Bellizismus und Nation: Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750-1914
 9783486707281, 9783486585162

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Leonhard · Bellizismus und Nation

Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit

r

Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 2 5

R. Oldenbourg Verlag München 2008

Jörn Leonhard

Bellizismus und Nation Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750-1914

R. Oldenbourg Verlag München 2008

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Frankreich-Zentrums der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Unter dem Titel „Bellizismus und Nation - Die Deutung des Krieges und die Bestimmung der Nation: Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten, 1750-1914" wurde diese Arbeit im Sommersemester 2004 von der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. © 2008 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagbild: Roman Clemens: Spiel aus Form, Farbe, Licht und Ton (1929) © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität Köln Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht).

Satz: Medienwerkstatt Dieter Lang, Karlsruhe Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-58516-2

Inhalt

Vorwort

I.

II.

XV

Einleitung: Thema, Methoden und Horizonte

3

1. Bellizismus und Nation: Problemaufriß und Erkenntnisinteressen

3

2. Thematische Eingrenzungen: Leitfragen, Auswahlkriterien, Vergleichsfalle und chronologischer Rahmen

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3. Methodisch-analytisches Programm und Operationalisierung a) Erfahrungsaneignung in Diskursen und Argumenten: Vergleich und typologisierende Differenzierung b) Wahrnehmung, Erinnerung und Antizipation: Die Ebenen der Erfahrungsdeutung und ihre Sedimentierung in Quellenzeugnissen c) Entwicklungsmodell, Untersuchungsfelder und Gliederungsprinzipien: Von der frühneuzeitlichen Kriegsdeutung zu den bellizistischen Umbrüchen der Moderne

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4. Forschungsfelder und Desiderate: Von der Kriegs- und Militärgeschichte zum Bellizismus als Deutungsgeschichte des Krieges

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5. Zielhorizonte: Einheit, Differenz und Temporalisierung Plurale Kriegserfahrungen und konkurrierende Nationsentwürfe im Vergleich

40

Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat: Determinanten der Kriegsdeutung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts

45

1. Antike Deutungskategorien: Heiliger, agonaler und gerechter Krieg als Idealtypen

45

2. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Entwicklungstendenzen: bellum iustum, Staatsbildungskrieg und konfessionelles bellum civile

49

13

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VI

Inhalt

3. Frankreich a) Les semences des guerres civiles: Die Umkehrung des bellum omnium contra omnes in den monarchischen Bellizismus aus der Erfahrung des konfessionellen Bürgerkrieges b) Le roi connetable: Die nationalreligiöse Konnotation der patrie und die Kriegführung als fürstliche Herrschaftsqualität c) L 'esprit de la monarchie est la guerre et l'agrandissement: Die Krise der monarchischen Kriegsdeutung im Spiegel der aufgeklärten Despotismuskritik 4. Deutschland a) Das geliebte Vaterland der Hoch-Edlen Teutschen Nation: Der Appell an den Reichspatriotismus als Krisensymptom im 16. und 17. Jahrhundert b) Ehrgeiz, Atheisterey, Untreu, Falschheit, Verrätherey und Tyranney: Das Feindbild Frankreich und das Paradigma des Monarchenkrieges c) Die absolutistische Staatsbildung als Trennung zwischen Kriegsstaat und Civilstaat 5. Großbritannien a) Der civil war als traumatische Krisenerfahrung der English nation: Vom bellum omnium contra omnes zur Stigmatisierung der standing army b) A warlike nation? Der Gegensatz zu Kontinentaleuropa als Erfahrungssubstrat seit dem Ende des 17. Jahrhunderts c) Protestant religion, liberties, honour: Der geographisch entfernte Krieg und die Entwicklung nationaler Identifikationsattribute bis 1750

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53

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64

70 74 78

78 83

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6. Vereinigte Staaten a) When sin advanc 'd on this our shore, Wars soon did then begin: Das religiöse Kriegsparadigma der frühen Siedlergemeinden b) Fighting the Lord's battles: Die göttliche Prädestination Amerikas und der Transfer der britischen Kriegsdeutungen bis 1754

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7. Vergleich

103

99

Inhalt

VII

Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges: Die erste bellizistische Umbruchsphase zwischen aufgeklärtem Kriegsdiskurs und revolutionärer Gewalterfahrung (1750-1815) . . . 1 1 1 1. Frankreich a) Grande nation und vertus guerrieres: Vom bellizistischen Diskurs der Aufklärung zur Revitalisierung des Bürgerkriegsparadigmas vor 1789 b) Die Krisenphase der inneren und äußeren Gewalterfahrung: Die bellizistische Revolution und der Erfahrungsraum der erneuerten Nation c) Das Militär zwischen Ancien regime und Revolution: Der Mythos der volontaires und die Realität der nouvelles armees d) Die Erfahrung des Revolutionskrieges und die Erfindung der Kriegsnation: Die doppelte Radikalisierung des Bellizismus nach innen und außen 1792/94 e) Das Erbe des revolutionären Bellizismus nach 1794: Napoleon als Verkörperung der Grande nation und das fragile Legitimationsmuster des Krieges f) Les guerres nationales, oü I 'on doit combattre et conquerir un peuple entier. Die Ideologie der Nationalkriege als Konsequenz der Revolutionsepoche 2. Deutschland a) Der Siebenjährige Krieg: Preußische Staatsbildung und deutsch-patriotische Projektion b) Heroismus, bürgerliche Tugend oder Ewiger Frieden aus dem Geist der Aufklärung? Der bellizistische Diskurs und die Bestimmung der Nation nach 1763 c) Bürgerliche Kriege und Nationalkriege: Die deutsche Wahrnehmung der französischen Revolutionskriege d) Kriegerische Aggression, religiöse Suggestion und nationale Antinomie: Die antinapoleonischen Kriege und die bellizistischen Selbstentwürfe der deutschen Nation e) Erweiterter Zweikampf und Schwere der gegenseitigen Nationalkraft: Die Bilanz der Krisenepoche zwischen bürgerlicher Kriegsdeutung und analytischer Kriegstheorie

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3. Großbritannien 282 a) Fleet und militia versus standing armies: Maritimes Sonderbewußtsein und klassischer Republikanismus um 1750 282 b) A war begotten of true British principles: Der Siebenjährige Krieg als doppelte Erfahrung zwischen Kontinent und Empire 285

VIII

Inhalt c) Britannia triumphant·. Die Idealisierung der bellizistischen Nation nach 1763 d) It is not a contest with a rival nation·. Die Herausforderung der nationalen Selbstwahrnehmung Großbritanniens im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg e) To arm the people is undeniably constitutional·. Freiheitsrechte und Partizipationsgrenzen der majesty of the people .. f) A war of principle and sentiment: Die Wahrnehmung der Kriege gegen Frankreich als Rahmen nationaler Selbstvergewisserung

IV.

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292 .297

300

4. Vereinigte Staaten a) We begin to experience in our turn the fate of the nations of the earth: Probritische Loyalitätsmuster und antifranzösische Stereotypen bis 1763 b) The cause of America·. Der Unabhängigkeitskampf der nordamerikanischen Kolonien 1775-1783 als Staatsbildungskrieg und Auftakt zur Nationsbildung c) Mars - Patron of our Rights and Avenger of our Wrongs: Die Instrumentalisierung des Unabhängigkeitskrieges als Ursprungserfahrung der Nation nach 1783 d) The nation only is the proper object of war: Der Krieg von 1812 und die Stabilisierung des nationalen Selbstbildes

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5. Vergleich

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Von der ideologisierten Kriegserfahrung zur ambivalenten Restauration des agonalen Kriegsparadigmas (1815-1854)

389

1. Frankreich a) Die Hypothek der bellizistischen Grande Nation und das Dilemma der bourbonischen Restauration nach 1815 b) Die Kontinuität der bellizistischen Nation nach 1830: Republikanische Retrospektive und orleanistische Erinnerungspolitik c) La Nation armie! C'est la France de 1848 tout entiere: Revolutionär-republikanische Projektion und bonapartistische Imitation

316

316

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389 389

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414

Inhalt

IX

2. Deutschland a) Die Kabinette haben die Lehren der früheren Kriege gegen die Revolution nicht vergessen: Die Revitalisierung des vorrevolutionären Kriegsparadigmas als Stabilisierungsstrategie des monarchischen Staates nach 1815 b) Der bellizistische Diskurs des Bürgertums nach 1815: Der erinnerte und imaginierte Krieg als Deutungsrahmen der Nation c) Von Bürgerkriegsparadigma und Nationenkrieg zum internationalisierten Klassenkampf: Die Kriegsdeutung der Radikaldemokraten und Frühsozialisten bis 1848 d) Nationalkriegsenthusiasmus und Bürgerkriegsfurcht: Erfahrung und Rezeption der nationalen Schilderhebungen von 1848/49 e) Zwischen bürgerlicher Erlösungssehnsucht und kommunistischer Ideologiekritik: Das Bild der bellizistischen Nation nach dem Erfahrungsumbruch von 1848/49

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447

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3. Großbritannien a) Britain 's honour, integrity, and worth, were made manifest: Von der affirmativen Kriegserinnerung zur Popularisierung der Armee als Schule des Christian gentleman b) The arts ofpeace are fast preparing a highway to the world's happiness: Kriegsdeutungen zwischen pazifistischem Fortschrittsideal, Internationalismus und Gesellschaftskritik c) Kriegsdisposition und nationales Selbstbild zwischen kontinentaleuropäischen Revolutionskriegen und imperialer Mission

456

4. Vereinigte Staaten a) Our constitution, the nature of our territory and of our people have no parallel in history: Der Kriegsdiskurs und die Emanzipation amerikanischer Nationsentwürfe zwischen MonroeDoktrin und Westexpansion b) National glory as connected with war: Krieg und Militär als nationalmoralische Ressourcen seit den 1830er Jahren zwischen Identifizierung und Distanzierung c) Our manifest destiny to overspread and possess the whole of the Continent which Providence has given us: Der Krieg gegen Mexiko 1846-48 und die Ambivalenz der Prädestinationsidee d) Feudal France was changed into a young Ohio or New York: Die Suche nach dem American Character

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5. Vergleich

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473

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Inhalt

Die Entfaltung von Staaten- und Bürgerkriegen als Nationalund Volkskriege: Die zweite bellizistische Umbruchsphase (1854-1871) 1. Frankreich a) L 'Empire, c 'est la paix - L 'Empire, c 'est la guerre: Die Selbstdeutung des Kaiserreichs zwischen Fortschrittsmission und bellizistischer Disposition bis 1861 b) Von der gesellschaftlichen Transformation zur latenten Legitimationskrise? Kriegsdiskurse bis 1870 c) Der Krieg von 1870/71 und das bellizistische Deutungsreservoir der französischen Geschichte: Nationsentwürfe zwischen Niederlage, Republik und Bürgerkrieg

517 517

517 534

545

2. Deutschland 571 a) Die Kriegslose sind die Sprüche, welche die Völkerprozesse entscheiden: Die Kriegsdeutung der 1850er Jahre als Symptom der Krisenerfahrung 571 b) Der Italienische Nationalkrieg 1859/61 und die katalytische Verdichtung des nationalpolitischen Diskurses in Deutschland 577 c) Erfahrungsumbruch und ideologischer Antagonismus: Die Kriegsdeutungen der frühen 1860er Jahre 590 d) Der Krieg istjetzt die Revolution: Die Entscheidung des deutschen Dualismus 1866 als bellizistische Revolution des preußischen Staates 601 e) Kalkulierter Regierungskrieg, bürgerlicher Nationalkrieg oder aufgeschobener Klassenkrieg? Der Krieg von 1870/71 und die Hypotheken der kleindeutschen Nationalstaatsbildung 622 3. Großbritannien a) Der Krimkrieg als Umbruch der Kriegsmedialisierung: Kommunikationsverdichtung und nationale Selbstvergewisserung b) Die Indian Mutiny 1857/58 als Selbstbestätigung der EmpireNation: Von der evangelikalen Deutung zur sozialpsychologischen Thematisierung des Krieges c) There is no great art possible to a nation but that which is based on battle: Die Kriegserfahrung als Gegenentwurf zur sozioökonomischen Modernisierung d) We are, and we are not a military nation: Die Wahrnehmung der kontinentaleuropäischen Kriege bis 1871

645

645

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661 666

Inhalt

4. Vereinigte Staaten a) Not enemies but friends? Der Civil War 1861-65 als Krise und Katalysator der amerikanischen Nationsbildung in der Perspektive der Nordstaaten b) Not discordant states, but hostile nations: Die Selbstthematisierung der Südstaaten zwischen heroischer Tradition und Opfermythos c) Converted or renewed to living, glowing patriotism? Die Ambivalenz der nationalen reconstruction nach 1865 5. Vergleich

XI

675

676

710 717 725

Ausblick: Nationaler Bellizismus und bellizistischer Nationalismus Von der Erfahrungsdeutung zur Antizipation des zukünftigen Krieges (1871-1914) 741 1. Frankreich 741 a) Der kriegerische Erfahrungsraum nach 1871: Kompensationsstrategien und Nationsbestimmungen im Zeichen von Niederlage und revanche 743 b) Die Nation armee als republikanische Pathosformel: Nationale Sinnstiftung und egalitäre Integrationserwartung 747 c) Krieg und Militär in der Perspektive der dewc France vor 1914: Gesellschaftliche Polarisierung und konkurrierende Nationsentwürfe 750 2. Deutschland 759 a) Es ist gerade der politische Idealismus, der die Kriege fordert: Nationale Selbstvergewisserung und Staatsidealisierung im Zeichen der Kriegsdeutung nach 1871 761 b) Es kann ein dreißigjähriger Krieg werden: Helmuth von Moltke und die Antizipation des zukünftigen Volkskrieges... .765 c) Der freie Mensch ist Krieger. Die Ästhetisierung des Krieges in der Fortschrittskritik Friedrich Nietzsches 771 d) Soziale Frage, Expansion und Existenzkampf: Das Volk in Waffen und der nächste Krieg 775 3. Großbritannien a) The English are always at war in some part of the world: Das Empire als Erfahrungsraum und der Vergleich mit den kontinentaleuropäischen nations in arms b) Die Krise der imperialen Kriegsdeutung im Burenkrieg und die Verteidigungsfähigkeit der modernen Industriegesellschaft

784

784

791

XII

Inhalt

c) War is God's test of a nation s soul·. Das sozialdarwinistische Paradigma zwischen Fortschrittsprojektion und nationaler Kriegslehre 797 4. Vereinigte Staaten 801 a) Power, force, is a faculty of national life: Imperialer Ausgriff und nationale Integration im Kontext des Spanischen Krieges 1898 802 b) The world is to be redeemed at great cost: Der widersprüchliche Blick auf die imperiale Gewaltbereitschaft vor 1 9 1 4 . . . . 808 5. Vergleich

813

VII. Bilanz: Die Deutung des Krieges und die Bestimmung der Nation Ursprünge und Wandlungen bellizistischer Nationsvorstellungen im europäischen und transatlantischen Vergleich 819 1. Kriegserfahrungen und Nationsbildungen: Zur Anatomie einer komplexen Wechselbeziehung 819 a) Der Krieg als Objekt einer bellizistischen Erfindung der Nation: Strukturelle Funktionen und Deutungskategorien . . . .819 b) Der Formwandel des Krieges: Determinanten und Prozesse... 822 c) Opfer, Buße und Erlösung: Religiöse Symbolsprachen und bellizistische Erfahrungslehren 823 2. Die Nation im neuzeitlichen Deutungswandel kriegerischer Gewalt: Erfahrungsräume, Differenzbestimmungen und Ungleichzeitigkeiten

825

3. Von der europäischen Katastrophengeschichte des Bellizismus zur Historisierung des Nationalstaats

835

VIII. Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Hinweise zur Benutzung des Quellen- und Literaturverzeichnisses

837

837

2. Bibliographische Hilfsmittel: Nationalbibliographische Kataloge, Bücherverzeichnisse, Sachbibliographien und wichtige Indices . . 837 a) Nationalbibliographische Kataloge der benutzten Bibliotheken 837 b) Allgemeine bibliographische Hilfsmittel und Indices 838 c) Spezielle Sachbibliographien zur Kriegsgeschichte 839

Inhalt

3. Griechische und lateinische Quellen aus Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit

XIII

840

4. Französische Quellen a) Quellensammlungen, Werkausgaben, Monographien, Flugschriften sowie Einzelartikel aus Zeitschriften b) Periodika: Zeitungen und Zeitschriften

841

5. Deutsche Quellen a) Quellensammlungen, Werkausgaben, Monographien, Flugschriften sowie Einzelartikel aus Zeitschriften b) Periodika: Zeitungen und Zeitschriften

866

841 865

866 903

6. Britische Quellen a) Quellensammlungen, Werkausgaben, Monographien, Flugschriften sowie Einzelartikel aus Zeitschriften b) Periodika: Zeitungen und Zeitschriften

904

7. Amerikanische Quellen a) Quellensammlungen, Werkausgaben, Monographien, Flugschriften sowie Einzelartikel aus Zeitschriften b) Periodika: Zeitungen und Zeitschriften

925 925 951

8. Literatur

954

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis

904 924

999

Annotiertes Inhaltsverzeichnis

1001

Personenregister

1012

Jane, Gervase & Cecilia: most peaceful friends, in Oxford, and beyond

Vorwort Zumindest in der Grammatik wird man promoviert, während man sich habilitiert. Die Tatsache, daß in der Wirklichkeit meiner Qualifikationsphase das Aktiv mit vielen Freiräumen und dem Wechsel von Perspektiven über das Passiv dominierte, habe ich einer Vielzahl von Menschen und Institutionen zu danken. So ist die Retrospektive an dieser Stelle sicher einer der Teile der Arbeit, die den Verfasser wirklich befriedigt. Mein akademischer Lehrer Professor Dr. Dres. h.c. Volker Sellin hat sich vom ersten Vierländervergleich, den Ismen und dem unschicklichen Umfang der Dissertation nicht abschrecken lassen und auch diese Arbeit mit erneut nie nachlassender Geduld sowie vielen Anregungen begleitet. Selbst die Tatsache, daß nach Magisterarbeit und Dissertation auch dieses Manuskript noch einmal länger geworden ist als eigentlich zumutbar, hat er in der ihm eigenen freundlichen Gelassenheit und jederzeit spürbaren Aufgeschlossenheit und Neugier ertragen. Bei den Wegen und Umwegen seines Schülers von Heidelberg nach Oxford nach München nach Jena und nun nach Freiburg war er jenes Stück akademischer und persönlicher Kontinuität, das die Arbeit und ihr Verfasser brauchten und das über Interesse und Vertrauensvorschuß alle geographischen Distanzen überbrückte. Daß ich die Habilitation als heilsame Chance zur Beschäftigung mit neuen Themen erleben durfte, die der vorzeitigen Spezialisierung vorbeugt, und ganz und gar nicht als unzeitgemäßen Zwang, ist wesentlich auch sein Verdienst. Für die Bereitschaft, das Zweitgutachten für die Arbeit zu übernehmen, danke ich Professor Dr. Eike Wolgast sehr herzlich. Zum Privileg des vergleichenden Historikers gehört die Arbeit in den großen Bibliotheken „seiner" Länder. Dort habe ich in den letzten fünf Jahren sehr viel Zeit verbracht und die nimmermüde Hilfsbereitschaft zahlreicher Bibliothekare immer neu kennen- und schätzen gelernt. Ohne sie wäre diese Arbeit niemals geschrieben worden. Ich danke den Mitarbeitern der Bodleian Library, Oxford; der Modern History Faculty Library, Oxford; der British Library, London, und vor allem dem Team des Rare Books Reading Room; dem Imperial War Museum, London; der Library of Congress, Washington D.C., und vor allem der Rare Books Collection; der Bibliotheque Nationale, Paris; der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz und schließlich der Bayerischen Staatsbibliothek, München. Stellvertretend fur viele Helfer nenne ich die Leiterin der Münchener Benutzungsabteilung Dr. Claudia Fabian. Dr. Ingrid Rückert danke ich für die unschätzbaren Hinweise zur Benutzung der Systematik des Alten Realkatalogs und des Schrettinger-Katalogs. Langjährige wissenschaftliche Forschung, und zumal die im Ausland, ist nicht denkbar ohne adäquate finanzielle Förderung. Erst sie schafft die Rahmenbedingungen, die Planungssicherheit und den konkreten Rückhalt, die aus Projekten Manuskripte werden lassen. Der Deutsche Akademische Austausch-

XVI

Vorwort

dienst bot mir die Chance, nach der Promotion im Rahmen des Fachlektorenprogramms für fünf Jahre ein Tutorial Fellowship und Fachlektorat für deutsche und europäische Geschichte am Wadham College Oxford wahrzunehmen, das mir die bestmöglichen Bedingungen für selbständige Forschung an einem neuen Projekt und Lehre in einem stimulierenden Umfeld bot. Der Warden John Fleming (|), die Fellows von Wadham College und die Modern History Faculty Oxford bewilligten mir für die längeren Aufenthalte in London, Paris und Washington mehrmals unbürokratische und großzügige Hilfen. In Washington D.C. war ich im Sommer 2001 als Visiting Research Fellow der Alexandervon-Humboldt-Stiftung zu Gast am German-American Center for Visiting Scholars, und das German Historical Institute Washington gewährte mir im Sommer 2003 ein großzügiges Habilitationsstipendium. All diesen Institutionen sei herzlich gedankt. In der Vorbereitung dieses Projekts konnte ich mit Ulrike von Hirschhausen eine internationale Konferenz zu Nationalismen in Ost- und Westeuropa in Marbach/Neckar und eine Sektion auf dem Historikertag in Aachen 2001 organisieren; von beiden Veranstaltungen und der Veröffentlichung der Ergebnisse hat diese Arbeit langfristig erheblich profitiert. Gedankt sei hier noch einmal der Fritz Thyssen Stiftung, der Robert-Bosch-Stiftung sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre großzügige Unterstützung. Mein ganz besonderer und aufrichtiger Dank gilt dem Kuratorium des Historischen Kollegs in München unter seinem Vorsitzenden Professor Dr. Lothar Gall, das mich für das Kollegjahr 2003/04 als Förderstipendiaten an das Historische Kolleg berufen hat. Das Historische Kolleg, dessen Träger die Stiftung zur Förderung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Historischen Kollegs ist, wird finanziert aus Mitteln des Freistaates Bayern und privater Zuwendungsgeber. 2003/04 waren dies der DaimlerChrysler-Fonds, die Fritz Thyssen Stiftung und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. In München konnte ich mich unter nicht anders als ideal zu nennenden Bedingungen, frei von allen anderen Verpflichtungen, auf den Abschluß dieser Arbeit konzentrieren. Ohne den enormen Vertrauensvorschuß und die täglich erlebte, sehr konkrete „Einsamkeit und Freiheit" wäre der Abschluß des Manuskripts in dieser Form nicht möglich gewesen. Es ist mir an dieser Stelle daher ein um so größeres Bedürfnis, den Geldgebern zu danken, die diese einzigartige Institution historischer Forschung in Deutschland seinerzeit unterstützen. Seit Beginn meiner Beschäftigung mit dem Thema habe ich von vielen Seiten wichtige Anregungen, sowohl Bedenken und Kritik als auch Ermutigung erfahren. All diese Resonanzen sind in die Arbeit miteingegangen. Sie ändern natürlich nichts an der Verantwortung des Autors für sein Buch. Ganz besonders danke ich an dieser Stelle Professor Dr. Dieter Langewiesche, Tübingen; Professor Dr. Reinhart Koselleck (|), Bielefeld; Professor Dr. Willibald Steinmetz, Bielefeld; Professor Dr. John Breuilly, Birmingham; Professor Dr. Stefan

Vorwort

XVII

Berger, Manchester; Professor Dr. Robert Evans, Oxford; Professor Dr. Hartmut Pogge von Strandmann, Oxford; Professor Dr. Robert Gildea, Oxford; Professor Dr. Robert Tombs, Cambridge; Professor Dr. Miles Taylor, York; Professor Dr. Ian Kershaw, Sheffield; Professor Dr. Jürgen Kocka, Berlin; Professor Dr. Hartmut Kaelble, Berlin; Professor Dr. Jost Dülffer, Köln; Professor Dr. Otto Darm, Köln; Professor Dr. Michael Hochgeschwender, München; Professor Dr. Ulrich Sieg, Marburg; Professor Dr. Frank Becker, Münster; PD. Dr. Wolfgang Kruse, Hagen; PD. Dr. Dieter Gosewinkel, Berlin; Juniorprofessor Dr. Sven Reichardt, Konstanz; PD. Dr. Dirk Schumann, Washington D.C.; Professor Dr. Andreas Bendlin, Toronto, und Dr. Ciaire Gantet, München. Ohne die aus meiner Arbeit hervorgegangenen Vorträge und Präsentationen wären die methodischen und empirischen Durststrecken noch länger geworden. Für anregende und kritische Kommentare danke ich den Veranstaltern und Teilnehmern des Research Seminar on the History of Religion der Modern History Faculty, Oxford; des Sonderforschungsbereichs „Kriegserfahrungen Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" in Tübingen; des Berliner Kollegs für Vergleichende Geschichte Europas; der trilateralen Konferenz „Nationalgeschichte als Artefakt. Mystifizierung und Entmystifizierung nationaler Historiographien: Österreich, Italien und Deutschland im Vergleich" an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien; der Jahrestagung 2002 des Arbeitskreises Historische Friedensforschung „Der freie Bürger als Soldat oder: Die Ambivalenz des Militärischen im oppositionellen Diskurs" in Berlin; der Tagung der Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft: Historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven" am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin; des History Research Seminar der School of Historical Studies an der Universität Leicester; der Konferenz „Nationalism in Nineteenth-Century Europe, 1789-1914: Civic and Ethnic Traditions" am German Historical Institute London; des Modern History Seminar der Universität Sheffield; des Fellows' Seminar des Deutschen Historischen Instituts Washington, D.C., und des Vorstellungsabends der Stipendiaten anläßlich der Eröffnung des Kollegjahres 2003/04 am Historischen Kolleg München. Kein Vergleich ohne Quartiere an immer anderen Orten: Valerie Lechene überließ mir großzügig ihr Studio in der Rue Ternaux im 11e Arrondissement in Paris und wies mich in die Geheimnisse der wirklich guten patisseries in der Rue Oberkampf hin - es ist fraglich, wie ich sonst Kriegsliteratur und Temperaturen der Bibliotheque Nationale ausgehalten hätte. In Washington D.C. durfte ich 2001 und 2003 in langen Sommermonaten die Gastfreundschaft und Gespräche mit Mary Deutsch Edsall, Tochter von Karl W. Deutsch, und ihrem Mann Tom auf dem Capitol Hill genießen. Professor John C. Hirsh wurde in Oxford ein Freund; sein Haus in Georgetown und sein Wissen über amerikanische Geschichte, Literatur und Politik haben jedes Treffen zu einem Genuß gemacht. Davon hat hoffentlich nicht allein diese Arbeit profitiert. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

