siebenbürgen demographisch den Vorrang bewahrt hatten. 2 Bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts hatte der sächsische Gelehrte Tröster geschrieben, daß die Rumänen "die Ungarn und die Deut-
1 Ludwig der Große, König von Ungarn, hat die Orthodoxen aus den Reihen des Adels ausgestoßen. 2 Siehe Simion Retegan, Dieta romäneasca a Transilvaniei (1863-1864), (Der rumänische Landtag Siebenbürgens, 1863-1864), Cluj-Napoca, 1979.
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sehen" zahlenmäßig übertrafen. Die österreichischen Volkszählungen im 18. Jahrhundert zeigten, daß die Rumänen in Siebenbürgen die Mehrheit bildeten. 3 Während des Hermannstädter Landtags 1863 -1864 erzielten die Rumänen die gleichen Bürgerrechte wie die anderen Nationen; doch ab 1867 waren sie diesmal ebenso wie die Sachsen - den Aktionen zur Magyarisierung und der national-politischen Diskriminierung bis 1918 ausgesetzt. Was das Fürstentum Moldau betrifft, so muß erwähnt werden, daß es Teile seines Territoriums verlor: 1775 die Bukowina (der nörliche Teil des Fürstentums), die vom Osmanischen Reich an Österreich abgetreten wurde, und dann 1812 Bessarabien (der östliche Teil), das von der Pforte an Rußland abgetreten wurde. Die Dobrudscha, die Ende des 14. Jahrhunderts zur Walachei gehörte, wurde Anfang des 15. Jahrhunderts vom Osmanischen Reich direkt annektiert. Im 19. Jahrhundert waren die Rumänen also verteilt. Sie bildeten die massive Mehrheit in den autonomen Staaten, waren aber auch die Mehrheit der Bevölkerung in Siebenbürgen, in der Bukowina und in Bessarabien. Was die Dobrudscha anbelangt, so war die Bevölkerung dort durch die langdauernde osmanische Herrschaft sehr gemischt: Moslems - Türken und Tataren - und orthodoxe Christen - Rumänen und Bulgaren. Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten die Rumänen die Mehrheit der Christen in der Dobrudscha. In seiner ersten Form entstand der rumänische Nationalstaat 1859 durch die friedliche Vereinigung der Moldau und der Walachei. Durch die Doppelwahl von Alexandru loan Cuza als Fürst beider Länder wurde zuerst eine PersonalUnion geschaffen, die dann institutionell vollendet wurde. Die beiden Länder bildeten einen einheitlichen Staat, der Rumänien genannt wurde. Es wurde so ein rumänisches Piemont gegründet. 4 Unter der Herrschaft des Fürsten Cuza und dann der des Fürsten Carol von Hohenzollern-Sigmaringen begann Rumänien in die Familie der europäischen Staaten eingegliedert zu werden. Im Jahr 1877 proklamierte Rumänien seine Unabhängigkeit, nahm am Krieg gegen das Osmanische Reich teil, und 1878 wurde seine Unabhängigkeit auf dem Berliner
3 Costin Fenesan, Populatia din Marele Principat al Transilvaniei intr-o statistica din 1772-1773 (Die Bevölkerung des Großfiirstentums Siebenbürgen in einer Statistik von 1772-1773), in Istoria Romaniei. Pagini transilvane (Geschichte Rumäniens. Siebenbürgische Blätter), herausgegeben von Dan Berindei, Cluj-Napoca, 1994, S. 122 u.f. 4
Siehe Dan Berindei, L'Union des Principautes Roumaines, Bukarest, 1967.
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Kongreß auch von den europäischen Mächten anerkannt. 5 In einer nächsten Etappe wurde 1881 in Rumänien das Königreich proklamiert. Auf diese Weise wurde Rumänien zu einem noch stärkeren Magnet fiir die Rumänen, die außerhalb der Grenzen des rumänischen Staates lebten. Die Vollendung der Vereinigung von 1859 überall dort, wo die Rumänen die Mehrheit bildeten, wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts zum wichtigsten Ziel der Nation. Am Ende des Ersten Weltkrieges, als der Zerfall der Kaiserreiche vollzogen wurde, wurde Mittel- und Südosteuropa als Ergebnis der Selbstbestimmung der Mehrheiten in diesen Gebieten zu einer Zone nationaler Entitäten. Das damalige Zerbröckeln der multinationalen Reiche und die Bildung der nationalen Staatseinheiten bleibt eine positive Sache. Die Nostalgie einer künstlich geeinten Entität Mitteleuropas - gestützt auf die Beherrschung der Mehrheit ihrer Einwohner durch Minderheiten - wäre unrechtmäßig. Das Zerbröckeln der multinationalen Reiche mit nicht gleichberechtigten Nationen war normal. Der Nationalstaat blieb in der ganzen Welt legitim, und die Geschichte des letzten Jahrzehnts hat das erneut bewiesen. Die 1918 angenommene und angewandte und durch das Friedenssystem am Ende des Ersten Weltkrieges bestätigte Selbstbestimmungsformel war positv. Für die Nationen Mittel- und Südosteuropas - einschließlich Österreichern und Ungarn - ergab sich 1918 die Gelegenheit, ihre Grenzen ihrer territorialen Verbreitung entsprechend festzulegen. Der englische Historiker A.J. Toynbee schreibt mit Recht: "Les suites de la Deuxieme Guerre mondiale montrent qu'apres tout le reglement de 1919-21 reposait sur des solides fondations. La carte politique actuelle de l'Europe orientale ressemble de fac;:on remarquable a celle qu'avait dessinee la Conference de Paris de 1919. Celle-ci, fondee sur le principe morale de l'autodetermination avait pour but de reduire au minimum le nombre de personnes vivant sous dominantion etrangere. Elle etait bien plus juste que la carte d'avant 1914 et c'est, je pense, ce qui explique sa capacite a survivre". Die Tatsache, daß Polen wiedergeboren wurde, daß die Tschechoslowakei entstand, daß sich Österreich und Ungarn als nationale Staatseinheiten, frei von dem Ballast der Beherrschung der übrigen Nationen, behaupten konnten, daß Rumänien sich in seinen nationalen Grenzen vervollständigen konnte, ist das Ergebnis einer notwendigen historischen Entwicklung, eines unanwendbaren Geschichtsverlaufs. Was Rumänien anbelangt, so schloß sich Bessarabien ihm durch den Beschluß des "Sfatul Tarii" (Landesrat) am 27. März/lO. April 1918 an. Am 15./28. November war die Bukowina an der Reihe, und auch hier handelte es S
Ders .• Independent Romania. 1977, Bukarest, 1976.
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sich um den Beschluß eines Kongresses, an dem auch Deutsche und Polen teilgenommen hatten. Schließlich vereinigte sich Siebenbürgen mit Rumänien durch den Beschluß einer großen Volksversammlung, auf der die Entscheidung von den Vertretern der rumänischen Mehrheit getroffen wurde - dieser schlossen sich aber in den darauffolgenden Monaten die Vertreter der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben, die Vertreter der jüdischen Bevölkerung sowie einige der ungarischen Bewohner der betreffenden historischen Provinz an. Somit war Großrumänien geschaffen worden. 6 Vom Standpunkt der rumänischen Geschichtsschreibung, aber in erster Reihe der rumänischen Nation, die damals nahezu drei Viertel der Bevölkerung Großrumäniens ausmachte, war das, was 1918 geschah, die natürliche Krönung eines historischen Prozesses. Es war der Zusammenschluß einer Nation innerhalb gemeinsamer Grenzen, einer Nation, die allen historischen Widrigkeiten zum Trotz dieselben wirtschaftlichen und politischen Interessen und vor allem ein und dieselbe Sprache - ohne Dialekte - auf dem gesamten Gebiet des vereinten Staates hatte und durch eine Kulturgemeinschaft ständig verbunden geblieben war. Die Entscheidung der großen Mehrheit der Bevölkerung Rumäniens - der Rumänen, aber auch einiger Minderheiten - wurde durch die Friedensverträge von 1919 und 1920 international anerkannt und akzeptiert. Das neue Rumänien hatte eine Oberfläche von fast 300 000 qkm; bis 1914 waren es ungefähr 138000 qkm gewesen. Auch die Bevölkerungszahl verdoppelte sich von knapp 8 Millionen auf 16 Millionen. Bei der Volkszähung von 1930 hatte das Land über 18 Millionen Einwohner. Bei Rumänien handelte es sich um ein potentiell reiches Land - insbesondere waren viel Getreide und Erdöl vorhanden. Es war aber auch ein Land, das von Krieg verwüstet war. Die Eröl- und Kohleproduktion war stark gesunken - auf 53 % bzw. 59 % im Vergleich zu den Produktionen 1913. 7 Die Industrie befand sich in einer noch schlechteren Lage (nur 20-25% der Produktion von 1913).8 Nur ein Viertel der Lokomotiven waren übrig geblieben, und die Anzahl der Waggons war von 24 000 auf nur 3500 gesunken!9 Das Lebensniveau war katastrophal: die Löhne waren um 400%, die Preise aber um mehr als 900% 6 Stefan Pascu, Faurirea statului national unitar roman (Die Bildung des rumänischen nationalen einheitlichen Staates), Bukarest, 1983, Bd. I-lI.
, Enciclopedia Romaniei (Die Enzyklopädie Rumäniens), Bukarest, 1942, Bd. III, S. 606. 8 Progresul economic in Romania. 1877-1977 (Der wirtschaftliche Fortschritt in Rumänien. 18771977), Bukarest, 1977, S. 217. 9
Enciclopedia Romaniei, Bukarest, 1943, Bd. IV, S. 51.
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gestiegen. lO "La Roumanie ... - bemerkte ein französischer Gelehrter, Auguste Gauvin - se trouvait videe, spoliee de tout son outillage ferroviaire, agricole, industrie!... Chargee de dettes, elle n'avait plus de capitaux disponibles. I11ui fallait faire appel aux credits etrangers pour reconstituer tous ses instruments de travail et organiser les nouvelles provinces" II Trotz alldem waren im dritten Jahrzehnt die wirtschaftlichen und politischen Probleme größtenteils überwunden, und Rumänien war institutionell als einheitlicher Staat - nach seiner Tradition von 1859 - 1861 - organisiert. Man hatte eine massive Bodenreform durchgeführt; 6 Millionen Hektar, zwei Drittel der Oberfläche der großen Güter, wurden an 1 400 000 Bauern verteilt und das allgemeine Wahlrecht wurde eingeführt. Im Jahr 1929 war jedenfalls die Industrieproduktion im Vergleich zu 1913 auf das Doppelte gestiegen, die Getreideproduktion war wesentlich höher und das Nationaleinkommen um 44% gewachsen. Was die Minderheiten in Großrumänien betraf, so betrugen sie in der Zwischenkriegszeit 28%, davon waren 7,9% Ungarn und 4,1 % Deutsche; außerdem gab es noch relativ bedeutende Minderheiten von Juden (4 %), Ruthenen und Ukrainern (3,2%), Russen (2,3%), Bulgaren (2%), Zigeunern (1,5%), Türken (0,9% ).12 In anderen Staaten der Zone war die Zahl der Minderheiten nach dem Ersten Weltkrieg noch größer. In der Tschechoslowakei machten die Minderheiten mehr als 33% und in Polen über 30% aus. 13 Dennoch waren auch sie - wie Rumänien - Nationalstaaten, da mindestens zwei Drittel der Bevölkerung polnisch bzw. tschechoslowakisch war. Vielleicht handelte es sich, am Ende des zweiten Jahrzehntes, um Mehrheitsentscheidungen, die nicht immer und von allen Minderheiten begrüßt und akzeptiert worden waren, aber die Situation war natürlicher als vorher, als in einem multinationalen Reich die Mehrheiten von den Minderheiten bevormundet wurden! Die Rumänen - die Mehrheit im neuen Staat - bildeten 71,9% der Bevölkerung. In der Kleinen Walachei (97,5%), in der Walachei (93,4%) und in der Moldau (89,8%) war die Mehrheit der Rumänen massiv. In Bessarabien (56%), in Siebenbürgen (57,6%), im Banat (54,3%), im Kreischgebiet und in der Maramures (60,7%) hatten sie die absolute Mehrheit. Nur in der Bukowina 10 Mircea Musat und Ion Ardeleanu. Viata politica in Romania, 1918-1921 (Das politische Leben in Rumänien, 1918-1921), Bukarest. 1976.2. Aufl., S. 31.
11
Auguste Gauvin, Vorwort zur Andre Tibal, La Roumanie, Paris, 1930, S. 9.
12
Enciclopedia Romaniei. Bukarest, 1939, Bd. I. S. 148.
IJ Mircea Musat und Florin Tanasescu, Nationalitatile conlocuitoare in statul roman intregit in 1918) (Die mitwohnenden Nationalitäten im vollendeten rumänischen Staat 1918), in "Anale de Istorie", Bukarest XXVIII (1982), Heft 5, S. 49, Anm. 2.
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Dan Berindei
bildeten die Rumänen nicht die Mehrheit (44,5%), waren trotzdem die meisten, weil die Zahlen der anderen geringer waren: 27,7 % die Ruthenen-Ukrainer, 10.8% die Juden, 8.9% die Deutschen, 3,6% die Polen. 14 Die Bevölkerung Groß rumäniens war in ländliche und städtische Bewohner aufgeteilt. 15 1930 hatten die Städte 3 632 000 Einwohner (20,1 %) und die Dörfer 14421 000 (79,9%). Rund 83,5% der Rumänen wohnten in Dörfern und 16,5% in Städten. Die Verteilung der Ungarn: 71,4% in den Dörfern und 28,6% in den Städten; der Deutschen: 74,1 % in den Dörfern bzw. 25,9%; der Juden 31,8% bzw. 68,2%. In Siebenbürgen bildeten die Rumänen in den Dörfern 62 % der Bevölkerung, die Ungarn 27% und die Deutschen 5,9%. In den Städten hatten die Rumänen einen Anteil von 35%, die Ungarn 37,9% und die Deutschen 13,2%. Die Ungarn stellten 18,1% der Dorfbevölkerung im Kreischgebiet, in den Städten hatten sie aber, wie gesagt, einen hohen Anteil: in Siebenbürgen 37,9 % und im Banat 43,7 %. Die deutsche Minderheit war aufgeteilt in Sachsen (7,9 % der Bevölkerung Siebenbürgens), Banater-Schwaben (23,8% der Bevölkerung der Provinz), Bukowina-Deutschen (8.9%), Deutsche des Kreischgebietes und der Maramuresch (4,8%) und Dobrudscha-Deutschen (3,4% der Bevölkerung der Provinz). Die Juden waren vorwiegend in den Städten ansässig (13,6% der Bevölkerung der Städte) und viel weniger in den Dörfern (1,6%). Ihre Anzahl war besonders groß in der Bukowina (10,8% der Bevölkerung), in Bessarabien (7,2%), in der Moldau (6,5%), im Kreischgebiet und in Maramuresch (6,4%). Was die Ruthenen-Ukrainer (3,2% der Bevölkerung Rumäniens) und die Russen (2,3 %) anbelangte, so fand man sie in Bessarabien (11 % bzw. 12,3 % der Bevölkerung der Provinz) und in der Bukowina (27,7% bzw. 0,9%) vor. Die Bulgaren (2 % der Bevölkerung Rumäniens) waren in der Dobrudscha (22,8% der Bevölkerung der Provinz) und in Bessarabien (5,7%) ansässig. Die Zigeuner (1,5 % der Bevölkerung des Landes) waren überall vorzufinden, weniger nur in der Bukowina. Andere Minderheiten hatten geringere Bevölkerung: Die Türken (0,9%) in der Dobrudscha, die Gagauzen (0,6%) in Bessarabien, Serben, Kroaten und Slowenen (0,3%), die 4,3% der Banater Bevölkerung ausmachten, die Tschechen und Slowaken, die Polen in der Bukowina (3.6% der Bevölkerung der Provinz), die Griechen und Tataren. In der Verfassung von 1923 heißt es: "Die Rumänen (im Sinne aller rumänischer Staatsbürger) ohne Ansehen des ethnischen Ursprungs, der Sprache 14
Enciclopedia Romaiei. Bd. I. S. 148-151.
IS
Ebenda. S. 149.
Mehrheit und Minderheiten im Nationalstaat Rumänien
321
oder der Religion genießen Freiheit des Gewissens, des Lehrwesens, der Presse, der Versammlungen und Vereinigungen sowie alle gesetzlich festgelegten Freiheiten und Rechte" (Art.5) und ferner: «Alle Rumänen ohne Ansehen der ethnischen Herkunft, Sprache oder Religion sind vor dem Gesetz gleich und verpflichtet, ohne Unterschied zu den öffentlichen Abgaben und Lasten beizutragen" (Art.8).16 Als in Großrumänien die Agrarreform durchgeführt wurde, erhielten über 200000 Bauern der Minderheiten Boden: 82640 in Siebenbürgen, 94480 in Bessarabien und 29145 in der Bukowina. 17 In Siebenbürgen erhielten Boden 317833 rumänische Bauern, 46069 ungarische Bauern und 24 815 deutsche Bauern. 18 Mehrere Rumänen hatten Boden erhalten, auch weil sie in 1910 pro Kopf im Schnitt 1 ha, die übrigen Nationalitäten dagegen im Schnitt 6 ha besaßen - Zahlen die das konkrete Ergebnis einer vielhundertjährigen vielseitigen Diskrimination enthüllen! 19 Im Bereich der Wirtschaft hatte die rumänische Industrie im Jahr 1925 in 21 siebenbürgischen Städten einen Anteil von nur 12,72%, die der Minderheiten (in erster Linie ungarischen, deutschen und jüdischen) einen Anteil von 87,28 %.20 Während des vierten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts waren - was die Industrie in Rumänien im allgemeinen betrifft - nur 626 Rumänen Kapitalinhaber von Aktiengesellschaften und Privatfirmen. Die restlichen 2383 waren zwar in Besitz von rumänischen Staatsbürgern, diese waren aber Ungarn, Deutsche und Juden, also Mitglieder der Minderheiten. 21 Im Jahr 1935 waren 80% der Industrie im Besitz der Minderheiten und des ausländischen Kapitals, und nur 20 % gehörten Rumänen. 22 Das Kapital der Minderheiten befand sich vorwiegend in der Metallurgie, Holzindustrie, Textilindustrie, Lederindustrie, in der Lebensmittel- und Papierindustrie. 16 Dionisie Ionescu. Gheorghe Tutui. Gheorghe Matei. Dezvoltarea constitutionala a statului roman (Die verfassungsmäßige Entwicklung des rumänischen Staates), Bukarest, 1957, S. 492-493.
11
"Timpul" , Bukarest, IV (1940), nr. 1223 vom 26. September.
\S
Deszö Nemes, Az ellenforradaloni törtenete Magyarorszagon, Budapest, 1962, S, 369.
19 Dan Berindei, Problemes de la reorganisation en Roumanie apres la Premiere Guerre Mondiale, in Les consequences des traites de paix de 1919-1920 en Europe centrale et sud-orientale. Strasbourg, 1987. S. 277.
20 Petru Suciu, Dezvoltarea oraselor ardelene (Die Entwicklung der siebenbürgischen Städte), in "Societatea de maine" , IV (1927), Heft 10, 1O-11, S. 136. 21
Enciclopedia Romaniei, Bd. III, S. 824.
22
Ebenda.
21 Timmermann
322
Dan Berindei
Dieselbe Lage ist im Finanzbereich festzustellen. Von insgesamt 555 Banken und 178 bedeutenden Filialen waren rund 409 im Besitz der Juden (183), der Deutschen (123) und der Ungarn (78).23 Ähnlich war es im Handel: die Mehrheit der Handelsfirmen waren jüdisch (173000 von insgesamt 280000!), und sehr viele waren deutsch oder ungarisch. 24 Bei den Löhnen wurden keine Unterschiede gemacht zwischen Arbeitern und Angestellten, die den Minderheiten angehörten, und jenen, die Rumänen waren. Es ist wahr, daß viele Ungarn, die die neue staatliche Lage Siebenbürgens nicht akzeptierten und dem neuen Staat nicht den Treueid schwören wollten, nach Ungarn emigrierten. Es handelte sich jedoch keineswegs um eine Ausweisung, sondern um eine Auswanderung, die zum Teil mit Propagandarnitteln von Außen provoziert worden war. Was die ungarischen Eisenbahnangestellten betrifft, so wanderten diese jedenfalls nicht aus (1933 bildeten sie 45% der Eisenbahnangestellten Siebenbürgens). 25 So wie die Deutschen hatten auch die Ungarn politische Parteien gründen können. "Der Unterschied religiöser Glauben und Bekenntnisse, ethnischer Abkunft und Sprache - bestimmte die Verfassung - bildete in Rumänien kein Hindernis für die Gewinnung ziviler und politischer Rechte und deren Ausübung" (Art. 7).26 Es bildete sich die Ungarische Union und dann die Ungarische Volkspartei, die Partei des Ungarischen Volkes und die Ungarische Nationale Partei, die eine parlamentarische Partei war in der Zwischenkriegszeit (3 Deputierte in 1922, 15 in 1926 und 8 in 1927).27 Es gab auch die Ungarische Bauernpartei und die Union der ungarischen Bauern und Arbeiter von Rumänien. Die Deutschen gruppierten sich in der Deutschen Partei, unter der Leitung von Rudolf Brandsch. Was die Juden anbelangte, so spielte ihre Union der rumänischen Juden eine wichtige Rolle. 28 Die Ukrainer hatten auch zwei Partei-
23
Mircea Musat und Florin Tanasescu, a.a.O., S. 62.
24 Paul A. Shapiro, Prelude to Dictatorship in Romania, in "Canadian-American Slavic Studies", VIII (1974), Heft 1, S. 73.
2S
Mircea Musat und Florin Tanasescu, a.a.O., S. 64.
26
Dionisie Ionescu, Gheorghe Tutui und Gheorghe Matei, a.a.O., S, 492.
27 I. Scunu, Viata politica din Romania, 1918-1944 (Das politische Leben in Rumänien, 19181944), Bukarest 1982, S. 65-67.
28
Ebenda, S. 67-68.
Mehrheit und Minderheiten im Nationalstaat Rumänien
323
en gehabt: die Ukrainische Partei von Rumänien und die Ukrainische Bauernpartei auf der Bukowina. Was die Mehrheit betraf, so war die konservative Partei, in der Zwischenkriegszeit praktisch verschwunden. Wichtig waren eigentlich zwei Parteien: die Liberale Partei, die die Vollendung der staatlichen Vereinigung, die Bodenreform, das allgemeine Wahlrecht und die Verfassung geschaffen hatte, und die Nationale Bauempartei. Es gab auch nationalistische Parteien der Rechten: die Nationalchristliche Partei und die Bewegung der Legionäre und auch - in geringerer Zahl - auf der extremen Linken die Kommunistische Partei, die sich seit 1924 in der Illegalität befand. 29 Doch wie gesagt, an der Macht waren meistens die eine oder die andere der beiden oben erwähnten großen Parteien. Im Jahre 1938 hatte der König Carol II seine Verfassung und seine Diktatur durchgesetzt und damit dem demokratischen politischen Leben in Rumänien ein Ende bereitet. Hinzugefügt muß noch werden, daß die Regierungen der Zwischenkriegszeit sich um die Probleme der Minderheiten kümmerten. Bereits 1918 - 1920 hatte im Leitenden Rat Siebenbürgens Vasile Goldis, eines der Mitglieder dieses Rates, vermerkt, er müsse "die Beziehungen mit den Nationen und den Konfessionen des Landes regeln". 30 1931 wurde das Amt eines Staatssekretärs für Minderheiten in der Regierung geschaffen, das 1931-1932 der Sachse Rudolf Brandsch innehatte. 31 Was die Religion anbelangt, so waren 72,6% der Einwohner Rumäniens Angehörige der Orthodoxen Kirche und knapp 8 % der Unierten Griechisch-Katholischen Kirche. Diese beiden Glaubensbekenntnisse der Mehrheit waren durch die Verfassung als nationalen Konfessionen anerkannt. Außerdem gab es noch fast 7% Katholiken, 4,2% Juden, knapp 4% Calvinisten und 2,2 % Lutheraner. Die Orthodoxen hatten einen Patriarchen und fünf Metropoliten, die Unierten einen Metropoliten in Blasendorf und vier Bischöfe. Im Jahr 1927 hatte Rumänien ein Konkordat mit Rom unterzeichnet; ein katholischer Erzbischof funktionierte in Bukarest und vier Bischöfe in Alba Iulia, Temesvar, Satu-Mare und Großwardein in Siebenbürgen und einer in Iassy in der Moldau. Die Calvinisten hatten 828 Glaubensgemeinden und die Lutheraner über 500. Die Juden hatten knapp 1000 Synagogen. 32 29
Ebenda, S. 68-7), 74-80.
30
Mircea Musat und Florin Tanasescu, a.a.O., S. 54.
31 E. Tudorica sie I. Burlacu, Guvernele Romaniei intre 1866-1945 (Die Regierungen Rumäniens zwischen 1866 und 1945), in "Revista Arhivelor", Bukarest, XLVII (1970), Heft 2, S. 449, 450.
J2
21*
Enciclopedia Romaniei, Bd. I, S. 153-154.
324
Dan Berindei
Was das Pressewesen betrifft, so erschienen in 1934 - als Beispiel - 1645 Periodika in rumänischer Sprache, 275 in ungarischer und 176 in deutscher Sprache. Auf 100 000 Rumänen kamen 3,7 Periodika und auf 100 000 rumänische Bürger, die den Minderheiten angehörten, 6 Periodika. 33 Was das Unterrichtswesen der Zwischenkriegszeit anbelangte, so wurden die bis 1918 ungarische Universität in Cluj (Kolozsvär/Klausenburg) und die bis 1918 deutsche Universität in Cernauti (Czernowitz) in rumänische Universitäten umgewandelt. Diesbezüglich muß hinzugefügt werden, daß die deutsche Tradition - durch Professoren und Studenten - in Czernowitz noch jahrelang beibehalten wurde. Während der beiden Weltkriege hatten die Minderheiten konfessionelle wie staatliche Grundschulen, Gymnasien und Lyzeen in der Muttersprache. Im Jahre 1929 gab es in Siebenbürgen 1362 ungarische und 553 deutsche Grundschulen. Auch funktionierten im Siebenbürgen der Zwischenkriegszeit 57 staatliche oder konfessionelle ungarische Gymnasien und Lyzeen. 34 Bis 1918 hatten die Rumänen - in einer etwas glücklicheren Lage als die Slowaken, die weder Gymnasien noch Lyzeen in der Muttersprache ihr eigen nennen konnten - nicht mehr als 10 solcher Schulen in Siebenbürgen. In Klausenburg gab es desgleichen in der Zwischenkriegszeit ein ungarisches Konservatorium und auch eine deutsche Baukunstschule. 35 Auf alle Fälle war die Lage der Minderheiten in der Zwischenkriegszeit in Rumänien viel besser als die der rumänischen Mehrheit in Siebenbürgen während der österreich-ungarischen Doppelmonarchie. Ernst Wagner zog eine Parallele zwischen dem Regime der Nationalitäten während der rumänischen und der österreich-ungarischen Periode: "Mit zwei Drittel der Bevölkerung Siebenbürgens und drei Vierteln der Gesamtbevölkerung bildeten die Blutsrumänen zweifellos die Landesmehrheit. Im Gegensatz zu den Ungarn hatten sie es nicht nötig, fremde Völker zu assimilieren" .36 Im Sommer 1940 verlor Rumänien Bessarabien und die Nordbukowina, Nordsiebenbürgen und den südlichen Teil der Dobrudscha (das sogenannte südliche Planquadrat). Allein durch den Wiener Schiedsspruch gingen Rumänien 43492 qkm und 2 667 000 Einwohner - vorwiegend Rumänen - verlustig. )) N. Dascalu, Le regime de la presse de Roumanie pendant la periode de I'Entre-Deux-Guerres, in "Revue Roumaine d'Histoire", XVI (1980), Heft 2-3, S. 392 u.f. )4
Stejan Pascu, Istoria Transilvaniei (Die Geschichte Siebenbürgens), Blaj, 1944, S. 288.
)5 Siehe auch I. Ca/iani, L'enseignement minoritaire en Transylvanie, in "Revue de Transylvanie", 1(1934), S. 153-173,300-308. )6
Ernst Wagner. Geschichte der Siebenbürger Sachsen. Ein Überblick, Innsbruck, 1981, S. 73.
Mehrheit und Minderheiten im Nationalstaat Rumänien
325
Am Ende des Zweiten Weltkrieges war Nordsiebenbürgen wieder in Rumänien eingegliedert. Das Dobrudscha-Problem wurde durch die Verteilung von 1940 und den Bevölkerungswechsel, der damals stattgefunden hat, erledigt. Bessarabien und die Nordbukowina, die aufgrund des Ribbentrop-Molotow-Vertrags von 1939 im Juni 1940 von Stalin annektiert wurden, wurden anschließend von Stalin in vier Teile aufgeteilt; drei gehören heute zu der Ukraine, der vierte Teil ist die jetzige Republik Moldau, der zweite rumänische Staat. Vorn Standpunkt der rumänischen Nation ist dieses Problem noch offen, aber selbstverständlich kommen nur friedliche Lösungen in Frage. Im September 1940 mußte earol 11. abdanken, und an die Macht kam General Antonescu - einige Monate lang teilte er sie mit den Legionären. General Antonescu übte eine Diktatur unter der formellen Herrschaft des jungen König Michael aus, bis er am 23. August 1944 durch einen Staatsstreich des Königs und der wichtigsten Parteien gestürzt wurde. Rumänien verließ die Axenmächte und fmg einen neuen Krieg an der Seite der Vereinten Nationen an, an dem es bis Ende des Zweiten Weltkrieges beteiligt war. Während der Diktaturen wurden die Juden in Rumänien durch Rasse-Gesetze wirtschaftlich, politisch und kulturell unterdrückt. Im Januar 1941 gab es während des Aufstands der Legionäre in Bukarest ein Pogrom, ein anderes Pogrom ereignete sich im Sommer 1941 in Jassy. Auch die Bukowinaer und die Bessarabier Juden hatten zu leiden unter der Diktatur von Antonescu, nachdem im Juni 1940, als die Sowjetunion die Annexion Bessarabiens und der Bukowina durchführte, einige Juden antirumänisches Verhalten bewiesen hatten. 37 Ein Massenmord an den Juden hat in Rumänien aber nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Juden aus Nordsiebenbürgen, das von Ungarn besetzt war, retteten sich nach Rumänien und konnten von hier nach Palästina auswandern. 38 Während der Diktatur von General Antonescu gelangte die Deutsche Volksgruppe in Rumänien unter die Nazi-Leitung und benahm sich dementsprechend fast wie ein Staat im Staat. Nach dem 23. August 1944 floh ein Teil der Sachsen und Schwaben nach Deutschland. Ein anderer Teil wurde für mehrere Jahre in die Sowjetunion verschleppt. 39 Rumänien hatte aber nicht, wie die anderen Länder der Zone, die deutsche Minderheit aus dem Lande vertrieben. 37 Al Doilea Razboi Mondial. Situatia evreilor din Romania (Der Zweite Weltkrieg. Die Lage der Juden in Rumänien), Cluj-Napoca' 1994, Bd. 1, S. 55 u.f.
38/on Calafeteanu, N. Dinu, Teodor Gheorghe, Emigratia populatiei evreiesti din Romania in anii 1940-1944 (Die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung aus Rumänien in den Jahren 1940-1944), Bukarest, 1993. 39
Ernst Wagner, a.a.O., S. 83 u.f.
326
Dan Berindei
Abschließend möchte ich noch einiges zur heutigen Situation bemerken. Nach der letzten Volkszählung vom Januar 1992 gibt es 20 324 893 Rumänen, zu den Minderheiten bekannten sich 2 435 893 Personen. 40 Das bedeutet, daß die Mehrheit, die Rumänen, 89,3% und alle Minderheiten zusammen 10,7% der Bevölkerung Rumäniens ausmachen. Zu den am stärksten vertretenen Minderheiten gehören die Ungarn mit 1 619368 (7,1 %) Bürgern, die Zigeuner mit 409 723 (1,8 %), die Deutschen mit 111 301 (0,5 %), und die Ukrainer mit 66483 Personen (0,3%). Außerdem gibt es noch Lippowaner, Türken, Serben, Tataren, Arumänen und Slowaken - jede dieser Minderheiten zählt zwischen 20 000 und 30 000 Mitglieder. In Rumänien leben zudem Bulgaren, Juden, Russen, Tschechen, Kroaten, Polen, Griechen, Armenier - unter 10000 Mitglieder - sowie auch andere Minderheiten mit noch weniger Mitgliedern. Im rumänischen Parlament gibt es derzeit 12 ungarische Senatoren und 27 ungarische Abgeordnete sowie weitere 13 Abgeordnete, die verfassungsgemäß ihre Minderheit vertreten, selbst wenn sie bei den Wahlen nicht genügend Stimmen verzeichnet haben: jeweils ein Armenier, Bulgare, Deutscher, Grieche, Italiener, Lippowaner, Pole, Zigeuner, Serbe, Slowake, Tatare, Türke und Ukrainer. 41 Außerdem sind noch die Kommunalbehörden - die Bürgermeister und Räte -, die Schulen, Theater, Museen, Periodika, Radio- und Fernsehsendungen vorhanden, die alle zusammen den Minderheiten ein normales Leben in Rumänien garantieren.
40 Romania national, ethnic, linguistic and religious minorities, Bucharest, Romanian Institute of International Studies. February 1993. S. 1-2. 41
Ebenda. S. 16-17.
Die Frage Siebenbürgens und die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien in den Jahren 1920 - 1940 Von Sändor Vogel
A. Der Minderheitenvertrag und die rumänische Verfassung Laut des Friedensvertrags von Trianon aus dem Jahre 1920 wurden die östlichen Gebiete Ungarns, Siebenbürgen und die Randgebiete der ungarischen Tiefebene Rumänien zugesprochen. Dieses Gebiet von 103093 km2 zählte eine Bevölkerung von 5.276.476 Personen, davon 1.704.851 Ungarn und 559.821 Deutsche. l Der Friedensvertrag brachte eine ganz neue Lage für die Völker Siebenbürgens. Das Gewicht und die Rolle der in Siebenbürgen lebenden ethnischen Gruppen veränderten sich grundsätzlich. Während die Rumänen aus einer Minderheit zur staatsbildenden Mehrheit wurden, gerieten die Ungarn aus der Rolle der Mehrheit und des staatsbildenden Volkes in die Lage einer Minderheit. Die Deutschen blieben auch weiterhin eine Minderheit, aber sie mußten sich den neuen Bedingungen anpassen. Rumänien erwarb ein Gebiet, das traditionell multiethnisch war und über eigenständige regionale Überlieferungen verfügte. 2 Die Geschichte Siegenbürgens charakterisierte sich in den Jahren 1920-1940 durch den Kampf der rumänischen Regierungen, die die Verwirklichung eines homogenen rumänischen Nationalstaates anstrebten, gegen die Minderheiten, die ihre ethnische Identität bewahren wollten. Zur gleichen Zeit war Siebenbürgen Objekt von diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen Rumänien, das Siebenbürgen behalten, und Ungarn, das das verlorene Gebiet zurückerwerben wollte. 1 Erdely törtenete (Geschichte Siebenbürgens). Bd. III. Szerk. Szasz Zolran. Budapest 1986. (Weiterhin: Erdely törtenete). S. 1731. 2 Über Übergangsregion Siebenbürgen siehe: Krista Zach. "Wir wohnten auf dem Königsboden... " Identitätsbildung bei den Siebenbürger Sachsen im historischen Wandel in: Minderheitenfragen in Südosteuropa. Hrsg. von Gerhard Seewann. München 1992. S. 115-119.
328
Sandor Vogel
Die Lage der Minderheiten in Rumänien wurde zum Teil von den innenpolitischen, zum Teil von den internationalen Verhältnissen bestimmt. Die Karlsburger Beschlüsse, die den Anschluß Siebenbürgens an Rumänien festhielten, verfaßten die folgenden Rechte für die Minderheiten Rumäniens: "Die volle nationale Freiheit für alle mitbewohnenden Völker. Jedes Volk wird den Unterricht, die Verwaltung und die Rechtspflege in seiner eigenen Sprache durch Personen aus seiner Mitte erhalten, und jedes Volk wird das Recht der Vertretung in den gesetzgebenden Körperschaften und in der Regierung im Verhältnis der Zahl seiner Volksangehörigen haben. Gleichberechtigung und volle autonome konfessionelle Freiheit für alle Konfessionen im Staate. ,,3 Obwohl die rumänischen Historiker dieses Dokument für den Geburtsakt des Nationalstaates Rumänien halten, hatte es nie eine inner- oder völkerrechtliche Geltung. Nach dem Ersten Weltkrieg zwangen die Großmächte Rumänien, einen Minderheitenvertrag am 9. Dezember 1919 zu unterschreiben. Im 1. Artikel dieses Vertrages verpflichtete sich Rumänien, die in den Artikeln 2 - 8 enthaltenen Bestimmungen als Grundgesetz anzuerkennen, mit der Wirkung, daß kein Gesetz, keine Verordnung und keine amtliche Handlung im Gegensatz oder Widerspruch zu ihnen stehen darf. Der Vertrag besagte: Alle rumänischen Staatsangehörigen sind vor dem Gesetz gleich und genießen ohne Unterschied des Volkstums, der Sprache oder der Religion die gleichen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte. Kein rumänischer Staatsangehöriger darf in dem freien Gebrauch einer beliebigen Sprache irgendwie beschränkt werden (Artikel 8). Die rumänischen Staatsangehörigen, die zu einer völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit gehören, sollen die gleiche Behandlung und die gleichen und tatsächlichen Sicherheiten genießen wie die übrigen rumänischen Staatsangehörigen. Sie sollen insbesondere ein gleiches Recht haben, auf ihre Kosten W ohlfahrts-, religiöse oder soziale Einrichtungen sowie Schulen und andere Erziehungsanstalten zu errichten, '" und in ihnen ihre Sprache frei zu gebrauchen und ihre Religion frei auszuüben (Artikel 9). Rumänien erklärt sich damit einverstanden, daß den Gemeinschaften der Szekler und Sachsen in Siebenbürgen unter der Kontrolle des rumänischen Staates im Religions- und Schulwesen die örtliche Autonomie gewährt wird (Artikel 11). Rumänien ist damit einverstanden, daß, soweit die Bestimmungen der betreffenden Artikel ] Mik6lmre, Huszonket ev. Az erdelyi magyarsag politikai törtenete 1918. dec. !-tal 1940. aug. 30-ig. (Zweiundzwanzig Jahre. Die politische Geschichte der Ungarn in Siebenbürgen vom 1. Dezember 1918 bis zum 30. August 1940.) Budapest 1941. (weiterhin: Mika) S. 265. Erich Kendi, Minderheitenschutz in Rumänien. München 1992. (weiterhin: Kendi) S. 44-45. Quellen zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen 1191-1975. Gesammelt und bearbeitet von Ernst Wagner Köln Wien 1976. (weiterhin: Quellen) S. 264-266.
Die Frage Siebenbürgens und die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien
329
Personen einer völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit betreffen, diese Bestimmungen Verpflichtungen von internationalem Interesse begründen und unter die Garantie des Völkerbundes gestellt werden .... Die Meinungsunterschiede über die Verwendung dieser Artikel sind laut Artikel 14 der Völkerbundsatzung als Streit völkerrechtlichen Charakters zu betrachten. Im Streit entscheidet der Ständige Internationale Gerichtshof, gegen seine Entscheidung gibt es kein Appellrecht (Artikel 12).4 Obwohl zu der Entstehung des sogenannten "einheitlichen rumänischen Nationalstaates" zwei Dokumente beitrugen, deren Ziel der Schutz der Minderheiten war, hatte Rumänien die in ihnen enthaltenen Versprechungen und Verpflichtungen nie in die Wirklichkeit umgesetzt. Die Politik der rumänischen Regierungen zwischen den zwei Weltkriegen hatte die Verwirklichung des ethnisch homogenen einheitlichen Nationalstaates zum Ziel. Die politische Elite Rumäniens ordnete ihre Politik gegenüber den Minderheiten dieser Zielvorstellung unter. Die 1923 verabschiedete rumänische Verfassung erklärte Rumänien zu einem einheitlichen und unteilbaren Nationalstaat (Artikel 1) und die rumänische Sprache zu der einzigen Amtssprache (Artikel 126), ungeachtet dessen, daß 30% der Bevölkerung anderssprachige Minderheiten ausmachten. Die Verfassung gewährte zwar, daß sich die rumänischen Staatsangehörigen ohne Unterschied der völkischen Abstammung, der Sprache, der Religion, der Freiheit des Gewissens, der Freiheit des Unterrichts, der Freiheit der Presse, der Versammlungsfreiheit, der Vereinigungsfreiheit erfreuten, enthielt aber keine Form der gruppenbezogenen Rechte. Weder die Karlsburger Beschlüsse noch die Artikel des Minderheitenvertrags wurden als Grundgesetze niedergelegt, obwohl Rumänien auf die letztere völkerrechtliche Verpflichtungen übernahm. Die von dem Minderheitenvertrag vorgeschriebene Autonomie im Religions- und Schulwesen für die Körperschaften der Szekler und Sachsen wurde gleichermaßen nie kodifiziert. 5 Deswegen lehnten die ungarischen und deutschen Abgeordneten des rumänischen Parlaments die Verfassung ab. 6 Der rumänische Staat versuchte seine Homogenisierungs- und Assimilationspolitik mit verschiedenen Methoden und Maßnahmen durchzusetzen. Diese Maßnahmen erstreckten sich von der Verweigerung der Staatsbürgerschaft bis
4
MiM, S. 267-271, Kendi, S. 24-27, Quellen, S. 272-275.
5
Kendi, S. 46, Quellen, S. 283-284.
6
Mika, S. 46, Kendi, S. 46.
330
Sandor Vogel
zu Einschränkungen im Wirtschafts- und Kulturleben, im Schulwesen und Sprachgebrauch und in der Teilnahme am politischen Leben.
I. Die Frage der Staatsbürgerschaft Der von Rumänien 1919 unterschriebene Minderheitenvertrag verfügte die Anerkennung der rumänischen Staatsbürgerschaft für all jene Personen, die bei Inkrafttreten des Vertrages auf rumänischem Gebiet wohnen oder dort geboren wurden (Artikel 3-4). Das am 24. Februar 1924 verabschiedete Gesetz stellte aber statt des Wohnorts die Bedingung der Sässigkeit für die Anerkennung der Staatsbürgerschaft. Über Sässigkeit verfügte jede Person, die vier Jahre lang in derselben Gemeinde wohnte und zur Steuerlast der Gemeinde beitrug. Die von dem Minderheitenvertrag vorgeschriebenen Prinzipien wurden erst durch das Gesetz vom 20. Oktober 1939 in die Wirklichkeit umgesetzt. Bis dahin vergingen aber 20 Jahre, und viele Angehörige der ungarischen Minderheit wurden zum Verlassen des Landes gezwungen. Zwischen den Jahren 1918 - 1924 verließen 197035 Personen Rumänien. 7
11. Wirtschaftspolitik. Die Minderheiten waren wirtschaftlich am meisten von der Agrarreform vom 30. Juli 1921 getroffen,8 die vor allem gegen die ungarischen Groß- und Mittelgrundbesitzer und die ungarischen öffentlichen Institutionen gerichtet war. Trotz der Tatsache, daß der Prozentsatz des Kleingrundbesitzes (69,9%) in Siebenbürgen größer war, wurde in der Walachei und in der Moldau ein Maximum (2 Millionen ha) und ein Minimum (100 ha) des enteigneten Bodens festgelegt. In Siebenbürgen gab es keine solchen Einschränkungen. Während in der Walachei und der Moldau nur die bestellbaren Grundbesitze enteignet wurden, wurde in Siebenbürgen der gesamte Grundbesitz von dem Enteignungsgesetz betroffen. Die größten Schäden erlitten die Grundbesitze der ungarischen Kirchen, Schulen und Stiftungen. Die ungarischen Kirchen hatten einen Grundbesitz von 371.614 Joch, davon wurden 314.199 Joch, das heißt 84,54 % des Gesamtgrundbesitzes enteignet. Die ungarischen Kirchen mußten nach der Konfiszierung ihrer Einkommensgrundlage das beinahe ganze ungarische Schulsystem aufrechterhalten. Die ungarische Bevölkerung erlitt große 7 MikO S. 46-47. Hetven ev. A romaniai magyarsäg törtenete 1919-1989. (Siebzig Jahre. Die Geschichte der Ungarn in Rumänien 1919-1989) Szerk. Di6szegi Läszl6, R. Süle Andrea. Budapest 1990. (weiterhin: Hetven ev) S. 21.
8
Monitorul Oficial 93/1921. Quellen, S. 275-283.
Die Frage Siebenbürgens und die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien
331
Schäden durch die Enteignung der Gemeingrundbesitze, der Kommunalwälder und Kommunalwiesen im Szeklergebiet, die für Tausende ungarischer Bauern eine Einkommensquelle bedeuteten. Besonders rechtswidrig war die unterschiedliche Beurteilung des Privatbesitzes des H. Rumänischen Grenzregimentes von Nasaud (Naszod) und des Szeklerischen Grenzregimentes. Obwohl die beiden Eigentümer durch die Schenkung Josephs H. entstanden waren, blieb das Eigentum des Rumänischen Grenzregimentes unberührt, das des ungarischen jedoch wurde enteignet. 9 Das Prinzip der Gleichberechtigung wurde von dem am 8. Mai 1934 verabschiedeten Bankgesetz lO und vor allem durch den Entwurf des Dekretgesetzes zum Schutze der nationalen Arbeit schwer verletzt. Laut dieses Entwurfes sollten die Vorstände der Unternehmen 60% Rumänen enthalten und das Personal aller anderen Kategorien hatte mindestens zu 75 % aus Rumänen zu bestehen. Der Gesetzentwurf, der ein "numerus valachicus" einführen sollte, wurde nach Einschreiten des Völkerbundes zurückgezogen. 11 Laut des Bergbaugesetzes wurden die Mineralwasserquellen verstaatlicht. 12 Dadurch verloren die Szekler eine bedeutende Einnahmequelle, die besten Mineralwasserquellen des Landes. Laut des Gesetzes vom 1. Juni 1937 wurde das Eigentum der Sächsischen Nationaluniversität liquidiert. Zwei Drittel des Vermögens erhielt das rumänische orthodoxe Bistum und ein Viertel die sächsische evangelische Kirche. Das Gesetz ließ die Ansprüche der ungarischen Bevölkerung, die 14% der Bewohner des Königsbodens ausmachte, außer acht. 13 III. Das Schulwesen Die Karlsburger Beschlüsse erklärten und der Minderheitenvertrag regelte ausführlich, daß die nationalen Minderheiten das Recht haben, Schulen und andere Erziehungsanstalten zu errichten und in ihnen ihre Sprache frei zu gebrauchen (Artikel 9). Der Minderheitenvertrag schrieb auch vor, daß Rumänien auf dem Gebiete des öffentlichen Unterrichts in den Städten und Bezirken, 9
MiM, S. 28-38, Hetven,
ev, S. 34-35.
10
Monitorul Oficial 5/1934.
11
Quellen, S. 291-293.
12
MiM, S. 89.
Il
MiM, S. 181-182, Quellen, S. 259-260.
332
Sändor Vogel
in denen fremdsprachige Staatsangehörige in beträchtlichem Ausmaß wohnen, angemessene Erleichterungen geschaffen werden sollen (Artikel 10), und daß den Gemeinschaften der Szekler und Sachsen in Siebenbürgen im Religionsund Schulwesen die örtliche Autonomie gewährt werden soll (Artikel 11). Der ungarische Staatsunterricht hörte bis Mitte der 1920er Jahre auf zu existieren. Die Aufgabe des ungarischen Unterrichts übernahmen die konfessionellen Schulen. Ihre Zahl nahm dermaßen zu, daß bis 1920 das ungarische Schulwesen keine bedeutenden Schäden erlitt. Das entsprach der Prozentzahl der ungarischen Bevölkerung. Der Unterricht in der Muttersprache der Minderheiten wurde erst nach der Ratifizierung des Friedensvertrags in den Hintergrund gedrängt. Die Regierung strebte vor allem die Auflösung des starken konfessionellen Schulsystems an und traf gegen die konfessionellen Schulen Diskriminierungsmaßnahmen. Jeder Schüler durfte nur die Schulen der eigenen Konfession besuchen. Das galt auch für die Lehrer, die nur in Schulen der eigenen Konfession unterrichten durften. 14 Angesichts dessen, daß die Ungarn in Rumänien zu vier Konfessionen gehörten, der katholischen, reformierten, unitarischen und evangelischen, war diese Regelung ein harter Schlag. Die Ansprüche der ungarischen konfessionellen Schulen, eine Staatshilfe zu bekommen, wurden abgewiesen. Die Lehrer wurden verpflichtet, eine Sprachprüfung abzulegen, und wenn ihnen dies nicht gelang, wurden sie entlassen. Laut Gesetz vom 26. Juli 1924, das das staatliche Grundschulwesen einheitlich regelte, war die Sprache des Unterrichts die rumänische. Das Gesetz ermöglichte in den Gemeinden mit nichtrumänischsprachiger Bevölkerung, Grundschulen mit dem Unterricht in den Minderheitensprachen einzurichten (Artikel 7). Die rumänische Regierung hielt aber die letzte Regelung nicht ein. 1937 gab es in Rumänien nur 44 ungarischsprachige staatliche Grundschulen, die 1 % der Gesamtzahl der Schulen in Rumänien bildeten, obwohl der Prozentsatz der Ungarn in Siebenbürgen 24,4% betrug. Diskriminierend war auch Artikel 8 des Gesetzes, der das Prinzip der Namensanalyse einführte. Laut dieses Prinzips konnten die Behörden alle Kinder, die rumänische Ahnen oder aus dem Rumänischen abgeleitete Namen hatten, oder sich zu einer rumänischen Konfession (orthodox oder griechisch katholisch) bekannten, von den ungarischen Schulen ausschließen und dazu zwingen, eine rumänische Schule zu besuchen. 15 Laut Artikel 159 des Gesetzes mußten in allen Kreisen, wo die Minderheiten die Mehrheit bildeten, Kulturzonen eingerichtet werden. Den in diesen Kreisen angesiedelten rumänischen Lehrern wurde eine Zulage von 50%, ein Grundstück und Pensionierungserleichterungen gesichert. Die Tätigkeit der nichtstaatlichen, privaten 14
Anordnung 63875/1921 des Unterrichtsministerium. Hetven
15
Hetven ev, S. 25.
ev, S. 24.
