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German Pages 232 [229] Year 1971
Die irische Nationalbewegung zwischen Parlament und Revolution
Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts Abhandlung der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität Köln Band 4
»Neunzehntes Jahrhundert« Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen Stiftung
Die irische Nationalbewegung zwischen Parlament und Revolution Der konstitutionelle Nationalismus in Irland
1880—1918
Peter Alter
R.OLDENBOURG • MÜNCHEN-WIEN 1971
© 1971. R. Oldenbourg, Mündben Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Redite, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speidierung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 UG zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Gesamtherstellung: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, München
ISBN 3-486-43431-4
Vorwort
Als im Frühjahr 1967 mit den Vorarbeiten für dieses Buch begonnen wurde, ließ sich nicht absehen, daß die politischen, sozialen und konfessionellen Probleme Irlands so bald wieder in den Blickpunkt des allgemeinen Interesses rücken werden. Mit dem anglo-irischen Vertrag von 1921, in dem Großbritannien Irland die Unabhängigkeit gewährte, schien die »Irische Frage«, die die Innenpolitik des Vereinigten Königreichs im 19. und beginnenden 20. J a h r hundert immer stärker belastet hatte, der Vergangenheit anzugehören. Irland rückte wieder in den Hintergrund des politischen Geschehens in Großbritannien und Europa. D e r heftige Widerstand, der sich 1921 und in den folgenden Jahren in Irland gegen den Ausgleich mit Großbritannien erhob, zeigte aber an, daß die Forderungen des irischen Nationalismus, der 1916 im Dubliner Osteraufstand seinen tragischen Höhepunkt erlebte, nur unzureichend erfüllt worden waren und daß die mit dem Schlagwort »Irische Frage« umschriebenen vielfältigen politischen, ökonomischen und konfessionellen Probleme Irlands nur teilweise eine befriedigende Lösung gefunden hatten. Die Bildung des Irischen Freistaates führte nämlich zur Teilung Irlands, da die nordöstlichen Gebiete der Insel, die sechs Grafschaften Antrim, Armagh, Londonderry, Down, Tyrone und Fermanagh, an den engen staatsrechtlichen Bindungen zu Großbritannien festhielten. Während der Freistaat seine politische Trennung von Großbritannien immer mehr betonte, sich 1949 zur Republik erklärte und aus dem Commonwealth ausschied, verblieb Nordirland, das überwiegend von Protestanten bewohnt ist, als Provinz mit Selbstverwaltung im britischen Staatsverband. In kompromißloser Abwehrhaltung zum Verlangen Südirlands nach einer Wiedervereinigung der beiden Landesteile erlebte Nordirland seit 1920/21 ein halbes Jahrhundert politischer und sozialer Stagnation, die neben dem scheinbar unüberwindbaren konfessionellen Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten erheblich dazu beitrug, die Provinz seit 1968 in eine permanente Krise zu stürzen. Durch die jüngsten Ereignisse in Nordirland hat die Beschäftigung mit der irischen Geschichte - und mit dem irischen Nationalismus im besonderen - unvermutet einen aktuellen Bezug bekommen. Es ist aber nicht die Absicht dieser Arbeit, eine historische Darstellung der Entwicklung zu geben, die den heutigen, überaus komplizierten Verhältnissen in Nordirland zugrunde liegt. Die Arbeit behandelt vielmehr eine wichtige Phase der irisdien Nationalbewegung in den entscheidenden Jahren seit 1880. Sie befaßt sich vornehmlich mit der Rolle der im Londoner Unterhaus vertretenen Irisdien Parlamentspartei und ihrem Anteil bei der Entstehung und Verbreitung eines nationalen Bewußtseins in Irland. 5
Diese Thematik vermag jedoch einige Hinweise zum Verständnis der heutigen Probleme Nordirlands zu geben, denn erst die von der Mehrheit des Volkes unterstützte Forderung nach dem irischen Nationalstaat machte sichtbar, daß Irland nur in geographischer Hinsicht eine Einheit bildete. Spätestens seit 1880, seit dem Auftreten der von Charles Stewart Parnell geführten national-irisdien Parlamentspartei, ließ sich eine Polarisierung der politischen Vorstellungen zwischen N o r d - und Südirland beobachten. In diesen Jahren setzte eine politische Entwicklung ein, die 1920/21 zur Teilung Irlands führte, da die Einbeziehung der sich ihrer konfessionellen und ethnischen Sonderstellung bewußten Bevölkerungsmehrheit Nordirlands in den Irischen Freistaat nur um den Preis eines Bürgerkrieges zwischen N o r d und Süd, zwischen katholischen Iren und protestantischen Anglo-Iren, zu erreichen gewesen wäre. An dieser Stelle möchte ich allen herzlich danken, die durch ihre H i l f e und Unterstützung die Abfassung der Arbeit ermöglichten. Mein besonderer D a n k gilt meinem verehrten Lehrer, H e r r n Professor D r . T h . Schieder, der mein Interesse auf die mit den nationalen Bewegungen in Europa verbundenen Probleme lenkte, der die Arbeit durch R a t und T a t beständig förderte und ihre Veröffentlichung in der von ihm herausgegebenen Reihe ermöglichte. Für wertvolle Anregungen und Hinweise bin ich auch H e r r n Professor K e v i n B . N o w l a n , M . A., Ph. D . (Cantab.), vom University College Dublin verpflichtet, von dessen ermunternder K r i t i k die Entstehung der Arbeit stets begleitet wurde. Danken möchte ich ferner der Fritz Thyssen Stiftung für die Förderung bei den notwendigen Archivaufenthalten und beim Drude dieser Arbeit. Freundliche Unterstützung gewährten mir bereitwillig das State Paper Office in Dublin, das Public Record Office in London, die National Library o f Ireland, die Bibliothek von Trinity College Dublin, die Bodleian Library in O x f o r d , die Bibliothek des Britischen Museums und die Universitäts- und Stadtbibliothek K ö l n . Für ihre großzügige Gastfreundschaft und Förderung während meines Studienjahres an der Universität Oxford, in dem die Arbeit fertiggestellt werden konnte, danke ich auch dem Präsidenten und den Fellows von Corpus Christi College und der Michael-Wills-Stiftung. Köln, im August 1970 Peter
6
Alter
Inhalt
Vorwort
5
Einleitung
11
1. Entstehung und Geschichte der Irischen Parlamentspartei
21
1. Die irische Vertretung im Unterhaus nach der Union mit Großbritannien
21
2. Die Ursachen für das Fehlen einer national-irischen Partei im Unterhaus bis 1870
27
a) Die soziale Gliederung der irischen Bevölkerung
27
b) Das Wahlrecht
31
c) Die soziale Zusammensetzung der irischen Abgeordneten 1800-1870
33
3. Die Home-Rule-Bewegung
35
4. Die Irische Parlamentspartei unter Charles S. Parnell, 1880-90 .
.
44
a) Die Große Depression und die radikalen irischen Organisationen um 1880: Landliga, Irish Republican Brotherhood und die amerikanischen Iren
44
b) Die New Departure und die allgemeinen Wahlen von 1880
50
.
c) Der Beginn der Zusammenarbeit mit der Liberalen Partei Großbritanniens
53
d) Die Organisation der Partei und die Wahlrechtsreformen von 1884/85
60
e) Gladstones erste Home-Rule-Vorlage
62
5. Die Phase der parteiinternen Auseinandersetzungen, 1890-1900 .
.
64
6. Die Irische Parlamentspartei unter John Redmond, 1900-1918 . . a) Die Auseinandersetzungen über die künftige Parteipolitik . . .
69 69
b) Partei und Nationalismus in den Jahren 1912-1916 11. Der Beitrag der Irischen Parlamentspartei zur Verbreitung tiefung des modernen irischen Nationalbewußtseins
71 und
Ver76
1. Die Hilfsorganisation der Partei in Irland, 1882-90
78
a) Gründung, Programm und Organisation der Irish National League
7
78
b) Die Entwicklung der Irish National League
87
c) Die Irish National League of America und die Irish National League of Great Britain
99
2. Die Tätigkeit der Irish National League: die soziale Agitation .
.
a) Die wirtschaftliche Struktur der Grafschaft Cork
103 103
.
106
c) Der Boykott als Waffe in der politischen und sozialen Auseinandersetzung mit den Grundbesitzern
b) Die Ortsvereine der National League in der Grafschaft Cork .
108
d) Die Durchführung des Boykotts
111
e) Die sozialen Hilfsmaßnahmen der National League für die Pächter
123
f) Die >Gerichte< der National League
124
3. Die Tätigkeit der Irish National League: die politische Agitation a) Die >Nationalisierung< der irischen Kommunal Verwaltung .
.
.
127 127
b) Die Durchführung von Unterhauswahlen
138
c) Die Massenkundgebungen der Irish National League . . . .
149
4. Die Nachfolgeorganisationen der Irish National League . . . .
152
III. Mittel der nationalen
Integration
155
1. Die nationalistische Presse
155
2. Die Symbole der Irischen Parlamentspartei
168
IV. Nationalismus 1891-1918
und sozialer Wandel in Irland in der Zeit nach Parnell, 181
1. Das Verhältnis der Irisdien Parlamentspartei zu den Bewegungen des gälischen Nationalismus
183
2. Soziale Reformen und Nationalismus in Irland seit 1881 . 3. Die Irische Parlamentspartei und die Arbeiterbewegung Exkurs: Die soziale Zusammensetzung der Parlamentspartei
und
.
.
. . . .
.
196 203
Finanzierung 209
Literaturverzeichnis
215
Register
227
8
Verzeichnis der Abkürzungen
C. D. H. Cork Daily Herald C. E.
Cork Examiner
EHR
English Historical Review
F. J.
Freeman's Journal
HZ
Historische Zeitschrift
IHS
Irish Historical Studies
I. R. B.
Irish Republican Brotherhood
NL
Nachlaß
P. R. O. Public Record Office London SPO
State Paper Office Dublin
U. I.
United Ireland
Die südwestlichen Grafschaften Irlands
Einleitung
V o n der neueren deutschen N a t i o n a l i s m u s f o r s c h u n g ist I r l a n d bisher nicht in den U m k r e i s ihrer Untersuchungen einbezogen worden. Diese Vernachlässigung ist gerade deshalb u m so a u f f a l l e n d e r , als I r l a n d f ü r Westeuropa in mancherlei H i n sicht einen S o n d e r f a l l darstellt, der vielfältige Parallelen zu den Verhältnissen in Mittel- u n d O s t e u r o p a a u f w e i s t , die ein näheres Eingehen a u f den irischen N a tionalismus, v o r allem bei Z u g r u n d e l e g u n g k o m p a r a t i v e r Betrachtungsweisen, lohnend erscheinen lassen. G a n z allgemein ist festzustellen, d a ß der irische N a tionalismus aus dem sonst in Westeuropa z u beobachtenden R a h m e n h e r a u s f ä l l t und eher dem sezessionistisdien N a t i o n a l i s m u s zuzuredinen ist, der v o r allem f ü r Ostmitteleuropa w ä h r e n d der - chronologisch und typologisch betrachtet dritten Phase der europäischen N a t i o n a l - u n d N a t i o n a l s t a a t s b e w e g u n g e n kennzeichnend ist. 1 Wie die N a t i o n e n Ostmitteleuropas, von den Serben u n d R u m ä nen über Tschechen und P o l e n bis z u den Esten u n d Finnen, versuchten sich die Iren aus einem großen dynastischen Reichsgebilde herauszulösen u n d den eigenen nationalen S t a a t nicht durch Zusammenschluß getrennter Teile, wie die D e u t schen u n d Italiener, sondern durch Abtrennung, durch Sezession, zu v e r w i r k lichen. D a s politische Bewußtsein dieser N a t i o n e n w u r d e g e p r ä g t durch die G e g nerschaft zum bestehenden S t a a t . 2 D i e politische V o r a u s s e t z u n g d a f ü r , d a ß in I r l a n d wie in O s t m i t t e l e u r o p a ein sezessionistisdier N a t i o n a l i s m u s entstehen konnte, w a r die v e r f a s s u n g s m ä ß i g e Verschmelzung Großbritanniens u n d I r l a n d s seit dem 1. J a n u a r 1801 in einer R e a l u n i o n , dem »Vereinigten Königreich v o n Großbritannien u n d I r l a n d « . Durch die U n i o n w u r d e die britische Innenpolitik im 19. und beginnenden 20. J a h r hundert mit Problemen belastet, die schon früh mit dem S c h l a g w o r t »Irische F r a g e « umschrieben wurden. 3 »Irische F r a g e « ist dabei gleichsam als A b b r e v i a t u r zu verstehen f ü r die G e s a m t h e i t der Schwierigkeiten, die dem britischen Reichsgebilde durch die besonderen wirtschaftlich-sozialen, konfessionellen und politischen Verhältnisse in I r l a n d u n d durch die aus ihnen resultierende, praktisch nie abreißende T ä t i g k e i t zahlreicher O r g a n i s a t i o n e n des irischen N a t i o n a l i s m u s erwuchsen. D i e meist recht v a g e Erinnerung an eine irische Eigenstaatlichkeit und
1
2 3
Vgl. dazu Theodor Schieder, Der Nationalstaat in Europa als historisches Phänomen, Köln und Opladen 1964, S. 16 f., und ders., »Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaats in Europa«, H Z 202 (1966), S. 58-81. Sdiieder, »Typologie und Erscheinungsformen«, S. 64. Vgl. dazu die Bücher von Nicholas Mansergh, The Irish Question 1840-1921, London 2 1965 und Lawrence J . McCaffrey, The Irish Question 1800-1922, Lexington 1968, sowie Kap. I "The Irish Question" in Lewis P. Curtis, Coercion and Conciliation in Ireland, 1880-1892, Princeton und London 1963, S. 1-14. 11
hochstehende Kultur in einer fernen Vergangenheit blieb außerdem während der Union genügend lebendig, um ähnlich wie bei den Tschechen politisch bedeutsam zu werden und als ständiges Stimulans für den Nationalismus zu wirken. 4 Ein britisches Staatsbewußtsein, ein Gefühl politischer Zusammengehörigkeit als Bürger des Vereinigten Königsreichs entwickelte sich in der Masse des katholischen irischen Volkes nur sehr schwach oder gar nicht. Die Union von 1801 war in einer Zeit großer äußerer Bedrohung durch das napoleonische Frankreich und unter dem Eindruck des Aufstandes der United Irishmen (1798) auf Betreiben des britischen Premierministers William Pitt zustande gekommen. Sie wurde in Irland von Anfang an als etwas Erzwungenes und Fremdes empfunden, da sie die eigenständige politische Existenz unterdrückte, die nationalen Überlieferungen zerstörte und als die Ursache für die wirtschaftlichen Mißstände und politischen Spannungen der Folgezeit betrachtet wurde. Die logische Lösung der »Irischen Frage« hätte, zumindest in den Augen der meisten Iren, in der freiwilligen Konzession Großbritanniens gelegen, die Union wieder aufzulösen und Irland seine Angelegenheiten selbst regeln zu lassen, das heißt, dem Land entweder als Minimallösung einen Autonomiestatus innerhalb des Vereinigten Königreichs oder als Maximallösung die völlige Unabhängigkeit zu geben. Oder anders ausgedrückt, denn von englischer Seite ist eine ernst zu nehmende und erfolgversprechende Initiative in dieser Richtung während des 19. Jahrhunderts nur einmal in den Jahren 1885/86 ausgegangen: Wollte Irland zur Verwirklichung des eigenen nationalen Staates gelangen, mußte es sich aus dem Rahmen des Vereinigten Königreichs lösen oder diesen Rahmen in einer Zwischenstufe zumindest lockern. Für die Verfolgung des nationalen Ziels boten sich dabei prinzipiell zwei Wege an. Einmal der Weg der Verhandlungen mit Großbritannien, das heißt die bewußte Beschränkung auf legale Mittel im Rahmen der bestehenden Verfassungsordnung unter Ausklammerung revolutionärer Maßnahmen. Diese konstitutionelle Linie des irischen Nationalismus, die die Zugehörigkeit Irlands zur britischen Krone nicht in Frage stellte, fand ihre Verkörperung seit Daniel O'Connell (1775-1847) in einer Reihe bedeutender parlamentarischer Führer. Der andere Weg war die Anwendung revolutionärer Gewalt, die sich mit dem Hinweis auf das übergeordnete Ziel einer unabhängigen irischen Republik rechtfertigte. Beide Wege, der konstitutionelle und der revolutionäre, wurden während der Union versucht. Diese Versuche ließen einen Nationalismus entstehen, der sidi in mannigfachen Ausprägungen und unterschiedlicher Intensität während des ganzen 19. und frühen 20. Jahrhunderts in der irischen Geschichte verfolgen läßt und dessen Ergebnis 1922 der Irische Freistaat (Saorstdt Eireann) im Verband des britischen Commonwealth war. Am 19. April 1949 erklärte sich der Freistaat schließlich zur Republik und schied aus dem Commonwealth aus.5 Damit waren die letzten staatsrechtlichen Bindungen des irisdien Nationalstaates zu Großbritannien aufgehoben. 4
5
Dazu Michael Tierney, "Origin and Growth of Modern Irish Nationalism", Studies. An Irish Quarterly Review 30 (1941), S. 321-36. Seit der Verfassung von 1937 ist die Staatsbezeidinung Eire bzw. Ireland (Bunreadit na hEireann. Constitution of Ireland, Dublin 1951, Art. 4).
12
Eine der bedeutendsten Erscheinungsformen des sezessionistischen Nationalismus in Irland stellte die in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts entstandene Irische Parlamentspartei (Irish Parliamentary Party) dar®, die auf konstitutionellem Wege für Irland einen Autonomiestatus (Home Rule) durchsetzen wollte. Durch die besondere staatsrechtliche Situation Irlands im Rahmen des Vereinigten Königreichs7 nahm die Parlamentspartei zwischen Irland und Großbritannien eine eigentümliche Position ein. Nicht nur geographisch gesehen mußte sie auf zwei verschiedenen Schauplätzen handeln: in Irland und in Westminster. Diese Zwischenstellung schuf die Möglichkeit, daß Einflüsse von verschiedenen Seiten und gegensätzlicher Richtung auf die Partei einwirken konnten. In Irland waren das vor allem radikale, separatistische und sozial-revolutionäre, in Großbritannien konservativ-mäßigende Einflüsse. Drängten in Irland die Pächter, die Angehörigen der geheimen Irish Republican Brotherhood (I. R. B.), die Hilfsorganisationen der Partei und in den USA die irischen Emigranten auf einen radikalen Kurs der Partei, so wirkten diesen Tendenzen auf der anderen Seite der katholische irische Klerus, der Aufenthalt in Westminster, die Zusammenarbeit mit der Li beralen Partei Großbritanniens und die durch die politische Arbeit im Unterhaus erwachsende Kompromißbereitschaft der irischen Abgeordneten entgegen.8 Diese verschiedenen Interessen und Einflußnahmen mußte die Partei integrieren, was ihr aber nie vollständig gelang und ihr den Konflikt zwischen der eigenen vorsichtigen Taktik auf der Basis eines im Grunde genommen gemäßigten Katalogs von Forderungen im Unterhaus und den weitergehenden nationalen Wünschen in Irland nicht ersparte. Revolutionäre Inspiration und konstitutionelle Parlamentspolitik konnten nur in Ausnahmefällen nahtlos und widerspruchslos miteinander vereint werden. Für den neutralen Beobachter haftet der Partei daher vor allem in der Parnell-Ära (1880-90) etwas Zwiespältiges und Doppeldeutiges an, das sich auf eine Kluft zwischen dem Verhalten der Partei in Großbritannien und in Irland reduzieren läßt. Verallgemeinernd kann man sagen, daß die Partei mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung beider Inseln eine Politik mit doppeltem Boden betrieb, indem sie in Irland notwendigerweise eine revolutionäre Linie verfolgte, in Westminster hingegen, von der Substanz her gesehen, eine konstitutionelle. 9 Im Verkehr mit englischen Politikern und vor englischen Auditorien gab sie sich loyaler und gemäßigter als sie vielleicht in Wirklichkeit war, besonders in der Zeit der engen Allianz mit den englischen Liberalen. Bei Auftritten vor irisdien Zuhörern und besonders vor Versammlungen amerikanischer Iren, deren finanzielle Hilfe f ü r 4
Neben dieser offiziellen waren die folgenden Bezeichnungen gebräuchlich: Irish Party, Nationalist Party, Parliamentary Party, The Party, The Nationalists, Home Rule Party, Home Rulers.
? Siehe unten S. 25 f. 8 Vgl. Conor Cruise O'Brien, Parnell and his Party, 1880-90, Oxford 21964, S.9, und P. S. O'Hegarty, A History of Ireland under the Union, 1801-1922, London 1952, S. 675. • Auf den janushaften Charakter der Partei unter Parnell hat jetzt auch F. S. L. Lyons hingewiesen, ohne allerdings auf die politische Tätigkeit der Partei in Irland näher einzugehen ("The Two Faces of Home Rule" in K. B. Nowlan, ed., The Making of 1916. Studies in the History of the Rising, Dublin 1969, S. 99-124). 13
die Partei unentbehrlich war, schlugen die Repräsentanten der Partei einen ganz anderen Ton an. Wollte die Partei deren Unterstützung nicht verlieren, mußte sie eine halb-revolutionäre, kompromißlose Haltung vertreten, die mehr oder minder erkennen ließ, daß die Partei letzten Endes nicht auf einen Home-RuleStatus hinarbeitete, sondern auf die Erringung der vollen Unabhängigkeit Irlands.10 Ihr kam dabei zustatten, daß der Begriff 'Home Rule' dehnbar war und leicht eine Interpretation zuließ, die über den Tatbestand einer beschränkten Autonomie hinausging. Die Rede des irischen Abgeordneten John Redmond vom 21. November 1882 in der Stadt Cork und die berühmte Rede Parnells vom Januar 1885, ebenfalls in Cork gehalten, sind charakteristische Beispiele für diese doppeldeutige Politik der Partei. Während Parnell mit dem britischen Premierminister Gladstone ein gegenseitiges Entgegenkommen in strittigen Fragen vereinbarte, das sogenannte Kilmainham-Abkommen abschloß11, und eine Politik des do ut des einleitete, erklärte Redmond öffentlich: "The only weapons I believe in for regaining Ireland's independence, is the sword, and a revolution. A revolution will come."12 Als sich Parnell schon längst auf eine konstitutionelle Politik festgelegt hatte, hielt er 1885 eine Rede, die nicht nur seine letzten Ziele völlig offen ließ, sondern die in dem in ihr zum Ausdruck kommenden Streben nach völliger nationaler Unabhängigkeit weit über das hinausging, was die Partei bis dahin öffentlich gefordert hatte und vom I.ondoner Reichsparlament als Konzession je erhoffen konnte: No man has the right to fix the boundary to the march of a nation. No man has a right to say to his country, 'Thus far shalt thou go and no further,' and we have never attempted to fix the ne plus ultra to the progress of Ireland's nationhood, and we never shall.13 Im Jahre 1881 brachten Parnells extremistische Äußerungen Gladstone zu der Überzeugung, die irischen Nationalisten wollten das neue Landgesetz für Irland sabotieren. Parnell wurde daraufhin im Oktober 1881 verhaftet.14 Zu extremistischen Äußerungen und obstruktivem Gebaren wurden in dieser Zeit auch die Sitzungen des Unterhauses benutzt, da sie den irischen Provokationen die größtmögliche Publizität gewährleisteten.
Vgl. O'Brien: "Parnell's utterances generally tended to become fairly moderate when parliament was sitting; during the recess, however, addressing audiences in Ireland, his language was much stronger" (Parnell and his Party, S. 71). " Vgl. unten S. 56.
10
12 SPO, Chief Secretary's Office, Registered Papers (S.W.Division), Nr. 1 9 5 7 6 / 1 8 8 3 . Mit Rücksicht auf die geltenden Ausnahmegesetze ließ das nationalistische Lokalblatt The Cork Examiner diesen Teil der Rede in seiner Berichterstattung aus (vgl. C. E. 22. 11. 1882). 13 C. E . 22. 1 . 1 8 8 5 . Abgedruckt auch in Edmund Curtis and R . B. McDowell (eds.), Irish Historical Documents 1 1 7 2 - 1 9 2 2 , London 1943 (Neudruck 1968), S . 2 8 3 . 14 Vgl. O'Brien, S. 71 f.; J. L. Hammond, Gladstone and the Irish Nation, London 2 1964, S. 2 5 0 ; Andrew J. Kettle, The Material for Victory, Dublin 1958, S. 54, und unten S. 55. Auch die meisten anderen irisdien Abgeordneten mußten in den 1880er Jahren wegen aufwieglerischer Reden Gefängnisstrafen antreten.
14
Die Partei bewegte sich folglich zwischen den Polen eines oft schrankenlos scheinenden Nationalismus, für den ein Home-Rule-Status allenfalls eine Übergangslösung darstellte, und einer latenten Kompromißbereitschaft auf parlamentarischer Ebene, die Großbritannien die Gewährung eines Home-Rule-Status für Irland psychologisch erleichtern sollte. Traf sie Entscheidungen, die unzweifelhaft Ausdruck einer gemäßigten Politik waren, sah sie sich stets genötigt, die Realität hinter einem Schleier aggressiver nationaler oder sozial-revolutionärer Rhetorik zu verbergen, um die Einheitlichkeit der nationalen Bewegung in Irland zu bewahren. Das Jahr 1881 bietet in dieser Hinsicht, vor allem während der parlamentarischen Behandlung des Landgesetzes, einprägsame Beispiele. 15 Das fortwährende Anfachen nationaler Emotionen, für das auch die Parteipresse mit dem Wochenblatt United Ireland an der Spitze hinreichend Anschauungsmaterial liefert, korrespondierte somit allenfalls zu bestimmten Gelegenheiten zwischen 1880 und 1882 mit einem entsprechend konsequenten Verhalten der Partei im Unterhaus. 16 Danach sind die beiden Verhaltensweisen der Partei objektiv betrachtet nur noch selten zur Deckung zu bringen. Eine im allgemeinen weiterhin aggressive Rhetorik in Irland stand nun im Widerspruch mit einem gemäßigten und kompromißbereiten Verhalten im Unterhaus. 17 Angesichts dieser Widersprüchlichkeiten im Erscheinungsbild der Partei, das beherrscht wurde von der Radikalität ihrer Propaganda, ist es nicht verwunderlich, daß Charles Stewart Parnell, der Parteivorsitzende von 1880 bis 1890, in der irisdien, vor allem aber in der englischen Öffentlichkeit als Revolutionär galt. 1 8 Das besitzende Bürgertum in Großbritannien wurde nicht nur durch die politischen Morde und Sprengstoffanschläge auf öffentliche Gebäude in Großbritannien, die von extremistischen, parteiunabhängigen Gruppen Anfang der 1880er Jahre ausgeführt wurden 19 , sondern auch durch die nachdrüdklich erhobene Forderung der Partei, die bestehenden Eigentumsverhältnisse in Irland grundlegend zu ändern und die Pächter zu Eigentümern des Bodens zu machen, in dieser Meinung nur noch bestärkt. An den Maßstäben des viktorianischen Zeitalters gemessen, verkündete eine solche Forderung, die die alten Privilegien der Besitzenden gefährdete, die soziale Revolution. Die Nachrichten, die über die Auseinandersetzung zwischen Grundbesitzern und nationalistischen Pächtern in 15
Vgl. O'Brien, S. 71 f., und F. S. L. Lyons, John Dillon. A Biography, London 1968, S. 51. Von Parnell wurde das Landgesetz als unzureichend abgelehnt. E r unternahm aber nichts, um die Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern. Der Sdilußabstimmung entzog er sich durch parlamentswidriges Verhalten, das ihn von weiteren Sitzungen des Unterhauses ausschloß.
16
Im Januar 1881 wurden beispielsweise 36 irische Abgeordnete inmitten "indescribable confusion" wegen Obstruktion und ungebührlichen Betragens mit Gewalt aus dem Unterhaus entfernt (vgl. Lyons, S . 4 4 ) . Vgl. dazu das Urteil O'Briens: "Parnell directed a movement of revolutionary inspiration, from within a relatively conservative and constitutional p a r t y " (Parnell and his Party, S . 9 f . ) . Vgl. Justin McCarthy and Mrs. Campbell Praed, Our Book of Memories, London 1912, S . 2 4 und S. 123, und R. Barry O'Brien, The Life of Charles Stewart Parnell 1 8 4 6 - 1 8 9 1 , London 31899, Bd. II, S. 6. Darüber Tom Corfe, The Phoenix Park Murders, London 1968, passim; Hammond, S. 283 ff., und Frank H. O'Donnell, A History of the Irish Parliamentary Party, London 1910, Bd. II, S. 197.
17
18
19
15
Irland nach Großbritannien kamen20, vermittelten ohnehin bereits ein Bild der Anarchie.21 Nüchtern urteilenden Iren und Engländern galt Parnell hingegen als gemäßigter Nationalist mit im Grunde konservativen politischen Anschauungen.22 Bezeichnenderweise hat es eine enge Zusammenarbeit Parnells mit der I. R. B., die die Verkörperung des revolutionär-separatistischen Extrems in Irland darstellte, nach der bisherigen Kenntnis der Parteigeschichte, außer in den Jahren 1879-81, nicht gegeben. Ein Mann wie der Gründer der I. R. B., James Stephens, stand zu Parnell in einem sehr kritisdien Verhältnis.23 Der Historiker P. S. O'Hegarty, der ein Mitglied des Supreme Council der I. R. B. war, erkennt denn auch Parnell jeglichen revolutionären Anspruch ab, wenn er urteilt: " H e (Parnell) was a constitutional leader, keeping strictly within the constitutional framework." 24 Zu diesem Urteil kommt auch die neuere Forschung, wenn etwa C. C. O'Brien Parnell als konservativen Nationalisten charakterisiert, dessen Persönlichkeit allerdings - und das stützt unsere These - vom Bild des revolutionären Nationalisten überschattet ist.25 Daß die Partei an dem Widerspruch und den Spannungen zwischen revolutionär-nationaler Theorie und konstitutioneller Praxis, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, nicht zerbrach, ist das Verdienst Parnells. Ihm gelang es, die Gegensätzlichkeiten einer solchen Politik, die sich zwangsläufig ergaben, in der Schwebe zu halten und sie mit der spezifischen irischen Situation zu rechtfertigen, in der eine gradlinige Politik wenig Nutzen zu versprechen schien. Ein tatsächliches oder scheinbares Überwiegen der einen oder anderen Komponente dieser doppelgleisigen Politik, so etwa Anfang der 1880er Jahre der revolutionären und an deren Ende der gemäßigten28, waren danach aus der Tagespolitik sich ergebende Notwendigkeiten. Somit wird deutlich, daß die Verfolgung einer konstitutionellen Politik im britischen Unterhaus, die auf die Gewährung einer irischen Autonomie durch einen legislativen Akt des Unterhauses abzielte, und die gleichzeitige Vertretung einer revolutionär-nationalen Theorie in Irland letzten Endes nur zwei Aspekte ein und derselben Politik waren. Sie sind also nicht als alternative Möglichkeiten zu betrachten, denn es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die sich daraus ergebende Doppelbödigkeit im Erscheinungsbild der Partei, die für die Zeitgenossen ihre Festlegung auf eine klare politische Linie so schwierig machte, von Parnell als wirkungsvolles Instrument politischer Tak Vgl. unten S. 108 ff. Die Termini >Nationalist< und >nationalistischAußenpolitik der Partei erforscht, die parteiinternen Verhältnisse und die straffe Organisation, die notwendig war, wollte sich die Partei als Minderheit im Parlament überhaupt Geltung verschaffen und nicht der Gefahr aussetzen, von der Mehrheit aufgesogen zu werden. 27
Vgl. Michael MacDonagh, The Home Rule Movement, Dublin und London 1920, S. 114.
28
86 von 670 Abgeordneten.
29
Vgl. dazu die Rede des irischen Abgeordneten und späteren Parteivorsitzenden John Redmond in C o r k : "As representatives pure and simple the Irish members have no power and no influence. Their votes are overpowered by the votes of members who are ignorant of Irish wants and hostile to Irish aspirations. But . . . for the simple reason that they have the people of the whole nation behind them, they are a power in the House of Commons" (C. E. 22. 11. 1882).
30
Die grundlegenden Arbeiten über die Partei sind die Büdier von C. C. O'Brien, a . a . O . ; F. S. L. Lyons, The Fall of Parnell 1 8 9 0 - 9 1 , London 2 1 9 6 2 und ders., The Irish Parliamentary Party, 1 8 9 0 - 1 9 1 0 , London 1951. In ihnen finden sich auch Bibliographien der älteren Literatur.