XVIII

Vorwort

Am Historischen Kolleg hat mein Mitarbeiter Martin Bäumel die Niederschrift der Arbeit und ihren Abschluß intensiv und geduldig begleitet, als erster aufmerksamer und verläßlicher Lektor, als intelligenter und kritischer Gesprächspartner und als unentbehrlicher Helfer in allen bibliographischen Fragen. Nicht zuletzt aus den Gesprächen mit den anderen Stipendiaten am Historischen Kolleg 2003/04 habe ich immer wieder stimulierende Anregungen erhalten. Professor Dr. Friedrich Wilhelm Graf wies mich nicht allein auf wichtige Aspekte zur Beziehung zwischen Religion, Gewalt und Nation hin. Seine montäglichen Wochengrüße und die aufmunternden Nachfragen zum Stand des Tagwerks waren das beste Mittel gegen den zuweilen aufkeimenden Depressionszynismus der Habilitationsphase. Professor Dr. Kaspar von Greyerz regte noch einmal wichtige Überlegungen zu Gewalt und Krieg in der Frühen Neuzeit an, und Professor Dr. Werner Busch hat mir zur Behandlung von Krieg und Nation in der bildenden Kunst zahlreiche Hinweise gegeben, und ich bedauere nur, daß ich nicht allen diesen Anregungen so intensiv habe nachgehen können, wie sie es verdient hätten. Die Arbeit wurde unter dem Titel Bellizismus und Nation — Die Deutung des Krieges und die Bestimmung der Nation: Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten, 1750-1914 im Sommersemester 2004 von der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurde sie überarbeitet und gekürzt. Im Mai 2006 wurde sie mit dem Werner-Hahlweg-Preis für Militärgeschichte und Wehrwissenschaften (1. Preis) ausgezeichnet. Den Mitgliedern des Preisgerichts und dem Präsidenten des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung gilt dafür mein aufrichtiger Dank. Ohne die großzügigen Druckkostenzuschüsse der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Frankreich-Zentrums der Albert-Ludwig-Universität Freiburg hätte das Manuskript nicht publiziert werden können. Diesen Institutionen gilt mein Dank genauso wie den geduldig-kritischen Herausgebern der Reihe Ordnungssysteme, Professor Dr. Dietrich Beyrau, Professor Dr. Anselm Doering-Manteuffel und Professor Dr. Lutz Raphael, die sich zusammen mit dem Oldenbourg Verlag München vom Umfang des Vierländervergleichs nicht haben abschrecken lassen. Bei diesem Verlag und vor allem in Cordula Hubert, Christian Kreuzer und Sabine Walther fand ich stets interessierte und ausdauernde Partner fur dieses Unterfangen. Zum Schluß konnte ich mich auf ein in kurzer Zeit eingespieltes, belastbares und aufgeschlossenes Lehrstuhlteam in Freiburg verlassen, das meiner Ungeduld mit Langmut und Professionalität begegnete: Tilman Haug, Mariko Jacoby, Christa Klein, David Krumwiede, Dr. Sonja Levsen, Fabian Rausch, Robert Spät, Kathrin Wiermer und vor allem Sabine Schmidt. Wo der Vergleich auch eine lebenspraktische Seite hat, die neben aller Bereicherung und allem Wechsel der Perspektiven sehr viel mit Unterwegssein zu tun hat, mit Aufbrüchen, mit kleinen und größeren Abschieden zumal, werden

Vorwort

XIX

Freundschaften um so wichtiger. Sie geben das Stück Verankerung, das im Verlassen der Orte sonst verloren geht. Deshalb gilt es, den großen Anteil von Freunden an dieser Arbeit zu würdigen, vielleicht gerade dann, wenn sie unaufdringlich, mit Geduld und Humor auf manche Vereinseitigung und Zumutung reagiert haben. Ulrike von Hirschhausen war zwischen Riga und Hamburg eine gute und verläßliche Freundin, Klaus Ries in Jena ein wichtiger Ausgleich. Hendrik Hunsingers wiederum exemplarischer Gastfreundschaft in Karlsruhe und Weißleiten (und den sauer legierten Hühnersuppen seiner Großmutter, der besten Nahrung von allen) verdanke ich kreative Unterbrechungen, die notwendige Distanzen schufen, um zur Arbeit zurückzukehren. Heike Rausch et Ciaire Badiou danke ich für sehr vieles und sehr unterschiedliches, wovon das wenigste mit Bellizismus und Nation zu tun hat. Zur Kontinuität der Freundschaft gehört die stabilitas meiner Eltern und der Familie meiner Schwester mit Sina und Ines: die Präsenz, das Vertrauen und die heilsame Ablenkung. Wenn zur vergleichenden Methode in lebensweltlicher Hinsicht die Aufbrüche und Abschiede gehören, dann auch das Heimkommen an einen Ort unangreifbarer Geborgenheit. Dafür bin ich dankbar. In Wadham College fand ich in Cliff Davies, Jane Garnett und Matthew Kempshall einmalige Kollegen und verließ sie als Freunde. Ihren Anteil an den reichen Jahren in Oxford will ich gar nicht erst versuchen, in Worte zu fassen, aber er muß wenigstens erwähnt werden. Jane, Gervase & La Cecilia sind in dieser wunderbaren Zeit in Wadham, Parktown und Genua nahe Freunde geworden. Wenn Bellizismen und andere Ismen in dieser Zeit nicht völlig überhand nahmen, wenn ich wenigstens zuweilen davon abgehalten wurde, jede Gegenwart sofort Vergangenheit werden zu lassen und stets mit rückwärts gewandtem Kopf vorwärts gehen zu wollen, dann ist das wesentlich das Verdienst dieser durch und durch friedlichen und selbstlosen Menschen. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Freiburg im Breisgau, am 30. September 2007

J.L.

„Der Krieg ist nicht schlicht das Gegenteil von Kultur. Als Historiker reden wir ständig vom Krieg, ohne sein wahres Wesen zu kennen oder kennenlernen zu wollen. Wir wissen vom Krieg nicht mehr als der Physiker über den verborgenen Aufbau der Materie ... Wir reden vom Krieg, weil es sein muß: er greift ständig grausam in das Leben der Menschen ein. Die Chronisten stellen ihn in den Vordergrund ihrer Berichte; die Zeitgenossen wissen von keinem wichtigeren Thema zu erzählen als den Kriegen, die sie erlebt haben, davon, wer die Schuld hatte, und was die Folgen waren ... Ich will aus diesen Dramen keine philosophischen Schlüsse über das,Wesen' des Krieges ziehen. Die Geschichte der Kriegsursachen steckt als Wissenschaft noch in den Kinderschuhen, wenn sie denn überhaupt eine Wissenschaft ist. Sie muß über die Einzelheiten hinweg die langfristigen Rhythmen, Gesetzmäßigkeiten, Entsprechungen erfassen. Dieses Stadium haben wir noch nicht erreicht." Fernand Braudel·. Die Formen des Krieges, in: Ders.: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. (französisch: La Mediterranee et le monde mediterraneen ä l'epoque de Philippe II, 1949), 3 Bde.,2.Aufl. Frankfurt/M. 2001, hier: Bd.2, S.653-729, hier: S.653.

I. Einleitung: Thema, Methoden und Horizonte 1. Bellizismus und Nation: Problemaufriß und Erkenntnisinteressen Die „eigentlich politische Unterscheidung" sei, so Carl Schmitt 1927, die „von Freund und Feind". Sie gebe „menschlichen Handlungen und Motiven ihren politischen Sinn", auf sie führten „alle politischen Handlungen und Motive zurück", und sie ermögliche auch erst jene begriffliche Bestimmung, ohne die es keine Kriterien in den Formen, Prozessen und Inhalten der Politik geben könne.1) Alle politischen Begriffe und Vorstellungen rekurrierten, so Schmitt, auf diese Gegensätzlichkeit, deren „letzte Konsequenz" sich „in Krieg oder Revolution" äußere. Wenn aber das Politische auf das Paradigma von Freund und Feind zurückging und der Krieg die „äußerste Realisierung der Feindschaft" war, dann ließ sich die permanente Möglichkeit des Krieges argumentativ als Voraussetzung des Politischen selbst beschreiben: „Das Politische liegt nicht im Kampf selbst, der wiederum seine eigenen technischen, psychologischen und militärischen Gesetze hat, sondern in einer von der realen Möglichkeit eines Krieges bestimmten Situation und in der Aufgabe, Freund und Feind richtig zu unterscheiden". Daher sei eine Welt, in der es gelänge, die „Möglichkeit eines Krieges" restlos auszuschließen, eine „Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind und infolgedessen eine Welt ohne Politik".2) Die Prämisse eines Antagonismus von Freund und Feind und seine Manifestation im Krieg gelten in besonderer Weise auch für das Deutungsmuster der Nation. Der systematischen und vergleichenden Analyse dieses Zusammenhangs zwischen der Wahrnehmung des Krieges, der davon ausgehenden Erfahrungsdeutung und der inhaltlichen Bestimmung des Konzepts der Nation, seiner Ursprünge, seiner diachronen Veränderungen und seiner synchronen Besonderheiten ist diese Untersuchung gewidmet. Die von Schmitt entwickelte

') Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (1927), Hamburg 1933, S. 7; vgl. dazu Pasquale Pasquino: Bemerkungen zum .Kriterium des Politischen' bei Carl Schmitt, in: Der Staat 25 (1986), S. 385-398; Christian Meier: Zu Carl Schmitts Begriffsbildung Das Politische und der Nomos, in: Heinz Quaritsch (Hrsg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 537-556; Ernst Wolfgang Böckenförde: Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: ebd., S. 2 8 3 299; Ernst Vollrath: Wie ist Carl Schmitt an seinen Begriff des Politischen gekommen?, in: ZfP 36 (1989), S. 151-168; Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauß und der .Begriff des Politischen'. Erweiterte Ausgabe, Stuttgart 1998, sowie vor allem Wilfried Nippel: „Krieg als Erscheinungsform der Feindschaft", in: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, hrsg. von Reinhard Mehring, Berlin 2003, S. 61-70. 2 ) Schmitt: Begriff, S. 13,15 f. und 18.

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I. Einleitung

polemische Tektonik des Politischen begleitete einen komplexen Prozeß, in dem sich Nationen, Nationalstaaten und nationale Ideologien ausbildeten. Es war kein Zufall, daß auf dem scheinbaren Höhepunkt dieser Entwicklung zwischen den 1850er und 1870er Jahren aufmerksame Zeitgenossen diesen Zusammenhang analytisch zu erfassen suchten. Sie bemühten sich darum, die von ihnen wahrgenommene krisenhafte Verdichtung der historischen Zeit und der sie bestimmenden strukturellen Kräfte seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts zu erfassen. So behandelte der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt den Krieg in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen als „Völkercrisis" und „nothwendiges Moment höherer Entwicklung". Dabei verwies er vor allem auf die Funktion des Krieges, im Umgang zwischen den Völkern den Erweis der jeder Nation eigenen Kraft aufzudecken: Ein Volk lerne „seine volle Nationalkraft nur im Kriege, im vergleichenden Kampf gegen andere Völker kennen, weil sie nur dann vorhanden ist; auf diesem Punct wird es dann suchen müssen, sie festzuhalten". Daher auch reinigten „die Kriege wie Gewitterstürme ... die Atmosphäre, stärken die Nerven, erschüttern die Gemüther, stellen die heroischen Tugenden her, auf welchen ursprünglich die Staaten gegründet gewesen". Burckhardt urteilte im Blick auf die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts und unter dem Eindruck der kurzen Nationalkriege seiner eigenen Gegenwart, denen er zwar zugestand, „Theile Einer großen allgemeinen Crisis" zu sein, die aber doch keine „wahre Erneuerung des Lebens" erreichen konnten, denn das „bürgerliche Leben" bleibe „dabei in seinem Geleise".3) Unter dem Eindruck des Krieges von 1870 analysierte Ernest Renan noch im gleichen Jahr die Genese der französischen Nation und kam zu dem Schluß, daß sich nationale Selbstbilder, darin Carl Schmitt vorgreifend, immer nur in Auseinandersetzung mit anderen, externen Vorstellungen und Bildern herausbilden konnten. Dafür, so Renan, sei zumal die Geschichte der französischen Nation ein hervorragendes Beispiel: „Une nation ne prend d'ordinaire la complete conscience d'ellememe que sous la pression de l'etranger. La France existait avant Jeanne d'Arc et Charles VII; cependant c'est sous le poids de la domination anglaise que le mot de ,France' prend un accent particulier. Un ,moi', pour prendre le langage de la philosophic, se cree toujours en opposition avec un autre ,moi"'. 4 ) Auch fur Friedrich Nietzsche war der in seinen Begründungen und Ausmaßen neuartige Krieg ein Grundzug des 19. Jahrhunderts. Den Beginn des Umbruches datierte er auf Napoleon, der die Solidaritätsidee der Französischen Revolution überwunden, die nationalen Gegenbewegungen provoziert und damit das bürgerliche Sekuritätsverlangen tiefgreifend erschüttert habe: 3

) Jacob Burckhardt: Studium der Geschichte. Der Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" auf Grund der Vorarbeiten von Emst Ziegler hrsg. von Peter Ganz, München 1982, S.343 ff.; vgl. Kapitel V.2.c). 4 ) Ernest Renan: La guerre entre la France et Γ Allemagne, in: Revue des Deux Mondes, 15. September 1870, in: Ders.: La reforme intellectuelle et morale, 4. Aufl. Paris 1875, S. 123-66, hier: S. 131; vgl. Kapitel V.l.c).

1. Bellizismus und Nation

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Napoleon verdankt man's..., daß sich jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte aufeinander folgen dürfen, die in der Geschichte nicht ihresgleichen haben, kurz, daß wir ins klassische Zeitalter des Kriegs getreten sind, des gelehrten und zugleich volksthümlichen Kriegs im größten Maaßstabe (der Mittel, der Begabungen, der Disciplin), auf den alle kommenden Jahrtausende als auf ein Stück Vollkommenheit mit Neid und Ehrfurcht zurückblicken werden: - denn die nationale Bewegung, aus der diese Kriegs-Glorie herauswächst, ist nur der Gegen-choc [sie!] gegen Napoleon und wäre ohne Napoleon nicht vorhanden. Ihm also wird man einmal es zurechnen dürfen, daß der Mann in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister geworden ist.5)

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erhielt die Kriegsdeutung eine neue qualitative und quantitative Dimension, welche die überkommenen Interpretationen des 19. Jahrhunderts in Frage stellte, sosehr man zunächst noch an sie anknüpfte. Max Weber gab dem pointiert Ausdruck, indem er die kollektive Disposition im Angesicht des Krieges in die Nähe religiöser Gemeinschaftsbildungen rückte. Der Krieg als „die realisierte Gewaltandrohung" schaffe zumal in modernen politischen Gemeinschaften „ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden ... als Massenerscheinung aus, welcher die Religionen im allgemeinen nur in Heroengemeinschaften der Brüderlichkeitsethik ähnliches zur Seite zu stellen haben". Hinzu trete die „Empfindung eines Sinnes und einer Weihe des Todes", die so nur im Krieg möglich sei. Von dem „unvermeidlichen Sterben" unterscheide sich der „Tod im Felde dadurch, daß hier, und in dieser Massenhaftigkeit nur hier, der Einzelne zu wissen glauben kann, daß er ,fur' etwas stirbt".6) Was erlaubte es dem Staat, unter permanentem Rückgriff auf die Legitimationsformel der Nation Millionen seiner Bürger in den Krieg zu schikken, sie zu millionenfachem Töten anzuhalten und ihr millionenfaches Opfer einzufordern? Diese Grunderfahrung des kurzen 20. Jahrhunderts, die dem Weltbürgerkrieg der Ideologien zugrundelag, 7 ) wirft die Frage nach Ursprung, Wandel und Vielfalt der aus dem Zusammenhang von Krieg und Nation erwachsenen Legitimationsvorstellungen auf. Am Zusammenhang zwischen Krieg, Staatsentwicklung, Nations- und Nationalstaatsbildung ist nicht zu zweifeln: Der moderne Nationsbegriff war auch eine Kriegsgeburt. Sowenig die Geschichte von Nationsdeutungen in einer Geschichte von Kriegserfahrungen aufgeht, sowenig kann die Entwicklung des modernen Verständnisses der Nation von der Sphäre des Krieges getrennt 5

) Friedrich Nietzsche·. Die fröhliche Wissenschaft (1882). Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei (1887), Fünftes Buch, Textnr. 362, in: Ders.: Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Co////Mazzino Montinari, Bd. 3, 2. Aufl. München 1988, S.609f.; vgl. Kapitel VI.2.c). 6 ) Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1972, S.548. 7 ) Vgl. Thomas Nipperdey!Anselm Doering-ManteuffelfHans-Ukich Thamer (Hrsg.): Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Emst Nolte. FS. zum 70. Geburtstag. Frankfurt/M. 1993.

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I. Einleitung

werden. So wie der Krieg den Prozeß der frühneuzeitlichen Staatsbildung maßgeblich bestimmte, so war er auch für die modernen Nationsbildungsprozesse und die Etablierung neuer Nationalstaaten konstitutiv. Er war nicht der einzige Kausalfaktor in diesem Prozeß, aber einer der wichtigsten. Dabei kam dem Bellizismus als Sinn- und Erziehungslehre des Krieges, als Versuch der Einordnung von Kriegserfahrungen in einen sinnstiftenden Zusammenhang, eine wesentliche Rolle zu. In ihm bündelten sich Vorstellungen von Staat, Gesellschaft und Gemeinschaftsbildung, die auf den Krieg als Erfahrungsraum verwiesen. Damit reflektierten bellizistische Interpretamente auch den krisenhaften Wandel im Übergang von der ständisch-korporativen Lebenswelt zur bürgerlichen Gesellschaft, vom Stände- zum Anstalts-, Leistungs- und Nationalstaat mit der ihn legitimierenden Formel der Nation als übergeordneter Sinnstiftungsinstanz. Langfristig offenbarte sich dabei auch eine emanzipatorisch-partizipatorische Dimension des Krieges: Indem die Massenkriegführung immer umfassender auf alle Teilgruppen der Gesellschaft zurückgriff, indem die Gesellschaft als Nation in Waffen unentbehrlich für die Kriegführung wurde, erfuhr der Krieg eine tendenzielle Demokratisierung. Diese Entwicklung dynamisierte die nationale Legitimation staatlichen Handelns, die Mobilisierung aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte sowie der kulturellen Wertressourcen, sie provozierte aber auch neuartige Ansprüche auf gleichberechtigte Anerkennung und politisch-soziale Teilhabe an der Nation. Das komplexe Verhältnis von Krieg und Nation entfaltete sich mithin in der Tektonik staatlicher Bedürfnisse und partizipatorischer Ansprüche. Dieser Prozeß umfaßte kriegerische Erfahrungsumbrüche und ihre deutende Aneignung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert.8) Er hatte seine Ursachen in den 8 ) Vgl. Q. Wright: Α Study of War, Chicago 1942; Cyril Falls'. The Place of War in History. An Inaugural Lecture Delivered before the University of Oxford, 22. November 1946, Oxford 1947; John U. Nef. War and Human Progress: An Essay on the Rise of Industrial Civilization, Cambridge/MA. 1950; K. Waltz: Man, the State and War, New York 1959; George N. Clark: War and Society in the Seventeenth Century. The Wiles Lectures, Belfast 1956, Cambridge 1958; John U. Nef: Western Civilization since the Renaissance. Peace, War, Industry and the Arts, New York 1963; vgl. weiterhin Michael Howard (Hrsg.): The Theory and Practice of War, London 1965; Ders.: War in European History, Oxford 1976; Ders.: War and the Liberal Conscience. G. M. Trevelyan Lectures (1977), New Brunswick 1986; Ders. : The Lessons of History, New Haven 1991; J. F. C. Fuller: A Military History of the Western World, 3 Bde., New York 1956; Theodore Ropp: War in the Modern World (1959). New, revised Edition, with a new Introduction by Alex Roland, Baltimore 2000; Edward Mead Earle (Hrsg.): Makers of Modern Strategy: Military Thought from Machiavelli to Hitler, New York 1966; Andre Corvisier: Armies and Societies in Europe 1494-1789, Bloomington 1979; John Gooch: Armies in Europe, London 1980; Geoffrey Best: War and Society in Revolutionary Europe, 17701870, London 1982; Hew Strachan: European Armies and the Conduct of War, London 1983; J. Childs: Armies and Warfare in Europe 1648-1789, Manchester 1982; Brian Bond: War and Society in Europe, 1870-1970, London 1984; Peter Paret (Hrsg.): Makers of Modern Strategy from Machiavelli to the Nuclear Age. With the Collaboration

1. Bellizismus und Nation

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politischen und gesellschaftlichen Bürgerkriegen, den bürgerkriegsähnlichen Religionskriegen in der Folge der Reformation und in der damit verbundenen ideologischen Aufladung von Kriegsgründen, die auf eine emotionale Identifizierung von Kombattanten mit der als „gerecht", „wahr" oder „moralisch besser" erachteten Sache zielte und eine Steigerung der kriegerischen Machtmittel rechtfertigte. Auf dieser Erfahrung des Bürgerkrieges mit der Entfesselung und Mobilisierung bisher unbekannter Gewalt gründete das neuzeitliche Kriegsund Völkerrecht, das seit den großen europäischen Friedensschlüssen von Münster, Osnabrück und Utrecht zwischen 1648 und 1713 den Bürgerkrieg in den Ordnungsrahmen eines eingehegten Staatenkrieges zu überführen suchte, indem es den Krieg entideologisierte und durch die Formel des iustus hostis das Bild des Feindes entkriminalisierte. 9 ) Dabei bildeten die Überwindung des Bürgerkrieges im Kriegs- und Völkerrecht, die Neukonzeption staatlicher Souveränität, die Trennung zwischen innerer und äußerer Politik und die Etablierung eines Machtgleichgewichts der europäischen Staaten eine Einheit. Sie wurde erst mit der Revitalisierung des Bürgerkriegsparadigmas im späteren 18. Jahrhundert und einer neuartigen Kopplung von Krieg und Nation in Frage gestellt. Von diesem krisenhaften Erfahrungsumbruch und Deutungswandel blieb das ganze 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg geprägt. Der Auftakt zu einem dreißigjährigen universellen Konflikt zwischen antagonistischen Ideologien seit 1914 markierte dann eine bisher unbekannte Steigerung der Macht- und Gewaltmittel des Krieges im Namen von Nation und Nationalstaat. Als erster umfassender technisch-industrieller Massenkrieg, als „Maschinenkrieg" des „modernen Militärstaates ... gegenüber den Volksheeren agrarischer Stämme", 10 ) offenbarte der Erste Weltkrieg eine veränderte Qualität von nationaler Integrationserwartung und neuartiger Kriegsrealität: Als totaler Krieg forderte er alle beteiligten Staaten und Gesellschaften stärker als jemals zuvor heraus, zwang sie zur umfassenden militärischen, politischen, sozialen und

of Gordon A. Craig and Felix Gilbert, Princeton 1986; Geoffrey Parker. The Military Revolution. Military Innovation and the Rise of the West, 1500-1800, Cambridge 1988; M. S. Anderson·. War and Society in Europe of the Old Regime 1618-1789, London 1988; Martin van Creveld: The Transformation of War, New York 1991; Jeremy Black: European Warfare 1660-1815, London 1994; Ders.: War: Past, Present & Future, New York 2000; Ders.: Western Warfare, 1775-1882, Chesham 2001; Ders.: Warfare in the Western World, 1882-1975, Chesham 2002; Geoffrey Wawro: Warfare and Society in Europe, 1792-1914, London 1999; Charles Townshend(Hrsg.): The Oxford History of Modern War, Oxford 2000; David Gates: Warfare in the Nineteenth Century, Basingstoke 2001, sowie Geoffrey Parker. Empire, War & Faith in Early Modem Europe, London 2002. 9 ) Vgl. Carl Schmitt'. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 23 und 112 ff., sowie Ders.: Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff (1938), Berlin 1988. 10 ) Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl. Tübingen 1980, S.566.