Die Frage Siebenbürgens und die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien
333
oder konfessionellen Schulen wurde durch das Gesetz vom 12. Dezember 1925 geregelt, das die konfessionellen Schulen mit den Privatschulen gleichsetzte. 16 Die Privatschulen hatten nicht das Recht, Diplome auszustellen, und sie konnten das Recht auf Anerkennung nur vom Unterrichtsministerium bekommen. Die Unterrichtssprachen in den von den Juden unterhaltenen Schulen waren Rumänisch und Hebräisch. Die jüdischen Kinder mit ungarischer Muttersprache hatten keine Möglichkeit, die ungarische Sprache zu erlernen. Der Unterricht in den staatlichen Mittelschulen wurde durch das Gesetz vom 15. Mai 1928 geregelt, I? das die rumänische Sprache zur Unterrichtssprache erklärte und den fakultativen Unterricht der Minderheitensprache oder die Aufstellung von minderheitensprachigen Sektionen erlaubte. Weil das Gesetz die Einrichtung der ungarischen Sektionen nicht als verbindlich vorschrieb, stellten die ungarischen staatlichen Mittelschulen bis Ende der 1920er Jahre ihre Tätigkeit ein. Im Jahre 1918 waren in Siebenbürgen 101 ungarische Mittelschulen oder Sektionen tätig. 1928 unterrichtete man nur in fünf Mittelschulen in ungarischer Sprache. 18 Nach Paragraph 21 des Gesetzes mußten die Schüler, die weiterlernen wollten, eine Prüfung vor einem vom Staat ernannten Ausschuß ablegen. Das bedeutete, daß die Schüler, die in ungarischen Schulen lernten, von einem Ausschuß examiniert wurden, dessen Mitglieder die ungarische Sprache nicht beherrschten und die in den meisten Fällen durch einen Dolmetscher prüften. Im Schuljahr 1926-1927 bestanden nur 32 % der ungarischen Schüler, die in einer ungarischen konfessionellen Schule studierten, diese prüfung. 19 Dies verminderte beträchtlich die Chancen der ungarischen Jugendlichen, an einer Universität weiterlernen zu können. Der rumänische Staat verstaatlichte in den an Rumänien angeschlossenen Gebieten die Universitäten, in denen das Rumänische als Unterrichts sprache eingeführt wurde. Die Bischöfe der siebenbürgisch-ungarischen Kirchen beschlossen, eine Universität zu gründen, um die Lehrerausbildung für die ungarische Minderheit zu sichern. Diese Universität begann ihre Tätigkeit am 20. Oktober 1920, aber die rumänische Regierung löste sie am Ende des Schuljahres aut,2° Die Vorschriften des Minderheitenvertrages, nach dem den szekler ischen und sächsischen Körperschaften in Religions- und Schulwesen Autonomie gewahrt werden mußte, wurden überhaupt nicht beachtet. 16
Monitorul Oficial 283/1925. Quellen, S. 284-286.
17
Monitorul Oficial 105/1928.
18
Hetven ev, S. 29.
19
Ebenda, S. 29. Quellen, S. 288-291.
20
Etven ev, S. 32.
334
Sandor Vogel
IV. Die Kirchen
Das Recht, die Religion frei auszuüben, wurde sowohl von den Karlsburger Beschlüssen als auch von dem Minderheitenvertrag festgelegt. Die erwähnten Dokumente sicherten die Religionsfreiheit für alle Personen und die Gleichberechtigung aller Konfessionen. 21 Die Verfassungen Rumäniens aus den Jahren 1923 und 1938 gewährleisteten die Gleichberechtigung für die religiösen Minderheiten. Zur gleichen Zeit erklärte aber Paragraph 22 der Verfassung aus dem Jahre 1923: die orthodoxe Kirche ist die vorherrschende Kirche im rumänischen Staat, und die griechisch-katholische Kirche genießt ein Vorrecht vor den anderen Kirchen. 22 Damit gerieten die römisch-katholische Kirche, deren Gläubigen zum größten Teil Ungarn waren und die ausschließlich ungarische reformierte und unitarische Kirchen sowie die sächsischen und ungarischen evangelischen Kirchen in eine nachteilige Lage. Paragraph 22 stand im Widerspruch zum Minderheitenvertrag und zu den Artikeln der Verfassung, die die Gleichberechtigung sicherten, und zu der bis in das 16. Jahrhundert zurückgehenden religiösen Toleranz in Siebenbürgen. Laut Gesetz über das Abgeordnetenhaus und den Senat23 waren die Bischöfe aller Kirchen, die mehr als 200.000 Gläubigen hatten, kraft ihres Amtes Mitglieder des Senats. Der Bischof der ungarischen unitarischen Kirche war kein Senator, weil diese Kirche nur 80.000 Gläubigen hatte. Für die ungarische römisch-katholische Kirche war das Konkordat, das der rumänische Staat und der Heilige Stuhl 1927 abschloß, besonders nachteilig. Gemäß dem Konkordat wurde die Diözese von Bukarest mit 26 Kirchengemeinden statt des siebenbürgischen Bistums, das 1,5 Millionen Gläubige zählte, zum Rang eines Erzbistums erhoben. Zur gleichen Zeit löste das Konkordat das Bistum von Großwardein auf, das eine Tradition von 900 Jahren hatte, vereinigte es mit dem Bistum von Szatmar (Satu Mare) und rief statt dessen ein neues griechisch-katholisches Bistum ins Leben. Aufgrund der schon erwähnten Agrarreform aus dem Jahre 1921 wurde 84,4 % des Grundbesitzes der ungarischen Kirchen enteignet. Die Kirchen der Minderheiten in Rumänien sicherten aber trotz ihrer schwierigen materiellen Möglichkeiten das Funktionieren des ungarischen Schulsystems und waren die bedeutendsten Wächter der nationalen und ethnischen Identität der Minderheiten.
21 Karlsburger Beschlüsse Art. III. Paragraph 2. Minderheitenvertrag Art. 2, 8, 9, 11, in: Mik6, S. 265-270. Quellen, S. 264-266, 272-275. 22
Hetven ev, S. 33.
23
Ebenda, S. 33.
Die Frage Siebenbürgens und die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien
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V. Sprachgebrauch Eines der wichtigsten Minderheitenrechte ist das Recht, die Muttersprache frei zu gebrauchen. Der rumänische Staat traf viele Maßnahmen, um die Minderheitensprachen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Zwischen den zwei Weltkriegen herrschte in Rumänien ein wahrer "terreur linguistique". Die Verfassungen Rumäniens (1923, 1938) deklarierten das Prinzip der bürgerlichen Gleichberechtigung, beschäftigten sich aber nicht mit der Frage des Sprachgebrauchs. Trotz der Gewährung des Rechtes des freien Sprachgebrauchs durch die Karlsburger Beschlüsse und des Minderheitenvertrags verabschiedete das rumänische Parlament mehrere Gesetze, die den Sprachgebrauch der Minderheiten beschränkten. Laut des Gesetzes über das Personenstandsregister durfte man in die Matrikel die Vornamen nur in ihrer rumänischen Form eintragen. 24 Die Anwälte durften vor den Gerichtshöfen nur in rumänischer Sprache das Wort ergreifen. 25 Die Unternehmen und Kaufleute26 wurden dazu verpflichtet, die Firmenschilder nur in rumänischer Sprache auzuhängen. Am 27. März 1936 trat das Verwaltungsgesetz in Kraft. Laut dieses Gesetzes war es möglich, in den Gemeinderäten die ungarische Sprache zu gebrauchen, das Protokoll mußte aber in rumänischer Sprache geführt werden. In der Stadt- und Kreisverwaltung war der Gebrauch der rumänischen Sprache verbindlich. Wenn in den Vertretungskörperschaften der Städte und der Kreise ein Stadt- oder Kreisrat nicht in rumänischer Sprache das Wort ergriff, wurde der Rat sofort aufgelöst. 27 Es war verboten, die Ortschafts- und Straßennamen in ungarischer Sprache zu schreiben, sogar in ungarischen Publikationen zu gebrauchen. 28 Die Beamten der öffentlichen Verwaltung und die Lehrer wurden verpflichtet, eine rumänische SprachpTÜfung abzulegen. Wenn ihnen das nicht gelang, wurden sie entlassen. 29 Im Jahre 1938 versuchte die rumänische Regierung, für die Minderheitenproblematik eine Lösung zu finden. Neben dem Ministerrat wurde ein Generalkommissariat ins Leben gerufen. Die Dienstordnung seiner Amtstätigkeit wurde in der Form eines Ministerratsprotokolls ausgearbeitet. Das betreffende Gesetz und das Protokoll 24
Monitorul Oficial 44/1928.
2S
Monitorul Oficial 151/1931.
26
MonitorulOficial 151/1928.
27
MikO. S. 16. Hetven ev. S. 21-22.
28
Erdely törtenete. S. 1745.
29
MikO. S. 148-149.
336
Sandor Vogel
wurden von der Fachliteratur als Minderheitenstatut erwähnt. Die konkreten Rechte waren im Ministerratsprotokoll enthalten. Laut des Protokolls hatten die rumänischen Staatsangehörigen ungeachtet ihrer Rasse, Sprache und Religion das Recht, Schulen und kulturelle Institutionen zu errichten (Artikel 12). Die sprachlichen, religiösen oder Rassenunterschiede bilden bei der Besetzung der öffentlichen Ämter kein Hindernis (Artikel 12). Jeder Angehörige der Minderheiten hat das Recht, das Wort in den Gemeinderäten in seiner Muttersprache zu ergreifen (Artikel 13). Die Beamten der Gemeinden mit einer anderssprachigen Minderheitsbevölkerung müssen die Sprache der Minderheit beherrschen (Artikel 16). Die Familiennamen müssen in ihrer ursprünglichen Form geschrieben werden (Artikel 19). Der Minderheitenstatut wurde aber nie als Grundgesetz kodifiziert. Das Generalkommissariat hatte nur eine Datensammel- und Kontrollkompetenz, das Ministerratsprotokoll galt nicht als Rechtsquelle .30 VI. Politisches Leben Nach dem Friedensvertrag von Trianon, als die Zugehörigkeit Siebenbürgens auch völkerrechtlich entschieden war, versuchte die ungarische Minderheit, sich in das politische Leben Rumäniens hineinzufügen. Die politischen Führungspersönlichkeiten deklarierten die loyale Eingliederungs- und Rechtsverteidigungspolitik. Die ungarische Minderheit Rumäniens rief 1922 ihre interessenvertretende Organisation, die Ungarische Landespartei, ins Leben, die bis zu ihrer Auflösung durch die königliche Diktatur im Jahre 1938 an allen Parlamentswahlen teilnahm. Wegen der Korruption und der Gewaltanwendung in den Wahlkämpfen war es für die Partei der Ungarn unmöglich, eine dem Prozentsatz der ungarischen Bevölkerung entsprechende Zahl von Abgeordneten und Senatoren zu wählen. Im Jahre 1922 konnte die ungarische Minderheit statt der ihr zustehenden 30 nur drei Abgeordnete ins Parlament schicken. 1923 schloß die Ungarische Partei einen Wahlbund mit der Rumänischen Volkspartei, den sogenannten "Pakt von Ciucea (Csucsa)". Die Vereinbarung der zwei Parteien enthielt mehrere Artikel, die den Sprachgebrauch der ungarischen Minderheit betrafen: Die ungarische Minderheit hat das Recht, in der örtlichen Verwaltung im Umgang mit den Behörden ihre Muttersprache in Wort und Schrift zu gebrauchen. Die Verwaltungsbehörden werden in den Gebieten, wo die ungarische Minderheit wenigstens 25 % der Bevölkerung bildet, Beamte stellen, die die ungarische Sprache beherrschen. In den Gemeinden und Städten, wo die ungarische Minderheit wenigstens 25 % der 30
Ebenda, S. 207-214, 293-296. Hetven
ev, S. 20.
Die Frage Siebenbürgens und die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien
337
Bevölkerung bildet, werden die Namen der Ortschaft und der Straßen und alle offiziellen Verkündigungen parallel mit der Staats sprache auch in ungarischer Sprache ausgehängt. 31 1926 gewann die Rumänische Volkspartei die Wahl mit einer absoluten Mehrheit. Weil sich die Wahl in diesem Jahr durch keine Korruption und Gewalt charakterisierte, gelang es der Ungarischen Partei, 15 Abgeordnete und 12 Senatoren in das Parlament zu schicken. Die Erwartungen der ungarischen Minderheit wurden jedoch nicht erfüllt, weil die Volkspartei die in der erwähnten Vereinbarung festgelegten Rechte nicht verwirklichte. 1928 schloß die ungarische Minderheit einen Wahlbund mit der politischen Partei der deutschen Minderheit ab. 1928 nahm die Ungarische Landespartei an der Wahl mit eigenständiger Liste teil, wählte 16 Abgeordnete und acht Senatoren und bildete damit die zweitgrößte Fraktion des rumänischen Parlaments. Als 1938 die königliche Diktatur an die Macht gelangte, wurden die politischen Parteien, darunter auch die Ungarische Landpartei, aufgelöst. Die politische Führung der ungarischen Minderheit vertrat die Meinung, daß die die Ungarn vertretende neu gegründete Ungarische Volksgemeinschaft in die auf korporative Prinzipien eingerichtete Rumänische Nationalfront eingegliedert werden muß, weil sonst die ungarische Minderheit ohne politische Vertretung bleiben wird. Das letzte Mal nahm die ungarische Minderheit am 1. - 2. Juni 1939 an der Wahl teil und wählte neun Abgeordnete und zwei Senatoren. 32 Der ungarischen Minderheit gelang es, sich in das politische Leben Rumäniens einzugliedern und zu einem bedeutenden politischen Faktor aufzurücken. Die rumänischen politischen Kräfte, obzwar mit starken Vorbehalten, erkannten die Ungarische Landespartei als Interessenvertreter der ungarischen Minderheit an. Die ungarische Minderheit konnte aber ihre Ansprüche in den damaligen politischen und Rechtsrahmen nicht geltend machen und gegenüber dem herrschenden rumänischen Nationalismus nur Teilergebnisse erzielen.
B. Die Außenpolitik der ungarischen Minderheit und ihre Beschwerden vor dem Völkerbund Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Rechte der Minderheiten unter den Schutz des Völkerbundes gestellt, und so ist die Minderheitenproblematik zu einer internationalen Frage geworden. Mehrere internationale Einrichtungen stellten sich den Minderheitenschutz als Aufgabe. Die ungarische Minderheit in Rumänien knüpfte Beziehungen mit allen Institutionen an, denen sie ihre Be31
MiM. S. 274-284.
32
Ebenda. S. 39-46. 60-61. 70-73. 85-87. Hetven ev, S. 38-43.
22 Timmcrmann
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schwerden vortragen konnte. 1924 besuchte die Delegation des amerikanischen Ausschusses für Religiöse Minderheiten Rumänien. Der Bericht des Ausschusses und die Antwort der rumänischen Regierung wurden mit dem Titel Religious Minorities in Transylvania, Boston 1925, veröffentlicht. Der Bericht stellte fest: "Der Eindruck, den wir von den Rumänen, Ungarn und Sachsen in diesem fruchtbaren Landesteil erhielten, ist, daß hier auf die Rassen-, Sprach- und Religionsprobleme keine entsprechende Lösung gefunden wurde. Dieses Land ist zu einem der traurigsten Länder Europas und zu einer bedeutenden Bedrohung für den Weltfrieden geworden. ,,33 Mit der Lage der Minderheiten in Rumänien befaßte sich die Interparlamentarische Union und die Volksliga Union (Union Internationale des Associations pour la Socü!te des Nations), deren Mitglied vor 1930 auch die Ungarische Volksligaunion in Rumänien war. Die Vertreter der ungarischen Minderheit in Rumänien nahmen 1925 an dem in Genf organisierten Minderheitenkongreß teil, der die europäischen Minderheiten vereinigte. Vom Standpunkt des Völkerrechtes gab es viele bedeutsame Beschwerden, die die ungarische Minderheit den zuständigen Foren des Völkerbundes einreichte. Der Rat des Völkerbundes erklärte, daß selbst die Minderheiten oder die Nichtmitgliedstaaten auf die den Minderheiten zugefügten Rechtsverletzungen den Bund aufmerksam machen können. Die ungarische Minderheit reichte dem Völkerbund Beschwerden ein, aber davon gelangten nur zwei, die Frage der ungarischen Ansiedler im Banat und jene des Privateigentums in Ciuc (Csik), vor den Rat des Völkerbundes. Das Eingreifen des Völkerbundes brachte ein gewisses Ergebnis: Die ungarischen Ansiedler im Banat erhielten Entschädigungen für ihren enteigneten Grundbesitz, die Rechtsnachfolger des Grenzregimentes von Ciuc bekamen einen Teil des Privateigentums von Ciuc zurück. Die Ungarische Landpartei reichte Beschwerden in den Fragen der Namensanalyse, der die Minderheiten beleidigenden Schulbücher und der Kulturzone ein. Als Ergebnis ordnete die rumänische Regierung an, daß die Minderheiten in den Schulbüchern nicht beleidigt werden dürfen. Der größte Teil der Beschwerden blieb aber ohne Ergebnis, weil der Völkerbund die Antwort der rumänischen Regierung aus politischen Gründen annahm. In mehreren Fällen hatten die eingereichten Beschwerden ihre Wirkung nicht in Genf, sondern in Bukarest erzielt, weil die rumänische Regierung, die um ihren internationalen Ruf besorgt war, die die ungarische Minderheit betreffenden unrechtmäßigen Maßnahmen zurückzog. 34 33
Zitiert von MikO, S. 81.
34
MikO, S. 114-125.
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C. Im Kreuzfeuer des Revisionskampfes Die ungarische Regierung kündigte ihre Revisionspolitik in den 1930er Jahren offen an. 35 Als Gegenwirkung bildeten sich in Rumänien Antirevisionsorganisationen. Das nationalsozialistische Deutschland brachte Mittel- und einen Teil Südosteuropas immer mehr unter seinen Einfluß. Das Paradoxe der Situation lag darin, daß während Ungarn mit der Hilfe Deutschlands seine Revisionsansprüche verwirklichen wollte, Rumänien die Unterstützung Deutschlands gegen Ungarns Revisionspläne gewinnen wollte. Im August 1940 verkündeten Deutschland und Italien die Teilung Siebenbürgens zwischen Ungarn und Rumänien. Laut des Schiedsspruches bekam Ungarn Nord-Siebenbürgen, 43.104 qkm aus dem nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Gesamtgebiet von 103.093 qkm zurück. Auf diesem Gebiet lebten zu dieser Zeit 1,34 Millionen Ungarn, 50000 Deutsche und 1,07 Millionen Rumänen. In SüdSiebenbürgen und im Banat, die weiterhin zu Rumänien gehörten, blieb eine ungarische Bevölkerung von 400-500000 Personen. Der Schiedsspruch löste die Frage der Minderheiten überhaupt nicht und lieferte sowohl Ungarn als auch Rumänien Deutschland aus. 36 Der Wiener Schiedsspruch wirkte nachteilig auf die rumänisch-ungarischen Beziehungen. Im Falle Rumäniens stellten die durch den Schiedsspruch entstandenen politischen und psychologischen Faktoren auf dem Weg zur Verbesserung der ungarisch-rumänischen Beziehungen bis heute ein Hindernis dar.
D. Schlußfolgerungen Zwischen den zwei Weltkriegen wurde die Minderheitenpolitik Rumäniens durch den für die Epoche charakteristischen Nationalismus bestimmt. Einige Züge jener Zeit beeinflußten aber positiv die Lage der Minderheiten, die eindeutig besser war als zur Zeit der kommunistischen Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Die ungarische Minderheit konnte sich mit ihren Beschwerden an den Völkerbund wenden. Rumänien, das auf seine internationale Beurteilung achten mußte, mußte den Ansprüchen der ungarischen Minderheit in manchen Fällen nachgeben und konnte gegen die Minderheiten nicht solche drastischen Maßnahmen treffen wie zur Zeit der kommunistischen Diktatur. Das rumänische 3S Magyarorszäg törtenete 1918-1919, 1919-1945 (Geschichte Ungarns 1918-1919, 1919-1945), Budapest 1984. Bd. 1., S. 640-644, 686-688. Bd. H., S. 949-958. 36
22'
Erdely törtenete, S. 1752-1754. Hetven ev, S. 45. Quellen, S. 295-297.
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parlamentarische System bot trotz der die Minderheiten betreffenden Einschränkungen einen weit breiteren politischen Rahmen für die Minderheiten als das kommunistische Regime. Das sich auf das Privateigentum gegründete Wirtschafts system war entscheidend für die Minderheiten, in dessen Bedingungen dem rumänischen Staat - trotz zahlreicher Versuche - es nicht gelang, die Wirtschaftsbasis der Minderheiten zu erschüttern. Die ungarischen Kirchen genossen trotz ihrer materiellen Schwierigkeiten großes Ansehen, vertraten eine sehr starke politische und moralische Kraft und konnten das ungarische Schulsystem aufrechterhalten. Das System des verbindlichen Religionsunterrichts ermöglichte den ungarischen Kindern, auch denen, die in einer rumänischen Schule lernten, am muttersprachlichen Religionsunterricht teilzunehmen. Die ungarische Presse und die ungarischen Verlage in Rumänien waren freier als zur Zeit des Kommunismus. Die in Ungarn gedruckten Bücher und Zeitschriften gelangten ohne Hindernis nach Rumänien. Das System des Privateigentums verteidigte einigermaßen die Angehörigen der Minderheiten vor dem völligen wirtschaftlichen und rechtlichen Ausgeliefertsein. 37 Als Schlußfolgerung kann festgestellt werden, daß die ungarische Minderheit in der Zeitspanne 1920-1940 - trotz schwerer Verluste - ihre ethnische Identität bewahren konnte.
37
Hetven ev. S. 43-44.
Nationalismus im Spiegel der lettischen Historiographie Von Leo Dribins
Die erste zusammenfassende Betrachtung des lettischen Nationalismus gab der Schriftsteller und rechtsgerichtete Politiker Pastor Andriews Niedra. 1909 und 1910 wurden seine jährlichen Vorlesungen vor der wissenschaftlichen Kommission der Rigascher Lettischen Gesellschaft in den rigaschen Zeitungen gedruckt. 1 Nach der Ansicht von A. Niedra war die Hauptaufgabe des Nationalismus das nationale Erwachen des Volkes sowie die Herausbildung, die Entwicklung und Verteidigung seiner nationalen Identität. Diese nationale geistige Richtungslinie war für die in den 50er - 70er Jahren des 19. Jahrhunderts geborene lettische nationale Intelligenz sehr charakteristisch. Diese Intelligenz kämpfte für kulturelle Selbständigkeit und Wirtschaftsfahigkeit der Letten, verteidigte die Nation gegen die Germanisierung, die Russifizierung, später auch gegen die Kosmopolitisierung. Niedra war jedoch überzeugt, daß ein politischer Nationalismus für die Letten nicht nötig war, denn die Nation sei zu klein, um eine unabhängige Politik und einen eigenständigen Staat zu schaffen. Nach seiner Meinung führte die Politisierung der Nation nur zu inneren Feindseligkeiten und risikovollen Abenteuern. Der Traum Niedras war eine religiös und nationalistisch denkende Gesellschaft der Letten, denen die Herrschaft einer Großmacht Stabilität und Frieden gewährte. Das wurde aber vom lettischen Volke abgelehnt, denn es wollte auch eine politisch denkende und wirkende Nation werden. 1913 erschien das Buch des Linkspolitikers (später ein Nationalliberaler) Mikelis Walters "Die lettische Kulturdemokratie, ihre Kraft und Aufgaben"l, in welcher er die politische Verteidigung der nationalen Kultur als Vorbedingung für eine weitere nationale Existenz motivierte. Nach Walters war die Geburt des lettischen Kulturnationalismus auch eine politische Aktion gegen die deutschbaltiI Niedra, A .. Tautiskas apzinas parveidosanas."Latvija", 1909,18. Junija; Kas apdraud musu tautibu. "Latvija" , 1910, 19. junija.
2 Valters M. Latviesu kulturas demokratija, vinas speki un uzdevumi. Riga, 1913; Musu tautibas Jatajums. Domas par Latvijas tagadni un nakotni, Riga 1914.
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Leo Dribins
sche Adelsdiktatur . Im weiteren sollten die Erfolge dieser Kulturbestrebungen durch eine Selbstverwaltung gesichert werden. Aber im Falle des Sieges der Revolution in Rußland könnte Lettland auch ein unabhängiger Staat werden. Das sagte Walters als erster Lette im Jahre 1905. 3 Der Sozialdemokrat (später Nationalradikaler) Margers Skujenieks forderte eine nationale Bildungs- und Erziehungspolitik, die in die Hände der Kommunalverwaltung übergehen sollte. Sein Buch "Die Nationalitätenfrage in Lettland" (1913)4 war gegen die chauvinistische Homogenisierungspolitik der zaristischen Regierung gezielt. M. Skujenieks sah die Rettung der Nation in einem Sprachnationalismus, der alle Schichten des Lettenturns vereinigen sollte. Er rief die Letten auf, nicht nur gegen deutsch-baltische Separationsstrebungen, sondern auch gegen einen Einfluß der Russen in Lettland zu kämpfen und aus diesem Grunde eine Superindustrialisation zu verhindern. Das Land muß lettisch bleiben! Hier kann man feststellen: Gerade mit solch einer Motivation argumentierten in den 50er Jahren die lettischen Nationalkommunisten ihren Widerstand gegen den sowjetrussischen Chauvinismus, der sich mit einem Industrialisierungsprogramm Lettlands tarnte. Eine ganz andere Position wurde in der Historiograpie des lettischen Nationalismus durch den Hauptideologen des lettischen Marxisten Peteris Stucka vertreten. 5 Er teilt die Geschichte der lettischen Nationalbewegung (bis zu 1914) in zwei Perioden:
1. In den 60er - 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, als die kleinbürgerlich nationale Intelligenz, die sogenannten Jungletten, die eigentlich dem ganzen lettischen Volk vorstanden. 2. Ab den 90er Jahren und später, als der Nationalpatriotismus von der sich konstituierenden mittleren Bourgeoisie im Wettbewerb mit den fremdvölkischen Konkurrenten benutzt wurde. Dieser "Nationalismus" war egoistisch und vertrat nur die Interessen einer Klasse. Stucka bezeichnete es als eine Fiktion, einen Betrug der Werktätigen, die anderer sozialer und nationaler Bestrebungen bedurften.
J
(Valters M.) Velreiz par nacionalo jautajumu. - "Revolucionara BaItija", 1905, Nr. 3, S. 7 - 9.
4
Skujenieks. M .• Nacionalais jautajums Latvija. Peterburga, 1913.
5 Stucka, P., Tautibu vai ski ru cina."Atvases", 1907, I, S. 35. - 58; Veteran (Stucka P.). Nacionalnij vopros i latisskij proletariat. "Prosvescenije". 1914, Nr. 2, S. 32 - 48.
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Stucka und der Vorstand der lettischen Sozialdemokratie betrachteten den Nationalismus des 20. Jahrhunderts nur als eine destruktive Ideologie und Bewegung, die das lettische Volk in eine Sackgasse führte. Dagegen propagierte Stucka und andere Sozialisten den "proletarischen Internationalismus", der nach seinem wahren Inhalt Nationalnihilismus und Kosmopolitismus darstellte. Ein politischer Nationalismus mit dem Ziel einer Staatsgründung wurde von Stucka strikt abgelehnt. Nach seiner Voraussage bringt die Weltrevolution die Letten zuerst in eine Russische Föderation und dann in ein vereinigtes sozialistisches Europa oder sogar in eine Weltrepublik. Das höchste, was Lettland verlangen darf, ist Autonomie. 6 Trotz dieser Haltung, die 1914 - 1918 viele Anhänger in Lettland hatte, entstand ein lettisches Nationalstaatsdenken. Es erhielt seine geschichtliche Betonung in den Büchern von Linards Laicens ("Der Staat Lettland") und Jänis Lapins ("Lettlands Dämmerung"), die 1917 erschienen. 7 Zu derselben Zeit gründete man in Moskau und in Cesis nationalistische lettische Zeitschriften "Dzimtenes Atblass" ("Echo des Vaterlandes") und "Laika Vestis" ("Nachrichten der Zeit"), die eine Loslösung Lettlands von Rußland als eine Forderung der Nation befürwortete. Das wurde dort besonders in den Artikeln von E. Blanks, J. Bankavs, J. Akuraters und K. Skalbe betont. Laicens und Lapins begannen ein neues Kapitel in der Nationalismushistoriographie mit dem Thema "Der lettische Nationalstaat". Sie hielten diese Staatsart als eine Notwendigkeit der Stunde, um das nach Rußland vertriebene lettische Volk wieder in seine Heimat zurückführen und im weiteren die Nation von einer Ausrottung oder vom drohenden Niedergang zu retten. Nach dem 18. November 1918, der Proklamation der Demokratischen Republik Lettland, wurde der Nationalstaat, seine Entstehung, Entwicklung und Perspektive ein wichtiger Gegenstand in der Forschung. Über diese Fragen flammte eine scharfe Diskussion zwischen den lettischen und deutschbaltischen Historikern und Politikern auf. In den Monographien von Walters "Lettland, seine Entwicklung zum Staat und die baltischen Fragen", "Baltengedanken und Baltenpolitik" und "Das Volk Lettlands", die in deutscher und französischer Sprache erschienen, 8 übte er Kritik gegen die von von Tobien, Fircks, Schie6 Stucka P. Nacionalais jautajums un latviesu proletariats. Darbu izlase 1906 - 1930. - Riga, 1972. S. 138 .• 143 .• 153., 159. 7 Lakens L. Latvijas valsts. Maskava, 1917; Lapins J. Latvija mijkresli. (Piezimes par Latvijas valsti.) Valka. 1917.
! Walters M. Lettland, seine Entwicklung zum Staat und die baltischen Fragen. Rom. 1923; Baltengedanken und Baltenpolitik. Paris. 1926; Le Peuple Letton. Riga, 1926.
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mann u. a. verbreitete Vorstellung, daß Lettland niemals ein echter Nationalstaat werden könne. Nach ihm sei eine multinationale Gesellschaft geschaffen, dessen Kultur von den Deutschbalten gebaut und europäisiert wurde. Walters beweist aus vielen Quellen, daß die lettische Kultur selbständige nationale Wurzeln hat, die von dem Volk in seinen Volksliedern, Sitten und Traditionen entwickelt und im 700jährigen Joch des Ostseeadels aufbewahrt wurde. Der lettische Nationalismus stammte auch von dieser Volkskultur , aber nicht auf Grund eines Hasses gegen Deutsche oder Russen, sondern als Erscheinung des Nationalbewußtseins einer unterdrückten Nation, die ihr Bestehen von Anfang an ununterbrochen verteidigen mußte. Gerade bei solch einer Lage waren die Letten von einer sehr starken nationalistischen Stimmung beeinflußt. - Man muß jedoch einwenden: Das geschah nach der Überwindung einer linksradikalen Euphorie des lettischen Bolschewismus, der 1919 eine militär-politische und ideologische Niederlage erlitt. Walters argumentierte, daß der lettische Nationalstaat die Fähigkeit besitze, die Auseinandersetzungen mit den Minderheiten zum Ausgleich der verschiedenen Interessen zu bringen. In Zukunft könnte hier eine überethnische politische Nation Lettlands entstehen. Darum sollte aber der Nationalstaat eine demokratische Gestalt erhalten. Walters propagandierte das national-liberale Regierungsmodell. Der radikalnationalistische Flügel wurde in der Historiographie besonders von den rechtsgerichteten Journalisten und Zeitungsredakteuren vertreten. Eine lesenswerte Aufmerksamkeit bekamen die Werke von Ernest Blanks. 9 In seinen Büchern und Artikeln entwickelte er eine Auffassung, daß der lettische Nationalismus von den Führern des Junglettenturns zusammen mit ihrem Nachlaß zwei widersprüchliche Vorstellungen übernommen hatte: Diese zwei widersprüchlichen Vorstellungen sind folgende: - Die Grundsätze einer Nationalkulturpolitik, deren Sendung das Volk bis zu einem starken Nationalstaat bewußt zu erziehen hat, um damit den Aufbau eines Nationalstaates vorzubereiten und zu verwirklichen. - Eine nationalwirtschaftliche Interessenvorstellung, die feindlich gegen das Deutschtum, aber konform zu dem Russenturn steht und darum zur Russifizierung bereit war. Von den Nationalpatrioten (als ihr Urheber wird Waldemars genannt) entstand eine russisch sprechende und denkende lettische Elite 9 Blanks, E., Latviesu tautiska kustiba. Riga, 1921; Republikas prieksvakara. Riga, 1924; Latviesu tautas atmoda. Kulturvesturisks apskats. Riga, 1927; (Pseud. E. Silzemnieks) Latvijas atdzimsana. Valsts 10 gadu atcerei. Riga, 1928; Tautiskas vienibas ideja atmodas laikmeta. Riga. 1935.
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mit rechts (prozaristisch) und links (probolschewistisch) tendierten Wirkungszielen. Blanks meinte, daß auch in der unabhängigen Republik diese Gruppen (Bauernbund, Sozialdemokratie u. a.) zur Macht gekommen seien. Er fürchtete, daß man bei einer kritischen Situation diese Leute zum Staatsverrat zwingen könne, denn ihr Nationalismus sei fraglich und befinde sich nach seinem inneren Geist nahe den Kosmopoliten. Gegen diese Gefahr stellte Blanks eine Alternative: Der Kulturnationalismus muß auch in der Politik Oberhand nehmen und einen Vorrang für die Kulturziele geben. Aber Blanks gab keine Antwort auf das Dilemma - wie man solche Richtung mit den Interessen des ökonomischen Aufbaus in Lettland in Einklang bringen könne. Dubios war sein Vorschlag, die wirtschaftlichen Rechte der Minderheiten einzuengen. Ein Nationalismus dieser Art verwandelte ihn selbst in einen Gegner der parlamentarischen Demokratie. Sein Mitstreiter Arturs Kroders sah den Hauptzweck des Nationalismus in der Schaffung einer nationalen Solidarität des lettischen Volkes. 10 Er forderte die gesetzliche Einführung einer nationalen Staatsideologie. Doch in Minderheitenfragen war Kroders toleranter und unterstützte kulturautonome Bestrebungen, die Personalautonomie verlangten, war aber gegen eine Territorialautonomie, die Lettland mit einer Spaltung bedrohte. Sein Ideal war ein Nationalstaat, dem die Minderheiten ihre Treue bezeugten. Der Philosoph Peteros Zalite sah im lettischen Nationalismus die einzige Strömung, die das Volk von dem Damoklesschwert der Vernichtung oder Assimilierung rettet. 11 Gerade darum mußte das lettische Volk auch weiter nationalistisch bleiben, um ein Schild in den kommenden Prüfungen der Geschichte zu bewahren. Zalite folgerte, daß die Nation auch nach dem Befreiungskrieg (1918 - 1920) gespalten geblieben sei und ein großer Teil der Bevölkerung unter linksradikalen anationalistischem oder kosmopolitischem Einfluß sich verbünde. Um so etwas zu überwinden, sollte einer Nationalerziehung vom Staat grünes Licht gegegen werden. Im Buch des Geschichtsforschers Ernest Amis "Das politische Erwachen des lettischen Volkes"12 wurde der Nationalismus in Lettland als eine von der Intelligenz geschaffene Kraft anerkannt, die die Politiker zwinge, dem Volk zu 10 Kroders, A., Nacija un skira. Riga, 1920; Domas par latvju kulturu. Riga, 1921.; Par minoritatut autonomiju. Riga, 1924; Cilveks un tauta. Riga, 1940. II Zalite, P .• Latviesu tautas dvesele ar iepriekseju dveseles jedziena un tautu dveseles apskatur. Riga, 1923. 12
Amis, E., Latvju tautas politiska atmoda. Riga, 1934.
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dienen. Würde diese Kraft geschwächt, so sei es möglich, daß die Staatsmänner sich zwar national geben, doch vor einem Druck von außen kapitulierten. Bei der geopolitischen Lage Lettlands sollte man diese Gefahr immer vor Augen halten. Das sei eine Mission des "Lettisch-Nationalismus". Einen besonderen Platz in der Historiographie des Nationalismus besaß der Führer der lettischen Nationalreligion Ernests Brastins. 13 Er betrachtete das Christentum als eine kosmopolitische Lehre und Strömung, die das nationalistische Gefühl mindere. Die Demokratie war in den Arbeiten dieses Autors als ein antinationales Verwaltungssystem bezeichnet, das dem Menschen eine anarchistische Weltanschauung vermittele und die Gesellschaft einer korrumpierten Politikerclique unterwerfe. Nach Brastins war der radikale Nationalismus das einzige, was diese Degenerationstendenz aufhalten könne. Jeder Eindrang einer Ausländerideologie schwäche diesen nationalen Widerstandswillen. Diese Konzeption stand eigentlich dem Faschismus sehr nah. Aber Brastins selbst weigerte sich, das anzuerkennen und schrieb von einem "nurlettischen" Nationalismus, der maximalistisch denke und wirke. Sein Staatsmodell war demnach "Natiokratie" - eine autoritäre Diktatur, die im Namen der Erhaltung des Nationalgeistes durchgeführt werde. Er erklärte: Damit ist keine Ethnokratie gemeint, die Aufgabe dieser Diktatur sei, eine innere nationale Stabilität den Letten zu garantieren und damit die Staatlichkeit der Nation zu festigen. Den größten Fehler Brastins und anderer Rechtsnationalisten verbarg sich in einem übermäßigen Nationalkonservativismus, der mit den demokratischen Werten und Tendenzen in Europa im Widerspruch stand. Eine direktfaschistische Richtung in Nationalismus schufen in Lettland die Gründer der "Perkonkrusts" ("Donnerkreuz") Bewegung. Diese wurde 1933 verboten und wirkte weiter im Untergrund. Ihr Merkmal war eine allgemeine Minoritätenfeindlichkeit und ein besonders ausdrücklicher Antisemitismus. Zwischen nationaldemokratischen und den nationalkonservativen sowie auch rechtsradikalen Kräften kam es zu einem unversöhnlichen Kampf in Lettland. Dennoch muß man konstatieren: Der demokratische Zweig des lettischen Nationalismus war zahlenmäßig zu schwach, um seine Konzeption auszuarbeiten und dem Volk vorlegen zu können. Nur die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Lettlands kritisierte in ihren Zeitungen, Zeitschriften und anderen Schriften den Trend zum Ultranationalismus. 1926 erschien z. B. eine II Brastins, E., Latviskas Latvijas labad. Majieni un zinajumi. 1925 - 1935. Riga, 1936; Tautibas maciba. Riga, 1936.
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Broschüre von Bruno Kalnins "Die Träger der nationalen Diktatur", 14 wo der Extremnationalismus als ein politischer Wahnsinn und seine Führer als politische Taschenspieler entlarvt wurden. Doch die Popularität solcher Literatur war begrenzt, weil sie die Nationalfrage nur im marxistischen Spiegel beschauten. Nach dem Staatsstreich vom 15. Mai 1934 verbot die Regierung Ulmanis jede Kritik am lettischen Nationalismus, der jetzt zu einer Staatsideologie erhoben wurde. In den Büchern über Geschichte, politisches und geistiges Leben in Lettland improvisierte sie die Mythen, die behaupteten, daß das nationale Gesamtheitsgefühl und die nationale Bestrebung der Letten schon im 12. und 13. Jahrhundert wurzelten. Die Geschichte Lettlands wurde so als eine Nationalgeschichte vorgestellt, die von dem Geist des Nationalismus durchgeführt sei. Das Ziel war, das lettische Volk nationalistisch zusammenzuhalten und eine Assimilation der Minderheiten zu stimulieren. Das Hauptziel war, die Unabhängikeit Lettlands damit zu stärken. Dieses Ziel hatte die Regierung Ulmanis nicht erreicht. Nach der Sowjetokkupation und der Eingliederung Lettlands in die UdSSR 1940 wurden Publikationen, die den Nationalismus nicht im Rahmen der KP-Direktiven und marxistisch-leninistischer Theorie betrachteten, als Delikt betrachtet. In den Büchern der von der Partei gelobten Autoren wurde tendenziös betont, daß der Nationalismus auch in Lettland immer nur eine bürgerlich reaktionäre Weltanschauung gewesen sei, deren Kern der Klassenegoismus der reichen, wohlhabenden lettischen Privateigentümer ausmachte. Der politische Nationalismus und die Nationalstaatsgründung wurde von diesen Geschichtsschreibern als Verrat der wirklichen Interessen der lettischen Nation dargestellt. Miske schreibt: Während des Bürgerkrieges 1918 - 1920 schlossen die nationalistischen Gegner der Sowjetrepublik Lettland ein Bündnis mit Deutschland, Estland und Polen gegen das lettische Arbeitervolk, das angeblich seinen Weg zum Sozialismus schon gewählt hätte. 15 Nach Drizulis und Rudevics 16 gab es in der Republik Lettland von 1920 1934 eine Evolution des Nationalismus zum Faschismus bzw. kam es zu einem Bündnis der beiden, was den Umsturz des parlamentarischen Staates ermöglichte. Als Hauptträger des Nationalfaschismus nannten sie den von Ulmanis u. a. 14
Kalnins B. Nacionalas diktaturas neseji. Riga, 1926.
15 Miske V. Tas jazina! Ka latviesu nacionalistiska burzuazija nodeva dzimteni un tautu. 1917 1919. Riga, 1968. 16 Drizulis, A. Latvija fasisma juga. Riga, 1959; Latvijas PSR vesture. No vissenakiem laikiem lidz musu dienam. 2. sejums. Riga., 1986; Rudevics A. Pardomas par burzuazisko Latviju. Riga, 1971.
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geführten Bauernbund und die Selbstschutzorganisation "Aizsargi", die ab 1933 unter der Begeisterung über die Machtübernahme Hitlers in Deutschland standen. Es wurde dargestellt, daß der Nationalismus immer eine destruktive Rolle in der Geschichte Lettlands gespielt habe. Von den während der Sowjetmacht erschienenen Werken über diese Probleme kann man mit Einschränkungen nur die Publikation von Vilis Samson als wissenschaftlich anerkennen. Für die Historiograpie ist sein Buch "Im Sumpf des Hasses und Irrtums" zu erwähnen. 17 Samsons entwickelt die von Stucka vorgelegte Darstellung, daß im bürgerlichen Lettland ein besonderer rechtsradikaler Nationalismus entstanden sei, der mit den Mitteln deutsch-, russischund judenfeindlicher Agitationen einen Umbruch in der politischen Stimmung der Letten zu erlangen hoffte. Der Zweck sollte gewesen sein, ein revolutionäres linksdenkendes Volk zu nationalistisch orientiertem Ethnos umzuwälzen und damit dem Nationalstaat ein ständiges Fundament zu errichten. 18 Samsons versuchte das mit vielen Quellen zu beweisen, eine Transformation des nationalistischen Rechtsradikalismus zum Nazismus zu zeigen. Nach seiner Meinung war gerade der "Perkonkrusts" und ihm ähnliche Organisationen die typischen Vertreter des Nationalismus in Lettland. Dieser habe sein Gesicht in vollem Maße während der Hitlerokkupation gezeigt, auch mit seinem aktiven Anteil an den ludenmorden und auch mit der Verfolgung links und demokratisch denkender Menschen. Den Wert dieses Buches minderte der Verzicht des Autors auf die Nennung des demokratischen Flügels im Widerstand gegen antidemokratische Bewegung und das totale Regime. Bei damaliger Zensur war es auch nicht möglich. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind beachtliche Forschungen von lettischen Exilwissenschaftlern in diesem Bereich vorgenommen worden. In den Werken von Edgar Andersons "Geschichte Lettlands 1914 - 1920" und "Geschichte Lettlands. Außenpolitik 1920 - 1940"19 wurde das Problem des Nationalismus in Lettland nicht besonders akzentuiert. Der Autor war von der liberalen Geschichtsschreibung des Westens beeinflußt. Er beurteilte den lettischen Nationalismus höchst skeptisch. Danach war diese Strömung nicht fahig, Realpolitik durchzuführen. Nationalismus sei meistens als ein Protest und als Kritik an der Strömung zu verstehen, die aber nicht an die Macht kommen sollte. Der 11
Samsons, V., Naida un maldu sliksna. Ieskats ekstrema latviesu nacionalisma uzskatu evolu.
Riga, 1983. 18
Stucka, P., Pret tautu naidu un tautisko ienaidu! Komunista piezirnes. Pleskava, 1921.
19 Andersons, E., Latvijas vesture 1914 - 1920. Stokholm, 1967; Latvijas vesture. Arpolitika. 1920 - 1940. I, 11. Stokholm, 1982 - 1984.
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lettische Extrernnationalismus sei eine Reaktion auf Kommunismusgefahr und des großen Einflusses der Minderheiten (besonders Juden und Deutsche) im Wirtschaftsleben des Staates gewesen. Die Tätigkeit der Rechtsnationalisten erschüttere die innere Lage Lettlands und erschwere eine Verständigung mit den Minderheiten. 20 Adolfs Silde, der selbst bis 1945 zu den Rechtsnationalisten gehörte, äußerte in seinem Buch "Die Geschichte Lettlands 1914 - 1940", daß der lettische Nationalismus nur in seiner extremen Form volle Charakteristiken vorzuzeigen hat. 2! Er betrachtete den "Perkonkrusts" als eine Bewegung der Jugend, die mit den Verhältnissen in Lettland unzufrieden war, besonders der Jungintelligenz, die gegen die Überlegenheit der jüdischen und deutschen Unternehmer in der Wirtschaft Lettlands protestierte. 22 Doch erkannte er auch, daß diese Jugend nicht realpolitisch dachte. Hier muß vermerkt werden: Silde ehrte nicht die autoritäre Gewalt Ulmanis, von der er als Rechtsradikaler verfolgt wurde, sah jedoch im "Ulmanisnationalismus" eine resultative Strömung. Im Grunde blieb Silde ein überzeugter Nationalist. Bücher, die von den sozialdemokratischen Verfassern im Exil geschrieben wurden, werteten den Nationalismus positiv nur wegen seines Anteils an der Gründung der unabhängigen Republik. Kalnins, Cielens, Bastjanis u.a. 23 zeigten, daß seine weitere Entwicklung antidemokratisch verlief und nicht mehr einer weiteren Entwicklung Lettlands diente. Kalnins betont, daß der demokratische Nationalismus der Letten in den Jahren des Ersten Weltkrieges von den lettischen Sozialdemokraten in der Schweiz formuliert worden war; dabei hatte der Volksdichter Rainis (Jänis Plieksans) eine hervorragende Rolle gespielt. 24 Doch später nahm der bürgerliche Nationalismus die Oberhand bei der Lösung der nationalen Frage, und das hatte tragische Folgen. Eine wichtige wissenschaftliche Darlegung kam von dem in Schweden lebenden lettischen Geschichtsforscher und Publizisten Uldis Germanis, der mit seiner Dissertation "Oberst Vacietis und die lettischen Schützen im Weltkrieg und in der Oktoberrevolution" (Stockholm, 1974) einen sehr interessanten 20
Andersons, E., Latvijas vesture. Arpolitika., 11, S. 531. - 532 ff.
21
Silde, A., Latvijas vesture. 1914 - 1940. Valsts tapsana un suverena valsts. Stokholm, 1976.
22
Silde, A., Pirma Republika. Esejas par Latvijas valsti. Brooldyn, 1982, S. 320. - 321 ff.
23 Kalnins, B., Latvijas Socialdemokratijas piecdesmit gadi. Stokholm, 1956; Cielens, F., Laikmetu maina. Atminas un atzinas. I - 111. Lidingö, 1961 - 1964; Bastjanis, V., Demokratiska Latvija: verojumi un vertejumi. Stokholm, 1966. 24
Kalnins, B., Vel cina nav gala. I. 1899 - 1920. Lidingö, 1983. S. 86. ff.