17
Dagegen fehlt es weitgehend an Untersuchungen über die >Innenpolitik< der Partei, über ihr Auftreten und ihre politische Tätigkeit in Irland, das heißt, über ihre radikale Basis, die eine Politik des Kompromisses in Zusammenarbeit mit den englischen Liberalen überhaupt erst ermöglichte. Bei der Beschäftigung mit der verfassungspolitischen Bedeutung der Irischen Partei für das Vereinigte Königreich, der sich die Forschung primär gewidmet hat, traten diese Gesichtspunkte zu Recht in den Hintergrund des Interesses. Betrachtet man aber die Politik der Partei unter Parnell als Ganzes und unterstellt man, daß die dabei zu beobachtenden Widersprüche und die Doppelbödigkeit ihres Verhaltens eine essentielle Voraussetzung für ihre erfolgreiche Politik sowohl im Unterhaus als auch in Irland bildeten, dann stellt sich mit Notwendigkeit die Frage nach der Art und Weise, in der die Partei die revolutionär-nationale Komponente ihrer Politik in Irland zur Geltung brachte und damit auf den Prozeß der politisch-nationalen Bewußtseinsbildung der Bevölkerung einen entscheidenden Einfluß nahm. Diese Lücke in der Erforschung der Parteigeschichte versucht die vorliegende Arbeit zu füllen. Sie wird sich in ihrem Hauptteil mit der politischen Tätigkeit der Partei in Irland beschäftigen und anhand dieser Untersuchung Hinweise zu geben versuchen auf die Bedeutung der Partei für die Verbreitung und Festigung des modernen irisdien Nationalbewußtseins. 31 Methodisch soll dabei im wesentlichen so vorgegangen werden, daß die Aktivität der Partei exemplarisch in einem regional begrenzten Gebiet über einen längeren Zeitraum verfolgt wird. Eine Modellstudie über die praktische Arbeit der Partei auf lokaler Ebene scheint wohl am ehesten dazu geeignet, greifbare Ergebnisse im Sinne der obigen Fragestellung zu liefern. Als Gebiet wurde für diese Untersuchung die Grafschaft Cork gewählt. Die zeitliche Begrenzung soll das Jahrzehnt von 1880 bis 1890 geben, in dem Parnell der Vorsitzende der Irisdien Partei war. Eine Untersuchung über den Beitrag der Partei zur Verbreitung eines Nationalbewußtseins in breiten Schichten des irisdien Volkes scheint außerdem angebracht, da, obwohl fast 40 Jahre lang die wichtigste politische Organisation Irlands, die Bedeutung der Partei in dieser Hinsicht im Schatten der später entstandenen Bewegungen eines gälischen Nationalismus steht, die das irische Nationalbewußtsein scheinbar stärker prägten und im historischen Rückblick am Osteraufstand von 1916 und der Entstehung des irischen Nationalstaats einen größeren Anteil hatten als die Partei. Diese Organisationen stehen für die Frage nach den Grundlagen des modernen irischen Nationalbewußtseins schon deshalb im Vordergrund der nationalen irisdien Geschichtsschreibung, weil sie eine Kontinuität bewahren zwischen dem Irland vor und dem Irland nach der Staatswerdung. Als spektakulärer Ausdruck eines sprachlich-kulturellen, wirtschaftlichen oder politischrevolutionären Nationalismus werden sie für die Entstehung und Verbreitung des irischen Nationalbewußtseins als entscheidend und allein bedeutsam angesehen, wobei weitgehend unberücksichtigt bleibt, daß die Partei durch ihre nationalistische Propaganda in Irland mittels ihrer verschiedenen Organisationen und ihrer Presse Wesentliches zur Bildung eines derartigen Bewußtseins beitrug.
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Zur begrifflichen Bestimmung des Terminus Nationalbewußtseins verstanden als »Bekenntnis zur Nation«, vgl. Walter Sulzbach, »Zur Definition und Psychologie von >Nation< und Nationalbewußtsein«, Pol. Vjsdir. 3 (1962), S. 139-58. 18
Damit ist auch die Frage nach dem Scheitern der Partei angerührt. In einem abschließenden Kapitel soll andeutungsweise untersucht werden, inwieweit die Parlamentspartei auch noch nach dem Einschnitt von 1891, das heißt nach Parnells Tod, als Ausdruck und integrierende Trägerin des irischen Nationalismus angesehen werden kann. Dazu mögen folgende Erläuterungen dienen. War es Parnell gelungen, in der sogenannten New Departure von 1879 den revolutionären und den gemäßigten Flügel der irischen Nationalisten zu gemeinsamer Aktion zu vereinigen und die Elemente eines revolutionären und eines gemäßigten Nationalismus zu den Voraussetzungen seiner Politik zu machen32, so konnten nach ihm die Partei und seine weniger bedeutenden Nachfolger im Parteivorsitz die sich daraus ergebende Zweigleisigkeit der Parteipolitik, die ihr Charakteristikum unter Parnell war und ihren Erfolg bedingte, nicht mehr aufrechterhalten. Die Partei und ihre Politik sind seit den 1890er Jahren in Theorie und Realität nur noch konstitutionell. Der linke Flügel ihrer Wähler ist völlig zurückgedrängt oder hat sich von ihr gelöst, um sich seither selbständig zu entfalten oder den entstehenden Bewegungen des Irish Ireland anzuschließen. Revolutionärer und gemäßigter Flügel des irischen Nationalismus, die Parnell zehn Jahre lang in einer Allianz verbunden hatte, nahmen seitdem wieder getrennte Entwicklungen, die schließlich 1916 in einen offenen Gegensatz mündeten und zum Verschwinden der sich einem konstitutionellen Vorgehen verpflichteten Parlamentspartei führten. Zwar blieb auch nach 1891 die Partei die offizielle Sprecherin des nationalistischen Irlands, aber unter der Oberfläche bahnte sich, vor allem unter der jungen Generation, ein politischer Stimmungsumschwung an, der sich im Entstehen und Erstarken der gälischen Bewegungen auch sichtbar manifestierte. Zwischen den Extremen des revolutionären und des konstitutionellen Nationalismus entfaltete sich eine Skala neuer Ausdrucksformen des irischen Nationalismus, die die politische Situation in Irland nach 1891 im hohen Grade differenzierten. Wie noch im einzelnen zu zeigen ist, standen hinter diesen Bewegungen auch andere soziale Schichten als hinter der Partei. Im Verlaufe der sich seit 1890 stärker wandelnden sozialen Verhältnisse in Irland wuchsen diese Schichten und entwickelten ein anderes nationales Bewußtsein und andere politische Vorstellungen von einem zukünftigen Irland als sie zur Parnellzeit gültig waren. Sie deckten sich eher mit der Konzeption des revolutionären Nationalismus, der nicht auf eine Home-RuleLösung, sondern auf die Schaffung eines unabhängigen irischen Nationalstaats hinarbeitete unter äußerster, gegebenenfalls mit Gewalt erzwungener Lockerung der staatsrechtlichen Bindungen zu Großbritannien. Dieser Wandel im Nationalismus spielte sich vor dem Hintergrund tiefgreifender Änderungen auf sozialem Gebiet ab. Durch die von den liberalen und konservativen Regierungen seit 1881 in rascher Folge verabschiedeten Landreformen für Irland, die 1903 mit dem Wyndham Act ihren Abschluß fanden, hatte für die Mehrheit der irisdien Bevölkerung so etwas wie eine soziale Revolution stattgefunden, denn das Pächtervolk war auf dem Wege, ein Volk kleiner selbständiger Bauern zu werden. Die Lösung der Landfrage, die sich damit abzeichnete, hatte ihre folgenreichen Rückwirkungen auf den politischen Bereich. Der M
Siehe unten S. 51 f. 19
Wandel in der wirtschaftlich-sozialen Struktur des Landes und der Niedergang der Parlamentspartei stehen in einem engen Wirkungszusammenhang. Doch dies sei vorerst nur als These hingestellt. Es wird notwendig sein, die Geschichte der Parlamentspartei auch von der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte her zu beleuchten. Eine engere Verklammerung der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit der politischen Geschichte scheint gerade bei der Beschäftigung mit einem Thema der irischen Geschichte nützlich zu sein, da das in der irischen Historiographie bisher nur selten geschehen ist.33 Eine Ursache für diese Vernachlässigung ist das bis vor kurzem zu beobachtende Fehlen von intensiven Forschungen zur irischen Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Untersuchungen von Strauss, Black und Mansergh haben aber gezeigt, wie fruchtbar die Einbeziehung sozialer und wirtschaftlicher Aspekte für die politische Geschichtsschreibung Irlands sein kann. 34 Hinsichtlich des benutzten Quellenmaterials ist noch anzumerken, daß sich Zeitungen und Flugschriften für die Fragestellung am ergiebigsten und wertvollsten erwiesen. Wichtige Aufschlüsse gaben auch die umfangreiche Memoirenliteratur und die Polizeiberichte im State Paper O f f i c e Dublin. Von verhältnismäßig geringem Wert erwiesen sich die Nachlässe führender Abgeordneter der Partei. 35
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Vgl. Joseph Lee, "Some Aspects of Modern Irish Historiography", Gedenkschrift Martin Göhring. Studien zur europäischen Geschichte (hrsg. von Ernst Schulin), Wiesbaden 1968, S. 441. E. Strauss, Irish Nationalism and British Democracy, London 1 9 5 1 ; R. D. C. Black, Economic Thought and the Irish Question, 1 8 1 7 - 1 8 7 0 , Cambridge 1960; N. Mansergh, a. a. O. Benutzt wurden die Nachlässe der Abgeordneten J. J. Clancy, T. P. Gill, T. C. Harrington, J. F. X . O'Brien, William O'Brien und J. E. Redmond. Ein Nachlaß Parnells existiert nicht. Jedoch wurde eine Anzahl Briefe, die von oder an Parnell geschrieben wurden, im Laufe der Zeit von der National Library of Ireland in Dublin gesammelt und von ihr unter dem Titel "Parnell Correspondence" archiviert.
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I. Entstehung und Geschichte der Irischen Parlamentspartei
1. Die irische Vertretung
im Unterhaus nach der Union mit
Großbritannien
Die Union von 1801 1 , die faktisch die »Einverleibung Irlands in den englischen Nationalstaat« bedeutete 2 , löste das bis dahin bestehende besondere irische P a r lament in Dublin auf und machte die Abgeordneten Irlands zu Mitgliedern des Reichsparlaments in London. 3 Verfassungs- und staatsrechtlich bildete Irland vor 1801 ein selbständiges Königreich, das mit Großbritannien lediglich durch die gemeinsame Monarchie in Personalunion verbunden war und dessen Parlament seit 1782 vom Londoner Parlament formal unabhängig und ihm hinsichtlich der legislativen Kompetenzen gleichgestellt war. D a ß jedoch in Irland zwischen staatsrechtlicher Theorie und politischer Wirklichkeit eine erhebliche Kluft bestand, braucht in diesem Zusammenhang nicht weiter zu interessieren. Es genügt hier die Anmerkung, daß das irische Parlament zwischen 1782 und 1800, das sogenannte Grattan's Parliament, während der Union zu einem Symbol f ü r die irische Eigenstaatlichkeit wurde. 4 Irland erhielt in dem neuen Reichsparlament eine Vertretung von 100, bzw. seit 1832, dem J a h r der ersten großen britischen Wahlrechtsreform des 19. Jahrhunderts, von 105 Abgeordneten 5 , Großbritannien eine solche von 558 Abgeordneten. Diesem Proporz entsprach ein Abgeordneter auf 54000 Einwohner in Irland und ein Abgeordneter auf 19000 Einwohner in Großbritannien. Bei völliger Gleichheit der Repräsentanz hätte somit Irland um 1800 auf Grund seiner Bevölkerungszahl, die rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Vereinigten Königreichs ausmachte 6 , statt mit 100 mit etwa 220 von 658 Abgeordneten in Westminster vertreten sein müssen. Die 1801 festgelegte Aufschlüsselung der Abgeordnetenzahl wurde in den 120 1
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Text des 'Act for the Union of Great Britain and Ireland' in Julius Hatsdiek, Das Staatsrecht des Vereinigten Königreichs Großbritannien-Irland, Tübingen 1914, S. 300 ff., und in Irish Historical Documents, 1172-1922, S. 208-13. Theodor Schieder in Handbuch der europäischen Geschichte, Stuttgart 1968, Bd. VI, S. 26. Artikel III und IV der Unionsakte. Vgl. T. W. Moody, "Thomas Davis and the Irish nation", Hermathena. A Dublin University Review 103 (1966), S. 9. 1885 wurde Irlands Abgeordnetenzahl wieder auf 103 vermindert. D i e 32 Grafschaften Irlands und die Städte Dublin und Cork entsandten 1801 je 2 Abgeordnete, die 31 anderen Städte und Trinity College Dublin je einen (Art. IV der Unionsakte).
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Jahren der Union, abgesehen von den geringfügigen Änderungen durch die Reformgesetze von 1832 und 1885, nicht mehr an die sich beträchtlich verändernden Bevölkerungszahlen beider Inseln angepaßt. 7 Verhielten sich die Bevölkerungszahlen Großbritanniens und Irlands noch 1821 wie 2 : 1, so stellte sich das Verhältnis 1911 auf ungefähr 9 : 1 . Durch die Wahlrechtsreformen der Folgezeit wurden in erster Linie die Zahl der Wahlberechtigten erhöht, das Wahlverfahren modifiziert und die Wahlkreise neu abgegrenzt. Eine generelle Neuverteilung der Parlamentssitze unter Berücksichtigung der im Vereinigten Königreich eingetretenen Bevölkerungsverschiebungen bewirkten sie nicht. Auf diese Weise war Irland 1911 durch den kontinuierlichen Rückgang seiner Bevölkerung schließlich überrepräsentiert. Während seine Bevölkerung 9 , 7 % der Gesamtbevölkerung des Vereinigten Königreichs ausmachte, stellte es im Unterhaus 15,4°/o der Abgeordneten (103 von 670). Zwischen der Repräsentation in Westminster und den Bevölkerungsanteilen Irlands und Großbritanniens im Königreich bestand also vom Beginn der Union an für lange Zeit eine außerordentliche Diskrepanz. Erst 80 Jahre später konnte man nicht mehr von einer unangemessenen parlamentarischen Vertretung Irlands sprechen. Die Repräsentation Großbritanniens und Irlands im Unterhaus entsprach um 1880 annähernd den Bevölkerungsanteilen. Von 35,3 Millionen Einwohnern des Vereinigten Königreichs lebten 1881 5,2 Millionen in Irland ( = 14,5% der Gesamtbevölkerung), die im Unterhaus von 105 Abgeordneten vertreten wurden ( = 15,5% der Gesamtabgeordnetenzahl). 8 Aber wie schon seit Anbeginn der Union blieb die Tatsache bestehen, daß die Minorität der irisdien Abgeordneten nach den Regeln des Parlamentarismus grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt war, ständig überstimmt zu werden, ohne Rücksicht darauf, daß diese nicht die entscheidende Chance besaß, jemals zur Mehrheit werden zu können. Bis Anfang der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts wurde dieses Problem aber nicht als solches empfunden, da die irischen Abgeordneten normalerweise nicht als geschlossene ethnische Gruppe im Unterhaus auftraten, sondern sich ohne ein Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit in das Zweiparteiensystem des englischen Parlaments einfügten, indem sie sich je nach politischer Uberzeugung den 6
Die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland nadi den Angaben des amtlichen Zensus (in Millionen):
1801 1821 1851 1871 1881 1901 1911
Großbritannien
Irland
Gesamt
10,5 14,0 20,8 26,0 30,1 37,0 40,8
5,4 6,8 6,5 5,4 5,2 4,5 4,4
15,9 20,8 27,3 31,4 35,3 41,5 45,2
Die Zusammensetzung des Unterhauses: 1832-84 1801-31 500 513 England und Wales 53 45 Schottland 100 105 Irland 658 658 Insgesamt: 8
1885-1918 495 Abgeordnete 72 Abgeordnete 103 Abgeordnete 670 Abgeordnete
Vgl. R. C. K. Ensor, England 1870-1914, Oxford 1936 (letzter Neudruck 1968), S. 103.
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Konservativen oder Liberalen anschlössen.9 Irische Parteigeschichte in dieser Zeit war praktisch die Geschichte der englischen Parteien in Irland. Begrenzte Versuche, eine irische Partei auf der Grundlage bestimmter irischer Interessen im Unterhaus zu bilden, hat es zwar zweimal gegeben, doch blieben sie ohne größere Bedeutung. Als Vorläuferinnen der späteren Parlamentspartei kann man sie deshalb nur bedingt ansehen. In der zeitgenössischen politischen Terminologie bedeutete beispielsweise Independent Irish Party auch nicht, daß nun eine dritte Partei im Unterhaus vertreten war, die sich von den beiden anderen Parteien deutlich unterschied und mit ihnen als politisches Gebilde auf gleicher Ebene stand.10 Insofern können die Titel der Untersuchungen von Angus Macintyre, The Liberator. Daniel O'Connell and the Irish Party, 1830-1847 (London 1965) und J. H . Whyte, The Independent Irish Party, 1850-9 (Oxford 1958) zu Mißverständnissen führen, denn beide hier genannten >Parteien< waren letzten Endes keine nationalen Parteien, das heißt Parteien, die die Interessen der eigenen Nation bedingungslos allen anderen Überlegungen überordneten. Eine dauernde organisatorische Verfestigung war - in einer Zeit fließender Parteigrenzen und schwach ausgebildeter Parteidisziplin11 - bei beiden nicht zu beobachten. Die Irish Party, die im Gefolge der Katholikenemanzipation entstand, war im Unterhaus eine Gruppierung von wechselnder Stärke 12 , die eher den Charakter einer persönlichen, sich zum großen Teil sogar auf verwandtschaftliche Beziehungen stützenden Gefolgschaft Daniel O'Connells trug. 13 Soziologisch entstammten O'Connells Anhänger derselben Schicht wie die Mehrheit der englischen Parlamentarier. Sie gehörten fast ausschließlich zur Klasse der mittleren Grundbesitzer und waren somit eng mit der bestehenden sozialen Ordnung in Irland verbunden. O'Connell selbst war Grundbesitzer und Rechtsanwalt. Die Irish Party war keine unabhängige Partei und von Zeitgenossen wurde sie als solche auch nicht betrachtet.14 Sie war vielmehr eine irische Variante der englischen Liberalen mit bestimmten Sonderinteressen in bezug auf Irland (repeal), die sich im Unterhaus als Flügel der liberalen Fraktion oder in der Weise einer pressure group unter anderen innerhalb der Whigpartei hin und wieder bemerkbar machte. Es läßt sich wohl sogar mit Sicherheit sagen, daß O'Connell, der die Katholikenemanzipation im Unterhaus mit der Hilfe der englischen Parteien durchgesetzt hatte, eine unabhängige Partei gar nicht ernsthaft erstrebte.15 Entgegen allen seinen Reden von den nationalen Rechten Irlands verfolgte er im Unterhaus eine o J . C. Bediett, The Making of Modern Ireland, 1 6 0 3 - 1 9 2 3 , London 1966, S . 2 8 4 f . Vgl. J. H. Whyte, The Tenant League and Irish Politics in the eighteen-fifties, Dundalk 2 1 9 6 6 , S. 5 ; ders., "Daniel O'Connell and the repeal party", I H S 11 ( 1 9 5 8 - 5 9 ) , S . 3 0 6 ; G. I . T . Machin, The Catholic Question in English Politics, 1 8 2 0 - 1 8 3 0 , Oxford 1964, S. 1. 1 1 Karl Löwenstein, »Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England nach der Großen Reform: Das Zeitalter der Parlamentssouveränität ( 1 8 3 2 - 1 8 6 7 ) « , Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S. 156 ff.; Madiin, S. 1. 1 2 1832 zählten zu ihr als Maximum 39 von 105 irischen Abgeordneten. " Whyte, "Daniel O'Connell", S. 300. 1 4 Vgl. Macintyre, S . 4 3 und S. 70; dazu auch R. B. McDowell, Public Opinion and Government Policy in Ireland, 1 8 0 1 - 1 8 4 6 , London 1952, Kapitel V und VI. >5 Vgl. Whyte, "Daniel O'Connell", S.314. 10
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pragmatische, auf unmittelbaren Nutzen für die katholische Bevölkerung Irlands ausgerichtete, und keineswegs eine doktrinär-nationale Politik. 16 Er versuchte auch nie, die >Partei< zum Hauptinstrument seiner Agitation für den Widerruf der Union zu machen. Die Repealforderung erlangte besonders in den Jahren 1842 und 1843 als außerparlamentarische Massenbewegung nach dem Muster der Agitation zur Erlangung der Katholikenemanzipation eine größere Bedeutung als eine im Unterhaus betriebene Politik der Partei. 17 Audi viele der von der liberalen Regierung eingeleiteten Reformen in Irland erfolgten nicht erst auf das Drängen der Irish Party hin. Mitglieder der Partei übernahmen zudem bedenkenlos Regierungsämter. Ähnliches gilt für die Independent Irish Party. Das Prinzip politischer Unabhängigkeit von den englischen Parteien, das heißt die Verweigerung einer konstruktiven politischen Mitarbeit im Parlament oder in der Regierung, solange nicht eine durchgreifende Änderung der Verhältnisse in Irland eingeleitet wurde, blieb eine Idee, um deren Verwirklichung sich 1851 und vor allem nach den allgemeinen Wahlen von 1852 noch unter dem Eindruck der unmittelbar vorangegangenen Hungersnot in Irland für kurze Zeit ungefähr 48 liberale irische Parlamentarier bemühten. Zur vollen Wirksamkeit gelangte dieses Prinzip unter anderen Bedingungen erst 25 Jahre später. Schon 1853 gab es praktisch keine Independent Irish Party oder Independent Opposition, wie es seit 1853 auch hieß, mehr. Die Partei besaß weder eine fähige und entschlossene Führung, eine feste Organisation und Parteidisziplin, noch verfügte sie über ausreichende finanzielle Mittel wie die spätere Parlamentspartei seit 1880. Über ihr parlamentarisches Auftreten schreibt Whyte: The main distinction, indeed, between the Independent Opposition and other Irish Liberais was not how it voted but where it sat, for the independent members remained on the Opposition side of the House, and proof that a member had abandoned the party normally came when he crossed to the ministerial benches.18 Das Fehlen einer national-irischen Partei im Unterhaus während der ersten sieben Jahrzehnte der Union kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Integration Irlands als nominell gleichberechtigter Bestandteil in die neue völkerrechtliche Einheit des Vereinigten Königreichs unvollkommen blieb. 19 Die ältere Forschung glaubte, das schon mit dem Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Union erklären zu können. Nach ihrem Urteil war der Vollzug der Union nur unter Anwendung von Zwang, Verleihung von Pfründen und Adelstiteln und
Beckett, S. 333. Gründung der Repeal Association im April 1840. Zum ganzen besonders das Kapitel "The Challenge of Repeal, 1 8 4 2 - 3 " in K . B. Nowlan, The Politics of Repeal. A Study in the Relations between Great Britain and Ireland, 1 8 4 1 - 5 0 , London und Toronto 1965, S. 37-58, und Lawrence J. McCaffrey, Daniel O'Connell and the Repeal Year, Lexington 1966. !8 Whyte, The Independent Irish Party, S. 145. " Vgl. Beckett, S . 2 8 5 ; E.L.Woodward, The Age of Reform 1 8 1 5 - 7 0 , Oxford 1962, S. 335 f.
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durch Bestechung möglich gewesen. 20 In diesem Sinne äußerte sich auch Gladstone, als er bei der Behandlung der ersten Home-Rule-Vorlage im Unterhaus erklärte: "We obtained that Union against the sense of every class of the Community, by wholesale bribery and unblushing intimidation." 2 1 Diese traditionelle These von der erzwungenen Union differenziert allerdings G. C. Bolton in seiner 1966 erschienenen Studie The Passing of the Irish Act of Union. A Study in Parliamentary Politics. Er weist nach, d a ß die irischen Parlamentarier in ihrer überwiegenden Mehrheit aus eigenem Entschluß für das Unionsgesetz stimmten und daß andere Einflüsse bei ihrer Entscheidung nur eine verhältnismäßig geringe Rolle spielten. Dabei ist ja zu berücksichtigen, was noch zu zeigen ist, daß die vor 1801 im irischen Parlament vertretenen Abgeordneten eine ganz bestimmte, zahlenmäßig sehr kleine Schicht der irischen Bevölkerung repräsentierten, die durch den Revolutionsversuch der United Irishmen von 1798 verschreckt war und die in der Union mit Großbritannien den sichersten Schutz vor einem Übergreifen des französischen Jakobinismus auf Irland erblickte. 22 Die These Boltons wird zweifellos auch dadurch gestützt, daß nach 1801 der Widerspruch gegen die Union nicht aus den Reihen der nun in London agierenden irischen Abgeordneten kam, sondern erst seit 1825 allmählich vom liberalen Katholizismus um Daniel O'Connell und dann später, seit ungefähr 1842, von den Jung-Irländern artikuliert wurde. Die britische Innenpolitik bis 1829 wurde nicht von der Forderung nach Widerruf der Union, sondern vornehmlich von der Frage der Katholikenemanzipation beherrscht. 23 Das Problem der Katholikenemanzipation verdeckte daher anfänglich die Tatsache einer bemerkenswerten staatsrechtlichen Sonderstellung Irlands, die es von den früher unierten Reichsteilen Wales und Schottland deutlich unterschied. Obwohl in der Unionsakte nur von der Erhaltung des eigenen irischen Staatssiegels und Staatsrats die Rede ist (Artikel X), wurde das Prinzip der Union nicht konsequent im Sinne einer einheitlichen Verwaltung des Vereinigten Königreichs angewandt. 2 4 Kennzeichnend blieb eine dualistisch strukturierte Reichsverwaltung, die als Ubergangslösung wegen der in wirtschaftlicher, sozialer und konfessioneller Hinsicht unterschiedlichen Verhältnisse in beiden Ländern sicherlich berechtigt war, die jedoch der 1801 erklärten Absicht einer Fusion beider Länder in einen britisch-irischen Einheitsstaat widersprach. Untergeordnete, mehr technische Behörden wurden zwar zusammengelegt 25 , aber Irland behielt trotz der Vereinheitlichung der obersten Reichsorgane - Monarchie, Parlament, Premierminister - seine eigene Exekutive mit dem Sitz in Dublin Castle, das vor 20
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So z. B. Robert M. Henry, The Evolution of Sinn Fein, Dublin und London 1920, S. 8. A m 16. 4. 1886, zit. in Dorothy Macardle, The Irish Republic. A Documented Chronicle of the Anglo-Irish Conflict and the Partitioning of Ireland, London 1968, S. 38. McCaffrey, O'Connell, S. 1. D a z u J.A.Reynolds, The Catholic Emancipation Crisis in Ireland, 1823-1829, N e w H a v e n und London 1954; McCaffrey, O'Connell; McDowell, Public Opinion; G. I.T. Madiin, "The Catholic Emancipation Crisis of 1825", EHR 78 (1963), S.458. Vgl. Beckett, S . 2 8 6 f . Allgemein zur Verwaltung Irlands: R. B. McDowell, The Irish Administration 1801-1914, London und Toronto 1964. Beispielsweise die Schatzämter, die Post und das Zollwesen. Das besondere Gerichtswesen Irlands blieb erhalten.
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und während der Union von den irischen Nationalisten als das Symbol der englischen Herrschaft empfunden wurde. 2 6 An der Spitze der irischen Exekutive, die von der Regierung in London abhängig war, stand als Vertreter der Krone der mit weitgehenden Befugnissen ausgestattete Vizekönig (Lord Lieutenant).21 Neben dem königlichen Statthalter, der im 19. Jahrhundert nur noch das nominelle H a u p t der Administration war 2 8 , gab es den Irischen Staatssekretär (Chief Secretary for Ireland) als den tatsächlichen Leiter der Verwaltung. E r hielt die Verbindung mit den Londoner Ministerien, voran dem Home Office als der unmittelbar vorgesetzten Behörde, er vertrat die irische Exekutive im Unterhaus und ihm unterstand unmittelbar die Polizei, die Royal Irish Constabulary f ü r das gesamte Land und die Sonderabteilung der Dublin Metropolitan Police,29 Seit der Union war der Chief Secretary während der halbjährigen Sitzungsperiode des Unterhauses in Westminster anwesend, was seine Bedeutung f ü r und seinen Einfluß auf die Gestaltung der irischen Politik auf Kosten seines nominellen Vorgesetzten, des Vizekönigs, erhöhte. 30 Entweder der Staatssekretär, was seit Gladstones erstem Ministerium (1868) der häufigere Fall war 31 , oder der Vizekönig gehörten dem Kabinett an, nur in Ausnahmefällen beide zugleich. 32 Vizekönig und Staatssekretär wurden vom englischen Monarchen auf Vorschlag des Premierministers ernannt. Beides waren politische Ämter, die von den Mehrheitsverhältnissen im Londoner Unterhaus abhingen.
28 Beckett, S. 314; E. Curtis, A History of Ireland, London «1965, S. 322 Anm. 1; McDowell, Public Opinion, S. 14. 27 Vgl. das Kapitel "The Irish Executive" in McDowell, Irish Administration, S. 52-77. Bezeichnenderweise wurde an die Errichtung eines Vizekönigtums für Schottland nie ernstlich gedacht. Zur Stellung des Vizekönigs vgl. audi R. de Warren, L'Irlande et ses Institutions Politiques, Paris 1928, S. 95 ff. 28 Vgl. McDowell ("Ireland on the Eve of the Famine") in R. D. Edwards and T. D. Williams (eds.), The Great Famine. Studies in Irish History 1845-52, N e w York 1957 (Dublin 1956), S. 22, und ders., "The Irish Executive in the nineteenth century", IHS 9 (1954-55), S.264 und S.270. 29 Hatschek, Staatsrecht, S. 19 und S. 141, sowie McDowell, Irish Administration, S. 56 f. und S. 71. 30 McDowell, "Irish Executive", S. 266. 31 Ders., Irish Administration, S. 58 f. 32 Vgl. J. L.J. Hughes, "The Chief Secretaries in Ireland, 1566-1921", IHS 8 (1952-53), S. 59-72, und die Kabinettslisten in Ensor, S. 606-14.
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2. Die Ursachen für das Fehlen einer national-irischen bis 1870
Partei im Unterhaus
Das Bestehen einer gesonderten irischen Administration, das gewissermaßen als Eingeständnis dafür gewertet werden kann, daß Irland allein schon auf Grund seiner anders gearteten sozial-ökonomischen Verhältnisse nicht auf die gleiche Weise wie Großbritannien regiert werden konnte, zeigte die Bruchlinien der Union an und konnte einen Ansatzpunkt bilden für die mögliche Aktualisierung einer national-irischen Partei im Unterhaus. 1829 war eine solche Möglichkeit und ein Bewußtsein ihrer Konsequenzen für das englische Parteisystem in den Debatten des Oberhauses über die Katholikenemanzipation schon einmal deutlich angeklungen, als nämlich der anglikanische Erzbischof von Armagh, der Primas der Irischen Staatskirche, die Emanzipation als den Beginn eines Prozesses bezeichnete, in dessen Verlauf sich die irischen Abgeordneten zu einer Fraktion formieren und die englischen Parteien zum irischen Vorteil gegeneinander ausspielen würden.1 Die Antwort auf die Frage, warum es vor 1870, abgesehen von den oben erwähnten Ansätzen, nicht zu einer solchen Entwicklung kam, ist in den dafür ungünstigen allgemeinen politischen Voraussetzungen in Irland zu suchen, wobei a) die soziale Gliederung der Bevölkerung, b) das Wahlrecht und c) die durch beides bedingte soziale Zusammensetzung der irischen Abgeordneten an erster Stelle anzuführen sind. Erst das Zusammenwirken dreier Komponenten ließ eine starke nationale Partei entstehen, nämlich das Erwachen eines neuen Nationalismus Anfang der 7Oer Jahre des 19. Jahrhunderts, die umfassende Demokratisierung des Wahlrechts im Vereinigten Königreich seit 1867 und die 1877 einsetzende wirtschaftliche Depression, die in Irland besonders tiefgreifende soziale und ökonomische Konsequenzen hatte. a) Die soziale Gliederung der irischen Bevölkerung Durch die Union von 1801 wurden zwei Länder mit einem sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand ihrer Volkswirtschaften zu einer größeren wirtschaftlichen Einheit vereinigt. Während sich in Großbritannien durch die industrielle Revolution schon eine weiterhin schnell wachsende Industriegesellschaft ausgebildet hatte, verharrte Irland mit der Ausnahme des Gebietes um Belfast auf dem Stand eines in vieler Hinsicht rüdeständigen Agrarlandes.2 So zeichnete sich Irland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine relativ einfache soziale Gliederung seiner Bevölkerung aus, die sich auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts trotz der sozialen Erschütterung der Gesellschaft, wie die Große Hungersnot von 1845-48 eine darstellte, nur langsam änderte. Alexis de Toqueville, der 1835 Irland bereiste, sprach von den zwei Klassen der irischen Agrargesell-
» Becke«, S. 304. 2 Black, S. 2.