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I. Einleitung

ökonomischen Mobilisierung und Zentralisierung aller Kräfte und schuf damit zugleich neue Möglichkeiten politisch-gesellschaftlicher Partizipation. Der Erste Weltkrieg stellte das Problem nationaler Integration auf eine neue Stufe, denn mit den radikalen Herausforderungen bei bisher ungeahnten militärischen und zivilen Opfern wuchs der Bedarf an verpflichtenden Legitimations- und Loyalitätsquellen. Allein im nationalen Konsens schien man dieser Prüfung begegnen zu können. Für alle kriegfuhrenden Gesellschaften wurden nationale Deutungsmuster und ihre Kommunikation daher zu unverzichtbaren Handlungsinstrumenten. Zugleich stießen die weitgehenden nationalen Integrationsvorstellungen in der konkreten Kriegserfahrung bald an ihre Grenzen. Diese historischen Entwicklungen und Zusammenhänge zwischen Kriegen und ideologischen Legitimationsvorstellungen haben angesichts der „neuen Kriege" des 21. Jahrhunderts in ihrer aufschließenden Bedeutung fur das Verständnis der Gegenwart eher noch zugenommen, wie das enorme Interesse an den historischen, politischen und soziokulturellen Zusammenhängen zwischen Gewalt, Krieg und Moderne beweist. 11 ) Das nach dem Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation der Supermächte erhoffte neue Zeitalter des Friedens hat sich schon jetzt als Epoche vielfältiger Konflikte erwiesen, von ethnischen Regionalkonflikten über neue Bürgerkriege bis hin zur Re-Ideologisierung von asymmetrischen Kriegsszenarien unter dem Eindruck des reli-

") Vgl. Arnold Toynbee: Krieg und Kultur. Der Militarismus im Leben der Völker, Stuttgart 1950; Raymond Aron: Der permanente Krieg, Frankfurt/M. 1953; Ders.: Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt, Frankfurt/M. 1963; Ders.: Penser la guerre. Clausewitz, 2 Bde., Paris 1976, sowie Hans-Joachim Arndt: Bleiben die Staaten die Herren des Krieges? Zum Clausewitz-Buch von Raymon Aron, in: Der Staat 16/2 (1977), S.229-38; aus der neueren Literatur vgl. Herfried Münkler: Staat, Krieg und Frieden: Die verwechselte Wechselbeziehung, in: Reiner Steinweg (Hrsg.): Kriegsursachen, Frankfurt/M. 1987, S. 135-144; Herfried Münkler: Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, 2. Aufl. Weilerswist 2003; zu Kriegsinterpretationen vgl. Sue Mansfield: The Gestalts of War. An Inquiry into its Origins and Meanings as a Social Institution, New York 1982; Jens Siegelberg: Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft, Münster 1994; David Turton (Hrsg.): War and Ethnicity: Global Connections and Local Violence, Rochester 1999; Wolfgang Knöbl/Gunnai Schmidt (Hrsg.): Die Gegenwart des Krieges. Staatliche Gewalt in der Moderne, Frankfurt/M. 2000, und vor allem Hans Joas: Die Modernität des Krieges. Die Modernisierungstheorie und das Problem der Gewalt, in: ebd., S. 177-193; vgl. weiterhin Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt/ M. 1996; Ders.: Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg, Frankfurt/M. 2002; Stavros Mentzos: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen, Göttingen 2002; Andreas Herberg-Rothe: Der Krieg. Geschichte und Gegenwart, Frankfurt/M. 2002; Hans Maier (Hrsg.): Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, 2. Aufl. Frankfurt/M. 2002; Alf Lüdtke/Bemd Weisbrod (Hrsg.): No Man's Land of Violence. Extreme Wars in the 20th Century, Göttingen 2006; zum Charakter der Kriege des 21. Jahrhundert vgl. Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek 2002, sowie Ignacio Ramonet: Kriege des 21. Jahrhunderts. Die Welt vor neuen Bedrohungen, Zürich 2003.

2. Thematische Eingrenzungen

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giös motivierten Terrors.12) Die skizzierten Tendenzen der Kriegsgeschichte in ihren Verknüpfungen zur Geschichte von Staat, Gesellschaft und Nation verraten aber nichts über die Besonderheiten, die Wirkungstiefen und Konsequenzen der Kriegswahrnehmung in einzelnen Gesellschaften vor dem Hintergrund je eigener Erfahrungen und Erwartungen. Diese Unterscheidung von Entwicklungswegen und Umbruchsphasen sowie die typologisierende Einordnung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten kann allein der historische Vergleich leisten.

2. Thematische Eingrenzungen: Leitfragen, Auswahlkriterien, Vergleichsfälle und chronologischer Rahmen Diese Untersuchung erschließt in einem systematischen Vergleich, wie sich die Zusammenhänge zwischen Kriegswahrnehmungen, ihrer deutenden Aneignung und Vorstellungen der Nation in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg entwickelten. Wo lagen die Ursprünge dieser Zusammenhänge, was waren die sie bestimmenden Faktoren, und wie veränderten sie sich vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert? Gefragt wird nach den unterschiedlichen Konsequenzen von Kriegserfahrungen fur die Ausbildung national bestimmter Gemeinschaftskonzepte, national definierter Staatlichkeit und für die Artikulation von politischsozialen Teilhaberechten an der Nation. Es geht um die longue durie, die „langfristigen Rhythmen, Gesetzmäßigkeiten, Entsprechungen" der Interpretation von Kriegserfahrungen in ihren Verknüpfungen mit nationalen Selbstdeutungsmustern. 13 ) Als übergeordnetes tertium comparationis wird unter dem Bellizismus dabei die sinnstiftende Aneignung von Kriegserfahrungen durch zeitgenössische, diskursiv vermittelte Kriegsdeutungen verstanden. Bei der Auswahl der vier Untersuchungsfälle sollten erstens möglichst unterschiedliche Ausgangsbedingungen des Nationsbildungsprozesses, also bestehende oder erst entstehende Nationalstaaten, zweitens besondere strukturelle Umbruchserfahrungen in Kriegen, also in konfessionellen und politisch motivierten Bürgerkriegen, in Revolutions-, Handels- und Nationsbildungskriegen, sowie drittens verschiedene Militärtraditionen zwischen stehendem Heer, Berufsarmee, Miliz, Revolutionsheer und Wehrpflicht repräsentiert sein. Der innereuropäische Vergleich sollte um eine zusätzliche Dimension ergänzt werden, um der noch immer vorherrschenden Verengung auf die deutsche Geschichte, aber auch der ausschließlichen Konzentration auf die westeuropä12 ) Vgl. Herfried Münkler: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006. ") Braudel·. Mittelmeer, Bd. 2, S.653.

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I. Einleitung

ische Vergleichsebene vorzubeugen. Gerade der wichtigen Frage nach den Ursprüngen und Grenzen des American exceptionalism gegenüber den historischen Erfahrungen Europas kann nur in einer transatlantischen Vergleichsperspektive nachgegangen werden.14) Frankreich und England galten seit dem Ausgang des späten Mittelalters als national gefestigte Königreiche. Dabei repräsentierten sie seit dem 17. Jahrhundert unterschiedliche Kriegserfahrungen zwischen der konfessionellen guerre civile in Frankreich und der Phase des civil war in England. In Frankreich erwuchs daraus die nationale Monarchie mit ihrem spezifischen Herrschaftsanspruch und dem Idealbild des monarchisch geführten Staatenkrieges. Dieses Modell wurde nach 1789/92 durch den Erfahrungsumbruch der von der Revolution und dem Napoleonischen Kaiserreich ausgehenden Kriege verdrängt. Für England ist die gegenüber Kontinentaleuropa ganz andere Entwicklungsrichtung seit dem Scheitern des absolutistischen Experiments unter den Stuarts im 17. Jahrhundert und der Etablierung eines konstitutionellen Gleichgewichts zwischen King, Lords and Commons zu betonen. Hier spielten nicht allein das Trauma der Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle, sondern auch der Sonderfall der englischen Kolonisierung von Iren und Schotten und die Herausbildung einer britischen Nationsvorstellung. Hinzu kam im britischen Fall die zunehmende Bedeutung des Empire, das den Kriegserfahrungen seit dem 18. Jahrhundert einen weit über Europa hinausweisenden Charakter verlieh. Die Vereinigten Staaten und Deutschland wurden im Gegensatz zu diesen beiden Fällen erst in Kriegen des 18. und 19. Jahrhunderts zu Nationalstaaten, wobei im Falle der Vereinigten Staaten staatsrechtliche Revolution und Unabhängigkeitskrieg untrennbar miteinander verbunden waren. Für alle vier Fälle, wenngleich nur indirekt für die Vereinigten Staaten, bedeuteten die Revolutionskriege und Konflikte des Napoleonischen Kaiserreichs bis 1815 sowie die Kriege zwischen 1854 und 1871 eine tiefgreifende Herausforderung, sei es als Nationsbildungskrieg, als Bürgerkrieg oder als Niederlagenerfahrung. Über die Vergleichsebene hinaus ergibt sich zudem ein Panorama gegenseitiger Wahrnehmung und konfliktbeladener Abgrenzung, so zwischen England und Frankreich bis 1815, zwischen Deutschland und Frankreich seit dem 17. Jahrhundert und zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien seit den 1770er Jahren. In allen vier Gesellschaften spielte auch die Rezeption von Kriegserfahrungen anderer Staaten eine wichtige Rolle, so im Blick auf die 14 ) Vgl. Sebastian Conrad: Doppelte Marginalisierung. Plädoyer für eine transnationale Perspektive auf die deutsche Geschichte, in: GG 28/1 (2002), S. 144-169; Seymour Martin Lipset: The First New Nation: The United States in Historical and Comparative Perspective, New York 1963; Byron E. Shafer (Hrsg.): Is America Different? A New Look at American Exceptionalism, Oxford 1991; Seymour Martin Lipset: American Exceptionalism: Α Double Edged Sword, New York 1996; C. Vann Woodward (Hrsg.): The Comparative Approach to American History, New York 1997, sowie hier vor allem Seymour Martin Lipset: The „Newness" of the New Nation, in: ebd., S. 62-74.

2. Thematische Eingrenzungen

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Kriege des revolutionären Frankreich, des Napoleonischen Kaiserreichs, auf die Kolonialkriege des Britischen Empire, die deutschen Nationalstaatsbildungskriege oder den amerikanischen Bürgerkrieg der 1860er Jahre. Die Analyse dieser Bezüge, selbst wenn sie in der vorliegenden Untersuchung nur selektiv geleistet werden kann, erweitert den historischen Vergleich zur Transfer-, Rezeptions- und Verflechtungsgeschichte. 15 ) Bereits diese Skizzierung der Untersuchungsfalle verweist auf die Tatsache, daß der Untersuchungszeitraum nicht statisch bestimmt werden kann. Insofern liegen der Arbeit ein engeres und ein weiteres Periodisierungskonzept zugrunde, das der Komplexität des Themas in einem Vierländervergleich gerecht zu werden versucht. Als engerer Analysezeitraum wird die Phase von 1756 bis 1914, vom Siebenjährigen Krieg in Europa und Nordamerika bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges verstanden. Beide Ereignisse markierten fur alle Länder entscheidende Krisenphasen, in denen das Verhältnis zwischen Kriegsdeutungen und Nationskonzepten neu bestimmt wurde. Darüber hinaus wird auch auf Kriegsdeutungen und Erfahrungsdeterminanten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zurückgegriffen. Dies reflektiert nicht allein die besonderen Umbruchserfahrungen Großbritanniens und Frankreichs. Es trägt auch dem in der Forschung jüngst entwickelten Interesse an der Kriegsdisposition als Kennzeichen der Frühen Neuzeit Rechnung, hinter der ein Nebeneinander von Staatsbildungsprozessen und konfessionell motivierten Konflikten stand.16) ,5 ) Vgl. Michel Espagne: Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle, in: Geneses 17 (1994), S. 112-21; Thomas Welskopp·. Stolpersteine auf dem Königsweg. Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte, in: AfS 35 (1995), S. 339-367; Johannes Paulmann: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, in: HZ 267 (1998), S. 649-685, sowie Matthias Middell: Kulturtransfer und Historische Komparatistik - Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ 10 (2000), S. 7-41; vgl. auch Jörn Leonhard: Von den idees liberales zu den liberalen Ideen: Historisch-semantischer Kulturtransfer zwischen Übersetzung, Adaption und Integration, in: Marc Schalenberg (Hrsg.): Kulturtransfer im 19. Jahrhundert. Mit einer Einleitung von Etienne Francois und einem Nachwort von Michael Wemer, Berlin 1998, S. 13^15. ,6 ) Vgl. Johannes Burkhardt·. Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: ZHF 24 (1997), S. 509-574, sowie Heinz Schilling·. Krieg und Frieden in der werdenden Neuzeit - Europa zwischen Staatenbellizität, Glaubenskrieg und Friedensbereitschaft, in: Klaus Bussmann/Heinz Schilling (Hrsg.): 1648: Krieg und Frieden in Europa. Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, München 1998, S. 13-22; im weiteren Kontext vgl. auch Bernhard R. Kroener/Ralf Prove (Hrsg.): Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn 1996, sowie vor allem die Arbeiten von Johannes Kunisch (Hrsg.): Staatsverfassung und Mächtepolitik, Berlin 1979; Ders. (Hrsg.): Der dynastische Fürstenstaat, Berlin 1982; Ders. (Hrsg.): Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, Berlin 1986; Ders.: Das „Puppenwerk" der stehenden Heere. Ein Beitrag zur Neueinschätzung von Soldatenstand und Krieg in der Spätaufklärung, in: ZHF 17/1 (1990), S. 49-84; Ders.: Fürst - Gesellschaft - Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition

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I. Einleitung

Für diesen weiteren Untersuchungszeitraum wurden prinzipiell alle Kriegserfahrungen berücksichtigt, die in den herangezogenen Quellen thematisiert wurden. Dabei ging es darum, das breite Spektrum von Kriegstypen zu berücksichtigen, die von der Frühen Neuzeit bis zum Ersten Weltkrieg die zeitgenössischen Kriegswahrnehmungen prägten: Für Frankreich waren dies neben dem konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, den Staatenkriegen Ludwigs XIV. und dem Siebenjährigen Krieg vor allem die Konflikte, die sich zwischen 1792 und 1815 aus der Revolution und dem Napoleonischen Kaiserreich ergaben, der Krimkrieg 1854-56, der Italienische Krieg von 1859 sowie der Konflikt von 1870/71 mit der besonderen Situation des Bürgerkrieges um die Pariser Kommune. Für Deutschland wurden neben den frühneuzeitlichen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges und der Erbfolgekriege seit dem 17. Jahrhundert vor allem der Siebenjährige Krieg, die antirevolutionären und antinapoleonischen Kriege bis 1815 und die mit der Bildung des kleindeutschen Nationalstaates verbundenen Konflikte der 1860er und frühen 1870er Jahre berücksichtigt. Für Großbritannien spielten neben den Bürgerkriegserfahrungen des 17. Jahrhunderts die Konflikte auf dem europäischen Kontinent seit dem frühen 18. Jahrhundert, aber auch die Handels- und Kolonialkriege, dann vor allem die Erfahrung des Siebenjährigen Krieges in Europa und Übersee, die langjährigen Konflikte mit Frankreich von 1792 bis 1815, der Krimkrieg sowie die militärischen Auseinandersetzungen im Rahmen des kolonialen Empire in der zweiten Jahrhunderthälfte, insbesondere der Burenkrieg von 1899 bis 1902, eine herausragende Rolle. Für die Vereinigten Staaten schließlich wurden neben den spezifischen Kriegserfahrungen der ersten Siedlergenerationen und der Wahrnehmung des Siebenjährigen Krieges in Nordamerika vor allem der Unabhängigkeitskrieg zwischen 1775/76 und 1783, der zweite Konflikt mit Großbritannien 1812/15, die frontier wars nach 1815, der Konflikt mit Mexiko 1846-48, der nordamerikanische Bürgerkrieg zwischen Union und Konföderation 1861-65 sowie der Spanisch-Amerikanische Krieg von 1898 und der Krieg auf den Philippinen 1899-1902 berücksichtigt. Dagegen wurden die in der jüngeren Forschung stark thematisierten europäischen Kolonialkriege des späten 19. Jahrhunderts und ihre Rückwirkungen auf die europäischen Gesellschaften nicht mehr systematisch berücksichtigt.17) In allen Gesellschaften markierte der Er-

des absoluten Fürstenstaates, Köln 1992; Ders.: La guerre - c'est moi! Zum Problem der Staatenkonflikte im Zeitalter des Absolutismus, in: ebd., S. 1^11, sowie Ders.: Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege, in: ebd., S. 203-226. ") Vgl. Gesine Krüger. Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein. Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904 bis 1907, Göttingen 1999; Isabel V. Hull: Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005; Robert Gerwarth/Stephan Malinowski: Der Holocaust als „kolonialer Genozid"? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: GG 33/3 (2007), S. 439^166.

3. Methodisch-analytisches Programm und Operationalisierung

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ste Weltkrieg den Fluchtpunkt einer Argumentationsgeschichte des Verhältnisses zwischen Krieg und Nation, denn hier verbanden sich neue Formen der ideologischen Kriegsdeutung mit den krisenhaften Herausforderungen nationaler Integrationsvorstellungen.

3. Methodisch-analytisches Programm und Operationalisierung Ein historischer Längsschnitt in Form einer Vierländerstudie ist ohne eine sinnvolle Beschränkung der analytischen Bezugspunkte nicht zu leisten. Daher konzentriert sich das Untersuchungsprogramm auf ideologisch-argumentative Formen der Verarbeitung von Kriegserfahrungen. Dies soll methodisch in Form einer Erfahrungsgeschichte in Diskursen und Argumenten umgesetzt werden, während rituelle und symbolische Formen der Erfahrungsverarbeitung nicht systematisch berücksichtigt werden können. Auch hat sich die neuere Forschung, die sich stärker mit der kulturellen Praxis von Nationalismen auseinandersetzt, mit diesen Aspekten schon beschäftigt, wenn auch selten in systematisch-komparativer Zielsetzung.18) a) Erfahrungsaneignung in Diskursen und Argumenten: Vergleich und typologisierende Differenzierung Als analytische Leitkategorie sind historische Erfahrungen zu definieren als Inbegriff von Erlebnissen und der in ihnen repräsentierten Sachverhalte in einem geordneten Zusammenhang der Vergangenheit. Im Unterschied zu bloßen Wahrnehmungen bildet sich in Erfahrungen die deutende Aneignung erlebter Wirklichkeit ab, von der auch Handlungsmuster geprägt sind. Die Artikulation und Kommunikation historischer Erfahrungen bedarf eines Deutungswissens, also eines Reservoirs von Interpretamenten, Motiven, Mythen, Topoi und Dichotomien, welche die Vielfalt von Wahrnehmungen sinnhaft strukturieren und damit erst kommunizierbar machen.19) Erfahrung setzt also die wahrnehmende Einordnung von Erlebnissen in einen strukturierten Zusammenhang und die l8 ) Vgl. Jörn Leonhard: Erfahrung im 20. Jahrhundert. Methodische Perspektiven einer „Neuen Politikgeschichte", in: Norbert Frei (Hrsg.): Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2006, S. 156-163; Jörn Leonhard·. Europäisches Deutungswissen in komparativer Absicht. Zugänge, Methoden und Potentiale, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 4/3 (2006), S. 341-63, sowie Ders.: Historizität als Ungleichzeitigkeit: Europa als Programm einer komparativen Erfahrungsgeschichte, in: Bulletin des Frankreich-Zentrums der Albert-LudwigsUniversität Freiburg im Breisgau 49 (2007), S.2-4. ") Vgl. Dieter Langewiesche: Krieg im Mythenarsenal europäischer Nationen und der USA. Überlegungen zur Wirkungsmacht politischer Mythen, in: Nikolaus Buschmann/ Dieter Langewiesche (Hrsg.): Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt/M. 2003, S. 13-22.

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I. Einleitung

deutende Einordnung und Interpretation von Erfahrungsgegenständen durch kognitive Kategorien und ihre Übersetzung in kommunizierbare Begriffe, Argumente, Bilder und Vorstellungen voraus. Bei Erfahrungsdeutungen werden vorhandene Bestandteile des Deutungswissens mit neuen Wahrnehmungen abgeglichen, so daß die Erfahrungsaneignung zunächst auf tradierte Interpretamente, Topoi und Stereotype zurückgreift. Die Veränderung des Deutungswissens wird durch Erfahrungsbrüche angeregt und katalysiert, ist aber nur als langfristiger Prozeß zu verstehen. Gerade daraus ergibt sich für eine historische Analyse die Notwendigkeit, die lange Dauer von Deutungsprozessen in den Blick zu nehmen. Wahrnehmungsweisen, Erfahrungsgegenstände und kognitive Kategorien der Deutung und Aneignung sind historischem Wandel unterworfen. Die Analyse historischer Erfahrungen hat daher diese unterschiedlichen Teilaspekte und die Wechselwirkung zwischen ihnen zu erschließen.20) Einen weiteren zentralen Aspekt historischer Erfahrung liefert die von Peter Berger und Thomas Luckmann entwickelte Theorie der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Danach besteht dieser Konstruktionsprozeß aus Wahrnehmung, Deutung und Handlung, fugt also dem oben beschriebenen Erfahrungsmodell die Handlungsebene des Akteurs hinzu. Historische Erfahrungsräume prägen die Rezeptionsweisen und Wahrnehmungsinhalte, die in die Deutungen und Handlungen von historischen Akteuren eingehen. Zugleich bilden solche aus Wahrnehmungen hervorgegangenen Deutungsmuster und Handlungen auch neue Erfahrungsräume oder modifizieren vorhandene.21) Ein solcher Erfahrungsbegriff rekurriert also weder ausschließlich auf ein unmittelbares Kriegserlebnis noch beschränkt er sich diskurstheoretisch auf reine Textualität, sondern er stellt Kommunikationsprozesse und Argumentationszyklen in den Mittelpunkt, in denen sich vor, während und im Anschluß an Kriegserfahrungen der Zusammenhang von Gewalterfahrung und Nationsbildungskonzepten widerspiegelte. Dabei fließen individuelle Einstellungen, intersubjektive Deu-

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) Vgl. Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historischanthropologische Skizze, in: Christian Meiert Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Methode, München 1988, S. 13-61, sowie Nikolaus Buschmann!Horst Carl: Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. Forschung, Theorie, Fragestellung, in: Dies. (Hrsg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001, S. 11-26. 21 ) Vgl. Thomas Luckmann!Alfred Schütz: Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde., Frankfurt/M. 1979 und 1984; Peter L. fieser/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 5. Aufl. Frankfurt/M. 1992; Thomas Luckmann: Lebensweltliche Zeitkategorien, Zeitstrukturen des Alltags und der Ort des „historischen Bewußtseins", in: Hans Robert Jauss (Hrsg.): Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd.XI/1, Heidelberg 1986, S. 117-126; Jutta Nowosadtko: Erfahrung als Methode und als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis. Der Begriff der Erfahrung in der Soziologie, in: Buschmann!Carl (Hrsg.): Erfahrung, S. 27-50, sowie Ute Planert: Zwischen Alltag, Mentalität und Erinnerungskultur. Erfahrungsgeschichte an der Schwelle zum nationalen Zeitalter, in: ebd., S. 51-66.

3. Methodisch-analytisches Programm und Operationalisierung

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tungen und kollektive Sinnstiftungsprozesse zusammen. Erfahrungsräume und der Wandel von Deutungswissen lassen sich durch den Historiker auf verschiedenen Wegen erschließen: über rekonstruierbare Strukturen vergangener sozialer Realität, über den Niederschlag kollektiver Handlungen, Rituale oder des Habitus sowie über sprachlich-diskursive Prozesse. Dabei kommt sinnzuweisenden Argumenten, Topoi, Stereotypen und Dichotomien eine besondere Rolle zu. Diese Kommunikationselemente stehen zunächst über und zwischen punktuellen Begriffen, die immer konstitutiver Teil von Argumentationszusammenhängen sind, in denen sie aber nicht aufgehen. Das Argument ist zentraler Bestandteil der sprachlichen Sedimentierung von Erfahrungen, denn in ihm werden noch stärker als in Begriffen Erwartungen an die Gegenwart und Zukunft formuliert. Die programmatische Bündelung von Erfahrungen und Erwartungen macht das Argument daher zu einem analytisch besonders wichtigen Schnittpunkt von Wahrnehmungen, Deutungsprozessen und ihrer Umsetzung in Handlungsprogrammen.22) Für den konkreten Untersuchungsgegenstand wird die argumentative Aneignung des Zusammenhangs zwischen kriegerischen Gewalterfahrungen und Nationskonzepten sowie nationalen Selbstbildern historisch in den Blick genommen. Als Arbeitshypothese wird zunächst von einem argumentum α posteriori ausgegangen, das im Sinne eines Idealtypus historische Entwicklungen bündelt, aber hier dazu dient, die Abweichungen der einzelnen Fälle und Phasen zu konturieren. Das idealtypische Argument lautet, daß es der im Krieg manifesten kollektiven Gewalterfahrung nach innen und außen bedurfte, um einem neuen Nationsbegriff seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts zum Durchbruch zu verhelfen. Kern dieses Arguments ist die Prämisse, daß es die Nation in Waffen war, die Etablierung, Existenz und Expansion des Nationalstaates zu garantieren imstande war, daß aber Kriegserfahrungen vor dem Hintergrund von Kriegsdienst und Nationszugehörigkeit auch neue politische und gesellschaftliche Partizipationsansprüche hervorbrachten und dadurch unmittelbar auf Nationskonzeptionen zurückwirkten. Die im Staat institutionalisierte Herrschaft mußte zur Handlungslegitimation und Massenloyalität auf die Nation in Waffen zurückgreifen, aber zugleich wurden dadurch überkommene Herrschaftsprinzipien von der Aussicht auf die Teilhaberechte der erfahrenen, erinnerten oder antizipierten Kriegsnation herausgefordert. Darin entfaltete sich die ganze Ambivalenz der bellizistisch konstituierten Nation. Den Fluchtpunkt des Arguments stellt die Interpretation des Ersten Weltkrieges als totaler Krieg und dessen globale Wirkung als Kriterium nach 1918 dar. Hier begannen sich die Gren-

n ) Vgl. Heiner Schultz: Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte, in: Reinhart Koselleck (Hrsg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979, S . 4 3 74, sowie Monika Wienfort: Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft, Deutschland und England von 1640 bis 1848, Göttingen 1994, S. 14f.