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Standpunkt vertrat. 25 Er schreibt: Nicht nur in den bürgerlichen, sondern auch in den proletarischen Schichten der lettischen Nation, sogar in der linken Sozialdemokratie sei seit 1917 ein starkes Nationalgefühl zu beobachten. Die lettischen Schützen in Rußland dienten dort weniger der Weltrevolution als vielmehr der Niederringung des russischen Imperiums, und damit hätten sie die Erstehung der Republik Lettland ermöglicht. Von den Büchern über unser Thema, die nicht von Wissenschaftlern verfaßt wurden, möchte ich zwei Werke anführen. Beide wurden in den USA verlegt. Das Buch von Aivars Rungis " ... die Letten gehen durch die Jahrhunderte" (1982) huldigt dem Nationalismus als einem Orientierungsanker im Leben der lettischen Nation. 26 Er hat ihm solch ein Selbstbewußsein und solch einen Zweck gegeben, das als eine wirksame Verteidigung und Erhaltung der nationalen Identität während des Zweiten Weltkriegs und der Sowjetokkupation gedient hatte. Nach Rungis hat jedes Volk eine Nationalideologie und Nationalpolitik nötig, sonst gehe die Nation zu Grunde. Im Widerspruch zu dieser Folgerung stehen die Überlegungen von Jekabs Duks "Das lettische Volk auf dem Weg des großen Irrtums und der Vernichtung. 1915 - 1940" (1974).27 Hier werde lettischer Nationalismus als ein Pseudopatriotismus bezeichnet, der dem Volk falsche, fehlerhafte Merkmale zuwies. Als erstes solches Merkmal nannte er den blinden Haß gegen Deutsche, der die lettische Jugend in den Abgrund des Ersten Weltkriegs stürzte und damit der Nation schwere Verlust zufügte. Diese Erschütterung hat Lettland auch in den Unabhängigkeitsjahren nicht überwunden. Danach führte in den Jahren 19201940 der auf Westen blickende Nationalismus zu einem neuen Irrtum: Nationalautokratie und Nationalhysterie, die die Nation hinderte, ihre Lage realistisch einzusehen und sich auf die weltpolitischen Prüfungen vorzubereiten. Nach 1940 wurden manche Nationalisten zu Knechten der Sowjetokkupanten, und viele dienten den Nazis, die auch feindlich gegen das Lettenturn gewirkt hatten. Das Volk war gespalten und desorientiert, meint Duks.
2j Germanis. U.• Oberst Vacietis und die lettischen Schützen im Weltkrieg und in der Oktoberrevolution. Stockholm, 1974; Die Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen der Letten. Von den baltischen Provinzen zu den baltischen Staaten. Beiträge zur Entstehungsgeschichte der Republiken Estland und Lettland. 1917 - 1918. Marburg/Lahn. 1971.
26 Rungis. A .. ... iet latviesi caur gadu simteniem. Verojumi un pardomas. secinajumi par latvieti. latviskumu un latvisko izglitibu. Brooklyn. 1982.
27 Duks. J .. Latviesu tauta lielo maldu un iznicibas celos. 1915 - 1940. Grand Haven. Michigan. 1974.
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Vor 1988 entstand eine besondere Richtung in der Historiographie des lettischen Nationalismus mit dem Ziel, durch die Erfahrung mit Nationalgeschichte dem Wiederaufbau Lettlands zu helfen. Es werde behauptet, daß die Geschichte des Nationalismus sorgfältig geprüft werden müsse und mit dem möglichen Resultat, die Wahrheit zu erschließen. Es sei sehr wichtig, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen und einen neuen demokratischen Weg zu finden. Man müßte sich von den marxistischen Klassenkampfschemata wie von rechtradikalnationalistischen Urteilen befreien, um ein pluralistisches Denken über diese Probleme zu entwickeln. Heute kann man hier zwei verschiedene Meinungen beobachten: Rehabilitation des nationalistischen Denkens und der nationalistischen Politik. Als Beispiel dient das Buch "Geschichte Lettlands. Für Jugendliche", 1993, das in der Redaktion von Odisejs Kostanda vorbereitet worden ist. 28 Dort wird der Nationalismus als eine erfolgreiche ideologische, politische und kulturelle Wirkungsrichtung dargestellt, die ein kleines Volk zu einem heroischen Teil der Europavölker ausgebildet hat. Danach hat der Kosmopolitismus und Internationalismus tödliche Wunden, der Nationalismus Befreiung und gute Aussichten für die Zukunft Lettlands gebracht. Autoren dieses Buches glorifizieren die Leistungen und Wirkungen der nationalistischen Kräfte auch in Folge des Zweiten Weltkriegs. Sie sind überzeugt, daß die lettische SS-Legion und die Polizeiregimenter, die an der Seite Hitlerdeutschland kämpften, der lettischen nationalen Sache wesentlich gedient haben. Auf diese Art wollten sie Lettland vor einer zweiten Sowjetokkupation bewahren. Sie hätten nicht voraussehen können, daß der Krieg einen negativen Ausgang nehmen würde. - So lesen wir in dem Buch von Kostanda. 29 Was mit einem positiven Ausgang gemeint sei, das wird dort nicht geschrieben. Aber es ist bekannt, daß Großdeutschland im Falle seines Sieges eine Eingliederung Lettlands in das Dritte Reich plante und eine Verbannung der Letten nach Osten vorsah. Der Sieg der Nazis hätte niemals den lettischen nationalen Zielen dienen können. Eine ganz andere Schlußfolgerung über diese Frage gibt das Buch von HaraId Biezais "Lettland in der Gewalt des Hakenkreuzes" ,30 das 1992 in Amerika gedruckt wurde. Dieses Buch stützt sich auf eine breite Quellenbasis, die aus den Archiven Bundesrepublik Deutschland stammt. Diese Dokumente zeigen, 28
Latvijas vesture. Skolas vecuma berniem. O. Kostanda redakcija. Riga, 1992.
29
Latvijas vesture. O. Kostanda red., S. 325.
30
Biezais, H., Latvija kaskrusta vara. Svesi kungi - pasu laudis. Gauja (USA), 1992.
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daß die Politiker. Funktionäre. Publizisten und Militärs. die den Hitlerokkupanten Hilfe leisteten. als keine echte Nationalisten betrachtet werden können. Sie waren vielmehr Kollaborateure. die die nationalen Interessen der Letten verrieten. Der lettische Nationalismus ist nach Biezais in dem Widerstand des demokratischen Teiles der Gesellschaft zu finden. der mit dem Hitlerismus keine Kompromisse einging. Ähnlicher Meinung ist auch der Historiker Kangeris. der speziell die Kollaboration der Extremnationalisten in Lettland erforschte. 31 Besonders negativ wurde der lettische Nationalismus in den Artikeln von Aivars Stranga bewertet. 32 Er behauptet. daß gerade wegen des staatlichen Nationalismus die Demokratie in Lettland eingeschränkt wurde und in den 30er Jahren überhaupt aufgelöst wurde. was den Niedergang der Republik gewissermaßen determinierte. Solche Meinung vertreten auch die Forscher Bluzma und und Straume. die eine kritische Analyse der Nationalitätenpolitik Lettlands erarbeiteten. 33 In letzter Zeit nimmt die wissenschaftliche Richtung Oberhand über die politisierte Nationalhistoriograpie. Die Historiographie zeigt, daß die Ideologie und Politik des Nationalismus in der Geschichte Lettlands eine konstruktive und auch eine zerstörerische Kraft bewiesen hat. Aber es ist noch zu früh, zusammenfassende Folgerungen über dieses Problem zu fassen. Die Forschungen bringen immer neue Tatsachen ans Licht. Man muß schon mehrere Fragen formulieren, um auf die Zukunft vorbereitet zu werden. Die erste Frage:
War der lettische Nationalismus eine Volksideologie und vertrat er die Mehrheit des Volkes, oder war er nur ein "Produkt" einer engen Gruppe, die die Nation hinter sich führen wollte? Die zweite Frage: Was haben die Nationalisten in Lettland eigentlich aufgebaut, und was haben sie zerstört? Die dritte Frage: Wer von denen, die sich Nationalisten nannten, war wirklich national im Denken und Wirken, und wer war nur ein 11 Kangeris, K., Kolaboracija Latvija Otra pasaules kara gados; Organizacija "Ugunskrusts/Perkonkrusts" -legalas darbibas faze (1932. - 1934.). Ref. konf. Riga, 1993, 20.V., 17. VI. 12
Stranga, A., Vilsanas 18. novembra Latvija. "Labrit", 1994, 8. marta.
11 Bluzma, V., Ka tas bija. Leskats nacionalaja jautajuma Latvijas Republika 1920 - 1940. Latvijas Liktengadi. IV. Riga, 1990.53. - 78. lpp.; Straume, A., Starpnacionalas attiecibas Latvija (1920 1940). Pretstatu cina. Latvija 1917. - 1950. Riga, 1990, S. 159. - 175. lpp.
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Die vierte Frage:
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Pseudonationalist, mit einer Bereitschaft, ganz andere Zielen zu verfolgen? War Lettland 1918 - 1940 ein echter Nationalstaat, dessen Erfahrungen von nachhaltiger Bedeutung sind, oder ist dieses Muster für die Zukunft nicht gültig?
Die Historiographie des Nationalismus muß bei der Antwort ein wissenschaftliches, wahrheitsgetreues und deutliches Wort sagen.
23 TI mmcrmann
Die Konservative Revolution und der Osten Zur Geopolitisierung des nationalen Diskurses in der Weimarer Republik Von Wolfgang Wippermann
Der von Arthur Moeller van den Bruck geprägte und schon 1941 von Hermann Rauschning 1 als Buchtitel benutzte Begriff der "Konservativen Revolution" ist 1950 von Armin Mohler in die Historiograpie eingeführt worden. 2 Mohler bezeichnete damit fünf politische Gruppierungen, die wie die Völkischen, die Nationalrevolutionäre, die Jungkonservativen, die Bündischen und die Landvolkbewegung zwischen NSDAP und DNVP gestanden und über ein im Kern gemeinsames Weltbild verfügt hätten. 3 Die weitere Forschung ist ihm darin im wesentlichen gefolgt. Genauer analysiert wurden entweder einzelne Gruppierungen der Konservativen Revolution, wie die Nationalrevolutionäre oder Nationalbolschewisten4 und die Jungkonservativen, S einzelne Organisationen6 oder Zeitschriften, 7 oder einzelne ihrer Repräsentanten, wie Arthur Moeller van den Bruck,8 Oswald Spengler,9 Ernst Niekisch lO u.a. 11
I
Hermann Rauschning, Die konservative Revolution. Versuch und Bruch mit Hitler, New York
1941.
2 Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland, 1918-1932. Ein Handbuch, Bd. 12, Darmstadt 3. Auf!. 1989 (zuerst 1950). J Die Landvolkbewegung ( in Schleswig -Holstein) und die Bündischen werden in der Neuauflage dagegen kaum noch erwähnt. 4 Karl O. Paetel, Versuchung oder Chance? Zur Geschichte des deutschen Nationalbolschewismus, Göningen 1965; Otto-Ernst Schüddekopf, Nationalbolschewismus in Deutschland 1918-1933, Frankfurt I M. 1973; Louis Dupeux, "Nationalbolschewismus" in Deutschland 1919-1933, München 1985.
5
Joachim Petzold, Wegbereiter des Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer
Republik, Köln 1978. 23·
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Kurt Sontheimer, 12 Kurt Lenk 13 und Stefan Breuer 14 untersuchten dagegen die zentralen Idologeme der Konservativen Revolution entweder allein (Breuer) oder im Rahmen des gesamten "antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik" (Sontheimer) und des deutschen Konservativismus überhaupt. (Lenk). Zu diesen zentralen Ideologemen und Leitbegriffen wurden nebem dem Führergedanken und dem Antiliberalismus das negative Verhältnis zur Demokratie und zur Moderne schlechthin sowie schließlich die positiv besetzten Begriffe Volk, Nation und Reich gezählt. Zu diesen zentralen Ideologemen bzw. Leitbegriffen der Konservativen Revolution gehört m.E. auch der Osten, weil durch den Diskurs über den Osten auch die Vorstellungen von Volk, Nation und Reich verändert, nämlich geopolitisiert wurden. Ich möchte diese These vornehmlich am Beispiel von Arthur Moeller van den Bruck, Oswald Spengler und Ernst Niekisch verdeutlichen. Doch zunächst ist eine scheinbar banale Frage zu klären, nämlich: Was ist der Osten?
6 H. G. K. Sieh, Der Hamburger Nationalistenklub. Ein Beitrag zur Geschichte der christlichkonservativen Strömungen in der Weimarer Republik, Diss. Mainz 1963; N. Edmundson. The Fichte Society: A Chapter in Germany" s Conservative Revolution, Diss. Harvard 1964; Y.Ishida, Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928-1933. Frankfurt / M. 1988. 7 J. Pöhls, Die "Tägliche Rundschau" und die Zerstörung der Weimarer Republik 1930 bis 1933. Diss. Berlin 1975; V. Mauersberger. RudolfPechel und die "Deutsche Rundschau". Eine Studie zur konservativ-revolutionären Publizistik in der Weimarer Republik (1918-1933), Bremen 1971.
8 Georg Kaltenbrunner, Vom "Preußischen Stil" zum "Dritten Reich". Anhur Moeller van den Bruck. in: Kun Schwedhelm (Hrsg.), Propheten des Nationalismus, München 1969, S. 139-158; D. Goeldel, Moeller van den Bruck (1876-1925) - Un nationaliste contre la revolution. Contribution a I" etude de la "Revolution conservatrice" et du conservativismse allemand du XXe siecle, Frankfurt / M. 1984.
9 Gilben Merlio, Oswald Spengler. Temoin de son temps. Bd. 1-2, Stuttgart 1982; Peter Christian Ludz (Hrsg.), Spengler heute, München 1988; Detlev Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988. 10
U. Sauermann, Die Zeitschrift "Widerstand" und ihr Kreis, Diss. Augsburg 1984.
11 Zu den übrigen Ideologen der Konservativen Revolution - Hans Freyer, Martin Heidegger, Ernst Jünger, Edgar Julius Jung, Carl Schmitt, Othmar Spann und Wilhelm Stapel - vgl. die im folgenden zitierten Arbeiten von Sontheimer, Lenk und Breuer. 12 Kurt Sontheimer. Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1968 (zuerst 1962). 1J
Kurt Lenk. Deutscher Konservativismus. Frankfurt / M. 1989.
14
Ste/an Breuer. Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993.
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Osten ist im Deutschen keineswegs bloß eine Himmelsrichtung. Wenn wir heute von Osten reden, meinen wir in der Regel einen Teil von Europa. Doch welchen? Nur seine Ostbegrenzung scheint klar zu sein. Dies ist der Ural. Doch wie weit reicht der Osten nach Westen? Ist es das klassische Osteuropa? Oder gehören auch Staaten dazu, die wie Estland, Lettland, Litauen, Polen und das unzweifelhaft zentral europäische Tschechien zu Ostmitteleuropa oder, wie man in den 20er und 30er Jahren sagte, zu Zwischeneuropa gehören? Reicht der Osten gar bis zu EIbe? Darauf deutet der alte, d.h. schon im 19. Jahrhundert anzutreffende Begriff Ostelbien und der neue, nach 1989 plötzlich und springflutartig verbreitete Ausdruck "Ostdeutschland" für die untergegangene DDR hin. Der Begriff Osten hat (oder: hatte) jedoch auch eine religiöse Konnotation, wie sie in dem Spruch "ex oriente lux" oder in der Ost-Ausrichtung der mittelalterlichen Kirchen zum Ausdruck kommt. Unter Osten konnte und kann man im Deutschen aber auch den Orient verstehen. 15 Dies gilt etwa für Goethese "west-östlicher Diwan", in dem keineswegs das Verhältnis zwischen Ost- und Westeuropa, sondern zwischen Orient und Okzident thematisiert wird. Um diese Beziehung herzustellen, müssen wir im Deutschen jedoch weitere Adjektive wie naher, mittlerer oder Ferner Osten bemühen. Neben der rein geographischen, der religiösen und der Bedeutungsvariante von Osten = Orient gibt es jedoch noch einen vierten politisch motivierten Sprachgebrauch. Danach ist Osten ein, ich verwende einen Neologismus, geostereotypisierter Raum. Ganz grob lassen sich zwei Varianten, bzw. zwei Geostereotypen unterscheiden: Einmal gilt dieser Osten als ein bedrohlicher Raum, in dem barbarische Regime asiatische Taten begehen, und aus dem permanent Fluten aus dem Osten gegen die Dämme der westlichen Zivilisation heranbrechen. Dieses Geostereotyp ist bereits im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert entstanden. Anlaß war die damalige Türkengefahr ,16 die dann dank der neuen Erfindung des Buchdrucks medienwirksam etwa in den sog. "Neuen Zeitungen" verbreitet, geschürt und ausgenutzt werden konnte. Die Angst vor den Türken aus
15 Dazu die interessante Studie von Edward W. Said, Orientalism, New York 1979. Said stützt sich jedoch fast ausschließlich auf Beispiele aus dem englischen und französischen Sprachgebrauch.
16 Zu den ideologischen und metalitätsgeschichtlichen Auswirkungen der Türkengefahr: Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978.
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dem Südosten Europas wurde dann auf die Angst vor dem barbarischen Rußland übertragen,17 das sich unter Iwan IV., der nicht zufällig den falsch übersetzten Beinamen der Schreckliche erhielt, anschickte, in die europäische Politik einzumischen. 18 Trotz aller Mahnungen von weiteren Rußlandbesuchern, wonach, um den Dichter Paul Fleming zu zitieren "in der Barbararey auch was zu fmden sey, daß nicht barbarisch ist", 19 trotz der Bemühungen von Herrschern wie Peter dem Großen, Rußland zu verwestlichen oder wenigstens zu modernisieren - die Angst vor dem barbarischen oder asiatischen Rußland 20 und den Fluten aus dem Osten blieb bestehen. Hier führt ein gerader Weg von der opritschnina Ivan Grosnys bis zur GPU Stalins, von den zaristischen Kosaken über die "bolschewistischen Horden"21 bis hin zu den Asylantenfluten, die alle eins gemeinsam haben, sie kommen aus dem Osten.
Neben diesem zutiefst negativen gibt es jedoch auch ein scheinbar positives Geostereotyp. Danach ist der Osten so etwas wie das gelobte Land, in das gerade die Deutschen, einem naturwüchsigen "Drange" folgend, reiten oder ziehen sollen, um den dort lebenden primitiven Ostvölkern die Kultur, natürlich die deutsche Kultur zu bringen und um für sich selber Siedlungs- und Lebensraum zu gewinnen. 22 Dieser Mythos vom Osten als deutschem Lebensraum ist 17 Sehr gut herausgearbeitet wird diese "Feindbild-Übertragung" bei: Andreas Kappeier, Die deutschen Flugschriften über die Moskowiter und Iwan den Schrecklichen im Rahmen der Rußlandliteratur des 16. Jahrhunderts, in: Mechthild Keller (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht, Bd. I, München 1985, S. 150-812. 18 Zum deutschen Rußlandbild: Eckhard Matches, Das verändene Rußland. Studien zum Rußlandverständnis im 18. Jahrhunden zwischen 1725 und 1762, Frankfun IM. 1981; Peter lahn, Russophilie und Konservativismus. Die russophile Literatur in der deutschen Öffentlichkeit 1831-1852, Stuttgart 1980; Mechthild Keller u.a. (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht, Bd. 1-3, München 1985-1991. 19 So der Dichter Paul Fleming im 17. Jh. ; zitien nach: Monika Hueck, "Der wilde Moskowit". Zum Bild Rußlands und der Russen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts (Überblick), in: Keller (Hrsg.), Russen und Rußland, S. 289-340, S. 319.
20 Dazu: Hans Lemberg, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom "Norden" zum "Osten" Europas, in: Jahrbuch zur Geschichte Osteuropas N.F. 33, 1985, S. 48-91; Ekkehard Klug, Das "asiatische Rußland". Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils, in: HZ 235, 1987, S. 265-289. 21 Mit weiterführenden Literaturhinweisen: Peter lahn, "Russenfurcht" und Antibolschewismus: Zur Entstehung und Wirkung von Feindbildern, in: ders. u.a. (Hrsg.), Eroberung und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945. Essays, Berlin 1991, S. 47-64; Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Das Rußlandbild im Dritten Reich, Köln 1994. 22 Dazu und zum folgenden: Wolfgang Wippermann, Der "deutsche Drang nach Osten". Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981; ders., Die Ostsiedlung in der deutschen Historiographie und Publizistik. Probleme, Methoden und Grundlinien der Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang H. Fritze (Hrsg.), Germania Slavica I, Berlin 1980, S. 41-
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erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt worden, wurde jedoch von Anfang an fälschlich auf das Mittelalter "rückdatiert", als "die Deutschen" schon einmal in einem grandiosen Zug nach dem Osten (Karl Hampe) oder Drang nach Osten aufgebrochen seien, um den primitiven Slawen die deutsche Kultur zu bringen und den Osten überhaupt erst einmal zu kolonisieren. Diese Idee von einer von deutschen Kulturträgern bestimmten mittelalterlichen deutschen Ostkolonisation ist historisch falsch und ein nachträglich konstruierter Mythos, der gegenwartspolitischen Zielen und Zwecken dienen sollte. Einmal deshalb, weil es die Deutschen im modemen Sinne im Mittelalter noch gar nicht gab. Zweitens deshalb, weil von einer deutschen kulturtragenden Mission objektiv nicht gesprochen werden kann. Im Osten lebten keine Barbaren. Die technischen und rechtlichen Innovationen wie der eiserne Scharpflug, die Dreifelderwirtschaft, die Stadt im Rechtssinne etc. waren keine deutsch-nationalen Erfmdungen. Die, wie man besser sagen sollte, Agrarrevolution des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts war genauso wenig deutsch wie die industrielle Revolution spezifisch und ausschließlich englisch war. Die sog. mittelalterliche deutsche Ostkolonisation ist schließlich drittens ein nachträglich geschaffener Mythos, weil sein angeblicher Epochencharakter den Zeitgenossen gar nicht bewußt war. Sind doch sehr unterschiedliche historische Ereignisse und Phänomene zu einem angeblich einheitlichen zusammengefügt worden. Gemeint ist die politische Ostexpansion der sächsischen Kaiser und verschiedener Landesfürsten (darunter auch der Deutsche Orden), die gewaltsame und friedliche Christianisierung der Polen, Elb- und Ostseeslawen, Pruzzen und Balten sowie schließlich Siedlungsvorgänge in Territorien, die von deutschen und slawischen Fürsten regiert wurden. So problematisch und historisch fragwürdig diese Vorstellungen von einer deutschen Ostkolonisation oder epochenübergreifenden Ostbewegung auch waren, so wichtig und wirkungsvoll waren sie, um die Forderung nach neuem 70; ders., Das Bild der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung bei Marx und Engels, in: Fritze (Hrsg.), Germania Slavica 1, S. 71-97;ders., "Gen Ostland wollen wir reiten!" Ordensstaat und Ostsiedlung in der historischen Belletristik Deutschlands, in: Wolfgang H. Fritze (Hrsg.), Germania Slavica 2, Berlin 1981, S. 187-235; ders., Das Slawenbild der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Slawen und Deutsche zwischen Eibe und Oder, Berlin 1983, S. 68-81; ders., Die deutsche und polnische Frage in der deutschen Historiographie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1987, S. 29-36; ders., Probleme und Aufgaben der Beziehungsgeschichte zwischen Deutschen. Polen und Juden, in: Steji Jersch-Wenzel (Hrsg.), Deutsche - Polen- Juden. Ihre Beziehungen von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Berlin 1987, S. 1-47. Zum Polenbild jetzt: Hasso von Zitzewitz, Das deutsche Polenbild in der deutschen Geschichte. Entstehung - Einflüsse - Auswirkungen, 2. durchges. Aufl. Köln 1993.
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Lebensraum (ein Begriff, den der Geograph Ratzel erfunden hae3) im Osten zu legitimieren. Diese ostimperialistischen Vorstellungen, die zunächst von einigen Historikern, Geographen24 und Publizisten entwickelt wurden,25 sind dann massenwirksam und historisch bedeutsam geworden, weil sie zunächst von den antiparlamentarischen Massenverbänden der Alldeutschen und des Deutschen Ostmarkenvereins, dann auch von der Reichsleitung selber aufgegriffen, verbreitet und ansatzweise realisiert wurden. Vor dem Griff nach der Weltmacht stand schon im Ersten Weltkrieg die Errichtung eines deutschen Ostimperiums, dessen Grundlagen mit dem Diktat-Frieden von Brest-Litowsk auch erreicht wurden. 26 Um so größer dann der Schock, als es mit der Weltmacht dann doch nichts wurde , als das schon errungen geglaubte Ostimperium wieder verloren ging, und als schließlich selbst Teile der so umkämpften "Ostmark" an Polen abgegeben werden mußten. Das war der historische Hintergrund und politische Ausgangspunkt für die Beschäftigung der Angehörigen der Konservativen Revolution mit dem Osten. Wie reagierten sie auf diese neue Situation? Welche Vorstellungen vom Osten hatten sie, bzw. welche, um den Titel eines Buches von earl Dyrssen zu zitieren, welche Botschaft des Ostens27 haben sie empfangen? Bei Arthur Moeller van den Bruck war der Osten zunächst einmal eine geistige Alternative zur bisherigen, wie er meinte, einseitigen westlichen Orientierung. Angeregt dazu hatte ihn die Beschäftigung mit Dostojewski, dessen Werke er zwischen 1905 und 1914 in einer 22 bändigen Gesamtausgabe herausgegeben hatte. In der Einleitung zum Band 1 der Dostojewski-Ausgabe heißt 23 Friedrich Ratzei, Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie, in: Festgabe für Albert Schäffle zur siebzigsten Wiederkehr seines Geburtstages am 24. Februar 1901, Tübingen 1901, S. 101-189. Dieser Gedanke ist aber schon enthalten in seinem Hauptwerk: Friedrich Ratzei, Politische Geographie, Leipzig 1879. 24
Neben Ratzel vor allem Rudolf l(jellen, Die Großmächte der Gegenwart, Berlin 1916; und:
Karl Haushofer u.a. (Hrsg.), Bausteine zur Geopolitik, Berlin 1928; ders., (Hrsg.), Raumüberwindende Mächte, Leipzig 1934.
25 Henry Cord Meyer, Mineleuropa in German Thought and Actions 1815-1945, Den Haag 1955; Karl-Georg Faber, Zur Vorgeschichte der Geopolitik. Staat, Nation und Lebensraum im Denken
deutscher Geographen vor 1914, in: Festschrift für Helmut Gollwitzer, Münster 1982, S. 389-406; Klaus Kost, Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfangen bis 1945, Bonn 1988.
26 Hier ist vor allem auf die Forschungen von Fritz Fischer zu verweisen: Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18, Düsseldorf 1962; ders., Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911-1914, Düsseldorf 1969. 27
Corl Dyrssen, Die Botschaft des Ostens. Fascismus. Nationalsozialismus und Preußentum.
Breslau 1933.
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es: "Nachdem wir so lange zum Westen hinübergesehen haben, bis wir in Abhängigkeit von ihm gerieten, sehen wird jetzt nach dem Osten hinüber - und suchen die Unabhängigkeit .( ... ) Der Blick nach Osten erweitert unseren Blick um die Hälfte der Welt. Die Fragen des Ostens sind für uns eine Frage der geistigen Universalität. C••• ) Wir haben im Verlauf unserer langen Bildungsgeschichte schon manches ferne und fremde Bildungsgebiet einbezogen. C... ) Aber noch nie wurde eines so gefährlich wie das westliche geworden ist. ,,28 Diese Schwärmerei für den Osten im allgemeinen, Rußland im besonderen hinderte Moeller van den Bruck nicht, während des Ersten Weltkrieges die Annektion großer Gebiete auf Kosten Rußlands zu fordern. Nachdem dies gescheitert war, sah er sich in seinem Haß auf den Westen erneut bestätigt. Habe doch Deutschland im Vertrauen auf den amerikanischen Präsidenten Wilson die Waffen niedergelegt, um dann völlig waffenlos den westlichen Siegern ausgeliefert gewesen zu sein. Daraus sehe man, daß die vom Westen so beschworenen liberalen Prinzipien nur etwas für die Sieger seien. 29 Daher solle sich Deutschland lieber an dem antidemokratischen Preußen orientieren, dessen territorialer Schwerpunkt nicht zufällig im Osten Deutschlands gelegen habe und dessen Zucht vom Staat des Deutschen Ordens in Ostpreußen geprägt gewesen sei: "In Preußen gaben die Deutschritter ein erstes Beispiel der preußischen geistigen Zucht, wenn sie es mit dem Gelübde der Armut, des Gehorsams und der Selbstüberwindung am ernstesten von allen Ritterorden nahmen. ,,30 An der kolonisatorischen Tätigkeit des Deutschen Ordens und Preußens solle sich das gegenwärtige Deutschland ein Vorbild nehmen: "Preußen ist die größte kolonisatorische Tat des Deutschtums, wie Deutschland die größte politische Tat des Preußenturns sein wird. ,,31 Mit dieser Beschwörung des Mythos Ostkolonisation bekannte er sich ziemlich offen zu einer ostimperialistischen Politik, was er in der Schrift über "Das Recht der jungen Völker" folgendermaßen rechtfertigte: 32 Die Deutschen seien ein junges Volk, weil wir das Volk einer starken Vermehrung blieben und das 28 Anhur Moeller van den Bruck, Einleitung zu F. M. Dostojewski, Sämtliche Werke, 1. Abt., München 1922, S. VI.
29 Arthur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, 4. Auf!. Hamburg 1931 (zuerst 1923), S. 73 ff.
30
Anhur Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 14.
31
Ebenda.
J2
Arthur Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919.
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Volk einer gesteigerten Leistungsfähigkeit wurden. 33 Daher habe das junge deutsche Volk ein Anrecht auf einen hinreichend großen Raum,34 was ihm jedoch von den alten Völkern, worunter Moeller vor allem England und Frankreich versteht, verweigert werde. Dennoch sei die Geschichte auf deutscher Seite. Dies gelte vor allem dann, wenn sich Deutschland nach Osten ausdehne: "Jenachdem, ob die Völker in der Bahn dieser Richtung liegen, die sich heute im allgemeinen von Westen nach Osten bewegt, liegen sie in der Richtung künftiger Völkergeschichte. ,,35 Hier wird ein Widerspruch in der Argumentation Arthur Moeller van den Brucks deutlich. Zählt er doch keineswegs nur die Deutschen zu den jungen Völkern, die ein Recht auf Ausdehnung haben. Dies gelte auch für die Finnen, Polen und andere Völker des Ostens. 36 Wohin sollen die sich ausdehnen, ohne mit Deutschland in Konflikt zu gelangen? Moeller hat darauf folgende Antwort: Sie sollen sich getrost Deutschland anvertrauen, denn die Deutschen seien sowohl ein junges Volk wie Träger einer alten Kultur. Daher könnten die übrigen jungen Völker nur bei den Deutschen bei ihrem Aufstiege gegen die alten Völker Rückhalt finden. 37 Sie sollten sich Deutschland anschließen, weil Deutschland auch die Probleme der anderen jungen Völker mitlösen werde. Allein Deutschland könne als junges und altes, d.h. industrialisiertes Land, den Osten erschließen. Die Intensivierung der Abeit im Osten könne nur von Deutschland kommen. Der Osten könne sich nicht selbst erschließen, denn "das Wesen des Ostens ist Beharrung" . 38 Dies gelte vor allem für Rußland, das durch die bolschewistische Revolution "auf eine tiefere Stufe von Zuständen hinabgeschleudert worden (sei), als es die konservative je war. ,,39 Hitler hat diesen Gedanken in "Mein Kampf" weitaus klarer ausgedrückt: "Wollte man in Europa Grund und Boden, so konnte dies im großen und ganzen nur auf Kosten Rußlands geschehen, dann mußte sich das neue Reich 33
A.a.O., S. 7.
34
A.a.O., S. 20. Hier wird der Einfluß Ratzels deutlich.
3S
A.a.O., S. 23.
36
A.a.O., S. 87.
37
A.a.O., S. 43.
38
A.a.O., S. 103.
39
Ebenda.
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auf der Straße der einstigen Ordensritter in Marsch setzen, mit dem deutschen Schwert, dem deutschen Pflug, der Nation aber das tägliche Brot zu geben. ,,40 Der einzige Unterschied zwischen Hitler und Moeller liegt nur darin, daß sich an Moellers Drang nach Osten41 auch die anderen jungen Völker beteiligen dürfen, aber nur, wenn sie sich zu Deutschland bekennen. 42 Dies liest sich dann so: "Die jungen Völker erobern den Osten arbeitend. Sie gleichen eine lange Vernachlässigung aus. Sie holen Jahrhunderte einer versäumten oder verfehlten Entwicklung nach. Sie tragen Gleichschritt und Zeitmaß in das wartende Leben des Ostens, aber auch Gleichmaß in das verwirrte Leben Rußlands. ,,43 Auch wenn sich Moeller van den Bruck vor allem in seinem Bestseller über das "dritte Reich"44 alle Mühe gab, diese klassischen ostimperialistischen Vorstellungen wieder in ein mystisches Halbdunkel4s zu tauchen, hier waren sie deutlich genug. Ihm ging es um nichts anderes als um einen neuen deutschen Drang nach Osten, um zusammen mit einigen jungen Hilfsvölkern neuen Lebensraum auf Kosten Rußlands zu gewinnen. 46 Daher war es schon mehr als kurzsichtig, wenn ausgerechnet Karl Radek in seiner sog. Schlageter-Rede vom Juli 1923 den deutschen Nationalisten ein Bündnisangebot machte, was von Moeller van den Bruck dann auch konsequent abgelehnt wurde, weil die "deutsch- russische Verständigung nicht paritätisch, sondern bolschewistisch und parteikommunistisch betrieben" worden sei. 47 Maßgebend für diese Ablehnung war jedoch nicht so sehr Moellers Angst vor einer, von Bolschewisten
40 Adolf Hitler, Mein Kampf. 2 Bände in einem Band. ungekürzte Ausgabe, 22. Aufl. München 1933. S. 154. 41 Bei Moeller heißt es wörtlich: "Die Intensivierung der Arbeit im Osten kann nun einmal nicht von Innen, sie kann nur von Außen geschehen: von Deutschland her, von wo sie als Beispiel kommt, um nun, indem sie Volk auf Volk in den mächtigen Vorgang einbezieht, der nach und nach das ganze europäische Leben erfaßt. langsam nach Osten vorzudringen." (S. 103).
42 Moeller drückt diesen Gedanken folgendermaßen aus: "Als die jungen Völker sich zu Deutschland bekannten. da taten sie dies nicht aus Nachahmung oder Unterordnung" (S. 111). 43
A.a.O., S. 106.
44
Anhur Moeller van den Bruck. Das dritte Reich. 4. Aufl. Hamburg 1931 (zuerst 1923).
43
Sontheimer. Antidemokratisches Denken. S. 239.
46 Fortgefiiht wurden die Gedanken Moeller van den Brucks vor allem von: Max Hildeben Boehm, Das eigenständige Volk, Göttingen 1932. 47 Anhur Moeller van den Bruck, Wirklichkeit, in: ders., Das Recht der jungen Völker, hrsg. von H. Schwarz, Berlin 1932. S. 91-100, S. 99.
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wie Radek angezettelten, proletarischen Revolution in Deutschland,48 sondern seine ostimperialistische Zielsetzung. Nicht ganz so weit ist Oswald Spengler gegangen. Zu Rußland und dem Osten hat sich Spengler bereits 1918 in seinem Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes" geäußert. 49 Allerdings geschah dies eher am Rande. Nachdem er im ersten Band die unendliche Ebene als das Ursymbol des Russentums bezeichnet hatte, 50 skizzierte er im zweiten Band die russische Geschichte. 51 Dabei bezeichnete er den primitiven Zarismus als die einzige Form, welche noch heute dem Russentum gemäß sei. Doch dieses durch und durch primitive, aber wenigstens unverfälschte Russentum sei schon von Peter dem Großen in eine dynastische Form Westeuropas umgefälscht worden. 52 Diese "Verwestlichung" Rußlands sei dann von den Bolschewisten fortgesetzt worden, wobei nicht klar wird, was für Spengler negativer ist: das ursprüngliche "primitive" oder das "verwestlichte" petrinische und bolschewistische Rußland. 53 Angst hatte er offensichtlich vor keinem von ihnen. Auch in seinem Büchlein über "Preußentum und Sozialismus"54 gab Spengler zu erkennen, daß er noch ganz in den Taditionen des alten linken Rußlandbildes dachte, wonach dieses gänzlich rückständige Land nicht zu Europa gehöre. Auch Spengler meinte hier, daß zwischen dem russischen und dem abendländischen Geist eine scharfe Scheidelinie bestünde. S5 Das Russentum sei von Natur aus kindlich, dumpf und ahnungsschwer. Allerding sei ihm von Peter dem Großen, den Westlern und schließlich von den Bolschewisten eine bereits männlich vollendete, aber eben fremde und herrische Kultur aufgezwungen worden, wodurch es gequält, verstört, verwundet, vergiftet worden sei. Dieses 48
So Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, S. 147.
49 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1-2, München 1923. 50
Erster Band: Gestalt und Wirklichkeit, S. 261.
51
Zweiter Band: Welthistorische Perspektiven, S. 231 ff.
52
A.a.O., S. 232.
53 "Hier liegen heute wie in Syrien zur Zeit Jesu zwei Wirtschafts welten übereinander, eine obere, fremde, zivilisierte, die von Westen eingedrungen ist und zu der als Hefe der ganze abendländische und unrussische Bolschewismus der ersten Jahre gehört, und eine stadtlose, nur unter Gütern lebende in der Tiefe, die nicht rechnet, sondern ihren unmittelbaren Bedarf eintauschen möchte." (S. 622.) 54
Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1920.
55
A.a.O., S. 92.
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Oberflächenrußland habe jetzt die "Wahl zwischen preußischer oder englischer Idee, Sozialismus oder Kapitalismus, Staat oder Parlament". 56 Damit deutete er die Möglichkeit einer preußisch-russischen Zusammenarbeit gegen England an, das nach Spengler alle negativen Erscheinungen der Zeit wie Kapitalismus, Liberalismus, Parlamentarismus und selbst Marxismus geschaffen hat und immer noch repräsentiert, während die "slawische Ostmark" Preußen, die durch "Deutsche aller Stämme" besiedelt worden ist, 57 alle positiven wie Autoritarismus, Disziplin, Staatsgesinnung etc. verkörpert. Diesen Gedanken hat Spengler dann in einem Vortrag näher ausgeführt, den er unmittelbar nach dem Abschluß des Rapallo-Vertrages im Februar 1922 gehalten hat. 58 Hier wiederholte er zunächst einmal seine Einschätzungen Rußlands als ein nicht-europäisches, asiatisches Land59 und des russischen Volkstums als weich, demütig und schwermütig,60 um dann auf die negativen Folgen der Verwestlichung Rußlands durch Peter den Großen und Lenin einzugehen. Die Schöpfung Lenins, das bolschewistische Rußland sei jedoch der Mehrzahl der Russen fremd, feindlich und verhaßt und werde in irgendeiner Weise eines Tages vergehen. 61 Doch schon jetzt habe das schweigende Russenturn der Tiefe den Westen vergessen und blicke längst nach Vorder- und Ostasien hin. 62 An westlichen Fragen sei nur noch die herrschende Schicht interessiert, welche die kommunistischen Parteien in den einzelnen Ländern organisiert und unterstützt, wie ich glaube, ohne jede Aussicht auf Erfolg. 63 Da die Bolschewisten nicht geflihrlich seien und ohnehin bald verschwinden würden, da die Russen selber nicht über das "wirtschaftliche Denken in Geld verfügten und jede Maschinenindustrie als fremd, als sündhaft, als teuflisch empfinden würden, müsse die russische Industrie in die Hand oder unter die Leitung von Fremden gebracht werden. Rußland selber sei vom Standpunkt der S6
A.a.O., S. 97.
S7
A.a.O., S. 31. Hier findet sich wieder der Bezug auf den Mythos Ostsiedlung.
S8 Oswald Spengler, Das Doppelantlitz Rußlands und die deutschen Ostprobleme, Vortrag, gehalten im Februar 1922, in: ders., Politische Schriften. Volksausgabe, München 1932, S. 107206. S9
Nach Spengler sind auch Polen und Balkanslawen ( ... ) Asiaten. (S. 111).
60
A.a.O., S. 110.
6\
A.a.O., S. 120 f.
62
A.a.O., S. 123. Das erinnert an die sog. Heartland-Konzeption Mackinders.
63
Ebenda.
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ausländischen Wirtschaft eine Kolonie. Dies sei die Chance Deutschlands, das einmal aus seiner Nachbarschaft Vorteile ziehen könne und darauf hinweisen solle, daß beide Mächte den gleichen Gegner haben, die Hochfinanz der Ententestaaten" .64 Spengler dachte also nicht, wie Moeller van den Bruck, an eine direkte politische Beherrschung Rußlands, sondern mehr an eine wirtschaftliche Durchdringung und Kontrolle im Sinne eines informal empire. Ernst Niekisch hat dagegen jegliche Art von Herrschaft in und über Rußland abglehnt. Statt dessen hat er eine Gesichtswendung nach Osten gefordert. 65 Dies geschah einmal aus innenpolitischen Motiven. Nur im Osten und mit Hilfe des Ostens könne Deutschland das Gift der Modernität, das ihm der Westen gereicht habe, wieder loswerden und zu seinem ländlichen, heldischen, antistädtischen, antizivilisatorischen, antirationalistischen, antieuropäischen Lebensstil zurückfmden. 66 Vorbild und Beispiel dieser Gesichtswendung nach Osten sei Preußen. Schließlich sei die preußische Rasse aus einer Mischung aus männlichen Germanen und weiblichen Slawen entstanden. 67 Preußen habe mit Erfolg die Erneuerung Deutschlands vom Osten her betrieben und damit seinem germanischen Seinskern wieder Luft und Raum geschaffen. 68 Daran müsse man in der Gegenwart anknüpfen: "Indem der Mensch der 'preußischen Rasse' die romanisierten Gebiete Deutschlands durchdringt, wie sich vordem Karls Franken zwischen die Sachsen geschoben haben, wird die neu werdende Welt biologisch untermauert. Vorgänge und Wandlungen, die sich ausschließlich im geistigen Gebiet vollziehen, haben keinen Bestand; sie dauern nur, wenn sie an Blut und Boden haften. ,,69 Dieser Geist von Potsdam habe inzwischen jedoch auch das bolschewistische Rußland ergriffen, das preußischer geworden sei, als wir selbst es blieben. Schon deshalb sei eine preußisch-bolschewistische Allianz ebenso legitim wie erfolgreich:
"Erst die Form preußischer Willenszucht, in den gewaltigen germanisch-slawischen Block eingesenkt, verliehe diesem die stählerne Geschmeidigkeit, deren er bedarf, um den Umkreis der römischen Willensschulung mit ihrem langen Atem gewachsen zu 64
A.a.O., S. 125 f. Damit wird wieder auf den Mythos Ostkolonisation angespielt.
65 Ernst Niekisch, Der sterbende Osten. Das Gift der Zivilisation (1929), in: Ernst Niekisch, Wderstand, hrsg. von U. Sauermann, Krefeld 1982, S. 36-43.
66
Ernst Niekisch, Die Entscheidung, Berlin 1930, S. 118.
67 Ernst Niekisch, Das Gesetz von Potsdam (1931), in: ders., Widerstand, S. 83-97. Auch Niekisch ist vom Mythos Ostkolonisation beeinflußt.
68
Niekisch, Die Entscheidung, S. 167.
69
Niekisch, Das Gesetz von Potsdam, S. 91.
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sein. Sein ordensmäßiger Daseinsstil klänge zusammen mit dem Herrschaftstil Rußlands: Ordensgeist rüstete sich vom Ural bis an die Eibe, um den Geist des Demokratismus über den Rhein und die Alpen zurückzujagen. ,,70
Im Bunde mit Rußland werde Deutschland jedoch nicht nur den Demokratismus besiegen und ein nordasiatisch-nordeuropäisches Weltreich errichten, das von Wladiwostock bis Vlissingen71 reiche, im Zuge eines groß angelegten Generalplans West könne Deutschland von allen fremden romanisierten Elementen befreit werden: "Der Aufbruch zur Schöpfung des nordasiatisch-nordeuropäischen Weltreiches, jene Wiederherstellung und Vollendung Preußens setzt allerdings die Zerstörung der romanischen Geist-, Seelen-, Bluts- und Lebensmacht über deutsche Menschen voraus. Die lindeste Form dieses Vorgangs werden Bevölkerungsumschichtungen sein, die Ströme slawischen Blutes in den deutschen Süden und Westen leiten. Slawisches Blut ist für den romanisierten Raum das Heilserum, das den germanischen Menschen wieder von der romanischen Ansteckung kuriert. Wer im Bewußtsein der Verantwortung für ein zukünftiges Jahrtausend deutschen Schicksals lebt, zerbricht auch vor den Wirbeln einer Völkerwanderung nicht, wenn kein anderer Weg sonst mehr zur deutschen Größe führt. ,,72 Fassen wir die Ergebnisse der Analyse der Aussagen von drei Repräsentanten der Konservativen Revolution über den Osten zusarrunen, so ist zunächst einmal festzustellen, daß keiner den Osten als bedrohlich und Ausgangspunkt von imaginären Fluten aus dem Osten bezeichnet hat. Damit unterschieden sich Moeller van den Bruck, Spengler und Niekisch sowohl von der Linken des 19. Jahrhunderts, die, allen voran Marx und Engels, eine schon panisch zu nennende Angst vor dem Osten an den Tag gelegt hatten, wie von großen Teilen der Rechten, der liberalen Mitte und der SPD, die nach 1918 dazu neigten, das Gespenst des unaufhaltsam vorrückenden und alles unterwandernden Bolschewismus an die Wand zu malen. Für diese, wie sie meinten, bürgerliche Angst hatten die erwähnten Vertreter der Konservativen Revolution nur Spott übrig. 73
70 Niekisch, Die Entscheidung, s. 183. Mit dem Begriff "ordensmäßiger Daseinsstil" spielt Niekisch auf den Deutschen Orden an, dessen Staat als Vorläufer Preußens galt.
71
Zitiert nach: Breuer. Anatomie der Konservativen Revolution, S.106.
72
Niekisch, Die Entscheidung, S. 184.
7J Der stark von Spengler und Niekisch beeinflußte eart Dyrssen, Die Botschaft des Ostens. Faschismus, Nationalsozialismus und Preußentum, Breslau 1933, S. 175 , erklärte schlicht: "Die Angst vor der Bolschewisierung ist ein Kinderschreck. "
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Einmal deshalb, weil sie die politische Machtstellung des bolschewistischen Regimes als relativ gering einschätzten, zum anderen, weil sie der Ansicht waren, daß letztlich die Kräfte des Raumes stärker als alle ideologischen und propagandistischen Aussagen über eine angebliche "Weltrevolution" seien. Trotz all dieser bolschewistischen Proklamationen sei und bleibe Rußland ein Teil des Ostens. Dieser Osten sei zwar primitiv und rückständig, doch dies sei gerade gut. Schließlich habe der noch weitgehend agrarische Osten im Unterschied zum kapitalistischen und demokratisch-dekadenten Westen die Zukunft noch vor sich. Dies sei jedoch nur dann möglich, wenn die jungen Völker des Ostens eng mit den Deutschen zusammenarbeiteten, die ebenfalls noch zu diesen jungen Völkern gehörten, und deren Land neben gewissen westlichen auch viele östliche Elemente enthalte, die es von dem deutsch-slawischen Kolonialstaat Preußen übernommen habe. Über die Form der Zusammenarbeit Deutschlands mit dem Osten hatten die drei Ideologen unterschiedliche Vorstellungen. Moeller van den Bruck war davon überzeugt, daß es im ureigensten Interese der Völker des Ostens sei, sich willig dem östlichen Preußen unterzuordnen und unter seiner Führung zu einem neuen Drang nach Osten aufzubrechen. Spengler dagegen dachte mehr an eine wirtschaftliche Leitung und Kontrolle Rußlands durch das ebenfalls antiwestlich eingestellt Deutschland. Niekisch schließlich träumte von einem preußischbolschewistischen Bündnis, das den demokratischen Westen schlagen und ein nordasiatisch-nordeuropäisches Weltreich errichten werde, wobei dem preußischen Partner zweifellos die Führungsrolle zukommen sollte. 74 Wichtig ist, daß alle drei Autoren von einem Nationsbegriff ausgingen, der sich sowohl von dem der Staatsnation wie dem der Kulturnation unterscheidet. 75 Während sie die westliche Auffassung von der Nation als einer staatsbürgerlichen Willens gemeinschaft kategorisch ablehnten, kritisierten sie auch die traditionelle deutsch-völkische These, wonach es sich beim deutschen Volk um eine Abstammungsgemeinschaft handele. Im Unterschied zu Fichte, Arndt, Jahn und den anderen völkischen Ideologen des 19. Jahrhunderts hielten sie es für nicht ausreichend, nur alle westlichen und fremdvölkischen Elemente zu 74 Ähnlich auch Dyrssen, die Botschaft des Ostens, S. 173: "Aus allen diesen Gründen wird die Frage einer deutschen Anlehnung an Rußland um so dringender. Rußland ist heute die einzige wirkliche Macht des Ostens, die eindeutig gegen Rom steht."
75
Auf die Nationalismusforschung kann hier nicht näher eingegangen werden. Ich verweise auf:
Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt I M. 1985; Heinrich August Winkler (Hrsg.), Nationalimus, 2. Auf). Frankfurt I M. 1985; Benedict Andersons, Die Erfindung der Nation. Karriere eines erfolgreichen Konzeptes, Frankfurt I M. 1988; Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt I M. 1991. In diesen und anderen Studien wird der
ideologische Kontext von Nation und Raum zu wenig analysiert.