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Schaft, einer oberen Klasse und einer niederen.3 Die vergleichsweise kleine obere Klasse, der das Land gehörte und die audi in der Verwaltung der Grafschaften den entscheidenden Einfluß besaß4, waren die meist protestantischen, englischschottischen Grundbesitzer (landlordsJ.5 1870 gehörte der landwirtschaftlich nutzbare Boden Irlands 19288 Personen, von denen 3761 Personen einen Grundbesitz von über 1000 Acres und 300 Personen einen Besitz von über 10 000 Acres aufwiesen.6 Diese 3761 Großgrundbesitzer, ungefähr ein Fünftel aller Grundbesitzer, besaßen allein rund vier Fünftel des Landes.7 Wirtschaftliche und politische Relevanz entsprachen sich. Den Grundbesitzern gegenüber stand die Masse der katholischen irischen Pächter und Landarbeiter. Die Zahl der Pächter belief sich um 1870 auf rund 662 000, die der Landarbeiter um 1880 auf rund 336 000.8 Insgesamt zählte die bäuerliche Bevölkerung Irlands nach den Angaben des Zensus von 1881 3 417 877 Menschen, sie umfaßte zwei Drittel der Gesamtbevölkerung.9 In oftmals verwickelten Rechtsverhältnissen gegenüber dem eigentlichen Besitzer des Bodens lebten die Pächter auf Pachtstellen, die durch das bis 1846 starke Anwachsen der Bevölkerung in kleine und kleinste Parzellen aufgesplittert waren. 10 Es ist geschätzt worden, daß um 1880 nur 150 000 Pächter über genügend Land zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes verfügten, ohne auf andere Einnahmequellen angewiesen zu sein.11 Auffallend an den irischen Verhältnissen, die in den gewaltsamen Landenteignungen und Ansiedlungsmaßnahmen der britischen Regierung im 16. und 17. Jahrhundert wurzelten 12 , ist dabei das völlige Fehlen eines patriarchalischen Denkens seitens der meisten Landlords, eines Bewußtseins moralischer oder persönlicher Verpflichtung des Grundbesitzers für seine Pächter. Im Normalfall trennte Grundbesitzer und Pächter eine unüberbrückbare Kluft. 13 Die Verwaltung des Landes und die Einziehung der Pachten überließen vor allem die Großgrundbesitzer, die in der Mehrheit nicht auf ihren Besitzungen, sondern in Dublin oder in England lebten, einem Verwalter oder einem Zwi3
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Journeys to England and Ireland (hrsg. von J . P . M a y e r ) , London 1958, S. 137. Vgl. dazu auch Mansergh, S. 30. Woodward, S. 333; Black, S. 5 f. und S. 9. Vgl. audi unten S. 127. McDowell, Public Opinion, S. 40, und das Kapitel "Landlords and Tenants" in N. D. Palmer, The Irish Land League Crisis, New Haven 1940, S . 9 - 3 3 . 1 Acre = 0,405 ha. E. R. Hooker, Readjustments of Agricultural Tenure in Ireland, Chapel Hill 1938, S. 23. Hooker, S.222 Tabelle 10. Vgl. auch den Absdinitt "Kinds of Rural Laborers" in Hooker, S. 172 ff. Außerdem Palmer, S . 9 f f . und S. 17, sowie John F. Burke, Outlines of the Industrial History of Ireland, Dublin 21940, S. 317. Hooker, S. 221 Tab. 8. Ein Drittel der Bevölkerung lebte in Städten mit über 2000 Einwohnern. Dazu Hooker, S. 22 ff. Palmer, S. 12. Hooker, S. 7 ff. Curtis, History of Ireland, S. 375. Zu den englischen Verhältnissen: F. M.L.Thompson, English Landed Society in the Nineteenth Century, London und Toronto 1963, S. 1 8 4 - 2 1 1 . Zur historischen Entwicklung des Verhältnisses Grundbesitzer-Pächter das Kapitel I "Historical Antecedents of the Tenure Situation in 1870" in Hooker, S. 3-33.
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sdienpächter.14 Landbesitz in Irland galt weitgehend als eine Kapitalanlage, bei der das Interesse an der Rentabilität des eingesetzten Kapitals alle anderen Aspekte überschattete. Es waren somit die Bedingungen gegeben, daß der nationale Gegensatz in Irland selbst und im Verhältnis zu Großbritannien durch den sozialen und konfessionellen Gegensatz noch vertieft wurde. In dieser Hinsicht bestehen fundamentale Parallelen zu den Verhältnissen in Osteuropa, beispielsweise in den baltischen Ländern oder in der Slowakei, in denen die sozialen und oft auch die konfessionellen Trennungslinien zwischen Grundbesitzern und Pächtern zum Teil bis 1914 so eindeutig wie im Irland des späten 19. Jahrhunderts mit den nationalen Trennungslinien zusammenfielen.15 Abgesehen von Ulster, wo auch die Pächter überwiegend eingewanderte protestantische Schotten und Engländer waren, die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts unter besseren Pachtbedingungen als die Pächter im übrigen Irland lebten,10 begünstigte das Recht, das die Beziehungen zwischen Grundbesitzern und Pächtern regelte, einseitig die Verpächter. Es war ein Recht, das das irische Agrarsystem in einem Zustand ständiger Unruhe hielt und mit dessen Reformierung erst im letzten Drittel des Jahrhunderts unter dem Druck katastrophaler Ereignisse begonnen wurde. Die Pachten wurden nicht durch einen Vertrag zwischen gleichberechtigten Partnern ausgehandelt, sondern konnten vom Verpächter angesichts einer Vielzahl von Bewerbern nach Gutdünken festgesetzt werden. Den Maßstab bildete nicht die Ertragskraft der Pachtstelle, sondern das höchste Gebot der sich - meist jährlich - um sie bewerbenden Pächter.17 Erst Gladstones Landgesetz von 1870 schuf hier einen Wandel, indem es das Recht des Pächters anerkannte, für Meliorationen, die er am Pachtland vorgenommen hatte, nach Beendigung des Pachtverhältnisses vom Grundbesitzer eine Entschädigung zu verlangen. Außerdem erhielten die Pächter erst durch dieses Gesetz einen Schutz vor willkürlichen Kündigungen der Pacht durch den Grundbesitzer18, einem Mißstand, der in der Vergangenheit die Ursache für die zahllosen gewalttätigen lokalen Geheimbünde der schutzsuchenden Pächter war. 19 Aber erst Gladstones zweites Landgesetz, der sogenannte Fair Rent Act von 1881, bestimmte, daß die Festsetzung der Pacht nicht mehr der nur scheinbar freien Vereinbarung zwischen Grundbesitzer und Pächter überlassen blieb, sondern fortan durch besondere Gerichte vorgenommen wurde.20
Ensor, S. 112; Palmer, S.27ff., und das Kapitel "The Absentee Landlord" in Black, S. 72-85. 1 5 Dazu Nationalism. A Report by a Study Group of Members of the Royal Institute of International Affairs, London, New York und Toronto 1939 (Neudruck London 1963), S. 108 f. Hammond, S. 2 2 ; Hooker, S. 8 f. und S. 32; Palmer, S. 45 f. " Hooker, S. 23. « Ebda., S. 41. 1 9 Mansergh, The Irish Question, S. 3 6 ; Curtis, History of Ireland, S. 3 5 5 ; O'Hegarty, Ireland under the Union, S. 417 ff.; Woodward, Age of Reform, S. 334 und S. 356, und Thomas N . Brown, "Nationalism and the Irish Peasant, 1 8 0 0 - 1 8 4 8 " , The Review of Politics 15 (1953), S. 4 2 6 - 3 0 . 2° Hooker, S. 44 f. 14
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Ansätze einer Industrie gab es um 1800 nur um Belfast, Dublin und Cork. 2 1 Durch den Fortfall von Schutzzöllen (seit 1824) und die Einbeziehung Irlands in das vom freihändlerischen Liberalismus geprägte wirtschaftliche System des industriell fortgeschritteneren Großbritanniens wurde die irische Industrieentwicklung, die durch das Fehlen von wirtschaftlich nutzbaren Bodenschätzen in ihrer Entfaltung ohnehin behindert war, in der Folgezeit unterbunden. 2 2 Die industrielle Belebung, die die Periode von 1782-1800 in bescheidenem Umfang gebracht hatte, konnte sich nicht fortsetzen. 23 Es ist aber zweifelhaft, ob sich in Irland ohne die Union eine nennenswerte Industrie entwickelt hätte. Die Industrie des 19. Jahrhunderts basierte weitgehend auf den Rohstoffen Kohle und Eisen, die in Irland fehlten. Ihr Vorhandensein war aber, wie die Wirtschaftsgeschichte Europas zeigt, in dieser Zeit die notwendige Vorbedingung f ü r den technischen und industriellen Fortschritt. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete nur Nordost-Ulster, das seine schon im 18. Jahrhundert prosperierende Textilindustrie und seine Maschinen- und Schiffbauindustrie durch die Übernahme moderner Verfahrensmethoden in enger Verbindung mit den mittelenglischen und schottischen Industriegebieten entwickeln konnte. Allein Nordost-Ulster zog aus dem Anschluß an das britische Wirtschaftssystem einen wirtschaftlichen Vorteil. 24 Die soziale Folge der Beschränkung Irlands auf den Stand eines Agrarlandes war das Fehlen einer breiten Mittelschicht von Angehörigen des sekundären Berufssektors. Das irische Bürgertum beschränkte sich außerhalb von NordostUlster auf eine dünne Schicht kleiner Gewerbetreibender (Ladeninhaber, H ä n d ler, Handwerker), Juristen, Ärzte, Beamter und Journalisten. 2 5 Eine Sonderstellung nahm der niedere und mittlere Klerus ein, der seit Beginn des Jahrhunderts nicht mehr in den katholischen Ländern des Kontinents, sondern in irischen Priesterseminaren ausgebildet wurde. Als geistliche und geistige Führer ihrer Gemeinden muß man einerseits vor allem die Landpfarrer zur sozialen Mittelsdlicht zählen. Andererseits stammte aber der überwiegende Teil des Klerus aus der Pächterschicht, mit deren Leben und Problemen sie auf Grund ihrer Stellung und ihres sozialen Hintergrunds sehr eng verbunden blieben, und aus deren freiwilligen Spenden die Gemeindepfarrer ihr Einkommen bestritten. 26 In politischer Hinsicht nahm der mittlere und hohe Klerus in Ermangelung einer einheimischen
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Vor allem Textil-, Brau- und Glasindustrie. Dazu Becken, S.241 ff.; George O'Brien, The Economic History of Ireland from the Union to the Famine, London 1921, besonders Teil II "Non-Agricultural Resources", S. 283-435, und Burke, besonders Kapitel V und VI. 22 Strauss, S. 275; McDowell, Public Opinion, S. 36. 2 » O'Brien, Economic History, S.297 und S. 578. 24 Zur Wirtschaftsgeschichte Ulsters vgl. J. C. Beckett and R. E. Glassock (eds.), Belfast. The Origin and Growth of an Industrial City, London 1967, und E. R. R. Green, The Lagan Valley, 1800-50. A Local History of the Industrial Revolution, London 1949. Die Entwicklung Belfasts läßt sich an dem für Irland einzigartigen Anstieg seiner Einwohnerzahl ablesen: um 1800 war Belfast mit rd. 25 000 Einwohnern Irlands fünftgrößte Stadt, um 1900 mit 350 000 Einwohnern die zweitgrößte. 25 Strauss, S. 275. 26 Curtis, Coercion and Conciliation, S.232; McDowell, Public Opinion, S. 31; Woodward, S. 330.
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Aristokratie seit dem Auftreten Daniel O'Connells eine Führungsrolle ein, die besonders dann unbestritten war, wenn eine starke politische Bewegung oder Persönlichkeit fehlte. b) Das Wahlrecht In Irland galt wie in Großbritannien ein an einen hohen Zensus und (bis 1832) an Grundbesitz gebundenes Mehrheitswahlrecht, das zwischen Grafschaften und Städten unterschied. Die Wahlen waren öffentlich und damit der Beeinflussung, Bestechung und der Kontrolle durch die Grundbesitzer bzw. den Klerus unterworfen 27 , zumal zwei Drittel der Mandate auf die ländlichen Wahlkreise entfielen. In den meisten Wahlkreisen wurde überhaupt nur ein Kandidat aufgestellt. Es gab Parlamentssitze, die über Generationen als Eigentum einer großen Familie betrachtet wurden28, was durchaus im Einklang mit dem politischen Denken in England stand, das ja das Wahlrecht auf einen bestimmten Besitzstand des Bürgers fundierte und daher die naturrechtliche Begründung des Wahlrechts auf ein allgemeines, egalitäres Menschenrecht noch bis ins 19. Jahrhundert hinein als etwas Unenglisches ansah.29 Im Jahre 1827 sollen von den 658 Unterhaussitzen 276 fest in den Händen von Grundbesitzern gewesen sein.30 Katholiken durften bis 1829, dem Jahr des Emancipation Act, weder wählen, noch konnten sie gewählt werden. Die Masse der irischen Bevölkerung war also von den Wahlen ausgeschlossen. Während in England und Wales vor 1832 immerhin 3 , 1 % und nach 1832 4 , 7 % der Bevölkerung wahlberechtigt waren 31 , lag dieser Prozentsatz in Irland weit darunter. 92 152 Wahlberechtigte, davon zwei Drittel in den ländlichen Wahlkreisen32, entschieden nach 1832 bei einer Bevölkerung von 7767 000 (1831) über die parlamentarische Vertretung Irlands im Unterhaus: das waren 1,2 °/o der gesamten Bevölkerung. In England und Wales hatten nach 1832 einer von
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Dazu das Kapitel "The Influence of Landlords and Clergy" in Whyte, The Independent Irish Party, S. 6 3 - 8 1 , und ders., "The Influence of the Catholic Clergy on Elections in Nineteenth-Century Ireland", E H R 75 (1960), S. 2 3 9 - 5 9 , sowie ders., " L a n d lord Influence at Elections in Ireland, 1 7 6 0 - 1 8 8 5 " , E H R 80 (1965), S. 7 4 0 - 6 0 . Außerdem Löwenstein, »Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation«, S. 95 f.; H. J . Hanham, Elections and Party Management. Politics in the Time of Disraeli and Gladstone, London 1959, S. 180 ff. Hanham zeigt, daß es bis in die 1870er Jahre hinein Wahlkreise gab, in denen die Bestechung der wenigen Wahlberechtigten üblich war (S. 64 ff.). Vgl. dazu auch Cornelius O'Leary, The Elimination of Corrupt Practices in British Elections 1 8 6 8 - 1 9 1 1 , Oxford 1962, S.47ff., S. 55 und S. 155.
Vgl. I. W. Jennings und G. A. Ritter, Das britische Regierungssystem, Köln und Opladen 1958, S. 48, und Norman Gash, Politics in the Age of Peel. A Study in the Technique of Parliamentary Representation 1830-1850, London 1953, S. X . Noch 1868 wurden in Irland 12 Sitze von großen landbesitzenden Familien gehalten. 2 8 Vgl. Erich Eydc, Gladstone, Erlenbach-Zürich und Leipzig 1938, S. 193. 30 Woodward, S. 25. Ivor Jennings, Party Politics, Bd. I : Appeal to the People, Cambridge 1960, S. 51. Nach 1832 hatten im ganzen Vereinigten Königreich 813 000 Männer das Wahlrecht bei einer Gesamtbevölkerung (1831) von rd. 24 Millionen (Gash, S. 88). 3 2 Gash, S. 90. 28
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5 Männern das Wahlrecht, in Schottland einer von 8, in Irland hingegen nur einer von 20 Männern.33 Da das Wahlrecht an die Steuerleistung gebunden war, sind diese Zahlen gleichzeitig ein bezeichnender Beleg für die wirtschaftliche Situation in Irland. Diese Relationen änderten sich bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts nicht wesentlich, denn die der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragenden Wahlrechtsreformen wurden nur begrenzt auf Irland ausgedehnt. Dieser Umstand ermöglichte die praktisch unangefochtene Herrschaft der landbesitzenden Oligarchie, deren sozio-ökonomische Interessen sich auf die Erhaltung der Union richteten, bis in das letzte Drittel des Jahrhunderts. Die vorsichtige Reform von 1832, die das Stimmrecht auf die Inhaber beweglichen Besitzes statt nur des Realbesitzes ausdehnte34 und damit die Schicht des besitzenden Großbürgertums der Industriestädte in den Kreis der Privilegierten einbezog, hatte auf die Zahl und die soziale Zusammensetzung der irischen Wählerschaft praktisch keinen Einfluß. Eine umfassende Demokratisierung des Wahlkörpers war 1832 auch in Großbritannien weder beabsichtigt noch erfolgt.35 Das Land, das heißt die Vertreter der Grafschaften und vorab die alten adeligen Familien, behielt seinen überproportionalen Einfluß. Im Parlament von 1833 konnten fast 500 Abgeordnete zum landed interest gezählt werden.38 Durch den Irish Reform Act von 1850, der den Zensus herabsetzte, stieg zwar die irische Wählerschaft auf rund 163 000 37 , so daß nun immerhin 2,5 °/o der Bevölkerung wahlberechtigt waren38, aber die nächste große Reform, der bedeutende Representation of the People Act Disraelis von 1867, blieb ausdrücklich auf England und Wales beschränkt. Indem die Reform von 1867 einen Teil der Wahlbezirke neu abgrenzte, die Besitzqualifikationen herabsetzte und nun jedem Inhaber eines selbständigen Haushalts, der Kommunalsteuern zahlte, das Wahlrecht zum Unterhaus zugestand, gab sie dem durch die Industrialisierung stark angewachsenen mittleren und niederen Bürgertum der Städte sowie einem großen Teil der Arbeiterschaft das Stimmrecht. Die Zahl der Wähler stieg daraufhin im ganzen Vereinigten Königreich auf 8,5 °/o der Bevölkerung.39 Die Zugeständnisse des parallelen Gesetzes für Irland waren unbedeutend. Die Zahl der Wahlberechtigten in den städtischen Wahlkreisen stieg nur geringfügig auf weniger als 4°/o
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Gash, S . 8 9 . Dazu Löwenstein, »Zur Soziologie der parlamentarischen 1 Repräsentation in England«, S. 79 f. Gash zeigt, wie wenig die Reform von 1832 die Wählerstruktur des Vereinigten Königreichs tatsächlich änderte, vgl. Kapitel VIII (S. 1 7 3 - 2 0 2 ) , und Kapitel I X (S. 2 0 3 - 3 8 ) . Vgl. auch Löwenstein, S. 166; Karl Braunias, Das parlamentarische Wahlrecht, Berlin und Leipzig 1932, Bd. I, S. 2 0 7 ; Thompson, S. 48, und D. Sternberger und B.Vogel (Hrsg.), Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane. Ein Handbuch, Berlin 1969, Bd. I, S . 6 1 1 .
88 Woodward, S. 92. 3 7 Whyte, The Independent Irish Party, S. 63. 3 8 Nadi Whyte ungefähr 10 %> der Männer (Tenant League, S.5). 3 9 Jennings und Ritter, S. 55; F. B. Smith, The Making of the Second Reform Bill, Cambridge 1966, S . 2 ; M. Cowling, 1867: Disraeli, Gladstone and Revolution. The Passing of the Second Reform Bill, Cambridge 1967, S . 4 6 ; Braunias, I, S. 2 0 8 ; Handbuch der europäischen Geschichte, VI, S. 275 ff.
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der städtischen Bevölkerung. 40 In absoluten Zahlen ausgedrückt, besaßen 1868 in Irland insgesamt 233 160 Männer das Wahlrecht. 41 Es bestand weiterhin die abnorme Situation, daß fast die Hälfte der 39 irischen Stadtwahlkreise 42 weniger als 400 Wahlberechtigte aufwies. Etwas über 4000 Wähler wählten auf diese Weise 16 von insgesamt 105 Abgeordneten. 43 Die offensichtlich notwendigsten Reformen, die Herabsetzung des Zensus vor allem in den ländlichen Wahlkreisen und eine Neuaufteilung der Wahlkreise, erfolgten erst 1884/85. Als eine bedeutsame Reform erwies sich jedoch die Einführung der geheimen Wahl im Jahre 1872, die wesentlich dazu beitrug, die Freiheit der Wahlentscheidung in Zukunft tatsächlich dem einzelnen Wähler zu geben. 44 Rein wahltechnisch war damit eine wichtige Voraussetzung für das Entstehen einer nationalen Partei in Irland gegeben. c) Die soziale Zusammensetzung der irischen Abgeordneten 1800-1870 Zu den Schwierigkeiten, mit denen sich O'Connell bei dem Experiment seiner Irish Party konfrontiert sah, gehörte unter anderem die Suche nach Unterhauskandidaten, die bereit waren, sich für die gemäßigten nationalen Forderungen der Repealer einzusetzen. 45 Die soziale und politische Vorrangstellung der landbesitzenden Schicht, das sie begünstigende Wahlrecht und die oftmals hohen Ausgaben für die Durchführung des Wahlkampfes und den Aufenthalt in Westminster, die der Abgeordnete selbst aufbringen mußte 46 , bewirkten, daß der Kreis potentieller Unterhauskandidaten von vornherein eng begrenzt war. Hinzu kam, daß bis 1858 für die Wählbarkeit zum Unterhaus ein hoher Vermögenszensus bestand. 47 So ist es zu erklären, daß die irischen Abgeordneten noch bis Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts ihrer sozialen Herkunft nach fast ausschließlich aus der relativ kleinen Schicht der wohlhabenden Grundbesitzer und - mit einem geringen Anteil - der Schicht des überwiegend protestantischen Besitz- und Bildungsbürgertums kamen. Katholikenemanzipation und die späteren Reformen hatten daran wenig geändert. Wie in anderen europäischen Ländern konzentrierte sich somit in Irland politischer Einfluß in den Händen einer bestimmten Schicht, die sich in ihrer großen Mehrheit aus politisch-sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Motiven heraus am stärksten mit Großbritannien verbunden fühlte und die an einer Auflösung der Union am wenigsten interessiert war. Voran die einflußreichen irischen Protestanten, deren Zahl ungefähr 2 0 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, waren in dem 40 Smith, S. 228. « 42
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Bevölkerung Irlands 1 8 7 1 : 5,4 Millionen. Vgl. Smith, S. 236. Die Städte Belfast, Galway, Limerick und Waterford hatten 1832 einen zusätzlichen Unterhaussitz erhalten. Dadurch erhöhte sidi die Zahl der städtischen Wahlkreise von 35 auf 39 (Beckett, S. 308 Anm. 1; Gash, S. 52). David Thornley, Isaac Butt and Home Rule, London 1964, S. 27. Ähnliche Verzerrungen bestanden auch noch in Großbritannien fort (vgl. Cowling, S. 17). Vgl. M. Hurst, "Ireland and the Bailot Act of 1872", Historical Journal 8 (1965), S. 3 2 6 - 5 2 . Vgl. Nowlan, Politics of Repeal, S . 2 3 f . , und McCaffrey, Irish Question, S. 101. O'Brien, Parnell and his Party, S. 41 f. Diäten wurden erst seit 1911 gewährt. Braunias, I, S. 207.
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Glauben, daß ein Widerruf der Union eine Gefährdung ihrer Stellung auch in konfessioneller Hinsicht bringen würde. Statt Teil einer konfessionellen Majorität im Vereinigten Königreich zu sein, wären sie zu einer Minorität in einem autonomen Irland geworden. Eine Analyse der sozialen Struktur der bei den allgemeinen Wahlen von 1868 in Irland gewählten Abgeordneten, wie sie David Thornley durchführte 48 , ergibt ein klares Bild dieser Situation. Nach Parteizugehörigkeit spalteten sich die 105 Iren in 65 Liberale und 40 Konservative auf, nach Konfession in 68 Protestanten und 37 Katholiken. Fast drei Viertel dieser Abgeordneten waren entweder Grundbesitzer, deren Söhne oder Vertrauensleute (insgesamt 73). Bei den Konservativen zählten sogar 90°/o zu dieser Gruppe. 49 Der am zweitstärksten vertretenen sozialen Schicht, dem Besitzbürgertum, gehörten 17 Abgeordnete an. Berufe, die eine Universitätsausbildung erforderten (Juristen, Ärzte, teilweise audi Journalisten), hatten 11, fast ausnahmslos liberale Abgeordnete. Diese Zahlen verdeutlichen das erdrückende Übergewicht einer Klasse, die nicht nur in Irland, sondern auch noch im industriellen England trotz aller Reformen den entscheidenden politischen Einfluß besaß. Die irischen Parlamentarier unterschieden sich deshalb soziologisch in dieser Zeit nicht wesentlich von den englischen. Das Unterhaus wurde noch über die Disraelische Wahlreform hinaus vom Typ des aristokratischen landed gentleman bestimmt, hinter dem die Angehörigen von Handel und Industrie mehr zurücktraten, als es durch das Verhältnis wirtschaftlicher Macht zwischen grundbesitzendem Adel und dem großbürgerlichen Teil der britischen Gesellschaft gerechtfertigt war. 50 Die soziale Zusammensetzung des Unterhauses hatte sich also zwischen 1832 und 1884 weniger verändert, als man es nach der Reform von 1832, dem Erstarken des Bürgertums und der Verleihung des Stimmrechts an die Arbeiter erwartet hätte. Das eigentliche Bürgertum war auch nach 1832 im Unterhaus nur schwach vertreten. So gehörten in unserem Stichjahr 1868 zur Schicht der Grundbesitzer rund 60% aller Unterhausabgeordneten 51 , eine Relation, die erst 1885 infolge der unmittelbar vorangegangenen Reformen einen Punkt erreichte, nach dem der Grundbesitz und die ihm nahestehenden Kreise nicht mehr die Mehrheit der Unterhaussitze hielten.52
« Thornley, Isaac Butt, S. 205 ff. 36 von 40 Abgeordneten. 50 Löwenstein, S. 111. si 407 von 658 Abgeordneten (Hanham, S.XVI, und Woodward, S.92). 52 Hanham, S. XVII, und Thompson, S. 276. 49
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3. Die
Home-Rule-Bewegung
Die Anfänge der konstitutionellen Home-Rule-Bewegung können ziemlich exakt auf das Jahr 1869 datiert werden. In diesem Jahr schlug der ehemalige irische Unterhausabgeordnete IsaacButt (1813-79) die Gründung einer national-irischen Partei vor. 1 Butt leitete damit eine fast fünf Jahrzehnte währende Wiederbelebung des konstitutionellen Nationalismus in Irland ein. Die Forderung nach Home Rule für Irland ließ eine Partei entstehen, die im britischen Unterhaus zeitweise für die Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit ausschlaggebend war. Ihre Hauptforderung wurde zum Anlaß für die Spaltung der Liberalen Partei Großbritanniens. Sie setzte für die irischen Pächter auf Kosten der traditionellen Besitzrechte ausgedehnte Agrarreformen durch, sie diente den englischen Parteien als Vorbild für Organisation und Disziplin, und sie hatte schließlich kurz vor dem Ersten Weltkrieg an der politischen Entmachtung des britischen Oberhauses einen erheblichen Anteil. Bemerkenswert war an Butts Vorschlag zweierlei. Einmal, daß die Initiative zur Bildung einer Irischen Partei von einer Seite ausging, von der man es am allerwenigsten erwartet hätte. Butt war ein wohlhabender Rechtsanwalt, Protestant und Konservativer. Er war damit seiner sozialen Stellung und politischen Überzeugung nach dem Kreis der anglo-irischen Oberschicht zuzurechnen, unter der seine Idee überraschenderweise zunächst auch die meisten Anhänger fand. 2 Zum anderen war bemerkenswert, daß die Home-Rule-Bewegung nicht in der Amtszeit einer konservativen, sondern einer liberalen Regierung entstand 3 , die die Unterhauswahlen von 1868 mit dem Versprechen gewonnen hatte, in Irland Reformen durchzuführen. 4 Es stellt sich daher die Frage nach den Motiven Butts. 5 Eine Einordnung Butts in das traditionelle Schema der politischen Gruppierungen in Irland stößt auf einige Schwierigkeiten. Seine politischen Vorstellungen gingen über dieses Schema hinaus und zielten eher auf eine Synthese nationaler, liberaler und konservativer Ideen ab. Der Wunsch nach einer gewissen Reformierung der Verhältnisse in Irland, vor allem auf dem Agrarsektor, und einer größeren Unabhängigkeit von Großbritannien stand zweifellos im Vordergrund seines Denkens. Mehr im Hintergrund schwang die Furcht vor einer Radikalisierung der politischen Verhältnisse in Irland mit, die sich mit der wachsenden Macht der Massen am Horizont abzuzeichnen begann. Der fehlgeschlagene Aufstand der Fenier, eines Geheimbundes mit separatistisch-republikanischen Zielen, hatte 1867 nach einer längeren Periode politischer Ruhe erneut auf die Ungelöstheit der irischen Probleme aufmerksam gemacht, die politische Kontroverse über Irland wieder in den Vorder-
1 In der Zeitschrift The Nation am 13.11. 1869 (vgl. Becke«, S.377, und D. Thornley, "The Irish conservatives and home rule, 1869-73", I H S 11, 1958-59, S. 204). 2 Thornley, "The Irish conservatives", S. 202 f. und S. 206. 3 Gladstones erste Regierung amtierte von Dezember 1868 bis Februar 1874. * Thornley, Isaac Butt, S . 2 7 f f . 5 Hierzu die Studien von Thornley und L. J. McCaffrey, "Irish Federalism in the 1870's: A Study in Conservative Nationalism", Transactions of the American Philosophical Society, N e w Series, Bd. 52, Philadelphia 1962. 35
grund gerückt und in den Iren das Bewußtsein ihrer Nationalität neu geweckt.8 Auf die konservative irische Oberschicht und die englische Öffentlichkeit wirkte der Fenieraufstand, der zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Bedrohung der bestehenden politisch-sozialen Verhältnisse darstellte, wie ein Alarmzeichen.7 In Irland schuf er die psychologischen Voraussetzungen für das Auftreten eines neuen nationalen Führers.8 So ist Butts Vorschlag einmal als Versuch der irischen Seite zu verstehen, das neuerwachte Nationalbewußtsein, das sich zuerst in einer Amnestiebewegung für die inhaftierten Fenier äußerte9, in den Dienst der modifizierten O'Connellschen Repealforderung zu stellen, zu deren Befürwortern Butt auf konservativer Seite in den 1840er Jahren zeitweise gehörte10, und mit einer Partei ein legales Agitationsinstrument für die Durchsetzung politischer Reformen als Alternative zu den revolutionären Feniern zu schaffen.11 Zum andern spielte die Überzeugung Butts eine Rolle, daß Home Rule Irland bewahren würde "from the excesses of democracy, the terrors of radicalism, and the impieties of secularism then threatening the conquest of British institutions and society". 12 Nach Butts Meinung war no people on earth less disposed to democracy than the Irish. The real danger of democratic or revolutionary violence is far more with the English people. The time may not be far distant when a separate Irish Parliament might be, in the best sense of the word, the Conservative element in the British Confederation. 13 Dieses Bewußtsein der gefährdeten Stabilität der irisdien Gesellschaft durch die liberale englische Demokratie lag auf einer Ebene mit dem Bemühen der sozial-konservativen Grundbesitzer, weitere Reformen und vor allem die Ausdehnung des seit dem Wahlgesetz von 1867 für England erweiterten Wahlrechts auf Irland durch eine Lockerung der staatsrechtlichen Bindung zwischen beiden Inseln zu verhindern.14 Als nächster folgenschwerer Schritt stand die Einführung des geheimen Wahlrechts bevor, von der die Grundbesitzer die endgültige Zertrümmerung aller konservativen Einrichtungen befürchteten.15 Die anglo-irische « Thornley, Isaac Butt, S . 2 4 ; Beckett, S.361 f.; T . W . Moody (ed.), The Fenian Movement, Cork 1968, S . 3 0 f f . 7 O'Hegarty, S . 4 5 8 f . ; Macardle, S . 4 6 ; Beckett, S . 3 6 1 ; Robert Blake, Disraeli, London 1966, S . 4 9 6 f . Nach Norman McCord, "The Fenians and Public Opinion in Great Britain", University Review 4 (1967), S. 227—40, war die Wirkung des Aufstandes auf die öffentliche Meinung in Großbritannien nur schwach und vorübergehend. E r diskutiert allerdings nicht die Haltung und Reaktion Gladstones, s Thornley, Isaac Butt, S . 2 1 . » Ebda., S. 65 ff. 10 Ebda., S. 16 ff. 1 1 Ebda., S. 14. Die britische Regierung reagierte mit drei großen Reformen: a) Entstaatlichung der anglikanischen irischen Kirche (1869). b) Das Landgesetz von 1870. c) Das Universitätsgesetz von 1873. 12 McCaffrey, "Irish Federalism", S. 4. 1 3 Isaac Butt, Irish Federalism! Its Meaning, Its Objects, and Its Hopes, Dublin (1. Auflage 1870), S. 39. 1 4 Thornley, " T h e Irish conservatives", S. 200 ff. 1 5 Eyck, S . 2 6 0 .