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I. Einleitung

zen zwischen militärischer und ziviler Sphäre aufzulösen.23) So befand Erich Ludendorff, im modernen Krieg gehe es um die Existenz der Nation überhaupt, um „Lebenserhaltung".24) Das unterschied sich von Clausewitz' absolutem Krieg, dem sich noch die „Wahrung der Nationalinteressen" hatte zuordnen lassen.25) War diese argumentative Zuspitzung eine unausweichliche Konsequenz aus der Nationalisierung des Krieges und der Bellizierung der Nation seit der Mitte des 18. Jahrhunderts? Hatte sie spezifische Ursachen in den unterschiedlichen historischen Kontexten? Welche Entwicklungsmuster und Rahmenbedingungen läßt der Vergleich erkennen? Die Frage nach der historischen Genese und den historisch begründeten Varianten der vier untersuchten Gesellschaften von diesem idealtypischen Argument steht im Zentrum des historischen Längsschnitts. Eine Argumentationsgeschichte, die historische Erfahrungsgründe erschließen will, nimmt methodisch unterschiedliche Aspekte von Politikgeschichte, historischer Semantik und Ideengeschichte auf.26) Sie transzendiert die werkimmanent-hermeneutische Interpretation von Texten, indem der Untersuchung der politischen und gesellschaftlichen Bedingungen argumentativer Erfahrungsdeutung eine wichtige erklärende Funktion zuerkannt wird. Nur dies erlaubt es, die konkrete Wirkungsreichweite ideologischer Argumente abzuschätzen und die Wechselwirkungen zwischen Wirklichkeitswandel und deutender Sinnstiftung in den Blick zu nehmen. Über die punktuelle historische Semantik geht die Argumentationsgeschichte insofern hinaus, als sich das Argument erst aus der Verknüpfung verschiedener Deutungsmuster ergibt, also nicht auf einen einzigen Begriff zurückgeführt werden kann. Damit sind bestimmte Wortfelder wie Krieg, Frieden, Militär, Nation, Volk, Patriot, Vaterland sowie 23

) Vgl. Roger Chickering!Stig Förster (Hrsg.): The Shadows of Total War. Europe, East Asia, and the United States, 1919-1939, Cambridge 2003, sowie Roger Chickering/ Stig Förster!Bernd Greiner (Hrsg.): Α World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction, 1937-1945, Cambridge 2005. 24 ) Erich Ludendorff. Der totale Krieg (1935), München 1937, S. 5 f. ") Artikel Krieg, in: [F. A. Brockhaus] Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie fur die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, Bd. 9,11 .Aufl. Leipzig 1866, S. 79; vgl. Kapitel V.2. 26 ) Vgl. Lutz Raphael/Re'mz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006; vgl. als Beispiele einer vergleichenden historischen Semantik die Arbeiten des Verfassers: Jörn Leonhard: Liberalismus - Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001; Ders.: „An odious but intelligible phrase ..." - Liberal im politischen Diskurs Deutschlands und Englands bis 1830/32, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 8 (1996), S. 11-41; Ders.: Semantische Deplazierung und Entwertung - Deutsche Deutungen von liberal und Liberalismus nach 1850 im europäischen Vergleich, in: GG 29/1 (2003), S.5-39, sowie Ders. ·. Europäische Liberalismen: Zur komparativen Differenzierung eines historischen Phänomens, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fur Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 121 (2004), S. 313-349.

3. Methodisch-analytisches Programm und Operationalisierung

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relevante Ausdrücke wie Nation in Waffen, Volk in Waffen, Nationalkrieg, Volkskrieg, Bürgersoldat, Miliz und die jeweiligen nationalsprachlichen Äquivalente zwar konstituierender Teil des Arguments, aber dieses erschöpft sich nicht in der Summe einzelner Begriffsgeschichten, sondern entfaltet sich erst zwischen und über ihnen. Der bellizistische Diskurs und die ihn tragenden Argumente markieren einen Raum zwischen fokussierenden Deutungsmustern und einem übergeordneten Kommunikationsrahmen, auf den am ehesten der von J. G. A. Pocock geprägte Begriff der „language of political discourse" paßt.27) Pocock und die ihm zuzuordnenden Mitglieder der Cambridge School haben mit ihren Arbeiten versucht, die hinter spezifischen politischen Theorien stehenden Sprachen zu rekonstruieren. Exemplarisch hat Pocock bei politischen Denkern der englischen Revolution wie James Harrington die Sprache des klassischen Republikanismus rekonstruiert.28) Im Gegensatz zur deutschen Begriffsgeschichte gehen solche Konzepte nicht von einem einzelnen Begriff aus, sondern konzentrieren sich auf alle Sprachelemente einer politischen Theorie: „a language of discourse is ... a complex structure comprising a vocabulary; a grammar, a rhethoric; and a set of usages, assumptions, and implications existing in time and employable by a specific community for purposes political, interested in and extending sometimes as far as the articulation of a world-view or ideology". 29 ) 2?

) Vgl. Jörn Leonhard: Grundbegriffe und Sattelzeiten - Languages and Discourses: Europäische und anglo-amerikanische Deutungen des Verhältnisses von Sprache und Geschichte, in: Rebekka Habermas/Rebekka von Mallinckrodt (Hrsg.): Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn: Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaft, Göttingen 2004, S. 71-86. 28 ) Vgl. J. G. A. Pocock: Virtue and Commerce in the Eighteenth Century, in: Journal of Interdisciplinary History 3 (1973/74), S. 119-134; Ders.: Verbalizing a Political Act: Towards a Politics of Speech, in: Michael J. Shapiro (Hrsg.): Language and Politics, Oxford 1984, S. 25^13; J. G. A. Pocock. The Concept of a Language and the Metier d'historien: Some Considerations on Practice, in: Anthony Pagden (Hrsg.): The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge 1987, S. 19-38; vgl. zur Umsetzung des Konzepts J. G. A. Pocock. The Ancient Constitution and the Feudal Law: Α Study of English Historical Thought in the Seventeenth Century, 2. Aufl. New York 1967; Ders.·. Virtue, Commerce, and History. Essays on Political Thought and History, chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge 1995; vgl. zu Pococks Werk insgesamt Iain Hampsher-Monk. Review Article: Political Languages in Time - The Work of J. G. A. Pocock, in: British Journal of Political Science 14 (1984), S. 89-116; vgl. die Einzelstudien aus dem Umkreis von Pocock und Skinner: Conal Condren·. The Status and Appraisal of Classic Texts, Princeton 1985; Terence Ball·. Transforming Political Discourse: Political Theory and Critical Conceptional History, Oxford 1988; Keith Michael Baker: Inventing the French Revolution, Cambridge 1990. 29 ) J. G. A. Pocock. Concepts and Discourses: A Difference in Culture? Comment on a Paper by Melvin Richter, in: Hartmut LehmannIMeWm Richter (Hrsg.): The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte, Washington 1996, S.47-58, hier: S.58; vgl. Reinhart Koselleck: Α Response to Comments on the Geschichtliche Grundbegriffe, in: ebd., S. 59-70, sowie Melvin Richter. Opening a Di-

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I. Einleitung

Aus dieser Perspektive ergibt sich auch der Diskursbegriff dieser Untersuchung, der gegenüber der französischen Tradition grundsätzlich hermeneutisch ausgerichtet ist, am autonomen Charakter des Kommunikationssystems festhält und eine von strukturellen Rahmenbedingungen geprägte Beziehung zwischen Sprechern und Adressaten mit dem Ziel der Erfahrungsaneignung in kommunikativen Prozessen bezeichnet.30) Dieser Diskurs soll im langfristigen Wandel der ihn prägenden Argumente untersucht werden. Im Gegensatz zur Rekonstruktion der Geschichte eines einzelnen Begriffs konzentrieren sich semantische Analysen dabei auf die Entfaltung verschiedener Begriffssemantiken, zwischen denen die Argumente entwickelt werden. 3 ') Eine solche Argumentationsgeschichte des Zusammenhangs von Krieg und Nation bemüht sich um eine textnahe Rekonstruktion. Die dichte Beschreibung von zeitgenössischen Erfahrungsdeutungen anhand von Reaktionen auf Kriegsereignisse, Positionsbestimmungen und Debatten soll es dem Leser ermöglichen, den argumentativen Wandel nachzuvollziehen und hinter vermeintlich gleichen Begriffen und Vorstellungen verschiedener Gesellschaften die substanziellen Unterschiede zu erkennen, also dem semantischen Nominalismus zu entgehen. Im Zentrum der Analyse stehen nicht das Ereignis, sondern die Prozesse seiner Aneignung auf der kognitiven Ebene der Imagination und Deutung, der Erinnerung und Antizipation, auf der tradiertes Deutungswissen mit neuen Wahrnehmungen konfrontiert, abgeglichen und permanent verändert wird.32) Im kognitiven Abstand zum Geschehen entsteht, so ließe sich diese Perspektive zugespitzt charakterisieren, eine eigene Wirklichkeit der Nationsvorstellung, die durch das Kriegsereignis angeregt ist, das Ereignis selbst aber in vielfältiger Weise adaptiert und immer wieder neu kommuniziert. Für die intersubjektive Entwicklung nationaler Selbst- und Fremdbilder hat aber gerade diese Ebene entscheidendes Gewicht. Hier dient der systematische Vergleich von historischen Längsschnitten der Typologisierung von bellizistischen Erfahrungsmustern und den daraus in den verschiedenen Fällen entwickelten kollektiven Sinnzuweisungen. Welche Selektions- und Interpretationsmechanismen bestimmten nationale Selbstvergewisserung und Abgrenzung, und welche Rückschlüsse auf die Unterschiede historisch-struktureller Rahmenbedingungen läßt dies in den vier untersuchten Fällen zu? Die Vorteile des typologisierenden Vergleichs liegen dabei vor allem in der Möglichkeit, zwischen allgemeinen Entwicklungstendenzen und je besonderen Umbruchsphasen zu unterscheiden. Allerdings bedingt der unternommene alogue and Recognizing an Achievement. Α Washington Conference on the Geschichtliche Grundbegriffe, in: Archiv für Begriffsgeschichte 39 (1996), S. 19-26. 30 ) Vgl. Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/M. 2003. 31 ) Vgl. Quentin Skinner: Reply to my Critics, in: James Tully (Hrsg.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, Princeton 1988, S. 283. 32 ) Vgl. Philippe Buton (Hrsg.): La guerre imaginee, Paris 2002.

3. Methodisch-analytisches Programm und Operationalisierung

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Vierländervergleich auch eine notwendige Konzentration auf einen Erfahrungsbegriff, der sich auf Deutungen, Entwürfe und Imaginationen konzentriert, in denen historische Erfahrungen aber keinesfalls aufgehen. Andere symbolische, rituelle oder künstlerisch-literarische Wahrnehmungs- und Deutungsebenen und ihre Medien, aber auch die unmittelbare Wahrnehmungsperspektive, etwa in schriftlichen Selbstzeugnissen, bleiben ausgeblendet, weil der Vierländervergleich über einen langen Zeitraum sonst nicht zu leisten wäre. Deshalb darf diese Untersuchung nicht am Maßstab einer komparativen histoire totale gemessen werden; sie bietet einen möglichen typologischen Vergleich von Deutungsgeschichten im Längsschnitt an, der sich auf eine Ebene der Erfahrungsdeutung konzentriert. b) Wahrnehmung, Erinnerung und Antizipation: Die Ebenen der Erfahrungsdeutung und ihre Sedimentierung in Quellenzeugnissen Die Chance von Längsschnitt und Vergleich besteht darin, drei verschiedene Zeitebenen von Erfahrungsaneignungen zu berücksichtigen. Die Unterscheidung dieser drei Ebenen, die sich aus dem kognitiven Abstand zum wahrgenommenen Ereignis ergeben, ist deshalb wichtig, weil sich nur so der langfristige argumentative Wandel erfassen läßt: 1. Wahrnehmung und Deutung unmittelbarer Erfahrung: Diese Ebene beschreibt den direkten Eindruck und die unmittelbare Empfindung, die von einem Ereignis ausgehen und einen Prozeß der deutenden Aneignung auslösen. Hier sind besonders emotional-afFekthafte Reaktionen und weniger differenzierende Reflexionen zu erwarten. Bereits diese unmittelbare Erfahrungsdeutung basiert auf Selektionsmechanismen, bei denen bestimmte Wahrnehmungsgegenstände berücksichtigt, andere ausgesteuert werden und in deren Folge es zu einer Hierarchisierung von Interpretamenten kommt. 2. Erinnerung bezeichnet einen durch individuelle Erziehung und kollektive Sozialisation geformten Gedächtnisinhalt, ein Reservoir sedimentierter Deutungsmuster, die im Abstand zu einem Ereignis abgerufen werden. Vorhandene Deutungsmuster werden mit neuen Erfahrungsinhalten abgeglichen, was zur Bestätigung, Neuausrichtung oder Erweiterung des Deutungswissens beiträgt. Die zeitliche und kognitive Distanz zum Ereignis ist hier deutlich größer als auf der Ebene der bloßen Wahrnehmung und ersten Erfahrungsdeutung. Erinnerungsprozesse sind von Erwartungshaltungen und Projektionen geprägt, welche die Deutung des Ereignisses beeinflussen. Zudem sind Selektionsmechanismen bei der Auswahl vorhandener Interpretamente und bei der Erweiterung des Deutungswissens von großer Bedeutung.33) ") Vgl. Helmut BerdingfKlaus HellerlWinfried Speitkamp (Hrsg.): Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000; Johannes Burkhardt (Hrsg.): Krieg und Frieden in der Historischen Gedächtniskultur. Studien zur friedens-

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I. Einleitung

3. Antizipation: Die Vorstellung eines zukünftigen Ereignisses aus dem Deutungswissen der Gegenwart wird häufig von Erinnerungen vergangener Ereignisse angeregt, geht aber über diese sinnhafte Aneignung der Vergangenheit hinaus. Erinnerungsbestandteile und Erwartungsprojektionen überlagern sich in der deutenden Vorwegnahme des Ereignisses.34) Idealtypisch lassen sich diesen drei Ebenen bestimmte Quellenkategorien zuordnen, aus denen sich die empirische Basis dieser Untersuchung ergibt. In der Praxis der komparativen Untersuchung berühren sich diese Ebenen der Erfahrungsdeutung und entsprechend auch die ihnen zuzuordnenden Quellengattungen allerdings häufig. Dabei ist der Längsschnitt im Rahmen einer Vierländerstudie nur dann zu leisten, wenn die Quellengrundlage sinnvoll eingegrenzt wird. Das Problem ist keinesfalls die reiche Überlieferung von Zeugnissen, die als Kriegspublizistik unmittelbar auf Kriegserfahrungen rekurrierten oder diese im zeitlichen Abstand im Hinblick auf Nationskonzeptionen deuteten, sondern vielmehr eine Auswahl, die nicht bei Meistererzählungen oder ideengeschichtlichen Kriegsdeutungen stehenbleiben darf. Es geht nicht nur um den signifikanten Einzelbeleg, sondern um Aussagen zur Repräsentativität von Kriegsdeutungen in den unterschiedlichen Kontexten. Um diese repräsentative Quellenbasis zusammenzustellen, wurden zunächst die nationalbibliographischen Kataloge Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten einer systematischen Titelsuche unterzogen, wobei auf ein Raster von themen- und argumentspezifischen Wortfeldern und Ausdrücken zurückgegriffen wurde.35) Bei dieser umfassenden Recherche wurden grundsätzlich alle Quellengattungen, vor allem Monographien, Essays, Traktate, Predigten, Bro-

politischen Bedeutung historischer Argumente und Jubiläen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2000, sowie Edgar Wolfrum: Krieg und Frieden in der Erinnerung. Zum Verhältnis von Geschichtskultur, Friedensfertigkeit und Bellizismus vom Ancien Regime bis zum Zeitalter der Weltkriege und der Dekolonisation, in: Benjamin Ziemann (Hrsg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2000, S. 303-340. 34 ) Vgl. Ignatius F. Clarke: Forecasts of Warfare in Fiction 1803-1914, in: CSSH 10 (1967), S. 1-25, sowie Ders.: Voices Prophesying War. Future Wars 1763-3749 [sic!], Oxford 1992. 35 ) In allen vier Fällen wurden die Kataloge - im Falle Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten die digitalisierten Gesamtkataloge der Bibliotheque nationale de France in Paris, der British Library in London, ergänzt um die Bodleian Library in Oxford, und der Library of Congress in Washington D.C. - vor allem im Hinblick auf die Wortfelder guerre/Krieg/war, militaire/Militär/military, soldat/Soldat/soldat sowie nation/Nation/nation, peuple/Volk/people, patriot/Patriot/patriot sowie patrie/Vaterland/fatherland und weitere Ausdrücke wie Nationalkrieg, Völkskrieg, Nation in Waffen, Volk in Waffen und die entsprechenden nationalsprachlichen Äquivalente ausgewertet. Im Falle Deutschlands wurden ähnliche systematische Titelrecherchen mit den vorhandenen Katalogen der Bayerischen Staatsbibliothek München und der Staatsbibliothek zu Berlin durchgeführt, ergänzt um die systematische Durchsicht der älteren Realkataloge. Sämtliche der Auswertung zugrundeliegenden Kataloge, Indices und Spezialbibliographien sind im Quellen- und Literaturverzeichnis aufgeführt.

3. Methodisch-analytisches Programm und Operationalisierung

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schüren, Flugblätter sowie Zeitschriften- und Zeitungsartikel, berücksichtigt. Aus den so dokumentierten Texten, ergänzt durch die Auswertung von Spezialbibliographien und Indices, wurde eine Auswahl getroffen, bei der gemäß der methodischen Konzeption der Arbeit alle Quellen ausgewertet wurden, die das Verhältnis zwischen Kriegserfahrungen und Nationskonzepten thematisierten und von denen auf das zeitgenössische Spektrum des bellizistischen Deutungswissens geschlossen werden konnte. Idealtypisch lassen sich den oben skizzierten Ebenen der Erfahrungsdeutung folgende Quellengattungen zuordnen, die sich nicht allein nach ihren Bezügen zu den Wahrnehmungen, sondern auch nach den ihnen zugrunde liegenden spezifischen Kommunikationssituationen unterscheiden lassen: 1. Deutung von Kriegserfahrungen im unmittelbaren Kontext von Kriegsereignissen: Hier dominieren die direkten Reaktionen von Politikern, meinungsbildenden und -fuhrenden Publizisten, Journalisten und Schriftstellern in Briefen, Erlassen, Memoranden und Zeitungsartikeln. Hinzu kommen im Sinne der sozialen Breitenwirkung zeitgenössische Flugblätter, kürzere Essays, Broschüren, Traktate und vor allem Kriegspredigten. Kommunikationsspezifisch an diesen Quellen ist vor allem ihre Situationsbezogenheit, das heißt die Prägung durch die unmittelbare Wahrnehmungssituation, die in vielen Fällen die Argumentationsrichtung vorschreibt. Der Deutungszusammenhang bleibt zunächst der Krieg selbst; das schließt das kritische Nachdenken über die Nachkriegsphase nicht aus, doch steht dies nicht im Vordergrund. 2. Kriegsdeutungen im zeitlichen Abstand zu Kriegsereignissen: In diese Kategorie fallen die stärker systematisierenden und reflektierenden Äußerungen von Politikern und Publizisten sowie die zeitgenössische kriegs- und militärwissenschaftliche Literatur. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fallen auch zunehmend die Beiträge der Gesellschaftswissenschaften und der pazifistischen und antimilitaristischen Bewegungen ins Gewicht. Hinzu treten Autobiographien *und populäre Kriegsdarstellungen sowie Wörterbücher und Lexika, die langfristige Veränderungen im vergangenen Deutungswissen abbilden. Die Kommunikationssituation ist von der Reflexion und einem breiteren Spektrum an Kriegsdeutungen geprägt. Aber auch hier spielt die situative Deutung eine wichtige Rolle, weil in ritualisierten Kriegserinnerungen, etwa an Gedenktagen, die Publikumserwartung entscheidenden Einfluß auf die Argumentationsstrategie hat. Gegenüber der Imagination der Nation aus der Erfahrungsdeutung tritt das konkrete Kriegsereignis zurück. Aus dem kognitiven und zeitlichen Abstand zum unmittelbaren Ereignis ergibt sich zugespitzt formuliert eine Tendenz zur retrospektiven Teleologie, also zur sinnhaften Ausrichtung von Interpretamenten auf ein im Krieg manifestiertes scheinbar unausweichliches Ziel aus der Perspektive der Nachkriegsphase. 3. Kriegsantizipationen: Diese Ebene, rein quantitativ erheblich schwächer ausgeprägt als die beiden vorangehenden, wird vor allem in fachwissenschaft-

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I. Einleitung

lichen Monographien und vereinzelt auch in politischen und gesellschaftlichen Stellungnahmen zu möglichen Kriegsszenarien der Zukunft faßbar. Kommunikationstheoretisch verdichten solche Antizipationen die aus Erfahrungsdeutungen gewonnenen Interpretamente und wenden sie auf eine zukünftige Entwicklung an. Das zurückliegende Kriegsereignis wirkt lediglich als Katalysator und Anlaß. Die Projektion erlaubt die Integration zahlreicher Erwartungselemente, die aus dem Deutungswissen der Gegenwart abgeleitet werden. 4. Als wichtiges Bindeglied zwischen diesen Ebenen wurden als serielle Quellen neben einem Spektrum repräsentativer politischer Zeitschriften auch kriegs- und militärwissenschaftliche Zeitschriften unter Verwendung vorhandener thematischer Indices der vier untersuchten Länder ausgewertet. Damit wird der wachsenden Bedeutung der politischen und der Fachöffentlichkeit für den Zusammenhang von Kriegserfahrungen und Nationskonzepten Rechnung getragen. c) Entwicklungsmodell, Untersuchungsfelder und Gliederungsprinzipien: Von der frühneuzeitlichen Kriegsdeutung zu den bellizistischen Umbrüchen der Moderne Der Untersuchung liegt ein diachrones Verlaufsmodell zugrunde, das die Gliederung der Arbeit bestimmt. Dieses Modell mittlerer Reichweite soll keine Ergebnisse antizipieren, sondern sinnvolle chronologische und thematische Untersuchungsfelder definieren, innerhalb derer der systematische Vergleich geleistet wird. Es muß sich an thematischen und chronologischen Kriterien orientieren, die allgemein genug sind, um auf alle vier Fälle angewandt werden zu können, und zugleich ergebnisoffen genug sein, um die Unterschiede zwischen den untersuchten Fällen klar konturieren zu können. Nach diesem Modell läßt sich der Untersuchungszeitraum in insgesamt fünf Phasen gliedern: 1. Vorprägung von Erfahrungsdeterminanten der Kriegsdeutung bis 1750: Die Phase bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ist keine bloße Vorgeschichte bellizistischer Nationsvorstellungen, sondern dokumentiert die Vörprägung argumentativer Zusammenhänge zwischen Krieg, Staat, Herrschaft und Gemeinschaftsvorstellungen seit der Antike, aber auch die Ausdifferenzierung von Selbst- und Feindbildern, auf die in späteren Phasen immer wieder rekurriert wurde. Nur so können Persistenzen und Kontinuitäten von Deutungsgeschichten erkannt und die unterschiedlichen Erfahrungszeiten und Umbrüche der vier Fälle identifiziert werden. Das gilt vor allem im Hinblick auf die Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts. 2. Patriotische Sinnzuweisung und revolutionäre Ideologisierung (17501815): Dieser Zeitraum wird als erste bellizistische Umbruchsphase verstanden, in der sich aufgrund verdichteter Kriegswahrnehmungen in allen vier Fäl-

3. Methodisch-analytisches Programm und Operationalisierung

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len neue national bestimmte Kriegsdeutungen herausbildeten.36) Dieser Rahmen wurde von einer neuartigen Tektonik staatlicher Bedürfnisse und partizipatorischer Ansprüche bestimmt und beruhte auf der emotionalen Verklärung und patriotischen Durchdringung von Kriegswahmehmungen seit dem Siebenjährigen Krieg. Dies setzte sich im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und den Revolutionskriegen seit 1792 in einer revolutionären Ideologisierung des Gewalt- und Kriegsbegriffes fort. In dieser Phase kam es zur Kopplung zwischen Nationskonzepten und Kriegsdeutungen, die zwar noch auf ältere Vorstellungen zurückgriff, sie aber transzendierte und neue Legitimationsmuster kollektiver und staatlicher Gewalt hervorbrachte. Dazu gehörte die Zuspitzung von Selbst- und Feindbildern. Was diese Phase von der vorangehenden unterschied, waren die Inhalte der Kriegsdeutungen und Nationsbestimmungen sowie die veränderten Rahmenbedingungen in den Medien und der Öffentlichkeit, die fur bellizistische Argumentationsweisen erhebliche Bedeutung erlangten. 3. Der Versuch der Restauration des agonalen Kriegsparadigmas (18151854): Die dritte Untersuchungsphase war von der postrevolutionären Wirklichkeitsdeutung nach den Kriegserfahrungen bis 1815 geprägt. Europäische und amerikanische, aber auch kontinentaleuropäische und angloamerikanische Deutungsmuster liefen nun auseinander. In diesem Zeitraum, der zumindest in Europa von einer längeren Friedensepoche gekennzeichnet war, trat die unmittelbare Kriegswahrnehmung hinter Erinnerung und Antizipation zurück. Für die Vereinigten Staaten ist zu fragen, inwiefern die spezifischen Kriegserfahrungen dieser Zeit überhaupt in das Schema eines agonalen Kriegsparadigmas passen, das primär aus europäischen Zusammenhängen stammte. 4. Die Transzendierung von Staaten- und Bürgerkriegen in National- und Volkskriege (1854-1871): Gekennzeichnet vom Krimkrieg 1854/56, den Konflikten um die Nationalstaatsbildung in Italien 1859/61 und Deutschland 1866— 71 sowie um die Einheit der amerikanischen Union 1861-65, ist diese zweite bellizistische Umbruchsphase von heterogenen Kriegstypen, vor allem aber von intensivierten Kriegserfahrungen in allen vier untersuchten Gesellschaften geprägt, deren Legitimationsmuster in verschiedener Weise auf Nation und Nationalstaat rekurrierten. In der Verdichtung bellizistischer Wahrnehmungen und Deutungen veränderten sich die überkommenen Kategorien von Staaten- und Bürgerkriegen gegenüber den neuen Bestimmungen von National- und Volks36

) Vgl. zur Sattelzeit Reinhart Koselleck·. Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Grundbegriffe der Neuzeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 81-99; Ders.: Einleitung, in: Otto Brunner!Werner Cowze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 7 Bde. und 2 Registerbde., Stuttgart 1972-97, hier: Bd. 1, S.XIII-XXVII; Ders.: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte (1972), in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1992, S. 107-129, sowie Ders.: Response, S. 69.