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eliminieren. Man solle sich nicht nur vom Westen abgrenzen, sondern gleichzeitig nach Osten ausdehnen. Die Nation könne sich nur im Osten und durch den Osten stärken und kräftigen. Die von ihnen propagierte Ostwendung war daher sowohl politisch wie biologisch motiviert. Sie zielte auf eine totale Abwendung vom demokratischen Westen und eine weitgehende völkische Erneuerung Deutschlands ab. Für beides benötigten sie den Raum im Osten. Der von ihnen geführte neue nationale Diskurs war geopolitisiert worden. Damit haben diese Vertreter der Konservativen Revolution direkt und indirekt, freiwillig und unfreiwillig die spätere Lebensraum-Politik Hitlers vorbereitet und unterstützt. Die Folgen sind bekannt - oder doch nicht? Wie anders ist es dann zu deuten, wenn man sich heute nicht nur auf die Klassiker des deutschen Nationalismus wie Fichte, Arndt und Jahn, sondern auch auf die schon fast vergessenen geopolitischen Theoretiker Ratzei, Kjellen, Mackinder und Haushofer und selbst auf die Ideologen der Konservativen Revolution beruft. Es ist zu einer erneuten Geopolitisierung des nationalen Diskurses gekommen. Die Westbindung wird in Frage gestellt und eine neue Ostorientierung eingeklagt, um im innenpolitischen Bereich schädliche Auswirkungen der Demokratie beseitigen zu können und um nach außen nach der bisherigen Machtvergessenheit wieder Machtbewußtsein zu dokumentieren und Weltpolitik zu betreiben. 76
76 Vgl. etwa das ganz im Zeichen der Ideologien der Konservativen Revolution stehende Machwerk von: Karlheinz Weissmann. Rückruf in die Geschichte. Berlin 1993.
24 TImmermann
3. Südeuropa
24'
Der Einfluß des Ersten Weltkrieges auf die nationalen Bestrebungen im westlichen Teil des russischen Reiches Von Marek Waldenberg
A. Allgemeines Die Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts hatten einen sehr großen Einfluß auf: 1. Prozesse der Herausbildung von Nationen, 2. nationale Bewegungen, 3. nationale Bestrebungen, 4. nationale Antagonismen und 5. nationale Ideologien. Zum ersten Mal kam dieser Einfluß im Falle Deutschlands während der Napoleonischen Kriege am deutlichsten zum Vorschein und nahm dabei ein großes Ausmaß an. 1 Man kann annehmen, daß die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges besonders groß waren. Er beschleunigte wesentlich - direkt und indirekt - Prozesse der Herausbildung von Nationen in zahlreichen nationalen Gemeinschaften in Mittel- und Südosteuropa, radikalisierte Bestrebungen dieser Nationen, ließ Antagonismen aufkommen und entflammen, trug nicht nur zur Steigerung der Xenophobie bei, sondern auch dazu, daß Ideologien von deutlich nationalistischem Charakter in Erscheinung traten und daß sich diese einer ziemlich großen Popularität erfreuen konnten. Davon zeugt unmißverständlich ein Vergleich der Situation vor August 1914 mit der nach Kriegsende. Die Auswirkungen selbst unterliegen keinem Zweifel, obwohl zahlreiche Probleme noch einer Untersuchung und auch viele verbreitete Behauptungen einer Verifizierung bedürfen. Die letztere Bemerkung betrifft insbesondere die Völker des russischen Imperiums. Wenn wir uns mit diesen Völkern beschäftigen, sollten wir - auch von dem uns interessierenden Standpunkt aus - drei Perioden unterscheiden: vom Kriegsausbruch bis zur Februarrevolution, von der Februarrevolution bis 1
Vgl. O. Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland. 1770 - 1790, München 1993, S. 69.
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zur Machtübernahme durch die Bolschewild und nach der Oktoberrevolution. Zur Zeit des Kriegsausbruchs befanden sich die nationalen Gemeinschaften im westlichen Teil des Russischen Imperiums in verschiedenen Phasen des Nationbildungsprozesses. 2 Der Prozeß war innerhalb der polnischen Gemeinschaft viel stärker fortgeschritten, als das bei der weißrussischen der Fall war, wo der Prozeß erst zu keimen begann, und er umfaßte einen geringen Teil der ukrainisch sprechenden Gemeinschaft. Differenziert waren auch die Ansprüche der Nationalgemeinschaften. Nur unter den Polen gab es ein anhaltendes Streben nach Bildung eines eigenen Staates, das seit dem Verlust des Staatswesens gegen Ende des 18. Jahrhunderts einem ziemlich großen Teil der Nation zum Vorschein kam und in den politischen Programmen eines Teils der Nationalbewegung enthalten war. 3 Unter den Weißrussen und Esten kamen Unabhängigkeitsansprüche überhaupt nicht zutage. Bei den Letten und Ukrainern tauchte zwar die Unabhängigkeitsidee gegen Anfang des 20. Jahrhunderts auf, doch wurde sie in beiden Fällen von ganz winzigen Gruppen formuliert, die auf die ganze Gesellschaft keinen Einfluß hatten. In der ukrainischen Bewegung wurde die Idee des Nationalstaates in der Broschüre "Samostijna Ukraina" (unabhängige Ukraine) thematisiert. Diese Schrift, reflektierte aber nur die Stellungnahme einer winzigen Gruppe der Mitglieder der 1900 von einigen Studenten gegründeten kleinen Partei, die Ukrainische Revolutionäre Partei hieß. Diese winzige Gruppe hatte zwei Jahre später eine neue Ukrainische Volkspartei gegründet, die sich rur eine unabhängige, sozialistische Ukraine aussprach. Sie befand sich aber ganz am Rande des ukrainischen politischen Lebens, das sehr schwach entwickelt war. Zur Zeit der Revolution des Jahres 1905 befand sie sich in einer völligen Isolierung; ihre gesamte Tätigkeit beschränkte sich auf die mißlungenen Versuche, eigene Presseorgane zu gründen. 4 Es gibt keine Spuren ihrer Tätigkeit vor dem Kriege. Nach dem Umsturz des Zarats wurde von einer Gruppe ihrer ehemaligen Mitglieder die Unabhängige Sozialistische Partei gegründet, die auf das damali2 Näher habe ich das Problem behandelt in: Kwestie narodowe w Europie Srodkowo-Wschodniej. Warszawa 1992. S. 98-158. Übersetzung ins Italienische: Le Questioni nazionali nem Europa centro-orientale. storia e attualita. Milano 1994, II Saggiatore. S. 101-165 und im Aufsatz: Das Verhältnis der Nationalbewegungen in Rußland gegenüber dem Staat und den Russen. in: Die Kontinentwerdung Europas. Festschrift fiir Helmut Wagner zum 65. Geburtstag, Hg. von H. Timmermann. Berlin 1995. S. 175-186. Vgl. auch A. Kappe/er. Rußland als Vielvölkerreich, Entstehung. Geschichte. Zerfall. München 1993. C.H. Beck. S. 177-299. 3 In dem vorliegenden Text habe ich den Einfluß des Krieges auf die Bestrebungen von Polen außer acht gelassen. 4
108,
Vgl. u.a. G. Kasljanov, Ukrainsi'ka inteligencija na rubezy XIX-XX stolifi. Kyiv 1993, S. 100-
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ge politische Leben der Ukraine auch keinerlei Einfluß ausübte. Der ukrainische Nationalgedanke wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts von Dragomanov und später von Hruszewski völlig dominiert. S Beide waren Anhänger des Verbleibens der Ukraine zum russischen Staat und waren dafür, Rußland in einen föderativen Staat zu verwandeln. Für das Wichtigste hielten sie die Möglichkeit der Entwicklung ukrainischer Kultur und waren gegen alles, was die Nationalantagonismen und den Nationalismus selbst stärken würde. Bei den Litauern wurde die Unabhängigkeitsidee gegen Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert, doch wurde diese Idee nicht zu einem Element politischer Programme. Eine Verbesserung der Lage der Litauer nach 1905 verursachte, daß die Idee des "unabhängigen Litauen" lediglich deklarativ wurde und das wirkliche Postulat der Nationalbewegung lautete: Autonomie. Die Ansprüche der meisten Nationen gingen nicht über eine Selbstverwaltung oder Autonomie hinaus. Übrigens wurde in der polnischen Gesellschaft der letzten Jahre vor dem Kriegsausbruch von den meisten politischen Parteien auch lediglich eine Autonomie postuliert, auch wenn einige von ihnen auf die Idee der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit nicht verzichten wollten. Nur von einem Flügel der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), an dessen Spitze J. Pilsudski stand, wurde die Unabhängigkeit als unmittelbares Kampfziel betrachtet. Es übte jedoch keinesfalls den größten Einfluß auf die polnische Gesellschaft. Wir wollen noch hinzufügen, daß auch die Finnen nicht nach Unabhängigkeit strebten, sondern sich den Versuchen widersetzten, die ziemlich große Autonomie des Großfürstentums Finnland einzuschränken. Man hätte annehmen können, daß der Krieg den nationalen Bewegungen und Ansprüchen auch deshalb eine neue Dynamik verleihen würde, weil gerade Rußland, Österreich-Ungarn und auch Deutschland selber dazu maßgebend beitragen würden, um den jeweiligen Gegner zu schwächen. Aus einigen Gründen waren sie jedoch nicht imstande, in dieser Richtung konsequent zu wirken. Österreich-Ungarn und Rußland befürchteten, daß ihre Unterstützung der Nationalbewegungen und Ansprüche bei dem Gegner, in ihren eigenen Ländern zu ähnlichen Folgen führen könnte. All die Länder und insbesondere die Zentralmächte hatten darüber hinaus expansionistische Pläne, und in den besetzten Gebieten übten sie eine Politik der wirtschaftlichen Ausbeutung aus. In den Regierungskreisen der Zentralmächte gab es weitgehende Meinungsunterschiede hinsichtlich der Ziele des Krieges im allgemeinen und insbesondere im Osten.
S
Vgl. D. Doncov, Nacionalizm, Lviv 1926. S. 87.
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Eine Analyse des Kriegseinflusses auf die uns interessierenden Erscheinungen erfordert eine Berücksichtigung der Nationalitätenpolitik russischer Staatsbehörden. Diese Politik des Zarentums gegenüber den Völkern Rußlands wurde jedoch bis jetzt keiner systematischen und gründlichen Analyse unterzogen. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß sie, ähnlich wie vor dem Kriege, sehr differenziert war. Bescheiden und sehr fragmentarisch dokumentiert ist auch unser Wissen über die Haltung dieser Völker, die über unvergleichbar geringere Möglichkeiten verfügten, ihren Standpunkt und ihre Interessen zu artikulieren als die Völker der Habsburger-Monarchie. Unter abhängigen Völkern, sowohl Rußlands als auch Österreich-Ungarns, rief der Kriegsausbruch vorerst keine Abneigung dem jeweiligen Staat gegenüber bzw. separatistische Tendenzen hervor. Obwohl es sehr schwerfällt, festzustellen, welche Gefühle - und auch in welchem Grade - in den einzelnen nationalen Gemeinschaften verbreitet waren, so fehlt es andererseits auch nicht an zahlreichen Beweisen für ihre Solidarität mit dem Staat - oder für ihre Loyalität ihm gegenüber. Die Litauer waren das einzige Volk Rußlands, von den Polen abgesehen, bei dem während des Krieges bereits vor der Machtergreifung durch die Bolschewiki das Streben nach einem eigenen Staat deutlich war. Es ist jedoch nicht klar, was für eine Unterstützung sich das bei den breiteren Kreisen litauischer Gemeinschaft erfreute. 6 Seit Sommer 1915 waren litauische Gebiete deutsch besetzt. Deutschland hat einerseits das Land wirtschaftlich ausgebeutet, andererseits entwickelte sich jedoch in jener Zeit das litauische Grundschulwesen, ja, es wurden sogar litauische Gymnasien in Vilnius und Kaunas gegründet. Das deutsche Verhältnis gegenüber dem Unabhängigkeitsanspruch der Litauer wurde wesentlich von der Februar- und Oktoberrevolution beeinflußt. Kurz nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki in Rußland, und nachdem der Volkskommissariat seine "Deklaration über die Rechte der Völker Rußlands" veröffentlicht hatte, erschien die Erklärung des Reichskanzlers über eine mögliche Mitberücksichtigung der Rechte der polnischen, litauischen und kurländischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung. Dies machte es dem Litauischen Rat (die sog. Tariba) möglich, am 11.12.1917 "die Wiedergeburt des unabhängigen litauischen Staates" mit der Hauptstadt in Vilnius zu proklamie6 Vgl. A. Schmidt, Geschichte des Baltikums. Von den alten Göttern bis zur Gegenwart. München-Zürich 1993, S. 170-177.
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ren. Gleichzeitig sprach sich der Rat für die ewige und enge Verbindung Litauens mit dem deutschen Kaiserreich aus. Die Kriegsschicksale des nördlichen Nachbarn der Litauer gestalteten sich anders. Anders waren auch seine nationale Bewegung und nationalen Bestrebungen. Die genannten Unterschiede ergaben sich nicht nur und auch nicht vor allem daraus, daß die deutsche Besatzung der lettischen Gebiete von kürzerer Dauer war und daß die Politik der Besatzungsbehörde hier anders war als die in Litauen. Sie ergaben sich vielmehr aus der Spezifik der Nationalitätenverhältnisse in Lettland, vor allem aber aus der Stellung der dortigen deutschen Gemeinschaft sowie aus der daraus folgenden Stärke der Konflikte zwischen den Letten und den Deutschen. Die Letten hatten allen Grund, imperialistische Bestrebungen des deutschen Reiches gegenüber dem sog. Baltikum ernstlich zu befürchten. Es nimmt also kein Wunder, daß der Krieg eine bedeutende Belebung prorussischer Stimmung in der lettischen Gesellschaft mit sich brachte. Als im Frühjahr 1916 die deutsche Armee Kurland besetzte und Riga bedrohte, wandten sich die Vertreter der lettischen Gesellschaft an die oberste Heeresleitung der russischen Armee mit der Bitte, aus den lettischen Freiwilligen Truppen bilden zu dürfen, die von lettischen Offizieren angeführt werden sollten. Diese, von den Sozialdemokraten, die die stärkste politische Gruppierung bildeten, sehr heftig kritisierte Initiative wurde angenommen. Dies war der einzige Fall, wo die Nationaltruppen ins Leben berufen wurden. Die 3040 000 starken Soldatentruppen lettischer Schützen (gegen Ende 1916 wurde aus ihnen eine separate Division gegründet) kämpften bald an der Rigaer Front und kennzeichneten sich durch einen sehr starken Kampfwillen aus. Die Entstehung dieser Truppen hatte einen großen Einfluß auf die Entwicklung des Nationalbewußtseins der Letten. Es wurde sogar behauptet, daß die "Schutzregimenter entscheidend für die Entwicklung der Letten zur Nation geworden sind" .7 Ich stimme dieser Meinung nicht zu, der Nationbildungsprozeß der Letten war schon vor 1914 sehr fortgeschritten. Nicht anders als die anderen Völker am westlichen Rand des russischen Imperiums reagierte auf den Kriegsausbruch die ukrainische Gemeinschaft. 8 Die einzige noch erscheinende ukrainische Zeitung "Rada" schrieb, daß mit dem deutschen Überfall ein großes Unglück für das ukrainische Volk drohte, daß es auch deshalb das Imperium verteidigen sollte. Auch in der in St. Peters7
H. Dopkewitsch, Die Entwicklung des lettländischen Staatsgedankens bis 1918, Berlin 1936, S.
40-41.
8 Vgl. D. Doncov, op.cit. und L. Wasilewski, Kwestia ukrainskajako zagadnienie miedzynarodowe, Warszawa 1934, S. 97-99.
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burg herausgegebenen ukrainischen Zeitschrift "Ukrainskaja Zizn" versicherte man, daß die Ukrainer als russische Staatsbürger ihren Pflichten treu bleiben würden, und das nicht nur auf dem Schlachtfeld. Diese und ähnliche Versicherungen veränderten das Verhältnis der russischen Behörden zu den Ukrainern kaum positiv. Ganz im Gegenteil, anders als im Falle anderer Völker, hatte es seinen Kurs noch verschärft. Die Zeitung "Rada" wurde verboten, kleinsten Anzeichen nationaler Bewegung begegnete man mit Schikanen, auch auf dem Gebiet der Kultur, sogar die Jubiläumsfeier zum hundertsten Geburtstag des berühmtesten ukrainischen Dichters, Taras Szewczenko, durfte nicht begangen werden. Bereits Anfang des Krieges entstand in Lemberg der Ukrainische Befreiungsbund, der mit den Zentralmächten, anfänglich hauptsächlich mit Österreich, zusammenarbeiten wollte und auch von ihnen finanziert wurde. Er wurde gegründet von einem kleinen Emigrantenkreis, der aus der RussischUkraine stammte und sozialistisch orientiert war. Er deklarierte das Ziel, einen eigenständigen ukrainischen Staat zu gründen oder aber auf den ukrainischen Gebieten einen autonomen Bestandteil der Habsburger Monarchie zu etablieren. Er unternahm seine Tätigkeit unter ukrainischen Soldaten in Gefangenenlagern, seine Aktivitäten und sein Einfluß auf dem Gebiet der Ukraine waren aber seinen pompösen Versicherungen entgegen sehr gering. 9 Davon, daß während des Krieges in der russisch-Ukraine keine separatistischen Tendenzen entstanden sind, zeugen nachweislich Postulate, die von der ukrainischen Gemeinschaft nach dem Sturz des Zarentums formuliert wurden, und auch der Charakter des damaligen politischen Lebens in der Ukraine. Die Kriegsjahre übten keinen nennenswerten Einfluß auf den weißrussischen Prozeß der Nationbildung, und die weißrussische Nationalbewegung wurde nur gering gestärkt. In dem schon im ersten Kriegsjahr von deutschen Truppen besetzten Teil Weißrußlands hatten die wenigen Anhänger dieser Bewegung ihre Tätigkeit fortgesetzt, indem sie sich konjunkturgemäß als germanophil verkleideten. Im Dezember 1917 fand in Minsk der "Erste Weißrussische Demokratische Kongreß" statt, an dem ca. 2000 Personen teilnahmen, und von dem die Unabhängigkeit von der weißrussischen Republik proklamiert wurde. Der Kongreß war jedoch kein repräsentatives Organ, wovon u.a. die Tatsache zeugt, daß im November 1917, als die völlig demokratischen Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung Rußlands stattfanden, die weißrussischen Parteien weniger als 1% der Stimmen (etwa 29 000) erhielten und kein Mandat gewannen. Der größten Popularität erfreuten sich auf den noch nicht von Deutschen besetzten Gebieten die Bolschewiki. Beinahe ohne eine soziale Basis 9 Vgl. O.S. Fedyshyn, The Germans and the Union for the Liberation of the Ukraine. in: The Ukraine, 1917-1921: A Study in Revolution, T. Hunczak (ed.), Cambridge, Mass. 1977, S. 305322; M. Popov, Narys istorii komunistycnoji partii (bilsovykiv), Charkiv 1929, S. 94-95.
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sowie auch ohne eine reelle Macht verblieb auch der nach der deutschen Besatzung von Minsk im März 1918 gegründete weißrussische Ministerrat. Auch die Versuche nach dem Kriegsende und nach dem Rückzug der deutschen Armee aus den ehemals von Deutschland besetzten Gebieten Weißrußlands, einen souveränen Staat zu bilden, kamen von einer kleinen, antibolschewistisch gesinnten Gruppe von Politikern, die keinen Einfluß auf die vorwiegende Mehrheit der weißrussischen Bevölkerung hatten, die fast ausschließlich aus Bauern bestand, hatte.
B. Der Einfluß der Februarrevolution Die politische Lage in Rußland wurde von der Februarrevolution radikal geändert. Zum ersten Mal gab es in der Geschichte dieses Staates eine unbeschränkte politische Freiheit. Es wurde sogar behauptet, daß sie damals in Rußland größer als in irgendeinem anderen Land gewesen war. Dies mußte selbstverständlich nicht nur die bereits vorher schon existierenden nationalen Ansprüche in Erscheinung treten lassen, sondern auch ihre Radikalisierung zur Folge haben, darüber hinaus auch eine bedeutende Erweiterung der Basis nationaler Bewegungen sowie ihre Institutionalisierung. Man könnte sagen, daß es sich nicht nur - wie 1905 noch - um einen Vorfrühling handelte, vielmehr aber um einen wahren Völkerfrühling in Rußland. Es bedeutete aber keineswegs, daß es zu einem Ausbruch separatistischer Tendenzen gekommen wäre. Nicht die Trennung von Rußland, sondern ein Wandel seiner Staatsform, nicht Unabhängigkeit, sondern Autonomie oder Föderation waren Losungen nationaler Bewegungen. Unter den Letten erfreute sich die ziemlich allgemeine Losung "freies Lettland in einem freien Rußland" einer besonderen Popularität. Weitergehende nationale Bestrebungen traten in Erscheinung in der Publizistik der Zeitung "Dzimtenes Atbalss", um die herum in Moskau die Lettische National-Demokratische Partei gegründet wurde. Im Sommer 1917 erschienen in der Zeitung mehrere Artikel, in denen stand, daß Rußland ein unnatürliches Konglomerat wäre, dessen Teilung notwendig erschiene, daß zwischen den Kulturen Rußlands und Lettlands keine Berührungspunkte beständen, daß das Postulat der Föderation kein Ideal, sondern einen Komprorniß darstelle, und daß man deshalb für das eigenständige Lettland kämpfen sollte. Es fehlte an jeder Grundlage, davon auszugehen, daß diese Meinungen von irgendeinem bedeutenden Teil der lettischen Gemeinschaft, sei es in Rußland, sei es in Lettland, akzeptiert worden wären. 10
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Erst nach der Februarrevolution formulierten die Esten mit aller Deutlichkeit ihre politischen Bestrebungen. 1I Vertreter der vielen Vereine, die damals in allen größeren Ortschaften gegründet wurden, arbeiteten einen Entwurf zum Autonomiegesetz für Estland aus, den sie bereits Ende März der Provisorischen Regierung vorlegten. Nach etwa zwei Wochen erließ diese Regierung ein Dekret, auf dessen Grundlage das Estnische Gouvernement und die von Esten bewohnten Gebiete des livländischen Gouvernements zu einer gesonderten Verwaltungseinheit zusammengefügt wurden. Die neue Einheit wurde von einem Kommissar verwaltet, der von der Provisorischen Regierung ernannt wurde. Neben dem Kommissar wurde auch ein Vertreterorgan (Rat) einberufen, das in allgemeiner Wahl gewählt wurde und über breite Kompetenzen verfügte. Die Ratswahlen fanden bereits im Juni statt, sie waren jedoch lediglich indirekt, weil, wie man behauptete, die Vorbereitung einer direkten Wahl in der kurzen Zeit, die zur Verfügung stand, auf große Schwierigkeiten stieß. Bereits in ihrer ersten Sitzung kündigte der Rat seine Bestrebung an, die vollständige Autonomie im Rahmen eines demokratischen föderativen Rußland zu gewinnen. Drei Monate später, Anfang Oktober, entschloß sich der Rat, daß die künftige Staatsordnung Estlands von seiner Gesetzgebenden Versammlung entschieden werde. Eine besonders radikale Veränderung wurde durch die Februarrevolution in der Situation der ukrainischen Bevölkerung hervorgerufen. Obwohl das politische Leben nach dem Niedergang der Revolution 1905 beinahe erlosch und die ukrainischen politischen Parteien nicht mehr aktiv waren, hatten sie jedoch innerhalb von kurzer Zeit eine rege politische Tätigkeit entwickelt. Diejenigen hingegen, die sich einer großen Popularität erfreuten und eine wesentliche politische Rolle spielten, wollten keine Trennung der Ukraine von Rußland. Eine dieser Parteien war die USDRP, die ihren Namen zum Trotz von der SDPRR organisatorisch völlig unabhängig war. Ideologisch hingegen stand sie der Menschewiki-Strömung in der russischen Sozialdemokrtie nahe. In der Zeit nach der Revolution von 1905 war sie kaum aktiv, sie begann aber bereits in den ersten Kriegsjahren aufzuleben, in zahlreichen Städten hatte sie
10 Vgl. U. Germanis, Die Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen der Letten, in: Von den baltischen Provinzen zu den baltischen Staaten, J. von Hehn, H. von Rimscha, H. Weiss (Hg.), Bd.2, Marburg 1971, S. 1-68. 11 Vgl. K. Aun, The Revolution and the Idea of the State in Estonia, in: Die baltischen Provinzen Rußlands zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917. A. Ezergailis. G. von Pistohlkors (Hg.) Köln-Wien 1982, S. 287-293.
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ihre Organisationen. Während der im April 1917 abgehaltenen Beratung sprachen sich die ukrainischen Sozialdemokraten für eine föderative Bindung an Rußland aus, die Gründung eines getrennten Staates hatten sie nicht einmal erwähnt. Diese Partei verfügte über eine relativ zahlreiche Gruppe von bereits seit Jahren aktiven und namhaften Politikern, die im politischen Leben jener Zeit eine besonders wichtige Rolle spielten. Hinsichtlich ihrer Popularität übertraf aber die ukrainische Partei der Sozialistischen Revolutionäre deutlich die Ukrainischen Sozialdemokraten. Es war nämlich eine neue Partei, die erst im April 1917 entstand (zuvor war auf den ukrainischen Gebieten die all gemeinrussische Partei der Sozialistischen Revolutionäre tätig). Mit dem Eintritt Hruszewskis in diese Partei stieg ihr Prestige deutlich an. Auch sie strebte die Trennung der Ukraine nicht an, sie postulierte lediglich ihre Autonomie. Die ukrainischen Sozialdemokraten und Sozialistischen Revolutionäre waren vom Anfang an maßgebend beteiligt an dem kurz nach dem Sturz des Zaren in Kiew gebildeten Zentralrat, zu dessen Vorsitzenden Hruszewski gewählt wurde. Der Rat berief den Ukrainischen Nationalkongreß ein, an dessen Beratungen in der zweiten Hälfte April 1917 900 Delegierte teilnahmen, die zahlreiche Organisationen sowie städtische und Kreis(zjemstwo)selbstverwaltungen vertraten. Der Kongreß anerkannte den Rat als die höchste Macht der Nation, die verpflichtet ist, Rechte und Freiheiten des ukrainischen Volkes zu schützen, Autonomiepläne für die Ukraine auszuarbeiten sowie Schritte zu unternehmen, diese zu verwirklichen. Gleichzeitig anerkannte aber auch der Rat das Recht der allgemeinrussischen Gesetzgebenden Versammlung, die neue Staatsordnung Rußlands festzulegen. Das Postulat der territorialen Autonomie vermeldeten auch zahlreiche andere Kongresse, die kurz daraufhin stattfanden und einzelne soziale Gruppen, u.a. Bauern und Militärs vertraten. In einem Memorandum, das von einer Delegation des Zentralrates der Provisorischen Regierung und dem Petersburger-Rat der Arbeiter- und Soldaten-Delegierten vorgelegt wurde, waren u.a. Postulate enthalten, die Autonomie der Ukraine im Prinzip anzuerkennen, ukrainische Truppen zu bilden, ein Kommissariat für die Ukraine bei der Regierung zu bilden sowie das Mittel- und Hochschulwesen zu ukrainisieren. Eines der Mitglieder der Provisorischen Regierung, der georgische Menschewik, I. Cereteli, schrieb später darüber, daß es gemäßigte Forderungen gewesen wären. Diese wurden jedoch nicht akzeptiert. Ein Konflikt zwischen dem Zentralrat und der Provisorischen Regierung begann, der bis zu ihrem Sturz durch die Bolschewiki andauerte. Die Provisorische Regierung versuchte, alle grundsätzlichen Regelungen aufzuschieben, mit der Begründung, daß diese erst durch die Gesetzgebende Versammlung entschieden werden können.
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Im Grunde genommen hielt die Provisorische Regierung, die unter dem starken Einfluß der liberalen Partei der "Konstitutionellen Demokraten" (sog. Kadetten) stand, am Ideal des "einen und unteilbaren Rußlands" fest. Angesichts dessen, daß die Provisorische Regierung die in dem genannten Memorandum enthaltenen Postulate ablehnte, veröffentlichte der Zentralrat im Juni seinen ersten Erlaß, in dem die in ihm enthaltenen Postulate noch einmal wiederholt wurden; im folgenden wurde behauptet, daß sich die Ukraine von Rußland nicht trennen will, gleichzeitig aber wurde die Übernahme der Verwaltungsfunktionen durch den Zentralrat proklamiert. Diese Schritte stießen auf sehr abweisende Reaktionen der Regierungskreise in St. Petersburg. Zu einer gewissen Annäherung der Standpunkte kam es jedoch Mitte Juli. Das Vollzugsorgan des Rates, an dessen Spitze V. Vynnycenko stand, wurde als die höchste Verwaltungsbehörde in Ortsangelegenheiten anerkannt. Das Problem der Autonomie hingegen wurde bis zur Einberufung der allgemein-russischen Gesetzgebenden Versammlung vertagt. In dem zweiten Erlaß, der den Inhalt der erreichten Vereinbarung bekannt machte, war u.a. die deutliche Feststellung enthalten, der Zentralrat wäre gegen die Trennung der Ukraine von Rußland und gegen alle Versuche, die Autonomie nach der Methode der vollendeten Tatsachen einzuführen. Der Komprorniß rief den entschiedenen Widerstand der Partei der "Kadetten" hervor, sie zögerte sogar nicht, die Provisorische Regierung zu verlassen. In der ukrainischen Gemeinschaft hingegen gab es lediglich wenige Anzeichen der Unzufriedenheit, die überhaupt nicht ins Gewicht fielen. Die Vereinbarung von Mitte Juli brachte jedoch kein Ende der Spannung zwischen Kiew und St. Petersburg mit sich. Zu den Spannungen trug insbesondere die von der Provisorischen Regierung Mitte August erlassene "Vorläufige Instruktion für das Generalsekretariat der Provisorischen Regierung in der Ukraine" bei. Ihre Bestimmungen sowie die festgelegte territoriale Ausdehnung ihrer Kompetenzen, die nicht alle ukrainischen Gebiete umfaßten, riefen in den ukrainischen Kreisen Vorbehalte und Unzufriedenheit hervor. Als ein Zeugnis der Radikalisierung des Standpunktes des Zentralrates können Richtlinien betrachtet werden, die er seinen Vertretern für die Beratungen der sog. Demokratischen Sitzung im September auferlegte. Sie sollten u.a. das Recht aller Völker auf eine uneingeschränkte Selbstbestimmung verlangen sowie auch die Einberufung - durch die Völker, die es sich wünschen - souveräner geseiZgebender Landesversammlungen und auch die Übernahme aller Macht in der Ukraine durch den Zentralrat. Jedoch behauptete Hruszewski auch zu jener Zeit, daß die Ukrainer keine Unabhängigkeit anstrebten, daß sie, nachdem Rußland eine freie, demokratische Republik geworden ist, ein autonomes Volk in einem föderativen Staat bleiben wollen. Auch Vynnycenko versi-
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cherte in seinem Brief, der von einer Kiewer Zeitung veröffentlicht wurde, daß das föderative Rußland, dessen vollberechtigtes Mitglied die Ukraine werden würde, das Ziel der ukrainischen Demokratie bleibe. Auch der dritte Erlaß stimmte noch mit dieser Deklaration überein, obwohl er bereits nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki, am 7.(20.) November bekanntgemacht wurde. Er proklamierte zwar die Gründung der Ukrainischen Volksrepublik, jedoch lediglich als eines Bestandteiles der Föderation "gleicher und freier Völker Rußlands". Erst der vierte Erlaß, bekanntgemacht am 12.(25.) Januar 1918, proklamierte, daß die Ukrainische Volksrepublik von nun an ein souveräner, von niemandem abhängiger, eigenständiger Staat des ukrainischen Volkes wird; seine Verbindung mit Rußland erwähnte er nicht mehr. Als einen wichtigen und maßgebenden Kommentar zu dieser Erklärung des Zentralrates sollten die Worte Kruszewskis betrachtet werden; "Wir sind konsequente Föderalisten gewesen, die Umstände verursachten es aber, daß wir eine souveräne, unabhängige Republik wurden". Es unterliegt keinem Zweifel, daß fast alle ukrainischen Politiker in der Zeit zwischen den beiden Revolutionen, der Februar- und der Oktoberrevolution, sich nicht für die Unabhängigkeit, sondern für Autonomie oder Föderation aussprachen und lediglich notwendigerweise Anhänger der Unabhängigkeit geworden waren. 12 Es unterlag auch keinem Zweifel, daß sie von der überwiegenden Mehrheit der Nation unterstützt wurden. Ein maßgeblicher Beweis hierfür waren Ergebnisse der im November durchgeführten Wahlen für die Gesetzgebende Versammlung. Die den Zentralrat leitenden Parteien erhielten eine überwältigende Mehrheit der Stimmen. So z.B. bekamen in dem Poltawa-Gouvernement die ukrainischen Sozialistischen Revolutionäre (in manchen Regionen stellten sie gemeinsame Wahllisten mit den russischen Sozialistischen Revolutionären auf) 925.000 von den insgesamt 1.150.000 abgegebenen Stimmen, während die überzeugten Anhänger der unabhängigen Ukraine 1070 Stimmen erhielten. Es unterliegt auch zuletzt keinem Zweifel, daß das,was den Zentralrat dazu veranlaßt hatte, volle Unabhängigkeit zu proklamieren und die Verbindung mit Rußland zu zerreißen, die Oktoberrevolution gewesen war. Die Oktoberrevolution, die in einem weit größeren Maße als die Februarrevolution ein Kind des Krieges war, brachte neue und starke separatistische Tendenzen mit sich. Die Bolschewiki wollten zwar den multinationalen Staat beibehalten, indem sie versicherten, daß er einen völlig neuen Charakter tragen würde, der allen Völkern volle Gleichberechtigung und Freiheit garantieren würde. Noch viel offener und stärker widersetzten sich dem Separatismus diejenigen russischen 12
Vgl. D. Dorosenko. Istoria Ukrainy 1917-1923. Bd. 1. Uzhorod 1932. S. 99-157.
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politischen Kräfte, die den Kampf gegen die Bolschewiki leiteten. In der Regel vertraten sie den Standpunkt, daß Rußland seine Vorkriegsgrenzen beibehalten sollte. Was war die eigentliche Ursache des plötzlichen Auftretens oder der Verstärkung separatistischer Tendenzen nach der Oktoberrevolution? War es das von den Bolschewiki direkt nach ihrer Machtergreifung proklamierte Recht aller Völker auf die Selbstbestimmung, war es die Überzeugung, daß die Gründung eines eigenen Staates nun jetzt möglich war, oder aber war es vielleicht das schnelle Ansteigen des Verlangens, ein eigenes Staatswesen mit voller Unabhängigkeit zu besitzen? Ich bin nicht der Meinung, daß es Gründe gab, diese Fragen bejahend zu beantworten, auch wenn die genannte Proklamation der Bolschewiki nicht ohne Einfluß gewesen sein dürfte, und auch wenn sich die genannten Meinungen und Gefühle intensivieren sollten. Entscheidend war hierfür jedoch nicht der Wunsch, einen eigenen unabhängigen Staat zu besitzen, auch nicht der Wunsch allein, sich von Rußland zu trennen, sondern der Wunsch, sich von dem Rußland zu trennen, das die Bolschewiki regierten, indem sie ein zunehmend diktatorisches politisches Regime etablierten und sozialistische Veränderungen und Experimente realisieren wollten. Der durch die Bolschewiki durchgeführte Staatsstreich wurde von fast allen politischen Gruppierungen, nicht nur von den rechtsgerichteten und liberalen, sondern auch von den sozialistischen, entschieden verurteilt. Lediglich ein kleiner Teil der Partei der Sozialistischen Revolutionäre ließ Sympathie erkennen, wenn auch nicht ohne Vorbehalte. Ein ähnliches Verhältnis zu dem Staatsstreich kennzeichnete die Anarchisten. Das Verhältnis der Mehrheit der russischen Sozialistischen Revolutionäre sowie das der russischen Sozialdemokraten-Menschewiki zu der Oktoberrevolution macht es verständlich, daß nicht nur Vertreter der nichtsozialistischen estnischen und lettischen Gruppierungen, sondern auch die ukrainischen Sozialistischen Revolutionäre und Sozialdemokraten, die an der Spitze des Zentralrates standen, die Trennung von dem bolschewistisch regierten Rußland wollten. In diesem Zusammenhang war es sehr bedeutungsvoll, daß die Proklamation der vollen Unabhängigkeit der Ukraine in dem vierten Erlaß eine Woche danach erfolgte, nachdem die Gesetzgebende Versammlung auseinandergejagt worden war.
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c. Schlußbemerkungen Im Falle Rußlands, anders als in Österreich-Ungarn, hatte der Krieg auf die Entwicklung der Nationalbildungsprozesse und auf die Erweiterung des Kreises von Personen mit einem ausgebildeten Nationalbewußtsein und auf die Intensivierung der Nationalgefühle einen geringeren Einfluß als die Februar- und die Oktoberrevolution. Sie waren auch die Usaehe für das Ansteigen jeglicher Nationalbewegungen und die Radikalisierung ihrer Ansprüche. Der Krieg hatte den Antagonismus zwischen Litauern und der in Litauen zahlreichen polnischen Bevölkerung sowie auch zwischen den Letten und im geringeren Grade zwischen den Esten und den dort lebenden Deutschen zugespitzt. In der russischen Ukraine dagegen wurde das Anwachsen der Feindlichkeit gegenüber den dort zahlreichen Russen und Juden dadurch mitverursacht, daß die entscheidende Mehrheit dieser Gemeinschaften die ukrainischen Nationalbestrebungen nicht unterstützen wollte. Zu dem großen Anstieg des aggressiven Antisemitismus, der in vielen blutigen Pogromen zu Tage kam, hatte nach der Oktoberrevolution die Tatsache beigetragen, daß verhältnismäßig viele Juden an der Bolschewiki-Bewegung aktiv teilnahmen oder mit ihr sympathisierten. Die Gründung eigener Staatswesen durch Finnen, Esten, Letten, Litauer und Polen hat die Prozesse der Nationalbildung bei diesen Völkern stark beschleunigt. Rasch ging auch die vor dem Kriegsausbruch wenig fortgeschrittene Entwicklung der ukrainischen Nation in der sowjetischen Ukraine vor sich. 13 In der Zeit zwischen der Februarrevolution und dem endgültigen Niedergang der Ukrainischen Volksrepublik im Herbst 1920 wurde von dem Prozeß der Gestaltung der ukrainischen Nation nicht nur der Großteil der Intelligenz, sondern auch ein umfangreicherer Teil von Arbeitern und Bauern umfaßt, wobei die Nationalgefühle auch viel intensiver wurden. Es läßt sich jedoch vermuten, daß für einen großen Teil der Bauern nicht das Streben nach Souveränität, sondern das Problem des Grundeigentums, der Verteilung des Großgrundbesitzturns, die zentrale Frage bildete, die über ihre politische Handlung entschied. Doch machte auch bei den Bauern die Identifizierung mit der ukrainischen Kultur einen großen Fortschritt. Es war einer der wesentlichen Faktoren, die die Bolschewiki dazu bewog, die Unterstützung der ukrainischen Kultur und des Nationsbildungsprozesses für unentbehrlich zu halten, obwohl sie zuvor kein derartiges Vorhaben hatten. Lenin war nicht der Meinung, daß eine Arbeiterpartei es zur Aufgabe hat, die Entwicklung der Nationalkultur zu unterstützen. Seit 1923 bis zum Anfang der 30er Jahre führten die sowjetischen Behörden \3 Vgl. G. Simon. Nationalismus und Nationaliätenpolitik in der Sowjetunion: Von der totalitären Diktatur zur nachstalinschen Gesellschaft. Baden-Baden 1986. Das Buch bildet die systematischste und eingehendste Analyse der Nationalitätenpolitik der UdSSR.
25 Ttmmcnnann
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eine Politik intensiver Ukrainisierung. Die neuentstandenen Staaten (ähnlich wie diejenigen, die infolge der Kriegsniederlage und des dadurch verursachten Zerfalls der Österreichisch-Ungarischen Monarchie neuentstanden sind oder ihr Territorium vergrößert hatten), waren in nationaler Hinsicht nicht homogen. Den geringsten Anteil von nationalen Minderheiten wies Finnland auf: 1920: 11,3%, den größten Anteil hatte Polen: 1931: 31,3% (nach mehr glaubwürdigen schätzungsweisen Angaben sogar 35,3% (Estland dagegen 1922: 12,3%, Litauen 1923: 15,8%, Lettland 1930: 26,5%). In all diesen Ländern wurden die nationalen Minderheiten zum Objekt einer Diskriminierung. Dies wurde noch von der Vertiefung der nationalen Antagonismen begleitet, die deswegen stärker wurden, weil die Nationalisierung der sog. unteren Gesellschaftsschichten weiterging und die Einflüsse seitens der nationalistischen Organisationen, von denen die spontanen Xenophobien und der Antisemitismus vor allem, nobilitiert wurden, zunahmen. Die tragischen Folgen davon kamen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges zu Tage.
Die Entwicklung des italienischen Nationalismus, seine Einwirkung auf und seine Verschmelzung mit dem Faschismus Von Karl-Egon LäOlle
Im italienischen Nationalismus reagierte ein sich vergrößernder Kreis von Intellektuellen auf politische und soziale Integrations- und Demokratisierungstendenzen der Giolitti-Ära. 1 Sie entwickelten und propagierten ein Gegenkonzept, das für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt Italiens auf nationale Integration und außenpolitische Expansion setzte. Im Innern sollte eine straffe hierarchische Ordnung unter Führung alter und neuer Eliten des Bürgertums die Energien aller Klassen für die wirtschaftliche und territoriale Expansion des nationalen Staates bereitstellen. Vor allem der Erste Weltkrieg gab den italienischen Nationalisten politischen und ideologischen Auftrieb, den sie auch in der Nachkriegszeit erfolgreich weiterführten. Mit dem Faschismus und ihrem Führer Mussolini kam eine Massenbewegung auf, die von den Nationalisten grundlegende ideologische Impulse übernahmen und nicht zuletzt dadurch in die Lage versetzt wurde, die sozialkonservative und national expansive Konzeption der Nationalisten auf einer breiteren und dynamischeren Basis zu übernehmen. 2 Diese Entwicklung soll im Folgenden näher skizziert werden. 1 Über die direkt herangezogenen Quellentexte hinaus, sei auf folgende grundlegend wichtige Titel der Sekundärliteratur hingewiesen: Franeo Gaeta: Nazionalismo italiano, Neapel 1965; ders. (Hg.): La stampa nazionalista, 0.0. 1965 (die Einleitung des Hg. S. 9-90); Alexander J. De Grand: The Italian Nationalist Association and the Rise of Fascism in Italy, Lincoln, London 1978; Angelo d'Orsi (Hg.): I nazionalisti, Mailand 1981 (die Einleitung des Hg. S. 13-90). Voller wertvoller Hinweise fiir das Verhältnis von Nationalisten und Faschisten: Renzo De Felice: Mussolini iI rivoluzionario, Turin 1965 und ders.: Mussolini iI fascista, Turin 1966; Wilhelm Alf: Die Associazione Nazionalista Italiana von 1910, in: ders.: Der Begriff des Faschismus und andere Aufsätze zur Zeitgeschichte, Frankfurt 1971, S. 51-95. (Die Übersetzungen der Zitate sind vom Verfasser des vorliegenden Beitrags vorgenommen). 2 Antonio Repaci: La marcia su Roma, mito e realtä, Bd. I, Rom 1963, S. 257, sagt vom italienischen Nationalismus: " ... in ihm sind die Voraussetzungen enthalten, sind die Keime gereift, aus denen nicht nur der Faschismus hervorgegangen ist, sondern sich die Situation entwickelt hat, die dem Faschismus den Aufstieg zur Macht erlaubt hat. "
25"
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A. Entwicklung der Nationalisten in Opposition zur Ära Giolitti Der italienische Nationalismus erhielt seine besonders radikalen Ausprägungen in der Ära Giolitti, also in den Jahren zwischen dem Beginn des Jahrhunderts und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Er zeichnete sich zunächst ab in der Zeitschrift "11 Regno".3 Enrico Corradini wurde der mit Recht zu seiner Charakterisierung immer wieder zitierte Vordenker. Er setzte in der genannten Zeitschrift und bei jeder sich bietenden Gelegenheit sein Ungenügen an der Gegenwart um in Zukunftsperspektiven, die ihre Dynamik aus einer nationalen Selbstbesinnung des Bürgertums ge-winnen sollten. Voraussetzung dafür war ihm die Besinnung des Bürgertums auf seine eigenen Interessen und Fähigkeiten und seine Befreiung von der lähmenden Faszination durch die soziale Frage und von den Bemühungen um ihre Lösung mit Hilfe eines liberalen und mehr und mehr auch demokratischen Konzepts, wie es in der Linie Giolittis lag. Die herrschenden politischen und gesellschaftlichen Tendenzen der Politik Giolittis stellten zweifellos die Herausforderung dar, auf die Corradini und der mit ihm und unter seinem Einfluß neu und radikal sich profilierende italienische Nationalismus auf ihre besondere Weise antworteten. Nach einer Phase scharfer innenpolitischer Konfrontationen vor der Jahrhundertwende brachte Giolitti eine Politik zum Durchbruch, die auf die fortschreitende Integration der Volksrnassen in das bürgerlich-liberale System des jungen italienischen Nationalstaats gerichtet war. In erster Linie das sozialistisch beeinflußte Proletariat, dann aber auch die in Opposition zum italienischen Nationalstaat stehenden, intransigenten Katholiken, sollten dadurch an den bestehenden Staat herangeführt werden, daß sie in diesem Staat für ihre besonderen Interessen eigenständig und möglichst ohne auf staatliche Restriktionen und Repressionen zu stoßen eintreten konnten. Die wirtschaftlich und sozial bestimmende liberal-konservative Führungsschicht Italiens sollte von sich aus das Hereinwachsen der genannten Gruppen in den Staat ermöglichen, indem sie darauf verzichteten, wie bis dahin, ihre eigenen Machtpositionen durch den Staat gegen jede Beeinträchtigung verteidigen zu lassen. Wenn auch zunächst in gewissen Grenzen, sollten die bisher ausgeschlossenen, bzw. abseits stehenden politisch-gesellschaftlichen Gruppen als Konkurrenten und Partner zunehmend respektiert und integriert werden. Innenpolitische Auseinandersetzungen, weniger aber staatliches Handeln, sollten die Energien zur Entwicklung dieses Systems liefern. J Zur Bedeutung von "I1 Regno" und zum gesamten politischen. sozialen und kulturellen Kontext vgl. Francesco Gaeta: La crisi di fine secolo e I'em giolittiana. Turin 1982.