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Oberschicht, die schon die Entstaatlichung der anglikanischen Kirche, der sie in ihrer überwiegenden Mehrheit angehörte, und die Einbringung des ersten Gladstoneschen Landgesetzes - eines Gesetzes, das nach ihrer Meinung die Interessen der Grundbesitzer ignorierte16 - mit äußerstem Mißtrauen registriert hatte, befürchtete von einer Vergrößerung der irischen Wählerschaft und gleichzeitiger Geheimhaltung des Wahlaktes das Ende ihrer politischen und sozialen Vorrangstellung.17 Die reformerischen Initiativen des englischen Liberalismus waren also dazu angetan, die irischen Konservativen zutiefst zu beunruhigen. Die Union, die bisher als der unerschütterliche Garant ihrer Privilegien gegolten hatte, begann für sie an Wert zu verlieren. Ihr Fortbestehen mit einem liberalen Großbritannien als Partner wurde daher nun von ihrer Seite in Frage gestellt. Da Butts Vorschlag zunächst sehr vage war und er als Ziel einer nationalirischen Partei lediglich die Durchsetzung einer wie auch immer gearteten Selbstregierung für Irland nannte, sprach er aber nicht nur den protestantischen Konservativismus an, der die Gladstoneschen Reformen als Gefährdung seiner Privilegien ablehnte, sondern auch den liberalen Nationalismus der irischen Katholiken, für den die eingeleiteten Reformen noch nicht ausreichten.18 Das sollte für die Zukunft des Home-Rule-Gedankens bedeutsam werden. Schon im Mai 1870 wurde der Vorschlag Butts auf einer Versammlung in Dublin diskutiert, und wenige Monate später, im September 1870, kam es zur Konstituierung der Home Government Association for Ireland, die der künftigen Partei das ideologische Fundament lieferte. Diese Vereinigung, in der zunächst vornehmlich Protestanten und Konservative, in zunehmendem Maße dann aber auch Liberale vertreten waren 19 , sollte auf ein föderalistisches System hinwirken, in dem ein irisches Parlament für alle irischen Angelegenheiten zuständig sein sollte, während dem übergeordneten Londoner Reichsparlament, in dem Irland weiterhin vertreten sein sollte, auch in Zukunft die Verantwortung für alle außenpolitischen und Großbritannien und Irland gemeinsam betreffenden Angelegenheiten überlassen blieb.20 Auf den ersten Blick scheint Butts Home-Rule-Konzeption die liberale Linie O'Connell-Jung-Irland nach einem Widerruf (repeal) der Union unter gleichzeitiger Restitution des autonomen irischen Parlaments von 1782 fortzusetzen.21 Bemerkenswert an den Vorstellungen Butts sind jedoch einmal die umfassende und im Unterschied zu den Repealern präzisere und konstruktive Konzeption, Beckett, S . 3 7 7 . Über ihre Haltung zur Entstaatlichung der anglikanischen Kirche: Kettle, S. 13, und McCaffrey, "Irish Federalism", S. 8. 1 7 Thornley, " T h e Irish conservatives", S. 202. « Ebda., S. 2 0 2 und S. 205. 1 9 Thornley, Isaac Butt, S. 9 5 ; L. J . McCaffrey, " H o m e rule and the general election of 1874 in Ireland", I H S 9 ( 1 9 5 4 - 5 5 ) , S. 1 9 1 ; Thornley, "The Irish conservatives", S. 206. 2 0 Thornley, Isaac Butt, S.99ff. In dieser staatsrechtlichen Form sind heute die Beziehungen zwischen Nordirland und der Zentralregierung des Vereinigten Königreichs geregelt. D a aber das Parlament von Westminster nur bestimmte Rechte an das Parlament von Nordirland abgetreten hat, ohne auf seine grundsätzliche Oberhoheit zu verzichten, spricht man in diesem Falle nidit von >Föderalismus O'Brien, S. 239.
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5. Die Phase der parteiinternen
Auseinandersetzungen,
1890-1900
I n diese für die Iren hoffnungsvolle Situation fiel Parnells Verwicklung in einen Scheidungsprozeß, die seine Laufbahn als Politiker abrupt beendete und die Partei spaltete. 1 Mit der Spaltung der Partei in zwei bzw. drei miteinander rivalisierende Gruppen begann Ende 1890 die zweite Phase der Parteigeschichte, die gekennzeichnet ist durch die politische Ohnmacht der Partei und ihren schwindenden Rückhalt in der irischen Bevölkerung. 2 Mit dem Sturz Parnells war die Einheitlichkeit der irischen Nationalbewegung f ü r annähernd ein Vierteljahrhundert zerstört; erst die Sinn-Féin-Organisation bildete seit 1917 wieder eine Bewegung von ähnlicher Bedeutung und Geschlossenheit wie die Irische Partei unter Parnell. Am 24. November 1890 erklärte Gladstone, der englische Staatsmann, von dem die Iren die Gewährung von Home Rule am ehesten erhoffen konnten, daß seine Unterstützung des Home-Rule-Verlangens angesichts einer auch weiterhin von Parnell geführten Partei unmöglich sei, da das mit seiner Stellung als Vorsitzender der Liberalen Partei unvereinbar sei.3 In Irland forderte die Kirche, bezeichnenderweise erst einige Tage nach Gladstones Erklärung, dazu auf, Parnell als Führer des irisdien Volkes zurückzuweisen. 4 Unter diesem Drude von außen spaltete sich die Partei: die Mehrheit - 45 Abgeordnete geführt von Justin McCarthy 5 — wandte sich gegen einen Verbleib Parnells im Parteivorsitz, 28 Abgeordnete hielten an Parnell fest. 6 Die Parnell-Gegner zerfielen später nochmals in sich in zwei Gruppen 7 , so d a ß Mitte der 1890er Jahre im Unterhaus drei irische Gruppierungen existierten. Die Trennungslinien zwischen ihnen verliefen dabei nicht nach unterschiedlichen Auffassungen über die Grundsätze der zukünftigen Politik oder zweckmäßigsten Taktik, rationale und politische Gründe traten vielmehr weitgehend in den Hintergrund. Den Ausschlag für die Haltung der Abgeordneten im Einzelfalle gaben in erster Linie Gefühle der persönlichen Loyalität, der Sympathie und Antipathie. 8 Politische Argumente wurden von moralischen Argumenten und Emotionen überlagert. 1
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Zum Sturz Parnells und die nachfolgende Spaltung der Partei vor allem Lyons, The Fall of Parnell. Außerdem O'Brien, Parnell and his Party, S. 277-346; Lyons, Dillon, S. 144-78; L. P. Curtis, "Government policy and the Irish party crisis, 1890-92", IHS 13 (1962-63), S. 295-315; John F. Glaser, "Parnell's fall and the nonconformist conscience", IHS 12 (1960-61), S. 119-38. Der irische Abgeordnete William O'Brien schrieb später: "With the Split of 1890 ended the greatness of the Irish Party" (W. O'Brien, "The Party". Who they are and what they have done, Dublin und London 1917, S.9). Curtis, Coercion, S. 315. Den RüAhalt der Liberalen bildeten die Wähler, die den nonkonformistischen Kirchen angehörten. Für sie schlössen sidi Scheidung und Bekleidung eines politischen Amtes aus (Glaser, S. 119ff.; Lyons, Dillon, S. 116). Lyons, Dillon, S. 118; E. Larkin, "The Roman Catholic Hierarchy and the Fall of Parnell", Victorian Studies 4 (1961). J. McCarthy (1830-1912); Journalist und Schriftsteller; Abgeordneter seit 1879; stellvertretender Parteivorsitzender unter Parnell. O'Brien, Parnell and his Party, S. 279. Lyons, Dillon, S. 169 f. Vgl. O'Brien, S. 334.
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Das politische Problem trat erst in der Folgezeit wieder in den Vordergrund. Es spitzte sidi im wesentlichen auf die unterschiedliche Haltung zum englischen Parteiensystem zu. Die Parnell-Anhänger verwarfen nun das Bündnis mit den englischen Liberalen, von dem sich Parnell noch kurz vor seinem Sturz losgesagt hatte, und beriefen sich erneut auf das Prinzip der unabhängigen Opposition. 9 Die Interpretation dieses Prinzips wurde zum fundamentalen Streitpunkt zwischen den Gruppen. Gladstone, so behaupteten die Parnell-Anhänger, habe die Partei vor die Wahl zwischen Parnell und Home Rule gestellt, und die Majorität habe die Unabhängigkeit der Partei geopfert, indem sie Parnell unter Druck verließ.10 Home Rule könne aber nicht in Allianz mit einer englischen Partei erreicht werden, sondern nur durch konstanten Druck auf die englischen Parteien und durch die Gewinnung einer parlamentarischen Schlüsselstellung wie 1885/86. Andernfalls wären Vorlage und Inhalt eines Home-Rule-Gesetzes völlig abhängig vom guten Willen einer der großen Parteien. 11 Mit dem emotionalen Appell an das Andenken Parnells und dem Vorwurf, die Mehrheit der irischen Nationalisten sei von den Liberalen abhängig, bestritten sie in den 1890er Jahren die Wahlkämpfe. Die Parnell-Gegner stritten hingegen jegliche Abhängigkeit von den Liberalen ab.12 Aber in der Praxis waren sie an die Liberalen gebunden, mit deren Hilfe sie 1893 nochmals eine Home-Rule-Vorlage im Parlament durchzubringen hofften. Nach den allgemeinen Wahlen von 1892, die ihnen 71 Mandate brachten gegen 9 Mandate der Parnell-Anhänger 13 , rechtfertigten sie sogar ihren Abfall von Parnell mit dem Verweis auf die Notwendigkeit, die enge Allianz mit den Liberalen intakt zu halten 14 , zweifellos in der richtigen Erkenntnis, daß unabhängige Opposition, zumindest in dem Sinne, in dem man sie ursprünglich interpretierte, unmöglich geworden war. Opposition in Angelegenheiten von sekundärer Bedeutung war natürlich durchführbar, aber jedesmal, sobald die HomeRule-Frage in das Stadium einer Behandlung durch die Regierung trat, waren die Nationalisten auf die Liberalen angewiesen, um überhaupt eine Aussicht auf Erfolg zu haben. 15 Die Möglichkeit einer unabhängigen Opposition hatte mit Gladstones erster Home-Rule-Vorlage aufgehört zu bestehen. Das Verdikt der irischen Wähler von 1892 war also ein deutliches Votum zugunsten des allein Erfolg versprechenden Bündnisses mit den Liberalen und gegen eine ungewisse Politik der unabhängigen Opposition, wie sie von den Parnell-Anhängern vertreten wurde. 18 Auch die äußeren Umstände für eine solche Politik waren in der Periode von 1891 bis 1905 denkbar ungünstig. Für das Vereinigte Königreich war es eine Zeit erneuter wirtschaftlicher Prosperität und imperialer Expansion, in der außenpolitische und koloniale Probleme weit größere Aufmerksamkeit fanden als die Probleme Irlands. 17 9 Lyons, The Irish Parliamentary Party, 1890-1910, S.29. " Ebda. 11 Ebda., S. 30. Lyons, Irish Party, S. 30; ders., Fall, S. 150. '3 Ders., Irish Party, S. 37. 14 Ders., Fall, S. 317. •5 Ders., Irish Party, S. 259. Ebda., S. 37. « Becke«, S. 405.
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In Irland bewirkten die parteiinternen Zwistigkeiten und die Uneinigkeit der 1890er Jahre ein ständiges Sinken des Prestiges der konstitutionellen Bewegung. Es wurde offenkundig, daß aus dem disziplinierten politischen Instrument der 1880er Jahre eine Partei geworden war, in der durch das Fehlen eines hinreichend breiten Konsensus die desintegrierenden Tendenzen überwogen. Jetzt stellte es sich als eine Schwäche der Partei heraus, daß sie die Schöpfung eines einzelnen autokratischen Mannes war, ohne dessen beherrschende Persönlichkeit ihre Effektivität und politische Bedeutung zerfielen. Zwar wurden Wahlen weiterhin von Home-Rule-Kandidaten gewonnen, aber der Glaube an den schließlichen Erfolg der Home-Rule-Politik unter den gegebenen Umständen ließ ständig nach.18 Das Nachlassen ihres Einflusses in Irland verband sich mit der Erfolglosigkeit ihrer parlamentarischen Tätigkeit. Nach dem erneuten Scheitern der Home-RuleVorlage im Jahre 1893 und Gladstones Rücktritt vom Parteivorsitz lockerten sich auch die Beziehungen der Nationalisten zu den englischen Liberalen, für die die irischen Probleme nicht länger dieselbe Bedeutung hatten wie unter Gladstone. 19 Die durchgreifenden Reformmaßnahmen der unionistischen Regierung für Irland in den Jahren von 1895 bis 1903 kamen ohne die Mitwirkung der Partei zustande. 20 Die Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus waren so eindeutig, daß jede Einflußnahme von Seiten der Partei ausgeschlossen war und ihr nur ein passives Hinnehmen der für Irland beschlossenen Maßnahmen übrigblieb. 21 Es ist jedoch immerhin das Verdienst der Partei, auf die größten Mißstände, die nun allmählich beseitigt wurden, ständig hingewiesen zu haben. Die konservative Haltung zu den irisdien Problemen, die mit dem Schlagwort "killing home rule with kindness" gekennzeichnet wurde 22 , das heißt, der die Uberzeugung zugrunde lag, den politischen Forderungen der Iren durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen und die Durchführung überfälliger Reformen im Bereich der Kommunalverwaltung den Nährboden entziehen zu können, schien auf dem besten Wege, die irische Autonomieforderung zu einer historischen Reminiszenz werden zu lassen. Die begründete Aussicht auf eine unmittelbare Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse lenkte die Aufmerksamkeit der irischen Bevölkerung, wenn auch nur vorübergehend, von dem politischen Ziel der nationalistischen Bewegung ab, dessen Erfüllung angesichts einer starken konservativ-unionistischen Regierung und nach dem Tode Gladstones weiter denn je zuvor entfernt war. 23 Als ein sehr deutliches Symptom für den schwindenden Rückhalt der Partei in Irland sind die sinkenden Beitragsleistun« Ebda., S. 414. 19 Vgl. Hamer, "The Irish Question and Liberal Politics", S. 529 ff. 20 Die wichtigsten Reformen dieser Zeit sind: a) Der Local Government Act von 1898, der die irische Kommunalverwaltung reformierte (siehe unten S. 127). b) Die Einrichtung des Department of Agriculture and Technical Instruction 1899, das die Funktionen eines irisdien Landwirtschaftsministeriums übernahm. c) Der Wyndham Act von 1903, durch den die Bodenreform abgeschlossen wurde. 21 Vgl. Lyons, Irish Party, S.228. Die konservative Unterhausmehrheit betrug nach 1895 152 Sitze. 22 Lyons, Irish Party, S. 67. 23 Ebda., S. 68 f. Vgl. auch H . W. McCready, "Home rule and the liberal party, 18991906", IHS 13 (1962-63), S . 3 1 7 f .
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gen der Iren im Mutterland und in den USA für die Parteifonds anzusehen, die in den Jahren 1897 bis 1899 einen absoluten Tiefpunkt erreichten.84 Anzumerken ist jedoch, daß die konservativen Reformmaßnahmen letzten Endes das Gegenteil von dem bewirkten, was sie beabsichtigten. Gerade in dieser Zeit einer "policy of conciliation"25 seitens der Unionisten erfuhr der irische Nationalismus neue Anregungen und entfaltete er neue Initiativen. Der konstitutionelle Nationalismus, der in den 1880er Jahren von der Partei Parnells verkörpert wurde, verlor zwar seine Dynamik, aber an seine Stelle traten allmählich der gälische Nationalismus und eine nationalbewußte Arbeiterbewegung.26 Daß der Prozeß der Selbstauflösung und politischen Agonie aufgehalten wurde und es zu einer Wiedervereinigung der verschiedenen Parteiflügel kam, ist auf vier Beweggründe zurückzuführen: a) Auf das Wiedererstarken des politischen Nationalismus, zum Teil als Reaktion auf den Burenkrieg.27 Es fand in der Gründung der United Irish League, der letzten Agrarbewegung Irlands, und in den Feiern zum 100jährigen Gedenken an die Rebellion von 1798 seinen stärksten Ausdruck.28 b) Auf das Bemühen um eine Fortsetzung der Reformen der unionistischen Regierung seit 1895 auch nach den bevorstehenden allgemeinen Wahlen, wobei man von der Überlegung ausging, daß die Präsenz einer geeinten irisdien Partei im Unterhaus diesen Bemühungen mehr Nachdruck verleihen könnte.29 c) Auf das Ausbleiben finanzieller Unterstützung für die gespaltene Partei durch die Iren in Irland und Übersee.30 d) Auf das Einlenken der größeren Gruppe, der sogenannten Parnell-Gegner. Im April 1899 einigte man sich auf ein Programm, das den Vorstellungen der Parnell-Anhänger weitgehend entgegenkam.31 Danach sollten sich alle irischen Nationalisten auf die Prinzipien der Partei, wie sie unter Parnell galten, verpflichten. Die neufusionierte Partei sollte in Zukunft von den englischen Parteien unabhängig sein. Ihr Hauptziel sollte es sein, für Irland einen Status zu erlangen, wie er in den Home-Rule-Vorlagen von 1886 und 1893 vorgesehen war. Außerdem sollte sich die Partei weiterhin für die Beseitigung aller irischen Beschwerden einsetzen, besonders für die Probleme Land, Arbeit, Besteuerung und Erziehung. Auf dieser Basis erfolgte im Februar 1900 die Wiedervereinigung der zersplitterten Nationalisten. Zum Vorsitzenden der Partei wurde John Redmond gewählt, der Führer der Parnell-Anhänger, einmal wegen seiner Fähigkeiten als erfahrener Parlamentarier und zum anderen zur Betonung der Kontinuität in der Parteitradition, die sich in ihm als dem ehemals engen Mitarbeiter Parnells
Lyons, Irish Party, S. 68 Anm. 1, und Bedien, S. 414. Becke«, S. 405. 28 Siehe unten S. 181-208. 2 7 Curtis, Coercion, S. 419; Lyons, Dillon, S. 204; J. J. Horgan, Parnell to Pearse, Dublin 1948, S. 87. 28 Beckett, S.415; Lyons, Irish Party, S.89; Macardle, S.59; Lyons, Dillon, S. 181. 2» Lyons, Irish Party, S. 89. 3 0 Beckett, S.414. Vgl. auch Denis Gwynn, The Life of John Redmond, London 1932, S.51ff. 3 1 Dazu Lyons, Irish Party, S. 81. 24
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am besten zu verkörpern schien." In seinen politischen Anschauungen könnte man ihn wohl am ehesten als gemäßigten, konservativen Nationalisten bezeidinen. M Er hielt es weder für zweckmäßig, daß zwei so eng miteinander verbundene Länder wie Irland und Großbritannien getrennt würden, noch wünschte er eine Aufstückelung des Empires, an dessen Aufbau nach seiner Meinung — darin ähnelte er Isaac Butt - die Iren einen entscheidenden Anteil hatten.44 Daher trat er für eine irische Autonomie unter Aufrechterhaltung der engen Bindungen an Großbritannien ein, für einen Status Irlands nach dem Muster der Dominions Kanada und Australien. "Let us have", so erklärte er, "national freedom and imperial unity and strength." 35 Die Loyalität zur Krone wurde von ihm nie in Frage gestellt.86 Bezeichnend für sein Denken, das den National- mit dem Reichsgedanken eng verknüpfte, war die Unterstützung der englischen Politik im Jahre 1914. Bei Kriegsausbruch bot er der Londoner Regierung einen innenpolitischen >Waffenstillstand« an: England solle alle Truppen zur Verteidigung des Reiches aus Irland abziehen und die Verteidigung Irlands den Iren selbst überlassen.37
Lyons, Irish Party, S. 87. John E. Redmond (1856-1918); katholischer Jurist und Grundbesitzer; Abgeordneter von 1881 bis 1918. »» Vgl. Strauss, S. 250. 3 4 C. C. O'Brien (ed.), The Shaping of Modern Ireland, London 1960, S.39; McCaffrey, Irish Question, S. 135. ¡>5 O'Brien, Shaping, S. 39. 3 8 Gwynn, Redmond, S. 188. 3 7 Lyons, "The Passing of the Irish Parliamentary Party (1916-1918)", in Desmond Williams (ed.), The Irish Struggle 1916-1926, London 1966, S.96.
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6. Die Irische Parlamentspartei
unter John Redmond,
1900-1918
a) Die Auseinandersetzungen über die künftige Parteipolitik Mit Redmond als Parteivorsitzendem begann die dritte Phase in der Geschichte der Partei, in der sie zwar einen neuen politischen Aufschwung erlebte, der seinen Höhepunkt in der Einbringung und Annahme der dritten Home-Rule-Vorlage fand, in der sie aber nicht mehr die Geschlossenheit wie in der Parnellära erreichte. Nach außen trat die Partei wieder geeint auf, doch täuschte das nicht über innere Probleme hinweg, die durch die Fusion der verschiedenen Gruppen keineswegs gelöst waren. Rivalitäten der führenden Parlamentarier, hinter denen sich gegensätzliche Meinungen über das künftige politische Vorgehen unter einer unionistischen Regierung verbargen, bestanden fort und verhinderten eine klare Politik. Als Exponent des radikalen Flügels lehnte John Dillon 1 eine Politik der schrittweise erfolgenden Verbesserung der sozialen Verhältnisse in Irland, eventuell sogar in Zusammenarbeit mit progressiven irischen Unionisten, ab, da nach seiner Meinung ein allgemeiner Wohlstand den irischen Nationalismus schwächen, die Grundlagen der konstitutionellen Bewegung zerstören und schließlich zum Verschwinden der Forderung nach Home Rule führen würde.2 Auf dem rechten Flügel der Partei vertrat William O'Brien®, der Gründer der United Irish Leugne, die Ansicht, bessere soziale Verhältnisse würden die Forderung nach Autonomie stimulieren, den irischen Nationalismus also stärken.4 Deshalb befürwortete er z. B. eine Kooperation mit den gemäßigten Unionisten zur endgültigen Regelung der Landfrage.5 Die eventuelle Zusammenarbeit mit den Unionisten stellte allerdings die politische Existenzberechtigung der nationalistischen Partei grundsätzlich in Frage, denn Home Rule und Unionismus bildeten gegensätzliche Konzepte, zwischen denen es nach Auffassung der Parteimehrheit keine Annäherung ohne die Aufgabe fundamentaler politischer Anschauungen geben konnte.6 Dieser Prinzipienstreit, der von Redmond nur unvollkommen überbrückt werden konnte, erklärt zu einem großen Teil das Schwanken und die Unsicherheit der Irischen Partei im Unterhaus in den Jahren bis zur dritten Home-Rule-Vorlage. Einerseits konnte die Partei schlechterdings nicht eine Gesetzgebung ablehnen, die zum Vorteil Irlands war, denn das hätte die Loyalität der Wähler, die Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr so bedingungslos war wie zur Zeit Parnells, gefährlichen Belastungen ausgesetzt. Insofern konnte sich Dillons Stand» John Dillon ( 1 8 5 1 - 1 9 2 7 ) ; A r z t ; seit 1874 Mitglied der Home Rule League; seit 1879 Mitglied der Landliga; Abgeordneter seit 1880 mit einer kurzen Unterbrechung in den Jahren 1882 bis 1885. 2 Lyons, Irish Party, S. 104 ff. und S . 2 3 3 ; Curtis, Coercion, S . 4 2 1 ; Gwynn, S . 8 9 ; Lyons, Dillon, S. 175. * William O'Brien ( 1 8 5 2 - 1 9 2 8 ) ; Journalist; um 1870 vorübergehend Mitglied der I. R . B.; Mitglied der Landliga; Abgeordneter seit 1883. 4 Lyons, Irish Party, S. 1 0 6 ; vgl. dazu auch W . O'Brien, An Olive Brandl in Ireland and Its History, London 1910, und Frederick K . Schilling, William O'Brien and the All-for-Ireland League, Msdir. B.A.-These, Trinity College Dublin 1956. s Lyons, Irish Party, S. 108. « Ebda.
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punkt nie durchsetzen. Andererseits konnte aber die Partei die Regierung auch nicht vorbehaltlos unterstützen, denn das hätte nach einer Identifizierung mit den politischen Auffassungen der Unionisten ausgesehen, nach einem Abweichen vom Grundsatz der unabhängigen Opposition.7 Neben diesen parteiinternen Richtungskämpfen belastete die Frage der Beziehungen zur United Irish League die Partei. Die Liga war nicht mehr nur wie ihre Vorgängerinnen eine untergeordnete Hilfsorganisation für die Partei, sondern sie hatte unter der Leitung W. O'Briens ein großes Maß Eigenständigkeit gewonnen8, das sie sogar ganz offen den Primat in der nationalistischen Bewegung anstreben ließ.9 Erst nach langwierigen Verhandlungen konnte das Verhältnis zwischen Liga und Partei geklärt werden: Redmond wurde im Juni 1900 zu ihrem Vorsitzenden gewählt, so daß er nun wie einst Parnell die beiden wichtigsten Ämter des nationalistischen Irlands in Personalunion vereinte. Außerdem wurde die Liga zur offiziellen Organisation der Partei in Irland erklärt. 10 Danach schien die Partei zumindest an der Oberfläche die nationale Bewegung und die öffentliche Meinung wieder unangefochten zu beherrschen. Sie nahm wieder eine Position ein, die die Mißstände des Jahrzehnts zwischen 1890 und 1900 vergessen ließ. 11 Im Verhältnis zu den englischen Parteien kam es zu einer umstrittenen Erneuerung des seit Gladstones Rücktritt praktisch aufgelösten Bündnisses mit den Liberalen nadi deren Wahlsieg im Januar 1906. 12 Einer der ersten Erfolge dieser besonders von Redmond befürworteten Zusammenarbeit war 1908 die Errichtung der National University of Ireland - die Erfüllung einer alten Forderung der Parlamentspartei, die in der Vergangenheit Gegenstand zahlloser Debatten und Anträge der irischen Abgeordneten gebildet hatte. 13 Die Home-Rule-Frage trat erneut in den Vordergrund, als die Partei bei den beiden Unterhausneuwahlen im Januar und Dezember 1910 eine Schlüsselstellung wie 1885/86 gewann.14 Bei annähernd gleicher Mandatszahl der Liberalen und Unionisten gaben die 82 (Januar) bzw. 84 (Dezember) Stimmen der Nationalisten den Ausschlag bei der Regierungsbildung. Liberale und Nationalisten waren angesichts dieser Lage aufeinander angewiesen: die Liberalen benötigten die irische Unterstützung, wenn sie im Amt bleiben wollten, die Iren konnten hingegen nur von den Liberalen die Gewährung von Home Rule erwarten, denn die Alternative zu einer Asquith-Regierung war ein unionistisches Ministerium, das 1912 nach Lage der Dinge einer Home-Rule-Regelung stärkeren Widerstand als je zuvor entgegengesetzt hätte.15 Die Liberalen unter Asquith waren zu einer neuen Home-Rule-Vorlage bereit, wobei die Erfahrungen Campbell-Bannermans bei der Gewährung der Selbst7 Vgl. Lyons, Irish Party, S. 233. 8 Ebda., S. 9 0 » Ebda., S. 108. Siehe auch unten S. 153 f. i» Ebda., S. 96, und Lyons, Dillon, S. 213. 1 1 Lyons, Irish Party, S. 263. « Ebda., S. 109 ff. »» Lyons, Irish Party, S. 248. 1 4 Vgl. die Wahlergebnisse in Ensor, England, S. 418 und S. 427. 1 5 Lyons, S . 2 5 9 ; vgl. auch R . Fanning, " T h e unionist party and Ireland, 1 9 0 6 - 1 0 " , I H S 15 ( 1 9 6 6 - 6 7 ) , S. 1 4 7 - 7 1 .
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regierung f ü r die südafrikanischen Burenstaaten ein positives Modell boten. Redmond sollte der irische Botha werden. 16 Zudem waren die Liberalen jetzt endgültig entschlossen, den Widerstand des seit den Tagen William Pitts von den Konservativen beherrschten Oberhauses gegenüber einer Home-Rule-Regelung zu brechen. 17 Die Abschaffung des Vetorechts des Oberhauses sollte das unmittelbare Vorspiel zur Einbringung der Home-Rule-Vorlage sein. 18 Die Politik der Kooperation mit den Liberalen schien unter diesen günstigen Vorzeichen das langangestrebte Resultat zu bringen. Obwohl die Vorlage 1912 eingebracht wurde und nach drei Jahren parlamentarischer Auseinandersetzungen, in denen das irische Problem noch einmal im Zentrum der britischen Innenpolitik stand, von beiden Häusern des Parlaments gebilligt wurde 19 , war die Durchsetzung der seit 40 Jahren verfochtenen Forderung nach Home Rule nur ein scheinbarer Triumph. Das Jahr 1914 bezeichnet die Peripetie der Partei. Dem vermeintlichen Erfolg folgte fast unmittelbar die Auflösung der Partei. Der Erfolg wurde dadurch zunichte gemacht, daß die Inkraftsetzung des Home-Rule-Gesetzes durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges suspendiert wurde und daß eine befriedigende Lösung des Ulsterproblems mißlang. Die Drohung eines bewaffneten Aufstandes und Bürgerkrieges in Ulster, wo sich seit Januar 1912 aus Protest gegen Home Rule die illegalen, paramilitärischen Verbände der Ulster Volunteers bildeten 20 , waren überdies Anzeichen f ü r eine sich zuspitzende Krise und eine Entwicklung, die schließlich auf die Abspaltung der sechs nördlichen Grafschaften hinauslief. 21 Es zeigte sich, d a ß das von Ulster beanspruchte Widerstandsrecht gegen Beschlüsse des Unterhauses und eigenmächtiges Handeln jenseits der Legalität erfolgreicher waren, da sie die britische Regierung zu Konzessionen bewegen konnten. 22 Die verfassungswidrige Entwicklung in Ulster, die bis zur Bildung einer Provisorischen Regierung führte, bedeutete eine nicht zu unterschätzende Erschütterung des Vertrauens in die Gültigkeit und Zweckmäßigkeit des konstitutionellen Prinzips. 23 Gleichzeitig war sie ein Symptom für den zweifelhaften politischen Nutzen, den die Gewährung von Home Rule als Lösung des irischen Problems zum damaligen Zeitpunkt noch hatte. b) Partei und Nationalismus in den Jahren 1912-1916 Die Ursache f ü r das Ende der Partei vier Jahre später ist aber vor allem in einem 16
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Ensor, S. 418 f., und N . Mansergh, Das Britische Commonwealth. Entstehung, Geschichte, Struktur, München 1969, S. 344. Parlamentsreform von 1911. Gwynn, S. 191. Government of Ireland Act, 1914 (gedruckt in Curtis and McDowell, S. 292-97). Becke«, S. 427, und A. T. Q. Stewart, The Ulster Crisis, London 1967, S. 69 ff. Williams, Irish Struggle, S. 10 und S. 96. Bezeichnend für die Situation in Ulster im Frühjahr 1914 war das Unvermögen der Regierungen in London und Dublin, den illegalen Waffenschmuggel zu unterbinden. Die bekannteste der umfangreichen Waffenlandungen an der Küste war das sogenannte Gun-running in Lame im April 1914 (Stewart, S. 196 ff.). 1915 erklärte sich die Londoner Regierung bereit, Ulster das Recht einzuräumen, die Inkraftsetzung des Home-Rule-Gesetzes in Ulster für 6 Jahre auszusetzen. Dieser Kompromiß stellte den ersten amtlichen Schritt auf dem Wege der späteren Teilung Irlands dar. Hancock, S. 96. Vgl. auch Curtis, History, S. 404 f.