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I. Einleitung

kriegen, was mit der Radikalisierung ideologischer Selbst- und Feindbilder einherging. Wo lagen aber die Grenzen dieser Neuausrichtung? Welche besonderen Interpretationsrichtungen verbanden sich damit? Auch fur diesen Zeitraum ist wie für die erste bellizistische Umbruchsphase auf die Dynamisierung von Diskursen und die Veränderung von Rezeptions- und Kommunikationsbedingungen in einer von neuen Massenmedien charakterisierten Öffentlichkeit hinzuweisen, die Kriegsdeutungen und Nationsbestimmungen eine immer größere gesellschaftliche Wirkung sicherten. 5. Nationaler Bellizismus und bellizistischer Nationalismus vor 1914 - Von der Erfahrungsdeutung zur Antizipation des künftigen Krieges: In dieser Phase, die in einem Ausblick behandelt werden soll, überlagerten sich die Kriegsdeutung aus der Erinnerung an die zweite bellizistische Umbruchsphase und die aus dieser Erinnerung entwickelte Antizipation des zukünftigen Krieges mit seinen erwarteten Konsequenzen fur Staat, Gesellschaft und Nation. Die Ideologisierung des Krieges im Zeichen eines vom Gedanken des Kampfes durchdrungenen Nationsverständnisses erreichte in dieser Zeit ihren Höhepunkt; nationaler Bellizismus und bellizistischer Nationalismus verschränkten sich und bildeten die Spannungen der Industriegesellschaften ab. Für Großbritannien und die Vereinigten Staaten kamen mit dem Burenkrieg und dem SpanischAmerikanischen Krieg neue Erfahrungsmomente hinzu, die aus den imperialen und industriegesellschaftlichen Bezügen zu erfassen sind.

4. Forschungsfelder und Desiderate: Von der Kriegs- und Militärgeschichte zum Bellizismus als Deutungsgeschichte des Krieges Während die Literatur der historischen Kriegs- und Militärforschung sowie der Nationalismusforschung kaum mehr zu überblicken ist, ist der Zusammenhang von Krieg und Nation erst in der jüngeren Forschung thematisiert worden.37) Dabei stehen einzelstaatliche Untersuchungen im Vordergrund, so daß fur die Vorbereitung eines systematischen Vergleichs auch andere Forschungsfelder berücksichtigt werden müssen. Im Gegensatz zur klassischen Militär- und Kriegsgeschichte, in der taktische und strategische Lehren aus Kriegen sowie waffentechnische Veränderungen im Mittelpunkt stehen, hat sich die moderne Militärgeschichte und die in Deutschland seit den 1970er Jahren expandierende Historische Friedensforschung um eine Öffnung des Themenfeldes gegenüber

37

) Vgl. zur Nationalismus-Forschung Jörn LeonhardfUhike von Hirschhausen: Europäische Nationalismen im West-Ost-Vergleich: Von der Typologie zur Differenzbestimmung, in: Ulrike von Hirschhausen/iöm Leonhard (Hrsg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001, S. 11-45.

4. Forschungsfelder und Desiderate

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politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten bemüht.38) Der Krieg wird nicht mehr allein aus seiner im engeren Sinne militärischen Sphäre, sondern aus der Verschränkung von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verstanden. Für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Kriegsdeutungen und Nationskonzepten lassen sich auf vier Ebenen der historiographischen Entwicklung wichtige methodische und inhaltliche Ansatzpunkte für das Untersuchungsprogramm dieser Arbeit erkennen. Die Ausdifferenzierung dieser Themenbereiche reflektiert auch die Wirkungen, die von der inhaltlichen Öffnung der Kriegs- und Militärgeschichte ausgegangen sind. Am wenigsten gilt dies zunächst für die klassische ideen- und rechtsgeschichtliche Forschung, deren Ursprünge vor den 1980er Jahren liegen und die aufgrund ihrer Methoden und Quellenzugriffe mit lediglich zufalligen Rekursen auf politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen auskommt. Eine Ausnahme stellt die Militarismusforschung dar, weil hier die Beziehungen zwischen Militär und ziviler Sphäre und damit von vornherein gesellschaftliche sowie politische Determinanten mit einbezogen wurden. Hier sind über die deutsche Forschung hinaus vor allem in der angloamerikanischen Literatur wichtige Ansätze zu finden.39) Für die Deutungsgeschichte des Krieges liefern diese Arbeiten unverzichtbare Hinweise, auch wenn sich die meisten aus-

38

) Vgl. Edgar Wolfrum: Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2002; vgl. weiterhin Wolfram Wette (Hrsg.): Der Krieg des kleinen Mannes: Eine Militärgeschichte von unten, München 1992; Ders.: Friedensforschung, Militärgeschichtsforschung, Geschichtswissenschaft. Aspekte einer Kooperation, in: APuZ B7/74, S. 3-29; Thomas Ä^ö/ine/Benjamin Ziemann (Hrsg.): Was ist Militärgeschichte, Paderborn 2000; Dies.: Militärgeschichte in der Erweiterung. Konjunkturen, Interpretationen, Konzepte, in: ebd., S. 9—46; Gerd Krumeich: Sine ira et studio? Ansichten einer wissenschaftlichen Militärgeschichte, in: ebd., S. 91-102; Ders.: Militärgeschichte für eine zivile Gesellschaft, in: Christoph Cornelissen (Hrsg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einfuhrung, Frankfurt/M. 2000, S. 178-193; Roger Chickering: Militärgeschichte als Totalgeschichte im Zeitalter des totalen Krieges, in: Kühne/Ziemann (Hrsg.): Militärgeschichte, S. 301-312; Ralf Pröve: Vom Schmuddelkind zur anerkannten Subdisziplin? Die ,neue Militärgeschichte' der Frühen Neuzeit Perspektiven, Entwicklungen, Probleme, in: GWU 51 (2000), S. 597-612. " ) Vgl. Samuel Huntington: The Soldier and the State. The Theory and Politics of Civil-Military Relations, Cambridge/MA. 1957; Alfred VagIs: A History of Militarism. Civilian and Military, London 1959; Volker Berghahn (Hrsg.): Militarismus, Köln 1975; Ders. : Militarism: The History of an International Debate, 1861-1979, New York 1982; Werner ConzelMichael Geyer: Militarismus, in: BrunnerlConze!Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 1^17; Rebecca L. Schiff: Civil-Military Relations Reconsidered: A Theory of Concordance, in: Armed Forces & Society 22 (1995), S. 7-24, sowie Wolfram Wette (Hrsg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871 bis 1945, Berlin 2005; vgl. auch die spezielle Literatur für die vier untersuchten Fälle.

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I. Einleitung

schließlich auf die deutsche Geschichte beziehen und vergleichende Arbeiten zu Kriegsdeutungen in anderen Kontexten fehlen. 40 ) Ein zweites Forschungsfeld, mit dem sich das Thema dieser Untersuchung berührt, behandelt die Beziehung zwischen Krieg und Staatsbildungsprozessen.41) Diese Untersuchungsperspektive hat wesentliche Impulse von der in den 1970er Jahren entwickelten Modernisierungstheorie erhalten und die Funktion von Kriegen bei der Herausbildung des modernen Staates untersucht. Die innere Staatsbildung hatte mit der Notwendigkeit zu tun, durch staatliche Institutionen die finanziellen und gesellschaftlichen Ressourcen für Kriege zu mobilisieren. Hier wirkte der Krieg als Ursprung und Katalysator fur den modernen Anstalts- und Verwaltungsstaat und war Bestandteil einer umfassenden strukturellen Herrschaftsverdichtung durch neue Institutionen und Legitimationsmuster staatlichen Handelns. 42 ) Zum anderen kam es in Europa zwischen 1500 und 1914 zu einer Reduzierung der ursprünglich etwa 500 territorial-politischen Einheiten auf 20 bis 30 Staaten zum Zeitpunkt des Ersten Weltkrieges, wobei sich in Mitteleuropa vor allem zwischen 1792 und 1815 eine erhebliche Herrschaftsverdichtung auf der Grundlage von Staatsreformen, institutioneller Integration und der Zentralisierung von Staatsmacht abzeichnete. 43 ) Auch die 40

) Vgl. Wilhelm Janssen: Frieden, in: BrunnerlConzel'Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 2, S. 543-591; Wilhelm Janssen: Krieg, in: ebd., Bd.3, S. 567-615; O. KimmenichlΕ. A. Nohn: Krieg, in: Joachim Λ/ifer/Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.4, Basel 1976, Sp. 1230-1235; Jehuda L. Wallach: Kriegstheorien. Ihre Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1972, sowie Ulrike Kleemeier: Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges. Über die Konzeptionen von Piaton, Hobbes und Clausewitz, Berlin 2002; vgl. auch Diethelm A7ippe//Michael Zwanzger: Krieg und Frieden im Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Werner Rösener (Hrsg.): Staat und Krieg. Vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000, S. 136-155, sowie Otto Kimmenich: Der gerechte Krieg im Spiegel des Völkerrechts, in: Reiner Steinweg (Redaktion), Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus, Frankfurt/M. 1980, S. 206-223. 41 ) Vgl. Reinhard Bendix (Hrsg.): State and Society, Berkeley 1973, Kapitel D und E; J. H. Shennan: The Origins of the Modern European State 1450-1725, London 1974, sowie vor allem die Beiträge in Rösener (Hrsg.): Staat. 42 ) Vgl. Ronald G. Asch: Kriegsfinanzierung, Staatsbildung und ständische Ordnung in Westeuropa im 17. und 18. Jahrhundert, in: HZ 268 (1999), S. 635-671; Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfangen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 343 ff.; Ute Planert: Staat und Krieg an der Wende zur Moderne. Der deutsche Südwesten um 1800, in: Rösener (Hrsg.): Staat, S. 159-80, sowie Jörn Leonhard: The Rise of the Leviathan - The State in the Nineteenth Century, in: Stefan Berger (Hrsg.): A Companion to Nineteenth-Century Europe (1789-1914), Blackwell Companions to European History, Oxford 2006, S. 137-148. 43 ) Vgl. Jörn Leonhard: Staatsbildung und Reformpolitik: Reitzenstein und Montgelas - Eine Doppelbiographie, in: Armin ÄTo/m/e/Frank Engehausen/Frieder Hepp/Cari-Ludwig Fuchs (Hrsg.): „... so geht hervor ein' neue Zeit". Die Kurpfalz im Übergang an Baden 1803. Begleitband zur Ausstellung im Kurpfälzischen Museum Heidelberg, Ubstadt-Weiher 2003, S. 73-86.

4. Forschungsfelder und Desiderate

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besondere Bedeutung frühmoderner Staatsbildungskriege hat die Forschung eindrucksvoll herausgearbeitet.44) Die doppelte Dimension des Krieges als Katalysator innerer und äußerer Staatsbildung hat Charles Tilly prägnant resümiert: „War made the state, and the state made war".45) Auch hinter der Frage nach der Entwicklung des Nationalstaates im langen 19. Jahrhundert als Gehäuse der Nation stand eine doppelte Herausforderung: Einmal gehörte zur äußeren Nationalstaatsbildung die kriegerische Etablierung und Durchsetzung von Nationalstaaten durch Sezession und Integration wie im Falle des kleindeutschen Nationalstaates zwischen 1866 und 1871. In diesem Kontext steht auch die moderne Kriegsursachenforschung, die nach den Kontinuitäten und Brüchen von Kriegsgründen fragt.46) Daneben betraf die innere Nationsbildung neue und etablierte Nationalstaaten wie Frankreich und Großbritannien und zwang ihre Gesellschaften dazu, neue Selbstdeutungen durch die Aneignung von Kriegserfahrungen zu entwickeln und zu kommunizieren. Ein dritter Bereich der Historiographie, der für diese Untersuchung wichtige Anhaltspunkte liefert, ist die Analyse des Zusammenhangs von Krieg und gesellschaftlichen Entwicklungen. Wie auch die Untersuchungen zu Krieg und Staatsbildungsprozessen sind diese Ansätze zunächst von modernisierungstheoretischen Prämissen angeregt worden und haben sich auf die Frühe Neuzeit sowie auf das 19. und 20. Jahrhundert konzentriert.47) Dabei standen die ErfahVgl. Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg als moderner Staatsbildungskrieg, in: GWU 45/8 (1994), S. 487^99; I. Α. A. Thompson: War and Government in Habsburg Spain 1560-1620, London 1976; Michael Hochedlinger: Austria's Wars of Emergence: War, State & Society in the Hapsburg Monarchy 1683-1797, London 2003, sowie Claire Gantet: Guerre, paix et construction des Etats, 1618-1714, Paris 2003, S. 119 ff. 45 ) Charles Tilly (Hrsg.): The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975; Ders.: Reflections on the History of European State-Making, in: Ders. (Hrsg.): Formation, S.3-83, hier: S.42, sowie Ders.: States and Nationalism in Europe 14921992, in: John L. Comaroff/Paul C. Stern (Hrsg.): Perspectives on Nationalism and War, Amsterdam 1995, S. 187-204; vgl. Wolfrum: Krieg, S.66f. *") Vgl. Johannes Burkhardt: Alte oder neue Kriegsursachen? Die Kriege Bismarcks im Vergleich zu den Staatsbildungskriegen der Frühen Neuzeit, in: Walther L. Berneckerl Volker Dotterweich (Hrsg.): Deutschland in den internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts, FS. für Josef Becker zum 65. Geburtstag, München 1996, S.4369; Johannes Burkhardt et al. (Hrsg.): Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg: Vier Augsburger Beiträge zur Kriegsursachenforschung, München 1996; Ders.: Kriegsgrund Geschichte? 1870, 1813, 1756 - historische Argumente und Orientierungen bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: ebd., S.9-86, sowie Bernd Wegner (Hrsg.): Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten, Paderborn 2000. 47 ) Vgl. George N. Clark: War and Society in the Seventeenth Century. The Wiles Lectures, Belfast 1956, Cambridge 1958; J. V. Polisensky: Der Krieg und die Gesellschaft in Europa 1618-1648, Wien 1971; John Williams: The Other Battleground: The Home Fronts: Britain, France, and Germany, 1914-1918, Chicago 1972; C. Harvie: War and Society in the 19th Century, Bletchley 1973; M. R. D. Foot (Hrsg.): War and Society.

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I. Einleitung

rung der beiden Weltkriege und der mit ihnen verbundene tiefgreifende Wandel europäischer Gesellschaften durch die gesteigerte Mobilisierung von sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen im Zentrum. In diesem Bereich hat sich der komparative Ansatz am frühesten durchgesetzt, um zwischen allgemeinen Trends und spezifischen Ausprägungen zu unterscheiden. Die unterschiedlichen Entwicklungsmuster europäischer Gesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg werden vor allem zur Erklärung der ideologischen Polarisierungen herangezogen. Aus dieser Forschungsrichtung haben sich zwei Themenfelder entwickelt, an denen die Öffnung der traditionellen Militär- und Kriegshistoriographie exemplarisch sichtbar wird. In der Erforschung der Wehrpflicht steht vor allem der Zusammenhang von Loyalitätsverpflichtung und Partizipationserwartungen im Zentrum.48) Im Falle der fruchtbaren Verknüpfung von neuer Kriegsgeschichte und geschlechterhistorischen Fragen konnte überzeugend herausgearbeitet werden, wie in zeitgenössische Nationsdeutungen im-

Historical Essays in Honour and Memory of J. R. Western, New York 1973; Arthur Marwick: War and Social Change in the Twentieth Century. A Comparative Study of Britain, France, Germany, Russia and the United States, London 1974; Richard A. Preston!Sydney F. Wise: Men in Arms. A History of Warfare and Its Interrelationships with Western Society, 4. Aufl. New York 1979, S. 179-294; W. H. McNeill·. Krieg und Macht. Militär, Wirtschaft und Gesellschaft vom Altertum bis heute (1983), München 1984; Martin Edmonds: Armed Services and Society, Leicester 1988; Arthur Marwick (Hrsg.): Total War and Social Change, New York 1988; Clive Emsley/Arthur MaverickfWendy Simpson (Hrsg.): War, Peace and Social Change in Twentieth-Century Europe, Milton Keynes 1989; Arthur Marwick!Bernard Waits!Clive Emsley!John Golby: War and Peace in Twentieth-Century Europe, Buckingham 1990; Arthur Marwick/Wendy Simpson (Hrsg.): War, Peace and Social Change: Europe 1900-1955. Documents 1: 1900-1929, Buckingham 1990; Barton C. Hacker: Military Institutions and Social Order: Transformations of Western Thought since the Enlightenment, in: War and Society 11/2 (1993), S. 1-23; Ute Frevert (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1997, sowie Dies.: Gesellschaft und Militär im 19. und 20. Jahrhundert: Sozial-, kulturund geschlechtergeschichtliche Annäherungen, in: Dies. (Hrsg.): Militär, S. 7-14. 4S ) Vgl. V. G. Kiernan: Conscription and Society in Europe before the War of 1914-18, in: Foot (Hrsg.): War, S. 141-58; Roland G. Foerster (Hrsg.): Die Wehrpflicht: Entstehung, Formen und politisch-militärische Wirkung, München 1994; Stig Förster: Militär und staatsbürgerliche Partizipation. Die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Kaiserreich, 1871-1914, in: ebd., S. 55-70, sowie für Deutschland vor allem Ote Frevert: Das jakobinische Modell: Allgemeine Wehrpflicht und Nationsbildung in Preußen-Deutschland, in: Dies. (Hrsg.): Militär, S. 17-47, sowie Dies. : Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001; vgl. Joshua A. Sanborn: Drafting the Russian Nation. Military Conscription, Total War, and Mass Politics, 19051925, DeKalb 2003; Werner Benecke: Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874-1914, Paderborn 2006, sowie Jörn LeonhardiUlrike von Hirschhausen (Hrsg.): Multi-Ethnic Empires and the Military: Conscription in Europe between Integration and Disintegration, 1860-1918, Journal of Modern European History 5/2 (2007), München 2007, sowie Dies.: Does the Empire strike back? The Model of the Nation in Arms as a Challenge for Multi-Ethnic Empires in the Nineteenth and Early Twentieth Century, in: ebd., S. 196-223.

4. Forschungsfelder und Desiderate

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mer auch geschlechtsspezifische Rollenmuster einflossen. Ausgehend von früheren angloamerikanischen Ansätzen ist die Verbindung von Geschlechtergeschichte und neuer Kriegs- und Militärgeschichte inzwischen auch in Deutschland ein etablierter Bestandteil der Forschung. 49 ) Schließlich sind auf einer vierten Ebene Arbeiten zu berücksichtigen, welche den engeren Zusammenhang zwischen Kriegserfahrungen und der Entwicklung von Nation, Nationalstaat und Nationalismus untersuchen. Anthony Smith hat den Krieg in diesem Zusammenhang als „mobilizer of ethnic sentiments and national consciousness, a centralizing force in the life of the community and a provider of myths and memories for future generations" bezeichnet. 50 ) Auch in diesem Forschungsfeld ist in zahlreichen Arbeiten seit den 1970er Jahren ein modernisierungstheoretischer Ansatz zu erkennen, wo es um den Zusammenhang von modernisierter Kriegführung und Nationalismus geht. 51 ) 49

) Vgl. Arthur Marwick: Women at War, London 1977; Maurine Weiner Greenwald: Women, War and Work, Westport 1980; Judith Hicks Stiehm: The Protected, the Protestor, the Defender, in; Dies. (Hrsg.): Women and Men's Wars, New York 1983, S. 367376; Margaret R. Higonnet /Patrice L.-R. Higonnet: The Double Helix, in: Margaret Randolph Higonnetßaae. Jenson/Sonya Michael/Margaret Collins Weitz (Hrsg.): Behind the Lines: Gender and the Two World Wars, New Haven 1987, S. 31-47; Jean Bethke Elshtain: Women and War, New York 1987; Nancy C. M. Hartsock: Masculinity, Heroism, and the Making of War, in: Adrienne Harris/Ynestra King (Hrsg.): Rocking the Ship of State. Toward a Feminist Peace Politics, San Francisco 1989, S. 133-152; Jean Bethke Elshtain/Sheila Tobias (Hrsg.): Women, Militarism and War: Essays in History, Politics, and Social Theory, Savage 1990, sowie Angela Woollacott: Sisters and Brothers in Arms: Family, Class, and Gendering in World War I Britain, in: Miriam Cooke/ Angela Woollacott (Hrsg.): Gendering War Talk, Princeton 1993, S. 128-147; für Deutschland vgl. vor allem Claudia Opitz: Der Bürger wird Soldat - und die Bürgerin?, in: Victoria Schmitt-Linsenhoff (Hrsg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760-1830, Frankfürt/M. 1989, S.38-54; Claudia Opitz: Von Frauen im Krieg zum Krieg gegen Frauen. Krieg, Gewalt und Geschlechterbeziehungen in historischer Sicht, in: L'Homme 3/1 (1992), S.31-44; Dirk A. Reder: „Natur und Sitte verbieten uns, die Waffen der Zerstörung zu führen ...". Patriotische Frauen zwischen Frieden und Krieg, in: Jost Dülffer (Hrsg.): Kriegsbereitschaft und Friedensordnung in Deutschland 1800-1914, Münster 1995, S. 170-182; Ute Frevert: Nation, Krieg und Geschlecht im 19. Jahrhundert, in: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hrsg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland, München 1996, S. 151-170; Karen Hagemann: Nation, Krieg und Geschlechterordnung. Zum kulturellen und politischen Diskurs in der Zeit der antinapoleonischen Erhebung Preußens 1806-1815, in: GG 22/4 (1996), S. 562591, sowie Dies.: Venus und Mars. Reflexionen zu einer Geschlechtergeschichte von Militär und Krieg, in: Dies./Ralf Pröve (Hrsg.): Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, Frankfurt/M. 1998, S. 13-48. 50

) Anthony D. Smith: National Identity, London 1991, S.27. ) Vgl. Volker R. Berghahn: Militär, industrielle Kriegführung und Nationalismus, in: NPL 26/1 (1981), S. 20-41, sowie zur Anwendung der Modernisierungstheorie auf Europa Samuel E. Finer: The Man on Horseback, London 1962; Ders.: State- and NationBuilding in Europe: The Role of the Military, in: Tilly (Hrsg.): Formation, S. 84-163; Reinhard Bendix: Nation-Building and Citizenship, New York 1964; Ders.: Kings or 51

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I. Einleitung

Konzentrierte sich die Forschung lange Zeit vor allem auf das Militär als Faktor der inneren Nationsbildung und den Krieg als Erfahrungsraum der Nation in Waffen im 19. Jahrhundert,52) so zeichnet sich seit den späten 1990er Jahren eine Ausweitung der Untersuchungsperspektive auf die Zeit vor 1800 an, welche die Kriege des späteren 18. Jahrhunderts verstärkt in den Blick nimmt. 53 ) Inhaltlich geht es unter dem Einfluß kulturalistischer Vorgehensweisen vor allem um die Verarbeitung von Kriegserfahrungen in national bestimmten Symbolen und Inszenierungen. Wie in anderen zentralen Bereichen der neueren Geschichte ist das Potential des Vergleichs auch in der Untersuchung des Zusammenhangs von Krieg und Nation anerkannt worden, so daß sich eine Überwindung der noch immer häufig dominierenden einzelstaatlichen Perspektive andeutet.54) Eine besondere Rolle nimmt in den letzten Jahren die Erforschung jener Kriegskategorien ein, die sich im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausbildeten und mit den Schlagworten Volkskrieg und totaler Krieg auf eine strukturelle Steigerung und ideologische Radikalisierung des Verhältnisses zwischen Nation und Krieg hinweisen. 55 ) Die Debatte um Ursprünge und Wandel dieser Typologien, zu denen

People: Power and the Mandate to Rule, Berkeley 1978; Richard Bean: War and the Birth of the Nation State, in: JEH 33 (1973), S. 203-221; Michael Howard: War and the Nation State. An Inaugural Lecture, delivered before the University of Oxford on 18 November 1977, Oxford 1977, sowie Hans-Ulrich Wehlen Nationalstaat und Krieg (2000), in: Ders.: Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20.Jahrhundert, München 2000, S. 64-80. 52 ) Vgl. George L. Mosse: The Nationalization of the Masses, New York 1975; Ders.: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993; ComarofflStern (Hrsg.): Perspectives; Dies.: New Perspectives on Nationalism and War, in: ebd., S. 1-13; Barry R. Posen: Nationalism, the Mass Army, and Military Power, in: ebd., S. 135-185; L. L. Farrar. Nationalism in Wartime. Critiquing the Conventional Wisdom, in: Frans Coetzee u.a. (Hrsg.): Authority, Identity and the Social History of the Great War, Providence 1995, S. 133-151, sowie David French: The Nation in Arms II: The Nineteenth Century, in: Townshend (Hrsg.): History, S. 74—93. 53 ) Vgl. Johannes Kunisch/Herfried Münkler (Hrsg.): Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1999. 54 ) Vgl. Heike Rausch: Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848-1914, München 2006, S. 439-474. 55 ) Vgl. Johannes Burkhardt: Religionskrieg, in: Gerhard Brause/Gerhard Müller (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd.28, Berlin 1983, S.681-687; Henri Bernard: Guerre totale et guerre revolutionnaire, 2 Bde., Brüssel 1965-66; Hans-Ulrich Wehler: ,Absoluter' und ,totaler' Krieg: Von Clausewitz bis Ludendorff, in: PVjS 10 (1969), S. 220-248; Ian W. Beckett: Total War, in: Emsley/Maverick/Simpson (Hrsg.): War, S. 26-44; Ludwig Beck: Die Lehre vom totalen Krieg. Eine kritische Auseinandersetzung, in: Günter Dill (Hrsg.): Clausewitz in Perspektive. Materialien zu Carl von Clausewitz' ,Vom Kriege', Frankfurt/M. 1980, S. 520-541, sowie Stig Förster (Hrsg.): An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919-1939, Paderborn 2002.