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War die Politik Giolittis darauf gerichtet, das staatliche Handeln deutlich zurückzunehmen und statt dessen gesellschaftliche Energien stärker zur Entfaltung kommen zu lassen, so wurde eben diese Tendenz zum Gegenstand der völlig gegensätzlichen Interpretation von Seiten der Nationalisten, die sie in den Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs immer schärfer herausarbeiteten. Die zunehmende Bewegungsfreiheit der gesellschaftlichen Kräfte, ihre Antagonismen und ihre Interessendivergenzen und Zusammenstöße mit dem bestehenden Staat und seinen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, wurden als Zersetzungserscheinungen interpretiert, denen gegenüber die Idee des nationalen Staates wieder zur Geltung zu bringen sei. Die Nationalisten neigten immer mehr dazu, die von ihnen konstatierten Auflösungstendenzen der Gegenwart als die Folge einer langfristigen Entwicklung zu sehen. Trat in der Gegenwart besonders der Egoismus des Proletariats hervor, wie er im Sozialismus und seinen revolutionären Forderungen besonders deutlich Ausdruck gewann, so war ihm schon der Liberalismus als Degeneration vorausgegangen, da er den einzelnen, seine Interessen und seine Entscheidungsfreiheit in den Mittelpunkt auch des politischen HandeIns und der politischen Zielsetzung gestellt hatte. Die nationalistische Kritik an den Realitäten der Giolitti-Ära ging also weit über Einzelerscheinungen hinaus. Sie wendete sich explizit besonders häufig gegen den Sozialismus und seine für den Staat und die Gesellschaft der Gegenwart verderblichen Wirkungen. Sie sah aber auch im Liberalismus eine grundsätzliche Schwächung der Staatsidee und damit eine noch tiefer liegende Ursache für die kritisierten Zustände der eigenen Zeit. Abhilfe erhofften die Nationalisten von einer Selbstbesinnung des Bürgertums, das sich zunächst einmal entschließen mußte, seine Nachgiebigkeit gegenüber dem sozialistischen Proletariat aufzugeben. Das Bürgertum hatte sich dann aber darüber hinaus zu einer ernsthafteren Staatsauffassung durchzuringen, in der dem Staat die ihm nach Auffassung der Nationalisten zukommende Schlüsselposition zurückgegeben wurde. Nicht der einzelne, seine Interessen und sein Wohlergehen hatten im Vordergrund zu stehen, sondern der Staat. Erst die kraftvolle und ungeschmälerte Existenz des Staates erschien als Grundlage und Garantie auch für die Existenz der einzelnen. Alle Energien der einzelnen waren daher im Staat zu vereinigen, um über dessen kraftvolle Entwicklung auch die höchstmögliche positive Auswirkung für den einzelnen zu bringen. Erschien der Staat unter der politischen Führung Giolittis den Nationalisten als ausgeliefert an seine inneren Konflikte und als dadurch kraft- und machtlos, so fanden sie die Bestätigung dieses Urteils in der Tatsache, daß der Regierungsweise Giolittis jeder äußere Glanz fehlte. Es kam Giolitti innenpolitisch
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darauf an, den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppen und Kräften Raum zur Betätigung innerhalb des bestehenden Staates zu geben. Dem gegenüber trat das Staatshandeln stark zurück. Giolitti beschränkte sich mehr darauf, Energien freizusetzen und ihnen den ihm angemessen erscheinenden politischen und institutionellen Rahmen zu bieten, als selber mit einer zündenden Programmatik und dem Einsatz staatlicher Mittel Ziele zu setzen und zu verwirklichen. Dabei war es für die gesamte Entwicklung entscheidend, daß es Giolitti zu Beginn des Jahrhunderts gelang, die innenpolitischen Blockierungen der vorangegangenen Jahre aufzuheben oder, wie im Falle der intransigenten Katholiken, zumindest mehr und mehr zu neutralisieren. Mit Hilfe vor allem seiner Beeinflussung der Verwaltung gelang es ihm, eine Entwicklung in Gang zu halten, die insgesamt die von ihm verfolgte Integrationspolitik voranbrachte, auch wenn sie immer wieder bei den verschiedenen Gruppen auf Vorbehalte, Widerstände oder Unverständnis stieß. Am augenfälligsten wurden die Schwächen Italiens in der Ära Giolitti für die Nationalisten in der Außenpolitik. Obwohl Italien durch den Dreibund mit Deutschland und Österreich in das europäische Bündnissystem integriert war, gelang es ihm nicht, diese Stellung zur Erweiterung des Herrschaftsgebietes auszuwerten. Es ist bezeichnend, daß die Nationalisten besonders Auftrieb bekamen, als Österreich 1908 Bosnien und Herzegowina annektierte und damit seine Machtstellung auf dem Balkan festigte und ausdehnte, während Italien sich ohne die vertraglich vorgesehenen Kompensationen zufriedengab. Es erschien den Nationalisten als Konsequenz der inneren Zustände, daß es Italien nicht einmal gelang, seine außenpolitischen Positionen zu wahren, geschweige denn, daß es in der Lage gewesen wäre, in der Außenpolitik Ziele und Erfolge zu fmden, die ihm dazu hätten verhelfen können, die inneren politischen Konflikte in ihrer Bedeutung so zu vermindern, wie es nach Ansicht der Nationalisten für eine Verbesserung der Zustände in Italien und damit für eine Stärkung seines außenpolitischen Gewichts unbedingt nötig gewesen wäre. Die nationalistische Kritik an den Verhältnissen im Italien Giolittis hatte sich an den gesellschaftlichen Konflikten entzündet, als deren Ursachen die Nationalisten vor allem die von den Sozialisten vorgetragenen Forderungen des Proletariats ansahen und die schwächliche Bereitschaft des Bürgertums, auf diese Forderungen einzugehen oder sie sich sogar zu eigen zu machen. Diese Konflikte erschienen nicht nur als Ausdruck und Verstärkung der kritisierten Verfälschung des Staatsbegriffs, sondern als Behinderung des nationalen italienischen Staates bei seiner eigentlichen Aufgabe, sich gegenüber anderen Staaten zu behaupten und ihnen Zugeständnisse abzutrotzen, auf die Italien Anspruch hatte. Dieser Anspruch gründete sich nach Auffassung der Nationalisten vor
Die EntwickJung des italienischen Nationalismus
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allem auf zwei Tatsachen: das rapide Bevölkerungswachstum Italiens und seine Armut an natürlichen Ressourcen. Das Bevölkerungswachstum wies die Italiener als junge, lebenskräftige, aufsteigende Nation aus. Der italienische Nationalstaat konnte in seiner augenblicklichen Schwäche für die wachsende Bevölkerung nicht mehr tun, als sie in die verschiedensten Teile der Welt auswandern zu lassen. Die italienischen Auswanderer vollbrachten dort Leistungen aller Art, die anderen Staaten zugute kamen, mußten sich dabei aber trotzdem noch die Mißachtung und die nationale Entrechtung in ihren Einwanderungsländern gefallen lassen. Wie wichtig die Beurteilung der Außenpolitik Giolittis durch die Nationalisten für ihre politische Haltung war, läßt sich aufs deutlichste ihrer Reaktion auf den Krieg in Libyen 1911 entnehmen. Bei diesem kolonialen Eroberungsfeldzug fand Giolitti die begeisterte Zustimmung der Nationalisten und ihrer neugegründeten Zeitung "Idea Nazionale", mit deren Hilfe sie ihren Ideen jetzt weitere Verbreitung zu geben vermochten. Giolitti hatte dieses Unternehmen zwar diplomatisch vorbereitet, aber keineswegs als ein besonderes Ziel seiner Regierung betrachtet, ja sich mehr durch die Umstände, als aus eigenem Entschluß zu seiner Verwirklichung veraniaßt gesehen. Für die Nationalisten war es die erste politische Tat Giolittis, die sie anerkannten und persönlich und propagandistisch nach Kräften unterstützten. Hier war der italienischen Nation ein Ziel gesetzt, zu dessen Erreichung sie all ihre Kräfte aktivieren und dem gegenüber sie alle inneren Gegensätze zurückstellen konnte und mußte. In dieser Haltung wurde das Verständnis des Verhältnisses von Innen- und Außenpolitik konkret, das mit der nationalistischen Staats- und Gesellschaftsvorstellung verbunden war. Die Innenpolitik war so zu gestalten, daß dem Staat alle Kräfte und Energien seiner Bürger zuwuchsen und sie nicht durch sinnund nutzlose Verteilungskämpfe absorbiert wurden. Wirtschaftliche und soziale Verbesserungen auch für das Proletariat waren nicht durch innere Auseinandersetzungen oder Reformen zu erzielen, sondern nur dadurch, daß es dem mit allen Mitteln gestärkten nationalen Staat gelang, im Kampf zwischen den Nationen größere Anteile von den vorhandenen Ressourcen der Welt für sich zu erkämpfen. Italien wurde von den Nationalisten in Verlagerung des Klassenkamptbegriffs auf die Ebene der Außenpolitik als proletarische Nation bezeichnet, die ihr Territorium und ihre Hilfsmittel mit allen Kräften auf Kosten der besitzenden, plutokratischen Nationen ausweiten dürfe und müsse, zumal diese Nationen alt und überlebt waren, wie es für Frankreich die zurückgehenden Bevölkerungszahlen zeigten. In diesen Überlegungen besaßen auch Kriege ihren festen und positiven Stellenwert, denn sie boten die erwünschten Gelegenheiten territorialer und materieller Expansion und gaben dem nationalen Staat die Möglichkeit, seine Volkskraft gegen die Konkurrenten zur Geltung zu
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bringen. Die begeisterte Unterstützung der Eroberung Libyens durch Italien war daher für die italienischen Nationalisten die Praktizierung ihrer theoretischen Überzeugungen.
B. Der Aufschwung der Nationalisten im Kontext des Ersten Weltkrieges Den Ausbruch des Ersten Weltkrieges begrüßten die Nationalisten als erneute Möglichkeit italienischer Expansion. Eine Schwierigkeit bot ihnen nur die Frage, auf wessen Seite Italien in den Krieg eintreten sollte. Für eine Option zugunsten der Mittelmächte sprach außer der langjährigen Zugehörigkeit zum Dreibund, daß man Deutschland als junge und daher expansive Nation ansah. Für italienische Eroberungen kam vor allem der Mittelmeerraum in Frage. Sie erschienen jedoch nur bei einer Schwächung Frankreichs erreichbar und konnten auch nur gegen englische Interessen durchgesetzt werden. Andererseits mußte ein Sieg der Mittelmächte das ohnehin schon zu große Übergewicht Österreichs auf dem Balkan verstärken und damit Italiens möglicher Expansion an der Adria zusätzliche Schwierigkeiten bereiten. Erst einige Wochen nach Kriegsbeginn entschieden sich die Nationalisten für den Eintritt Italiens auf Seiten der westlichen Entente gegen die Mittelmächte Deutschland und Österreich. Sie taten dies, obwohl sie damit in der inneritalienischen Auseinandersetzung Bundesgenossen von politischen Kräften wurden, die dieselbe Entscheidung aufgrund ihrer Parteinahme für die westliche Demokratie und gegen das semiabsolutistische System Deutschlands trafen. Für die weitere Entwicklung Italiens höchst bedeutsam war dann vor allem die Art und Weise, mit der die Nationalisten entscheidend an dem innenpolitischen Kampf um Neutralität und Kriegseintritt teilnahmen. Sie setzten alle ihre Energien dafür ein, die Massen für den Kriegseintritt zu mobilisieren. Die Entscheidung für den Krieg machten sie zugleich zu einem Schlag gegen Parlamentarismus und Demokratie, denn den gewählten Abgeordneten wurde durch die Welle der öffentlichen Agitation und die durch sie ausgelösten Massendemonstrationen die Entscheidung aus der Hand gerissen. Das Gewicht dieser Durchsetzung des eigenen Kriegswillens erhöhte sich für die Nationalisten noch dadurch, daß er gegen den Widerstand der Sozialisten erfolgte, die getreu ihrem grundsätzlichen Pazifismus den italienischen Kriegseintritt ablehnten. Überspielt und entmachtet wurde zugleich mit dem Parlament Giolitti, dessen Integrationspolitik die Nationalisten in den vergangenen Jahren aus den dargelegten Gründen mit größter Schärfe kritisiert und angegriffen hatten. Statt seiner setzten sich im liberalen Lager mit Hilfe der nationalistischen Agitation
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und durch sie gleichzeitig vorangetrieben rechtsgerichtete Politiker wie Antonio Salandra und Sidney Sonnino durch. Sie sahen in der Beteiligung Italiens am Weltkrieg nicht zuletzt ein Mittel, der in ihren Augen geschwächten Staatsmacht neues Ansehen zu geben und dabei auch die Stellung der liberalen Führungsschicht vor allem gegenüber den sozialistisch beeinflußten Volksmassen erneut zu festigen. Die das Parlament überspielende Massenbewegung des Mai 1915, die der zum Krieg entschlossenen Regierung den politischen Rückhalt bot, auf die verfassungsmäßigen Prärogativen des Königs in Bezug auf Außenpolitik und Vertragsabschlüsse gestützt zu handeln, setzte ein Beispiel dafür, daß der liberal-demokratisch legitimierte Staat nicht nur unter der Revolutionsdrohung von links stand, sondern daß sich unter wesentlichem Einfluß der Nationalisten und ihrer Ideen auch im bürgerlichen Lager radikale Massenbewegungen aufbauen ließen, die über die verfassungsmäßige Volksvertretung hinweg Entscheidungen in ihrem Sinne zu erzwingen bereit waren. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg blieb diese Erfahrung ständig präsent, der faschistische Marsch auf Rom war nicht die einzige, aber die erfolgreichste und folgenreichste Situation, bei der diese Erfahrung virulent wurde. Mit dem Einsatz für den Eintritt Italiens in den Weltkrieg und mit der auf den Abschluß des Londoner Geheimvertrages mit den künftigen Verbündeten folgenden Kriegserklärung an Österreich von Mitte Mai 1915 hatten die Nationalisten einen Höhepunkt an Einfluß und Erfolg erreicht, auch wenn dieses Ergebnis zustande kam im Zusammenspiel mit der zum Kriegseintritt entschlossenen Regierung und einer Volksbewegung, die nicht allein durch die Nationalisten, sondern auch durch demokratische Kräfte getragen wurde. Viele Nationalisten nahmen nun direkt an den Kämpfen teil und vertauschten vorläufig ihre propagandistische Tätigkeit mit dem Soldatenleben in den verbissen gegeneinander kämpfenden Massenheere der gegnerischen Mächte. Ihrem politischen Einfluß suchten sie in den sich überall im Lande ausbreitenden fasci di difesa nazionale größtmögliches Gewicht zu geben. Hier legten sie den Hauptakzent auf die nationale Zielsetzung des Kampfes und akzentuierten ihre Haltung innenpolitisch durch die Frontstellung gegen defätistische Kräfte, die sie vor allem in den Sozialisten namhaft machten und bekämpften. Gleichzeitig versuchten sie die Verknüpfung des Krieges und seines siegreichen Ausgangs mit Erwartungen und Forderungen einzelner sozialer Gruppen zurückzudrängen, wie sie nicht nur von linkstendierenden Interventionisten propagiert wurden. Aus nationalen Motiven mußten nach ihrer Ansicht für den Krieg alle Kräfte aufgeboten werden, ohne daß dabei politische oder gesellschaftliche Interessen für die Nachkriegszeit eine Rolle spielten.
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Nach der italienischen Niederlage von Caporetto wurden die Nationalisten in das nationale Verteidigungsbündnis des fascio parlamentare einbezogen. Ihre propagandistischen Möglichkeiten wurden dort durch die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen politischen Kräften stark begrenzt. Sie kamen kaum dazu, sich als Vorkämpfer der nationalen Interessen erneut wirkungsvoll zu profilieren. Ihre große Stunde waren und blieben die Maitage 1915. Deren Bedeutung ist allerdings kaum zu unterschätzen. Sie wurde beispielsweise in einem Artikel gefeiert, den Benito Mussolini ein Jahr später, allerdings nicht aus eigener Feder, in seiner als interventionistisches Blatt gegründeten Zeitung "11 Popolo d'Italia" veröffentlichte. Mussolini war zwar aufgrund revolutionärer Hoffnungen und Zielsetzungen und als Opponent gegen die offizielle pazifistische Haltung der sozialistischen Partei Italiens zum Interventionismus gestoßen, aber die vom "Popolo d'Italia" veröffentlichte Beurteilung der Maitage 1915 unterschied sich nicht von Äußerungen nationalistischer Interventionisten insofern sie das nationale Ereignis der Maitage feierte. "Für uns existien Italien seit der Woche der Leidenschaft vom Mai 1915. Erst seit dieser Zeit hat für uns Italien, das wir mit dem Volk gleichsetzen, es vemwcht, seinen Puls in der Geschichte schlagen zu lassen. Sie erlebt manjetzt nicht aus den Büchern, sondern im Leben. Das italienische Volk, das für Jahrhundene unter Fremdherrschaft gelebt hatte und Jahrzehnte von Männern regien worden war, die in der gutmütigen Volksmasse, die sich mit ihrem mittelmäßigen Schicksal abgefunden hatte, nie eine leidenschaftliche Bewegung erregt hatten, hatte seine Seele noch nicht ausgebildet ... Seit jenem Mai mit seinen Forderungen fühlen wir, dßß wir Italiener sind. ,,4
Die Nationalisten schalteten sich nach Kräften in die Kriegspropaganda ein und wurden dafür nach der Niederlage von Caporetto auch verstärkt herangezogen. Ihre Kriegspropaganda, wie sie etwa Corradini in der "Idea Nazionale" und an anderen Orten vortrug, brachte auch schon Akzentuierungen für die Nachkriegszeit und versuchte damit die kriegsbedingt vorherrschende nationalistische Tendenz über das Kriegsende hinaus zu erhalten. So betonte Corradini in wirtschaftlicher Hinsicht, aber mit noch viel wichtigeren sozialen und politischen Implikationen die Bedeutung der industriellen Produktion zunächst für die Bereitstellung möglichst guten Kriegsmaterials für die vereint kämpfenden Angehörigen aller Klassen. 5 Dieser Krieg und der auf ihn folgende Sieg werde
4
Vgl. Orsi, S. 62.
S
Die im Folgenden zitierten Texte bei Orsi. S. 126-148.
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den italienischen Produkten später die Wege zur Expansion in alle Welt bahnen. Die augenblickliche innere Einheit Italiens gelte es in bestmöglicher Weise und für möglichst lange Zeit geistig zu begründen und ihr die geeigneten Bedingungen zu verschaffen. Ganz entschieden legte Corradini den Akzent auf die gemeinsamen Anstrengungen aller Klassen im Krieg und auf deren konsequente Fortsetzung in der folgenden Friedenszeit zugunsten der wirtschaftlichen Expansion Italiens, die ihrerseits als Lohn der gemeinsamen Leistungen der Klassen in Aussicht gestellt wurde. "Auf daß sie [diese Einheit] das Instrument zur Erhöhung des Ansehens Italiens sein kann. Mit dieser Größe Italiens mögen unter eurer Führung und Einsicht, ihr Produzenten, euren Industrien, euren Banken und euren Schiffen die Wege in die Welt offenstehen; das ist der Wunsch für die kommenden Tage. ,,6 Die Industriellen mußten ihr Selbstgefühl ihrer tatsächlichen Bedeutung entsprechend entwickeln, mußten die Öffentlichkeit von dieser Bedeutung überzeugen und den Staat dazu bringen, ihnen durch seine Unterstützung die verdiente Anerkennung zu geben. Dies mußte gegen die sozialistische und demokratische Demagogie ihrer politischen Akteure im Lande und im Parlament durchgesetzt werden. Die Industriellen mußten als große Produzenten mit den kleinen Produzenten, den Arbeitern, trotz der bestehenden Interessensgegensätze solidarisch zusammenarbeiten. Nur die Demagogen, die sie gegeneinander aufhetzten, mußten ausgeschlossen werden. Daß die sozial-konservative Haltung der Nationalisten schon sehr frühzeitig von Seiten der Industriellen honoriert wurde, geht aus der Förderung hervor, die bedeutende Unternehmer ihnen schon vor dem Weltkrieg zukommen ließen. Infolge ihres fmanziellen Engagements zugunsten der "Idea Nazionale" gewannen führende Industrielle der italienischen Schwerindustrie, wie denn auch die Brüder Perrone, starken Einfluß auf diese wichtigste nationalistische Zeitung.? Solidarität der Klassen zum Wohle der Nation war die Botschaft, die Corradini vor Industriellen und vor Arbeitern verkündete. Er tat dies mit deutlich unterschiedlichem Akzent nicht nur der Wirkung halber, sondern auch schon in einer Kommunikationshaltung, die die unterschiedliche gesellschaftliche Stellung seiner Zuhörer berücksichtigte. Seine Rede vor den Unternehmern leitete er mit folgenden Worten ein: "Es ist das erste Mal, ihr Herren, glaube ich, daß ein politischer Schriftsteller sich an euch und an eure Klasse wendet, um euch
6
Orsi. S. 137.
1
Vgl. De Grand. S. 83-85 und 97 f.
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das zu sagen, was zu sagen, ich mich anschicke. ,,8 Die Unternehmer wurden aufgefordert, als Organisatoren der Arbeit ihr berechtigtes Selbstbewußtsein dem durch den Sozialismus übersteigerten Klassenbewußtsein des Proletariats entgegenzustellen. Die Erkenntnis mußte sich durchsetzen, daß die Produktion ein Zusammenwirkung von Arbeit und Organisation erforderte. Eine Rede Corradinis vor Arbeitern einer nationalistischen Gewerkschaft stellte zunächst in einem etwas herablassenden Ton die Solidarität des Redners mit seinen Zuhörern her: "Arbeiter, Gesinnungsgenossen! Zu euch zu sprechen, ist für mich eine Quelle der Freude und des Stolzes. Ich habe immer den Wunsch gehabt, euch nahezukommen, nahezukommen dem einfachen und hochherzigen Volk. ,,9 Sie wurde zu einer Abrechnung mit dem Sozialismus und hob seiner Klassenkampflehre gegenüber eine dreifache als natürlich bezeichnete Solidaritätsforderung hervor: Solidarität der Klassen untereinander, Solidarität aller Klassen mit dem Staat und Solidarität aller Italiener mit Italien, also mit der Nation. Die Rede gipfelte in der Beschwörung eines soldatischen Heldentodes, der die Angehörigen zwar trauern ließ, sie aber mit einem Stolz erfüllte, der wichtiger war, weil er die Grundlage für ein neues Leben Italiens darstellte. "Diese Solidarität wird bleiben, sie ist auf Blut gegründet und durch Ehre erhöht. .. Indem Italien sich von dieser Solidarität nährt, wird es seinen Weg machen und sein Leben gestalten. Es wird die Welt in der Fülle seiner Kraft durchschreiten und wird die Größe suchen, die ihm zukommt. ,,10 Nationale Solidarität war auch die Zielsetzung, die Alfredo Rocco in der "Politica" propagierte. Mit seiner Konzeption eines nationalen Syndikalismus ging Rocco jedoch stärker auf die Gewerkschaftsorganisation der Arbeiter ein als Corradini, wenn er auch jeden sozialistischen Einfluß aus der neuen Organisation von Arbeit und Kapital ausschließen wollte. In weiterer Entwicklung sollten auch die Unternehmer in die neue nationale Organisation der wirtschaftlichen Kräfte einbezogen werden, und zwar im Rahmen eines Korporationssystems, in dem ein gerechter Ausgleich von den Interessen der Arbeiter und der Unternehmer durch den autoritären Einfluß und durch die Entscheidungen des Staates erzwungen werden sollte. Welchen Einfluß diese Ideen für die Gestaltung des faschistischen Staates bekommen sollten, kann hier nur durch den Hinweis auf die "Carta di Lavoro" von 1927
8
Orsi, S. 126.
9
Orsi, S. 138.
10
Orsi, S. 148.
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angedeutet werden, die das Korporativ-System des faschistischen Staates in feste organisatorische Formen faßte. 11 Wie aufgeschlossen Mussolini schon in der Zeit des Krieges für solche Überlegungen war, geht aus der Tatsache hervor, daß er den Untertitel seiner Zeitung änderte. Statt "Zeitung für den Sozialismus" hieß es ab August 1918 "Zeitung für Produzenten und für Frontkämpfer". Beide Begriffe waren Ausdruck einer neu beschworenen nationalen Solidarität und konnten jederzeit in diesem Sinne auch politisch aktiviert werden. Die Bedeutung, die der Begriff des Produzenten für die Bestimmung des Verhältnisses von Unternehmern und Arbeitern durch Mussolini besaß, läßt sich dem Artikel entnehmen, mit dem der spätere Führer des Faschismus die Titeländerung seiner Zeitung begründete: "Produzenten, das heißt diejenigen, die produzieren, die arbeiten, aber nicht nur mit den Armen. Es gilt die Arbeit, die keinen Schweiß auf die Stirn treten läßt und auch nicht die berühmten Schwielen an den Händen hervorruft, aber deren gesellschaftlicher Nutzen sicherlich größer ist als derjenige, der von dem Arbeitstag eines libyschen Handlangers hervorgebracht werden kann. Die Produzenten verteidigen heißt, die Parasiten bekämpfen. Die Parasiten des Blutes [Anspielung auf die Kriegsgegnerschaft der Sozialisten], unter denen die Sozialisten den Platz in der ersten Reihe einnehmen und die Parasiten der Arbeit, die Bürger und Sozialisten sein können." 12 Die Produktion und ihre höchstmögliche Steigerung bekam für Mussolini den Vorrang vor der sozialistisch-klassenkämpferischen Interessensvertretung des Proletariats gegenüber dem Bürgertum. Darin traf er sich in der Tendenz mit Corradini. 13
c. Ideologische Systematisierung des italienischen Nationalismus und praktische nationalistische Politik unter dem Eindruck von Krieg und Sieg Das siegreiche Ende des Krieges eröffnete für die Nationalisten weite Perspektiven territorialer Expansion. Die Ansprüche Italiens, die sich aus dem Londoner Vertrag ergaben, wurden nur als ein Minimalprogramm behandelt. Darüber hinausgehende Ziele wurden immer wieder genannt und mit allem 11 Zu Rocco eingehend: Emilio Gentile: 11 mito dello stato nuovo daJl'antigiolittismo al fascismo, Rom, Bari 1982, S. 167-204.
12
Enzo Santarelli (Hg.): Scritti politici di Benito Mussolini, Mailand 1979, S. 179-181, S. 181.
Il Diese Beobachtung macht auch De Felice, der allerdings in seiner detaillierten Interpretation auch andere geistige Bezugspunkte von Mussolinis Produzenten-Begriff herausarbeitet. Vgl. De Felice: Mussolini iI rivoluzionario, S. 409ff.
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Nachdruck propagiert. Zu einem wichtigen publizistischen Sprachrohr der Nationalisten wurde die Ende 1918 gegründete Zeitschrift "Politica" . In über zwanzig Jahrgängen, also beinahe über die gesamte Periode des Faschismus, transportierte sie diese Ideologie in aktueller Zuspitzung wortreich und wirkungsvoll in die politische Diskussion des faschistischen Italien. In einem Artikel vom Juli 1919 stellte hier Francesco Coppola mit Anspielung auf die Verbündeten fest, daß Italien die Früchte seines Sieges gerade von denen bestritten werde, die es mit seinem spontan geleisteten, aufopfernden Einsatz gerettet habe. Er zählte dabei unter anderem Grundsätze auf, aus denen sich immer weitergehende italienische Forderungen ableiten ließen: das italienische Recht auf die Adria, auf nationale Integration, auf strategische Sicherheit, auf freie Schiffahrt und freien Handel in der Levante, auf Kompensationen in Afrika und in der Levante. 14 Wie expansiv Coppola beispielsweise die italienischen Sicherheits interessen auslegte, zeigt, daß er 1922 in einem "L"Unione' italo-austriaca" überschriebenen Artikel im Sinne eines Ausgreifens noch über die gerade als Siegespreis errungene Brennergrenze hinaus den Anschluß Österreichs an Deutschland durch eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen Italien und Österreich zu blockieren empfahl. 15 Mit einem die Zeitschrift eröffnendem Grundsatzartikel "Manifesto" hatten sich die Herausgeber der "Politica" Francesco Coppola und Alfredo Rocco allen antiimperialistischen und auf Versöhnung und Zusammenarbeit der Völker gerichteten Ideen entgegengestellt. Dort hieß es: "Das Verhältnis zwischen Staaten besteht nicht in Unter- und Zuordnung. Es ist Konkurrenz und Kampf. Jeder Staat hat eigene Ziele zu erreichen und muß das mit seinen eigenen Kräften. Die Macht, über die ein jeder Staat verfügt, stellt deshalb die Grenze für die Ziele dar, die er sich setzen und die er erreichen kann. Das Gesetz der internationalen Gerechtigkeit verwirklicht sich nach der Regel: Jedem nach seiner Macht. Kraft und Macht sagen wir im weitesten und umfassendsten Sinne des Wortes. Wir lassen darin nicht nur die materiellen Kräfte eintreten: die Bevölkerung, den Reichtum, die Waffen; sondern auch jene geistigen: den Opferwillen, den inneren Zusammenhalt, die Disziplin, die Überlegenheit auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Kunst und der Technik, und vor allem die Fähigkeit, die Seele der anderen Völker zu verstehen ... ,,16 14
Francesco Coppola: I problemi della pace. Nuova fase, in: Politica I, Bd. 2 (1919), S. 377-
397; S. 381. 15
Ders.: L'''Unione'' italo-austriaca, in: Politica IV, Bd. 13 (1922), S. 59-69.
16 Manifesto, in: Politica I, Bd. 1 (1918), S. 1-17; S. 11. Die Autorschaft des ungezeichneten Artikels wird eirunal Coppola, das andere Mal Rocco zugeschrieben. Mit dem Inhalt identifizierten sich jedenfalls beide Herausgeber.
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Auch die innenpolitischen Konsequenzen dieser Konzeption wurden in dem Programm der "Politica" mit aller Deutlichkeit genannt: "Der Kampf ist in der Tat das grundlegende Gesetz des Lebens der sozialen wie der biologischen Organismen; mit Hilfe des Kampfes formen, festigen und vervollkommnen sie sich; durch das Mittel des Kampfes setzen sich die Gesünderen, die Vitaleren gegen die Schwächeren und die weniger Geeigneten durch; mittels des Kampfes vollzieht sich die natürliche Evolution der Völker und Rassen. Und daher setzen wir der Grundregel der Demokratie: Gleichheit zwischen den Individuen und daher Beseitigung der gesellschaftlichen Hierarchien und Organisationslosigkeit im Innern - Gleichheit der Völker und daher ewiger Friede und Unbeweglichkeit nach außen, den Grundsatz entgegen: Disziplin der Ungleichheiten und daher Hierarchie und Organisation im Innern - nach außen freie Konkurrenz und Kampf zwischen den Völkern, da sich zwischen den Ungleichen diejenigen durchsetzen, die besser vorbereitet und geeigneter sind für die universale Aufgabe, die jedem starken und flihigen Volk in der Entwicklung der Kultur gestellt ist. ,,17 Die Kritik, die der Politik autoritärer Staaten unter dem Begriff des Sozialimperialismus immer wieder entgegengestellt wird, ist hier in ihr Gegenteil verkehrt. Sozialimperialismus bzw. Imperialismus mit uneingeschränkt positiv gewerteten Konsequenzen im Innern wird hier als Ausfluß einer sozialdarwinistischen Grundauffassung von Politik bejaht und als Integrations- und Handlungsmaxime absolut gesetzt. Friede kann es nur im Innern der Staaten geben und er ist der Preis des Kampfes nach außen. Die Staaten haben deshalb auch das Recht und die Pflicht, ihren Machtbereich nach Kräften auszubreiten und damit ihre innere Friedenssphäre auf das größtmögliche Maß zu erweitern. Indem alle Energien der Bürger für den Staat beansprucht und eingesetzt werden, dienen sie also in dieser nationalistischen Interpretation der "Politica" dem inneren Frieden, einem inneren Frieden allerdings der gesellschaftlichen Ein- und Unterordnung, des Gehorchens und des Befehlens: "Auf diese Weise werden alle Formen von Konflikten nach außen gewendet, von denen der unblutigen wirtschaftlichen und politischen Konkurrenz bis zu denjenigen der bewaffneten Auseinandersetzung, die in den extremsten Fällen die ultima ratio darstellen, zu der jedes Volk zu greifen das Recht und die Pflicht hat: Im Innern wird dagegen mit Disziplin, Ordnung und Rangstufung der Friede gesichert. Man dient so auf die einzige mit dem Leben und der gesellschaftlichen Entwicklung zu vereinbarenden Weise der Sache des Friedens. In der Tat, nach und nach wächst der Bereich des Friedens so wie sich eine Gesellschaft im Innern festigt, zur Expansion übergeht und seine Herrschaft ausweitet, indem 17
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sie den Kampf nach außen auf ein größeres Gebiet ausdehnt: Das beste Mittel, den Frieden zu sichern ist es, den Bereich immer weiter auszudehnen, wo eine einzige soziale Organisation, eine einzige Disziplin und eine einzige Autorität herrsche. ,,18 Über die imperiale Berufung Italiens für die Gegenwart nach Krieg und Sieg gab es für die Herausgeber der "Politica" keinen Zweifel und keine Unklarheit. Neben den Imperialismen Großbritanniens, der Vereinigten Staaten von Amerika, Japans, Rußlands und Deutschlands mußte Italien in bestmöglicher Zusammenfassung seiner Kräfte im Innern - und das mußte in nationalistischer Sicht eine autoritäre Ordnung sein - seiner historischen Aufgabe gerecht werden, wenn auch seine Ausgangslage ungünstig war. "Trotzdem ruft alles Italien zu seiner imperialen Sendung: Die Tradition Roms, Venedigs und Genuas; die politische Begabung des Volkes, die es immer zum Meister in der Kunst, die Völker zu beherrschen, gemacht hat; die geographische Lage, die, während sie es zu Lande mit dem kontinentalen Europa verbindet, es ihm erlaubt, von der Mitte aus das ganze Becken des Mittelmeeres zu beherrschen, wo heute erneut das Herz dreier Kontinente schlägt. Hier ist die Pflicht, hier ist die Sendung Italiens. Wie die Geschichte lehrt, hat jedes Mal, wenn in dieser schicksalhaften Halbinsel das Leben zurückgekehrt ist und sich eine völkische und politische Einheit, eine starke und organisierte Macht hergestellt hat, die eiserne Notwendigkeit der Verhältnisse Italien über seine Grenzen hinaus zu dem Meer der drei Kontinente und zu den drei Ausgängen, die es umspült, fortgerissen, eine Notwendigkeit, zu der eine natürliche und historische Bestimmung es ruft, die stärker ist als jede Kraft und jeder Wille, die ihr entgegen stehen ... ,,19 In dem Gründungsmanifest der "Politica" wurde die nationalistische Ideologie von ihren Grundlagen her entwickelt. Nicht nur ideologisch, wie vorstehend skizziert, sondern auch organisatorisch und politisch versuchten die Nationalisten, sich auf bestmögliche Weise auf die neuen Möglichkeiten einzustellen, die sich ihnen in der Nachkriegszeit boten. So war die Gründung neuer nationalistischer Zeitungen in Turin, Mailand, Genua, Perugia, Neapel, Bari und Palermo zugleich Ausdruck und Mittel dieses Einflußstrebens. Es handelte sich in diesen Fällen, wie in vielen nationalistischen Aktivitäten, um lokale Gründungen bzw. um die Initiativen einzelner, die aber immer wieder ihren Vereinigungspunkt, eine gewisse Koor18
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dination und auch zusätzliche Anstöße von der Associazione Nazionalista Italiana bekam. Sie und ihr publizistisches Organ, die "Idea Nazionale", bildeten die Plattform, auf der die verschiedenen nationalistischen Zielsetzungen, ihre aktuelle Ausformung und ihre jeweiligen Hauptgegner bzw. auch Verbündeten gegeneinander abgewogen wurden, in denen auch die hervorragenden Vertreter des italienischen Nationalismus, wie Corradini - mehrere Jahre Leiter der Zeitung - , Rocco und Federzoni um den entscheidenden Einfluß und um die Gestaltung der nationalistischen Strategie zur Beeinflussung von Politik und öffentlicher Meinung und um die dazu ratsamen taktischen Schachzüge rangen. Im Februar 1919 wurde von Dino Zanetti in Mailand eine paramilitärische nationalistische Truppe gegründet. Auch dies war zunächst eine Einzelinitiative, die sich dann aber schnell ausbreitete und die später auch der Associazione Nazionalista Italiana organisatorisch zugeordnet wurde. Die Einheit nannte sich "I sempre pronti per la Patria e per il re". Ihre Mitglieder wurden nach ihrer einheitlichen Kleidung die Blauhemden genannt. Vor allem gegen die Sozialisten griffen die Blauhemden gewaltsam in den innenpolitischen Kampf ein. 20 Sie kamen damit dem Bedürfnis weiter bürgerlicher Kreise entgegen, ein Gegengewicht zu dem sozialistischen Einfluß zu finden, der sich 1919120 im sogenannten biennio rosso vor allem in Norditalien so ausbreitete und intensivierte, daß die staatlichen Organe, soweit sie nicht auf lokaler Ebene auf Grund der sozialistischen Wahlerfolge ohnehin unter sozialistische Direktive gelangten, dagegen machtlos erschienen und untätig blieben. Die Blauhemden hatten damit einen ähnlichen sozialen Motivationshintergrund wie wenig später die Schwarzhemden des Faschismus. Die Blauhemden waren allerdings schon wegen der für sie ungünstigen Kräfteverhältnisse auf Einzelaktionen beschränkt. Die Nationalisten suchten ihren Einfluß daher auch durch Zusammenarbeit mit anderen Organisationen zu verstärken. So nahmen sie Verbindung zu den Organisationen der ehemaligen Kriegsteilnehmer auf, um sie mit ihren Parolen zu beeinflussen und um ihr Gewicht für die eigenen Zielsetzungen einzusetzen. Das Interesse der Nationalisten zur Zusammenarbeit fanden auch die Angehörigen ehemaliger Eliteeinheiten, die arditi. Sie spielten in der italienischen Innenpolitik der Nachkriegszeit eine Rolle, die sich in etwa mit der der Freikorps in Deutschland vergleichen läßt. Die politische Frontstellung der arditi ergab sich aus ihrem Kriegserlebnis. Für sie gehörten vor allem die Sozialisten zu denjenigen, die den Kampf erschwert hatten und die jetzt außen- und innenpolitisch die Erfolge des Sieges in Frage stellten oder sogar zunichte zu machen drohten. 20
Beispiele bei Gaeta: 11 nazionalismo ...• S. 209.
26 TImmcnnann
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Das ergab eine Grundlage zur Zusammenarbeit mit den Nationalisten. Hatten die Nationalisten Krieg und Sieg in den Mittelpunkt ihres gesamten Denkens gestellt, so wurde bei ihnen auch das Ungenügen über deren Auswertung für italienische Interesse zuerst empfunden und artikuliert. Die Parole von der vittoria mutilata, vom verstümmelten Sieg, wurde von ihnen zum neuen Kriegsruf in der innenpolitischen Auseinandersetzung, mit der sie einen breiten Anhang zu gewinnen und gegen die Politiker ins Feld zu führen suchten, die sie als Verzichtpolitiker abstempelten. Das war ebenso sehr der Ministerpräsident Orlando, dem Versagen in den Verhandlungen der Alliierten um die Verteilung der Kriegsbeute vorgeworfen wurde, wie sein Nachfolger Francesco Saverio Nitti, dem es mehr darauf ankam, eine neue europäische Friedensordnung zu fördern, als für Italien ein Höchstmaß an Kriegsgewinnen herauszuschlagen. 21 Einen Höhepunkt ihrer Agitation gegen eine Verzichtpolitik Italiens erreichten die Nationalisten in ihrem Eintreten für die gewaltsame Besetzung der von Italien vergeblich geforderten adriatischen Hafenstadt Fiume, heute Rijeka. Die "Idea Nazionale" hatte dem politisierenden Dichter und Abenteurer Gabriele D' Annunzio, der sich als Kriegsheld im Kampf gegen Österreich ein großes öffentliches Ansehen errungen hatte, schon unmittelbar nach Kriegsende seine Spalten geöffnet. Der Zug D' Annunzios nach Fiume wurde nun von den Nationalisten propagandistisch und militärisch mitgetragen und immer wieder auch zum Ausgangspunkt von Putschprojekten genommen, die Italien von dem sozialistische Druck befreien, eine starke Regierung ins Amt bringen und damit die innenpolitische Grundlage sichern sollte, die Italien auch zu den ihm zustehenden außenpolitischen Erfolgen verhelfen werde. In der Kritik an dem verstümmelten Sieg und in dem Eintreten für D' Annunzio stimmten Mussolini und seine Agitation im "Popolo d' Italia" in der Richtung mit den Nationalisten überein. 22 Darin zeichnete sich allerdings zugleich auch ein Konkurrenzverhältnis zwischen Mussolini und den Nationalisten ab, das im Verhältnis der von Mussolini gegründeten fasci di combattimento zu den Nationalisten noch eine allgemeinere und größere Bedeutung gewinnen sollte. 23 Je stärker Mussolini sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit in 21 Zu Nini vgl. Karl Egan Lönne: Italien in der Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Frieden in Geschichte und Gegenwart, hg. vom Historischen Seminar der Universität Düsseldorf, Düsseldorf 1985, S. 122-135. 22 Zu zeitweiligen Divergenzen vgl. z.B. De Felice: Mussolini il fascista, S. 528 im Hinblick auf die Haltung zum Kabinen Orlando. 23 Zeitgenössische publizistische Texte zum Verhältnis zwischen Nationalismus und Faschismus vgl. Gaeta: La stampa ... , S. 337-389 und Antologia della stampa fascista dal 1919 al 1925 hg. von Stenia SaUnas, Rom 1978, S. 199-202, S. 265-268 und S. 297-300. Unter den Vorformen des
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das Fahrwasser nationalistischer Ideen begab, um so bedrohlicher mußte es für ihn erscheinen, sich zu deutlich und ausgesprochen den Nationalisten zu nähern und dadurch von ihnen vereinnahmt zu werden, seine politische Bewegungsfreiheit zu verlieren und als ihr weniger wichtige Juniorpartner angesehen zu werden. Trotz seiner zunehmend nationalistischen Orientierung drohte Mussolini gleichzeitig unter den politischen Kräften der nationalistischen Rechten als weniger entschlossen und zuverlässig zu erscheinen und dadurch an Anziehungskraft auf rechtstendierende Kräfte einzubüßen und vor allem auch an Ansehen bei den konservativen Eliten zu verlieren. 24 An Mussolinis Verhalten in den entscheidenden Nachkriegsjahren wird dieses Dilemma immer wieder sichtbar. So trat Mussolini wie die Nationalisten für D'Annunzio und seine Ziele ein. In der Endphase des Fiume-Unternehmens war er jedoch im Unterschied zu den Nationalisten bereit, Giolittis Übereinkunft mit Jugoslawien im Vertrag von Rapallo zu billigen und auch die gewaltsame Vertreibung D' Annunzios aus Fiume durch italienische Regierungstruppen hinzunehmen. In diesem Falle dürfte es ihm wichtiger gewesen sein, D' Annunzio als Rivalen im öffentlichen Ansehen geschwächt zu sehen, als sich von den Nationalisten abzusetzen, die nicht daran dachten, von ihrer lautstarken Agitation für den Anschluß Fiumes an Italien abzurücken.
D. Das Aufgehen der Nationalisten im Partito Nazionale Fascista als Ergebnis der ideologischen Konvergenz und einer machtpolitischen Entscheidung Die unterschiedliche Haltung zu Giolittis Lösung der Fiume-Frage führte nun allerdings keineswegs zu einer entscheidenden und anhaltenden Entfremdung zwischen Mussolini und den Nationalisten. Für die wenige Monate später stattfmdenden Wahlen wurden vielmehr Mussolinis fasci und die Nationalisten in gleicher Weise in die nationalen Blocks aufgenommen, mit deren Hilfe Giolitti seine politische Stellung gegen die großen Volksparteien der Sozialisten und der Katholiken zu festigen suchte. Von diesem Bündnis profitierten sowohl die Nationalisten als auch die Faschisten. Mehrere namhafte Nationalisten errangen Parlaments sitze und die Faschisten, die vorher keine Parlaments sitze innehatten, waren nun mit über 30 Abgeordneten im Abgeordnetenhaus verFaschismus werden neben Futuristen und Syndikalisten die Nationalisten skizziert in Antonio Vinci: Prefigurazioni dei fascismo. Mailand 1974. 2' Zum Verhältnis zwischen Faschisten. Nationalisten und konservativen Tendenzen und Zielsetzungen vgl. Roland Sarte: ltalian fascism: radical politics and conservative goals. in: Fascists and conservatives. hg. von Martin Blinkhorn. London. 1990. S. 14-30.
26'
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treten. Überschneidungen in der Zugehörigkeit zu der Associazione Nazionalista Italiana und den fasci ließ überdies die Verwandtschaft der beiden politischen Bewegungen noch stärker hervortreten, konnte aber auch die Spannungen verschärfen, wenn es zu politischen Divergenzen zwischen den beiden politischen Gruppen kam, wie es Mussolini im Sinne einer Profilierung seiner fasci gelegentlich für unerläßlich hielt. Solche Divergenzen hatten im Gründungsjahr der fasci 1919 zweifellos vorgelegen, insofern die fasci Monarchie und Kirche kritisch bis ablehnend gegenüberstanden, die für die Nationalisten einen hohen Stellenwert in ihrer Funktion zur Stärkung von Staat und Nation besaßen. Mussolini scheute sich auch nicht, bei Gelegenheit zumindest aus taktischen Gründen immer wieder einmal die Unvoreingenommenheit der fasci gegenüber republikanischen Ideen zum Ausdruck zu bringen, wenn er sie von allzu enger Bindung an Nationalisten und Konservative befreien wollte. In der Gründungszeit trennte auch der hohe Anteil an linkstendierenden Mitgliedern die fasci deutlich von den Nationalisten, deren Innenpolitik in den Sozialisten und in allen mit sozialen oder gar revolutionären Forderungen hervortretenden Gruppen ihre Gegner sahen. Als nun aber, wie es von der Forschung herausgearbeitet worden ist, in den fasci die linkstendierenden Mitglieder schon im Laufe der ersten anderthalb Jahre durch ausgesprochen rechtsorientierte kleinbürgerliche Elemente ersetzt wurden, da fiel dieser Gegensatz zu den Nationalisten weitgehend fort. 25 Auch die Kritik der fasci an den bestehenden Institutionen trat immer weniger hervor, so daß auch in dieser Hinsicht dem Gegensatz zu den Nationalisten immer weniger Bedeutung zuzukommen schien. Die ideologischen und praktischen Gemeinsamkeiten zwischen Faschisten und Nationalisten verstärkten sich, als 1920 der Agrarfaschismus mit seiner terroristischen Wendung gegen die sozialistische Vorherrschaft in den agrarischen Regionen der Po-Ebene sich schnell durchsetzte. Bei den gewaltsamen Aktionen gegen sozialistische Einrichtungen kam es zur Zusammenarbeit von faschistischen Einsatzkommandos und Blauhemden oder auch zu parallelen Aktionen der Nationalisten gegen die Sozialisten. Im ganzen war also deutlich eine Annäherung von Nationalisten und Faschisten in der praktischen Politik erkennbar, nachdem Mussolini in seiner Kritik an der italienischen Außenpolitik und der vittoria mutilata und durch seine expansionistischen Ziele in den Grundzügen schon lange mit den nationalistischen Parolen übereinstimmte. Um so schärfer mußte sich zunehmend auch das Problem stellen, von dem oben schon die Rede war, nun allerdings vor allem in der Form einer von Mussolini 25
V gl. dazu besonders De Felice: Mussolini il fascista. Kap. I.
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als Bedrohung empfundenen Instrumentalisierung des Faschismus durch die Nationalisten und ihre eindeutig konservative Politik. Daraus läßt sich erklären, daß Mussolini 1921 wiederholt politische Vorstöße machte, die geeignet waren, eine völlige Identifizierung seiner fasci mit den Nationalisten zu verhindern. So griff er in einer Rede nach dem Wahlerfolg der Faschisten 1921 auf republikanische Gedankengänge zurück, die in der Gegenwart des politisch-sozialen Kampfes in Vergessenheit geraten waren. Den Gegensatz zu den Nationalisten, der damit automatisch wieder aufgerissen wurde, kann eine Erinnerung an die Bezeichnung der nationalistischen Kampfeinheiten illustrieren, die oben schon erwähnt wurde: I sempre pronti per la Patria eilre. Vaterland und Monarchie gehörten für die Nationalisten aufs engste und untrennbar zusammen. Mussolinis republikanische Töne mußten die Nationalisten an Mussolinis revolutionäre Vergangenheit erinnern, die offenbar zumindest in diesem Punkt noch nicht überwunden war. Mussolini war es aber seinerseits offenbar daran gelegen, für seine fasci ein politisch-soziales Rekrutierungsfeld zu erhalten, in dem Unzufriedenheit mit den gegebenen politischen und sozialen Zuständen und Machtverhältnissen sich verband mit einem aggressiven Veränderungswillen, der sich nicht von vorne herein auf den institutionellen Rahmen der Monarchie festlegen wollte. Diese Auffassung schlägt sich auch in den Forderungen des faschistischen Programms vom Mai 1920 nieder, die gegenüber den scharfen, in manchen Punkten fast revolutionär klingenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Standortbestimmungen des Programms vom Juli 1919 schon stark gemäßigt waren, immerhin aber den vieldeutig interpretierbaren Satz enthielten: "Für die fasci di combattimento ist die Frage der Regierungsform den jetzigen und den zukünftigen moralischen und materiellen Interessen der Nation in ihrer augenblicklichen Realität und in ihrer historischen Entwicklung untergeordnet. Deshalb haben sie keinerlei Voreingenommenheit gegenüber den augenblicklichen Institutionen; weder für noch gegen sie. ,,26 Die Unabhängigkeit der fasci von der innenpolitischen Linie der Nationalisten zeigte Mussolini auch in dem durch die Regierung Bonomi vermittelten Waffenstillstand zwischen Faschisten und Sozialisten, dessen mögliche Tragweite nicht einmal rückwirkend genau einzuschätzen ist, da er aus verschiedenen Gründen nicht im vorgesehenen Umfang verwirklicht wurde. Seine Realisierung hätte Mussolini nach links eine Manövrierfähigkeit erhalten, die sein Mißlingen verbaute. Daß dieser Waffenstillstand scheiterte, lag zweifellos in 26
De FeUce: Mussolini il rivoluzionario, S.747; die Texte der heiden Programme, a.a.O .. S.
742-748.
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erster Linie daran, daß er bei den fasci gegenüber einer Basis, deren Schwerpunkt stark nach rechts verschoben war, nicht mehr durchzusetzen war. Der Agrarfaschismus und seine terroristische Ausprägung, der squadrismo, der sich anschickte, den Einfluß der Sozialisten gewaltsam zu liquidieren, ließ sich nicht mehr taktisch manipulieren, wie Mussolini dies gewollt hatte. Daß Mussolini dies nicht gelang, dazu trugen auch starke nationalistische Einflüsse bei. Sie trugen von außen ihre Kritik an Mussolinis Vorgehen aufs schärfste vor und drohten gleichzeitig, den Faschisten als Gegengewicht gegen sozialistische Machtpositionen in der öffentlichen Meinung und bei den konservativen Eliten den Rang abzulaufen. Sie wirkten mit ihrer Kritik auch in die faschistische Bewegung selbst hinein und verstärkten damit die antisozialistische Intransigenz. Mussolini mußte sich daher schließlich dem Widerstand gegen seine Versöhnungspolitik gegenüber den Sozialisten beugen. Der gewaltsam antisozialistische Kurs der fasci wurde nun unter dem Beifall der Nationalisten verstärkt fortgesetzt. Damit war eine Episode beendet, in der Mussolini aufs neue die Selbständigkeit der fasci von den Nationalisten akzentuiert hatte. Sie hatte vorübergehend eine Divergenz hervortreten lassen, an der Mussolini im Sinne einer selbständigen Bestimmung seines Verhältnisses zur Arbeiterschaft gelegen war, die er aber nicht in der beabsichtigten Weise durchzusetzen vermochte. Mehr denn je mußten fasci und Nationalisten nun als gleichgerichtet erscheinen, wenn auch bei den Nationalisten selbst die Befürchtungen neue Nahrung bekommen hatten, daß die Faschisten sich anstelle der Sozialisten zu Sprechern eigenständiger Interessen der Arbeiterschaft machen könnten. 27 Nationalisten und Faschisten waren damit also weiter Bundesgenossen und Rivalen. 28 Das zwiespältige Verhältnis zwischen Faschisten und Nationalisten zeichnet sich auch im Zusammenhang des faschistischen Marsches auf Rom und des durch ihn erzwungenen Regierungswechsels ab. Die volle Durchsetzung von Mussolinis Machtanspruch wurde noch in der letzten Phase durch eine Kandidatur Antonio Salandras für die Ministerpräsidentschaft in Frage gestellt. Diese Kandidatur wurde von den Nationalisten begrüßt und befürwortet, denn Salandra schien den konservativ-nationalistischen Kräften von rechts zum Durchbruch verhelfen zu können ohne die Führung in die Hand der Faschisten fallen zu lassen.
27
Hierzu und zu der folgenden Entwicklung vgl. Gaeta: La stampa ...• S. 73-90.