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W a n d e l der Verhältnisse in I r l a n d zu suchen, von dem die Partei n u r geringe N o t i z genommen hatte. 2 4 D e n Beginn dieses Wandels brachte der irische Dichter W . B. Yeats später zu Recht mit Parnells Sturz in V e r b i n d u n g : T h e fall of Parnell and the wreck of his p a r t y and the Organisation t h a t supported it were the symbols if not the causes of a sudden change. 25 D i e Partei, die alle Energien auf die Vorgänge im U n t e r h a u s konzentriert hatte, d a sie v o n einem dritten Scheitern der A u t o n o m i e f o r d e r u n g f ü r ihre politische Existenz katastrophale Folgen befürchtete 2 6 , u n d die den Dissidenten in den eigenen Reihen mehr Aufmerksamkeit widmete als der Entwicklung in Irland 2 7 , h a t t e u m 1914 keine K o n t a k t e zu den neuen nationalen Kräften u n d Bestrebungen, die seit 1890 u n d verstärkt seit 1905 in Irland Einfluß gewonnen hatten. 2 8 D i e nationalistischen H o f f n u n g e n richteten sich fast unmerklich auf andere O r ganisationen. D e r P r o z e ß der E n t f r e m d u n g zwischen der Partei u n d ihren A n h ä n g e r n w u r d e noch dadurch gefördert, d a ß R e d m o n d t r o t z der diskriminierenden H a l t u n g der englischen Regierung, die seit 1915 Ulster-Unionisten in das K a b i n e t t nahm 2 8 u n d Ulster-Iren in eigenen Regimentern auf dem westeuropäischen Kriegsschauplatz k ä m p f e n ließ 3 0 , an der bedingungslosen Unterstützung der englischen Politik im Kriege festhielt. Er k n ü p f t e d a r a n die H o f f n u n g , auf diese Weise in England Sympathien gewinnen zu können, die den Übergang Irlands z u r Autonomie nach Kriegsende beschleunigen würden. 3 1 Die Belastungen u n d Spannungen, die nach 1890 aus der Uneinigkeit der P a r tei resultierten u n d die auch nach 1900 nicht ganz a u f h ö r t e n , hatten die konstitutionelle Bewegung z w a r in ihrem K e r n nachhaltig geschwächt 32 , t r o t z d e m k a n n aber kein Zweifel d a r ü b e r bestehen, d a ß vor 1914 die Masse des Volkes die P a r lamentspartei noch als die legitimierte Vertreterin ihrer Interessen betrachtete. 3 3 D a s gilt vor allem f ü r die Landbevölkerung, die ihre gebesserte wirtschaftliche Lage allein auf die von der Partei geforderten L a n d r e f o r m e n zurückführte. 3 4 U m die Relationen zu überblicken, m u ß m a n sich ja vergegenwärtigen, d a ß die drei wichtigsten separatistischen Bewegungen der Vorkriegszeit - Sinn Fein, die I.R.B. u n d die Arbeiterbewegung — an der Mitgliederzahl gemessen n u r Minderheitsg r u p p e n waren, die ihre Anhänger hauptsächlich in den Städten, das heißt in erster Linie in D u b l i n hatten. 3 5 Insbesondere die wenige J a h r e später so mächtige
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Williams, S. 96. Zit. in H. Poepping, James Stephens. Eine Untersuchung über die irische Erneuerungsbewegung in der Zeit von 1900-1930, Diss. Berlin 1930, S. 8. Lyons, Fall, S. 318 f. Ensor, S.451. Gwynn, S. 456 f., und unten S. 187ff. Williams, S. 16; Macardle, S. 124. Gwynn, S. 389 und S. 408. Vgl. Williams, S. 43. Lyons, Irish Party, S. 129. Williams, S. 14. Ebda., S. 52. Vgl. unten S. 196 f. Im ganzen Vereinigten Königreich zählte z. B. die I. R. B. 1914 nur ungefähr 2000 Mitglieder (D. Lynch, The I. R. B. and the 1916 Insurrection, Cork 1957, S. 35). Vgl. auch unten S. 201 f.
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Gruppe der Sinn Feiner bedrohte noch in keiner Weise die Suprematie der Partei. 38 Zeichnete sich jedoch seit Mitte 1914 immer deutlicher eine für die Partei ungünstige Entwicklung ab, so bedeutete der Dubliner Osteraufstand, an dessen Beginn die Irische Republik ausgerufen wurde37, das auslösende Moment für den endgültigen Zerfall des parlamentarischen Nationalismus.38 Partei, Regierung und die Öffentlichkeit beider Inseln wurden vom Aufstand völlig überrascht39, obwohl die Dubliner Regierung als audi die Partei über das Bestehen einer revolutionären Unterströmung in Irland informiert waren.40 Die Regierung glaubte auch weiterhin, Herr der Lage zu sein, als sich im Frühjahr 1916 die Anzeichen von Spannungen und politischer Unruhe häuften. Ein unzureichender Nachrichtendienst scheint an dieser Fehleinschätzung der Situation hauptschuldig zu sein.41 Noch am 22. April 1916, zwei Tage vor dem Aufstand, schrieb der Unterstaatssekretär für Irland, Sir Matthew Nathan, an den in London sich aufhaltenden Irischen Staatssekretär Augustine Birrell: " I see no indications of a 'rising'." 44 Lediglich John Dillon, der Nachfolger Redmonds als Parteivorsitzender, spürte das Nahen eines gewalttätigen Ausbruchs. An John Redmond schrieb er am 23. April 1916: Dublin is full of most extraordinary rumours. And I have no doubt in my mind that the Clan men (i. e. die I. R. B.) are planning some devilish business. What it is I cannot make out. It may not come off. But you must not be surprised if something very unpleasant and mischievous happens this week.43 Das Element der Überraschung erklärt wahrscheinlich auch die unmittelbare Reaktion der Partei auf den Aufstand. Sie verurteilte die Revolutionäre und beging damit einen gravierenden taktischen Fehler. 44 Im Osteraufstand von 1916 erhob sich wieder die dem Konstitutionalismus konträre Tradition der irischen Geschichte, jene Tradition, die auf die revolutionär-republikanische Bewegung der United Irishmen von 1798 zurückgeht. Die republikanische Idee war in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts von den Jung-Irländern neu belebt und seitdem von den Feniern und der I.R.B, im Hin-
s« Lyons, Irish Party, S. 264. 3 7 Der Aufruf vom 24. 4. 1916 ist abgedruckt in Curtis and McDowell, S. 317 f. 3 8 Vgl. Maureen Wall in Williams, S. 79: " T h e Easter Rising of 1916 was as much a revolt against the Irish Parliamentary Party as against British rule in Ireland." 3 9 Lyons, Dillon, S . 3 6 9 ; T. Healy, Letters and Leaders of M y Day, London o.J., II, S. 559. Lyons, Dillon, S. 365. « Ebda., S. 3 6 7 ; Leon O Broin, Dublin Castle and the 1916 Rising, Dublin 1966, S . 6 2 , S. 144 ff. und S. 168. 4 2 O Broin, Dublin Castle, S. 83. Vgl. auch Lyons, "Dillon, Redmond, and the Irish Home Rulers", in F. X . Martin (ed.), Leaders and Men of the Easter Rising: Dublin 1916, London 1967, S. 30. 4 3 Zitiert von Lyons in Martin, S. 2 9 ; vgl. audi Gwynn, S. 471, und Lyons, Dillon, S. 368. 4 4 Redmond spradi im Unterhaus von einem "feeling of detestation and horror", das er mit der "overwhelming mass of the people of Ireland" teile (Gwynn, S. 474). Der Freeman's Journal bezeichnete den Aufstand am 5. 5. 1916 als " a n armed assault against the will and decision of the Irish nation" (zit. in Beckett, S. 441).
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tergrund der irischen Politik wachgehalten worden. Getragen wurde der Aufstand von der I. R. B., die schon drei Wochen nach Ausbruch des Weltkrieges den Entschluß zu einem Aufstand faßte 45 , von der aus Arbeitern gebildeten Citizen Army und einer kleinen Gruppe revolutionärer Literaten. 46 Er blieb fast gänzlich auf Dublin beschränkt. Insgesamt waren an ihm nicht mehr als 1500 Personen beteiligt47, doch bewirkten die der Rebellion folgenden überaus harten englischen Unterdrückungsmaßnahmen, die in der Exekution der führenden Aufständischen gipfelten, und das erneute Scheitern der Verhandlungen um Home Rule einen tiefgreifenden politischen Stimmungsumschwung.48 Die nationalistischen Kräfte sammelten sich in der sich hinsichtlich des politischen Ziels rasch radikalisierenden Sinn-Féin-Bewegung, die zwar als Organisation nicht am Aufstand beteiligt war, deren Mitglieder aber in der Folgezeit im Gegensatz zur Partei ihre Sympathien für die Revolutionäre erklärten. Ungeachtet der Tatsache, daß die Sinn-Féin-Bewegung der Vorkriegszeit für eine Doppelmonarchie eingetreten war, wurden die republikanisch gesinnten Aufständischen nun außerdem von der Partei und ihrer Presse generalisierend 'Sinn Féiners' genannt. 49 Diskriminierende Absicht lag auch der von den britischen Behörden und der Partei gebrauchten Bezeichnung 'Sinn Féin Insurrection* zugrunde. 50 Sinn Vein wurde auf diese Weise in der Art eines Auffangbeckens für die erbitterten Emotionen und aufgestauten Hoffnungen binnen kurzem zur stärksten nationalistischen Organisation in Irland. Ebenso schnell wie Sinn Féin vom Konzept der Doppelmonarchie abrückte und als Sammelbewegung für den republikanischen irischen Nationalismus wuchs, verlor die Partei an Bedeutung. 51 1916 wurde offenbar, daß sich hinter der Fassade eines gemäßigt-parlamentarischen Nationalismus eine gesteigerte Empfänglichkeit entwickelt hatte für einen radikaleren, revolutionär-republikanischen Nationalismus, hinter dem bezeichnenderweise ursprünglich auch andere Bevölkerungsschichten standen als hinter der Partei. Das Land war in einem hohen Grade vorbereitet für einen scharfen Bruch mit der gemäßigten Politik der Vergangenheit, die von der Irischen Partei verkörpert wurde. Der Skeptizismus der Fenier hinsichtlich eines konstitutionellen Nationalismus< und des Wertes rein
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Macardle, S. 116; O'Hegarty, S. 697. D. Lynch, The I. R. B. and the 1916 Insurrection, S. 143 f., und Martin, Leaders and Men, passim. Außerdem: D. Ryan, The Rising. The Complete Story of Easter Week, Dublin 4 1966, S . X I ; R. McHugh (ed.), Dublin 1916, London 1966, S . X I und S. 140; T. P. Coogan, Ireland since the Rising, London 1966, S. 1. Die Citizen Army war im Oktober 1913 entstanden. Sie zählte nie mehr als 300 Mitglieder (O Broin, The Chief Secretary, S. 80). " McHugh, S. X I ; nach Lynch (S. 144) und O Broin (Dublin Castle, S. 161) waren 1600 Personen beteiligt. 48 Vgl. Einzelheiten in Henry, Evolution of Sinn Féin, S.220ff.; Horgan, S.291, und O Broin, The Chief Secretary, S. 190. 4 » McHugh, S. 183 f. und S.208; Macardle, S.125; Henry, S.218; W. I.Thompson, The Imagination of an Insurrection: Dublin, Easter 1916, N e w York 1967, S. 106, und Oliver MacDonagh, Ireland, Englewood Cliffs 1968, S. 77. 50 "This took Sinn Féin out of obscurity and identified it with a heroic resistance" (Padraic Colum, Arthur Griffith, Dublin 1959, S. 152). 51 Dazu das Kap. "The Downward Path" in Lyons, Dillon, S. 404-31. 46
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parlamentarischer Aktionen gewann nach 40jähriger Unterbrechung und politischer Bedeutungslosigkeit wieder die Oberhand. Während bei den Nachwahlen zum Unterhaus in den Jahren 1917 und 1918 fast ausschließlich Sinn-Fein-Kandidaten gewannen, die sich zum Teil in Haft befanden52, unternahm die Partei im April 1918 einen letzten Versuch, die gegen sie gerichtete Entwicklung aufzuhalten, indem sie demonstrativ das Unterhaus verließ, als die Regierung in Irland die allgemeine Wehrpflicht einführen wollte und neue Pläne für eine Sonderbehandlung Ulsters bekannt wurden, die auf eine politische Teilung Irlands hinausliefen.53 Der Versuch, sich der allgemeinen Radikalisierung durch spektakuläre Gesten anzupassen, scheiterte. Daß die Wehrpflicht in Irland schließlich doch nicht eingeführt wurde, rechnete die öffentliche Meinung Sinn Fein als Verdienst an.54 Bei den allgemeinen Wahlen im Dezember 1918, den ersten nach acht Jahren, fielen 73 irische Unterhaussitze an Sinn Fein, 26 an die Ulster-Unionisten und nur noch 6 an die Parlamentspartei. Von diesen 6 Sitzen gewann die Partei 4, die in Ulster lagen, durch Wahlabsprachen mit Sinn Fein, die in diesen Wahlkreisen mit starkem unionistischen Stimmenanteil eine Aufsplitterung der nationalistischen Stimmen zu vermeiden suchte.55 Ein neuer Abschnitt der irischen Geschichte begann am 21. Januar 1919, als das Deal Eireann, die irische Nationalversammlung, zum erstenmal in Dublin zusammentrat und die irische Unabhängigkeit proklamierte.36 Im Ddil Eireann war die Parlamentspartei aus eigenem Entschluß nicht mehr anwesend. Die Epoche des konstitutionellen Nationalismus im Rahmen des Vereinigten Königreichs war damit endgültig zu Ende. Was nun folgte, war ein radikaler Neuanfang auf dem Weg Irlands zum völkerrechtlich anerkannten Nationalstaat.
Williams, S. 9 9 ; O'Hegarty, S. 713; J . L. McCracken, Representative Government in Ireland. A Study of Däil Eireann 1 9 1 9 - 4 8 , London 1958, S. 13 f. 5 3 Macardle, S. 232. Nach Redmonds Tod war seit März 1918 John Dillon Vorsitzender der Partei. 54 Beckett, S. 445. 5 5 Williams, S. 105; O'Hegarty, S. 7 2 5 ; Macardle, S. 245 ff.; Lyons, Dillon, S. 453. 5 6 Declaration of Independence, abgedruckt in Curtis and McDowell, S. 318 f.
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1. Die Hilfsorganisation
der Partei in Irland,
1882-90
a) Gründung, Programm und Organisation der Irish National
League
Das Verbot der Landliga und die unverkennbaren Erfolge der von Parnell geführten Abgeordneten schienen die Gründung einer solchen Organisation zu erleichtern. Trotzdem ist es dann überraschend, daß Parnell nur zögernd seine Zustimmung gab, als am 17. Oktober 1882 in Dublin auf einer National Convention die Irish National League gebildet wurde.6 In den Beratungen, die der Gründung seit September vorausgingen und über deren Verlauf fast nichts bekannt ist, war jedenfalls nicht Parnell, sondern der Gründer der Landliga, Michael Davitt, unterstützt von John Dillon, die treibende Kraft. 7 Diese Zurückhaltung Parnells muß vor dem Hintergrund der Erfahrungen gesehen werden, die er im Zusammenhang mit dem Verbot der Landliga im Oktober 1881 gemacht hatte. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß er soeben erst mit Gladstone im Kilmainham Treaty eine Beruhigung der Verhältnisse in Irland vereinbart hatte. Einer gemäßigten Politik schien aber eine neue Organisation, die von der Regierung leicht als Wiederbelebung der Landliga und ihrer agrarrevolutionären Agitation gedeutet werden konnte, im Wege zu stehen. Nach der Gründung wurde man daher auf nationalistischer Seite nicht müde, in Reden, Pressekommentaren und Erklärungen den konstitutionellen und legalen Charakter der neuen Organisation hervorzuheben. 8 Die National League erhob den Anspruch, in sozialer und politischer Hinsicht umfassend zu sein, alle Gruppen der Bevölkerung einzuschließen, also auch die Handwerker und Arbeiter der Städte, die von der Landliga nicht erfaßt worden waren, und den irisdien Nationalismus in seiner Gesamtheit zu repräsentieren. Das von Parnell unterzeichnete Rundschreiben, das zur Gründungsversammlung einlud, spricht ganz allgemein von einem "programme of reform for Ireland", und "the chief feature of which programme will be the uniting together on one central platform the various movements and interests that are now appealing
Zur Gründung der Irish National League: O'Brien, Parnell and his Party, S. 126ff.; Davitt, Fall of Feudalism, S. 3 6 5 - 8 2 ; R . B. O'Brien, Life, I, S. 3 6 9 ; Russell, S. 296 ff. -> Sheehy-Skeffington, S. I l l ; Healy, I, S. 1 6 9 ; Kettle, S. 123. 8 Vgl. z. B. Redmond am 9. 2. 1883 (J. E. Redmond, Historical and Political Addresses, 1 8 8 3 - 1 8 9 7 , Dublin und London 1898, S. 113); C. E. 2 4 . 1 . 1 8 8 5 ; Dillon vor dem Zentralverein der National League ( F . J . 28. 8. 1886). Bereits vor der Gründungskonferenz vom 17. 10. 1882 hatte Parnell seine Absicht erklärt, "not to be drawn or pushed beyond the limit of prudence and legality" (Telegramm Parnells an Mrs. O'Shea, zitiert in Hammond, S. 312). Bezugnehmend auf eine vorangegangene Rede Parnells erklärte der irische Attorney-General am 22. 1. 1886 im Unterhaus: " H e had followed carefully the observations of (Parnell), who, in referring to the many brandies of the National League, said strong efforts were made by the Central Authority to keep those brandies within legal and proper bounds. He would admit that those efforts had been made, but the honourable Member had not told the House how the efforts were received by the local brandies, and whether they were successful" (Hansard Pari. Deb., H . C., 3. Serie, Bd. 302, Sp. 221). Solche hier angedeuteten Übergriffe einzelner Ortsvereine wurden audi von der nationalistischen Presse zugegeben (vgl. den Kommentar in C. E. 6 . 2 . 1 8 8 6 ) . 6
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to the country for separate sanction and support". 9 Das Programm der National League "was intended to unite all classes". 10 Inwieweit dieser Anspruch in sozialer Hinsicht zutrifft, wird im Verlaufe der Arbeit noch zu prüfen sein. Was den konfessionellen Aspekt anbetrifft, so läßt sich sagen, d a ß die Frage der Religionszugehörigkeit in der von der Partei verkörperten nationalen Bewegung nie eine Rolle gespielt hat. Nach drei Protestanten (Butt, Shaw, Parnell) war Redmond der erste Katholik im Parteivorsitz, und der Anteil protestantischer Abgeordneter lag in der Partei stets höher als es dem protestantischen Bevölkerungsanteil Irlands entsprochen hätte. 11 Trotz der intensiven Mitarbeit des katholischen Klerus kann man nicht von einer betont katholischen Partei sprechen, die etwa mit der deutschen Zentrumspartei — allerdings mit nationalen Vorzeichen - vergleichbar gewesen wäre. Von Parnell und Redmond wurde eine solche Einengung wiederholt abgelehnt, da nach ihrer Ansicht das nationale Moment dem konfessionellen unzweifelhaft übergeordnet war. 1 2 Audi im Programm, das bei der Gründung beschlossen wurde, und in der Organisation unterschied sich die National League deutlich von der Landliga. Sie war also nicht die Landliga unter einem anderen Namen. 1 3 Eine auffallende Kontinuität zur Landliga bestand allerdings darin, daß die Ortsvereine der National League im Lande zu einem großen Teil reaktivierte Ortsvereine der Landliga 14 und daß audi ihre Mitglieder im wesentlichen ehemalige Landliga-Mitgliedcr waren. In einem Polizeibericht an den Irischen Staatssekretär heißt es: The promotors of this movement are the same men who were the leaders and prominent actors in the late 'Land League'. 13 Im Programm stand unter den zu erreichenden Zielen an erster Stelle »nationale SelbstregierungBodenreform< forderte die National League wie die Landliga "the creation of an occupying ownership or Peasant Proprietary" und in der Zwischenzeit bis zu dessen Realisierung eine Verbesserung des Paditrechts. 19 Deutlicher noch als dieses offizielle Programm vermögen die inoffiziellen Äußerungen von nationalistischer Seite die weitgespannten Intentionen der National League zu erfassen. Nach einem Kommentar, der am Gründungstag in der nationalistischen Zeitung The Cork Examiner erschien, sollte die National League "cover the whole field of politics in Ireland, and act as a mentor to the people on every question which is likely to occupy the minds of the present generation of Irishmen". 20 Während sich die National League von der Landliga durch die Erweiterung des Programms und die Verschiebung der Prioritäten unterschied, dadurch also an die Stelle einer Agrarbewegung, die sich auf die sozialen Probleme des Landes beschränkte, eine vornehmlich politische Organisation mit Blick auf Westminster trat, unterschied sie sich von der Home Rule League durch eine ausgebaute und straffe Organisation. Zumindest in den Ansätzen kann daher die Home Rule League als Vorläuferin der National League gelten, der von Butt theoretisch die Funktionen zugedacht waren, die die National League dann tatsächlich ausübte. Die Home Rule League hatte aber nie eine große Bedeutung erlangt. Im November 1882 fusionierte sie freiwillig mit der neuen Organisation 21 , die damit auch auf dieser Ebene eine Verbindung mit der Home-Rule-Bewegung Butts herstellte. Nach der auf der Gründungsversammlung beschlossenen, recht lückenhaften Satzung, mit deren Ausarbeitung Parnell den Abgeordneten T. M. Healy beauftragt hatte 22 , sollte die National League aus einem Zentralrat und Ortsvereinen bestehen. 28 Der Zentralrat, der sich aus 16 Abgeordneten und je einem Vertreter der 32 irischen Grafschaften zusammensetzen sollte24, wurde nie gebildet. Die Leitung der National League lag statt dessen in den Händen eines dreißigköpfigen Organisationsausschusses, der ursprünglich nur bis zur Konstituierung des Zentralrates arbeiten sollte. Der Ausschuß war für diese Zeit mit den in der Satzung nicht näher erläuterten Befugnissen ausgestattet, die dem Zentralrat zustehen sollten.25 Bei der Gründung der National League gehörten ihm schon 12 « Vgl. R. B. O'Brien, Life, I, S. 369. Michael Davitt, der Gründer der Landliga, hielt sich von der National League fern und gehörte lediglich ihrem Organisationsausschuß an. 18 Vgl. auch die Rede Redmonds vom 9. 2. 1883 über "The Aims and Objects of the Irish National League" in Redmond, Addresses, S. 89-115. 1» Artikel 2 des Programms (Russell, S.298). 2 ° C. E. 17. 10.1882. 2 1 F.J. 2 5 . 1 1 . 1 8 8 2 ; U . I . 2 5 . 1 1 . 1 8 8 2 ; O'Brien, Parnell and his Party, S. 124. 22 Healy, I, S. 169. Timothy M. Healy (1855-1931); Rechtsanwalt und Journalist; Abgeordneter von 1880 bis 1918; erster Generalgouverneur des Irisdien Freistaats (1922-28). 28 Die Satzung der National League ist abgedruckt in Russell, S. 300 f. O'Brien, Parnell and his Party, S. 127; Davitt, S. 377. M Russell, S. 300.
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Abgeordnete an 20 ; in der Folgezeit besaßen in ihm die Unterhausabgeordneten stets die Mehrheit. Der Vorsitzende des Ausschusses war Parnell. Dieser Ausschuß entwickelte sich zum wichtigsten Gremium der National League. Er tagte regelmäßig vor den 14täglich stattfindenden Versammlungen des Dubliner Zentralvereins der National League, dem neben dem Ausschuß eine in der Satzung nicht vorgesehene erhebliche Bedeutung zukam. Auf den öffentlichen Versammlungen des Zentralvereins27, die immer ein Abgeordneter der Partei leitete, wurden die vom Organisationsausschuß in nichtöffentlicher Sitzung vorbereiteten Beschlüsse verkündet, die politischen und sozialen Forderungen der National League formuliert, über die Tätigkeit der Partei im Unterhaus berichtet, die Politik der irischen Exekutive oder der Londoner Regierung kritisiert, Exmissionen von Pächtern verurteilt, über die finanzielle Situation und den allgemeinen Stand der National League berichtet.28 Außerdem hatte der Zentralverein die Aufgabe, die Presse und die Öffentlichkeit im Vereinigten Königreich und anderen Ländern, voran in den Vereinigten Staaten, über die Politik und die Ziele der Parlamentspartei zu informieren.29 Der Zentralverein war somit das zentrale Agitationsforum der Partei in Irland, das besonders in den Parlamentsferien die Tribüne des Unterhauses ersetzte. Seine Bedeutung wurde außerdem noch dadurch unterstrichen, daß Mitglieder nur durch Zuwahl, also nicht auf eigenen Antrag hin, zugelassen wurden und daß die Mitgliedschaft überregional war. Ein Mitglied des Zentralvereins mußte allerdings zuvor Mitglied des Ortsvereins der National League in seinem Wohnort sein.30 Dem Zentralverein gehörten alle irischen Unterhausabgeordneten an, außerdem führende Nationalisten, Journalisten und Zeitungsverleger. Die organisatorische Arbeit und die laufenden Geschäfte wurden dem Generalsekretär der National League übertragen, von dessen Funktionen oder Existenz in der Satzung der National League keine Rede ist. Von der Gründung der Liga bis 1891 wurde diese Stellung von Timothy Harrington wahrgenommen.31 Harrington besaß weitgehende Vollmachten und war nur Parnell als dem Präsidenten der National League direkt verantwortlich.32 Zu seinen Aufgaben gehörte die Verteilung der finanziellen Mittel der Liga, über deren Verwendung formal der Organisationsausschuß entschied.33 Da sich Parnell in den Jahren 1883, 1884 und teilweise auch 1885 nur selten in Irland aufhielt 34 , ist auch der Aufbau der National-League-Organisation im wesentlichen Harringtons Verdienst. "During the past 3 years," schrieb er im März 1886 in einem Brief an die Londoner Times, 20 O'Brien, Parnell and his Party, S. 128. 2 7 Die 1. Versammlung fand am 6. 2. 1883 statt (vgl. F. J. 7. 2 . 1 8 8 3 ) . 2 8 Über die Aufgaben des Zentralvereins vgl. F. J. 12. 9. 1883. 2 9 Vgl. die Rede des Abgeordneten T. P. O'Connor vor dem Zentralverein am 3. 2. 1885 (F.J.4.2.1885). 3 0 F. J. 22. 12. 1885 (Bericht über die Versammlung des Zentralvereins). 3 1 Timothy C. Harrington ( 1 8 5 1 - 1 9 1 0 ) ; Lehrer und Journalist; Abgeordneter von 1883 bis 1910; Bürgermeister von Dublin 1 9 0 1 - 0 3 . 3 2 Vgl. Speech of Timothy C. Harrington, M. P., in the House of Commons, 1st April, 1887, on the Coercion Bill, London 1887 (Irish Press Agency), S. 25. 3 3 SPO, Police Reports, Irish National League, Proceedings 1 8 8 3 - 9 0 , Progress Report 1. 1 . - 3 1 . 3 . 1 8 8 9 . 3* R. B. O'Brien, Life, II, S. 179. 81
"I have been in charge of the central office of the National League in Ireland, and the management of, and responsibility for, that Organisation have chiefly devolved upon me." 35 Zu den wichtigsten Pflichten des Generalsekretärs gehörte es, die Verbindung mit den Ortsvereinen der National League aufrechtzuerhalten und deren Tätigkeit zu überwachen. Die Ortsvereine sollten das ganze Land überziehen. Die lokale Basis eines Vereins bildete auf dem Land die Pfarrgemeinde (parish) und in den Städten der Stadtwahlbezirk (ward). Wenn mehrere benachbarte Pfarrgemeinden zu klein waren, wurden sie in einem Ortsverein zusammengefaßt. In Dublin wurden die Ortsvereine entweder nach den Stadtwahlbezirken benannt (South City Ward. Brandt, Mansión House Ward Branch) oder nach den Namen bekannter Nationalisten (Parnell Brand), O'Connell Branch etc.).36 Ortsvereine auf dem Lande wurden nach dem Namen der Gemeinde oder des Ortes benannt. 37 Ein Ortsverein wurde geleitet von einem jährlich von den Mitgliedern in geheimer Wahl zu wählenden Komitee, dem ein Vorsitzender (President), ein Schatzmeister, ein Sekretär und mindestens sechs weitere Personen angehörten. Vereine in größeren Orten hatten oft zwei Sekretäre und auch einen stellvertretenden Vorsitzenden. Ein Ortsverein tagte in den größeren Orten einmal wöchentlich, in kleineren Orten 14täglich oder sogar nur im Abstand von vier Wochen. Im Verlaufe des sich verschärfenden Sozialkonflikts forderte Harrington 1886 alle Ortsvereine auf, mindestens einmal wöchentlich zusammenzutreten, um aktuelle Probleme zu diskutieren und eventuell Maßnahmen zu beschließen.38 Besonders auf dem Lande trat der Ortsverein sehr häufig sonntags unmittelbar nach der Messe zusammen. Entweder versammelte sich nur das Komitee unter Ausschluß der Öffentlichkeit oder Komitee und Mitglieder. Die Teilnahme von Nichtmitgliedern wurde normalerweise nicht verhindert. Die Versammlungen, vor allem die außerordentlichen, wurden einberufen durch Plakate und Anzeigen in den Zeitungen. Die Einberufung konnte aber auch durch Mundpropaganda geschehen, durch Ankündigung des Pfarrers während der Messe oder durch das Läuten der Kirchenglocken.39 Auf der Tagesordnung der Versammlungen standen neben organisatorischen Fragen gewöhnlich eine Diskussion der von der Partei im Unterhaus vorgelegten Anträge und die Verabschiedung von Erklärungen, in denen die Politik der Partei unterstützt wurde. Im ersten Halbjahr 1886 war Gladstones Home-Rule-Vorlage beinahe ausschließlicher Diskussionsgegenstand.40 Die Versammlungen dienten außerdem dazu, auf die "harrowing condition" der Pächter aufmerksam zu 35 Abgedruckt in C. E. 1. 3.1886. 36 Vgl. U. I. 12. 12. 1885. 37 z. B. Kanturk Branch, Mallow Branch, Bantry Branch, Charleville Brandl, Fermoy Brandl, Youghal Branch etc. 38 Harrington vor dem Zentralverein (F. J. 12. 9. 1886). 3 » SPO, Police Reports, INL, Proceedings 1883-90, Progress Report 1. 1.-31. 3. 1887. Diese Angaben über das Einberufungsverfahren stützen sich auf Fragebogen der Royal Irish Constabulary, die von den örtlichen Polizeibehörden über den Ablauf von Versammlungen der Ortsvereine beantwortet wurden. Vgl. z. B. U. I. vom 17. 4.1886 ("The Country and the Home Rule Bill").
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machen41, Proteste gegen die "evil administration" Irlands zu formulieren42 und die "total abolition of landlordism" zu fordern. 43 Nach einer Erhebung der Polizei aus dem Jahre 1887 nahmen an den Versammlungen im Durchschnitt 50 bis 1500 Personen teil. 44 Der Sekretär eines Ortsvereins hatte nach der Satzung die Verpflichtung, dem Generalsekretär einen monatlichen Bericht über den Stand des Vereins zu geben. In der Praxis war aber die Verbindung zwischen den Ortsvereinen und der Zentrale in Dublin sehr viel enger und ging über die in der Satzung niedergelegten Bestimmungen weit hinaus. Das läßt sich allein schon aus der Korrespondenz Harringtons mit den Ortsvereinen klar erkennen.45 Danach wurden nicht nur prinzipielle Fragen, die die National League in ihrer Gesamtheit betrafen, sondern oft auch Trivialitäten von allenfalls lokalem Interesse von Dublin aus entschieden. Von einem großen Maß an Selbständigkeit der einzelnen Ortsvereine, wie sie unter der Landliga zu beobachten war, konnte also kaum die Rede sein. Eigenmächtige Handlungen eines Ortsvereins, die der Organisationsausschuß aus irgendeinem Grunde nicht billigte, etwa zu weitgehende Boykottbeschlüsse, konnten den Generalsekretär veranlassen, eine Überprüfung oder sogar einen Widerruf der beschlossenen Maßnahmen zu verlangen. Fügte sich ein Ortsverein nicht den Weisungen des Generalsekretärs, konnte dieser die Auflösung des betreffenden Ortsvereins androhen.46 Kritik seitens eines Ortsvereins an der Politik der National League beantwortete Harrington mit der Drohung, die Leiter des betreffenden Vereins aus der Liga auszuschließen.47 Die Gründung eines Ortsvereins vollzog sich in der Regel nach einem bestimmten Schema, das im folgenden an zwei typischen Beispielen aufgezeigt werden soll. Das erste Beispiel ist die Gründung eines Vereins in der Stadt Cork Ende 1882. Bereits im Oktober 1882 wurde in der Lokalpresse die Gründung angekündigt 48 , aber da wegen der Bedeutung Corks dieser Vorgang in Anwesenheit Parnells, der seit 1880 einer der beiden Unterhausabgeordneten der Stadt war, stattfinden sollte, zog sich die Konstituierung eines Ortsvereins bis Mitte Dezember 1882 hin. Nach dem Ende der Unterhaussession traf Parnell am 17. Dezember in Cork ein, und im Verlaufe dieses Besuchs, der die Formen eines Volksfestes annahm, wurde auf einer öffentlichen Versammlung der Corker Verein gegründet.49 41
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So der Ortsverein Kilmacthomas ( C . E . 2 8 . 1 . 1 8 8 4 ) . Vgl. die Berichte im C. E. 8. 1 2 . 1 8 8 6 und 2 8 . 1 . 1 8 8 4 . So z. B. der Ortsverein Newton-Shandrum (C. E . 3. 11. 1885). SPO, Police Reports, I N L , Proceedings 1 8 8 3 - 9 0 , Progress Report 1. 1 . - 3 1 . 3. 1887. Nachlaß Harrington: Printed letters of Harrington as Secretary of the I N L , with extensive annotations, 1 8 8 3 - 1 8 8 7 , Ms. 9454. Vgl. auch H . S. Wilkinson, The Eve of Home Rule: Impressions of Ireland in 1886, London 1886, S. 123. Vgl. die Briefe Harringtons im N L Harrington, Ms. 9454, vor allem die Briefe vom 3. 5 . 1 8 8 7 , 25. 6. 1887, 10. 9. 1887, 2 1 . 1 0 . 1 8 8 7 und 3. 2 . 1 8 8 6 . Vgl. dazu auch die Beobachtung der Polizei: "The increase of boycotting amongst local branches grew to such an extent that the League Executive considered it their duty to interfere and reprimand the most prominent of the offenders" (SPO, Police Reports, I N L , P r o ceedings 1 8 8 3 - 9 0 , Progress Report 30. 6 . - 3 1 . 1 2 . 1885).