4. Forschungsfelder und Desiderate

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auch der Begriff des Partisanen gehört,56) hat gezeigt, daß sich das Verhältnis von Krieg und Nation nur vergleichend erfassen läßt, um die Wirkung von Rezeptionsprozessen und das relative Gewicht von Kriegserfahrungen im langen 19. Jahrhundert angemessen beurteilen zu können. 57 ) Bei komparativen Untersuchungen dominieren aber weiterhin Sammelbände, die sich einzelnen Phänomenen wie dem Komplex von Krieg und Revolution, der nationalen Mobilisierung, der Funktion des Kriegs in nationalen Gründungsmythen oder der Aneignung von Niederlagenerfahrungen widmen. 58 ) Trotz ihrer Verdienste besteht dabei immer die Gefahr der Addition heterogener Einzelbeispiele, wodurch der Vergleich auf die Einleitung beschränkt bleibt. Systematische Vergleiche in der Form von Monographien bilden weiterhin die große Ausnahme und bleiben meist auf zwei Fälle, einen eng begrenzten Untersuchungszeitraum und die westeuropäische Perspektive beschränkt, wobei Vergleiche zwischen Deutsch-

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) Vgl. Carl Schmitt·. Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen (1963), 5. Aufl. Berlin 2002; Walter Laqueur: Guerilla: A Historical and Critical Study, London 1977; Gerhard Schulz (Hrsg.): Partisanen und Volkskrieg. Zur Revolutionierung des Krieges im 20. Jahrhundert, Göttingen 1985; Ders.: Die Irregulären: Guerilla, Partisanen und die Wandlungen des Krieges seit dem 18. Jahrhundert. Eine Einfuhrung, in: ebd., S.9-35; Herfried Münkler (Hrsg.): Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt, Opladen 1990; Peer Schmidt·. Der Guerrillero. Die Entstehung des Partisanen in der Sattelzeit der Moderne - eine atlantische Perspektive 1776-1848, in: GG 29/2 (2003), S. 161-190, sowie Michael Sikora: Söldner - historische Annäherung an einen Kriegertypus, in: ebd., S. 210-238. ") Vgl. Stig Förster!Jörg Nagler (Hrsg.): On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861-1871, Cambridge 1997; Manfred F. BoemekefRoger Chickering!Stig Förster (Hrsg.): Anticipating Total War. The German and American Experiences, 1871-1914, Cambridge 1999; Roger Chickering/Stig Förster. Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914— 1918, Cambridge 2000, sowie vor allem die Einzelbeiträge Stig Förster. Vom Volkskrieg zum totalen Krieg? Der Amerikanische Bürgerkrieg 1861-1865, der DeutschFranzösische Krieg 1870/71 und die Anfänge moderner Kriegsführung, in: Bernecker/ Dotterweich (Hrsg.): Deutschland, S. 71-92; Stig Förster: Das Zeitalter des totalen Krieges, 1861-1945. Konzeptionelle Überlegungen für einen historischen Strukturvergleich, in: Mittelweg 368/6 (1999), S. 12-29, sowie Gerd Krumeich·. The Myth of Gambetta and the „People's War" in Germany and France, 1871-1914, in: Förster/Nagler (Hrsg.): Road, S. 641-655. 58 ) Vgl. Dieter Langewiesche (Hrsg.): Revolution und Krieg. Zur Dynamik historischen Wandels seit dem 18. Jahrhundert, Paderborn 1989; Daniel Moran!Arthur Waldron (Hrsg.): The People in Arms: Military Myth and National Mobilization since the French Revolution, Cambridge 2003; Buschmann/Langewiesche (Hrsg.): Krieg, sowie Horst Car//Hans-Henning KortümiDieter Langewiesche/Fnednch Lenger (Hrsg.): Kriegsniederlagen. Erfahrung - Erinnerung, Berlin 2004; vgl. auch Kurt Münger. Militär, Staat und Nation in der Schweiz 1798-1874, Münster 2002, sowie Petra Terhoeven: Liebespfand fürs Vaterland. Krieg, Geschlecht und faschistische Nation in der italienischen Gold- und Eheringsammlung 1935/36, Tübingen 2003; vgl. auch Jörg Baberowski (Hrsg.): Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006.

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I. Einleitung

land und Frankreich oder Deutschland und Großbritannien im Vordergrund stehen.59) Für das geplante Untersuchungsprogramm wurde daher vor allem die länderspezifische Forschungsliteratur berücksichtigt, die Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen Krieg und Nation in den vier untersuchten Fällen zuläßt. Die Forschung zu Frankreich hat dieses für das Verständnis der Geschichte nach 1789 so zentrale Thema nicht allein im Kontext der Revolutionshistoriographie, sondern auch durch die Aufarbeitung der lieux de memoire thematisiert und von hier aus nach den Determinanten nationaler Selbstvergewisserung gefragt, die von den vielfältigen Kriegserfahrungen ausgingen. 60 ) Die 59

) Vgl. Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992; Jakob Vogel·. Nationen im Gleichschritt. Der Kult der .Nation in Waffen' in Deutschland und Frankreich, 1871-1914, Göttingen 1997; Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der Amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001; vgl. weiterhin als Beispiele der vergleichenden Analyse Oliver Jam: Nationalismus im Ersten Weltkrieg. Deutschland und Italien im Vergleich, in: ßera./Pierangelo Schiera /Hannes Siegrist (Hrsg.): Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich, Berlin 2000, S. 163-184; Petra Overath: Zwischen Rriegsdeutung und Kriegsszenarien. Bevölkerungspolitische Vorstellungen in Deutschland und Frankreich (1870-1918), in: Comparativ 3 (2003), S. 65-79, sowie die Vorarbeiten des Verfassers: Jörn Leonhard. Vom Nationalkrieg zum Kriegsnationalismus - Projektion und Grenze nationaler Integrationsvorstellungen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg, in: Hirschhausen/ Leonhard (Hrsg.): Nationalismen, S. 204—240; Ders.: Nationalisierung des Krieges und Bellizierung der Nation: Die Diskussion um Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten seit den 1860er Jahren, in: Christian Jansen (Hrsg.): Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich, Essen 2004, S. 83-105; iöm Leonhard: Der Ort der Nation im Deutungswandel kriegerischer Gewalt: Europa und die Vereinigten Staaten 1854—1871, in: Jahrbuch des Historisches Kollegs 2004, München 2005, S. 111-138; Ders.: Gewalt und Partizipation. Die Zivilgesellschaft im Zeitalter des Bellizismus, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 14/4 (August/September 2005), S. 49-69, wieder in: www.eurozine.com vom 26. August 2005 (17 Seiten); Ders.: Nati della guerra e macchine da guerra? Nazione e stato nazionale nell'etä del bellicismo fino al 1871, in: Ricerche de Storia Politica 9/1, Nuova Serie (2006), S. 31-52, sowie Ders.: Nation-States and Wars, in: Timothy Baytro/Z/Mark Hewitson (Hrsg.): What is a Nation? Europe 1789-1914, Oxford 2006, S. 231-254. 60

) Vgl. Raoul Girardet: La societe militaire de 1815 ä nos jours dans la France contemporaine (1953), Paris 1998; Paul-Marie De la Gorce: The French Army: Α Military-Political History. Translated from the French by Kenneth Douglas, London 1963; Richard D. Challener: The French Theory of the Nation in Arms 1866-1939, New York 1965; Andre RochelJacques Regnier: La Guerre, l'armee, la nation, Le Mans 1974; Paul Viallaneixlitm Ehrard (JArsg.): Labataille, l'armee, lagloire 1745-1871,2 Bde., ClermontFerrand 1985; Jean-Jacques Becfe/VStephane Audoin-Rouzeau: La France, la nation, la guerre: 1850-1920, Paris 1995; Philippe Contamine: Mourir pour la patrie Xe-XXe siecle, in: Pierre Nora (Hrsg.): Les lieux de memoire. Quarto edition, 3 Bde., Paris 1997,

4. Forschungsfelder und Desiderate

33

deutsche Forschung stand lange Zeit unter dem Eindruck der Frage nach den besonderen Belastungen, die das Verhältnis zwischen Staat und Militär und die vermeintlich eindimensionale Defizitgeschichte des Zivilen gegenüber dem machtstaatlich-militärischen Primat für die deutsche Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bedeuteten.61) In den neueren Arbeiten fallt nicht allein die zeitliche Ausweitung der Untersuchungsperspektive auf, die nun auch das 18. Jahrhundert mit einbezieht. 62 ) Geschlechtergeschichtlichen Fragen nach der Bestimmung von Nation und Nationalstaat seit den antifranzösischen Kriegen bis 1815 kommt inzwischen ebenfalls erhebliche Bedeutung zu.63) Insgesamt ist die Forschung zu den antinapoleonischen Kriegen, der Phase von 1850 bis 1871 und der Kriegsdeutung vor und nach 1914 gut entwickelt, so daß für diese Untersuchung auf wichtige Arbeiten zurückgegriffen werden konnte.64) Auch hier: Bd. 2, S. 1673-1698; Gerard de Puymege: Le Soldat Chauvin, in: ebd., S. 16991727; Bertrand Taithe: Defeated Flesh. Welfare, Warfare and the Making of Modern France, Manchester 1999; Ders.: Citizenship and Wars. France in Turmoil 1870-1871, London 2001; David A. Bell: The Cult of the Nation in France: Inventing Nationalism, 1680-1800, Cambridge/MA. 2001; A. Prost: Republican Identities in War & Peace: Representations of France in the 19th and 20th Centuries, Oxford 2002; Wolfgang Kruse·. Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution 1789-1799, München 2002, sowie David M. Hopkin: Soldier and Peasant in French Popular Culture 1766-1870, Woodbridge 2003. 6I ) Vgl. Gerhard Ritter: Staatskunst und Kriegshandwerk: Das Problem des ,Militarismus' in Deutschland, 4 Bde. München 1954-68; Gordon A. Craig: The Politics of the Prussian Army, 1640-1945, London 1955; Karl Demeter. Das deutsche Offizierskorps in Gesellschaft und Staat 1650-1945,4. Aufl. Frankfurt/M. 1965; Eckart Kehr. Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. und eingeleitet von Hans-Ulrich Wehler, 2. Aufl. Berlin 1970; B. F. Schulte·. Die deutsche Armee, Düsseldorf 1977; Eberhard Kessel: Militärgeschichte und Kriegstheorie in neuerer Zeit, hrsg. von Johannes Kunisch, Berlin 1987; Werner Gembruch: Staat und Heer, hrsg. von Johannes Kunisch, Berlin 1990; Wilhelm Deist: Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991. 61 ) Vgl. Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (Hrsg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000; Georg Schmidt'. Teutsche Kriege: Nationale Deutungsmuster und integrative Wertvorstellungen im frühneuzeitlichen Reich, in: ebd., S. 33-61; Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1740-1840), Frankfurt/M. 1998; Ders ./Oliver Müller (Hrsg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, München 2002; vgl. auch Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft: Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 13, 10.Aufl. Stuttgart 2001, S. 93 ff. " ) Vgl. Karen Hagemann: .Männlicher Muth und Teutsche Ehre'. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002, und Rene Schilling: Kriegshelden. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813-1945, Paderborn 2003. M ) Vgl. Jost Dülffer (Hrsg.): Kriegsbereitschaft und Friedensordnung in Deutschland 1800-1814, Münster 1995; für die Phase der Nationalstaatsbildung vgl. Dieter Lange-

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I. Einleitung

fur das 20. Jahrhundert ist der Zusammenhang von Krieg, Staat und Nationalismus genauer thematisiert worden. Neben der Fragilität nationaler Gemeinschaftsvorstellungen nach 1914 geht es um die Kontinuität und Radikalisierung von Kriegsdeutungen und Feindbildern nach 1918. 65 ) Angesichts der Debatten um die Beteiligung der Wehrmacht an den Verbrechen des Nationalsozialismus hat schließlich die ideologische Verschränkung von Staat, Gesellschaft und Militär nach 1933 besondere Aufmerksamkeit provoziert.66) Für Großbritannien ist zunächst zu konstatieren, daß hier die traditionelle Kriegs- und Militärhistoriographie von jeher stärker etabliert gewesen ist als in anderen Historiographien. Darin spiegelt sich ein öffentliches, über die fachwissenschaftlichen Diskussionen weit hinausreichendes Bewußtsein für die Bedeutung zumal der beiden Weltkriege fur die nationale Identität Großbritan-

wiesche: Revolution von oben'? Krieg und Nationalstaatsgründung in Deutschland, in: Ders. (Hrsg.): Revolution, S. 117-33; Frank Becker: Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001; Ders.: Synthetischer Militarismus. Die Einigungskriege und der Stellenwert des Militärischen in der deutschen Gesellschaft, in: Michael EpkenhanslGerhard P. Gross (Hrsg.): Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan, München 2003, S. 125-141; Nikolaus Buschmann: Einkreisung und Waffenbruderschaft. Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850-1871, Göttingen 2003, sowie Jörn Leonhard: Initial oder Modell: Die Perzeption des italienischen Risorgimento in Deutschland seit 1850, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 17 (2005), S. 199-215; Jost Dülffer/Kaü Holl (Hrsg.): Bereit zum Krieg: Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Göttingen 1986; Stig Förster: Facing .People's War': Moltke the Elder and Germany's Military Options after 1871, in: Journal of Strategic Studies 10 (1987), S. 209-230; Ders. : Helmuth von Moltke und das Problem des industrialisierten Volkskriegs im 19. Jahrhundert, in: Roland G. Foerster (Hrsg.): Generalfeldmarschall von Moltke. Bedeutung und Wirkung, München 1991, S. 103-115; Stig Förster: The Nation at Arms: Concepts ofNationalism and War in Germany, 1866-1914, in: Hartmut Lehmarm/Wermaxm Wellenreuther {Hrsg.): German and American Nationalism. A Comparative Perspective, Oxford 1999, S. 233-262. 65

) Vgl. Michael Geyer: Krieg, Staat und Nationalismus im Deutschland des 20. Jahrhunderts, in: Jost DülfferlBernd Martin/Günter Wollstein (Hrsg.): Deutschland in Europa: Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, Frankfurt/M. 1990, S. 250-272; Michael Geyer: The Stigma of Violence. Nationalism and War in Twentieth-Century Germany, in: Harold James (Hrsg.): German Identity, Princeton 1992, S. 75-110; zum Ersten Weltkrieg vgl. Christoph Nonn: Oh What a Lovely War? German Common People and the First World War, in: German History 18/1 (2000), S. 97-111, sowie Jeffrey Verhey: Der , Geist von 1914' und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; vgl. zum Zusammenhang von Okkupation und nationaler Sinnstiftung in Osteuropa auch Vejas Gabriel Liulevicius: War Land on the Eastern Front. Culture, National Identity and German Occupation in World War I, Cambridge 2000, sowie Ulrike von Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit: Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860-1914, Göttingen 2006, S. 367 ff. 66 ) Vgl. Wolfram Wette: Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden, Frankfurt/M. 2002.

4. Forschungsfelder und Desiderate

35

niens:67) „This uplifting sense of national solidarity, at the peak of British patriotism in 1939-45, was an experience to which the older generation now looks back with such admiration and nostalgia".68) Ergänzt wird dies durch die historische Empire-Perspektive und die Frage nach der Bedeutung von Kriegen für die Ausbildung einer imperialen Selbstdeutung als Grundmuster der neueren Geschichte Großbritanniens.69) Hinzu trat der Aufschwung vor allem sozialhistorischer Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft seit den 1970er Jahren.70) Seit den späten 1980er Jahren ist dann vor allem das 18. Jahrhundert als eine Schwellenphase der britischen Nationsbildung wahrgenommen worden. Dabei kam den Kriegserfahrungen besonderes Gewicht fur die Ausbildung eines zentralistischen Finanz- und Militärstaates und Katalysator nationaler Vorstellungen zu.71) Linda Colley konnte 1992 zusammenfassend 67

) Vgl. Michael Howard: The British Way in Warfare. Neale Lecture, London 1975; David French·. The British Way in Warfare 1688-2000, London 1990; Michael Paris·. Warrior Nation. Images of War in British Popular Culture, 1850-2000, London 2000, sowie Lawrence James: Warrior Race: The British Experience of War from Roman Times to the Present, London 2001; vgl. auch Martin Ceadel: Semi-detached Idealists. The British Peace Movement and International Relations, 1854-1945, Oxford 2000; zum 20. Jahrhundert vgl. vor allem Frans Coetzee: English Nationalism and the First World War, in: HEI 15 (1992), S. 363-368; James E. Cronin: The Politics of State Expansion: War, State, and Society in Twentieth-Century Britain, London 1991, sowie Sonya O. Rose: Which People's War? National Identity and Citizenship in Wartime Britain, 1939-1945, Oxford 2003. 68 ) Norman Davies: The Isles: A History, London 1999, S. 1041. 69 ) Vgl. A. P. Thornton: The Imperial Idea and its Enemies: A Study in British Power, London 1959; A. D. Harvey : Collision of Empires: Britain in Three World Wars 17931945, London 1992; Katherine Tidrick: Empire and the National Character, London 1992, sowie Graham Dawson: Soldier Heroes: British Adventure, Empire, and the Imagining of Masculinities, New York 1994. ™) C. Barnett: Britain and her Army 1509-1970: A Military, Political and Social Survey, London 1970; Gwyn Harries-Jenkins: The Army in Victorian Society, London 1977; Alan Ramsey Skelley: The Victorian Army at Home, London 1977; Hew Strachau: The British Army and Society, in: HJ 22 (1979), S.247-254; Edward M. Spiers: The Army and Society 1815-1914, London 1980; David Weston: The Army: Mother, Sister and Mistress: the British Regiment, in: Martin Edmonds (Hrsg.): The Defence Equation: British Military Systems Policy, Planning and Performance, London 1986, S. 141-153; Ian F. W. Beckett: The Amateur Military Tradition in Britain, in: War and Society 4/2 (1986), S. 1-16; Ders. : The Amateur Military Tradition 1558-1945, Manchester 1991; J. W. M. Hichberger: Images of the Army: The Military in British Art 1815-1914, Manchester 1988; Hew Strachan: Militär, Empire und Civil Society: Großbritannien im 19. Jahrhundert, in: Frevert (Hrsg.): Militär, S. 78-93, sowie Hew Strachan: The Politics of the British Army, Oxford 1997. 7 ') Vgl. John Brewer: The Sinews of Power. War, Money and the English State, 16881783 (1988), New York 1989; Lawrence Stone (Hrsg.): An Imperial State at War. Britain from 1689 to 1815, London 1994; Linda Colley : Britons: Forging the Nation 17071837, New Haven 1992; Stephen Conway: War and national Identity in the Mid-Eighteenth-Century British Isles, in: EHR 116 (2001), S. 863-893; Mark Philp (Hrsg.): The French Revolution and British Popular Politics, Cambridge 1991; Clive Emsley: Revo-

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I. Einleitung

resümieren, daß Kriege fur die „invention of a British nation after 1707" eine herausragende Rolle gespielt hätten.72) Schließlich hat die intensive Debatte um das Verhältnis von Englishness und Britishness seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, also die Frage nach der Selbstabgrenzung Englands gegenüber Schotten und Iren, das Gewicht von Kriegsaneignungen unterstrichen.73) Auch fur die Vereinigten Staaten sind Fragen nach dem Stellenwert von Kriegen fur das nationale Selbstverständnis und nach dem Verhältnis zwischen militärischer und politischer Sphäre bereits nach 1918 und vor allem nach 1945 thematisiert worden. 74 ) Ergänzt wird dieses Bild durch Forschungen zur Geschichte des Militärs im Verhältnis zur amerikanischen Gesellschaft, zur Entwicklung von Feindbildern und zur Prägung der Außenpolitik durch Kriege. 75 ) lution, War and the Nation State: The British and French Experiences 1789-1801, in: Philp (Hrsg.): Revolution, S. 99-117; Clive Emsley: The Impact of War and Military Participation in Britain and France 1792-1815, in: Ders.lJ. Walvin (Hrsg.): Artisans, Peasants and Proletarians 1760-1860, London 1985, S. 57-80. 72 ) Colley: Britons, S. 367. 73 ) Vgl. J. G. A. Peacock: British History: a Plea for a New Subject, in: JMH 47 (1975), S. 601-621; Robert Colls/Philip Dodd (Hrsg.): Englishness: Politics and Culture 18801920, London 1986; Gerald Newman·. The Rise of English Nationalism: A Cultural History 1740-1830, New York 1987; Keith Robbins: Nineteenth-Century Britain. Integration and Diversity, Oxford 1988; Raphael Samuel (Hrsg.): Patriotism. The Making and Unmaking of British National Identity, 3 Bde., London 1989; Ders.: Island Stories. Unravelling Britain, London 1989; Hugh Kearny. The British Isles. A History of Four Nations, Cambridge 1989; Keith Robbins: National Identity and History, in: History 75 (1990), S. 369-387; Peter Clarke·. Hope and Glory. Britain 1900-1990, Harmondsworth 1996; Brian Harrison : The Transformation of British Politics, Oxford 1996; Keith Robbins·. Great Britain. Identities, Institutions and the Idea of Britishness, London 1998; Davies: Isles; Julia Stapleton: Political Thought and National Identity in Britain 1850— 1950, in: Stefan Collini (Hrsg.): History, Religion and Culture. British Intellectual History 1750-1950, Cambridge 2000, S. 245-269, sowie Robert Colls: The Identity of England, Oxford 2002. 74

) Vgl. Walter Mi11is: The Martial Spirit (1931), New York 1979; Oers.: Arms and Men. A Study of American Military History (1956), New Brunswick 1981; Merle Eugene Curti: The Roots of American Loyalty (1946), New York 1968; Louis Smith: American Democracy and Military Power. A Study of Civil Control of the Military Power in the United States, Chicago 1951, sowie John H. Schaar: Loyalty in America (1957), Westport 1982. 75 ) Vgl. zu Fragen der Militär- und Armeegeschichte zunächst Rodney G. Minott: Peerless Patriots: Organized Veterans and the Spirit of Americanism, Washington 1962; Russell Frank Weigley: Towards an American Army. Military Thought from Washington to Marshall, New York 1962; Marcus Cunliffe: Soldiers & Civilians. The Martial Spirit in America 1775-1865 (1968), New York 1973; Bruce White: Ethnicity, Race, and the American Military: From Bunker Hill to San Juan Hill, in: David Maclsaac (Hrsg.): The Military and Society. The Proceedings of the Fifth Military Symposium, United States Air Force Academy, 5-6 October 1972, o.O. 1972; Charles Robert Kemble: The Image of the Army Officer in America. Background for Current Views, Westport 1973; Russell Frank Weigley: History of the United States Army, 2. Aufl. Bloomington 1984, sowie Ε. Α. Cohen: Citizens and Soldiers: The Dilemma of Military Service, Ithaca 1985; vgl.