28 Detailliert zu einer weiteren Phase in den Beziehungen zwischen Faschismus und Nationalismus vgl. De Felice: Mussolini iI fascista. S. 193-197.
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Mit dem erfolgreichen Abschlusses des faschistischen Marsches auf Rom durch die legale Berufung Mussolinis zum Chef eines Koalitionskabinetts, hatten die Faschisten dann allerdings einen Vorsprung vor den Nationalisten gewonnen, der sich schnell bemerkbar machte. Unter den Ministern von Mussolinis erstem Kabinett befand sich von nationalistischer Seite nur Luigi Federzoni, der mit dem Kolonialministerium sicherlich keine Schlüsselposition einnahm, dessen persönliches Gewicht allerdings daraus abzulesen ist, daß er das Innenministerium übernahm, als Mussolini 1924 infolge der MateottiAffäre in schwere politisch- moralische Bedrängnis geriet. Hinzu kamen noch zwei Nationalisten in der Funktion von Unterstaatssekretären. Der von Mussolini geführten Regierung und der inzwischen seit November 1921 zum Partito Nazionale Fascista gefestigten faschistischen Bewegung waren mit der Regierungsbildung reale Gestaltungsmöglichkeiten gegeben, die sie in der Konkurrenz mit den Nationalisten begünstigte. Die Nationalisten konnten zwar mit Recht in weiten Bereichen der neuen Entwicklung eine Durchsetzung ihrer ideologischen Vorstellungen erblicken. Sie konnten auch von dem allgemeinen Auftrieb der Rechtstendenzen durch den Marsch auf Rom profitieren. So kam es in Süditalien zu einem parallel verlaufenden Aufbau von faschistischen und nationalistischen Organisationen, in denen sich meist örtlich rivalisierende Machtgruppierungen, die auch schon früher bestanden hatten, unter den neuen politischen Vorzeichen organisierten und miteinander mehr oder weniger heftig auseinandersetzten. Die Nationalisten behielten aber grundsätzlich kein Betätigungsfeld, das alleine ihnen vorbehalten geblieben wäre und auch kein politisches oder soziales Thema, mit dem sie sich als eigenständige, unentbehrliche politische Größe hätten profilieren können. Trotzdem stellten ihre neuerlichen Rekrutierungserfolge vor allem in Süditalien für Mussolini und die Faschisten eine zusätzliche Herausforderung dar, sich ihrer Konkurrenz auf möglichst wirkungsvolle und nutzbringende Weise zu entledigen. 29 Die Überführung der faschistischen squadri in die offizielle Milizia Nazionale Fascista brachte eine Auflösung aller anderen paramilitärischen Einheiten und so auch der Blauhemden, eine Maßnahme. die die Nationalisten nicht verhindern konnten, mit deren tatsächlicher Realisierung sie jedoch stellenweise, wohl aus der zutreffenden Einsicht zögerten. daß sie damit eine weitere Machtposition verloren. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich. daß das Verhältnis von Faschismus und Nationalismus nach dem Marsch auf Rom mit neuer Intensität diskutiert wurde. Nachdem die historische Entscheidung zwischen den beiden 29
Vgl. De Grand. S. 150-153.
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verwandten, aber doch auch rivalisierenden Kräften zugunsten der Faschisten gefallen war, stand die nationalistische Bewegung unter einem neuen Rechtfertigungsdruck. Konnte und sollte sie sich gegenüber dem Faschismus behaupten, etwa da sie besonders im Süden starken Zulauf hatte, oder war es allein sinnvoll, daß sie sich mit dem Faschismus vereinigte, also praktisch im Faschismus aufging? Oder konnte und mußte der Nationalismus auch jetzt noch die Funktion eines Gegengewichtes gegen Tendenzen innerhalb des Faschismus ausüben, die ihn auch oder vielleicht gerade infolge des Marsches auf Rom in den Augen der traditionellen Eliten auch dann noch stark belasteten, als sie sich zur Zusammenarbeit mit dem Faschismus anschickten?30 Die konservativen Führungsschichten auf wirtschaftlicher, monarchistischer, liberaler und kirchlicher Seite begrüßten es einerseits, daß es ihnen nun zu gelingen schien, mit den Faschisten eine Massenbewegung für die Ziele zu gewinnen, die bisher von den Nationalisten sehr pointiert und zuverlässig, aber eben meist ohne Stützung durch breitere Volksschichten propagiert worden waren. Andererseits blieben die Nationalisten für sie wichtig als Gegengewicht gegen immer wieder als möglich befürchtete revolutionäre Impulse in den Reihen des Faschismus. 31 Offenbar war Mussolini an einem baldigen Zusammenschluß interessiert. Denn er beseitigte zwei Ansatzpunkte, an denen die Rechtfertigung einer selbständigen Fortexistenz des Nationalismus anknüpfen konnte. Er ließ die Abwendung des Faschismus von republikanischen Tendenzen durch einen Beschluß des faschistischen Großrats im Januar 1923 so unmißverständlich zum Ausdruck kommen, daß die Verteidigung der Monarchie nicht mehr als besondere Aufgabe der Nationalisten reklamiert werden konnte. Der Faschismus hatte die Macht auf legale Weise, mit Zustimmung des Königs errungen und sah nun keinen Grund mehr, der Monarchie aus ideologischen Vorbehalten heraus feindlich oder auch nur mit grundsätzlichen Vorbehalten gegenüberzustehen. Auch einen weiteren Vorbehalt suchte die faschistische Partei abzuschütteln, nämlich den Verdacht auf Verbindungen zum Freimaurertum und damit auf eine fortdauernde Kirchenfeindlichkeit. Das Verbot für Faschisten, Freimaurer 30 Die Zwangsläufigkeit des Zusammenschlusses von Faschismus und Nationalismus nach Mussolinis Regierungsbildung betont Enzo Santare/li: Storia deI movimento e deI regime fascista. Rom 1967. S. 335: "Die zur Macht aufgestiegene Minderheit mußte sich in ihren Hauptsträngen vereinigen und integrieren, die zum Teil ähnliche. zum Teil sich ergänzende Eigenarten besaßen."
3! Vgl. dazu auch Adrian Lyttelton: La conquista deI potere. II fascismo dal 1919 al 1929, Rom. Bari 1974. S. 189-193.
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zu bleiben, wie es vom faschistischen Großrat im Februar 1923 beschlossen wurde, hatte zwar keine durchschlagende praktische Auswirkung, genügte aber, den unwiderruflichen Bruch jeder Verbindung zwischen Faschismus und internationaler Freimaurerei zu markieren, dem für die Nationalisten das Verdikt internationaler Verbindungen in besonders negativer Weise anhaftete. In einer entscheidende Phase trat das Verhältnis zwischen Faschismus und Associazione Nazionale Italiana als der faschistische Großrat im Januar 1923 die Bildung einer gemischten Kommission beschloß, die die Modalitäten eines Zusammenschlusses aushandeln sollte. Dort wurden verschiedene Projekte eines Zusammenschlusses beraten, die aber am Widerspruch Mussolinis scheiterten. Mussolini wendete sich sowohl gegen jeden gesonderten Zusammenhang der Nationalisten innerhalb der faschistischen Partei, als auch gegen ihre genau festgelegte Zuständigkeit für das Gebiet der Erziehung, der Propaganda und der Jugendarbeit, sowie gegen eine Vertretung der Nationalisten in faschistischen Führungsgremien in einem festgelegten Verhältnis. Nach einem Dokument aus dem besonderen Sekretariat Mussolinis gibt De Grand als endgültiges Ergebnis der Verhandlungen zwischen Associazione Nazionale Italiana und Partito Nazionale Fascista folgende zehn Einigungspunkte wieder: 1. Die Vereinigung verzichtet auf jede politische Aktivität, aber in Rom soll ein Institut für nationalistische Kultur eingerichtet werden. 2. Den Nationalisten wird mit einigen Ausnahmen erlaubt, en bloc in den PNF überzugehen mit einem Mitgliedsalter , das sich auf den Dienst in der ANI stützt. 3. Die nationalistischen Arbeiterorganisationen werden mit den faschistischen Korporationen vereinigt; die Nationalisten werden von Fall zu Fall zunehmend in die Aktivitäten des PNF integriert, ohne einen festgesetzten Prozentsatz. 4. Eine angemessene Vertretung von Nationalisten im faschistischen Großrat wird zugesagt, aber Mussolini das Recht gegeben, die Anzahl zu bestimmen. 5. Die faschistische Miliz wird Mitglieder der Sempre pronti aufnehmen und wird sich bei der Einstufung in die faschistische Miliz des vorhergehenden Dienstes in der nationalistischen Einheit bedienen. 6. Es werden Vorkehrungen getroffen, daß nationalistische Fahnen bei öffentlichen Akten entfaltet werden. 7. Nationalistische Jugendorganisationen sollen mit denen des PNF vereinigt werden. 8. Parlamentarische Vertretungen und örtliche Gruppen werden vereinigt. 9. Fahnen der ANI sollen vom PNF aufbewahrt werden.
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10. Eine gemischte Kommission soll bestehen bleiben, um den Vorgang der Vereinigung zu leiten; Paolucci und Sansanelli werden zur Überwachung der Vereinigung benannt. 32 Aus den einzelnen Punkten der Vereinbarung geht deutlich hervor, wie weitgehend die Nationalisten den Vorstellungen Mussolinis und des PNF entgegenkommen mußten. Allerdings ist dies nur die eine Seite des Vereinigungsvorgangs. Der vollen Integration von Führungskräften und Gefolgsleuten der ANI in den PNF stand kein Hindernis im Wege. Der Elite der nationalistischen Führerschaft war jede Möglichkeit eröffnet, ihre ideologische Konzeption und ihr Prestige bei der konservativen monarchistischen Elite in die faschistische Partei einzubringen und dadurch auch auf sie Einfluß zu nehmen. Eine Reihe von Namen macht deutlich, mit welchem Erfolg Nationalisten von diesen Möglichkeiten Gebrauch machten: Luigi Federzoni, Alfredo Rocc0 33 und Enrico Corradini, um die prominentesten zu nennen. Federzoni und Rocco übten in den zwanziger bzw. bis Anfang der dreißiger Jahre wichtige Regierungsämter unter dem faschistischen Regime aus. Andere Nationalisten behielten in verbreiteten Zeitungen bzw. Zeitschriften Einfluß auf die Öffentlichkeit. Corradini und Virginio Gayda leiteten den Giomale d'Italia. Roberto Forges Davanzati die Tribuna, Coppola führte die Zeitschrift Politica weiter. Die Vereinigung von ANI und PNF wird daher in der wissenschaftlichen Literatur mit Recht nicht als Verschwinden der Nationalisten interpretiert, sondern als ihren Übergang in den sich entwickelnden Kontext der faschistischen Partei und des faschistischen Regimes, in denen ihre Mitglieder in bemerkenswertem Umfang Führungspositionen einnahmen und einen zwar nach Phasen und Gebieten unterschiedenen, aber im ganzen nicht zu unterschätzenden Einfluß ausübten. So heißt es bei Francesco Gaeta: "Man kann zusammenfassend sagen, daß die nationalistische Gruppe für die gesamten zwanzig Jahre des Regimes seinen Zusammenhalt bewahrte, bis zur dramatischen Sitzung des [faschistischen] Großrates vom Juli 1943. ,,34 An anderer Stelle werden Einfluß und Bedeutung der Nationalisten für die Entwicklung des Faschismus in vielen Einzelheiten und Nuancen dargestellt und schließlich wesentliche Charakteristi32
Vgl. De Grand, S. 158.
33 Vgl. II fascismo. Antologia di scritti critici, hg. von Costanzo Casucci. Bologna 1982. S. 155167. wo als repräsentativ für die nationalistische Interpretation des Faschismus Ausschnitte zweier Reden von Rocco abgedruckt sind. 34 Dort wurde Mussolini durch eine Mehrheit. zu der u.a. auch Federzoni gehörte. entmachtet. Vgl. Gaeta: La stampa ...• S. 53. Anm. 63.
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ka des faschistischen Regimes mit dem nationalistischen Einfluß in Zusammenhang gebracht. 3s "Sie [die Nationalisten] fanden im Faschismus beides, die Massenbasis und die Mittel sozialer Kontrolle, die sie seit ihrer Auflehnung gegen das liberale System gesucht hatten ... 36 Hatten sie sich entwickelt und zusammengeschlossen gegen den politischen und sozialen Integrationskurs Giolittis und hatten sie von da an immer schärfer das Konzept einer nationalegoistischen Expansion mit einer autoritären Festschreibung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in ihrem hierarchischen Aufbau im Innem verbunden, so wurden für die Nationalisten mit der Entwicklung des faschistischen Regimes ohne Zweifel wichtige Zielvorstellungen erreicht, wenn sich die ANI auch nominell in den PNF aufgelöst hatte.
3S
Vgl. auch Gaeta: II fascismo .... präzis zusammenfassend S. 203-205.
36
De Grand. S. 178.
"Während des Spiels ist der Dirigent for die Menge im Saal ein Führer. Er steht an ihrer Spitze und hat ihnen den Rücken zugekehrt. Er ist es, dem man folgt, denn er tut den ersten Schritt . ... Während eines ganzen Werkes bekommen sie sein Gesicht nie zu sehen. Er ist unerbittlich, Rast ist nicht erlaubt. Sein Rücken steht immer vor ihnen, als wäre er das Ziel. Würde er sich einmal wenden, ein einziges Mal, der Bann wäre gebrochen. " Elias Canetti, Masse und Macht
Patriotismus und Faschismus Gabriele D' Annunzio und Benito Mussolini Von Angelica Gernert
Mit dem Begriff Nationalbewegung bezeichnet man - oftmals etwas undifferenziert - zwei verschiedene politische Phänomene, die sich in der Regel zwar überlappen, aber nur im Ausnahmefall decken: 1. Aktivitäten zumeist kleinerer Gruppen mit dem Ziel der Errichtung eines Nationalstaates; sie wären besser allerdings mit dem Begriff nation-buildingprocess beschrieben. 2. Soziale Bewegungen mit nationalistischen Interessen, die breite Schichten der Bevölkerung, im Idealfall die gesamte Nation erfassen. Von einer solchen Nationalbewegung im eigentlichen Sinne des Wortes, kann man in Italien erstmals seit dem Eintritt des Landes in den Ersten Weltkrieg sprechen. l Ihre zentrale Antriebskraft kam vom sog. Irredentismus, der bald nach der Konstituierung des Königreichs Italien auf der linken Seite des parteipolitischen Spektrums entstanden war 2 und der den Postulaten nach gebiets-
lOhne ein bewußtes, systematisches Vorgehen zu unterstellen, darf man dennoch annehmen, daß man mit der Anwendung des Begriffs auf die Zeit des Risorgimento die Basis der nationalen Einigung nachträglich historiographisch verbreitern und den Einigungsprozeß selbst damit demokratisieren wollte; auf diese Weise positiv besetzt. ist es nur konsequent, daß man ihn im Zusammenhang der Entstehung und Verbreitung des Faschismus zu vermeiden sucht, sicher auch, um dieser nationalistischen Diktatur nachträglich wenigstens die Legitimation durch die faktische Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten zu nehmen. Ansonsten ist der Begriff der sozialen Bewegung in der Politikwissenschaft in letzter Konsequenz als unreflektiertes, irrationales und nicht organisiertes soziales Verhalten und damit als undemokratisches Verhalten definiert. (V gl. Dirk Gerdes , Art.:
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mäßiger Erweiterung des Nationalstaats eine moralische Legitimation unterlegte. So entstanden in der Folgezeit eine ganze Reihe nationalistischer Gruppen, die jedoch erst durch die Gründung der Associazione Nazionalista Italiana 1910 in Florenz zu einer beachtenswerten politischen Kraft zusammengeführt wurden. 3 Andererseits wird als auslösendes Moment für die italienische Nationalbewegung immer wieder auf die künstlerische Avantgarde um 1909/1910, auf die Futuristen verwiesen: 4 ihnen ging es allerdings eher darum, den in der Ära
Soziale Bewegung, in: Dieler Nohlen (Hrsg.), Pipers Wörterbuch zur Politik, 1 - Politikwissenschaft, S. 905 f.). 2 War eine der Haupnriebkräfte für die italienische Einigung die Befreiung von der Fremdherrschaft, d.h. vor allem die Befreiung von der Herrschaft Österreichs in Oberitalien, so konnte im Zuge der Aussöhnungspolitik von Vittorio Emanuele 11 der faktische Verzicht auf Gebiete, die aufgrund der Bevölkerungsstatistik oder aufgrund historischer Argumentation seit langem für die Nation beansprucht wurden, als Landesverrat hingestellt und für die Oppositionspolitik spätestens seit dem Regierungsantritt von Umberto I (1878) funktionalisiert werden. Matteo Renato ImbrianiPoerio übernahm bewußt die pseudo-religiöse Wortwahl Mazzinis, der immer von den "terre irredenti" gesprochen hatte. Die Verbindung seiner fanatischen Propaganda mit radikal-demokratischen, ebenfalls auf Mazzini zurückgehenden Positionen führten über den Irredentismus hinaus zum Nationalismus und zur Entstehung des Faschismus. Vgl. Rudolf Lill, Geschichte Italiens in der Neuzeit, Darmstadt ·1988, pp. 200 f, 206 fund E. Dickmann, Die Rezeption Giuseppe Mazzinis im italienischen Faschismus, Frankfurt a.M. 1982. l Der Convegno fand am 3. Dezember 1910 in der Sala dei Duecento im Palazzo Vecchio in Florenz statt und wurde regelrecht wissenschaftlich geführt. Die Führer der aus den verschiedensten politischen Lagern stammenden nationalistischen Gruppen referierten über die wichtigsten aktuellen politischen Felder: Corradini über das Verhältnis von Sozialismus und Nationalismus; Maraviglia über die nationalistische Bewegung in Italien und ihr Verhältnis zu den etablierten politischen Parteien; Federzoni über die Politik der Allianzen: Sighele zum Verhältnis von Irredentismus und Nationalismus; Chiggiato zum Problem der nationalen Gliederung der Adriaküste des Balkan; Villari zur Bedeutung der Emigration; Negrotto zur Frage der nationalen Rüstungspolitik; Carli über das ökonomische Programm eines Groß-Italien und Maffii über die Schulpolitik bis schließlich Corradini zum Schluß das nationalistische Organisationsdefizit thematisierte. Vgl. 11 nazionalismo italiano Atti deI Congresso di Firenze, a cura di G. Castellini, Firenze 1911. 4 Die zeitliche Koinzidenz, aber auch die personalen Verbindungen haben das nahegelegt; noch wichtiger aber ist, daß die Futuristen, allen voran FiIippo Tommaso Marinetti, nicht nur Literatur, Bildende Künste, Musik, Darstellende Künste und Architektur miteinander verbanden, sondern insgesamt eine Ideologie entwickelten, die auch gesellschaftliche Konventionen, moralische Werte und politische Ziele neu formulierte. Künstlerische Avantgarde und politischer Totalitarismus gehen auf diese Weise eine Einheit ein, die direkt den Weg für die faschistische Diktatur zu ebnen vermochte. Analog dazu ist die Ästhetisierung der Welt durch die russischen Konstruktivisten eine Voraussetzung für den Stalinismus. Die ausgesprochen elitäre Gruppe der Futuristen versuchte von Anfang an Breitenwirkung zu erzielen und veröffentlichte im Laufe der Zeit rund 50 Manifeste in der Tagespresse. Schon das 1. Manifest des Futurismus von FiIippo Tommaso Marinetti erschien am 20. Februar 1909 im Le Figaro in Paris. (Die gesammelten Manifeste wurden zuerst 1914 durch Marinetti selbst in Italien publiziert: I Manifesti deI Futurismo, Firenze 1914.) Politisch entscheidend war jedoch, daß sich die Futuristen bei allem Kulturpessimismus nicht auf die Seite der Sozialisten schlugen, sondern das angestammte bürgerliche Lager stärkten.
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Giolitti langweilig gewordenen, gewissermaßen erstarrten liberalen Staat aufzurütteln, ihm anstelle des politischen Pragmatismus, kollektive Perspektiven zu eröffnen und neue Werte zu geben; Irredentismus spielte dabei durchaus eine Rolle, 5 war aber nur einer von mehreren Anknüpfungspunkten. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war eine völlig neue Situation entstanden, eine Situation, die beiden aktivistischen Gruppen endlich die Möglichkeit eröffnete, ihre Aspirationen nicht nur vereinsmäßig zu pflegen oder künstlerisch zu realisieren, sondern nunmehr erfolgreich politisch umzusetzen und sich damit zu legitimieren. Österreichs militärische Kräfte waren weitgehend gebunden, so daß eine militärische Aktion zur Erweiterung des Staatsgebiets, aber auch zur Stärkung des politischen Einflusses Italiens in Europa berechenbar erschien. Zusammen mit der im Risorgimento wieder aufgenommenen Rom-Idee träumte man sogar von der Wiedererrichtung eines Mittelmeer-Imperiums unter der Herrschaft Italiens. 6 Die liberale Regierung konnte sich jedoch nicht zu einer Änderung ihrer vorsichtigen Außenpolitik und, aus anderen Gründen von den Sozialisten darin unterstützt, zu einer Aufgabe der Neutralität entschließen. Nach dem ersten Kriegswinter wurde erkennbar, daß Deutschland und Österreich den Krieg nicht einfach zu ihren Gunsten entscheiden konnten, und so konnte sich endlich eine zwar immer noch heterogene, aber von allen sozialen Schichten getragene Protestbewegung formieren, die für den Kriegseintritt agitierte. Moralische Bedenken gegen Krieg als Mittel der Politik besaßen kein Gewicht, ging es doch um das legitime Anliegen, Landsleute von der Fremdherrschaft zu befreien. Im übrigen ließ das ausgeprägte Selbstverständnis einer kulturellen und zivilisatorischen Überlegenheit kritische Reflexion gar nicht zu. Sozialismus im Sinne der Internationale blieb vor allem wegen des zahlenmäßig schwachen Industrieproletariats in Italien lediglich ein intellektuelles Konstrukt. 7 So ging auch in Italien die Nationalbewegung im Vorfeld des Ersten Weltkriegs nicht von einer Arbeiterbewegung aus, sondern vom Bürgertum.
S Als anschaulichen Beleg ist auf die Zeichnung Marinettis aus der Serie der "Parole in liberti" mit dem Titel "Irredentismo" zu verweisen. Dieses Blatt aus einer Privatsammlung war auf der Ausstellung Futurismo e Futurismi 1986 im Palazzo Grassi in Venedig zu sehen; abgebildet im Katalog der Ausstellung, Milano 1986, S. 192. 6
Vgl. z.B. Rudolf Lill, a.a.O., S. 257 f.
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Bürgerlich liberal, politisch ungebunden, aber von Natur aus extrovertiert. nutzte Gabriele D'Annunzio seine künstlerische Popularität und Prominenz, um die Führungsrolle der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition zu übernehmen und die breite, sehr verschieden begründete Unzufriedenheit in allen Bevölkerungsschichten zu kanalisieren. den allgemeinen Mißmut in patriotische Begeisterung umzupolen, Emotion in Motion zu verwandeln, kurzum der aufgestauten Stimmung ein Ventil in der National-Bewegung zu verschaffen. 8 Gabriele D'Annunzio, am 12. März 1863 in Pescara geboren, verstand etwas davon. Stimmungen hervorzurufen und zu führen. Schon als er das Collegio Cicog-nara in Prato am 1. Juli 1881 verließ, um nach Rom überzusiedeln, galt er als neuer, eigenständiger und vielversprechender Dichter. So fiel es ihm leicht als "fanciullo-poeta" in den Salons der Römischen Gesellschaft Fuß zu fassen und die Feuilletons und Klatschspalten verschiedener Zeitschriften zu redigieren. Am 28. Juli 1883 heiratete er Maria Hardouin, die Duchessina von Gallese; damit wurde der 20jährige Schriftsteller vollends gesellschaftsfahig. Sein weltberühmter Roman "11 Piacere", im Mai 1889 erschienen, bildete den ersten Höhepunkt seines Schaffens und etablierte ihn als Bestseller-Autor. Als
7 Zum Phänomen der in Italien sehr spät einsetzenden und im übrigen auch nur den Norden betreffenden Industrialisierung vgl. W. W. Rostow, The Stages of Economic Growth, Cambridge 1960. Nach Rostow kann man von einer Industrialisierung in Italien erstmals im Iahre 1896 sprechen. Vgl. auch A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays. Cambridge 1962; Consensi, dissensi. ipotesi in un dibattito Gerschenkron-Romeo. in A. Caracciolo (Hrsg.), La formazione dell'Italia industriale. Discussioni e ricerche di Romeo, Gerschenkron, Dal Pane, Cafagna, Eckans, Tosi, Bari 1963. 8 Die Sekundär-Literatur zu Gabriele D' Annunzio ist mittlerweile unüberschaubar. Die Fondazione 11 Vittoriale degli Italiani verwaltet nicht nur den monumentalen und den schriftlichen Nachlaß des Dichters, sondern fördert auch aktiv sein Nachleben; nachdem die Quaderni dei Vinoriale (Vol. 1-1955) 1976 ihr Erscheinen eingestellt hatten, veröffentlichen neuerdings die Nuovi Quaderni dei Vittoriale (Vol. I, Milano 1993) in regelmäßigen Abständen neben wissenschaftlichen Aufsätzen und Archiv-Publikationen auch die Bibliografia D' Annunziana. Dennoch liegt das Hauptaugenmerk nach wie vor auf dem literarischen Werk. Die Untersuchung seines politischen Lebens und Wirkens findet eigentlich erst seit der Mitte der 60er Jahre in Italien statt, bezieht sich allerdings nahezu ausschließlich auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und steht so im Zusammenhang der kritischen Faschismus-Forschung; vgl. so v.a. Renzo De Felice, D'Annunzio politico 1918-1938, Bari 1978, dessen Buch eine Reihe von Forschungen seit der Mine der 60er Jahre zusammenfaßt und vor allem auf der Herausgabe des Briefwechsels zwischen D' Annunzio und Mussolini durch Renzo De Felice und Emilio Mariano, Milano 1971 basiert. Neuerdings reflektierte Vito Salierno, D'Annunzio e Mussolini - Storia di una cordiale inimicizia, Milano 1988, das Verhältnis beider Persönlichkeiten im italienischen Faschismus. Die biographischen Daten D'Annunzios sind ausführlich im Vol. 32 des Dizionario Biografico degli Italiani, Roma 1986, von P. Craveri und M. Carlino zusammengestellt.
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Dichter des Decadentismo war er der Protagonist des italienischen Fin de siec1e. Die gepflegte Stilisierung seiner Erscheinung wie seines Auftretens, die Anlage seiner Biographie, machten ihn, wie damals modem, zum klassischen Dandy. 9 Sein erstes politisches Auftreten, er wurde als Deputierter von Ortona a mare für die XX. Legislatur-Periode gewählt, diente konsequenterweise lediglich seinem Image: "bisogna che il mondo si persuada che io sono capace di tuuo". 10 Dieses erste politische in Erscheinungtreten D' Annunzios entbehrte jeglicher Ernsthaftigkeit und reduzierte sich gewissermaßen auf eine theatralische Geste, mit der er im März 1900 von der extremen Rechten unter Beifall der Sozialisten zur extremen Linken wechselte. Das systemimmanente politische Engagement war nicht sein Fall, und so blieb es Episode. In den folgenden Jahren verschlechterte sich seine wirtschaftliche Lage aufgrund seines allzu üppigen Lebensstils, und im Mai 1910 mußte er schließlich vor seinen Gläubigem nach Frankreich fliehen. 11 Im Exil entdeckt man stärker als im eigenen Lande seine nationale Identität, und so kehrte auch Gabriele D'Annunzio im Mai 1915 hochpolitisiert, voll brennendem Patriotismus und voller Haß gegen Österreich zurück. 12 Er beschwor die nationale Geschichte, die Tugenden der Garibaldiner im Risorgimento und kritisierte unverhohlen den seiner Meinung nach der eigenen Geschichte entfremdeten König; da Vittorio Emanuele III. am 5. Mai der Einweihung des Denkmals für die Tausend in Quarto fernblieb, begann D'Annunzio seine eindrucksvolle Rede 13 aggressiv mit einer ironischen Begrüßung: "Maesta assente deI Re D'Italia!"
• Zum Dandyismus vgl. am besten 000 Sehaejer, Der Dandy, München 1964, E. Carassus, Le mythe du dandy, Paris 1971, aber auch Hans Hinterhäuser, Der Aufstand der Dandies (1969), in: ders., Fin de siecle, München 1977, S. 77-106. 10 Zitiert nach "Voce D'Annunzio", in: Enciclopedia Italiana, Vol. XII (1931), Roma 1949, S. 322-326, hier S. 323. 11 Seit 1898 besaß er bei Settignano eine Villa, La Capponcina, die er aufwendig umgebaut und mit Kunstwerken und Raritäten ausgestattet hatte. Die Villa samt Inventar fiel 1910 an seine Gläubiger, nachdem er sich ins Ausland abgesetzt hatte; in Frankreich lebte er in der Villa Saint-Dominique au Moulleau am Atlantik zwischen Biarritz und Arcachon.
12 Frankreich hat die seit der Unterzeichnung des Dreibundvertrages am 20. Mai 1882 von Rom aus nicht mehr unterstützten Irredentisten über geheime Wege weiter finanziert (vgl. R. Lill, a.a.O., S. 216, Anm. 8). Frankreich stellt sich insofern nicht mehr nur als ideeller, sondern auch als existenzieller Fluchtpunkt für die Linke dar. Umgekehrt besaß Frankreich nicht nur einfach ein großes Herz, sondern starkes Eigeninteresse an der Unterstützung jeglicher antiösterreichischen Politik in Italien.
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Die Wandlung vom Dandy zum ernsthaften Patrioten schien absolut überzeugend. In den folgenden zweieinhalb Wochen setzte er sich durch Verbreitung von Parolen und in flammenden öffentlichen Reden für den Kriegseintritt Italiens gegen Deutschland/Österreich ein. Am 17. Mai 1915 setzte er auf dem Kapitol sicherlich den Höhepunkt seiner Aktionen mit einer Rede an die für den Kriegseintritt demonstrierende Volksmenge. 14 Anders als bei der Rede in Quarto, für die er die Form eines fiktiven Dialogs mit dem italienischen König gewählt hatte, benutzte er hier die klassische Form der herrscherlichen Allocutio des Imperators. Mit der ihm zur Verfügung stehenden poetischen Kraft, ließ er Bilder und Symbole nationaler Identität und Stärke erstrahlen, deren Wirkungsmacht sich die Menge nicht entziehen konnte. 15 Drei Tage später redete er im Parlament und forderte die Deputierten auf, die Diskussion um eventuelle Risiken endlich zu beenden, den überfälligen Schritt von der Disputation zur Aktion zu beschließen und loszumarschieren. Am 24. Mai 1915 trat Italien in den Krieg ein. D' Annunzio meldete sich freiwillig zum Militär und befand sich damit in guter patriotischer Gesellschaft mit den Futuristen, die im Krieg die Nagelprobe ihrer Aktionen und ihres künstlerischen Credos suchten. Wie unter Drogenzwang versuchten sie, ihr entfesseltes Gefühlsleben mit immer stärkeren Reizen zu befriedigen und existentielle Grenzerfahrungen auszutesten. Stolz, mit geschwellter Brust und lachend ließen sie sich an der Front in Uniform photographieren 16 und entwarfen gellende Wortbilder , die den Krieg als kollektive
13 D'Annunzio hatte schon seit Ende 1914 eine Kampagne für den Eintritt Italiens in den Krieg an der Seite Frankreichs geführt. Sicher auch aus diesem Grund wurde der Dichter zur Einweihung des Denkmals in Quarto eingeladen, der auf diese Weise die Gelegenheit erhielt, seine Rückkehr ins Vaterland eindrucksvoll zu inszenieren. "L'Orazione per la sagra dei Mille", war die erste Rede einer Serie, die er, gesammelt, noch im gleichen Jahr unter dem Titel "Per la piu grande Italia" veröffentlichte. 14 Die Rede wurde in deutscher Übersetzung (Judith Elze) als Band 3 der Reihe EVA-Reden veröffentlicht: Gabriele D'Annunzio, Rede von der Tribüne des Kapitols am 17. Mai 1915 - mit einem Essay von Gaston Salvatore, Stuttgart 1992. (Der italienische Originaltext ist im Band 1. der Prose di ricerche der Werkausgabe bei Mondadori, Milano 1947, abgedruckt.) 15 Den Höhepunkt bildete sicherlich die rituelle Inszenierung des Vorzeigens, der Enthüllung und der Verehrung des Degens von Nino Bixio, einer Reliquie des Garibaldi-Kultes. 16 Im Katalog der Futurismus-Ausstellung in Venedig, a.a.O., sind einige dieser Photos abgebildet: S. 428: Umberto Boccioni an der Front 1916; S. 442: Carlo Carra als Soldat in Ferrara 1916; S. 564: Antonio Sant'Elia an der Front; S. 575: Antonio Sant'Elia und Mario Sironi an der Front. Es existiert sogar ein Gemeinschaftsphoto mit Marinetti, Sant'Elia, Russolo, Boccioni und Sironi für Lo Sport IIIustrato, abgeb. ebda, S. 564.
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Katharsis verstanden und ihn als einzige "Hygiene der Menschheit" verherrlichten. 17 D'Annunzio, der sich allein schon aus Altersgründen nicht mehr in die Gruppe der Futuristen, in die Avantgarde integrieren konnte l8 , verstand es dennoch, sich deren künstlerischen Ansatz anzuverwandeln und überaus erfolgreich umzusetzen. Er bestand darauf, öffentlich, d.h. an der Front zu kämpfen und unterlegte diese Forderung mit glühendem Patriotismus; so schrieb er am 30. Juli 1915 an den Ministerpräsidenten: "Ella sa che tutta la mia vita io ho aspettato quest' ora .... Soffra che io cerchi la mia ultima gloria la dove la vede il mio amore. ,,19 In der Tat kämpfte er trotz aller Selbstinszenierung unbestritten erfolgreich in der Luftwaffe und scheute auch nach seiner Verwundung am 16. Januar 1916 keinen Einsatz. Im Gegenteil, je riskanter ein Unternehmen erschien, desto lieber übernahm es der zum Comandante avancierte Dichter. In der eigenen Person realisierte er gewissermaßen tagtäglich den Helden seiner Dichtungen und tauschte den Genuß eines dekadenten Ästhetizismus mit dem Auskosten einer kollektiven Begeisterung. Mit der dazugehörigen Fortune wurde er zwangsläufig zu einer allseits bewunderten Führerfigur . Mit sicherem Instinkt hatte er 1915 die Gelegenheit am Schopf ergriffen und sich nach und nach zu einem neuen Garibaldi gemacht. 20 Beim dritten Bombardement von Pola kreierte er erstmals den berühmten Angriffsschrei "Eia! Eia! Eia! Alala!" Es hieß im Anschluß: "laggiu, su Pola romana, consacreremo il grido della nuova forza d'ltalia. ,,21 Nach dem Krieg erweiterte er diesen situationsbezogenen Schlachtruf zu einer politisch-massenpsychologisch wirksamen Parole, bei der sich die Weisung des Führers und der Aufbau des Wir-Gefühls gegenseitig steigern; ein Paradigma ist der Dialog am Ende seiner Ansprache an die 'Lupi di Randaccio' in Fiume im November 1920:
17 "Guerra sola igiene dei mondo" war der Titel eines futuristischen Manifestes von Filippo Tommaso Marinetti, das zwar schon 1910 in Paris erschien. in italienischer Sprache aber im Zusammenhang der Kampagne fiir den Eintritt Italiens in den Krieg erneut verbreitet wurde. Vgl. Kat. der Futurismus-Ausstellung in Venedig, a.a.O., S. 490 und 601. 18 Die Futuristen selbst sahen D' Annunzio ihrerseits vor allem als wirkungsmächtigen Rivalen und so rechnete Marinetti mit dem berühmten Dichter schon 1908 in aller kritischen Schärfe und beißender Ironie ab: F.T. Marinetti, Les Dieux s'en vont, d'Annunzio reste, Paris 1908.
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Vgl. "Voce D'Annunzio", in: Enciclopedia Italiana, Vol. XII-(1931)1949, S. 323.
20 Die Übernahme der Figur und der Rolle Garibaldis lag unabhängig von spezifischen Bezugsmöglichkeiten vor allem auch deswegen nahe, weil man auf diese Weise an der Publizität des Volkshelden zu partizipieren hoffte.
21 Vgl. Vita Salierna, a.a.O., S. 9, und Saveria Laredo De Mendoza, Gabriele D'Annunzio aviatore di guerra, Milano 1930, S. 185 f.
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(0' Annunzio) (I Lupi) (0' Annunzio) (I Lupi) (0' Annunzio) (I Lupi) (0' Annunzio) (I Lupi) (0' Annunzio) (I Lupi) (0' Annunzio) (I Lupi) (0' Annunzio)
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"Lupi di Firenze, Lupi di Giovanni Randaccio, a chi la vittoria?" "A noi!" "A chi la Patria bella?" "A noi!" "A chi la forza?" "A noi!" "A chi la gloria?" "A noi!" "A chi l'avvenire?" "A noi!" "A chi Roma grande, eterna?" "A noi!" "Lupi di Giovanni Randaccio, sostituiamo nel nostro grido di guerra a "Spalato!"(Oalmatien) "Roma!" Per Roma bella, grande, inviUa, per Roma nostra: Eia, Eia, Eia, Alala! ,,22
Verehrt und bewundert erging es ihm nach dem Fiume-Abenteuer ähnlich wie Garibaldi, er wurde von der Macht entfernt; Aspromonte und die letzten Tage von Fiume zeigen deutliche Analogien, die von den Zeitgenossen durchaus erkannt wurden. War es für Garibaldi Vittorio Emanuele 11, so war es für 0' Annunzio Benito Mussolini, der die Popularität des Kämpfers für sich funktionalisierte und ihn zugleich politisch in den Hintergrund drängte. Zurückgezogen in seiner Villa in Gardone, einer Art Kompensation für Fiume, und ausgegrenzt durch die Erhebung in den Adelsstand, er war seit 1924 Principe di Monteneveso, bildete er dennoch für das faschistische Regime das konstante patriotische Rückgrat. Patriotismus war für Benito Mussolini weder Ausgangspunkt noch Erfüllung seines politischen Engagements. 23 Am 29. Juli 1883 in Oovia bei Predappio in der Nähe von Forli geboren, war er 20 Jahre jünger als Gabriele 0' Annunzio. Es ist jedoch nicht nur der Generationenunterschied, der beide voneinander 22 Vgl. Vito Salierno, a.a.O., S. 9f, und Saverio Laredo De Mendoza, Gabriele D'Annunzio fante dei Veliki edel Faiti, Milano 1932, S. 391. Die Technik dieser Dialoge ist in den Theaterstücken D'Annunzios vorgebildet. so vor allem in der Tragödie "La Nave" aus dem Jahre 1905, deren vorangestellte widmende Verse unter dem Titel "All'Adriatico" wie eine Prophezeiung des FiumeAbenteuers wirken. 2l Vgl. dazu und fiir das Folgende v.a. die kritische Biographie von Denis Mack Smith, Mussolini - Eine Biographie, (London 1981) München 1983, S. 15-46, und Luigi Preti, Mussolini giovane, Milano 1982, die das monumentale Werk von Renzo De Felice: Mussolini, 6 Vol., Torino 1965 1986 und dessen allzu parataktische Gliederung an einigen Stellen, v.a. aber in der Bewertung des jungen Mussolini hinterfragen.
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trennte, sondern vor allem die soziale Herkunft und die Prägung durch ihr Umfeld. Mussolini wuchs in den kleinen Verhältnissen seiner Familie auf - die Mutter verdiente als Grundschullehrerin den wesentlichen Teil des Lebensunterhalts der Familie, der Vater hatte als Schmied kein regelmäßiges Einkommen und verkehrte zusätzlich in Sozialistenkreisen, in denen er seine Frustration ausleben konnte. Auch der kleine Benito fühlte sich schon in der Schule von vornherein ungerechtfertigt gegängelt und benachteiligt und suchte seine Minderwertigkeitskomplexe durch Gewalttätigkeit gegenüber seinen Mitschülern zu kompensieren. Mit Hilfe der Mutter schaffte er immerhin den Schulabschluß und konnte sein selbständiges Leben mit 18 Jahren als Grundschullehrer beginnen. Das widersprach jedoch völlig seinem Charakter und seinen Vorstellungen vom Leben, sodaß das Ganze nicht einmal ein Jahr lang gut ging. 1902 emigrierte er Hals über Kopf in die Schweiz, um seinen Schulden, aber auch dem drohenden Militärdienst zu entgehen. Dort faßte er jedoch auch nicht Fuß, wurde verhaftet und schließlich abgeschoben; nach einem weiteren Zwischenspiel im Ausland (Frankreich) nutzte er eine Amnestie, um nach Italien zurückzukehren und mit Einsicht in die Unabwendbarkeit seinen Wehrdienst abzuleisten. Danach stand er wieder völlig am Anfang, da er trotz guter Führung nicht in die Armee aufgenommen wurde. Auch der erneute Versuch, sich als Lehrer eine Existenz aufzubauen, mißlang katastrophal. Immerhin empfand er sich m Kreis der Sozialisten mit seiner Frustration unter Gleichfühlenden. Er brachte sein Talent zum Schreiben ein und schaffte den Sprung zum Journalistenberuf zunächst beim "L'Avvenire" und beim "Popolo di Trento". 1910 zum Sekretär bei den Sozialisten in Forli ernannt, reüssierte er als Journalist bei "La lotta di classe" und beim "L' Avanti". Stärker als seine sozialistische Gesinnung war sein Gespür für politische Stimmungen ausgeprägt, ein Gespür, das ihn Ende 1914 mit dem Kurs seiner Genossen brechen ließ. Anlaß für den Parteiausschluß war die Gründung der eigenen Zeitung "11 Popolo D' Italia". Seit dem agitierte er offen für den Kriegseintritt Italiens. Ohne jeden Selbstzweifel folgte er der öffentlichen Meinung und trug im übrigen - wie früher auch - weniger zur Meinungsbildung, als zur Stimmungsmache bei. Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die einzelnen Stationen in D'Annunzios und Mussolinis Biographien historisch-kritisch zu analysieren, auf ein System zu bringen oder auch nur nachzuzeichnen und damit am Ende zur historischen Legitimation des Faschismus beizutragen; vielmehr soll durch den Vergleich die Gegensätzlichkeit beider Persönlichkeiten, die Gegensätzlichkeit beider Gesellschaftswelten im Vorkriegs-Italien aufleuchten, die den Faschismus überhaupt erst ermöglicht haben. 24
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Gabriele D' Annunzio vertrat die dekadente und luxuriöse Welt der Bourgeoisie, die Welt der Sinne und des Gefühls bis zur Überreizung und zum Rausch; Benito Mussolini vertrat dagegen die Welt, in der Existenzsicherung alles dominierte und in der man Genuß gewissermaßen nur über das Machtgefühl erleben konnte. Fielen D'Annunzio alle Erfolge von Anfang an zu, mußte sich Mussolini seine Karriere mühsam erarbeiten und erzwingen. Ähnlich waren sich beide bestenfalls in ihren Charakterschwächen, in ihrer offensichtlichen Egozentrik und Eitelkeit, allerdings auch in ihrer Fähigkeit, Gefühle zu funktionalisieren. D' Annunzio besaß die kreative Kraft zu poetischen Bildern mit großer Wirkungsmacht, Mussolini den Zynismus, diese machtpolitisch einzusetzen. Zusammengearbeitet haben sie entgegen der faschistischen Propaganda nicht, sie folgten einfach aufeinander. 25 Patriotismus und die darauf basierende Nationalbewegung jedenfalls haben dem Dichter und Kämpfer D'Annunzio mehr zu verdanken als Mussolini, dessen Verdienste man zumeist nur aus Eigendarstellungen kennt. Auch wenn der Krieg für Italien länger dauerte und verlustreicher war als zuerst vermutet, begann die eigentlich kritische Zeit für die Nationalbewegung erst nach seinem siegreichen Ende. Das Zurückfahren der Kriegsindustrie auf eine Friedenswirtschaft war politisch genausowenig vermittelbar , wie der Verzicht auf die Annektion Istriens und Dalmatiens. Die durch den Krieg lediglich überdeckten und aufgeschobenen sozialen Gegensätze drohten in offenem Klassenkampf aufzubrechen. Das "Fiume-Experiment" D' Annunzios war neben aller persönlichen Motivation auch ein Versuch, mit Hilfe von Patriotismus und Nationalbewegung die sozialen Probleme des Landes unter den Teppich zu kehren, und darüberhinaus ein Test, wie weit das Ausland die imperialistischen Gelüste Italiens dulden würde.
24 Vgl. grundlegend Renzo De Felice, Le Interpretazioni deI Fascismo, Roma - Bari 1969, dt. Ausgabe: Die Deutungen des Faschismus, Göttingen 1980, aber auch, die Faschismus-Diskussion der folgenden Jahre zusammenfassend, Hans-Ulrich Thamer, Faschismus und italienische Gesellschaft, in: ders. und Wolfgang Wippermann, Faschistische und neofaschistische Bewegungen, Darmstadt 1977, S. 156 ff; wie der Titel der Studie bereits vermuten läßt, wird die Ereignisgeschichte durch die Gesellschaftsgeschichte erweitert, dennoch aber Gesellschaft vordringlich als abstraktes Konstrukt verschiedener Interessensgruppen verstanden; nach den Vorstellungswelten in den verschiedenen Gruppen, deren Herkunft und Wirkungsbedingen, wird dagegen bis heute nur ansatzweise gefragt. 2S Hatten Nino Valeri, D'Annunzio davanti al fascismo, Firenze 1963, und Renzo De Felice, D' Annunzio politico 1918 - 1938, Bari 1978, die politische Bedeutung des Dichters im Rahmen der Faschismus-Diskussion neu entdeckt und dementsprechend eher nach den Spuren der Gemeinsamkeiten gesucht, so relativiert die Studie von Vito Salierno, a.a.O., dieses Verhältnis und stellt die Gegensätzlichkeit der beiden Charaktere heraus, die in der Außendarstellung von beiden Beteiligten überspielt wurde.
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Durch das unrühmliche Ende des Fiume-Abenteuers und durch den Abgang des Volkshelden konnte der Faschismus die Führungsrolle der Nationalbewegung besetzen und sich dadurch vom althergebrachten sozialistisch-subversiven Image befreien. Mussolini erkannte das Machtvakuum26 als seine Chance. Ohne auf den demonstrativen politischen Druck der sozialen Massenbewegung zu verzichten, nutzte er den positiv besetzten Patriotismus und den Symbolwert eines auf Garibaldi bezogenen Marcia su Roma. Die Taktik ging auf: bereits vier Tage später, am 31. Oktober 1922, wurde Mussolini vom König mit der Regierungsbildung beauftragt. In die von D' Annunzio vorformulierte Rolle eines neuen Garibaldi geschlüpft, baute Mussolini nicht nur den staatstragenden Risorgimento-Kult aus, sondern integrierte auch die ihrem Charakter nach sozialistische Massenbewegung des Faschismus in seine Machtpolitik: Bewegung bzw. Nationalbewegung geriet somit zum Prinzip. Emotionalisierung der Massen ersetzte Sachargumentation und stärkte zusammen mit einer geschickt organisierten Partei-Hierarchie das erwünschte Wir-Gefühl. Bewegung erforderte konsequenterweise Entwurf und Institutionalisierung der Führer-Figur. Die Ästhetisierung des Kampfes und der Politik, von D' Annunzio noch unter Einsatz seines Lebens vorexerziert, wurde aus ihren elitären Grenzen befreit und mit Hilfe der Medien zu einer ungeheuren Breitenwirkung fortentwickelt. Während Mussolini mit Rückendeckung der oberitalienischen Industrie, das politische Machtzentrum Rom besetzte, zog sich der sensible Dichter aufs Land zurück und krönte sein literarisches Werk mit einer Selbstinszenierung grandiosen Ausmaßes. Mussolini und D'Annunzio brauchten einander existenziell, aber auch politisch, um die beiden Welten, die sie vertraten, für das nationalistische Ziel zu harmonisieren. So schlüpfte D'Annunzio gern in die ihm zugedachte Rolle des Kunst- und Kulturpolitik tragenden Nepoten und entwickelte die in die Tradition eingebundenen Bilder und Symbole der faschistischen Modeme Italiens. 27 Es waren nicht allein die Kulissen und die Inszenierungen, sondern vor allem die fast religiöse Technologiegläubigkeit der Modeme und die Nobilitierung 26 Vgl. hierzu die eingehende Analyse von Paolo Farneti. der den Autonomieverlust der Demokratie in Italien 1922 als das Machtvakuum beschreibt. in dem die politische Initiative von einzelnen kleinen Gruppen und Personen ergriffen werden kann. Paolo Farneti: Social Conflict. Parliamentary Fragmentation. Institutional Shift. and the Rise of Fascism. in: Juan Linz. Alfred Stepan (Hrsg.): The Breakdown of Democratic Regimes. 4 Parts. Baltimore 1978. hier Part H. 27 Der durch das Papsttum der Neuzeit als Teil des Regierungssystems entwickelte Nepotismus zeichnete sich gerade durch diese Rollenverteilung aus; das berühmteste Beispiel ist sicherlich Scipione Borghese. der Auftraggeber des jungen Gian Lorenzo Bernini. Auf diesem Wege erhalten Kunst und Künstler z. T. wichtige innen- und außenpolitische Funktionen; über diese Rolle des neuzeitlichen Künstlers. sichtbar in den vielfaltigen faktischen Nobilitierungen. unterrichtet Manin Warnke. Hofkünstler - Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1985.