T. Harrington, National League Letter-Book 1 8 8 3 - 8 8 , o.O. o.J., Brief Nr. 9 vom 22. 1 2 . 1 8 8 3 . « Vgl. C . E . 2 3 . 1 0 . 1 8 8 2 . 4 » Bericht im C . E . 18. und 1 9 . 1 2 . 1 8 8 2 . 83
Der Bürgermeister der Stadt, Stadträte und Armenräte nahmen an der Versammlung teil. 50 Zu Beginn der Versammlung erläuterte Parnell nochmals das Programm der National League, wobei er mit Blick auf die städtische Bevölkerung unterstrich, daß sich die Liga nicht mehr nur an die Landbevölkerung wende, sondern sich auch Forderungen zu eigen mache, die das gesamte Volk angingen.81 Das Bemühen um eine umfassendere soziale Fundierung der National League ist hier unverkennbar. Es kam während der Versammlung noch öfter zum Ausdrude. Nach der einleitenden Rede Parnells wurde durch eine Entschließung die Gründung eines Ortsvereins beschlossen: We hereby constitute ourselves as branch of the Irish National League, and pledge ourselves to give all the effect in our power to the desirable aims and objects of the association. Daraufhin betonte Parnell in einer zweiten Rede seine Absicht, "to keep the organization strictly within the limits of the constitution and of legality". Als nächster Schritt erfolgte dann die Bildung eines Provisional Committee, das für eine Übergangszeit bis zur organisatorischen Festigung des neuen Ortsvereins bestehen sollte. Diesem Provisional Committee gehörten der Bürgermeister Corks als Vorsitzender an sowie 20 andere Persönlichkeiten, unter ihnen 5 Stadträte, 2 Armenräte, mehrere Rechtsanwälte und der Präsident der Handwerkskammer.52 Den Abschluß des Gründungsakts bildete die Rede eines Geistlichen, in der auf die Bedeutung öffentlicher Versammlungen für die nationale Erziehung des Volkes hingewiesen wurde, und die Einschreibung einer großen Zahl von Personen als Mitglieder des neuen Ortsvereins. Es sei hier noch erwähnt, daß alle Mitglieder einen jährlichen Beitrag zu entrichten hatten, der sich je nach Vermögen zwischen einem Schilling und einem Pfund Sterling bewegte. 75 °/o seiner Einnahmen aus den Beitragsleistungen mußte jeder Ortsverein an den Organisationsausschuß der National League abführen.55 Das Provisional Committee des Corker Ortsvereins bestand bis zum März 1885. Das am 26. März 1885 gewählte Komitee, das 24 Mitglieder zählte, wich in seiner Zusammensetzung von der in der Satzung der Liga festgelegten Norm ab. An seiner Sitze standen von nun an Parnell als Vorsitzender, der Abgeordnete und Sekretär des alten Provisional Committee John Deasy als stellvertretender Vorsitzender und P. J. Madden, ein prominenter Nationalist und der amtierende Bürgermeister der Stadt, als geschäftsführender Vorsitzender.54 Der geschäftsführende Vorsitzende war auch in den folgenden Jahren meist zugleich Bürgermeister der Stadt, während die Ämter des stellvertretenden Vorsitzenden und des Sekretärs von Unterhausabgeordneten übernommen wurden. In sozialer Hinsicht gehörten die Mitglieder des Komitees zum gehobenen Bürgertum der
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Zur wichtigen Stellung des Armenrats in der irischen Kommunalverwaltung vgl. unten S. 134 f. C . E . 1 9 . 1 2 . 1882. Ebda. Vgl. die Punkte III und IV der Satzung (Russell, S. 301). C. E . 27. 3. 1885. 84
Stadt. Es waren Männer "of probity and honour who had succeeded in business by industry and ability". 55 Dieses noch relativ lockere Schema für die Gründung eines Ortsvereins, wie es in Cork zu beobachten war, war typisch f ü r die frühe Zeit der Liga, in der offensichtlich noch keine allgemeingültigen Richtlinien für den Ablauf solcher Versammlungen bestanden. Auf dem Lande und in kleinen Orten verliefen die Gründungsversammlungen dabei wesentlich einfacher. Dort wurden meist nur das Programm und die Satzung der Liga verlesen oder in einer Rede erläutert. Daraufhin erfolgte der formelle Gründungsbeschluß. 56 In der Folgezeit verfestigte sich das Schema für den Ablauf von Gründungsversammlungen. So läßt die Konstituierung eines Ortsvereins in Ballinhassig, einem kleinen Dorf im Süden der Grafschaft Cork, knapp drei Jahre nach der Gründung des Ortsvereins in der Stadt Cork auf ein zugrunde liegendes allgemeines Schema schließen.57 Der Gründungsakt, wie er sich in Ballinhassig abspielte, vollzog sich nun in sehr ähnlicher Weise überall im Land. Die Versammlung in Ballinhassig war, neben Hinweisen in der Presse, durch Plakate angekündigt worden, in denen auf den Zweck der Versammlung und in sehr allgemeinen Formulierungen auf die Ziele der Liga hingewiesen wurde. "Irishmen of all classes", heißt es beispielsweise auf einem Plakat 58 , are invited to cooperate in a movement to save the Irish Race from death and expatriation; to revive and encourage the Industries of the country; to secure fair wages and cleanly accomodation for the Irish Labourer; to the Irish Farmer the full fruits of his industry; and to the Irish People, the right to make their own laws in a Native Parliament. Die Versammlung selbst, die am 26. Juli 1885 mit rd. 500 Teilnehmern stattfand, gliederte sich in drei Abschnitte. Zuerst hielt der Versammlungsleiter, in diesem Falle der Ortsgeistliche, eine Ansprache, in der er zum Beitritt zur National League aufforderte. Danach wurden fünf Entschließungen folgenden Inhalts vorgeschlagen: -
Aufruf zur Unterstützung der Liga und ihres Programms, Vertrauen in die Irische Partei und Parnell, Forderung nach Restitution des irischen Parlaments, Forderung nach Verbesserung der sozialen Lage der Landarbeiter, eine Aufforderung, Farmen, von denen Pächter vertrieben wurden, zu boykottieren.
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So der C. E. 28. 5.1885. Vgl. die Gründungsversammlungen in Kanturk (C. E. 29. 5.1883), Kingwilliamstown (C. E. 21.11.1882) und Bantry ( C . E . 11.12.1882). Der Gründungsbesdiluß hatte meist folgenden Wortlaut: "A branch of the National League be formed in this parish, and . . . we pledge ourselves to carry out the objects of that organisation in a constitutional manner until every right contained in the programme is conceded to the people" (Ortsverein Killavullen, C. E. 28. 1. 1884). Vgl. den Polizeiberidit über die Gründung in SPO, Chief Secretary's Office, Registered Papers, N r . 14118/1885. Vgl. das Exemplar in Registered Papers, N r . 14118/1885.
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Es folgten mehrere Ansprachen, die im wesentlichen den Inhalt der Entschließungen weiter ausführten und das Programm der Liga erläuterten. 5 9 Gewöhnlich wurden diese Reden von Abgeordneten oder bekannten Nationalisten gehalten. I m Falle Ballinhassig w a r der Hauptredner Patrick O ' H e a , ein Rechtsanwalt und führendes Mitglied der L i g a in der S t a d t C o r k . Abschließend wurden die Entschließungen gebilligt, der Ortsverein formell konstituiert und die ersten Mitglieder aufgenommen. 6 0 H a r r i n g t o n betonte 1887 im Unterhaus, daß die Gründung eines Ortsvereins grundsätzlich nicht auf Drängen der zentralen O r g a n e der National League, sondern stets freiwillig und auf Grund eigener Initiative lokaler Nationalisten erfolgte. Nach seinen Worten ging die National League niemals wie die meisten anderen politischen Bewegungen so weit, "sending Organizers throughout the country to establish branches". 6 1 Im großen und ganzen m a g es z w a r zutreffen, daß der Organisationsausschuß oder der Zentralverein keine offiziellen Organisatoren zur Gründung von Ortsvereinen ins L a n d schickten und daß sie sich lediglich auf entsprechende Appelle beschränkten, aber die Mitwirkung von Abgeordneten bei Gründungsversammlungen, v o r allem in größeren Ortschaften, k a m in sehr vielen Fällen einer solchen Tätigkeit gleich. 62 Außerdem ergriffen oft besonders aktive Ortsvereine der L i g a in bestimmten Teilen des Landes die Initiative, indem ihre führenden Mitglieder in den umgebenden Gebieten als Organisatoren wirkten, denen sich k a u m nachweisen ließ, ob sie auf Geheiß der Zentrale handelten oder nicht. D i e Grafschaft Cork beispielsweise, in der die Stadt C o r k die Rolle eines Vorortes übernahm, bietet für solche Fälle genügend Anschauungsmaterial. Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß die konstitutionelle Richtung des irischen Nationalismus seit 1882 ein hohes M a ß an Organisation besaß. 6 3 Die Parlamentspartei, deren eigentliche Arbeit sich im Unterhaus vollzog, bildete die Spitze einer Pyramide. D i e Partei trat als solche nur in Westminster in Erscheinung. In Irland traten die Abgeordneten im Rahmen der National League auf. Bei a n d e r e n G r ü n d u n g s v e r s a m m l u n g e n w u r d e n o f t auch noch zusätzlich d i e S a t z u n g u n d d a s P r o g r a m m d e r L i g a verlesen, «o R e g i s t e r e d P a p e r s , N r . 1 4 1 1 8 / 1 8 8 5 ; U . I. 1. 8 . 1 8 8 5 . 8 1 Speech o f T i m o t h y C . H a r r i n g t o n , S . 2 6 . ( i 2 B e i s p i e l e d a f ü r s i n d die G r ü n d u n g v o n O r t s v e r e i n e n in C a r l o w ( C . E . 27. 11. 1882), M a l l o w (C. E. 1 1 . 1 2 . 1 8 8 2 ) , Youghal (C. E. 2 . 2 . 1 8 8 5 ) und Glenville (C. E. 2 . 1 1 . 1885).
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,i3
O b w o h l sich v o n Seiten f ü h r e n d e r R e p r ä s e n t a n t e n der P a r t e i keine H i n w e i s e d a r a u f finden, i n w i e w e i t d i e O r g a n i s a t i o n s s t r u k t u r der englischen u n d a m e r i k a n i s c h e n P a r teien die O r g a n i s a t i o n d e r N a t i o n a l L e a g u e beeinflußte, sind solche E i n f l ü s s e u n v e r k e n n b a r . S o w o h l P a r n e l l als auch T. H e a l y , der die S a t z u n g der L i g a a u s a r b e i t e t e , k a n n t e n die O r g a n i s a t i o n e n der englischen P a r t e i e n , die sich seit 1 8 6 7 i m m e r mehr v e r f e s t i g t e n ( v g l . d a z u v o r allem d a s Buch v o n O s t r o g o r s k i , a. a . O . S i e h e auch M . D u v e r g e r , D i e politischen P a r t e i e n , T ü b i n g e n 1959, S . 2 0 1 , u n d O ' B r i e n , P a r n e l l a n d his P a r t y , S . 148 f.), a u s eigener A n s c h a u u n g . D i e a m e r i k a n i s c h e n P a r t e i o r g a n i s a tionen lernten die irischen A b g e o r d n e t e n bei ihren h ä u f i g e n A m e r i k a r e i s e n k e n n e n ( P a r n e l l w a r 1880 in A m e r i k a , H e a l y 1 8 8 1 / 8 2 ) . N a c h 1 8 8 2 m a g d a n n d i e Irische P a r t e i o r g a n i s a t o r i s c h als V o r b i l d g e d i e n t h a b e n , denn w e d e r die englischen noch die a m e r i k a n i s c h e n P a r t e i e n h a t t e n M i t t e d e r 1880er J a h r e " a n y t h i n g like the I r i s h d e g r e e o f c e n t r a l i z a t i o n " erreicht ( O ' B r i e n , S . 149).
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Die Vorgänge bei der Gründung und die Organisationsstruktur machen deutlich, daß die Liga kein Partner, sondern die untergeordnete Hilfsorganisation der Partei war, die mit ihren Ortsvereinen das Land seit Mitte der 1880er Jahre fast lückenlos erfaßte. Auch hinsichtlich des Zuordnungsverhältnisses hatte deshalb die National League mit der Landliga als einer autonomen Agrarbewegung nur noch wenig gemein. Besaßen die Landliga und ihre Ortsvereine ein große Maß Eigenständigkeit, so wurde die National League in recht autokratischer Weise von einem Ausschuß zentral gelenkt, dessen Befugnisse praktisch unbeschränkt waren und dessen Mitglieder von der Partei bestimmt wurden. Die Beziehungen zwischen der Partei und der National League waren in der Satzung der Liga nicht definiert, aber indem die Partei die Schlüsselpositionen in den entscheidenden Organen der Liga besetzte und indem das Amt des Parteivorsitzenden mit dem des Präsidenten der National League in Personalunion verbunden war, übte sie über die Liga eine absolute Kontrolle aus. So ist es nur natürlich, daß die Arbeit der National League allein der Partei, ihren Zwecken und ihren Zielen diente. Sie hatte nicht die Funktion, bei der Gestaltung einer nationalen Politik mitzuwirken, sondern eine Politik auszuführen, die von der Parlamentspartei beschlossen wurde. Was die National League in Irland bewirkte, tat sie ausschließlich im Auftrag und mit vorheriger Billigung der Partei. Deshalb kann und muß bei der Frage nach dem Beitrag der Irischen Parlamentspartei zur Entstehung und Vertiefung eines irischen Nationalbewußtseins die Tätigkeit der National League und ihrer Ortsvereine im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. b) Die Entwicklung der Irish National League Zur Entwicklung der Liga in Irland liegen zwei Quellengruppen vor, die detaillierte Aufschlüsse über die Tätigkeit der National League in den einzelnen Grafschaften und im Land geben. Sie widersprechen sich aber meist hinsichtlich der absoluten Zahl der Ortsvereine in den Jahren 1882 bis 1891. Die Zahl der Ortsvereine in dieser Zeit ist deshalb von besonderem Interesse, weil sie am ehesten ein Bild von der Breitenwirkung und Resonanz der Bewegung zu vermitteln vermag. Die eine dieser beiden Quellengruppen sind die vertraulichen Polizeiberichte an den Chief Secretary, die im State Paper Office in Dublin fast lückenlos archiviert sind. Diese Berichte wurden von den Grafschafts- oder Distriktinspektoren der Royal Irish Constabulary nach Dublin geschickt und dort von einer besonderen Abteilung der Polizeizentrale, der Crime Branch Special, als Grundlage für die meist viertel- oder halbjährlichen Übersichten über den aktuellen Stand der National League benutzt. 64 Der früheste dieser zusammenfassenden Berichte liegt für den Zeitraum vom 1.1.-28. 2. 1883 vor. 65 1:4
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Die sogenannten Beckerson Reports. Die zentralisierte irische Polizei, die Royal Irish Constabulary, stand unter der direkten Kontrolle der irisdien Exekutive. Sie zählte ungefähr 11000 Mann. Nur Dublin hatte eine eigene Polizei, die Dublin Metropolitan Police (R. B. O'Brien, Dublin Castle and the Irish People, London 1909, S. 192; O. D . Edwards and F. Pyle (eds.), 1916. The Easter Rising, London 1968, S.91ff., und O Broin, Dublin Castle, S.21). Zu den Polizeiberichten vgl. die einleitenden Bemerkungen in B. Mac Giolla Choille (ed.), Intelligence Notes 1913—16 preserved in the State Paper Office, Dublin 1966, S. X V I I ff. 87
Die zweite Quellengruppe sind die Presseberichte über die Versammlungen der Ortsvereine und die Angaben, die regelmäßig auf den öffentlichen Zusammenkünften des Zentralvereins der National League entweder von Abgeordneten oder vom Generalsekretär der Liga gemacht wurden. Die bei diesen Gelegenheiten genannten Zahlen über die Stärke der National League liegen fast immer beträchtlich höher als die Zahlen der Polizei für den gleichen Zeitraum. Es ist deshalb schwierig, trotz der relativ reichlich vorhandenen Quellen zu zuverlässigen Aussagen über a) die Zahl der Ortsvereine und b) die numerische Stärke der einzelnen Ortsvereine zu gelangen, doch geht man wohl nicht fehl, den Angaben in den Polizeiberichten hinsichtlich ihrer Objektivität größeres Vertrauen zu schenken als denen der National League. Die Liga hatte ein Interesse daran, ihre Stärke im Lande größer erscheinen zu lassen als sie tatsächlich war. Eine ständig steigende Zahl von Ortsvereinen und Mitgliedern der Liga konnte propagandistisch ausgewertet und als Beweis angeführt werden für die Popularität der nationalen Bewegung. Im folgenden sollen deshalb fast durchweg die Zahlen in den Polizeiakten benutzt und die Angaben des Zentralvereins und die der National League nahestehenden Presse nur hin und wieder zum Vergleich oder zur Ergänzung herangezogen werden. Unmittelbar nach der Gründungsversammlung erließ der Organisationsausschuß der Liga einen Aufruf an das irische Volk, in dem zur schnellen Verwirklichung der Konferenzbeschlüsse aufgerufen wurde, insbesondere zum Aufbau der neuen nationalen Organisation.68 Ähnliche Aufrufe ergingen in den nächsten Monaten auch v o n Seiten der Abgeordneten.67 Trotz der bestehenden Ausnahmegesetze68, die der irischen Exekutive jederzeit eine Handhabe zum Verbot »revolutionärer« Organisationen und zur Verhaftung verdächtiger Personen boten, lassen sich bis zum Jahresende 1882 auch zufriedenstellende Fortschritte beobachten. Vor allem in einigen westlichen und südwestlichen Grafschaften mit starker Landliga-Tradition, so in Tipperary, Leitrim, Sligo und Limerick, fand die neugegründete Liga eine schnelle Verbreitung. Am 31. Dezember 1882 zählte sie im ganzen Land bereits 230, Ende Februar 1883 276 Ortsvereine.69 Die zeitlich entsprechenden Angaben des Zentralvereins lauten 300 bzw. 362 Ortsvereine.70 Damit war aber schon ein vorläufiger Höhepunkt erreicht, denn ab März 1883 beobachtete die Polizei ein Nachlassen von Neugründungen und sich häufende Auflösungserscheinungen unter den bereits konstituierten Ortsvereinen.71 Das läßt erkennen, daß nach dem recht erfolgreichen Beginn eine längere Periode der Stagnation folgte, die bis ungefähr Anfang 1884 dauerte. Zwar wurde auf den Versammlungen des Zentral Vereins weiterhin von einer unvermindert anhaltenden Ausbreitung der Liga gesprochen, die die Gesamtzahl der Ortsvereine im Mai auf 389 und im Juli angeblich auf Der Aufruf ist abgedruckt in Russell, S. 302 f. So z. B. der Abgeordnete William Redmond in Cork (C. E. 22. 11.1882). 6 8 Zu den Ausnahmegesetzen vgl. oben S. 55 Anm. 87. «» SPO, Police Reports, Irish National League, Proceedings 1883-90, Progress Report 1. 1 . - 2 8 . 2 . 1883. 7 6 C. E. 4 . 1 . 1 8 8 3 und 8. 3.1883. 7 1 Siehe z. B. SPO, Chief Secretary's Office, Monthly Confidential Reports of the Divisional Magistrates (S. W. Division), Nr. 8465/Mardi 1883. 68
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über 400 steigen ließ 72 , aber der Beckerson Report vom Juni 1883 glaubte schon, einen Fehlschlag der neuen irischen Organisation konstatieren zu können. "The League", so heißt es dort, "is practically a failure in this country." Besonders die Entwicklung in Südwestirland, in Cork, Kerry und Tipperary, deute auf einen unverkennbaren Niedergang der nationalen Bewegung hin. 73 Auch die personelle Stärke der bestehenden Ortsvereine schien darauf hinzudeuten. Nach den Beobachtungen der Polizei schwankte die Mitgliederzahl der meisten Ortsvereine in der Grafschaft Cork in dieser Zeit zwischen 10 und 30 Personen, und nur in einigen Fällen überschritt sie 60 Personen. 74 Von einem solchen Niedergang, der einem generellen Abschwächungsprozeß des Nationalismus in Irland gleichzusetzen gewesen wäre, konnte aber kaum die Rede sein, zumal das herausragende Ereignis dieses Jahres, das sogenannte Parnell Testimonial oder Parnell Tribute, als ein zuverlässiger Gradmesser f ü r die Popularität der Parlamentspartei und ihres Vorsitzenden angesehen werden kann. Zu dieser Ehrengabe, die offiziell als " N a t i o n a l Tribute to Mr. Parnell in recognition of his great personal worth and splendid services" umschrieben wurde 75 , hatte am St. Patrickstag 1883 der Herausgeber der führenden nationalistischen Tageszeitung Irlands, The Freeman's Journal, aufgerufen. 7 6 Die 20 000 P f u n d Sterling, die man auf diese Weise aufzubringen hoffte, sollten Parnell aus finanziellen Schwierigkeiten helfen, die zu einem großen Teil durch seine politische Tätigkeit entstanden waren. Diese Sammlung wurde auf dem Lande von den Ortsvereinen der National League oder von eigens gebildeten Komitees durchgeführt, die oft unabhängig von der Tatsache eines bereits bestehenden Ortsvereins der Liga gebildet wurden und denen in der Regel die führenden Nationalisten der jeweiligen Lokalität angehörten. So w a r in Dublin der nationalistische Abgeordnete und amtierende Bürgermeister Charles Dawson der Vorsitzende des Komitees. In Cork hatte ebenfalls der nationalistische Bürgermeister den Vorsitz übernommen und andere bekannte Nationalisten arbeiteten im Komitee aktiv mit. 77 Im Beckerson Report für den Zeitraum M ä r z - M a i heißt es deshalb beispielsweise: I think that the apathy of the League during the period under report and the fewness of its meetings, may be explained by the fact that its supporters have been engaged in devoting their energies to the success of the Parnell Testimonial, and in whipping up subscriptions for that object. 78 Die ursprünglich geplante Summe wurde jedenfalls um fast das Doppelte über-
72 C. E. 31. 5.1883; F. J. 11. 7.1883. 78
SPO, Police Reports, Irish National League, Proceedings 1883-90, Progress Report 1 . 3 . - 3 1 . 5 . 1883. Ebda.: Einzelberidite des Inspektors für die S. W. Division vom 1. 3., 7. 5. und 8. 6. 1883. 75 T. P. O'Connor, Memoirs of an Old Parliamentarian, London 1929, Bd. I, S.373. 7 « O'Connor, Memoirs, I, S.373; A. R. 1883, S.201 f.; O'Brien, Life, II, S.23. 77 Parnell National Tribute. Analysis of Subscriptions, Dublin 1884, S. 21. Siehe die Namensliste des Cork Committee in C. E. 17. 5.1883. 78 SPO, Police Reports, Irish National League, Proceedings 1883-90, Progress Report 1.3.-31.5.1883. 74
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troffen. Das zeugt von einem sehr aktiven Nationalismus, zumal sich die Summe aus sehr kleinen Subskriptionen zusammensetzte.79 Das überaus erfolgreiche Ergebnis des Parnell Testimonial war für die National League gewissermaßen eine Ermutigung, die Bemühungen um eine Ausbreitung der Organisation zu verstärken. Ende 1883 zeigte sich nämlich auch die Liga über ihre schleppende Entwicklung im Lande beunruhigt. Die Zahl der Ortsvereine war von 259 im Mai 1883 auf 243 gesunken.80 Die National League sah sich vor allem durch das Vorgehen der Polizei "confronted with almost insuperable difficulties".81 Ihre Versammlungen wurden häufig verboten, und Mitglieder wurden auf Grund der Ausnahmegesetze zeitweilig verhaftet. Am 22. Dezember 1883 versandte der Generalsekretär ein Zirkular an die Ortsvereine, in dem er zu einer größeren Regelmäßigkeit der Beitragsleistungen aufforderte und verlangte, daß Anstrengungen unternommen würden, "to extend the working of the association and Branches are requested to forward statements of their strength". 82 Damit beginnt die eigentliche Entwicklung der Liga. In den Jahren von 1884 bis 1886 erlebte sie ihre Blütezeit. Die Erfolge auf lokaler Ebene dienten als Ansporn 83 , und die allgemeinen Wahlen, die 1885 oder 1886 angesichts einer erheblich vergrößerten Wählerschaft fällig sein mußten, sollten die Bewährungsprobe für die Liga sein. Deshalb erschienen seit Anfang 1884 laufend Appelle des Zentralvereins und bestehender Ortsvereine, die Organisation auszudehnen und zu verfestigen, wobei auch der ständige Hinweis nicht fehlte, daß "the action of the Irish Party in Parliament would be greatly strengthened when the Government found an organised people behind them". 84 Schon Mitte 1884 spiegelte sich die Belebung der Organisation durch die verstärkten Anstrengungen in den Polizeiberichten wider. Während es im Vorjahr in den Polizeiberichten meist hieß, die National League mache nur wenig oder gar keine Fortschritte, zeigte sich nun die Polizei über die Entwicklung der nationalen Bewegung besorgt. Trotz vielfältiger Gegenmaßnahmen der Polizei85 stieg die Zahl der Ortsvereine sprunghaft an. Betrug sie Ende 1883 erst 243, so war sie bis Juni 1884 auf 467 gestiegen86 und bis zum Jahresende auf 59287, wobei die Liga besondere Erfolge in den südlichen, verhältnismäßig wohlhabenden Grafschaften Tipperary, Kilkenny, Waterford, Queen's County und Carlow erzielte.88 Inner7 » Vgl. Parnell National Tribute. ao SPO, Police Reports, Irish National League, Proceedings 1883-90, Progress Report 1. 10.-31. 12. 1883. 81 So der Bürgermeister von Cork anläßlich der Übergabe des Parnell Tribute in Dublin (C. E. 12.12. 1883). «2 Das Zirkular ist beigefügt dem Progress Report 1. 10.-31. 12. 1883. S3 Siehe unten S. 129-37. 84 Weekly Freeman 19.4. 1884, Rede von John Deasy vor dem Ortsverein Cork. 85 Vgl. z. B. die Klagen der National League über die Verhältnisse in der Grafschaft Cork, in der Versammlungen der Ortsvereine besonders häufig verboten wurden (F. J. 16.4. 1884). 88 SPO, Police Reports, Irish National League, Proceedings 1883-90, Progress Report 1.1.-30. 6.1884. 87 Progress Report 1. 7.-31. 12. 1884. Vgl. auch die gleichlautenden Angaben des irischen Attorney-General im Unterhaus (Hansard Pari. Deb., H. C., 3. Serie, Sp.219, 2 2 . 1 . 1886). 88 Progress Report, 1. 7.-31. 12.1884.
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halb von 12 Monaten hatte sich die Situation in Irland grundlegend gewandelt: es war eine Organisation entstanden, die das Land nahezu lückenlos überzog und die auch nach Meinung der Behörden durchaus in der Lage war, im Falle einer allgemeinen Wahl der Partei als wirksame Wahlmaschine zu dienen.89 1885 stieg die Zahl der Ortsvereine weiterhin an, nidit nur in den drei Provinzen Leinster, Munster und Connadit, sondern auch in Ulster, wo die Liga bisher die geringsten Fortschritte gemacht hatte. 00 Der Zentralverein bezifferte die Zahl der Ortsvereine "in actual working order" am 3. Februar 1885 auf 805 91 und zwei Wochen später auf fast 1000. 92 Der für Südwestirland zuständige Inspektor der Royal Irish Constabulary wies zur gleichen Zeit warnend auf das bedrohliche Wachsen der Organisation hin, die ihre Position täglich verbessere, "both as regards the extension of branches and the influence it possesses over the people and many who have hitherto abstained from joining it are now doing so as they find it is the best policy". 93 Die Polizei registrierte in dem Zeitraum von Januar bis Juni die Gründung von 250 neuen Ortsvereinen, gegenüber 139 Neugründungen im vorangegangenen Halbjahr, so daß sich die Gesamtzahl der Ortsvereine Mitte 1885 auf 818 belief. 94 Diese Zahl lag beträchtlich unter der obengenannten Angabe des Zentralvereins vom Februar 1885, in der schon von 1000 Ortsvereinen die Rede ist, aber hier sind hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Zählverfahrens die eingangs erwähnten Bedenken anzuführen.95 In das 2. Halbjahr 1885 fielen die Unterhauswahlen, in denen die Partei, abgesehen von einigen Wahlkreisen in Ulster, alle irischen Unterhaussitze gewann. Die Zahl der Ortsvereine stieg in dieser Zeit auf 1261, das heißt um 50°/o gegenüber dem Stand von Juni 1885, der größten Wachstumsrate seit Gründung der Liga. 90 Andere nationale Organisationen von Bedeutung neben der National League gab es nicht mehr.97 Ortsvereine bestanden nun audi in den entlegensten Gegenden Irlands. 08 Nach Harrington war die Zahl der Ortsvereine sogar auf 1600 gestiegen mit einer durchschnittlichen Mitgliederzahl von 3 0 0 . " Das hätte für die National League eine Gesamtmitgliederzahl von rund 500 000 ergeben.100 89
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"The Organisation is . . . complete and can quickly be brought into action for general Electioneering purposes" (Ebda.). Vgl. Progress Report 1. 1.-30. 6 . 1 8 8 5 . F. J . 4. 2 . 1 8 8 5 . F . J . 18.2.1885. SPO, Chief Secretary's Office, Monthly Confidential Reports of the Divisional Magistrates (S. W . Division), Nr. 3863/Februar 1885. Progress Report 1 . 1 . - 3 0 . 6 . 1 8 8 5 . Siehe oben S. 88. Progress Report 1 . 7 . - 3 1 . 1 2 . 1 8 8 5 . Nach Angaben des irischen Attorney-General betrug die Zahl der Ortsvereine am Jahresende 1280 (Hansard Pari. Deb., H . C., 3. Serie, Bd. 302, Sp. 219, 2 2 . 1 . 1 8 8 6 ) . Die kleineren Geheimbünde, die noch 1883 und 1884 in manchen Gegenden Irlands von der Polizei beobachtet wurden (vgl. audi oben S. 56), hatten 1885 jeglidie Bedeutung verloren (vgl. das Material der Polizei in P. R. O., C. O. 9 0 4 / 1 0 Secret societies. Investigations regarding secret societies and individuals, 1 8 8 2 - 1 8 8 4 ) . U . I. 1 4 . 1 1 . 1 8 8 5 . F. J . 17. 1 2 . 1 8 8 5 . Vgl. dazu audi O'Brien, Parnell and his Party, S. 133 Anm. 3. Kurz vor ihrem Verbot im Oktober 1881 zählte die Landliga angeblich 2 0 0 0 0 0 Mitglieder (Hammond, S.244). 91
Diese Angaben sind aber sicher zu optimistisch, auch wenn man einräumt, daß Harrington wahrscheinlich solche Ortsvereine mitzählte, die lediglich kurze Zeit während des Wahlkampfes existierten. Aber auch im Hinblick auf die durchschnittliche personelle Stärke der einzelnen Ortsvereine scheinen seine Angaben zu hoch veranschlagt. Obwohl dazu kein zuverlässiges Zahlenmaterial vorliegt 101 , läßt sich doch sagen, daß eine Mitgliederzahl von 300 und mehr nur von Ortsvereinen in größeren Städten und einigen wenigen Pfarrgemeinden erreicht wurde. In den meisten ländlichen Gemeinden lag sie darunter. Die Zahlen, die gelegentlich von den Ortsvereinen genannt wurden, scheinen jedenfalls darauf hinzuweisen. Danach zählte in der Grafschaft Cork nur der Ortsverein in der Stadt Cork über 1000 Mitglieder. 102 Allerdings trifft es sicherlich zu, denn die Wahlergebnisse bestätigen es, daß in der Stadt Cork die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mit der National League und der Partei sympathisierte.103 Die Mitgliederzahl in den kleineren Städten schwankte zwischen 110 und 650. 104 In den Dörfern, in denen die Masse der Ortsvereine bestand, lag die Zahl, soweit die wenigen Hinweise überhaupt allgemeine Aussagen zulassen, je nach Einwohnerzahl zwischen 50 und 300 Mitgliedern.105 Es stellt sich hier überhaupt die grundsätzliche Frage, inwieweit die Mitgliedschaft in der National League für den Einzelnen freiwillig war und inwieweit sie auf äußerem Druck oder Zwang beruhte. Nach dem Eindruck, den die Polizei gewonnen hatte, gehörte die Anwendung von moralischem oder materiellem Druck zu den erklärten Praktiken der Liga. "Pressure to join the League, the inducements put forward being the hope of exclusive advantages for members and the fear of injury to outsiders" zwängen die Bevölkerung in die Liga. 106 In einem Polizeibericht aus Cork vom September 1885 heißt es: So great is the influence to which the N. L. has now attained that persons of all classes to whom its doctrines are abhorrent have been forced to joint it. 107 Und im November 1885 heißt es: Boycotting is becoming more universal, in consequence of which many have 101
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Für die Ortsvereine in der Grafschaft Cork enthalten nur die Polizeiberichte des Jahres 1883 einige unvollständige Angaben, vgl. oben S. 89. Nach C. E . 6 . 4 . 1886 zählte der Ortsverein 1200 Mitglieder. Fünf Monate zuvor waren es erst 380 Mitglieder (C. E. 4. 11. 1885). Nach J . Deasy, M . P., unterstützten in der Stadt 9 / 1 0 der Bevölkerung die Liga (Rede vor dem Zentralverein, F. J. 16. 4. 1884). Bandon (rd. 4000 Einwohner): ca. 110 Mitglieder (C. E. 24. 7. 1886); Bantry (rd. 3200 Einwohner): 644 Mitglieder (C. E. 6. 10. 1885); Macroom (rd. 3 8 0 0 Einwohner): über 2 5 0 Mitglieder (C. E . 13. 10. 1885). Die Einwohnerzahlen beziehen sich auf 1881. z . B . : Killavullen 280 Mitglieder (C. E. 15. 2 . 1 8 8 6 ) , Shanbally 130 Mitglieder (C. E. 1 3 . 1 0 . 1885),
Indiigeela rd. 200 Mitglieder (C. E . 1 3 . 1 0 . 1 8 8 5 ) . loo SPO, Police Reports, Irish National League, Confidential Report for the Information of the Cabinet, 1887, on: The Working of the National League, as depicted in the published Resolutions and Reports of Proceedings of its Local Brandies. 107 SPO, Chief Secretary's Office, Monthly Confidential Reports of the Divisional Magistrates (S. W . Division), N r . 18220/September 1885.