4. Forschungsfelder und Desiderate

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Die Erforschung nationaler Selbstvergewisserung im Rekurs auf kriegerische Konflikte ist dagegen ein Nebenprodukt geblieben, gewinnt aber in der geschlechtergeschichtlichen Perspektive an Bedeutung. 76 ) Wichtige Arbeiten haben neben der Phase des Unabhängigkeitskrieges vor allem den Bürgerkrieg und seine Folgen sowie den Ersten Weltkrieg behandelt.77) Daneben treten in jüngster Zeit auch bisher vernachlässigte Kriegserfahrungen in den Vorderzur amerikanischen Spezifik der Kriegserfahrungen Russell Frank Weigley: The American Way of War. A History of United States Military Strategy and Policy, Bloomington 1977; Thomas C. Leonard: Above the Battle. War-Making in America from Appomattox to Versailles, New York 1978; A. R. MilieuI?. Maslowski: For the Common Defense: A Military History of the United States of America, New York 1984; Bruce D. Porter: The Warfare State, in: American Heritage 45/4 (1994), S. 56-69; William B. Skelton: Samuel P. Huntington and the Roots of the American Military Tradition, in: JMH 60 (1996), S. 325-338; Ragnhild Fiebig-von HaasefVrsula. Lehmkuhl (Hrsg.): Enemy Images in American History, Providence 1997; Walter A. McDougall: Promised Land, Crusader State. The American Encounter with the World since 1776, New York 1997, sowie A. Axelrod: America's Wars, Wiley 2002. 76 ) Vgl. Rupert Wilkinson: American Tough. The Tough-Guy Tradition and American Character, Westport 1984, sowie Ε. Anthony Rotundo·. American Manhood. Transformations in Masculinity from the Revolution to the Modern Era, New York 1993. ") Vgl. zur Phase zwischen 1776 bis 1820 Clinton Lawrence Ross iter: The American Quest 1790-1860. An Emerging Nation in Search of Identity, Unity, and Modernity, New York 1971, und Reginald C. Stuart: War and American Thought. From the Revolution to the Monroe Doctrine, Kent 1982; zum Bürgerkrieg vgl. hier nur Eric Foner: Politics and Ideology in the Age of the Civil War, New York 1980; Ders.: Reconstruction. America's Unfinished Revolution, 1863-1877, New York 1988; James M. McPherson: Battle Cry of Freedom. The Civil War Era, New York 1988; Ders.: Abraham Lincoln and the Second American Revolution, New York 1990, sowie Dm-.AVilliam J. Cooper, Jr. (Hrsg.): Writing the Civil War. The Quest to Understand, Columbia 1998, sowie weiterhin George Fredrickson: The Inner Civil War. Northern Intellectuals and the Crisis of the Union, New York 1965; Richard Franklin Bensel: Yankee Leviathan. The Origins of Central State Authority in America, 1859-1877, Cambridge 1990; Drew Gilpin Faust: The Creation of Confederate Nationalism. Ideology and Identity in the Civil War South, Baton Rouge 1988, und Mark E. Neely: Was the Civil War a Total War?, in: Civil War History 37 (1991), S.5-28; zum Ersten Weltkrieg vgl. etwa Bruce White: The American Military and the Melting Pot in World War I, in: J. L. Granatstein/ R. D. Cuff(Hrsg.): War and Society in North America. Papers presented at the Canadian Association for American Studies Meeting, Montreal, Fall 1970, Toronto 1971, S. 3 7 51; David M. Kennedy: Over Here. The First World War and American Society, Oxford 1980; S.L. Vaughn: Holding Fast the Inner Lines: Democracy, Nationalism, and the Committee on Public Information, Chapel Hill 1980; James L. Abrahamson: The American Home Front. Revolutionary War, Civil War, World War I, World War II, Washington 1983; Shawn Aubitz!Gz\\ F. Stern: Ethnic Images in World War I Poster, in: Journal of American Culture 9 (1986), S. 83-98; David Montgomery: Nationalism, American Patriotism, and Class Consciousness among Immigrant Workers in the United States in the Epoch of World War I, in: Dirk Hoerder (Hrsg.): „Struggle a Hard Battle". Essays on Working-Class Immigrants, DeKalb 1996, S. 327-351, sowie Jörg Nagler: Nationale Minoritäten im Krieg.,Feindliche Ausländer' und die amerikanische Heimatfront während des Ersten Weltkriegs, Hamburg 2000.

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I. Einleitung

grand, so die Konflikte mit der indianischen Urbevölkerung vor 1776 und der Spanisch-Amerikanische Krieg von 1898. 78 ) In der Erforschung des Ersten Weltkrieges lassen sich viele der hier skizzierten Themen bündeln, und es ist angesichts der historischen Determinanten des kurzen 20. Jahrhunderts kein Zufall, daß der Erfahrungsumbruch von 1914 die besondere Aufmerksamkeit national und international orientierter Geschichtswissenschaften auf sich zieht.79) Dabei geht es nicht mehr allein um die sozialen und wirtschaftlichen Modernisierungsumbrüche, die der Erste Weltkrieg verursachte oder beschleunigte, 80 ) oder um die Rolle der Propaganda als neues Medium der Kriegslegitimation. 81 ) Vor allem die kulturgeschichtlichen Im7S

) Vgl. Jill Lepore: The Name of War. King Philip's War and the Origins of American Identity, New York 1998, und Kristin L. Hoganson: Fighting for American Manhood. How Gender Politics Provoked the Spanish-American and Philippine-American Wars, New Haven 1998. 79 ) Vgl. Jay M. Winter. Catastrophe and Culture: Recent Trends in the Historiography of the First World War, in: JMH 64 (1992), S. 525-532; Ders.: Cultural Politics and the First World War. Recent Anglo-American Historiographical Trends, in: NPL 39 (1994), S. 218-223, sowie Sven Oliver Müller. Zweierlei Kriegsausbrüche. Neue Tendenzen in der Kultur- und Politikgeschichte des Ersten Weltkrieges, in: AfS 41 (2001), S.556565; aus der Vielzahl von Gesamtdarstellungen vgl. hier vor allem Marc Ferro: Der große Krieg 1914-1918 (1969), Frankfurt/M. 1988; Avner Offer. The First World War: an Agrarian Interpretation, Oxford 1989; Andreas Hillgruber. Der historische Ort des Ersten Weltkrieges: Eine Urkatastrophe, in: Flucht in den Krieg?, Darmstadt 1991, S. 230-250; Bernd t//rz'c/z/Benjamin Ziemann (Hrsg.): Frontalltag im Ersten Weltkrieg: Wahn und Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1994; Wolfgang Michalka (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg: Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994; Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/lrina Renz (Hrsg.): .Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch'. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs (1993), Frankfurt/M. 1996; Gerhard Hirschfeld/DvAer LangewiescheAHans-Peter Ulimann (Hrsg.): Kriegserfahrungen: Studien zur Sozialund Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997; Wolfgang Kruse (Hrsg.): Eine Welt von Feinden. Der große Krieg 1914-1918, Frankfurt/M. 1997; Hew Strachan (Hrsg.): The Oxford Illustrated History of the First World War, Oxford 1998; Ders.: The First World War. Bd. 1, Oxford 2001; Ian F. W. Beckett: The Great War 1914-1918, London 2001; Jay M. Wmfer/Geoffrey Parker/Mary R. Habeck (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Hamburg 2002; Bruno r/icws/Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Erster Weltkrieg - Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002, sowie Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/ Irina Renz in Verbindung mit Markus Pöhlmann (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003. 80

) Vgl. Jay Μ. Winter. The Experience of World War I, London 1988; Richard Wallßay M. Winter (Hrsg.): The Upheaval of War: Family, Work, and Welfare in Europe, 19141918, Cambridge 1988, sowie Hans Mommsen (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, Köln 2000. 81 ) Vgl. Harold D. Laswelt Propaganda Technique in the World War, Cambridge/MA. 1927, ND. 1971; Alice Goldfarb Maquis·. Words as Weapons. Propaganda in Britain and Germany during the First World War, in: JCH 13 (1978), S. 467^498; Peter Buitenhuis: The Great War of Words. British, American, and Canadian Propaganda and Fiction,

4. Forschungsfelder und Desiderate

39

pulse haben die Vielfalt der Erfahrungen und Deutungsgeschichten in den Blick genommen und die Untersuchung von Erinnerungskulturen und Selbstdeutungen stimuliert.82) Auch zahlreiche komparative Studien weisen in diese Richtung.83) Bei allen Fortschritten in der Erforschung des Zusammenhangs von Krieg und Nation stellen systematische Vergleiche der longue duree von Kriegsdeutungen und Nationskonzepten noch immer die seltene Ausnahme dar. Wo sie aus erfahrungshistorischer Perspektive vor allem in der deutschen Geschichtswissenschaft in Ansätzen unternommen werden, erhält der Wandel von der traditionellen Kriegs- und Militärgeschichtsschreibung zur Erfahrungs- und Deutungsgeschichte des Krieges in ihren Beziehungen zu politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Determinanten überzeugende Kontur. Trotzdem kann der Regelfall des Sammelbandes mit der ihm eigenen Tendenz zu Addition und Kumulation von Einzelfallen bei heterogenen analytischen Rahmenbedingimgen nicht den systematischen Vergleich und die komparative Typologisierung ersetzen.

1914—1933, Vancouver 1987, sowie Eberhard Demm: Propaganda and Caricature in the First World War, in: JCH 28 (1993), S. 163-192. 82 ) Vgl. Paul Fusseil·. The Great War and Modern Memory, Oxford 1975; Jay Μ. Winter/Jean-Louis Roberl (Hrsg.): Capital Cities at War: Paris, London, Berlin, 1914-1919, Cambridge 1996; Jay Μ. Winter: Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History (1995), Cambridge 1998; Modris Eksteins: Rites of Spring. The Great War and the Birth of the Modern Age (1989), New York 2000; Stephane Audoin-Rouzeau: La guerre des enfants 1914-1918: Essai d'histoire culturelle, Paris 1993; Jean-Jacques Becker et al. (Hrsg.): Guerre et Cultures 1914-1918, Paris 1994, sowie Stephane Audoin-Rouzeau/Annette Becker. 14—18, Retrouver la Guerre, Paris 2000; vgl. auch Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, sowie Aviel Roshwaldf Richard Stites (Hrsg.): European Culture in the Great War. The Arts, Entertainment and Propaganda, 1914-1918, Cambridge 1998. 83 ) Vgl. Thomas Raithel: Das .Wunder' der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996; Christoph Jahr. Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918, Göttingen 1996; John Hörne (Hrsg.): State, Society and Mobilisation in Europe during the First World War, Cambridge 1997; Ders./AXm Kramer. German Atrocities, 1914. A History of Denial, Yale 2001; Aribert Reimann: Der große Krieg der Sprachen. Untersuchungen zur historischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkrieges, Essen 2000, sowie Sven Oliver Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002; vgl. auch Paul Crook: War as Genetic Disaster? The First World War Debate over the Eugenics of Warfare, in: War and Society 8/1 (1990), S.47-70, sowie Mark Ellis/Panayi Panikos: German Minorities in World War I: A Comparative Study of Britain and the USA, in: Ethnic and Racial Studies 17 (1994), S. 238-259.

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I. Einleitung

5. Zielhorizonte: Einheit, Differenz und Temporalisierung Plurale Kriegserfahrungen und konkurrierende Nationsentwürfe im Vergleich Die Komplexität der Nation ergab sich aus drei Funktionen dieses epochalen Deutungsmusters, die alle mit der Aneignung von Kriegserfahrungen zusammenhingen. Die Nation stand erstens für die kommunikative Vermittlung eines übergreifenden Einheitsgedankens, der jene Spannungsmomente überbrücken sollte, die sich aus der funktionalen Differenzierung und dem Homogenisierungsdruck in modernen Gesellschaften ergaben.84) Die Nation als Kommunikations- und Verhandlungssphäre des Politischen rekurrierte dabei auf einen geographischen Raum, die institutionelle Struktur des Nationalstaates und ein aus sich selbst entwickeltes Legitimationsprinzip, das überkommene Selbstdeutungsmuster wie Region, Konfession oder Sprache aufnahm und amalgamierte. Zweitens konstituierte sich die Nation stets in Auseinandersetzung mit dem Anderen. Die nationale Selbstthematisierung setzte das dichotomische Prinzip von Selbstbildern und Feindbildern, von Inklusion und Exklusion voraus.85) Dabei reflektierte das Deutungswissen, aus dem heraus Fremd- und Feindbilder erst entstehen konnten, die Erfahrungssubstrate und Erwartungsreservoirs der eigenen Nation. 86 ) Aber die Nation war mehr als die bloße Summe dieser endogenen und exogenen Bezugspunkte. Ihr kam drittens eine Temporalisierungsfunktion zu, indem sie die Artikulation kollektiver Erwartungen an 84 ) Vgl. Ernest Gellner. Nationalismus und Moderne (1983), Berlin 1991; Karl Deutsch: Nationalism and Social Communication, Cambridge/MA. 1962; Oers:. Der Nationalismus und seine Alternativen, München 1972; Ders.: Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972; Otto Dann: Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978; Miroslav Hroch: Social Preconditions of National Revival in Europe, Cambridge 1985; vgl. auch Siegfried Weichlein: Nationalismus als Theorie sozialer Ordnung, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hrsg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft: Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 171-200. S5 ) Vgl. Reinhard Blomert!Helmut Kuzmics/Annette Treibel (Hrsg.): Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt/M. 1993; Anne K. Flohr. Feindbilder in der internationalen Politik: Ihre Entstehung und ihre Funktion, Münster 1993; Christian Geulen: Die Metamorphose der Identität. Zur Langlebigkeit' des Nationalismus, in: A. Assmann/H. Friese (Hrsg.): Identitäten, Frankfurt/M. 1998, S.346373; Christian GeulenlAnnette von der Heiden!Burkhard Liebsch (Hrsg.): Vom Sinn der Feindschaft, Berlin 2002; Christian Geulen: Wahlverwandte, Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004, sowie Peter Walkenhorst Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914, Göttingen 2007; vgl. auch Jörn Leonhard·. Construction and Perception of National Images: Germany and Britain 1870-1914, in: The Linacre Journal. Α Review of Research in the Humanities 4 (Dezember 2000): The Fatal Circle: Nationalism and Ethnic Identity into the 21SI Century, S. 45-68. 86

) Vgl. Ulrich Bielefeld: Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich, Hamburg 2003.

5. Zielhorizonte

41

eine bessere Zukunft ermöglichte. Hier war die Nation weniger der Ort des Politischen als vielmehr das Objekt der Imagination.87) Das eigene Volk als Erinnerungs-, Sprach-, Kultur-, Lebens-, Schicksals- oder Konfessionsgemeinschaft verband dabei als identifikatorischer Horizont zwei ideologische und historische Zeitebenen miteinander: Es knüpfte an die Erfahrung der aus der Vergangenheit stammenden bekannten Werte und Deutungsmuster die Erwartung einer besseren, verheißungsvolleren Zukunft. Diese Hoffnung knüpfte an die erfahrene, erinnerte oder imaginierte Vergangenheit an. Es ist von der modernen Nationalismusforschung überzeugend herausgearbeitet worden, daß gegenüber solchen Differenzbestimmungen monokausale Unterscheidungsmodelle wie die zwischen „linkem" und „rechtem", demokratischem und antidemokratischem, voluntaristischem und historisch-organisch begründetem Nationalismus oder die von Friedrich Meinecke gefundene Formel von Staatsnation und Kulturnation bei aller Berechtigung im einzelnen die historischen Spannungsmomente des Nationalen erheblich verkürzen.88) Diese Antinomien sind in den meisten Fällen aus der retrospektiven Kausalität historischer Analyse geboren und verdanken ihre Entstehung dem nachträglichen Wissen um die Ergebnisse historischer Prozesse, so im Blick auf die Katastrophen des deutschen Nationalstaates im 20. Jahrhundert. Zum anderen rekurrieren sie auf statisch vorausgesetzte Inhalte und Agenden von Nation, Nationalismus und Nationalstaat, die aber sowohl diachron als auch synchron ganz verschieden waren, sich also nicht nur im Laufe der über 200 Jahre veränderten, S7

) Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation (1983), 2. Aufl. Frankfurt/M. 1993; Eric J. Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983; Geoffrey Cubitt (Hrsg.): Imagining Nations, Manchester 1998; Frank Trommler: The Historical Invention and Modern Reinvention of Two National Identities, in: Norbert Finzsch/Dietmar Schirmer (Hrsg.): Identity and Intolerance: Nationalism, Racism, and Xenophobia in Germany and the United States, Cambridge 1999, S. 21-42; Dieter Langewiesche: Was heißt .Erfindung der Nation'? Nationalgeschichte als Artefakt - oder Geschichtsdeutung als Machtkampf, in: HZ 277 (2003), S. 593-617, sowie Philipp Sarasin: Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der ,imagined communities', in: Ulrike Jureit (Hrsg.): Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, Münster 2001, S. 22^45. 88 ) Vgl. Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: NPL 40 (1995), S. 190-236; Ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; Dietmar Schirmer. Nationen und Nationalismen, imaginiert und mobilisiert, in: NPL 47 (2002), S. 389-402; vgl. aus angelsächsischer Perspektive Geoff £7eyRonald Grigor Suny: Introduction: From the Moment of Social History to the Work of Cultural Representation, in: Dies. (Hrsg.): Becoming National. A Reader, Oxford 1996, S. 3-37, sowie Anthony D. Smith: Nationalism and Modernism: A Critical Survey of Recent Theories of Nations and Nationalism, London 1998; vgl. im deutsch-französischen Vergleich Heinz-Gerhard Haupt: Der Nationalismus in der neueren deutschen und französischen Geschichtswissenschaft, in: Etienne Fra«fow/Hannes Siegrist !]akob Vogel (Hrsg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 39-55.

42

I. Einleitung

seit denen das moderne Nationskonzept existiert, sondern sich auch von Gesellschaft zu Gesellschaft und selbst innergesellschaftlich unterschieden.89) Im Gegensatz zur Hypostasierung eines inhaltlichen Kanons ist für alle nationalen Bewegungen seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts eher von der Bündelung ganz heterogener Erwartungen auszugehen, und zwar gruppen-, milieu-, konfessions- und parteiübergreifend. Obwohl sich Richtung, Ziele und Strategien der nationalen Bewegungen im historischen Einzelfall voneinander unterschieden, erscheint das generative Prinzip dieser Entwicklungen prinzipiell ähnlich.90) Daraus ergibt sich zweierlei: Es gab kein universelles Deutungsmuster der Nation, sondern nur ein konfliktreiches Nebeneinander konkurrierender Nationsentwürfe, hinter denen vielfaltige Erfahrungsmuster standen. Ersetzt man die Nation und den Nationalismus durch Nationen und Nationalismen, kommt der komparativen Typologisierung entscheidendes Gewicht zu. Dabei geht es um die Frage, wie sich in unterschiedlichen Kontexten die Funktionen der Nation, also die kommunikative Vermittlung von Einheit, Differenz und Temporalisierung herausbildeten. Zu fragen ist also nach den besonderen Faktoren und Rahmenbedingungen, die diese Funktionsebenen der Nation in unterschiedlichen historischen Kontexten über traditionale Gemeinschaftsformationen hinweg ermöglichten und katalysierten. Die oben aufgeführten dichotomischen Unterscheidungsmerkmale greifen dafür zu kurz und tendieren zu schematischen Nationalismusmodellen. Demgegenüber soll der Blick auf den Zusammenhang von Bellizismus und Nation dokumentieren, wie wichtig Imagination und Kommunikation des Nationalen in Form der deutenden Erfahrungsaneignung für alle Gesellschaften wurden. Wenn der Zusammenhang von Gewalterfahrung und Nationsbildung konstitutiv für die moderne Nation als Deutungs-, Erinnerungs- und Erwartungsgemeinschaft war, kommt es um so mehr auf die Unterscheidung der Erfahrungsaneignung und der ihr korrespondierenden Nationalismen an. Zwei weitere Aspekte, welche die neuere Nationalis89

) Vgl. Hirschhausen/Leonhard: Nationalismen, S. 11-45; Jörn Leonhard. Nationbuilding und nationale Identitäten im 19. Jahrhundert: West- und Osteuropa im Vergleich, in: Eine Welt - Eine Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen 26. bis 29. September 2000. Berichtsband, hrsg. im Auftrag des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V. von Max Kerner, München 2001, S.250-255; vgl. auch Peter Alter: Nationalismus, Frankfurt/M. 1985; Bernhard Giesen (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M. 1991; Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994; John Breuilly: Nationalism and the State, 2. Aufl. Manchester 1993; Mikulas Teich/Roy Porter (Hrsg.): The National Question in Europe in Historical Context, Cambridge 1993, sowie Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001. 90

) Vgl. Lothar Gall: Die Nationalisierung Europas seit der Französischen Revolution, in: Wilfried Feldkirchen/¥ra\ike Schönert-Röhlk/Günther Schulz (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. FS. für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1995, S. 568-579, wieder in: Dieter Hein/Andreas Schulz/Eckhardt Treichel (Hrsg.): Bürgertum, liberale Bewegung und Nation, München 1996, S. 205-216, hier S.207f.

5. Zielhorizonte

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mus-Forschung herausgestellt hat, sind damit unmittelbar verbunden. Die Frage nach Krieg und Nation nimmt das Problem der Periodisierung des Phänomens Nation in den Blick, denn die bellizistisch durchdrungenen Gemeinschaftsvorstellungen reichen erheblich weiter zurück, als es die noch immer verbreitete Konzentration auf das 19. Jahrhundert erahnen läßt.91) Damit hängt der Komplex von Nation, Gewalterfahrung und Religion, seiner Ursachen, Determinanten und Wandlungen zusammen. 92 ) Mit der komparativen Ausrichtung soll die Untersuchung dazu beitragen, den Zusammenhang zwischen Kriegserfahrungen und Nationsbildungskonzepten näher zu bestimmen und durch eine diachrone und synchrone Differenzierung zur schärferen Konturierung unterschiedlicher Nationalismen beizutragen. Die Verbindung von innereuropäischem und transatlantischem Vergleich sollte der Analyse jenes Potential zukommen lassen, mit dem in Zukunft Erklärungsmodelle zur Entwicklung von Nation, Nationalstaat und Nationalismus in der Moderne einer kritischen Revision unterzogen werden können.

91

) Vgl. Franz K. Stünzel (Hrsg.): Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1999; Hans-Martin Blitz: „Aus Liebe zum Vaterland". Die Idee der Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000, sowie Jost Hermand/Michael Niedermeier: Revolutio germanica. Die Sehnsucht nach der ,alten' Freiheit der Germanen 1750-1820, Frankfurt/M. 2002, sowie Adrian Hastings: The Construction of Nationhood. Ethnicity, Religion and Nationalism, Cambridge 1997. 92 ) Vgl. William R. Hutchison/Hartmut Lehmann (Hrsg.): Many are Chosen. Divine Election and Western Nationalism, Mineapolis 1994; William R. Hutchison: Introduction, in: ebd., S. 1-25; A. J. Hoover: German Nationalism and Religion, in: HEI 20 (1995), S. 765-771; Gerd KrumeichMartmut Lehmann (Hrsg.): „Gott mit uns". Religion, Nation und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000; Friedrich Wilhelm Graf: Die Nation - von Gott .erfunden'? Kritische Randnotizen zum Theologiebedarf der historischen Nationalismusforschung, in: ebd., S. 285-317; Gerd Krumeich: ,Gott mit uns'? Der Erste Weltkrieg als Religionskrieg, in: ebd., S. 273-283, sowie Dietrich Beyrau (Hrsg.): Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit, Tübingen 2001; vgl. auch Heinz-Gerhard Haupt!Dieter Langewiesche (Hrsg.): Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt/M. 2001.

II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat: Determinanten der Kriegsdeutung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts 1. Antike Deutungskategorien: Heiliger, agonaler und gerechter Krieg als Idealtypen In den meisten Mythologien und Religionen spielt der Krieg als gewaltsame Austragung von Konflikten eine fundamentale Rolle. Bis heute hat sich der Hinweis auf Heraklit erhalten, der den Krieg im Sinne eines universellen Prinzips als Vater und Herrscher aller Dinge, πόλεμος πάντων μέν πατήρ έστιν, πάντων δέ βασιλεύς, bezeichnete. Vorsokratische Philosophen betrachteten den Krieg als Grundprinzip des menschlichen Lebens und der Natur.') Eine Auseinandersetzung mit dem Krieg als einem sozialen Phänomen begann in der Antike aber erst, als in Griechenland die Wirkung überlieferter ethischer Normen nachließ. Während Piaton den Krieg in die Nähe einer unvermeidbaren Krankheit rückte, behandelte Aristoteles ihn als Teil der Erwerbskunst.2) Karl Marx und Max Weber hoben im 19. Jahrhundert im Blick auf die Antike die Beziehung zwischen dem Krieg als einem historischen Phänomen und der Legitimation antiker Gemeinschaftsbildung hervor. Marx betonte seine Funktion zum Schutz von Eigentumsverhältnissen: „Der Krieg" sei „die große Gesamtaufgabe ... sei es um die objektiven Bedingungen des lebendigen Daseins zu okkupieren, sei es um die Okkupation derselben zu beschützen und zu verewigen". Die antike Gemeinde sei daher „als Kriegs- und Heerwesen" organisiert, „und dies ist eine der Bedingungen ihres Daseins als Eigentümerin". Max Weber definierte den antiken im Gegensatz zum mittelalterlichen Stadtbürger als homo politicus, der aus der ständigen Vorbereitung auf den Krieg lebe und sich von daher nicht zu einem aktiven und erfolgreichen Wirtschaftsbürger entwickeln könne: „Die antike Polis war ... seit der Schaffung der Hoplitendisziplin eine ') Heraklit: VS Β 53; die Stellenangaben der antiken Quellen folgen den gängigen Abkürzungen; vgl. Alexander Demandf. Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, 3. Aufl. Köln 2000, S. 245 ff.; vgl. auch Alfred Heuss: Die völkerrechtlichen Grundlagen der römischen Außenpolitik in republikanischer Zeit, Leipzig 1933; Friedrich Lammert: Kriegsrecht, in: Pauly's Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. Begonnen von Georg Wissowa, hrsg. von Wilhelm Kroll, 6. Supplementbd., Stuttgart 1935, Sp. 1351-1362; P. Jal: La Guerre civile ä Rome: Etude litteraire et morale, Paris 1963; Gerhard Binder/Bernd Effe (Hrsg.): Krieg und Frieden im Altertum, Trier 1989, sowie Tonio Hölscher: Images of War in Greece and Rome: Between Military Practice, Public Memory, and Cultural Symbolism, in: Journal of Roman Studies 93 (2003), S. 1-17. 2 ) Piaton: Leg. I, 4, 628d; VIII, 1, 829a; Aristoteles: Pol. I, 8, 1256b und Pol. VI, 2, 1325a.