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von Maschinen als Kunstwerke, die Einbindung technischer Produkte in die kulturelle und zivilisatorische Tradition Italiens, die den Erfolg dieser Bilder garantierte. Das Paradigma dieses Kulturverständnisses findet sich in D' Annunzios Villa in Gardone dem "Vittoriale degli Italiani " künstlerisch eindrucksvoll realisiert. 28 Historisches Bildungsgut, Kultur und die Kraft moderner Technik werden auf eine drastische Weise miteinander verbunden; obwohl oder vielleicht gerade weil die Grenze zum Kitsch überschritten wird, nimmt die Inszenierung der Räume den Besucher gefangen. Es geht aber eben nicht mehr nur um Pathos, sondern auch um eine politische Botschaft, die auf diese Weise vermittelt wird: die Überlegenheit der italienischen Kultur-Nation ist eine historische Tatsache und garantiert den Sieg im neuerlichen Wettstreit der Nationen. Denjenigen, die die geistigen und technischen Ressourcen des Volkes fördern und nutzen, gebührt unvergänglicher Nachruhm. Den Transmissionsriemen, der, um im technischen Bild zu bleiben, die Kraft der Maschine als Bewegungsenergie nutzbar macht, bildet in der säkularisierten industriellen Massengesellschaft der Faschismus oder, wenn man das Wort vermeiden möchte, die nationale Bündelung der Kräfte. 29 Es erscheint so vollkommen konsequent, daß sich D' Annunzio in die Kunstwelt der Villa zurückzieht, während Mussolini im Palazzo Venezia Quartier bezog, sich an die Schnittstelle zwischen Quirinal, Vatikan und Kapitol, ins Zentrum des alten Rom setzte. Sukzessive vollendete er nicht nur die nach der Einigung entwickelten urbanistischen Planungen, sondern monumentalisierte auch die wichtigsten symbolträchtigen Plätze und Achsen der Prima und der Seconda Roma: die Viale dei Fori Imperiali, die Achse zwischen Piazza Venezia und Kolosseum, die Via della Conciliazione, die Achse, die St. Peter an die Stadt anbindet, das Foro Mussolini, das unterhalb der Villa Madama über die Ponte Milvio in das risorgimentale Prati führt und den Gianicolo, wo die
28 Attilio Mazza / Ottavio Tomasini / Giuseppe Cella, Vittoriale - casa dei sogno di Gabriele D'Annunzio, Brescia 1988. und Max Bächer, Der Traum eines Dichters - Gabriele d'Annunzios "Vittoriale degli Italiani" in: Der Architekt. Heft 2 - 1986. Die aus heutiger Sicht bemerkenswerte Einbindung von technischen Werken und Bildkunstwerken in einem einheitlichen Raumzusammenhang läßt sich auf das traditionelle Kunstverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts zurückführen, in dem beide Werkgruppen unter dem Begriff der Ars gefaßt wurden. DaTÜberhinaus sind die vieIniltigen historischen Anleihen z.B. an die Kunst- und Wunderkammern der Renaissance unübersehbar. 29 Vgl. dazu unübertroffen den z.T. von Mussolini selbst verfaßten Artikel "Fascismo" in der Enciclopedia ltaliana, Vol. XIV (1932) Roma 1951, S. 847-884: "La sua insegna perci apoussee Le proLetaire allemand a La conquete du capitaL angLais, de La franraise». JJ
Aber in diesem Kriege werde nicht der Marxismus, sondern der Nationalismus sein Ziel erreichen. Denn das große Ringen erweise mehr und mehr: «l'evolution nationaliste de l'Europe s'accentuait et s'accelerait,.34. Hellsichtig sagte Bainville den Sieg der autoritären Nationalismen und gleichzeitig den Schrumpfungsprozeß der Ideen von 1789 als Resultat des Krieges voraus. So glaubte er befriedigt, die ,.Funerailles du Liberalisme« verkünden zu dürfen. 35 Diese ganze Entwicklung zwinge besonders Frankreich, das auch in diesem Falle wieder für die anderen, für die Welt fechte, nach dem Siege einmal nur an sich und seine nationale Person zu denken. Es werde sich gegen Deutschland endgültig schützen müssen, das es nun schon Jahrhunderte hindurch bedroht habe, wie Bainville 1915 in seiner berühmten und in mehr als hundert Auflagen verbreiteten "Histoire de deux peuples« im einzelnen an Hand der Geschichte zu beweisen versuchte. Nachdem alle Verständigungsversuche der Vergangenheit gescheitert seien, werde, wie Bainville in fanatischer Eindringlichkeit immer wieder betonte, eine Zusammenarbeit mit dem feindlichen Nachbarn auch in Zukunft nicht möglich sein, ganz gleich, ob Deutschland dann monarchisch oder demokratisch regiert würde. Am liebsten sähe es Bainville, wenn )) Bainville: La France. Bd 1. - S. 224. J4
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Bainville: La France. Bd 1. - S. 208.
), Bainville: La France. Bd 1. - S. 216. Timmermann
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Deutschland als einheitsstaatliches Gebilde, als politische Person, überhaupt verschwände und damit für Frankreich völlig ungefährlich würde. In diesem Sinne plädierte er in seiner eben erwähnten ,.Geschichte zweier Völker« für eine Erneuerung des Westfälischen Friedenswerkes , einer - wie er sagt »realistischen« und vom ,.nationalen Interesse« beherrschten Leistung der alten bourbonischen Monarchie, bei der es sich darum gehandelt habe «d'empecher quer Allemagne ne fit son unite comme la France avait fait la sienne,.36. Der Friedensschluß, für den Bainville natürlich größte Strenge forderte, fiel jedoch ganz anders aus, als die äußerste Rechte in Frankreich es erhofft hatte. Aus der Enttäuschung über die Versailler Bestimmungen, die zu milde gewesen seien für das, was sie an Härten enthielten, erwuchsen 1920 die scharfsinnigen Betrachtungen über ,.Les consequences politiques de la paix«37. Diese Analyse steigert sich zu einer oftmals prophetisch anmutenden Zukunftsprognose. Deutschland, das man politisch nicht zerschlagen, dessen Einheit man wider Willen fester zusammengeschmiedet habe, als sie es vorher je gewesen sei, werde ohne Unterlaß gegen die neue Ordnung ankämpfen und die Revision des Vertrages von Versailles erstreben. Infolgedessen werde die französische Außenpolitik in Zukunft von der deutschen Frage und durch die Tatsache beherrscht sein, daß 60 Millionen Deutsche die Schuldner von 40 Millionen Franzosen seien. Schon 1920 sagte Bainville die Etappen einer nach Osten sich vorschiebenden Machtausweitung Deutschlands so voraus, wie sie 20 Jahre später unter Hitler tatsächlich eintrat. Jedoch folgerte er daraus nicht die Notwendigkeit für Frankreich, sich mit diesem neuen Deutschland zu verständigen, sondern sah es als Frankreichs Aufgabe an, sich dieser Entwicklung zu widersetzen, um eines Tages vielleicht das in Versailles Versäumte, nämlich die Zerschlagung der deutschen Einheit, endgültig nachholen zu können. Seitdem Frankreich nach 1919 Deutschland gegenüber eine rigorose Machtpolitik betrieb, trat bei Bainville der Gegensatz zur Staatsordnung der Dritten Republik merklich zurück, nachdem er 1918 in seiner ,.Histoire de trois
36
Bainville: Histoire de deux peuples. S. 50.
Bainville, Jacques: Les consequences politiques de la paix. Paris 1920. XVI,278 S. Die berühmte Charakteristik des Versailler Vertrages als eines Friedens .trop doux pour ce qu'i1 ade dur- dort auf S. 38. Auch von diesem Werk liegt eine deutsche. von Friedrich Grimm besorgte Ausg. vor u. d. T.: Bainville, Jacques: Frankreichs Kriegsziel. Les consequences politiques de la paix [dt.] Mit e. Einl. von Friedrich Grimm. (Aus d. Franz. übertr. von Albrecht Erich Günther.) Hamburg) (1939). 198 S. Sie ist - wie auch die vom selben Hrsg. und ebenfalls 1939 (!) edierte Geschichte zweier Völker [-so Amn.[l.]]. 37
Wandlungen in den Urteilen Jacques Bainvilles über die Dritte Republik
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generations«38 noch einmal all seinen Groll gegen das liberale 19. Jahrhundert Luft gemacht hatte. So bedeutete es für ihn schließlich keinen inneren Widerspruch, im Jahre 1935 die Berufung als Nachfolger Poincares in die Academie Fran~aise anzunehmen, wodurch die repräsentative Bedeutung Bainvilles als Schriftsteller und Verkörperung des nationalen Selbstbewußtseins auch staatlicherseits offiziell anerkannt wurde. Ausschlaggebend für diese Wandlung Bainvilles ist wohl der seinem eigenen Nationalismus entsprechende SecuriteGedanke, dessen kompromißloser Anwalt bis 1924 eben Poincare war. Bainville sah deutlich voraus, daß der nationale Egoismus, den Frankreich seit 1920 unverhüllt an den Tag legte, sein Land in Konflikt mit den Angelsachsen bringen und zu seiner Isolierung in der Welt führen müsse. Aber er plädierte trotzdem für eine Politik der Gewalt, da die französische Sicherheit nicht nur von nationalem, sondern auch von internationalem Interesse sei angesichts der dauernden Unruhe, die mit der bloßen Existenz eines einheitsstaatlichen Deutschlands notwendig verbunden sei. Dieser Sicherheitskomplex verwandelte sich schließlich in blinden Haß. Das wirkte sich in seinen Aufsätzen über die Zeit des Kriegsendes bis in die Diktion hinein aus. Wenn es sich um Deutschland handelte, verschmähte es Bainville nämlich nicht, sich eines saloppen Straßenjargons zu bedienen, der innerhalb seines sonst so knappen, sachlichen, von unerbittlicher Logik und ätzender Ironie bestimmten Stils wie ein Fremdkörper wirkte. Als Anwalt eines französischen Zweckmilitarismus39 beklagte er es bitter, daß die angelsächsischen Bundesgenossen von einst die französische Deutschlandpolitik der beginnenden zwanziger Jahre als ,.Militarismus« und ,.Imperialismus« anprangerten; hätten sie doch selbst, vertreten durch Wilson und Lloyd George, dem Friedenswerk einen moralisierenden Charakter verliehen und es damit um jenen politischen Geist gebracht, von dem Frankreich unter Poincare für sich zu retten suche, was überhaupt noch zu retten sei. Frankreich könne gar nicht anders handeln, weil es 1918 zum Ordnungsgaranten in Europa geworden sei, seitdem nicht mehr der Liberalismus, sondern der Bolschewismus, nicht mehr Paris, sondern Moskau die kommende Revolution betreibe. Bainvilles Aussöhnung mit einer machtpolitisch sich betätigenden konservativen Republik zeichnete sich in dieser Zeit deutlich ab. Denn jetzt sei dieses Staatswesen zum Hort der Reaktion in Europa geworden und habe die ihm im 19. 38
Bainville. Jaeques: Histoire de trois generations. 1815-1918. Paris 1918.
39 Ich gebrauche diesen Terminus hier in dem Sinne. in dem ihn Max Scheler in seinem Essay Über Gesinnungs- und Zweckmilitarismus . Eine Studie zur Psychologie d. Militarismus definiert. In: Sehe/er, Max: Nation und Weltanschauung. Leipzig 1923. VIII. 174 S. (Schriften zur Soziologie und Weltanschauung. [2.]) - S. 117-146.
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Jahrhundert immanente Revolution innerlich überwunden. Die konservative Macht par excellence zu sein, sah er als Frankreichs zukünftige Mission an. So enttäuschte ihn der Linksruck von 1924 naturgemäß zutiefst. Die alte Überzeugung des royalistisch eingestellten Menschenverächters, daß die Massen der Wähler das Bequeme dem Notwendigen und Vernünftigen vorzuziehen pflegten und dies eben ein Grundübel der Demokratie sei, brach erneut durch. Resignation und Pessimismus bemächtigten sich seiner, seitdem er ergrimmt zuschauen mußte, wie die Politik der Härte und der strikten Vollstreckung der Versailler Bestimmungen abgebaut wurde, wie sich in dem Gespräch BriandStresemann die von ihm so erbittert abgelehnte Verständigungspolitik mit Deutschland anbahnte und wie Richard Graf von Coudenhove-Kalergi eine Europa-Ideologie propagierte, die Bainville als reaktionäre, österreichische Chimäre erschien. Stärker als im Verlauf der vergangenen zehn Jahre beschäftigte ihn erneut die französische Innenpolitik. Aber auch hier wirkte in seinen Augen Verfall, den die seit 1914 um sich greifende Entvölkerung des französischen Landes zugunsten der Stadt und der Industrie erweise. Da dieses Phänomen auch im Ausland zu beobachten sei, seien neue Unruhen und selbst Kriege für Europa zu erwarten. Denn der Bauer sei als konservatives Element friedlich, der Arbeiter als dynamischer und extensiver Mensch aber kämpferisch gestimmt. Erst in ferner Zukunft, wenn alle Konflikte bis zum Weißbluten ausgetragen sein würden, werde das Bauerntum wieder und endgültig beherrschend sein. So deuteten sich bei Bainville Perspektiven an, die auf Spenglers Kulturpessimismus zurückzuweisen scheinen. Sein Interesse an der Tagespolitik nahm seit der Mitte der zwanziger Jahre zusehends ab. Die Berichte wurden seltener und die zeitlichen Abstände zwischen ihnen länger. Während es für Frankreich jetzt darum gehe, überholte Positionen seines Systems von Versailles zu liquidieren, entwerfe Deutschland neue politische Konzeptionen. Heute sei Frankreich »statisch«, Deutschland aber »dynamisch« geworden. Seit 1933 schien es Bainville dann offenkundig, daß Frankreich «est maintenant isolee dans son genre de vie et dans ses tormules. Alors que tous les peuples sont a la recherche de mots d'ordre nouveaux, elle reste dans ['etat ou elle etait avant 1914, et c'est ce qui latait passer ases propres yeux pour conservatrice»40.
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Bainville: La France. Bd 2. - S. 299.
Wandlungen in den Uneilen Jacques Bainvilles über die Dritte Republik
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Von da an überschattet das Gespenst des deutlich sich abzeichnenden zweiten Weltkrieges die letzten, warnenden Seiten des bis 1935 reichenden Buches. Als sein Verfasser am 6. Juni jenes Jahres die letzte Betrachtung niederschrieb - sie war dem 1914 in der Mameschlacht gefallenen Charles Peguy [1873] gewidmet -, war das Saargebiet bereits zu Deutschland zurückgekehrt, und Hitler hatte die deutsche Wiederaufrüstung aller Welt bekanntgemacht, ohne auf Widerstand zu stoßen. Und kurz nachdem Bainville am 9. Februar 1936, dem Tage seines 57. Geburtstages, für immer die Augen geschlossen hatte, wurde mit der Remilitarisierung des Rheinlandes eine der letzten »Folgen des Friedens« von Versailles beseitigt. Vier Jahre später schließlich erlebte die Dritte Republik jene Katastrophe, die ihr Bainville einst für 1914 prophezeit hatte. Wenn wir nun das Fazit aus diesen Reflexionen Bainvilles über die äußere und innere Politik Frankreich ziehen, so drängt sich zunächst der Gesamteindruck auf, daß sich die außenpolitische Konzeption Bainvilles, in unserem Falle also seine Beurteilung des deutsch-französischen Verhältnisses, in diesem Vierteljahrhundert nicht wandelte, während seine Bewertung der Dritten Republik als innerfranzösisches Problem wesentliche Modifizierungen erfuhr. Zur Beleuchtung dieser beiden verschiedenartigen Fragenkomplexe versuchen wir zunächst, zu einer Charakteristik der für Bainville eigentümlichen Psychologie des Nationalismus zu gelangen, um dann anschließend jenes Bild zu skizzieren, das der späte Bainville, der Historiker, von der Dritten Republik zeichnete. Immer ist es das Gespenst der deutschen Gefahr, das in den außenpolitischen Betrachtungen Bainvilles dominiert; ohne jede Differenzierung ist für ihn das Deutschland Wilhelms 11. ebenso suspekt wie vorher das Bismarcks, das der Weimarer Republik nicht weniger als das des aufsteigenden Nationalsozialismus. Aus diesem stets wachen Mißtrauen heraus bejaht Bainville zum Beispiel die Gewaltpolitik uneingeschränkt, die Poincare gegenüber der deutschen Republik durch den Ruhreinbruch von 1923 betrieb. Es ist andererseits nicht zu bestreiten, daß dieser scharfsinnige Analytiker, zu dessen Geistesahnen Niccolo Machiavelli [1469-1527] gehört, manche Entwicklungen richtig vorauszusehen vermochte, vor allem in seinem prophetischen Buch über die tragischen Folgen des Friedens von Versailles. Aber man kann ihn wiederum nicht davon freisprechen, das politische Phänomen ,.Deutschland" viel zu einseitig und zu sehr unter dem Primat des Rassischen beurteilt zu haben. Diese Schwäche verführt ihn immer wieder zu unzulässigen Generalisierungen, wenn er etwa von »dem Deutschen", "der Demokratie« spricht. So erscheint Bainville jede natürliche Regung Deutschlands von vornherein als verdächtig und unter der Notwendig-
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keit, sie um jeden Preis einzudämmen. Völlig befangen in der überreizten Haltung eines ,.toujours en vedette" bleibt ihm der tiefe Sinn der anderen, aber zu spät oder doch nicht nachhaltig genug angewandten politischen Möglichkeit verschlossen, nämlich der einer Gewinnung Deutschlands durch Verständigung und Ausgleich, wie sie Aristide Briand [1862-1932] erstrebte. Für Bainville ist es von vornherein indiskutabel, in Deutschland etwa durch ein rechtzeitiges Entgegenkommen die Weimarer Republik so zu stärken, daß der Nationalsozialismus keine Chance gehabt hätte. Die Alternative sieht er entweder gar nicht, oder er zieht sie ins Lächerliche, wenn sie ins Auge springt. Denn das Vertrauen in die eigene Kraft, übrigens eigenartig gepaart mit einer Unsicherheit des Instinkts, erwächst selbst bei diesem souveränen Geist aus einem im Grunde naiv anmutenden nationalen Selbstgefühl. Die französische Seinsweise ist in seinen Augen die einzig richtige. Natürlich muß eine solche Egozentrik vom Standpunkt des anderen aus als arrogant und überheblich empfunden werden, zwangsläufig Reaktionen hervorrufen und scheinbar unausgleichbare Gegensätze bloßlegen. Ein psychologischer Urantrieb nicht nur des französischen, sondern des Nationalismus überhaupt wird damit offenbar. Weniger starr als seine außenpolitischen Vorstellungen wirken auf den Betrachter Bainvilles Urteile über die französische Innenpolitik. Um das Bild abzurunden, das wir soeben im einzelnen von seiner politischen Tagespublizistik in den Jahren 1910 bis 1935 gezeichnet haben, werfen wir noch einen Blick auf seine nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Bücher zur französischen Geschichte, die ,.Histoire de France" und ,.La Troisieme Republique«. Diese Meisterwerke des Historikers Bainville enthalten ein sehr harmonisch und ausgewogen wirkendes Gemälde des Staatswesens, das er ursprünglich so leidenschaftlich abgelehnt, mit dem er sich aber arrangiert hatte, seitdem es ihm möglich geworden war, es in die Kontinuität der französischen Geschichte einzuordnen. Diese Wendung zeichnet sich schon in der Dritten Republik gewidmeten Kapiteln der ,.Histoire de France,,41 von 1924 ab. Darin gibt Bainville einen zwar komprimierten, aber tatsachengesättigten und gleichzeitig stets reflektierenden Überblick über den historischen Schicksalsweg der Dritten Republik, wobei der Gesamttenor seiner Darstellung recht freundlich wirkt. Die Grundhaltung seiner vornehmlich innenpolitisch orientierten Geschichte der,. Troisieme Republique« 42 von 1936 läßt schließlich ganz deutlich erkennen, daß Bain41
Bainville, Jacques: Histoire de France. (Die mir vorliegende Aufl.) Paris 1924. 576 S. - S.
507-575. 42
Bainville, Jacques: La troisieme Republique. Paris 1936. XI,232 S. (Les Maitres de I'histoire.)
Wandlungen in den Urteilen Jacques Bainvilles über die Dritte Republik
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ville die antirepublikanischen Neigungen seiner Jugend und Lebensmitte aufgegeben und sich zu einer historisch gerechteren, von "impartialite,,43 geprägten Würdigung dieser früher von ihm so verdammten Staatsordnung durchgerungen hatte. Bainville fragt hier nach den Gründen, warum die Dritte Republik, die in das 7. Jahrzehnt ihrer Existenz eingetreten sei, so lange Bestand haben konnte, obwohl Frankreich doch ein Land mit starken monarchischen Überlieferungen sei. Bis jetzt habe sie noch keine soziale Revolution erlebt, denn "elle offre la combinaison tres rare de la democratie et de la liberte,. 44, was vorher keinem Regime in Frankreich und nur sehr wenigen in der Geschichte überhaupt gelungen sei. Wenngleich seit Beginn der Republik zwei Generationen vergangen seien, habe Frankreich noch immer die gleichen Institutionen. So bestehe die große geschichtliche Leistung der Dritten Republik darin, daß «nous continuons d'unir le regime republicain et le regime parlementaire, ce qui passait pour inconciliable et impossible,.4s. Infolgedessen dürfe man die Bilanz ziehen, "que la troisieme Republique presente un cas exceptionneide conservation,.46. Als Abschluß einer Entwicklung, die sich - wie wir gesehen haben - seit dem Ersten Weltkriege anbahnte, vollendete sich in diesem reifen, letzten Werk Bainvilles zur französischen Geschichte seine Aussöhnung mit einer "konservativ« gewordenen Republik. Dies wiederum geschah am Vorabend jener welthistorischen und Frankreich tödlich bedrohenden Ereignisse, die Bainville schon so lange hellsichtig vorausgesehen und vor denen er seine Landsleute unablässig gewarnt hatte, an denen er selbst jedoch als der militante Wortführer eines noch härteren Versailles keineswegs ganz unschuldig gewesen ist.
43
Bainville: La troisieme Republique. - S. IX.
44
Bainville: La troisieme Republique. - S X .
., Bainville: La troisieme Republique. 46
Bainville: La troisieme Republique.
Nation als Gegenstand deutsch-französischer Jugendkontakte in der Zwischenkriegszeit Von Dieter Tiemann
Die deutsch-französischen Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit waren kein Massenphänomen. Sie blieben auf kleine Zirkel begrenzt. Immerhin regten sich Anfang der zwanziger Jahre Stimmen aus jugendlichen Kreisen, die den Kontakt zu den Nachbarn suchten. Pazifisten beider Seiten, französische Nonkonformisten und deutsche Jugendbewegte machten sich auf den Weg zu ihren Altersgenossen im jeweiligen Nachbarland. Im Rahmen internationaler Vereinigungen trafen junge Franzosen und Deutsche zusammen. Ansätze zu einem institutionalisierten Schüler- und Studentenaustausch machten sich bemerkbar. Es entstand Regelungsbedarf, der zur Gründung privater Organisationen führte und der die Organe der auswärtigen Kulturpolitik auf den Plan rief. An jenen jugendlichen Initiativen, engagierten gesellschaftlichen Gruppierungen und staatlichen Instanzen lassen sich Epochenmerkmale festmachen. Daß es auch nach Hitlers "Machtergreifung" solche Jugendbeziehungen gab, zeigt ihre Bedeutung als Instrument politisch-ideologischer Beeinflussung. Gemessen an millionenfachen Begegnungen von heute müssen damalige Aktivitäten zwar als quantite negligeable eingestuft werden, aber als Symptome bestimmter Tendenzen der Zwischenkriegszeit sind sie recht aufschlußreich. Und in diesem Rahmen verdienen gerade auch die dort gepflegten nationalen Paradigma Beachtung.! Die seinerzeit kultivierten einschlägigen Leitideen seien anband einiger Beispiele erläutert. Bezeichnend waren die Querelen um die Aufnahme der "Deutschen Studentenschaft" in die "Confederation Internationale des Etudiants", einer 1919 in Straßburg gegründeten internationalen Studentenvereinigung. 2 Dieser von französischer Seite inspirierte und anfangs weitgehend dirigierte Bund bot der 1 Umfassend zum Thema Dierer Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit. Bouvier (Pariser historische Studien, Band 28), Bonn 1989. 2
Roger Pochon: Les Associations internationales d'Etudiants. Fribourg 1928, S. 11 ff.
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Dieter Tiemann
D.St. eine geeignete Angriffsfläche, um gegen die Ordnung von Versailles zu polemisieren. Wo immer sich die Gelegenheit ergab, setzte die Dachorganisation der Studenten deutscher Sprache alles daran, die C.I.E. zu kompromittieren. "Dieser internationale Verband war von der französischen Studentenschaft in der richtigen Erkenntnis gegründet worden," hieß es in einem Jahresbericht der D.St., "daß zu einer völligen Niederwerfung Deutschlands nicht nur die militärische und wirtschaftliche Isolierung des deutschen Volkes notwendig sei, sondern daß diese durch die geistige Isolierung ergänzt werden müsse. ,,3 In die internen Diskussionen um Aufnahme oder Nicht-Aufnahme der deutschen Kommilitonen mische man sich nicht ein. Zwar sei die "Deutsche Studentenschaft" "grundsätzlich bereit, unter gewissen Voraussetzungen der C.I.E. beizutreten", beabsichtige "jedoch nicht, seine gegenwärtig günstige Stellung außerhalb der C.I.E mit einer weniger günstigen innerhalb dieses Verbandes zu vertauschen. " Im sachlichen Kern ging es in der von taktischen Erwägungen bestimmten Querelen um den "Konflikt des von den deutschen Studenten aller Richtungen vertretenen großdeutschen Gedanken mit dem vor allem von den Franzosen verfochtenen reinen Staatsgedanken ... ,,4 Neben der von Prestigedenken bestimmten Forderung nach einer ausdrücklichen Einladung, dem Anspruch auf angemessene Vertretung im Vorstand und der Voraussetzung, die deutsche Sprache als Verhandlungssprache zuzulassen, nannte die D.St. als Bedingung für den Eintritt in die C.I.E. denn auch die Anerkennung ihrer Organisation als Zusammenschluß aller deutschen Studierenden innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen. Wohl kam es Mitte der zwanziger Jahre zu einer begrenzten praktischen Zusammenarbeit, nie aber zu einem formellen Beitritt. Die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes war über die Winkelzüge der D.St. bestens informiert und steuerte hinter den Kulissen vermutlich sogar den Kurs. Ein führender Vertreter der Studentenschaft entfaltete 1921 dem Berliner Ministerium jedenfalls in einer Denkschrift die notorische These von der Einkreisungspolitik Frankreichs auf kulturellem Gebiet und stellte die C.I.E. als verlängerten Arm des Quai d'Orsay dar. Frankreich unterziehe sich einer "unnützen Liebesmühe", wenn es Deutschland für den Fall eines Aufnahmeantrags strenge Garantien abverlange, damit seine Vertreter "nicht militärische und herrschsüchtige Gelüste auf den Boden der Confederation" trügen, denn die Deutsche Studentenschaft könne in dem Bewußtsein, "daß eine kulturelle 3
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn: Botschaft Paris, Schulwesen 1044 a, Bd. 1.
4 Georg Schreiber: Die Kulturpolitik des Völkerbundes. In: Zehn Jahre Versailles, 11. Bd. Hgg. von H. Schnee und H. Draeger. Berlin 1929, S. 255.
Nation als Gegenstand deutsch-französischer Jugendkontakte in der Zwischenkriegszeit 539
Internationale unter dem Ausschluß eines der größten Kulturvölker niemals lebensfähig ist, die Entwicklung der Dinge in Ruhe abwarten. ,,5 Die selbstsichere Überzeugung von der unwiderstehlichen Strahlkraft deutscher Kultur entzündete sich immer wieder an der Sprachenfrage und führte 1926 anläßlich eines internationalen Studententreffens in Stuttgart zum Eklat. Der französische Konsul berichtete darüber, die Deutschen hätten erklärt, wie Französisch die Sprache der Diplomatie und Englisch diejenige der Geschäftswelt sei, so habe ihre Sprache Anspruch darauf, als Sprache der Wissenschaft zu gelten. 6 Die Anerkennung des Deutschen als "langue protocolaire" sei von der C.I.E. nicht geteilt worden. Dies habe den Bruch bewirkt. "Le repn!sentant allemand considere ce refus comme une atteinte portee a la langue allemande, voire meme une atteinte atout ce qui est allemand. " Diese Stilisierung des Sprachproblems zu einer Sache der nationalen Ehre blieb mit einem tief verwurzelten nationalen Überlegenheitswahn verbunden. Beides machte selbst in der Locarno-Ära, als bereits Tausende deutsche Jungakademiker an französischen Universitäten eingeschrieben waren, eine dauerhafte Einigung der beiden Studentenorganisationen unmöglich. Im Sommer 1933 fand der "Kampf der Deutschen Studentenschaft gegen die C.I.E., den studentischen Völkerbund", mit der Gründung einer vom nationalsozialistischen Deutschland protegierten "Internationalen studentischen Liga für die Neugestaltung Europas" sein definitives Ende. 7 Der stärkste Impuls für deutsch-französische Jugendbeziehungen ging in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg zweifellos von einer vielgestaltigen pazifistischen Bewegung aus. Die Erziehung der jungen Generation zur Überwindung nationalistischer Aggressivität und zum friedlichen Zusammenleben der Völker gehörte zu den zentralen Anliegen dieser facettenreichen Bewegung. 8 Teile davon organisierten auch internationale Jugendbegegnungen. Die spektakulärsten Treffen junger Franzosen mit ihren deutschen Altersgenossen ergaben sich auf den Internationalen Demokratischen Kongressen von Paris (1921), Freiburg im Breisgau (1923) und vor allem in Bierville (1926). 5 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn: VI B, Schul-So C.I.E., 1920-1925, Bd. 1 (Denkschrift Zimmermann). 6
Ministere des Affaires Etrangeres, Archives diplomatiques, Paris: Allemagne, 595, BI. 113.
7 Revisionstagung und studentische Außenpolitik, in: Hochschule und Ausland, Sept. 1933, S. 23 ff.
8 Vgl. etwa Kun LemlWalter Fabian (Hg.): Die Friedensbewegung. Berlin 1922; Louis Satow: Erziehung im Geiste der Völkerversöhnung. Leipzig 1924.
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Motor, Moderator und Seele der Tagungen war Mare Sangnier (1873-1950), engagierter Verfechter einer dauerhaften Friedensordnung, der schon in jungen Jahren entschieden für eine französische Republik mit christlichem, demokratischem und zugleich sozialem Charakter eingetreten und dabei weder mit der Politik der französischen Amtskirche noch mit einflußreichen Strömungen des politischen Katholizismus in Frankreich konform gegangen war. 9 Die Pariser Tagung führte unter Sangniers Regie kurz nach dem Krieg junge Franzosen und Deutsche zusammen, die sich voller Idealismus den politischen Realitäten und dominierenden Mentalitäten entgegenstellten. 10 Latente Konflikte - etwa um die Kriegsschuldfrage - verstand der spiritus rector des Kongresses mit der Heilsbotschaft allumfassender christlicher Brüderlichkeit zu entschärfen. Ein deutlich gewordenes Harmoniestreben sowie das ambivalente Verhältnis zur damals aktuellen Politik, nämlich sie zu ignorieren und zugleich zu diskutieren, kam gewiß dem Bedürfnis vieler Jugendlicher entgegen, sich für eine gute Sache zu engagieren. Eine von breiter Zustimmung getragene Alternative zum deutsch-französischen Gegensatz-Denken wurde daraus nie. Zwei Jahre darauf in Freiburg wurde die Spannung von nationaler Befangenheit und internationalem Horizont deutlicher. Im Jahr der Ruhrbesetzung konnte die Beschwörung des gemeinsamen Glaubens und die Berufung auf die Universalkirche nur mühsam verschleiern, was beide Seiten trennte. 11 Und außerdem rief das Treffen die Gegner der Friedensbewegung auf den Plan. So rechnete ein Kritiker aus dem deutschnationalen Lager mit der Freiburger Tagung ab, indem er behauptete, durch "die Jugend der romanischen Länder" gehe "eine militaristische und nationalistische Renaissancebewegung. " Anstatt davor auf der Hut zu sein, sei die deutsche Jugend Sirenenklängen aufgesessen: "Sie hat der Lügenpropaganda der feindlichen Demokratien und des feindlichen Pazifismus Tür und Tor geöffnet." 12 Auch in Paris war die insgesamt sehr schwache Resonanz vorwiegend negativ. Auf eine Rede Sangniers in der Nationalversammlung, in der er das Bild einer zunehmend friedliebenden deutschen Jugend zeichnete, antwortete Regierungschef Poincare mit der 9
Madelaine Banhelemy-Madaule: Marc Sangnier 1873-1950. Paris (Seuil) 1973.
10 La Democratie v. 25.1.1922: Compte-rendu complet du ler Congres Democratique International; Georges Walz: Das andere Frankreich. Wien 1922; Alphons Nobel: Erste internationale Verständigungsversuche in Paris. In: Das Neue Reich, 26.2.1922, S. 411 ff. 11 Bezeichnend Nikolaus Ehlen: Moralische Abrüstung. Rede vor dem 111. Internationalen Demokratischen Friedenskongreß zu Freiburg i.B. Freiburg 1923.
12 Ernst Kemmer: Pazifismus und deutsche Jugendbewegung. In: Süddeutsche Monatshefte, 1924, S. 161 ff.
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spitzen Bemerkung, eine oder zwei Schwalben am Himmel machten noch keinen Sommer. 13 1926 waren die politischen Rahmenbedingungen für die Verständigung deutscher und französischer Jugend günstiger. Bierville bei Paris wurde zum Schauplatz eines internationalen Freundschaftsmonats . 14 Die Deutschen waren mit über 3000 Teilnehmern vertreten und übertrafen mit ihrer Zahl sogar bei weitem die rund 1800 Franzosen; jedenfalls berherrschte das deutsch-französische Element die Szene. Der auf Ausgleich bedachte Marc Sangnier vermochte wiederum eine Atmosphäre internationaler, insbesondere deutsch-französischer Verständigung im Zeichen des Kreuzes zu schaffen. Neben Gesang, Spiel und Gottesdienst wurden auch politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme im Kontext der zum Kardinalthema erhobenen Jugendfragen erörtert. Zahlreiche Resolutionen im Sinne des Pazifismus, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit schlossen die Tagung ab. Freilich zeigte die publizistische Begleitmusik auf deutscher Seite, daß Versuche dieser Art, nationales Gegensatzdenken mit Hilfe christlicher Nächstenliebe zu überwinden, sich erschöpft hatten und daß nationale Themen wieder auf die Tagesordnung kamen. Schon im Vorfeld von Bierville hatte die Beilage des "Heiligen Feuers", der Zeitschrift der katholischen Friedensbewegung, in einem offenen Brief an Briand sämtliche Ergebnisse des Ersten Weltkrieges in Frage gestellt: "Frankreich gibt der Friede die beste Sicherheit für seine Größe, dem deutschen Volk aber bleibt das genommen, was es hatte ... Die Frage Elsaß-Lothringen und die Ostfrage und die koloniale Frage sind noch zu lösen. ,,15 Selbst entschiedene Anhänger der Friedensidee distanzierten sich von der in Bierville allzu oft gepflegten überschwenglich-euphemistischen Rhetorik. "Die Zeit der Friedensbeteuerungen" , meinte zwei Jahre später ein Beobachter, "ist vorbei" .16 Gegen Ende der zwanziger Jahre wurde von der engagierten deutschen Jugend Frieden immer weniger als internationales Harmoniemodell verstanden und immer deutlicher als Funktion der nationalen Wiederaufrichtung definiert. Kennzeichnend war die Auffassung des jungen Nationalbolschewisten KarlOtto Paetel. Er geißelte den "Totengräberfriede(n) von heute, der die deutsche J3
Annales de la Chambre des Deputes. Seances du 16 nov. et du 23 nov. 1923.
14 Die Tage von Bierville. Der VI. Internationale Demokratische Friedenskongreß, verbunden mit Internationalem Freundschaftsmonat der Jugend im Schloß und Park von Bierville bei Paris vom 1. bis 29. August 1926. Deutscher Bericht nach amtlichen Unterlagen von Freunden und Gegnern zusammengestellt von lose! Probst, Rio Schneider und earl Maria Brohl. Würzburg 1926. 15
Großdeutsche Jugend, Mai 1925, S. 59.
16
atto Reinemann: Der Weltfriedenskongreß in Eerde. In: Der Fackelreiter, Nov. 1928, S. 13.
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Nation als Halbkolonie der Westmächte erhalten will", und "die blutleere Ideologie des 'Nie wieder Krieg'" .17 Für ihn galt: "Friede ist nur möglich unter der Voraussetzung der nationalen Freiheit eines Volkes." Mit dieser Meinung stand Paetel keineswegs allein. Frieden wurde nicht mehr mit der bestehenden Ordnung identifiziert, sondern in ihrer Veränderung durch Erfüllung nationaler Anliegen gesehen. Der Wandel in den jugendlichen Meinungsströmen von der friedensbewegten deutsch-französischen Verbrüderung zur Verständigungssuche auf der Grundlage nationaler Überzeugungen manifestierte sich besonders deutlich im "Sohlbergkreis" , einer Vereinigung von Jugendbewegten, die unter Leitung des badischen Zeichenlehrers Otto Abetz Kontakte mit jungen Franzosen suchten und die in einer sich rebellisch-nonkonformistisch gebenden Pariser Gruppe um Jean Luchaire und seiner Zeitschrift "Notre Temps" geeignete Partner fanden. Auf dem Sohlberg im Schwarzwald trafen sich im Sommer 1930 beide Seiten zur ersten von drei größeren deutsch-französischen Jugendaussprachen. Die etwa 100 Teilnehmer hörten Vorträge und diskutierten über "die kulturelle, religiöse, politische und wirtschaftliche Lage beider Länder in der Nachkriegszeit und die besondere Stellung der jungen Generation in ihr. ,,18 Schon die Wahl des Tagungsortes sollte deutlich machen, daß das Niveau der Gespräche hoch über den Niederungen der Tagespolitik angesiedelt war. Zugleich wurde die eigene Jugendlichkeit als zukunftsweisende Kraft kultiviert. Die junge Nachkriegsgeneration beider Länder, bilanzierte Jean Luchaire das Treffen in einem Zeitungsartikel, habe sich fast völlig frei von Vorurteilen und psychologischen Hemmungen getroffen, welche bei den Älteren oft zu finden seien. 19 In die mit hochgestochenen Ansprüchen, großen Worten, theatralischen Gesten und betont jugendbewegtem Auftreten garnierte Überzeugung absoluter, transnationaler Jugendlichkeit spielte jedoch von Anbeginn ein Kalkül, das die Teilnehmer zwangsläufig hinter die Grenzen ihrer jeweiligen nationalen Horizonte zurückwerfen mußte. Otto Abetz' "Denkschrift" über das Treffen, deren Adressaten verschiedene Reichs- und Landesministerien waren, stellte klar, worum es deutscherseits tatsächlich ging, nämlich westlichem Pazifismus und seinen "auf der 'Heiligkeit' der Verträge beruhenden Konventionen" den
17
In: Kölnische Zeitung v. 22.5.1929.
18
Archiv der deutschen Jugendbewegung, Ludwigstein: A 168/1 (Programm "sohlberg camp").
19
La Volonte v. 9.8.1930.
Nation als Gegenstand deutsch-französischer Jugendkontakte in der Zwischenkriegszeit 543
eigenen Standpunkt entgegenzustellen, "dass der Versailler Vertrag nicht die Grundlage, sondern die latente Gefährdung des europäischen Friedens ist. ,,20 1931 traf man sich im Ardennenstädtchen Rethel, um über "das junge Deutschland und Frankreich vor europäischen Aufgaben" zu diskutieren. 21 Anders als ein Jahr zuvor auf dem Sohlberg, wo sich nationale Polarisierungen im geselligen Zusammenleben scheinbar aufgelöst hatten, wurden dort deutschfranzösische Gegensätze offensichtlich. Jean Luchaire kritisierte die Neigung der Deutschen zu den Begriffen "Volk", "Nation" und "Rasse", die ihn an den überwunden geglaubten Nationalismus früherer Zeiten erinnerten. 22 Und deutscherseits wurde dessen Engagement für ein vereintes Europa bloßgestellt. Wohl hätten die Deutschen die Vereinigten Staaten von Europa anerkannt, meldete eine Notiz der Zeitschrift "Hochschule und Ausland", aber mit aller Entschiedenheit "einen gemeinsamen gleichen Staat" verlangt, "denn solange 'Union eurpeenne' gesagt und mit rührender Naivität französische Hegemonie gemeint wird, ist für einen Deutschen dieses Problem indiskutabel. ,,23 Der schon in Rethel evidente Rückzug in die nationalen Bastionen wurde während der Folgetagung in der Mainzer Zitadelle 1932 nicht einmal mehr mit der zuvor stets apostrophierten Jugendlichkeit getarnt. Die außenpolitische Haltung Deutschlands müsse einheitlich sein, hieß es in dem "Sohlbergkreis "Heft über das Treffen, und dies sei erreicht worden: "Wir fühlten uns in Mainz - von der Rechten bis zur Linken - als Jugend eines Volks ... ,,24 Die Bereitschaft, sich nach schweren Enttäuschungen mit der Jugend des anderen Landes auseinanderzusetzen, verlange nicht nur "ehrliche Gesinnung", sondern klare Erkenntnis der "eigenen Artung und des Eigenrechts jeder Nation." Wie schnell sich jener Kreis, der gern über jugendliche Autonomie schwadronierte und dem politischen Alltag entrückt zu sein behauptete, von der politischen Realität einholen ließ, zeigen die Karrieren der beiden Protagonisten. Otto Abetz paßte sich 1933 schnell dem NS-Regime an und ging den Weg vom bündischen Jugendführer zum Funktionär Hitlers, der ihn 1940 als
20
Archiv der deutschen Jugendbewegung, Ludwigstein: A 168/1 (Denkschrift v. 30.4.1931).
21
Bundesarchiv Koblenz: R 118, 25 H. 2, BI. 16 (Ardennentreffen).
22
Notre Temps, 16.-23.8.1931, Sp. 657.
23
Hochschule und Ausland. Nov. 1931, S. 20.
24
Sohlbergkreis, Mai 1932, S. 4.
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Botschafter nach Paris schickte. 25 Und Jean Luchaire, der mit seinen Deutschlandinitiativen anfangs zweifellos zum Aufbau eines geeinten Europa beitragen wollte, wurde 1946 wegen Kollaboration hingerichtet. 26 Hitlers "Machtergreifung" bedeutete keineswegs das Ende deutsch-französischer Jugendbeziehungen. In der auswärtigen Kulturpolitik, die den Schülerund Studentenaustausch organisierte, herrschte Kontinuität. Schon aus utilitaristischen Erwägungen galt es, eine geregelte deutsche Romanistenausbildung aufrecht zu erhalten. Da diese Beziehungen sich auch propagandistisch instrumentalisieren ließen, wurden sie in verschiedenen Bereichen, z.B. in der Hitlerjugend, durchaus gepflegt und jetzt sowohl in den Schatten als auch in das Scheinwerferlicht der mit einigem Aufwand geförderten FrontkämpferVerständigung gestellt. Das Regime verpflichtete sie nämlich einerseits dem Ehrenkodex einer verbluteten Heldengeneration, st~llte sie jedoch andererseits als Kontrast zur unseligen Vergangenheit heraus . Wo immer die Erinnerung an die Soldaten des Weltkrieges beschworen wurde, schwang der Appell an die Jugend mit, in ihnen zugleich Vorbilder zu sehen und eine ganz andere Zukunft zu gestalten. Im Rausch grandioser Kulissen und pompösen Wortgeklingels trat ein Bewußtsein für die paradoxe Aufgabe, die den jungen Deutschen bei ihren Kontakten mit gleichaltrigen Franzosen zugedacht war, kaum in Erscheinung. Den Krieg als großartige Bewährungsprobe zu betrachten, aber auch für den Frieden zu wirken, bedeutete demnach kein unvereinbarer Gegensatz, sondern folgte den Intentionen einer Ideologie, die ihre Aggressivität mit verbrämendem Dekor zu überdecken bemüht war. Daß das Widersprüchliche dieser Strategie dennoch verschiedentlich aufbrach, gehörte zu den zwangsläufigen Folgen. Ein publikationsfreudiger Repräsentant jener zwiespältigen Haltung war der damalige Leiter der Pariser Zweigstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. Er forderte eine "Völkerpsychologie aus dem Geiste des Nationalsozialismus"27 und die Prüfung der Erfolgsaussichten einer deutsch-französischen Verständigung "im Geiste des Führers" .28 Der beflissene Verfechter einer Frankreichwahrnehmung im Sinne des "Dritten Reiches" ließ es zwar nicht an gefalligen Einlassungen mangeln, hob jedoch zugleich immer auch die 2S Vgl. die apologetischen Memoiren von Dtto Abetz: Das offene Problem. Ein Rückblick auf zwei jahrzehnte deutscher Frankreichpolitik. Köln 1951. 26
Maurice Gar(:on (Hg.): Le proces de collaboration: Fernand de Brinon, Joseph Darnand, Jean
27
Matthias Schwabe (= Karf Epting): Zum Frankreichbild unserer Generation. In: Die Tat,
28
Karf Epting: Die Ideen des jungen Frankreich. In: Das innere Reich, 4/1937, S. 104.
Luchaire. Paris 1948. 1938/39, S. 478.
Nation als Gegenstand deutsch-französischer Jugendkontakte in der Zwischenkriegszeit 545
gefahrlichen Züge der westlichen Nachbarn hervor. Rivalität, ja latente Feindschaft sollte jedenfalls die Maxime deutscher Frankreichfahrer sein: "Wir müssen zu den Franzosen reisen wie zu den Eskimos: mit einem ungetrübten naturwissenschaftlichen Blick, mit dem Vermögen zu vergessen, was als Halberkenntnis an allen Straßen Europas umherliegt, mit der Neugier, die wir sonst nur dem ganz Fremden entgegenbringen. Wir dürfen keine Erscheinung als bekannt entgegennehmen. Überall muß uns der Atem eines ungelüfteten Geheimnisses schweben. Erst aus einem solchen Abstand werden wir die Elemente fmden, die wir zum Bilde zusammensetzen können. Wir müssen uns auf unsere eigenen Augen verlassen. Die Selbstinterpretation eines Landes dient oft der Verschleierung. Wie es uns denn scheint, als ob die französische Bürgerlichkeit in ihrer scheinbaren Nachlässigkeit eine jener vortrefflichen Masken sei, hinter denen sich der Machtanspruch eines Volkes verbirgt. Wir deuten das Wesen der katholischen Kirche auch nicht aus dem jovialen Gehabe eines Landpfarrers, sondern aus den strengen Zügen des herrschaftswilligen Jesuiten. ,,29 Solche Ermunterung zum Argwohn gegenüber dem westlichen Nachbarn fand Ergänzung in der einschlägigen pädagogischen Literatur. Im Jugendaustausch mit dem Ausland wurde jetzt "ein Stück soldatischer Erziehung" gesehen,30 und die westeuropäischen Bildungsmächte galten als Ausfluß eines einebnenden und lebensfeindlichen Aufklärungsglaubens, der zum nihilistischen und bindungslosen Einzelmenschen erziehe. 31 Angesichts derartiger Zurückweisungen aller fremden Einflüsse und des Insistierens auf völkischer Eigenart als Schlüssel zur Lösung aller internationalen Probleme hatten die formelhaft wiederholten Verständigungsparolen lediglich deklamatorischen Wert. Insgesamt befanden sich engagierte junge Franzosen und Deutsche zwischen den beiden Weltkriegen in einer eigentümlichen Aufbruch-Situation, einer Art Wendezeit-Stimmung. Alte Ordnungen, Normen und Werte hatten sich als hinfällig erwiesen und waren 1914/18 hinweggefegt worden. Neue Orientierungsmaßstäbe mußten erst gefunden und internalisiert werden. In dieser labilen Gemengelage von überkommenen Anschauungen und einem aufkeimenden Bewußtsein für notwendigen Wandel rückte die junge Generation unversehens in die Position einer Avantgarde. Ihr vermeintliches Betreten von Neuland war indes kaum etwas anderes als der Versuch, den fortbestehenden 29
Matthias Schwabe (= Karl Epting): Zum Frankreichbild unserer Generation, S. 480 f.
30
Theodor Wilhelm: Das Ausland als Erzieher. In: Kölnische Zeitung v. 13.4.1935.
31 Wilhelm Burmeister: Der Nationalsozialismus und die westeuropäischen Bildungsmächte. In: Geist der Zeit, Nov. 1938, S. 721 ff.
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deutsch-französischen Antagonismus entweder einfach zu ignorieren oder in naiver Weise dagegen anzukämpfen. Sie suchte Wege aus verkrusteten 11 Erbfeind li-Schablonen und blieb doch konventionellem Gegensatzdenken verhaftet. Thr erklärtes Ziel war Verständigung bis hin zur Versöhnung, aber sie erreichte kaum mehr als unverbindliche Absichtserklärungen, substanzarme Manifestationen und folgenlose Interaktionen. So spektakulär und visionär, ja sogar revolutionär deutsch-französische Jugendbegegnungen der zwanziger und dreißiger Jahre erscheinen mochten, so eindeutig waren sie tatsächlich in die Zeitumstände verstrickt. Die angeblichen Vorreiter zur Gestaltung eines besseren Verhältnisses der beiden Nachbarvölker waren in Wirklichkeit Gefangene ihrer nationalen politischen Kulturen.