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been coerced to join the Nat. League, otherwise they could not obtain the necessaries of life. 108 Die Urteile und Berichte der unionistisdien Presse und unionistischer Vereinigungen klingen ähnlich.109 Reden führender Nationalisten und Abgeordneter könnten diesen Eindruck bestätigen, so wenn beispielsweise der Abgeordnete Dr. Tanner am 23. August 1885 in der Grafschaft Cork erklärte: For God's sake do boycott every man, woman and child who could not be true and join the National cause. He told the people to be careful not to purchase an article from anyone but a Nationalist. 110 Vereinzelt wurden audi in der Presse Beschlüsse von Ortsvereinen veröffentlicht, in denen sich die Mitglieder verpflichteten, "to have no dealings with shopkeepers, traders, artisans, or labourers, who do not become member of this league". 111 Dagegen stehen allerdings die Aussagen Harringtons, nach denen die National League offiziell jeden Zwang ablehnte, um nicht mit den geltenden Ausnahmegesetzen in Konflikt zu geraten. "It is not permissible for brandies", sdirieb er an einen Ortsverein, "to pass resolutions condemnatory of people not joining the National League."112 Und in einem anderen Brief heißt es noch entschiedener: Since the initiation of the organisation we have never permitted the slightest coercion to be used by our branches towards compelling any person to become a member of the National League. Denn: Men who are coerced to become member of the organisation are generally a greater weakness than a strengthening to it.113 Nach Lage der Dinge werden die Verhältnisse sicherlich nicht so kraß gewesen sein, wie sie in den Polizeiberichten beschrieben werden. Es kann als die Regel unterstellt werden, daß der Beitritt zur Liga freiwillig erfolgte, denn sie trat für die Interessen der bäuerlichen Bevölkerung ein und fand somit als die gegebene politische Vertretung der Pächter genügend Unterstützung. Die Polizeiberichte 108 SPO, Chief Secretary's Office, Registered Papers (S. W. Division), N r . 2303/November 1885. 10« Vgl. den Kommentar in C. E. 27.7. 1886 sowie Statement submitted to the Prime Minister by the Irish Loyal and Patriotic Union. Part I: Social Order in Ireland under the National League, Dublin und London 1886, S. 8, und den irisdien Attorney-General Hugh Holmes im Unterhaus: "The League dictated to every person in many parts of Ireland what their course of action should be, and interfered with that individual liberty which should be protected in every civilized State, and that not as between landlord and tenant alone, but in every relation of life" (Hansard Pari. Deb., H. C„ 3. Serie, Bd. 302, Sp. 221, 2 2 . 1 . 1 8 8 6 ) . 110
SPO, Police Reports, Irish Land League and Irish National League Papers: Printed copies of summaries of outrages, 1879-88: Irish National League and Crime in carrying out the Plan of Campaign on Ponsonby Estate. 111 Beschluß des Ortsvereins Mitchelstown (C. E. 3. 12. 1886). 112 Nachlaß Harrington: Printed Letters, Ms. 9454, Brief vom 5. 8.1886. » 3 Ebda., Brief vom 25. 6. 1887.
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betonen Randerscheinungen, wie sie zweifellos zu beobachten waren, die aber nicht als die N o r m angesehen werden können. Ein Beitritt zur Liga ließ sich vor allem in kleinen Kommunen, wo die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Mitglied war, etwa f ü r einen Händler oder Gastwirt, der die sozialen und nationalen Ziele der Organisation aus irgendwelchen Gründen ablehnte, im wohlverstandenen Eigeninteresse kaum umgehen. Ein Beitritt war gerade in den Jahren 1884 bis 1886, in denen die nationale Bewegung ihren Höhepunkt erreichte, eine Notwendigkeit, um nicht in eine Außenseiterstellung zu geraten oder sogar als Feind des nationalen Anliegens betrachtet zu werden. Beides konnte angesichts der Macht der National League und ihres oft radikalen Vorgehens f ü r den Betroffenen erhebliche Konsequenzen haben. 114 In solchen Fällen ließ sich relativ leicht sagen, daß "the unfortunate people are compelled out of self-defence to join the League and comply with its Orders". 115 Druck oder ein ausgeklügeltes System von Drohungen, das die Bevölkerung gleichsam gegen ihren Willen in die nationale Bewegung hineinzwang, ist daher, abgesehen von immer wieder vorkommenden Ausnahmefällen, die von der Polizei und der unionistischen Presse über Gebühr herausgestellt wurden, auszuschließen. Viel entscheidender f ü r den Erfolg der Liga auf dem Land war die H a l t u n g des katholischen Klerus. Eine nationale Bewegung ohne die aktive Mithilfe oder zumindest die wohlwollende Duldung des Klerus war in Irland seit der Zeit O'Connells kaum mehr möglich. Die Jung-Irländer, denen diese H i l f e im Unterschied zur O'Connellsdien Repealbewegung nicht gewährt wurde, scheiterten. Auf der anderen Seite war auch die Kirche stets bereit, jeden Versuch, die Lage der katholischen Bevölkerung im Rahmen der bestehenden politisch-sozialen Ordnung zu verbessern, ihre Unterstützung zu geben - gleichzeitig sich aber gegen jede Bewegung zu wenden, die diese Ordnung gewaltsam zu zerstören versuchte, wie beispielsweise die Fenier. 116 Die Wirksamkeit der Landliga, aber auch schon der Home Rule League, beruhte zu einem ganz wesentlichen Teil auf der intensiven Mitwirkung des Klerus in ihrer Organisation, auf ihren Protestversammlungen und bei Boykottbeschlüssen. 117 Die Bedeutung und das Ausmaß seiner politischen Aktivität veranlaßten 1881 den damaligen Vizekönig Lord Cowper zu dem R a t an das Kabinett in London: The priests still exercise an extraordinary influence over the people . . . , and to withdraw the priests from the movement would be an object for which a great deal of risk might be run. 1 1 8 Im Beckerson Report vom 18. Juli 1884 heißt es, der Erfolg der Ortsvereine der
m Siehe unten S. 108 ff. "5 SPO, Chief Secretary's Office, Registered Papers (S.W.Division), N r . 2303/November 1885. 116 Strauss, S. 206; Lyons, Dillon, S. 90. Vgl. auch H . Senior, "The Place of Fenianism in the Irish Republican Tradition", University Review 4 (1967), S. 256, und D. McCartney, "The Church and the Fenians", ebda., S. 203-15. 1 » Palmer, S. 117 f. » 8 Liam O'Flaherty, The Life of Tim Healy, London 1927, S. 78.
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Liga "will depend very much upon the attitude which the local R. C. Clergy assumes towards them". 119 Diese entscheidende Unterstützung durch den Klerus blieb auch für die National League nicht aus, mit deren Programm sich vor allem die jüngeren Geistlichen schon bald nach der Gründungskonferenz identifizierten.120 Der Entschluß zur Betätigung in der nationalistischen Organisation vollzog sich dabei nach einem gewissen Stufenschema. Im allgemeinen schlössen sich zuerst die Kapläne (curates) der Liga an. Ihnen folgten mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung die Pfarrer. Die Mehrheit der Bischöfe folgte dem Beispiel des niederen Klerus gewöhnlich erst sehr spät 121 , vielleicht mit der großen Ausnahme des Erzbischofs T. W. Croke von Cashel, der die National League, wie früher die Landliga 122 , seit ihrer Gründung öffentlich unterstützte. Das ausschlaggebende Moment für die Hierarchie bildete die Erkenntnis, daß Parnells Politik der Mäßigung, die sich hinter der radikalen nationalistischen Propaganda verbarg und die bei der Gründung der Liga kaum zu erwarten war, den revolutionären Flügel des irischen Nationalismus in den Hintergrund zu drängen vermochte.123 Der niedere Klerus glaubte hingegen in einer eigentümlichen Vermischung religiöser und politischer Motive sehr oft, daß Home Rule sowohl den protestantischen Einfluß in Irland als auch die Herrschaft der Grundbesitzer beenden würde. 124 Die Loyalität des Klerus ließ selbst in einer so kritischen Situation nicht nach, als der Vatikan im Mai 1883, wahrscheinlich auf englisches Drängen, dem irisdien Klerus die Mitarbeit in der National League verbot und ihm nahelegte, sich nicht an der laufenden Sammlung für das Parnell Tribute zu beteiligen. 12 ' Welchen Einfluß der Klerus vor allem in ländlichen Gebieten besaß, wurde deutlich, als sich 1890 nach der Spaltung der Partei bei einer Nachwahl zwei nationalistische Kandidaten gegenüberstanden, von denen der eine der Kandidat Parnells, der andere ein Gegner Parnells war. In einem Bezirk, in dem der Pfarrer Parnell unterstützte, gewann der Parnellsche Kandidat die Mehrheit. In allen anderen Bezirken erklärten sich die Pfarrer gegen Parnell: in ihnen wurde der Parnellsche Kandidat geschlagen.126 Gerade der Ausgang dieser Nachwahl widerspricht übrigens der These J. H. Whytes vom nachlassenden Einfluß des Klerus, der seit 1870 zu beobachten sei und der sich seit Beginn der 1880er Jahre erheblich verstärkt habe. 127 Auf lokaler Ebene war die Haltung des Klerus für eine politische Bewegung immer noch von überragender Bedeutung. Seine wichtige Rolle spielte der Klerus nicht in den zentralen Organen der Liga, sondern in den Ortsvereinen. Dort fiel ihm seit 1882 eine Schlüsselfunktion zu. u» Progress Report 1. 1.-30. 6. 1884. 12 Vgl. A. R. 1883, S. 2 0 0 ; Henry James, The Work of the Irish Leagues, London 1890, S. 714 f. 121 Vgl. A . R . 1887, S. 196. 122 Lyons, Dillon, S. 60. 123 Strauss, S. 207. 124 Curtis, Coercion, S . 2 3 2 . 125 O'Brien, Parnell and his Party, S. 8 5 ; C. E . 16. 5 . 1 8 8 3 . 126 O'Brien, Life, II, S. 305 f. Zu dieser 1. Nachwahl nach der Parteispaltung außerdem: Lyons, The Irish Party, S. 17, und Whyte, " T h e Influence of the Catholic Clergy", S. 256. 127 Whyte, S. 254 f.
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Die Geistlichen beteiligten sich aktiv an den Versammlungen zur Gründung von Ortsvereinen. Meist beriefen sie solche Versammlungen ein und übernahmen den Vorsitz in den konstituierenden Sitzungen.128 Es war fast selbstverständlich, daß die Pfarrer auch den Vorsitz in den Ortsvereinen übernahmen. Der Engländer W. S. Blunt, der im Frühjahr 1886 einen Einblick in die Unterlagen der National-League-Zentrale erhielt, gewann den Eindruck, die Ortsvereine seien vollständig in den Händen des Klerus. Seine Angabe, daß in vier von fünf Fällen der Gemeindepfarrer der Vorsitzende des Ortsvereins war, ist durchaus zutreffend. 129 Sie wird unter anderem durch einen Polizeibericht vom Februar 1883 bestätigt, in dem es bereits heißt, der Klerus stelle "in nearly every instance the principal officers of Branches".130 Die Angaben Harringtons vom Dezember 1885, in denen er die Zahl der Ortsvereine auf 1600 bezifferte 131 , lassen erkennen, in welchem Ausmaß selbst die Leitung der Liga vom Wachsen der Organisation überrascht war. Die irische Exekutive stand der Entwicklung nahezu ratlos gegenüber. Bereits im Februar 1885 hatte die Polizei auf die Schwierigkeiten für die Verwaltung des Landes hingewiesen, die sich aus einem weiteren ungehinderten Anwachsen der National League ergeben würden. 132 In der Grafschaft Limerick schienen die Behörden im November 1885 die Kontrolle schon völlig verloren zu haben: The I. N. League exists in a highly organized state throughout the County generally exercising an almost universal and despotic sway among the farming classes.133 Nach Meinung der Polizei war die Liga jetzt einflußreicher als die Dubliner Regierung.134 "In many parts of the country", schrieb unter dem Eindruck dieser Berichte der Polizei der Chief Secretary William H. Smith im Januar 1886 an den Premierminister Lord Salisbury, "the National League is the Government de facto, and the Government de jure is powerless." 135 Lord Randolph Churchill, der bereits im Oktober 1885 bei einem Besuch Irlands die Unruhe der Dubliner Regierung über die wachsende Stärke der Liga kennengelernt hatte 136 , bezog sich offenbar auf diesen Bericht, als er am 13. Februar 1886 öffentlich erklärte: There are in Ireland now two governments - there is the Government of the Queen and the government of the National League - and the Government im
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z
. B . : Kilworth
(C. E. 21. 11. 1882),
Youghal (C. E. 2. 2. 1885), Kingwilliamstown (C. E. 2 1 . 1 1 . 1882). W. S. Blunt, The Land W a r in Ireland. Being a personal 1912, S. 44. Progress Report 1. 1 . - 2 8 . 2. 1883. Siehe oben S. 91. SPO, Chief Secretary's Office, Monthly Confidential Magistrates (S. W . Division), N r . 3863. SPO, Chief Secretary's Office, Registered Papers (S. W. Ebda. Brief vom 2 5 . 1 . 1 8 8 6 (zit. in Curtis, Coercion, S. 86). Winston S. Churdiill, Lord Randolph Churchill, London
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narrative of events, London
Reports of the Divisional Division), N r . 2303/1885.
o.J. (1951), S. 426.
of the Queen is not the stronger government of the two in many parts of Ireland. 137 Die irischen Unionisten griffen diese Feststellung auf und versuchten, sie in einer umfangreichen Pamphletliteratur zu belegen — in der Hoffnung, mit fortwährenden Hinweisen auf die sich auflösende politische und soziale Ordnung Irlands die Regierung veranlassen zu können, die Tätigkeit der Liga durch neue Ausnahmegesetze mindestens einzuschränken. In einer Flugschrift, die Mitte 1886 in hoher Auflage erschien, heißt es beispielsweise: The power of the League has steadily and rapidly increased, and throughout the greater part of the three provinces of Ireland its local branches now exercise an almost undisputed control over the liberties of the people. 138 Im Juli 1886, als nach dem Scheitern der ersten Gladstoneschen Home-RuleVorlage wiederum eine Unterhauswahl bevorstand, meldete selbst die Polizei 1285 Orts vereine.139 Diese Zahl, die allerdings immer noch wesen tlich unter der Angabe Harringtons von 1600 Ortsvereinen lag, ist als der Gipfelpunkt in der Entwicklung der National League anzusehen, um den die Zahl der Ortsvereine noch einige Zeit pendelte 140 , um dann in eine rückläufige Bewegung einzumünden, die durch die Verschärfung der geltenden Ausnahmegesetze im August 1887 noch verstärkt wurde. Bereits Ende 1886 und dann vor allem im Frühjahr 1887 unternahm die Liga Anstrengungen, "to import fresh vigour into the organisation". 141 Gleichzeitige Appelle an die Ortsvereine, die ihnen in der Satzung auferlegte Quote von 75 °/o der Mitgliedsbeiträge an die Zentrale abzuführen 142 , deuten ebenfalls auf Ermüdungserscheinungen hin, deren Ursachen möglicherweise in dem Scheitern der ersten Home-Rule-Vorlage und dem Regierungsantritt einer starken konservativen Regierung zu suchen sind. 143 Das Vorgehen der neuen Regierung, das sich gegen die wirksamsten Waffen der Liga richtete (Pachtverweigerung, Boykott, Drohungen), geschah also zu einem Zeitpunkt, an dem die Liga zum erstenmal Schwächezeichen erkennen ließ. Obwohl der Irische Staatssekretär schon in seinem erwähnten Bericht vom Januar 1886 an Lord Salisbury der Regierung ein energisches Handeln empfohlen hatte, das selbst ein Verbot der Liga nicht ausschließen sollte144, konnte sich die Londoner Regierung damals angesichts der Macht der National League und des Widerstandes einflußreicher Konservativer gegen neue Ausnahmegesetze zu solchen Schritten noch nicht entschließen.145 Das neue Ausnahmegesetz vom 19. August 1887, das erst nach langen Beratungen
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vorzuschlagen. Der Grundbesitzer hatte 1 0 % bzw. 2 0 % zugestanden. 98 Die um den von den Pächtern beschlossenen Prozentsatz gekürzten Pachten wurden einem Treuhänder übergeben.97 Der Grundbesitzer lehnte das Angebot der Pächter ab; darüber hinaus verschärfte er nun seinerseits die Gegensätze durch die Androhung von Exmissionen.98 Die nun folgenden Monate waren ausgefüllt mit einer umfangreichen Propaganda, in der zwar dramatische Akzente nicht fehlten, spektakuläre Schritte der Kontrahenten aber ausblieben. Drohungen wurden mit Gegendrohungen beantwortet. Auf Seiten der Pächter fanden fast wöchentlich Demonstrationen und Versammlungen mit Abgeordneten statt 99 , die vorab den Zweck hatten, "to encourage the tenantry in the pursuance of the Plan of Campaign" 100 und den 90 91
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SPO, Police Reports, S. 1. Auch finanziell wurden die Pächter von der Liga unterstützt (NL Harrington, MS. 8582 "Financial accounts of the INL, including legal expenses incurred in defence of the tenants of the Ponsonby Estate"). C. E. 8.11.1886; SPO, Police Reports, S. 1. William J. Lane; wohlhabender Geschäftsmann; führendes Mitglied der National League in Cork; Abgeordneter seit 1885. C.E. 8.11.1886. C.E. 16.11.1886. Ebda., und The Plan of Campaign. Ebda., und Keller, S. 14 f. C.E. 26. 11.1886. So etwa am 28.11.1886, 5.12.1886, 19.12.1886. C.E. 6.12.1886.
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Grundbesitzer offentlidi vor der Durchführung von Exmissionen zu -warnen. Eine Einigung zwischen den Parteien kam nicht zustande. Der Besitzer des Gutes, der in der Auseinandersetzung mit den Pächtern nicht nur von der Organisation der Grundbesitzer, sondern auch von der irisdien Regierung unterstützt wurde, verkaufte Anfang 1889 durch die geheime Vermittlung des Irischen Staatssekretärs Arthur Balfour das Gut an eine eigens für diesen Zweck gebildete Londoner Kapitalgesellschaft.101 Der eigentliche Konflikt blieb davon unberührt. In seiner Wirksamkeit kam der Plan of Campaign in den vier Jahren seines Bestehens allerdings nicht einer sozialen Umwälzung gleich, etwa in dem Sinne, wie es der >Landkrieg< zwischen 1879 und 1881 eine war, obwohl die ihn begleitende Propaganda in manchen Phasen an die sozial-revolutionäre Terminologie jener Jahre erinnerte.102 In vieler Hinsicht ging es auch um die gleichen Probleme. Insgesamt wurde die Durchführung des Plans auf 116 Pachtgütern beschlossen. Auf 60 dieser Güter wurde bis 1890 eine Einigung zwischen Grundbesitzern und Pächtern durch Verhandlungen erzielt, auf 24 Gütern eine Einigung nach vorangegangenen Auseinandersetzungen. Auf 15 Gütern mußten die Pächter kapitulieren und die Bedingungen der Grundbesitzer annehmen; auf den restlichen 18 Gütern war der Konflikt Ende 1890 noch unentschieden.103 Diese Bilanz erlaubt es, im großen und ganzen von einem Erfolg des Plans und der mit seiner Durchführung eng verbundenen National League zu sprechen. Der Einsatz war für die nationale Bewegung allerdings hoch. Organisation und finanzielle Mittel wurden durch ihn bis an die Grenze des Möglichen beansprucht.104 y) Der indirekte Boykott: Hatte es sich für die National League oft als schwierig herausgestellt, die Grundbesitzer durch einen direkten Boykott zu treffen, so eröffnete das Feld des indirekten Boykotts eine Reihe von Möglichkeiten, die die wirtschaftlichen Interessen der landbesitzenden Schicht wirksam zu schädigen vermochten. Zwei große Komplexe boten sich dabei vor allem an. Einmal konnte man zu verhindern suchen, daß Pachtstellen, von denen Pächter wegen Nichtzahlung der Pacht exmittiert worden waren, einen neuen Pächter fanden. Zweitens konnte man zu verhindern suchen, daß Grundbesitzer Vorteile aus der Zulassung zu den Viehmärkten des Landes zogen oder ihr Vieh über die irischen Häfen nach Großbritannien verschiffen konnten. Die Verhinderung von land-grabbing, wie die Inbesitznahme einer zwangsgeräumten Pachtstelle in der nationalistischen Agitation genannt wurde, erschien vielen Beobachtern als die Hauptaufgabe und wesentlichste Tätigkeit der Ortsvereine der National League. Daran läßt sich in etwa das Ausmaß abschätzen, Landkriegesfremde< Regierung ergaben. 52 Auf die Presse, so formulierte es ein nationalistischer Redner 1884, devolves the sacred duty of politically and morally asserting our rights, exposing our wrongs, guarding our liberty, and vindicating our independence. 53 Daneben sollte die Presse b) die Tätigkeit und das politische Verhalten der irischen Abgeordneten kontrollieren. Bereits 1875 forderte Parnell eine wachsame Öffentlichkeit54, denn nur auf diese Weise konnten nach seiner Meinung die Abgeordneten daran gehindert werden, die nationalen Wünsche Irlands im Parlament anderen Interessen zu opfern oder angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus in Untätigkeit zu verfallen. Und 1879 erklärte Parnell: The determination to act as if the eye of their constituents were always upon them was the one thing necessary to enable the Irish Members to acquit themselves as they ought in the service of Ireland. 55 Ähnliche Aufforderungen zu einer Kontrollfunktion der Presse tauchten in den späteren Jahren immer wieder auf, und die nationalistischen Zeitungen bieten hinreichend Belege für ihre Verwirklichung. In United Ireland und im freeman's 48 SPO, Irish Crimes Records 1848-93: Register of Newspapers, undated. 4» Dillon an T. P. O'Connor, 5. 10. 1918 (zit. in Lyons, Dillon, S.445). so O'Brien, Memories, S. 168. 51 M. Bodkin, Recollections of an Irish Judge, London 1914, S. 149. 52 Auf die seit 1886 in London bestehende Irish Press Agency soll in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden, da ihre Flugschriften zur Irisdien Frage für die englische Öffentlichkeit bestimmt waren. 53 C. D. H. 17.12. 1884. 54 "The Irish people should watch the conduct of their representatives in the House of Commons" (O'Brien, Life, I, S. 86). 55 Rede in N a v a n am 12. 10. 1879 (zit. in O'Hegarty, S. 594).
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Journal finden sich vor allem in den Jahren 1882-85 häufig Kommentare, in denen das Verhalten von Abgeordneten kritisiert wird, weil sie beispielsweise in den Debatten des Unterhauses keinen eindeutigen Standpunkt bezogen hatten oder weil sie bei wichtigen Abstimmungen und Sitzungen fehlten. Letztlich sollte die Presse c) über den Fortgang und die Erfolge der nationalen Bewegung berichten, die Bevölkerung für die nationale Sache begeistern und ihre Identifizierung mit dem Programm der Partei herbeiführen helfen. Vor allem die Wahrnehmung dieser Aufgabe bestimmte das Erscheinungsbild der nationalistischen Presse. Die Reden Parnells und führender Abgeordneter wurden im Wortlaut abgedruckt, ebenso die Debatten des Unterhauses über irische Probleme. Gladstones Home-Rule-Vorlage und die sich daran anschließenden Auseinandersetzungen im Unterhaus wurden von allen Zeitungen wörtlich wiedergegeben. Sowohl The Freeman's Journal als auch The Cork Examiner hatten eine besondere Kolumne, die London Correspondence, in der über die Tätigkeit der Abgeordneten in und außerhalb des Parlaments und über den Verlauf der Debatten berichtet und kommentiert wurde. Neben der parlamentarischen Berichterstattung und Kommentierung beanspruchten einen ähnlich breiten Raum die zahllosen Berichte über die Versammlungen der National League, die schwierige Lage der Pächter, die Feindseligkeit der Grundbesitzer und der britischen Regierung. In Wahlzeiten traten hinzu die Reden der nationalistischen Kandidaten, ihre Wahladressen, die die Wähler zur Unterstützung aufforderten, die Polemik gegen die konservativen Kandidaten und die Anweisungen über den technischen Ablauf der Wahlen: wo die zuständigen Wahllokale liegen, wann die Wahltage in den einzelnen Wahlkreisen sind, an welchem Tag die Nominierung erfolgt, wann die Konvente stattfinden. Solche mehr technischen, aber höchst wichtigen Funktionen übernahm die Presse auch für die Orts vereine der Liga, indem sie ihre Versammlungen und Demonstrationen ankündigte, ihre Beschlüsse veröffentlichte und ganz allgemein das unentbehrliche Medium für die Kommunikation der "important details" darstellte, "which were of vital use and importance to the advancement of their cause".56 Als die britische Regierung 1887 das Teilverbot gegen die National League erließ, richteten sich deshalb ihre Maßnahmen vorab auch gegen diese Informationstätigkeit der Zeitungen57, in der richtigen Erkenntnis, durch das Unterbinden von Berichten über die Treffen verbotener Ortsvereine die Liga am ehesten schwächen zu können.58 Die Jahre 1887-90 sind daher gekennzeichnet durch eine nicht abreißende Kette von gerichtlichen und polizeilichen Schritten der Regierung gegen die nationalistische Presse, die an deren finanzielle Reserven erhebliche Anforderungen stellten und die Herausgeber oft ins politische Exil zwangen. 69 Harrington v o r dem Zentralverein (F. J. 23. 11. 1886). 57 Vgl. oben S. 98. 5 8 Zu den Presseverfolgungen vgl. SPO, Irish Crimes Records, Intelligence Notes of Prosecutions under Criminal Law and Procedure Act, 1 8 8 7 - 9 1 , und P. R. O., C. O. 903/1 Intelligence notes. Miscell. Prints 1 8 8 5 - 1 8 9 2 : No. 4 "Press Prosecutions in Ireland". 5 9 Der Herausgeber des Cork Examiner verließ z . B . Ende 1887 Irland, um einem Gerichtsverfahren wegen Veröffentlichung von Berichten über Versammlungen verbotener Ortsvereine zu entgehen.
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Dieses hier gezeichnete Bild der Presse war nach dem Jahrzehnt 1880-90 erheblichen Veränderungen unterworfen, auf die nur noch kurz eingegangen werden soll. Wenn die Verhältnisse unter Parnell dadurch gekennzeichnet waren, daß es außer der Wochenzeitung United Ireland eine Parteipresse im eigentlichen Sinne nicht gab, so war es keine Frage, daß die Mehrheit der Publikationsorgane - die sogenannte nationalistische Presse - die Parlamentspartei und ihre Hilfsorganisation unterstützte und sich mit ihrem Programm identifizierte. In rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht blieben die nationalistischen Zeitungen in unabhängigen Händen, so daß der Partei eine direkte Kontrolle über sie formal verwehrt war. Von Healy wird zwar in seinen Erinnerungen mitgeteilt, daß Parnell Besitzanteile an einer kleineren Provinzzeitung besaß, dem Drogheda Independent^, doch scheint es sich hier offensichtlich um einen Ausnahmefall gehandelt zu haben. Jedenfalls läßt sich nicht feststellen, inwieweit ein solcher Einfluß auch bei anderen Provinzzeitungen bestand. In den 1880er Jahren hatte sich diese lockere Bindung zwischen Presse und nationaler Bewegung für die Partei wenig problematisch gestaltet. Sie stellte sie aber vor Schwierigkeiten, als sich die Partei spaltete und neue Bewegungen des irisdien Nationalismus entstanden. Für das politische Pressewesen der NachParnellzeit sind daher drei Entwicklungstendenzen charakteristisch. Einmal trat die Berichterstattung über die Partei und ihre Organisationen mit dem Nachlassen des Interesses der Bevölkerung an der konstitutionellen Variante des irischen Nationalismus zugunsten anderer Themen in den Hintergrund. Zum anderen entstanden seit 1891 Zeitungen, die von der Parlamentspartei auch ideell unabhängig waren und daher nicht mehr in das einfache Schema der 1880er Jahre eingeordnet werden konnten: nationalistische Presse auf der einen und konservative Presse auf der anderen Seite. Den sich differenzierenden Erscheinungsformen des Nationalismus entsprach die Entwicklung einer differenzierteren Presse auf nationalistischer Seite, für die die alte Formel »nationalistische Presse« gleich »Presse der Partei« nicht mehr genügte. Die neuen Richtungen des Nationalismus gaben im Gegenteil Zeitungen heraus, die dem parlamentarischen Nationalismus - wie er von der Partei verkörpert wurde-nicht nur kritisch gegenüberstanden, sondern gegen ihn auch polemisierten. Die bekanntesten Beispiele dieser »neuen« Presse waren The Leader, der seit 1900 als wichtigstes Sprachrohr eines Irish Ireland erschien, und die Organe der Sinn-Fein-Bewegung wie The United Irishman seit 1899, Sinn Fein seit 1906 und The Peasant seit 1909. Später waren dazu auch die Zeitungen der I.R.B. (Irish Freedom, 1910) und der Arbeiterbewegung zu zählen ( T h e Workers' Repuhlic seit 1898; The Irish Worker seit 1911). Eine vielfach unterschätzte Bedeutung kam auch dem Irish Daily Independent zu, der sich seit ungefähr 1905 zur größten Tageszeitung Irlands mit einer durchschnittlichen Auflage von 25 000 Exemplaren entwickelte und damit The Freeman's Journal überrundete.61 Der Independent diente zwar keiner Richtung des irischen Nationalismus als Sprachrohr, aber seine fortwährenden Angriffe auf die
60 Healy, I, S. 356. 6 1 Vgl. Gwynn, Redmond, S. 165 f., und Handbuch, S. 123.
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Partei und seine scharfe Kritik an ihr trugen dazu bei, die politische Position der Parlamentspartei in Irland nachhaltig zu schwächen.62 Auf diese gewandelten Verhältnisse reagierte die Partei - und damit ist die dritte der oben erwähnten Tendenzen angesprochen - mit dem Versuch, sich eine eigene Presse zu schaffen, was ihr aber nur bis zu einem gewissen Grade gelang. Auf jeden Fall stellten die Bemühungen in dieser Richtung eine völlige Abkehr von der Praxis der 1880er Jahre dar. Die Spaltung der Partei hatte bereits die Notwendigkeit einer solchen Entwicklung angekündigt, denn nun war auf einmal deutlich geworden, daß das Durchsetzungsvermögen einer politischen Gruppierung entscheidend von der Kontrolle einer weitverbreiteten Zeitung abhing. Das Fehlen einer solchen Kontrolle ließ es zu, daß sich die nationalistische Presse 1890/91 in einer Lage befand, in der sie sich für eine der beiden Parteirichtungen entscheiden konnte, während der zerstrittenen Partei nur übrigblieb, die Entscheidungen der einzelnen Zeitungen hinzunehmen. So unterstützte The Freeman's Journal, auf dessen Haltung es vorab ankam, zu Beginn der Parteikrise Parnell, aber als sich der Druck des Klerus auf das Blatt verstärkte und die Auflage sank63, sagte sich der Freeman's im Juli 1891 von Parnell los und ging in das Lager der Parnell-Gegner über. Die Verbindung zwischen Freeman's und Parteisektion spielte sich danach wieder in ähnlichen Formen ab wie unter Parnell 64 , aber um 1900 machte sich das Blatt, das inzwischen den Besitzer gewechselt hatte, zunehmend unabhängig, um während der Diskussion über das große Landreformgesetz von 1903 sogar für kurze Zeit in offene Opposition zur wiedervereinigten Partei zu treten. Der Partei bereitete diese Entwicklung des Freeman's erhebliche Schwierigkeiten, zumal sie auch über den Irish Daily Independent keine Verfügungsgewalt mehr besaß.65 Erst 1910 gelang es der Partei, den Freeman's auf Grund einer erneuten Veränderung in den Besitzverhältnissen wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Seine alte Bedeutung hatte er jedoch zu dieser Zeit längst verloren. Die Mehrheit der Provinzzeitungen, unter ihnen The Cork Examiner, schloß sich 1890/91 ebenfalls den Parnell-Gegnern an. Dramatische Formen nahmen die Vorgänge um United Ireland an, dessen Auflage zwar seit 1888 ständig gesunken war 66 , das aber noch immer großen Einfluß besaß. Beide Parteirichtungen bemühten sich um den Besitz des Blattes, wobei es zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Als United Ireland im Dezember 1890 in Abwesenheit William O'Briens zu den Parnell-Gegnern überging, besetzte Parnell an der Spitze einer Anhängerschar unter Anwendung von Gewalt die Redaktion. 67 Die Parnell-Gegner grün-
Gwynn, S. 1 7 0 ; O'Connor, Memoirs, II, S. 57 f. » Dazu: A. R. 1891, S . 2 4 4 ; O'Connor, II, S . 2 0 9 und S . 3 0 8 f . ; Lyons, Irish Party, S . 2 7 f . Vgl. auch den Brief Harringtons an W . O'Brien, undatiert (Anfang 1891): "The F. J. is condemned from the altars as immoral and the people are expected to read instead the 'Irish Catholic'" (Nadilaß Gill, Ms. 1 3 , 4 7 8 - 5 2 6 ) . 6 4 Vgl. z. B. den Brief Dillons an Tuohy v. 8. 9. 1897 mit Anweisungen über den Inhalt eines Artikels (Parnell Correspondence, Ms. 3883). 6 5 Vgl. O'Brien, Memories, S. 485. 6 6 Siehe SPO, Crime Brandl Special, Reports of District Inspectors Crime Special on Secret Societies, Bericht vom 2. 4. 1891. « Healy, I, S. 3 4 1 ; O'Brien, Life, II, S. 2 9 0 ; A. R. 1890, S. 276.
62 6
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deten daraufhin mit The Insuppressible ein, allerdings nur kurze Zeit bestehendes, Konkurrenzblatt. 68 Als das Organ einer Minderheit der Partei verlor United Ireland in den 1890er Jahren seine frühere Bedeutung; im Jahre 1898 stellte es schließlich sein Erscheinen ein. Die beiden bedeutendsten Vertreter der seit 1890 entstehenden Parteipresse waren The National Press und The Irish Daily Independent. Sie wurden von den miteinander rivalisierenden Parteigruppen jeweils zu einem Zeitpunkt gegründet, an dem sich The Freeman's Journal im gegnerischen Lager befand. Der Wunsch, ein Organ zu besitzen, das es hinsichtlich Bedeutung und überregionaler Verbreitung mit dem Freeman's aufnehmen konnte, stand bei beiden Gründungen im Vordergrund. The National Press erschien seit März 1891 als Blatt der ParnellGegner, denen bis dahin nach dem Eingehen des Insuppressible ein größeres Blatt fehlte. Ihre Gründung, mit deren Vorbereitung im Dezember 1890 begonnen wurde69, geschah durch den Abgeordneten T. Healy mit der finanziellen Hilfe des nationalistischen Unterhausabgeordneten W. M. Murphy, eines Dubliner Unternehmers, in dessen Besitz später auch der Independent überging.70 Unter Healys Leitung fand das Blatt eine schnelle Verbreitung, die die Stellung des Freeman's, der zu dieser Zeit noch Parnell unterstützte, ernstlich zu bedrohen begann. Nach dem Übergang des Freeman's zu den Parnell-Gegnern fusionierten beide Blätter im März 1892. 71 The Irish Daily Independent war noch eine Gründung Parnells, der unmittelbar nach dem Kurswechsel des Freeman's im Juli 1891 mit den Vorbereitungen für die Schaffung eines vergleichbaren überregionalen Blattes begann.72 In dem im August dieses Jahres versandten Rundschreiben, das einen kleinen Kreis politischer Freunde Parnells zur Zeichnung von Aktien der neuen Pressegesellschaft aufforderte, spricht Parnell von einer Zeitung, deren Aufgabe es sein solle, "to advocate the principles of Home Rule for Ireland and Independent Action in the House of Commons". 73 Die Aktienmehrheit des Independent befand sich nach der Gründung in den Händen von Parnell und P. Egan. 74 Letzterer war schon an der Gründung von United Ireland maßgeblich beteiligt. Aus alldem ist ersichtlich, daß die Gründung nach dem Vorbild von United Ireland ablief, und es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sich Parnell mit diesem neuen Blatt einen ähnlichen Erfolg versprach wie zehn Jahre zuvor mit United Ireland. Dieser große Erfolg blieb jedoch aus. Unter der Leitung John Redmonds, der in den 1890er Jahren fast regelmäßig den Redaktionskonferenzen des Independent vorstand75, blieb der Independent trotz einer täglichen Auflage von 8000 Ex-
«s Healy, I, S. 344 ff. 8 B Healy, I, S. 3 3 8 ; Sullivan, N o man's man, S. 162. ™ Vgl. Healy, II, S. 423. 7 i Ebda., S. 3 7 5 ; Brown, The Press, S. 39. '2 O'Brien, Life, II, S. 340 und S. 3 5 0 ; Brown, Newspaper Press, S. 20. 7 3 Ein Exemplar des Rundschreibens befindet sich im Nachlaß Harringtons, Ms. 8314. 7 4 Vgl. das Share Certificate Book of the Irish National Newspaper and Publishing Co. (Nachlaß Harrington, Ms. 5388). Die 1. Nummer des Irish Daily Independent erschien am 12. 12. 1891. 75 Nachlaß Redmond, Ms. 14,915: Minutes of the editorial Committee of the "Irish Independent", 1 8 9 6 - 9 7 .
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emplaren ein ständiger Zuschußbetrieb f ü r die Partei. 78 Finanzielle Erwägungen veranlaßten Redmond denn auch, das ganze Unternehmen 1904 an W. M. M u r p h y zu verkaufen 7 7 , was deshalb um so leichter fiel, als die vereinigte Partei fest d a mit rechnete, sich wieder unbeschränkt auf den Freeman's stützen zu können. U n ter Murphys Leitung, der den Independent mit der alten Nation vereinigte u n d ihn in eine unabhängige Tageszeitung zu niedrigem Verkaufspreis (halfpenny paper) umwandelte und ihn in Stil und Aufmachung der jungen englischen Massenpresse anglich, nahm die Zeitung dann eine rapide Entwicklung - ein überaus deutliches Symptom, daß die Zeit der reinen Parteizeitungen abgelaufen war u n d eine unabhängige und vielseitige Berichterstattung, die den Nachdruck auf die Verbreitung von Nachrichten legte, eine immer größer werdende Leserschaft anzog. 78 Von einem von der Partei beherrschten Pressewesen, das wie unter Parnell quasi ein Monopol auf die Meinungsbildung der Bevölkerung ausübte, konnte spätestens seit 1905 nicht mehr die Rede sein.
78 77 78
Andrew Dunlop, Fifty Years of Irish Journalism, Dublin 1911, S.288; Handbuch, S. 123. Healy, II, S. 443 und S. 450; Grünbeck, S. 397. Die Auflage des Irish Daily Independent lag nach 1905 bei 25 000 Exemplaren täglich und stieg bis 1914 auf 65 000 Exemplare (Grünbeck, S. 398). 167
2. Die Symbole
der Irischen
Parlamentspartei
Der Bedeutung von Symbolen als politischen Integrationsfaktoren wird von der Nationalismusforschung erst seit kurzem größere Aufmerksamkeit geschenkt. 1 Dabei ist bereits deutlich geworden, d a ß die Wirkung nationaler Symbole auf die Bildung und Vertiefung eines Nationalbewußtseins kaum zu überschätzen ist, denn gerade Symbole tragen im hohen Maße dazu bei, als ständige Stimulantia ein nationales Bewußtsein zu wecken und zu festigen. Symbole vermögen nicht nur emotionale Reaktionen auszulösen, irrationale und mythische Vorstellungen mit sich zu verbinden, sondern durch die Assoziation mit bestimmten Werten auch starken, oft nur halbbewußten Kollektivgefühlen Ausdruck zu geben und als Kristallisationskerne für solche Gefühle zu dienen, die bei den Mitgliedern einer Bevölkerungsgruppe bzw. eines Volkes eine politische oder soziale Solidarität herstellen und sie zu gemeinschaftlichem Handeln zur Erreichung bestimmter Ziele veranlassen können. 2 Im Bereich des Nationalen können wir dann von Symbolen der nationalen Identität sprechen. Das Ausmaß, in dem eine Bevölkerung oder ethnische Gruppe nationale Symbole aufgreift und verwendet, vermag zudem wichtige Hinweise zu geben auf das politische Bewußtsein der betreifenden Gruppe. Im Zeigen nationaler Symbole, Singen nationaler Lieder, Feiern nationaler Feste usw. artikuliert sich ihre politische Haltung. Unter diesen Gesichtspunkten gewinnt die Frage nach den politischen Symbolen der Irisdien Parlamentspartei für diese Arbeit ihre Bedeutung. Sowohl in der Literatur über die Partei als auch in den Memoiren und Nachlässen der irischen Abgeordneten finden sich, soweit ich sehe, keine Hinweise, die auf die bewußte Verwendung von Symbolen zur Stimulierung eines nationalen Bewußtseins der irischen Bevölkerung schließen lassen. Aus den Berichten der zeitgenössischen Presse geht jedoch sehr deutlich hervor, welches Gewicht die Partei der Verwendung nationaler Symbole beimaß und in welch starkem Maße sie ihren Gebrauch förderte. Bestimmte Symbole wurden folglich von der Bevölkerung mit der Partei und ihrem Programm identifiziert, was sich besonders auffällig nach dem Osteraufstand von 1916 zeigen sollte, als der revolutionäre den konstitutionellen Nationalismus verdrängte und sich eine eigene Symbolik schuf, die anfangs mit der Symbolik des konstitutionellen Nationalismus konkurrierte und sie schließlich überlagerte. Ähnlich dem Nationalisierungsprozeß in der irischen Kommunalverwaltung f a n d mit dem Entstehen der Home-Rule-Bewegung ein solcher Prozeß auch auf der Ebene der Symbole statt. Bekannte Symbole erhielten einen neuen, nationalen Gehalt, andere Symbole wurden neu geschaffen. Als Stoff nationaler Symbolschöpfung bot sich vor allem die nationale Geschichte an, insbesondere die Zeit 1
2
Zur Problematik vgl. Th. Sdiieder, »Forschungsprobleme des Nationalstaats in Europa«, Jahrbuch des Landesamtes für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Köln und Opladen 1966, S. 601-15; K. Löwenstein, "The Influence of Symbols on Politics", Introduction to Politics (R. V. Peel and J. S. Roucek, eds.), N e w York 1946, S. 62-84; ders., »Betrachtungen über politischen Symbolismus«, Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosophie (Festschrift f. Rudolf Laun, hrsg. v. D . S. Constantopoulos und H. Wehberg), Hamburg 1953, S. 559-77. Vgl. Löwenstein, »Betrachtungen«, S. 561. 168
Henry Grattans und der United Irishmen, die Zeit O'Connells, der Jung-Irländer und der Fenier. Aus der verhältnismäßig großen Zahl der seit 1870 entstehenden Symbolformen sollen in diesem Kapitel die wichtigsten herausgegriffen und näher beschrieben werden. Behandelt werden sollen die Fahne der Partei, ihre Hymne, die von der Partei geförderten »nationalen« Feiertage, das O'Connell-Denkmal in Dublin und das Phänomen einer nationalen Namensgebung für Straßen, Plätze und Brücken. Aus dieser Aufzählung geht bereits hervor, daß Irland in der Zeit, in der die Parlamentspartei die wichtigste nationale Organisation war, den ganzen Apparat von Symbolen besaß, der sich in allen europäischen Nationalstaaten in ähnlicher Weise ausprägte und Verwendung fand. Bemerkenswert ist für Irland also einmal, daß sich dort schon annähernd 40 Jahre vor der Erlangung der nationalen Unabhängigkeit alle typischen Symbolformen des N a tionalstaats nachweisen lassen. Bemerkenswert ist zum anderen (und das sei hier als Ergebnis schon vorweggenommen), daß mit der Erlangung der Unabhängigkeit die vorhandenen nationalen Symbole ihre Kraft verloren und sich der irische Nationalstaat neue Symbole schuf. a) Die grüne Fahne mit oder ohne goldene Harfe war zweifellos das populärste Symbol der Home-Rule-Bewegung und der Parlamentspartei. Die ausführliche Berichterstattung in der Presse der Zeit läßt erkenen, daß die Fahne bei keiner nationalistischen Veranstaltung fehlte. Bei Kundgebungen der National League oder der Partei wurde sie von der Menge mitgeführt und wurden mit ihr die Rednerpulte dekoriert. Bei Besuchen der Abgeordneten und vor allem Parnells, Ereignissen, die oft den Charakter von Volksfesten annahmen 3 , beflaggte die Bevölkerung mit der Fahne die Straßen. Während der großen Dubliner Nationalausstellung im August 1882 beherrschte sie das Straßenbild 4 , und während des Besuchs des Prinzen von Wales in Irland im Frühjahr 1885 wurde das Zeigen der grünen Fahne in Konkurrenz zum Union Jack vielerorts als Ausdruck nationaler Gesinnung praktiziert. 5 Als im September 1914 die dritte Home-Rule-Vorlage die königliche Bestätigung erhielt, wurde dieser vermeintliche Erfolg ihrer langen Bemühungen von den irischen Abgeordneten im Unterhaus mit Jubel und dem Schwenken der grünen Fahne gefeiert. 6 Nach der Gründung der Irish Volunteers im Jahre 1913 war sie die Flagge dieser paramilitärischen Freiwilligenverbände, die eine Zeitlang der Partei nahestanden. 7 Und als John Redmond im Herbst 1915 den europäischen Kriegsschauplatz besuchte, paradierten vor ihm irische Regimenter mit der "green flag of Ireland". 8 Die Terminologie der zeitgenössischen Presse und der älteren Literatur über die Partei läßt keinen Zweifel darüber bestehen, daß die Bevölkerung die grüne Fahne der Parlamentspartei mit der nationalen Fahne Irlands identifizierte. Sie 3 V g l . z. B. die Berichte über die Besudle Parnells in C o r k ( C . E. 3. 10. 1881, C . E. 22. und 23. 1. 1885). < F . J . 1 6 . 8 . 1882. 5 V g l . den Bericht über die A n k u n f t des Prinzen in D u b l i n in C . E. 9. 4. 1885. 6 G w y n n , R e d m o n d , S . 3 8 3 ; M a c D o n a g h , William O'Brien, S. 204. 7 Siehe J . C a r t y , Ireland f r o m the Great Famine to the T r e a t y (1851-1921). A documentary record, D u b l i n 1951, S. 111, sowie F. X . M a r t i n (ed.), The Irish Volunteers 1913-15. Recollections and Documents, Dublin 1963, S. 130. 8 Gwvnn, S.453.
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wird als "the National banner" bezeichnet9, als "the National standard" 10 , als "national colours" 11 , als "Irish national flag" oder "Nationalist flag" 12 oder einfach als "Irish flag". 13 Durch diese Bezeichnungen und den Gebrauch der grünen Fahne als Symbol der Parlamentspartei kann jedoch leicht die Tatsache verdeckt werden, daß die grüne Fahne keine eigentliche Schöpfung der Partei war, sondern bereits früher als ein Symbol des irischen Nationalismus galt. Die Jung-Irländer benutzten sie ebenso wie die Fenier, deren grüne Fahne die Harfe oft im Zentrum eines Sonnenkranzes zeigte.14 Nach dem einhelligen Urteil der Literatur wird die Fahne seit Ende des 18. Jahrhunderts von irischen Nationalisten benutzt, wobei allerdings unstimmig ist, ob sie zuerst um 1780 von Grattan oder erst um 1798 von den United Irishmen verwendet wurde. 15 Die Motive für die Wahl der grünen Farbe sind ungeklärt. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war Blau, "St. Patrick's Blue", die Farbe Irlands. 16 Vermutlich wurde Grün in Analogie zum Kleeblatt gewählt, das um 1700 in Reaktion auf die anti-katholische Gesetzgebung Wilhelm von Oraniens und seiner Nachfolger auf dem britischen Thron zum Emblem der katholischen Iren wurde. 17 Diese Motivierung gewinnt dadurch an Wahrscheinlichkeit, daß auch während des 19. Jahrhunderts, vor allem in Ulster, Grün allgemein als die Farbe des katholischen Irlands, das identisch war mit dem nationalistischen Irland, betrachtet wurde. Auch in der Trikolore der heutigen Irischen Republik soll Grün den katholischen Bevölkerungsteil symbolisieren.18 Seit den United Irishmen wurde die Fahne mit der Harfe, dem ältesten Symbol Irlands und in seinem Ursprung ein dynastisches Herrschaftszeichen, kombiniert. Der heraldische Gebrauch der Harfe läßt sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. In der Regierungszeit Heinrichs VIII. erscheint die Harfe erstmals auf Münzen, und seit 1603 findet sie sich auch in der königlichen Standarte. 19 Diese offizielle Verwendung der Harfe als Symbol Irlands findet im 19. Jahrhundert unter anderem darin eine Fortsetzung, daß die Standarte des irischen Vizekönigs den Union Jack mit einer goldenen Harfe auf blauem Grund im Zentrum zeigte.20 In der Standarte des Königs erscheint nach 1801 im dritten Viertel audi weiterhin die Harfe. 2 1 Die Harfe ist also als einziges irisches Symbol des 19. Jahrhunderts » U. 1 . 1 2 . 1 2 . 1 8 8 5 . U. 1 . 6 . 1 0 . 1 8 8 3 . 11 C. E. 3. 10. 1881 und F. J. 7. 8. 1880. 12 U. I. 8. 2. 1885; Lynch, The I. R. B., S. 191; MacDonagh, William O'Brien, S. 204. 13 Gwynn, S. 383, und MacDonagh, Home Rule Movement, S. 263. 14 Ryan, Fenian Chief, S. 260, und Oliver Snoddy, "Fenian Flags", The Irish Sword. The Journal of the Military History Society of Ireland 8 (1967), S. 1. 15 Vgl. Encyclopedia of Ireland, Dublin 1968, S. 171 ("The Constitution: National Symbols"). 18 Encyclopedia of Ireland, S. 171; S. Leslie, The Irish Tangle, London o.J., S. 64 (siehe darin den Abschnitt "A N o t e on the Irish Flag"). 17 Vgl. Zimmermann, S. 43. Nach der Legende erklärte St. Patrick den Iren am Kleeblatt das Wesen der Dreifaltigkeit. 18 Encyclopedia, S. 171, und G. Campbell and J. O. Evans, The Book of Flags, London M965, S. 20. w Leslie, S. 64; S. S. Miliin, The Irish Harp, o.O. 1898, S.67 und S.69; Campbell, S.8. 20 E. MacGeorge, Flags: some account of their history, London 1881, S. 71. " Campbell, S.9. 10
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ein Symbol mit zweifacher Funktion: sie diente als dynastisches Symbol und zugleich als ein Symbol des konstitutionellen Nationalismus. Obwohl der Union Jack seit 1801 durch die Aufnahme des St.-Patrick-Kreuzes ebenfalls ein irisches Symbol enthielt, galt er in Irland während der Union nicht als Fahne des Gesamtstaates, die er streng genommen auch nicht war 22 , sondern als Fahne einer bestimmten Partei. 23 Das Zeigen des Union Jack bedeutete besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Ausdruck unionistischer und protestantischer Gesinnung. Insbesondere die Zuspitzung des inneririschen Konflikts zwischen nationalistischen Katholiken und unionistischen Protestanten seit der Jahrhundertwende bewirkte, daß der Union Jack jegliche Integrationskraft im Sinne einer einheitlichen Reichsidee verlor und nur noch als Symbol für einen politischen Standpunkt betrachtet wurde, der dem Nationalismus der Mehrheit der irisdien Bevölkerung diametral entgegengesetzt war. b) Mit wesentlich mehr Berechtigung als die Fahne kann hingegen die irische >Nationalhymne< in der Zeit von 1880 bis 1916, "God save Ireland", als eine eigene Schöpfung der Partei betrachtet werden. Der Autor dieses Liedes, das nach der Melodie eines damals bekannten amerikanischen Marsches gesungen wurde, war T. D. Sullivan, der Herausgeber der Nation.2* Neben "God save Ireland" veröffentlichte er eine Reihe volkstümlicher Lieder mit Themen aus der irischen Geschichte, die ihn zum bekanntesten irischen Dichter dieser Liedgattung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts machten.25 Er war der Mann, der nach den Worten eines nationalistischen Geistlichen "gave to the Irish nation the national watchword, the symbol of their hopes and aspirations". 28 Inhaltlich griff "God save Ireland" eine Episode aus der Geschichte der Fenierbewegung auf. Das Lied verherrlicht den revolutionären Nationalismus, und es liegt damit auf derselben Linie wie die revolutionäre Rhetorik Parnells. Nach O. D. Edwards brachte es dadurch "many to an unconscious acceptance of the justifiability of insurrection". 27 In vier balladenhaften Strophen wird die HinCampbell, S . 1 7 . 23 Leslie, S. 65. 2 4 Timothy D. Sullivan ( 1 8 2 7 - 1 9 1 4 ) ; Oberbürgermeister von Dublin 1886 und 1887; Abgeordneter seit 1880; bereits in den 1870er Jahren Abgeordneter der Home-RulePartei. 2 5 Vgl. Zimmermann, S . 6 0 Anm. 4, und O'Hegarty, S.411. 2« C . E . 3 1 . 1 . 1 8 8 5 . Celtic Nationalism, London 1968, S. 173. Der Text der 1. Strophe lautet (gedruckt in Zimmermann, S. 266 f.): High upon the gallows tree Swung the noble-hearted Three, By the vengeful tyrant stricken in their bloom; But they met him face to face, With the courage of their race, And they went with souls undaunted to their doom. " G o d save Ireland!" said the heroes; " G o d save Ireland!" said they all: "Whether on the scaffold high O r the battle-field we die, Oh, what matter, when for Erin dear we fall!" 22
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richtung von drei Feniern durch die britische Justiz geschildert. Die sogenannten Manchester Martyrs hatten 1867 bei dem Versuch, inhaftierte Fenier aus einem Transportwagen der Polizei zu befreien, einen Polizisten erschossen.28 Ihre letzten Worte vor dem Tode machte Sullivan wenige Tage später zum Titel seines Liedes, das binnen kurzem in ganz Irland verbreitet war und die bis dahin beliebtesten nationalen Lieder, "A Nation once again" des Jung-Irländers Thomas Davis und das um 1800 entstandene "The Wearing of the Green", in den Hintergrund drängte. 29 Um 1875 war es bereits das Nationallied der Home Rulers30, und in der nationalistischen Presse der 1880er Jahre wird es unmißverständlich als "the anthem", "the National Anthem" oder "the Irish national Anthem" bezeichnet. 31 Auch das Annual Register erkannte "God save Ireland" diese Qualität zu 32 , und selbst die Polizei beschrieb Sullivan als den "author of what is known as the 'Irish National Anthem'". 33 Neben der Fahne war "God save Ireland" das bekannteste und populärste Symbol der Partei. Gesungen wurde das Lied bis 1916 bei allen Gelegenheiten, bei denen sich Iren aus irgendeinem Anlaß versammelten, nicht nur in Irland, sondern auch in Amerika und anderen irischen Siedlungsgebieten im Ausland. 34 Politische und gesellschaftliche Veranstaltungen schlössen mit dem Absingen von "God save Ireland". Wahlsiege nationalistischer Kandidaten wurden mit Kundgebungen und dem Absingen der "national anthem" gefeiert. 35 Bei Demonstrationen und Kundgebungen der National League gehörte neben grünen Fahnen "God save Ireland" zu den selbstverständlichen Requisiten. Die Zwangsräumung von Pachtstellen durch die Behörden wurde von der beobachtenden Menge mit dem Singen von "God save Ireland" und anderer "popular songs" begleitet. 36 Demonstrationen gegen die britische Regierung waren das Singen der anthem vor den Toren der Dubliner Burg 37 , dem Sitz der irischen Exekutive, oder während des Besuchs des Prinzen von Wales in Irland. Als bei der Ankunft des britischen Thronfolgerpaares in der Provinzstadt Mallow die Kapelle "God save Ireland" intonierte, sprach aber selbst die nationalistische Presse von "occurrences . . . of deplorable character", da ein solcher Empfang ohne die von Parnell empfohlene "respectful reserve and neutrality" gewesen sei.38 Darüber hinaus wurden die Worte "God
Zu den Einzelheiten: O'Connor, Parnell Movement, S . 2 0 1 ; O'Brien, Life, I, S.49. 29 Zur Entstehung des Liedes, das am 7. 12. 1867 in The Nation veröffentlicht wurde: Sullivan, Recollections, S. 1 7 7 ff. a» O'Donnell, I, S . 1 3 7 . « Vgl. U. I. 1 . 1 2 . 1 8 8 3 , 1 . 3 . 1 8 8 4 , 2 7 . 3 . 1 8 8 6 , 5 . 1 2 . 1 8 8 6 ; C. E. 1 3 . 4 . 1 8 8 5 , 2 4 . 1 1 . 1885. 3 2 A . R . 1887, S . 2 0 1 . 3 3 SPO, Police Reports 1 8 8 6 - 1 9 1 5 : List of Nationalist Members of Parliament and detailed Biographical Notes, 1887. 34 Vgl. Sullivan, Recollections, S. 179; O'Hegarty, S . 4 5 7 ; O'Connor, Parnell Movement, S.202, und God save Ireland (ed. by The Irish Unionist Alliance: The "Catchword Series", No. 9), Dublin 1907, S.2. 35 Beispiele: Cork (U. I. 5. 12. 1886, C. E. 28. und 30. 11. 1885), Charleville (U. I. 1. 3. 1884). 38 U. 1 . 2 0 . 8. 1881. " U. I. 19. 8. 1882. 3 8 C. E. 14. 4. 1885. Vgl. auch A. R. 1885, S. 198 f. 28
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save Ireland" die nationalistische Losung, die auf Plakaten und in Anzeigen der National League auftauchte, auf Spruchbändern und Fahnen zu finden war und mit der Nationalisten ihre Reden beendeten. In Irland und in irischen Kreisen im Ausland, aber auch unter den irischen Abgeordneten in Westminster trat als Toast "God save Ireland" seit den 1880er Jahren an die Stelle des in Großbritannien üblichen "God save the Queen", um damit ständig zu demonstrieren, daß Irland die Union von 1801 nicht anerkannte. c) An die Hinrichtung der drei Fenier knüpfte auch einer der beiden irischen >Nationalfeiertage< dieser Zeit an. Neben der traditionellen Feier des St. Patrickstages (17. März) wurde von den Nationalisten jeweils am 23. November der von der Bevölkerung und der Partei glorifizierten Manchester Martyrs gedacht, die - so hieß es in der nationalistischen Terminologie - ihr Leben für die irische Freiheit opferten "with the prayer on their lips of 'God save Ireland'". 3 9 Nach dem Zeugnis der Presse und der Polizeiberichte verliefen beide Feiertage bis in die 1890er Jahre stets unter großer Beteiligung der Bevölkerung 40 , während die staatlichen Feiern und Jubiläen von den Nationalisten weitgehend ignoriert und oft zu Gegendemonstrationen in der Form von Kundgebungen und dem Zeigen nationalistischer Symbole benutzt wurden. 4 1 In ihrem Ablauf wiesen die Gedenktage der Nationalisten gewisse Verschiedenheiten auf. Der Gedenktag an die Manchester Martyrs wurde in den 1880er Jahren in den meisten Provinzstädten und größeren Dörfern mit Umzügen begangen, die in der Regel auf den Friedhöfen endeten, wo Gedenkkreuze f ü r die Hingerichteten aufgestellt und Gedenkreden gehalten wurden. Von der Menge wurden grüne und schwarze Fahnen mitgeführt. In den Städten fanden außerdem in den Kirchen Gedenkmessen statt. 42 Wenn öffentliche Demonstrationen gelegentlich ausfielen, wie 1885 in Cork, fanden zumindest Feiern in einem Saal des Ortes statt. 4 3 Organisiert wurden die Umzüge und Feiern meist von den Ortsvereinen der National League. Die direkte Beteiligung der Partei trat bei ihnen weniger in Erscheinung, zumal eine zentrale Feier in Ergänzung der örtlichen Veranstaltungen nicht abgehalten wurde. Eine solche zentrale Veranstaltung der Partei bildete den Höhepunkt des St. Patrickstages, des "national festival", der kein von der Partei inspiriertes N a t i o nalfest war, denn der Brauch, ihn zu feiern, war wesentlich älter, der aber von ihr mit politischen Akzenten versehen wurde. Diese Veranstaltung fand, bedingt durch die Sitzungsperiode des Unterhauses, stets in London statt. An ihr nahmen
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» So J. Redmond in Cork (C. E. 22. 11. 1882). Vgl. z. B. SPO, Crime Brandl Special, Divisional Commissioners' Reports (S. W. Division), Dec. 1894. 41 Anläßlich der Krönung Georgs V. (1911) erklärte die Partei: "Ever since the foundation of the United Irish Party under the leadership of Parnell, it has been the settled practice and rule of the party to stand aloof from all Royal or imperial festivities or ceremonies, participation in which might be taken as a proof that Ireland was satisfied with or acquiesced willingly in the system under which, since the Union, she had been compelled to live" (Redmond-Howard, S. 248). •»2 Beispiele: U. I. 25. 11. 1882 und 1. 12. 1883. « C . E . 25. 11. 1885. 40
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die irischen Abgeordneten meist vollzählig teil. Parnell oder ein anderer führender Abgeordneter hielt bei dieser Gelegenheit eine politische Rede, in der die nationalen Ziele der Partei behandelt wurden. 4 4 In Irland fanden Umzüge, Messen und Feiern statt, die aber nicht das Ausmaß und die starke Beteiligung der Bevölkerung erreichten, wie sie bei den Gedenktagen f ü r die Manchester Martyrs zu beobachten sind. Diese Veranstaltungen erschöpften sich im wesentlichen in der Demonstration nationaler Symbole, 45 voran des Kleeblatts, das ebenfalls als ein "national emblem" galt. 46 Das Kleeblatt war das "emblem of faith and nationality" 4 7 , womit angedeutet ist, daß sich am St. Patrickstag nationale und religiöse Gefühle in besonderer Weise mischten. Die Partei, die sich ja als Repräsentantin des ganzen irischen Volkes begriff, sah durch die vielerorts festzustellende Betonung des konfessionellen Elements am St. Patrickstag nicht selten diesen Anspruch gefährdet. Parnell glaubte sich beispielsweise 1886 in einem offenen Brief genötigt, "to offer a word of advice and warning". In diesem Brief schrieb er unter anderem: " I t is at all times desirable that we should do nothing at any time to excite the irritation of the Orange section (i.e. die Protestanten) of our countrymen." 4 8 Eine solche Gefahr bestand vor allem in Ulster mit seiner starken protestantischen Bevölkerungsgruppe. d) Die überaus enge Verzahnung des Nationalen und des Konfessionellen, die bei den Feiern des St. Patrickstages in Erscheinung trat, fand in Ansätzen einen Ausdruck auch in der Errichtung der Monumentalstatue für Daniel O'Connell in Dublin. Die Vorbereitungen f ü r die Errichtung eines Denkmals f ü r den >Befreier