Der nationale Gedanke in Finnland in der Zwischenkriegszeit Von Erkld I. Kouri
In diesem Beitrag wird die Entwicklung von zwei führenden nationalen
Bewegungen, die zwischen den beiden Weltkriegen in Finnland gewirkt haben, und zwar die des sog. Echtfinnentums sowie der Akademischen Kareliengesellschaft, betrachtet.
Die Wurzeln der finnischen nationalen Ideologie, für die die Sprachenfrage und eine damit verbundene soziale Problematik kennzeichnend waren, sind in der idealistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts zu finden. Ende des Jahrhunderts war der Nationalismus zeitweilig durch den Liberalismus geschwächt worden, aber der Bürgerkrieg im Jahr 1918 und seine Folgen bedeuteten einen neuen großen Aufschwung für das nationale Bewußtsein. Das Finnentum war eine zentrale übergreifende Ideologie, die breite bürgerliche Schichten unterschiedlicher Parteizugehörigkeit miteinander verband. Mit dem Begriff Finnentum kann das gesamte positive Programm umrissen werden, das in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum ideologischen Entwicklungsstrang des unabhängigen Staates ausgebaut wurde, das sich in den 30er Jahren bereits gefestigt hatte und am Ende des Jahrzehnts neue Formen anzunehmen begann. Diese Ideologie hatte zwei Bedingungen zu erfüllen: auf der einen Seite mußte sie so allgemein sein, daß sie von allen oder wenigstens von einer großen Mehrheit übernommen werden konnte, auf der anderen Seite mußte sie dem nationalen Zusammenhalt förderlich sein. Als Finnland 1917 selbständig geworden war, sahen die Finnlandschweden, die ungefahr 10 % der Gesamtbevölkerung ausmachten, ihre traditionell starke Stellung im Lande gefahrdet. Bei einigen war eine Überreaktion zu beobachten, und die Jahre 1918-22 sind auch als eine Phase des aggressiven Schwedentums bezeichnet worden. Wann das Echtfinnentum begonnen und wie es zeitlich einzugrenzen wäre, erweist sich als vielschichtiger als die Phase des aggressiven Schwedentums. Ganz offensichtlich hatte sich durch die Expansion der Schwedischsprachigen 35'
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Erkki I. Kauri
und durch ihre Selbstverwaltungs-, ja sogar separatistischen Bestrebungen explosiver Druck angesammelt, der nur auf einen auslösenden Moment wartete. Die Frustration über die Politik der Schwedischsprachigen traf bei den Finnen auf einen fruchtbaren Boden, und als ihr Sprachrohr wurden 1922 in Helsinki der "Echtfinnische Klub" (Aitosuomalainen Kerho) sowie für den Klub ein Organ, die Zeitschrift "Der Echtfmne" ("Aitosuomalainen") gegründet. Bald entstanden echtfinnische Vereine im ganzen Land, die 1926 in einem Zentralverband "Verband des Echtfinnenturns" (Aitosuomalaisuuden liitto) zusammengefaßt wurden. Die Echtfmnen bezeugten ihre Unzufriedenheit darüber, daß die Schwedischsprachigen Sonderrechte und Positionen hatten, die weit über den ihnen zustehenden Anspruch aufgrund ihres Bevölkerungsanteils hinausgingen. Als hauptsächliches Ziel verkündeten sie, daß Finnisch auch faktisch die Hauptsprache des Landes werden müsse und daß "unsere Volksmehrheit in die ihr zustehende entscheidende Herrenrnacht in ihrem eigenen Lande auf allen Gebieten eingesetzt werden" müsse. Der letzte Satz ist vielsagend: aus ihm spricht nationales Selbstbewußtsein und nationaler Stolz. Das Echtfinnenturn betrachtete gerade die Sprache als bindendes und einigendes Element, das dem Volk eine höhere Kultur verschaffe. Die Schwedischsprachigen sollten sich "zu Finnen wandeln", damit der Volks geist besser Fuß fassen könne und der von den Echtfinnen gehegte Nationalstaatstraum in Erfüllung gehe. In komprimierter Form beinhaltete das Programm der Echtfinnen Folgendes: Die finnische Sprache - die laut Verfassung mit der schwedischen Sprache gleichwertig war - müsse die einzige Landessprache werden, und das Schwedische müsse sich mit der Stellung einer lokalen Minderheitensprache begnügen. Die geltende Verfassung, die Sprachen- und Universitätsgesetze seien eine Ungerechtigkeit, die nach einer Korrektur verlange. Unter den Echtfinnen war man der Ansicht, daß ein vom finnischen Nationalgeist durchdrungener Mensch den Grundfels des Patriotismus bilde. Ein fehlendes Nationalgefühl führe in ein Chaos, seine Stärkung hingegen zur Einheit. Somit sollte ein auf einer einzigen einheitlichen Sprache beruhendes Nationalgefühl die Nation - ohne Rücksicht auf Klassen- und gesellschaftliche Unterschiede - in sichere Gewässer führen. Insofern war das Echtfinnenturn gleichzeitig Sicherheitspolitik: durch Festigung der nationalen Front würde eine im Inneren heile Volksgemeinschaft geschaffen, die den äußeren Gefahren - aus dem Osten - standhalten würde. In diesem Szenarium hatten die Schwedischsprachigen die Rolle eines fremden Elements.
Der nationale Gedanke in Finnland in der Zwischenkriegszeit
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Die Einstellung zu den fmnischsprachigen Parteien war für die Echtfmnen ein ständiges Problem. Daß die Sozialdemokraten ihnen die kalte Schulter zeigten, war für viele Echtfinnen eine Überraschung. Ein noch größeres Problem war, daß sie auch in den bürgerlichen finnischsprachigen Parteien Gegner hatten. 1926 wurde in Finnland eine sozialdemokratische Minderheitsregierung gebildet, die im Parlament außer von den Sozialdemokraten vor allem von der Schwedischen Volkspartei unterstützt wurde. Schon diese Kombination behagte den Echtfmnen ganz und gar nicht, denn sie brach mit der Auffassung, daß zwischen der schwedischsprachigen "Oberschicht" und den Arbeitern ein unauflöslicher Widerspruch bestünde. Vor allem griff man die "deutsch-jüdische Theorie" des Sozialismus, als deren Vertreter die fmnischen sozialistischen Führer betrachtet wurden, an. Gleichzeitig hoffte man, daß es in Finnland eine sozialistische Partei wie in England gäbe, die im patriotischen Geist und im Rahmen der Realitäten agiere. Die Echtfmnen hatten, im Gegensatz zu der unter den Studenten wirkenden Akademischen Kareliengesellschaft, eigene Parlamentsabgeordnete in der bürgerlichen Mitte und bei den Rechten. Als die rechtsradikale Lapuabewegung Ende November 1929 auf die Bühne trat, lenkte sie das allgemeine Interesse auf den Antikommunismus. Für die Abgeordneten der Echtfinnen in verschiedenen Parteien bedeutete dies einen Rückschlag, vor allem, da die Lapuabewegung sich nicht für die Einsprachigkeit erwärmen konnte, sondern im Gegenteil für eine Zusammenarbeit der Sprachengruppen gegen den Kommunismus plädierte. Bekannt geworden ist der Ausspruch des Führers der Lapuabewegung, des "fmnischen Mussolini" Vihtori Kosola: "Die Äcker dieses Landes fragen nicht danach, welche Sprache ihr Pflüger spricht". Die Lapuabewegung begeisterte vor allem die konservative Nationale Sarnmlungspartei, die in den zwei vorangegangenen Wahlen eine Niederlage erlitten hatte. Die bürgerlichen Parteien sahen in der Politik, die Kommunisten zu verbieten, eine Möglichkeit, die bisherigen Stimmenverluste wieder wettzumachen. Hierbei war man bereit, die Sprachenfrage zu opfern. In ihrer extremen Form war die Forderung nach Einsprachigkeit eher eine Wahltaktik der Konservativen gewesen, um mehr Anhänger zu bekommen. Sie entsprach nicht den tatsächlichen Auffassungen der Parteiführung . Zwischen den Kriegen war in Finnland eine nationale und vaterländische Atmosphäre, zumindest aus dem Blickwinkel der finnischsprachigen Machtelite, vorherrschend. Die Sicht der Machtelite auf die finnische Kultur und ihre Zukunft fußte auf dem Gedanken, daß mit der Familie der großen Kulturvölker
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Erkki I. Kouri
Europas und deren Traditionen eine enge Verbundenheit bestünde. Die finnische Kultur wurde als etwas betrachtet, das die westlichen Werte hochhielt und sie gegen den Osten und den Sozialismus verteidigte. Nur in den allerextremsten Visionen von einem Großfinnland, in denen die Finno-Ugrier eine kulturelle Hegemonie über den Norden anstrebten, wurde das Finnenturn als etwas gesehen, das von den übrigen Kulturen gesondert und selbständig existierte, ja, fast über ihnen stand. Anfangs war auch die Echtfmnische Bewegung ein rein innenpolitisches Phänomen, das keine außenpolitischen Zielsetzungen kannte. Das Jahr 1930 markierte jedoch einen Wendepunkt, denn von diesem Jahr an begann das Organ "Der Echtfinne" ("Aitosuomalainen") deutlich die Wichtigkeit der Stammverwandtschaft für die Nation hervorzuheben. In den echtfinnischen Klubs im ganzen Land begann eine für das stammesverwandschaftliche Denken typische Missionierung durch Reden und mit Symbolen, wie Wappen und Flaggen, u.a. denjenigen von Estland und Ostkarelien. Außerdem wurde betont, wie wichtig es wäre, wenn alle mit den Finnen verwandten Völker frei wären und ein eigener Kulturkreis der finno-ugrischen Völker entstünde. Anfang der dreißiger Jahre proklamierte eine neue Partei der extremen Rechten, die Vaterländische Volksbewegung (Isänmaallinen Kansanliike, IKL) vorerst noch eine ungewisse Größe -, daß sie die Interessen der Gesamtnation betreibe. Faktoren, die störend für die Gesamtheit waren, sollten aus dem Staatskörper getilgt werden, und deshalb müßten sich auch die Schwedischsprachigen den Forderungen der Mehrheit beugen. Die Vaterländische Volksbewegung verband mit der Sprachenfrage auch die Idee eines Großfmnland und verkündete: "Finnland muß ein Nationalstaat werden" sowie die "Einheit des finnischen Stammes". Gedanken dieser Art waren nichts Neues. In seinem bereits 1918 erschienenen Buch mit dem Titel "Was für ein Finnland müssen wir schaffen", hatte der Selbständigkeitsaktivist und spätere Parlamentsabgeordnete Martti Pihkala "ein heiles, vollständig finnisches Finnland" als Ziel angegeben. Damit war ein Groß finnland gemeint, ein Finnland, das ideologisch "weiß" war, von allem Fremden, d. h. vom Schwedischen und Russischen gereinigt, das zum führenden Land des Nordostens aufsteigen würde sowie Kolonien in den Gebieten der finno-ugrischen Völker gründen und dort als Ratgeber dieser stammesverwandten Völker auftreten würde. In den Parlamentswahlen des Jahres 1933 erlitten diejenigen Parteien, die ihr Sprachen- und nationales Programm schärfer formuliert hatten, eine Niederlage. Dies jedoch radikalisierte eher die Meinungen als daß es sie gedämpft hätte.
Der nationale Gedanke in Finnland in der Zwischenkriegszeit
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Als nach 1935 Fragen der Sicherheit und nach dem außenpolitischen Kurs die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung und der Entscheidungsträger immer mehr beanspruchten, wurden die Echtfinnen allmählich zu einer Gruppe von Führern ohne Gefolgschaft. Je mehr sich der internationale Horizont verdüsterte, desto weniger Verständnis empfand man für ihre Forderungen. In den Wahlen 1936 erlitten die Echtfinnen eine erneute Niederlage. Die finnische Regierung hatte ihr Vertrauen in den Völkerbund endgültig verloren und strebte eine nahe Zusammenarbeit mit den anderen nordischen Ländern an. Da die Einstellung der Echtfinnen in der Sprachenfrage die Beziehungen vor allem zu Schweden belastete, versuchte die offizielle Politik sich von ihnen zu lösen. Als die skandinavische Richtung auf militärischer Ebene konkrete Ergebnisse zu erbringen begann, behielten nur die extremsten Echtfinnen ihre Aggressivität bei, indem sie die Schweden beschuldigten, Aland annektieren zu wollen. Im April 1939 hielt Ministerpräsident Cajander eine Rundfunkansprache, in der er im Namen der nationalen Einmütigkeit dazu aufforderte, das Kriegsbeil zu begraben. Der Ausbruch des Weltkrieges bedeutete den Schwanengesang des Echtfinnenturns. Die Kriegsgefahr verband das Volk über die Sprachgrenzen hinweg, und in den Bekenntnissen zur Solidarität auf beiden Seiten des Bottnischen Meerbusens wurden nur noch gemeinsame Werte betont. Während die Echtfinnen ihre Anhänger meist in der finnischen Bildungsschicht suchten, stützte sich die bedeutendste finnischsprachige Studentenbewegung der Zwischenkriegszeit, die Akademische Kareliengesellschaft (Akateeminen Karjala-Seura, AKS) auf den akademischen Nachwuchs. Die Gesellschaft wurde im Februar 1922 gegründet. Ihre Begründer hatten an der OnegaExpedition nach Ostkarelien teilgenommen, die mit einer Niederlage endete. Sie hatten bereits Kareliern geholfen, die nach Finnland übergesiedelt waren, und der Verein wurde zur Fortsetzung dieser Arbeit gegründet. Die praktische Flüchtlingshilfe ließ allmählich nach, und die Tätigkeit der Gesellschaft wurde auf mehr politisches Gebiet gelenkt, auf die Aufrechterhaltung einer KarelienIdeologie. Aber bald rückte die direkte Karelien-Propaganda in den Hintergrund, und der Russenhaß und eine "Abwehr des Russenturns" rückten in den Vordergrund. Erst in einer dritten Phase, im Frühjahr 1924, fand die Sprachenpolitik Eingang in das AKS-Programm. Auch im allgemeinen wurde im Finnland der Zwischenkriegszeit das Selbstwertgefühl des jungen Staates durch Hebung des Nationalgefühls und eine scharfe Sprachenpolitik gestärkt. Vor allem der Gedanke einer kulturellen Mission Finnlands unter den stammesverwandten Völkem der Finnen fand in der AKS Widerhall und wurde als eine die Stämme verbindende Arbeit ausge-
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führt. Auch wurden unter Finnen im Ausland - und nicht nur in Karelien und im Baltikum, sondern in noch viel größerer Feme, auf der anderen Seite des Ozeans - Vereine gegründet, die nationale Zielsetzungen fördern sollten. Unter dem Vorsitzenden Edvard Kaila entwickelte sich die AKS zu einer geschlossenen Kampforganisation. Kaila war der praktische Organisator und Führer, in seinen ideologischen Stellungnahmen war er geradlinig und steif. Dahingegen war der zweite Führer der Gesellschaft, Niilo Kärki, eine gebildete und weitsichtige Persönlichkeit, die in einem weit größeren Maße als irgendein anderer die ideologische Basis der AKS schuf. Die Linie Kailas, in der militärische Disziplin und Tugenden betont wurden, fand zunehmend Widerhall, da auch in Finnland die akademische Jugend die Kräfte der Demokratie in Europa am Verschwinden sah, und der durch den Krieg verursachte Pazifismus ihrer Meinung nach verachtenswert war. Vor allem erregte der in Deutschland, Italien und Spanien hochgekommene militärische Geist das Interesse der Studenten. Die Akademische Kareliengesellschaft begann dann auch während des Jahres 1924 für die "Einigkeit des ganzen Volkes" im Sinne der Thesen von Kärki zu plädieren, mit anderen Worten, die durch den Bürgerkrieg verursachte Spaltung sollte überwunden werden. Auch die Sozialdemokratie versuchte man für den nationalen Gedanken zu gewinnen. Es gelang ihr jedoch nicht, eine heile nationale Front der Finnischsprachigen zu errichten. Dahingegen gelang es der militärisch organisierten Gesellschaft allmählich, in die studentische Jugend eine Weltanschaung einzupflanzen, die auf der Hegeischen Nationalitätsphilosophie, auf der Einheit von Gedanke und Tat, beruhte. Die Akademische Kareliengesellschaft strebte danach, ein innerlich und äußerlich starkes Großfinnland zu schaffen. Als Schweden sich im Herbst 1923 von den Plänen eines finnisch-schwedischen Verteidigungsbündnisses losgesagt hatte, und auch die Randstaatenzusammenarbeit abflaute, war man gezwungen, seine Zuversicht in die eigenen nationalen Ressourcen zu setzen. Daß sich die Schweden "hinter dem Rücken Finnlands" versteckten, wurde auch als Symptom für die Einstellung der Finnlandschweden gedeutet: man könne sich in den großen Fragen der Nation nicht auf sie verlassen. Die Führer der Akademischen Kareliengesellschaft hatten ihre entscheidenden ideologischen Impulse aus dem von Yrjö Ruutu propagierten Staatssozialismus empfangen. Der Staatssozialismus setzte eine breit angelegte Sozialisierung, d. h. "Verstaatlichung" voraus, und nach Ruutu war in Finnland die Zeit dafür herangereift. Es sei angemerkt, daß Ruutus Staatssozialismus "rein
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vaterländisch und national" gedacht war; mit dem internationalen Sozialismus hatte er nichts gemein. Die Verwandtschaft von Ruutus gesellschaftlichem Denken zu frühfaschistischen Strömungen wird in seiner Forderung sichtbar, nach der die gesellschaftliche Macht der "Gesamtheit des Volkes" übertragen werden müsse. Dieses Ziel hat er jedoch nicht genauer definiert. Das gleiche gilt für seine späteren Großfmnland-Utopien. Er hat nur allgemein angedeutet, daß das Ziel des finnischen Staatssozialismus die Absicherung der Freiheit, der Zukunft und der Entwicklung des finnischen Volkes sei. Ein lebenskräftiger Staat werde durch nationale Bildung und einen in die richtige Richtung orientierten nationalen Stolz getragen. Deswegen sei die Einigkeit des gesamten Volkes wichtig. Jedoch fanden diese Gedanken der Akademischen Kareliengesellschaft vor allem bei den Arbeitern keinen Widerhall. Da als die wichtigsten Kennzeichen der Nation ethnische Homogenität und gemeinsame Sprache apostrophiert wurden, wurden alle Tendenzen, die diese Einheit spalteten oder hemmten, als negativ, ja, sogar als von der Geschichte zum Scheitern verdammt, betrachtet, während all das, was die Gemeinschaft festigte, einen positiven Wert hatte. Insofern war es kein Zufall, daß Theologiestudenten, die zu den aktivsten Mitgliedern der Akademischen Kareliengesellschaft zählten, die Bedeutung von Kirche und Glauben als Bewahrer und Erneuerer der nationalen Einheit betonten. Gerade die Kirche betrachtetete die Herstellung der Einheit als ihre Aufgabe, damit das Volk seine von der Geschichte ihm anvertraute Aufgabe erfüllen könne. Die Kirche wachte über die nationale Moral, sie war "das moralische Rückgrat" des selbständigen Vaterlandes. Der Glaube an das Vaterland und dessen große Zukunft wurde zum Inhalt dieser religiösen Ideologie. Man sprach von nationaler Erweckung und Auferstehung. Christliche Begriffe wurden mit neuen nationalen Inhalten versehen. Eine Folge dieser Begriffsverwirrung dürfte auch der Fahneneid der Akademischen Kareliengesellschaft gewesen sein, in dem parallel vom Glauben an den einen allmächtigen Gott und den Glauben an das eine Großfinnland die Rede war. Suchen wir nach den Gründen für die Stärke einer solchen nationalistischen Studentenbewegung, wie sie die Akademische Kareliengesellschaft darstellt, muß darauf hingewiesen werden, daß die Aggression der Roten im Bürgerkrieg 1918, die mit dem im Lande sich aufhaltenden russischen Militär verbündet waren, die politische Mitte und die Rechte zusammengeführt hatte. Die Entstehungsbedingungen des Bürgerkrieges hielten auch nach dem Krieg die
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herrschenden Gruppierungen beieinander. Ein Beispiel dafür bieten die Schutzkorps, die eine gemeinsame Organisation aller bürgerlicher Gruppierungen war, anders als ähnliche halb- oder inoffizielle militärische Organisationen im übrigen Europa nach dem Ersten Weltkrieg. Dies hatte die Auswirkung, daß es in Finnland zwischen den Weltkriegen eine starke und gleichzeitig auch selten einheitliche nationalistische Kultur, d. h. bürgerliche Hegemonie gab, stärker als in den meisten anderen Ländern, die ähnliche Aufstände erlebt hatten. Dies hatte auch seine Auswirkungen auf die Studentenbewegung. Auch wenn es im übrigen Europa extremere und gewaltsamere studentische nationale Bewegungen gegeben hat, so gab es wohl kaum anderswo eine einzige Bewegung, die dermaßen total die gesamte studentische Welt beherrscht hätte wie gerade die Akademische Kareliengesellschaft in Finnland. Zum Abschluß sei festgestellt, daß nach einem in Finnland vorherrschenden Interpretationsmodell der finnische Nationalismus in den Jahren der Unabhängigkeit vor allem seine Erklärung darin findet, daß eine agrarische Gesellschaft im Begriff war, sich in eine kapitalistische zu wandeln und daß gleichzeitig das Bildungsbürgertum mittelständischer wurde. Die im Bürgerkrieg 1918 zusammengebrochene Integration des finnischen Volkes wiederherzustellen, wurde für die junge finnischsprachige Intelligenz zu einem Problem. Gleichzeitig bemühte sie sich, ihre Stellung innerhalb der traditionellen Bildungsschicht zu festigen. Ein Lösungsmodell für beide Probleme bot die Schaffung einer starken nationalen Einmütigkeit. Im Mittelpunkt stand die Forderung nach Solidarität: zur finnischen Arbeits- und Landbevölkerung sollten Bindungen hergestellt werden. Es ist auch darauf hingewiesen worden, daß die verschiedensprachigen Bevölkerungsschichten in bezug auf ihre Ausbildung in einem ungleichen Wettbewerb standen. Der finnischsprachige akademische Nachwuchs sah sich in seinen Erwartungen enttäuscht, als die Hochschulbildung ihnen keinen sozialen Aufstieg garantierte. Der Stellenwettbewerb führte zu einer Polarisierung, vor allem da die Schwedischsprachigen offenbar von einer besseren Ausgangssituation profitieren konnten, sowohl was die Anzahl von Studienplätzen als auch sprachliche Bereitschaft anbelangt. Nach dem Studium fanden sie leichter eine Stelle auf dem Arbeitsmarkt und im Beamtenapparat. Die finnischsprachigen Studenten, die aus der Mittelschicht und vom Lande stammten, wollten es nicht glauben, daß das selbständige Finnland seine Anhänger auf diese Weise belohnte. Eine z. T. aus Unsicherheit sich nährende Unzufriedenheit, bei steigendem nationalen Selbstbewußtsein, mündete in einen immer schärfer werdenden Nationalismus.
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Die finnischnationalen Bewegungen hatten seit den zwanziger Jahren bis Ende der dreißiger Jahre beträchtlichen Einfluß auf die Nation und deren Jugend. Sie bildeten einen zentralen Bestandteil der finnischen Geschichte, bevor sie von der Hauptbühne der Nation verschwanden. Durch den Ausbruch des Winterkriegs im November 1939 wurden zwei das Volk trennende Widersprüche hinweggefegt: sowohl die Roten als auch die Weißen des Bürgerkrieges von 1918, sowohl die Schwedisch- wie auch die Finnischsprachigen ergriffen Seite an Seite die Waffen. Der Angriff einer Großmacht vereinte das Volk im Kampf und beseitigte eine Zeitlang die Klassen- und Sprachengegensätze.
Schweden im Aktionsfeld deutscher Nationalisten 1918-1945 Von Wolfgang Wilhelmus
Schweden fand in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in der Politik der europäischen Großmächte beträchtliche Beachtung. Zwar befand sich das Königreich nicht im Zentrum ihrer Auseinandersetzungen, doch seine geographische Position und seine Rohstofflager waren in ihren Auseinandersetzungen äußerst bedeutungsvoll. l Die deutsche Außenpolitik war besonders an der militärischen Sicherung der Nordflanke Deutschlands sowie an schwedische Rohstoffe und Güter interessiert. 2 Dabei kam ihr entgegen, daß die traditionellen Verbindungen, besonders die deutsch- schwedischen Kulturbeziehungen, sehr intensiv waren. Deutsche nationalistische und expansionistische Kreise versuchten dies, zeitlich unterschiedlich intensiv, für eine deutsch-schwedische Allianz gegen die Feindmächte zu nutzen. Im Juli 1895 schrieb Wilhelm 11. dem schwedischen Kronprinzen Gustav, daß er danach strebe, die germanischen Stämme zusammenzuschmieden. 3 In den folgenden Jahren versuchte Berlin, besonders angesichts der Auflösung der schwedisch-norwegischen Union (1905) und der englisch- russischen Annäherung, Schweden, unter Ausnutzung seines Gegensatz zu Rußland, zum Anschluß an den Dreibund zu bewegen. Besonders der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke, der enge verwandtschaftliche Beziehungen zu einflußreichen Kreisen in Nordeuropa hatte, setzte sich für eine aktive deutsche Schwedenpolitik ein. 4
1 AusfiihrIich dazu: Walther Hubatseh, Das deutsch- skandinavische Verhältnis im Rahmen der europäischen Großmachtpolitik 1890-1914, Phi\.Diss., Göttingen 1941.
2 Dazu: Yvonne Maria Werner, Svensk-tyska förbindelser kring sekelskiftet 1900- Politik och ekonomi vid tillkomsten av 1906 ars svensk-tyska handels- och sjöfartstraktat, Lund 1989, passim. J Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit, Stuttgart-Berlin 1931. S. 104 ff. 4 W.M. Carlgren, Neutralität oder Allianz- Deutschlands Beziehungen zu Schweden in den Anfangsjahren des ersten Weltkrieges, Stockholm 1962, S. 12 f.
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Wolfgang Wilhelmus
Am Vorabend des Weltkrieges bestanden in der deutschen Führung unterschiedliche Auffassungen über das Verhältnis zu Schweden. Während der Kaiser für eine aktive Politik eintrat, um Schweden für ein Bündnis oder eine Militärkonvention zu gewinnen, meinte Staatssekretär Gottlieb von Jagow vom Auswärtigen Amt, eine derartige Bindung würde den deutschen Interessen wenig nützen. 5 Der deutsche Gesandte in Stockholm, Franz von Reichenau, war schon im Januar 1911, als er unter Umgehung des Auswärtigen Amtes, durch Vermittlung der deutschstämmigen schwedischen Königin Viktoria, dem deutschen Monarchen im Januar 1911 für eine enge Bindung Schwedens an Deutschland zu gewinnen suchte, von seinen Dienstvorgesetzen darauf hingewiesen worden, daß seine Parteinahme sowohl für ihn selbst, wie für Deutschland eine Belastung werden könne. 6 Als Reichenau auch nach dem Kriegsausbruch 1914 den schwedischen Regierungskurs im deutschen Kriegsinteresse zu lenken suchte, verlangte der schwedische König seine Ablösung. 7 Die schwedische Neutralitätspolitik im Ersten Weltkrieg kam den deutschen Interessen zunächst entgegen, um angesichts der britischen Blockadepolitik den kriegswichtigen Handel mit Schweden zu sichern und unter allen Umständen eine englisch- russische Militärbrücke über Skandinavien und vereinte Flottenoperationen der Entente im Ostseeraum mit zu verhindern. Als sich aber im weiteren Vorlauf des Krieges mehr und mehr die Überlegenheit der Feindmächte abzeichnete, nahmen die deutschen Bemühungen zu, Schweden zur Teilnahme am Krieg gegen Rußland zu mobilisieren. Reichskanzler BethmannHollweg erklärte im Juli 1915: "Ein von den Deutschen unterstützter schwedischer Einfall in Finnland (das damals zu Rußland gehörte W.W.), in Verbindung mit dem Aufstand der Finnen, würde Rußland den Gnadenstoß geben" .8 Schwedens Regierung ging aber trotz aller deutschen Lockungen auf derartige Vorstellungen nicht ein, obwohl es einflußreiche Kräfte in Schweden gab, die diese Ambitionen unterstützten. 9 Andererseits konnte der zeitweilige deutsche Vizekanzler Karl Helfferich (1916/17) am Kriegsende feststellen: "Wir haben zwar nicht vermocht, die britische Seesperre zu brechen, aber Englands Versuch, auch die uns benachbarten Neutralen in das System seiner Blockade
, Carlgren, Neutralität, S. 19 ff. 6
Carlgren. Neutralität. S. 22 f.
7
Inger Schuberth, Schweden und das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg. Bann 1981. S. 40.
8
Carlgren, Neutralität, S. 140.
9
Schuberth, S. 59 ff.
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einzubeziehen ... ist trotz beispiellosen, von der Entente angewendet Druckes gescheitert. ,,10 Mit der deutschen Niederlage 1918 vollzog sich ein erneuter Wandel in den deutsch-schwedischen Beziehungen. lI Bereits am 6. Dezember 1918 meldete der deutsche Gesandte, Hellmuth Lucius von Stoedten aus Stockholm: "Stimmung hier Deutschland zu helfen. Habe deshalb auf die Not hingewiesen. Andererseits bin ich aber bemüht, doch die Verhältnisse bei uns nicht in zu ungünstigem Lichte erscheinen zu lassen, denn ich halte es für eine große Gefahr, wenn bei den Neutralen durch unsere sehr verständlichen Notrufe allmählich nur noch das Gefühl des Mitleids wachgerufen wird und wir nicht mehr als Machtfaktor respektiert werden. ,,12 Sowohl für Deutschland wie für Schweden war unmittelbar nach dem großen Krieg die Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen von besonderer Bedeutung. 13 Schwedisches Erz und deutsche Kohle sowie allerlei Halbprodukte und Fertigwaren standen im gegenseitigen Handelsinteresse. Die deutsche Außenpolitik versuchte nach 1918 darüber hinaus, zunächst zögernd, später nachdrücklicher, Schweden als Partner im Kampf gegen die Versailler Friedensbedingungen zu gewinnen. Den Vorschlag von Minister Matthias Erzberger, die neutralen Mächte zu ersuchen, zugunsten Deutschlands bei der Entente zu intervenieren, lehnte jedoch der neue deutsche Außenminister Ulrich von Brockdorff-Rantzau aus seiner genauen Kenntnis der skandinavischen Situation, als ehemaliger Gesandter in Kopenhagen, ab. 14 Die Anregung wurde zunächst nicht aktiv verfolgt, später jedoch wieder aufgegriffen. Am 23. August 1919 meldete der deutsche Gesandte in Stockholm: "Einem Militärbericht aus Kopenhagen entnehme ich, daß die Deutschfeindlichkeit in Dänemark, und zwar vom König angefangen, immer mehr zunimmt. ... Hieraus ergibt sich für mich die sehr ernste Aufgabe, noch in erhöhtem Maße wie bisher uns der wohlwol10 Karl Helfferich, Vom Kriegsausbruch bis zum uneingeschränkten U-Bootkrieg, Berlin 1919, S.217. 11 Dazu und weiter: Wolfgang Wilhelmus, Werbungen aus dem Süden. Zu den deutsch-schwedischen Beziehungen 1918 bis 1933, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), Berlin 1991, H.9, S. 869-887. 12 Reichsarchiv Stockholm ( folgend RA), Kopior ur Auswärtiges Amt, Vo1.42, Beziehungen zwischen Deutschland und Schweden, Bd.8, Lucius 6.12.1918 an AA.
13 Dazu: 0101 Ahlander, Staat, Wirtschaft und Handelspolitik- Schweden und Deutschland 19181921, Lund 1983, passim. 14 Udo Wengst, Graf Brockdorff-Rantzau und die außenpolitischen Anfänge der Weimarer Republik, FrankfurtlM.,1973, S. 72 f.
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lenden Haltung und Unterstützung Schwedens als des wohl einzigen von den skandinavischen Reichen, auf das wir uns noch verlassen können, zu versichern. ,,15 Aber die Führung der deutschen Außenpolitik blieb auch in den folgenden Jahren vorsichtig, zumal es auch im deutsch- schwedischen Verhältnis genügend Interessensunterschiede gab, so in Handelsfragen, in der Haltung zum Alandproblem und im Grenzkonflikt um Nordschleswig. 16 In einern Papier des Auswärtigen Amtes für das Auftreten seines Ministers im Auswärtigen Ausschuß des Reichstages hieß es im Juni 1926: "Bei den in den nächsten Jahren von Deutschland zu lösenden großen politischen Fragen (Abrüstung, Rheinland, Saargebiet, Verhältnis zu Polen, Minderheitsfrage, Revision des Dawes-Planes, Weltwirtschaftskonferenz), auf die die Völkerbundpolitik direkt oder indirekt Einfluß haben wird, wird es von entscheidener Bedeutung sein, auf welcher Seite die kleinen Mächte stehen. ,,17 Extrem nationalistische Kräfte in Deutschland versuchten in den Jahren der Weimarer Republik Schweden als Zufluchtsstätte- und Wirkungsfeld zu nutzen. Nach Schweden setzte sich nach dem Weltkrieg Erich Ludendorff, der ehemalige kaiserliche Generalstabschef und Gegner der neuen deutschen Republik, mit falschem Paß ab. In Dänemark und Schweden fand der erfolgreiche deutsche Kampfflieger Herrnann Göring Kontakte zu extremistischen Kreisen. 18 Nach dem gescheiterten Anschlag auf die Weimarer Republik flüchtete im April 1920 der Putschistenführer Wolfgang Kapp nach Schweden, wurde dort wegen Paßvergehens bald verhaftet, jedoch nicht ausgeliefert, bis er sich 1922 selbst der deutschen Justiz stellte. Schon zuvor war der Karl Liebknecht-Mörder Pflugk-Hartung in Schweden untergetaucht, wo er 1931 bei zweifelhaften Waffengeschäften ertappt und im Dezember 1931 aus Schweden verwiesen wurde. 19 Andere antirepublikanische Exponenten agitierten von Schweden aus gegen die Weimarer Republik. So wandte sich der sozialdemokratische Politiker Rudolf Breitscheid am 31.1anuar 1928 im Deutschen Reichstag gegen die 15 Bundesarchiv Koblenz-Abteilung Potsdam (folgend BA-P), Film 8536 P, Stockholm 23.8.1919.
16 In der Alandfrage ging es um die Besitzansprüche Schwedens und Finnlands an den AlandInseln, beim Schleswigkonflikt um die künftige deutsch-dänische Grenze. 17
Akten zur deutschen auswärtigen Politik (ADAP), Serie B, Bd.III, S. 313.
18
Björn Fontander, Göring och Sverige, Kristianstad 1984, S. l00ff.
19 BA-P, 25799/1, Reichsministerium des Innern, Politische Lage-Schweden, Bd.l, Rosenberg 20.2.,19.12.1931; Jan Peters, Branting und die schwedische Sozialdemokratie, Berlin 1975, S. 105.
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Verbreitung der Dolchstoßlegende durch Großadmiral Alfred von Tirpitz vor der Deutsch-Schwedischen Gesellschaft in Schweden. Tirpitz hatte behauptet, die deutsche Flotte sei im Herbst 1918 nur durch die deutschen Revolutionäre an einem entscheidenden Sieg über England gehindert worden. In der schwedischen Presse war sein Auftreten als Mißbrauch der Gastfreundschaft bezeichnet worden. 20 Versuche monarchistischer Kreise im Auswärtigen Amt, die Weimarer Republik lediglich als Episode zu betrachten, wofür die Hissung der schwarz-weiß-roten Fahne am deutschen Gesandtschaftsgebäude in Stockholm ein Symptom war, forderten energische Proteste in Deutschland und Schweden heraus. 21 Ein Instrument deutscher Extremisten für ihre expansive Nordeuropapolitik und zum Ausbau von Verbindungen zu gleichgesinnten Kräften in Skandinavien war schon frühzeitig die Propagierung des Mythos von der zur Vorherrschaft bestimmten nordischen Rasse. 22 Auf dieser Ebene traf sich 1922 Dietrich Eckart, einer der engsten Mitstreiter Hitlers und Herausgeber der NSDAPParteizeitung "Völkischer Beobachter", mit dem schwedischem Faschisten Birger Furugärd zusammen. Auch der maßgebliche deutsche Rassentheoretiker Prof. Hans Günther unterhielt direkte Kontakte zu Furugärd und machte ihn eingehend mit den Vorstellungen der NSDAP vertraut. 23 Die Schweden Sigurd und Gunnar Furugärd gründeten, nachdem sie in Deutschland mit Hitler zusammengetroffen waren, im Herbst 1923 den Schwedischen Nationalistischen Freiheitsverband, dessen Programm sich am NSDAP-Programm orientierte. Obwohl es in den folgenden Jahren mehrfach zu Parteisplitterungen in dieser schwedischen Rechtsextremistenbewegung kam, blieben enge Verbindungen zur deutschen NS-Prominenz, unter anderem zu Hitler, Goebbels, Hirnmler, Gregor Strasser und Joseph Terboven bestehen. 24 Eine andere, von Elof Erikson geführte nationalistische schwedische Gruppe erhielt Unterstützung von General Ludendorff und Julius Streicher. 25 Die Führer der 1926 gegründeten Schwedischen Faschistischen Kampforganisation 20
Schulthess. Europäischer Geschichtskalender, 1929, S. 48.
2\ Rudolf Nadolny, Mein Beitrag, Wiesbaden 1955, S. 83; RA, Kopior ur Auswärtiges Amt, Vol. 49, 1345, Büro des Reichskanzlers, Schweden Bd.l, 1923-1935, Stresemann 9.7.1925.
22 Ausführlich dazu: Hans-Jürgen Lutzhöjt, Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920-1940, Stuttgart 1971, passim. 23
Eric Wärenstam, Fascismen och nazismen i Sverige 1920-1940, Stockholm 1970, S. 32 ff.
24
Wärenstam, S. 38.
25
Wärenstam, S. 40 ff.
36 Timmermann
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Otto Hallgren und Sven Lindholm nahmen mehrfach an NSDAP-Parteitagen teil und trafen sich mit Hitler, Rosenberg, Goebbels, Streicher, Gregor Strasser und Gottfried Feder. Nach deutschem Muster bauten sie in Schweden Sturmabteilungen auf. Durch den bereits erwähnten Pflugk-Hartung erhielten sie Waffen. 26 Allerdings gelang es den teilweise auch revalisierenden, schwedischen faschistischen Organisationen niemals, Masseneinfluß zu erlangen. 27 Nach Hitlers Machtantritt im Januar 1933 versuchte die NS-Führung, offiziell an Ruhe im Norden interessiert, um die Aufrüstung ungestört vorantreiben zu können, die "Neuordnung" mit umfangreichen propagandistischen und finanziellen Mitteln sowie durch organisatorische Unterstützung der ihr nahestehenden Personen und Organisationen voranzutreiben. 28 Besonders das vom Alfred Rosenberg geführte Außenpolitische Amt der NSDAP (APA) versuchte die nordischen Völker als "Blut- und Schicksalsgemeinschaft zusammenzuführen". In einer Denkschrift vom 31. Januar 1934 über den Aufbau der Nordeuropaabteilung des APA schrieb der Kanzleichef Rosenbergs , Thilo v. Trotha, die skandinavischen Staaten befanden sich im wirtschaftlichen Abstieg. Schweden und Dänemark würden rot regiert, doch seien in beiden Ländern starke nationalsozialistische Strömungen festzustellen. Die innere Entwicklung in diesen Ländern dürfte deshalb ähnlich verlaufen wie in Deutschland. Dies abzuwarten und zugleich schon enge Bande zu knüpfen, ohne sich festzulegen, müßte deshalb die nächsten Aufgaben der deutschen Nordeuropapolitik sein. 29 Zur Durchsetzung solcher Ambitionen versuchte die NS-Führung den außenpolitischen Apparat, die Wirtschaft und alle deutschen Auslandsorganisationen einzuspannen. So schloß Alfred Rosenberg die bis dahin verdienstvoll im Sinne der deutsch-skandinavischen Zusammenarbeit tätigen Nordischen Gesellschaft dem APA an. 30 Auch Goebbels schaltete sein Reichspropagandaministerium massiv ein und ließ die Nordische Verbindungsstelle schaffen. Durch beträchtliche finanzielle Zuwendungen gelang es ihm, Einfluß auf mehrere kleinere schwedische Zeitungen zu erlangen. Die von Wilhelm Bohle geleitete Auslandsorganisation der NSDAP versuchte mit nur mäßigem Erfolg, mittels der Landesgruppe Schweden der NSDAP, die in Schweden lebenden sogenannten 26
Wärenstam, S. 54 ff.
27
Siehe dazu auch: UlfLindström, Fascism in Scandinavia 1920-1940, Stockholm 1985, passim.
28 Dazu und folgend: Klaus Winmann, Schwedens Wirtschafts-beziehungen zum Dritten Reich 1933-1945, München-Wien 1978, passim; Wolfgang Wilhelmus, Das faschistische Deutschland und Schweden 1933-1939, in: ZfG. 1983. H.ll. S. 968-981. 29
Hans-Dietrich Loock. Quisling. Rosenberg und Terboven. Stuttgart 1970. S. 170.
30
Loock. S. 161 ff.
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Reichsdeutschen für die NS-Bewegung zu mobilisieren und die deutsche Emigrantenszene in Schweden auszuspähen. 31 Als deshalb Anfang 1936 der Leiter der Landesgruppe Schweden der NSDAP aus Schweden verwiesen wurde und die deutschen Behörden dies mit der Ausweisung von drei Schweden beantworteten, darunter den Leiter der schwedischen Mannschaft für die Olympischen Spiele 1936 in Deutschland, kam es zu einer Auseinandersetzung auf höchster Ebene. Der schwedische König erklärte Anfang Februar 1936, bei einer Kurzvisite in Berlin, dem deutschen Außenminister v. Neurath, wenn die deutsche Regierung bei der Ausweisung der Schweden bleibe, könnte seine Regierung die Meldung zu den Olympischen Spielen zurückziehen. 32 Die Resultate der NS-Bemühungen blieben in den Vorkriegsjahren ziemlich gering in Schweden. Die überwiegende Mehrheit der Schweden und alle im schwedischen Reichstag vertretenen Parteien verhielten sich distanziert zum Hitler-Regime. Am 4. Februar 1934 berichtete der deutsche Gesandte Victor v. Wied aus Stockholm, die Mehrheit der schwedischen Presse übertreffe sich "in ihrer feindlichen Einstellung gegenüber Bitler und der Reichsregierung. 33 1935 stellte das Außenpolitische Amt fest: "Die skandinavischen Staaten für Deutschland zu gewinnen, erscheint als eine organische Notwendigkeit für die künftige deutsche Außenpolitik, aber auch als Notwendigkeit, um hier den deutschfeindlichen Ring zu verhindern. Politisch war das angesichts der marxistischen (sozialdemokratischen W. W .) Regierungen außerordentlich schwer. ,,34 Erfolglos blieben auch die Bemühungen der schwedischen Faschisten, mit großzügiger Unterstützung aus Deutschland, Masseneinfluß zu erlangen. Die Sveriges Nationalsocialistiska Parti hatte bei den schwedischen Reichstagswahlen im September 1932 lediglich 15 170 Stimmen erhalten. 3s Ohne ursächlichen Zusammenhang mit der Entwicklung in Deutschland war die Partei im Januar 1933 zerbrochen. Die darauf gegründete Nationalsocialistiska Arbetarparti konnte trotz ihrer starken Orientierung in Programmatik und Symbolik auf die deutsche NSDAP und direkte Kontakte zu Hitler, Himmler, Göring und Hess in den folgenden Jahren keinen wesentlichen Einfluß in Schweden gewin31 Ake Thulstrup, Med lock och pock- Tyska försök att paverka svensk opinion 1933-1945, Stockholm 1962, S. 235 ff. 32
Bundesarchiv Koblenz (folgend BK), Reichskanzler, R 43/11, 1493.
33
BA-P, Auswärtiges Amt, MinisterbÜTo, 60955, S. 5.
34 Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg (folgend IMT), Nürnberg 1947-1948, Bd.XXV, S. 19.
3S
36'
Wärenstamm, S. 97 f.
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nen. Bei den schwedischen Reichstagswahlen im September 1936 erhielt sie nur 17 483 Stimmen. Dieser Schock führte zur Umbenennung in Svensk Socialistik Samling und zu einer äußerlichen Distanzierung von der Symbolik der NSDAP. Eine andere faschistische schwedische Organisation erreichte bei diesen Wahlen sogar nur rund 3 000 Stimmen und blieb damit, ebenso wie weitere noch kleinere faschistische und ultranationalistische Gruppen fast bedeutungslos. 36 Während die schwedischen faschistischen Gruppierungen bei diesen Wahlen lediglich 41 100 Stimmen erhielten, erreichten die schwedischen Sozialdemokraten und auch die Kommunisten beträchtlichen Stimmengewinne. Im "Völkischen Beobachter", im "Angriff' und anderen nationalsozialistischen deutschen Zeitungen wurde darauf von einem "roten Sieg" und von einer wachsenden "marxistisch-demokratischen Woge" in Skandinavien gesprochen. 37 Am 5. Januar 1937 berichtete der deutsche Gesandte aus Stockholm über die abweisende Haltung der schwedischen Presse gegenüber Deutschland, "was seit dem 30. Januar 1933 in erster Linie auf die Judenfrage zurückzuführen sei. Hier konnte und wollte man nicht begreifen, daß die Gefahr des Bolschewismus in Deutschland wirklich so drohend war, und erst recht zweifelte man an der Tatsache, daß die geflihrlichen Bazillen der kommunistischen Pest unbedingt Juden sein müssen. Diese völlig abwegige Einstellung hat ihre Wurzeln im Hang zum Materialismus, den die stark jüdisch beeinflußte Presse sich weitgehend zu Nutze macht. Daher treten häufig so ganz ungermanische Äußerungen in Erscheinung, die mit diesem rein germanischen Volk nichts zu tun haben. ,,38 Da die deutsche Führung trotz des sich anreichernden Konfliktstoffes im deutsch-schwedischen Verhältnis, in der Phase ihrer aktiven Kriegsvorbereitung in Mitteleuropa weiterhin an Ruhe im nordeuropäischen Raum interessiert war und sich hier noch Bundesgenossen erhoffte, sprachen Hitler, Göring, Rosenberg, Hess und andere mit schwedischen Persönlichkeiten vom "wahrhaftigen Frieden zwischen gleichberechtigten Staaten in Europa" und von der "freundschaftlichen und verständnisvollen Zusammenarbeit mit den nordischen Staaten" .39 Die deutsche Besetzung Österreichs und der Sudetengebiete sowie die Ereignisse des Novemberpogroms 1938 ließen jedoch in Nordeuropa die Furcht von dem unberechenbaren südlichen Nachbarn weiter wachsen, hieß es im 36
Wärenstamm, S. fJ7 ff.
37
RA, UD, HP, CT I, Vol. 311, XLV, Wirsen 24.9.1936.
J8
BK, Reichskanzler, R 43, 11, 1493.
39
RA, HP, CT I, Vol. 310, XLIII, Wirsen 27.7.1937 an Außenminister Sandler.
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Jahresbericht 1938 der deutschen Gesandtschaft Stockholm. 40 Diese Furcht werde genährt durch eine Mißdeutung des von deutscher Seite propagierten "nordischen Gedankens", der häufig als ein Ausdruck expansionistischer deutscher Bestrebungen angesehen werde. 41 Der deutsche Militärattache meinte etwa gleichzeitig, daß in der schwedischen Öffentlichkeit und im Offizierskorps die Angst vor der deutschen Gefahr "tief und fest" sitze. 42 Diese Einschätzung wurde offenbar im Oberkommando der Wehrmacht geteilt, denn kurz danach gab sie das OKW an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda mit der Bitte um Unterstützung weiter. 43 Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges war deutlich erkennbar, daß es der deutschen Politik nicht gelungen war, Schweden für die "Neuordnung" Europas zu gewinnen. Vielmehr versuchte Schweden, seine traditionelle Neutralitätspolitik strikt fortzuführen. Diese lag, als am l.September 1939 der deutsche Angriff auf Polen begann, darauf die britisch-französische Kriegserklärung an Deutschland folgte und damit abzusehen war, daß sich der Krieg nach Westeuropa verlagern würde, zeitweilig auch im Interesse Berlins, um die Nordflanke freizuhalten und die kriegswichtigen Importe aus Nordeuropa zu sichern. Als gedeckt durch den deutsch- sowjetischen Angriffspakt der russische Angriff auf Finnland erfolgte und damit zu rechnen war, daß die Westmächte den sowjetisch-fmnischen Konflikt dazu ausnutzen würden ihre Positionen in Nordeuropa zu verstärken, erklärte Göring dem schwedischen Unterhändler Birger Dahlerus am 18.119.Dezember 1939, daß Schweden in einer schicksalhaften Phase seiner Geschichte stehe. Wenn Schweden bei England und Frankreich vor Rußland Schutz suche könne es nicht mit deutscher Hilfe rechnen. 44 Gleichzeitig wurde die offizielle und geheime deutsche Auslandspropaganda in Schweden verstärkt. Am 30. April 1940 berichtete der Chef der schwedischen Sicherheitspolizei seiner Regierung, daß etwa 100 Säcke mit deutschen Druckschriften von der schwedischen Zensur "zurückgehalten" werden. Im September 1940 wurde eine
40
Finnisches Staatsarchiv, Helsinki, 115, Bericht 16.1.1939.
41
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn (folgend PA), Pol.Abt. Schweden 1936-1940.
42 Bundesarchiv/Militärarchiv-Freiburg (folgend BA/MA), RW 61v 93, Uthmann 29.12.1938 an OKH.