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat

Kriegerzunft". 3 ) Vor allem aber lassen sich in der antiken Staatsphilosophie mit dem heiligen, dem agonalen und dem gerechten Krieg jene Modelle unterscheiden, die für spätere bellizistische Deutungsansätze wichtige Anknüpfungspunkte boten. Den heiligen Krieg führte ein Herrscher oder ein Volk im direkten Auftrag seiner Götter. Damit verband sich die Stigmatisierung des Feindes als gottloses Wesen und eine besonders grausame Kriegführung. Eine theokratische Rechtfertigung des Krieges bildete sich aber nicht in den polytheistischen Kulturen der Griechen und Römer aus, sondern bedurfte des monotheistischen Absolutheitsanspruches. 4 ) Für das klassische Athen standen Krieg und Demokratie in einem wichtigen Bedingungsverhältnis. Kriegsdienst und Phalanx waren für die attischen Bauern wichtige Voraussetzungen für ihre Mitsprache am Gemeinwesen. Im 5. Jahrhundert v. Chr. verstärkte sich die Identifikation mit der durch die Stadt verkörperten politischen Ordnung, wie vor allem die Gefallenenehrungen und das Motiv des Opfers für die überindividuelle Polis dokumentierten. 5 ) Bei der Kriegsdeutung dominierte die Vorstellung eines agonalen Kampfes zwischen prinzipiell Gleichen auf der Basis fester Regeln und begrenzter Ziele. Aus dem Erziehungsideal des aien aristeuein erwachsen, ging es um einen duellartigen Wettkampf zwischen prinzipiell Gleichberechtigten, in dem es keine moralische Über- und Unterordnung und auch keine entsprechende Stigmatisierung des Gegners gab. Der Krieg zwischen einzelnen poleis diente der Wiederherstellung einer verletzten Ehre und vollzog sich unter Bedingungen, die von den Kriegsteilnehmern anerkannt worden waren. 6 ) Dieses Ideal des Zweikampfes mit seinen symbolischen Inszenierungen und festgelegten Formen zielte auf Vermeidung von Praktiken, die dem ethischen Grundgehalt des Konfliktaustrags widersprachen. Die Perserkriege dagegen verstärkten Ansätze einer gemeingriechischen Identität gegenüber einem als Barbar charakterisierten äußeren Feind. Als Griechenland unter persischen und schließlich makedonischen

3 ) Karl Marx·. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Ders./Friedrich Engels: Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 39 Bde., Ergänzungsbd. Teil 1-2, Berlin 1956-68, 13.Aufl. 1981, hier: Bd. 42, Berlin 1983, S. 386, und Weber. Wirtschaft, S. 809f.; vgl. Christian Meier. Die Rolle des Krieges im klassischen Athen, in: HZ 251 (1990), S. 555-605, wieder als Sonderdruck des Historischen Kollegs, München 1991, S.7. 4 ) Vgl. Demandt: Idealstaat, S.249f. 5 ) Vgl. Carl Werner Müller. Der schöne Tod des Polisbürgers. Oder .Ehrenvoll ist es, fur das Vaterland zu sterben', in: Gymnasium 96 (1989), S. 317-340, hier: S. 320 ff., sowie Gherardo G«o///Jean-Pierre Vernant (Hrsg.): La Mort, les morts dans les societes anciennes, Paris 1982. 6 ) Homer. Ilias VI, 208; Herodof. VII, 9 und Polybios: XIII, 3; vgl. Meier. Rolle, S. 15 und 28; Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, S.90 ff.; Raoul Lonis: Guerre et religion en Grece ä l'epoque classique, Paris 1979, S. 25 f., sowie Pierre Ellinger. La Legende nationale phocidienne. Artemis, les situations extremes et les recits de guerre d'aneantissement, Paris 1993.

1. Antike Deutungskategorien

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Einfluß geriet, verlor das Selbstbild des Polis-Bürgers an Wirkung. Kriege wurden jetzt vor allem mit Söldnern geführt. Auch für die germanischen Völker existieren Hinweise auf einen agonalen Kriegscharakter. Der kriegerische Konflikt kam hier der Offenbarung eines göttlichen Beschlusses über die Rechtmäßigkeit einer Forderung gleich, und der Rückgriff auf unritterliche Kriegspraktiken hätte danach den göttlichen Beschluß verfälscht. Damit verband sich die Heroisierung des Einzelkämpfers und seiner individuellen Tapferkeit, nicht aber eine kollektive Werthaltung im Sinne einer Gemeinschaftsbildung.7) Gegenüber dem Appell an griechische und panhellenische Gemeinsamkeiten stand im antiken Rom die Erfahrung eines gleichsam permanenten Kriegszustandes. Dem entsprach auch der Unterschied zwischen der Konzentration auf die Polisgemeinde als politischen und sozialen Orientierungspunkt griechischer Staatsphilosophie und den imperialen Erfahrungen Roms. Das führte zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Krieg bei den römischen Staatstheoretikern, deren Kriegsdeutungen von der Prämisse geprägt waren, daß der außenpolitische Handlungsraum von Rechtlosigkeit und einem ungeordneten Naturzustand geprägt sei. Die ursprüngliche Bedeutung von hostis bezog sich auf einen rechtlosen Fremden. Pax ging worthistorisch auf paciscor/pactus sum im Sinne von „festsetzen" zurück. Frieden bezeichnete also die Überwindung des rechtlosen Naturzustandes durch vertragliche Setzung. Als ordnende Instanz innerhalb dieses Naturzustandes verstand man die Götter, aber nicht im Sinne eines ethischen Kriegsverbots, sondern als göttlich prädestiniertes Kriegsglück.8) Die Erfahrung der römischen Expansion führte gegenüber dem agonalen Kriegsideal zum Modell des bellum iustum, in dessen Mittelpunkt nicht das heroisch kämpfende Individuum stand, sondern der tapfere und loyale Offizier.9) Die Unterordnung des einzelnen unter ein auf die res publica bezogenes Wertsystem verwies auf eine Erziehungslehre des Krieges, welche die Opfertugend im Namen des Staates betonte. Obwohl es in der griechischen Antike Beispiele für eine 6e//Mm-/wsfwm-Argumentation gab, wurde erst in der römischen Kultur eine systematische Definition des gerechten Krieges entwikkelt. So betonte Augustus: „Nulli genti bello per iniuriam inlato".I0) Die Verletzung des Naturrechts durch einen Gegner rechtfertigte den Krieg und erzwang eine formelle Erklärung, die den Zweck des Krieges öffentlich machte. Der gerechte Krieg wurde demnach geführt, um etwas Verlorenes wiederzugewinnen und unrechtmäßige Eroberungen abzuwehren: „Iustum bellum est, quod ex 7

) Vgl. Meier. Rolle, S. 53 f. und Demandf. Idealstaat, S.251 f. ) Vgl. ebd., S. 248. ') Vgl. Polybios: XXXVI, 9; vgl. Sigrid Albert: Bellum iustum: Die Theorie des .gerechten Krieges' und ihre praktische Bedeutung für die auswärtigen Auseinandersetzungen Roms in republikanischer Zeit, Kallmünz 1980; Hans Drexler: Iustum Bellum, in: Rheinisches Museum 102 (1959), S. 97-140, sowie Mauro Mantovani, Bellum Iustum: Die Idee des gerechten Krieges in der römischen Kaiserzeit, Frankfurt/M. 1990. 10 ) Monumentum Ancyranum, 26. 8

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat

praedicto geritur de rebus repetitis aut propulsandorum hostium causa".11) Auch das bellum iustum unterlag in der Theorie bestimmten Rechtsnormen, so etwa im Hinblick auf den Schutz des Gesandtenrechts und der Gefangenen. Die Vorstellung des Krieges als gerechtfertigte Wiedergutmachung eines an den Römern begangenen Unrechts wurde auch in der Formel des purum pium duellum deutlich: Nach römischer Vorstellung riefen die für die Überbringung eines Ultimatums zuständigen Fetialen die Götter zu Zeugen für die Weigerung des Gegners, dem römischen Volk ein geschehenes Unrecht wiedergutzumachen. Insofern konnte der Krieg als pium und purum angesehen werden. Nach dieser Vorstellung war es von nachrangiger Bedeutung, ob der Krieg, wie von Cicero unterschieden, pro salute, als Verteidigung gegen einen Angriff, oder pro fide, also in Unterstützung bedrohter Bundesgenossen geführt wurde. Das bellum iustum blieb konzeptionell in beiden Kategorien eine Reaktion auf den Bruch der naturrechtlichen Ordnung.12) Die Rechtfertigung des Krieges aus der Orientierung an einem spezifischen Wertekanon wurde auch im Hinblick auf den Grundbegrifffides deutlich. Nach Ciceros idealtypischer Definition handelte es sich bei fides um Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit als Grundlagen jeder politischen und gesellschaftlichen gerechten Bindung. Aus fides ergab sich eine gegenseitige Verpflichtung zu Schutz und Hilfe und Loyalität. Die Unterordnung des einzelnen unter das abstrakte Ideal der mit fides assoziierten Ordnung der res publica verwies auf ein transpersonal verstandenes Opferideal und eine Moralisierung des Krieges.13) Dies wurde in der semantischen Entwicklung von patria und der Konnotation des Opfermotivs noch deutlicher. Diese emotionale Verbindung zwischen dem einzelnen Bürger und der ethisch übergeordneten patria kann nicht von der Selbstideologisierung Roms getrennt werden.' 4 ) Bezog sich patria auf die politische, religiöse und ethische Werteordnung vor allem der römischen Republik, so zeigte sich in der Phase des Römischen Kaiserreichs eine Tendenz zur Abstraktion der patria. Der Imagination des kaiserlichen pater patriae diente dabei vor allem die Manifestation als erfolgreicher Feldherr, der durch die religiöse Steigerung des Personenkults zum eigentlichen Träger des Krieges avancierte. Unter Augustus erlebte diese Entwicklung ihren Höhepunkt im Versuch, die religiöse Kriegskonstruktion symbolisch im Mars-Ultor-Tempel festzu") Cicew. rep. III, 35 n ) Vgl. Properz: IV, 6, 51 f.; vgl. Demandt: Idealstaat, S.253 ff. 13 ) Vgl. Cicero: off. I, 23; vgl. Carl Becker: Fides, in: Reallexikon für Antike und Christentum, hrsg. von Theodor Klausnerl Ernst Dassmann et al., Stuttgart 1950 ff., hier: Bd. 7,1969, Sp. 801-839; Dieter Nörr: Die Fides im römischen Völkerrecht, Heidelberg 1991, sowie Jörg Rüpke: Domi Militiae. Die religiöse Konstruktion des Krieges in Rom, Stuttgart 1990, S. 121, sowie Demandf. Idealstaat, S. 255 ff. 14 ) Vgl. Hannah Arendt: The Human Condition, Chicago 1958, S. 120ff.; Emst Kantorowicz: The King's Two Bodies: A Study in Medieval Political Theory, Princeton 1957, S. 242 ff., sowie Mary G. Dietz: Patriotism, in: Terence ßa///James Farr/Russell L. Hanson (Hrsg.): Political Innovation and Conceptual Change, Cambridge 1989, S. 177-193.

2. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Entwicklungstendenzen

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schreiben. Auch die Stilisierung des Parthersieges als Zeichen der Göttlichkeit und Einzigartigkeit des Augustus, aber vor allem als Symbol fur die Überwindung der Bürgerkriege und die neugewonnene Übereinstimmung zwischen der res publica und den römischen Göttern wies in diese Richtung. 15 ) In der frühchristlichen Phase erlebte der Opfergedanke eine Revitalisierung, während die patria gleichzeitig aus ihrer säkularen Konnotation gelöst und bei Augustinus spiritualisiert wurde. Das Opfer für die patria Gottes war nun nicht länger eine ethische Bürgerpflicht, sondern Handeln nach dem Vorbild der christlichen Heiligen und Märtyrer. Wer Rom als identitätsstiftende patria ansah, blieb in der civitas terrena gefangen, während allein die civitas dei als eigentliche patria angesehen werden konnte. 16 )

2. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Entwicklungstendenzen: bellum iustum, Staatsbildungskrieg und konfessionelles bellum civile Mit dem Untergang des Römischen Reichs und vor dem Hintergrund der Spiritualisierung des ρα/πα-Begriffs ging eine Neufassung von Loyalitätsmustern einher, die sich auch auf die Legitimation von Gewalt auswirkte. Personalisierte Beziehungen zwischen Lehnsherrn und Vasallen traten an die Stelle von abstrakten Bezugspunkten wie Territorium oder imperium. Bei der Legitimation von Kriegsgründen beschränkten sich die Kirche und ihre Theologen seit Augustinus zunächst auf das bellum iustum als Verteidigungskrieg, dem Thomas von Aquin drei Elemente zuordnete: Auctoritas principis, also legitime Autorität, iusta causa, das heißt die Rechtfertigung des Krieges durch Hinweis auf die Schuld der zu Bekämpfenden, sowie intentio recta als Ausrichtung an dem ethischen Ziel, Gutes zu forden und Böses zu verhindern. Hinzu trat die Bindung des bellum iustum an das bonum commune,17) Gratians Kriegsbestimmung konzentrierte sich bereits auf die individuelle Moral des Kämpfers und die Unterordnung der Gewalt unter die von Gott gesetzte Ordnung. Das bellum iustum war an die öffentliche Gewalt, und das hieß im 12. Jahrhundert an den

,5 ) Vgl. Rüpke: Domi, S.241, sowie Paul Zanker. Augustus und die Macht der Bilder, München 1987, S. 189f. ") Vgl. Ernst Kantorowicz: Pro Patria mori in Medieval Political Thought, in: AHR 56 (1951), S. 472-^92, hier: S.474f„ sowie Dietz: Patriotism, S. 179. ") Thomas von Aquin: Summa theol. II/II, q. 40, a. 1 und q. 123, a. 5 sowie q. 40, a. 1; vgl. KimmenichlNohn: Krieg, Sp. 1231; Gerhard Beestermöller. Thomas von Aquin und der gerechte Krieg: Friedensethik im theologischen Kontext der summa theologiae, Köln 1990, sowie Kantorowicz: Patria, S.476f.

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat

König, gebunden. Die Teilnahme an einem so gerechtfertigten Krieg bedingte eine moralische Haltung des Kämpfers. 18 ) Eine argumentative Verknüpfung von patria und bellum ergab sich erst als Konsequenz der historischen Umbruchsepoche des 12. und 13. Jahrhunderts, als die Entstehung neuer Flächenstaaten die einzelne patria auf die in Königtum und Dynastie verankerte politische Ordnung ausrichtete. Für diese mittelalterliche Staatsbildung spielten Kriege eine entscheidende Rolle, indem sie den Aufstieg monarchischer Territorialstaaten mit der Ausbildung politischstaatlicher Strukturen im Innern verbanden. 19 ) Vor allem im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich wurden auch einzelne Deutungselemente erkennbar, die einen national konnotierten Antagonismus von Selbstund Fremdbildern enthielten, sowenig man darin bereits distinkte Nationsentwürfe wie im späten 18. und 19. Jahrhundert erkennen kann. Eine Verdichtung kollektiver Deutungsmuster entwickelte sich erst später, aber sie stand zumindest in einer historischen Verbindung zu früheren Tendenzen. Den durch Kriegserfahrungen katalysierten Prozeß der inneren Staatsbildung illustrierte exemplarisch die Entstehung königlicher Kriegssteuern, zu deren Begründung man nun auf die einzelstaatliche patria verwies. Nach der Niederlage von Courtrai 1302 wandte sich der französische König Philipp IV. mit der Bitte um Hilfe an den Klerus „ad defensionem natalis patrie proqua reverenda patrum antiquitas pugnare precepit, eius curam liberorum preferens caritati". Im 12. und 13. Jahrhundert verstärkte sich also das Motiv des Opfers für die politischterritorial definierte patria. Dieses Opfer erschien nicht länger als heidnischer Akt in der Tradition von Augustinus. Vielmehr dominierte nun eine ausgesprochene Hochschätzung des amor patriae.20) Wurde das mittelalterliche Bild des Krieges von der Vorstellung eines sich im Krieg äußernden Gottesurteils geprägt, blieb als strukturelle Rahmenbedingung die feudale Hierarchie für die aktive Kriegsteilnahme bestimmend. Über sie entschied das Privileg, Waffen zu tragen. Das Schloß Volksaufgebote zunächst aus und ließ die berittene Streitmacht und die von den individuellen Rittern unterhaltenen Söldner zum Kern mittelalterlicher Kleinheere werden, in denen noch bis ins 14. Jahrhundert der Einzelkampf dem Ideal der Prüfung ritterlicher Tugenden entsprach.21) 18 ) Vgl. Ernst-Dieter Hehl·. Kirche, Krieg und Staatlichkeit im hohen Mittelalter, in: Rösener (Hrsg.): Staat, S. 17-36, hier: S. 30 ff. ") Vgl. Peter Moraw: Staat und Krieg im deutschen Spätmittelalter, in: ebd., S. 82-112, hier: S.lOOf. 20 ) Zitiert nach: Kantorowicz: Patria, S.479; vgl. ebd., S.489, und Ders.: Bodies, S.243. 21 ) Vgl. Karl Gottfried Cram: Iudicium belli. Zum Rechtscharakter des Krieges im deutschen Mittelalter, Münster 1955, sowie C. Oman·. A History of the Art of War in the Middle Ages, 2 Bde., London 1924; Philippe Contamine: La guerre au Moyen Age, Paris 1980; P. Thorau: Krieg, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München 1991, Sp. 1525-1527; A. Goodman!Α.. Tuck (Hrsg.): War and Border Societies in the Middle Ages, London 1992; Norbert Ohler. Krieg und Frieden im Mittelalter, München 1997;

2. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Entwicklungstendenzen

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Die dichte Abfolge kriegerischer Konflikte darf nicht zu der Annahme verleiten, die frühneuzeitliche Staatenwelt Europas sei allein das Ergebnis von Kriegen gewesen. Auch in dieser Interpretation dominiert das Denken vom Ergebnis her, so sehr mittelalterliche und frühneuzeitliche Kriegserfahrungen die spätere Konstruktion bellizistischer Traditionslinien imprägniert haben. Erst die spätere Aneignung der Geschichte dieser Kriege trug zur Entwicklung deutlich abgegrenzter Nationsentwürfe bei. Hervorzuheben ist im Gegensatz zur Bedeutung von Volk und Nation für die Selbstentwürfe des späten 18. und 19. Jahrhunderts vor allem das dynastische Erbrecht. Die Funktion von Erbfolgekonflikten als Kriegslegitimation aber war ein Erbe des Mittelalters und reichte bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Durch diese Kriegslegitimation traten die Dynastien, Fürsten und Monarchen in den Vordergrund und überlagerten andere Begründungsmuster. 22 ) Erst im Kontext der europäischen Aufklärungsdiskurse und der Erfahrungsumbrüche im Zeitalter der Französischen Revolution erodierte diese auf Fürst, Dynastie und Hof ausgerichtete Legitimationsvorstellung. Aber noch vor dieser Epoche läßt sich im 15. und vor allem seit dem frühen 16. Jahrhundert ein Erfahrungsumbruch konstatieren, der sich auf die Aneignung von Kriegserfahrungen auswirkte. Einmal gewann die Frage nach der mit dem bellum iustum verbundenen legitimen Autorität vor allem im Zeitalter religiöser und kirchlicher Reformbewegungen und schließlich seit der Reformation eine neuartige Dimension. Will man von einer frühen ideologischen Imprägnierung des Krieges sprechen, dann zeichnete sie sich seit Beginn des 15. Jahrhunderts unter religiös-konfessionellen Zeichen ab. So schufen die hussitischen Kämpfer zur Verteidigung der böhmischen Reformbewegung, zumal der populären Kelchkommunion für Laien, 1419 ein Aufgebot aus bäuerlichen und kleinstädtischen Kämpfern, die eine neue Taktik verfolgten und den Beginn der Entwicklung von Landsknechtsverbänden markierten. Die Militärordonnanz des Ritters Johann Zizka, eine im 15. und 16. Jahrhundert immer wieder kopierte Kampfordnung, verfolgte das Ziel, die Kampfbereitschaft im Hinblick auf die gerechte Sache der hussitischen Reform zu fördern. Die Verbindung zwischen religiöser Motivation und militärischer Verfassung spielte auch bei Kaiser Maximilian I. eine wichtige Rolle. 23 ) Den eigentlichen Erfahrungsum-

Thomas Scharff: Die Kämpfe der Herrscher und Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit, Darmstadt 2002; Len E. Scales: War and German Identity in the Later Middle Ages, in: PP 180 (2003), S. 41-82, sowie Werner Rösener: Rittertum und Krieg im Stauferreich, in: Ders. (Hrsg.): Staat, S. 37-63. 22 ) Vgl. Ferdinand Seibt: Die Begründung Europas. Ein Zwischenbericht über die letzten tausend Jahre, Frankfurt/M. 2002, S.229f.; vgl. Stig Förster/Markus Pöhlmann/ Dierk Walter (Hrsg.): Kriegsherren der Weltgeschichte. 22 historische Portraits, München 2006. 23 ) Vgl. Frederick G. Heymann: John Zizka and the Hussite Revolution, London 1969, sowie Seibt: Begründung, S.228.

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bruch markierten aber die Reformation und die konfessionellen Bürgerkriege im 16. und 17. Jahrhundert: In ihnen stand die emotionale Identifizierung mit der als „gerecht" und „wahr" erachteten Sache im Vordergrund. Aus der Erfahrung dieser Konflikte ergab sich eine naturrechtliche Sicht auf Krieg und Frieden, die gegenüber der theologisch-kirchlichen enorm an Gewicht gewann. Außerhalb Deutschlands zeichnete sich im Kontext der konfessionellen Konflikte des 16. Jahrhunderts vereinzelt eine Berufung auf nationale Bestimmungselemente in Friedensverträgen ab. Zwar handelte es sich nicht um Rekurse auf den Begriff der Nation, aber doch auf ein territoriales oder konfessionelles Sonderbewußtsein, das man in Friedensverhandlungen einbrachte.24) Schließlich zeigte sich in der Umbruchsphase vom 15. zum 16. Jahrhundert eine Abwendung vom überkommenen Ideal des bellum iustum. Niccolo Machiavelli ging es in seiner Bestimmung nicht mehr um die Frage, ob der Krieg an sich berechtigt, sondern wie er siegreich zu fuhren war. Der militärische Sieg schien die Legitimität des Staates und seine Fähigkeit zu erweisen, als Garant der inneren Ordnung zu wirken. Gegenüber dem ius in hello traten Fragen nach der ethischen Begründung des bellum iustum und nach einem über den Kriegsparteien stehenden Recht zurück. Damit wurde die Kriegsfuhrung im aristotelischen Sinne wieder zu einer Erwerbskunst, der Machiavelli auch eine vitalistische Funktion für die Ausprägung von Tugenden zuerkannte. Das bedeutete keine Zwangsläufigkeit der Expansion und außenpolitischen Aggression des Staates, denn gerade aus ihr könne sich jene Überanstrengung der Kräfte ergeben, die im Römischen Reich zum historischen Niedergang beigetragen habe.25) Die Ideologisierung des Krieges im Zuge der konfessionellen Bürgerkriege und das Zurücktreten der tradierten bellum-iustum-Argumentation markierten eine krisenhafte Umbruchsperiode, in der sich bei der Aneignung von Kriegserfahrungen die Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Fällen klarer abzuzeichnen begannen. Hier setzt daher auch der systematische Vergleich ein.

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) Vgl. Vertrag vom 12. September 1543, zitiert nach: Jean Dumont. Corps universel diplomatique du droit des gens, 8 Bde., Amsterdam 1726-1731, hier: Bd. 4, 2, 266a, Nr. 169; Vertrag vom 17. Mai 1579, in: ebd., Bd. 5, 1, 354, Nr. 166; vgl. Jörg Fisch: Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979, S.448. 25 ) Vgl. KimmeniehlNohw. Krieg, Sp. 1232; Georg Christoph Berger Waldenegg: Krieg und Expansion bei Machiavelli. Überlegungen zu einem vernachlässigten Kapitel seiner „politischen Theorie", in: HZ 271/1 (2000), S . l - 5 5 , hier: S.35f.; M. E. Mallet: Mercenaries and their Masters: Warfare in Renaissance Italy, London 1976, sowie Hans Joachim Diesner. Stimmen zu Krieg und Frieden im Renaissance-Humanismus, Göttingen 1990.

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3. Frankreich a) Les semences des guerres civiles: Die Umkehrung des bellum omnium contra omnes in den monarchischen Bellizismus aus der Erfahrung des konfessionellen Bürgerkrieges Die Ursprünge der Beziehung zwischen Kriegserfahrungen und Vorstellungen nationaler Selbstbilder reichen im Falle Frankreichs besonders weit zurück. Das hatte mit dem Charakter der Monarchie als sakraler Macht, die weit über den politisch-territorialen Bezugsrahmen hinausging, und mit den besonderen Kennzeichen des französischen Staatsbildungsprozesses zu tun. Hier spielten sowohl das zunehmende politische Gewicht der Krone und ihre besonderen Legitimationsmuster gegenüber ständischen Konkurrenzgewalten als auch kriegerische Konflikte eine hervorragende Rolle. Der Gedanke des individuellen Opfers für die königliche Dynastie läßt sich ohne seine mittelalterlichen Grundlagen nicht angemessen verstehen. Stärker als in anderen Fällen drückte sich in der Beziehung zwischen Königtum und Untertanenverband eine sakrale Bedeutung der Krone aus, die sich lange Zeit erhalten konnte und der Monarchie eine einzigartige Dominanz innerhalb kollektiver Deutungsmuster sicherte. Kaum ein anderes Beispiel veranschaulichte die Position der Monarchie und die ihr zuerkannte mythische Kraft als Zeichen einer gottunmittelbaren Herkunft so eindrucksvoll wie die massenhaften Heilungsrituale der rois thaumaturges.26) Dahinter stand der Glaube an die göttlich vermittelte Kraft der französischen Könige als Symbol für ihre Gottunmittelbarkeit. Sie manifestierte sich in der Heilung der Skrofeln durch einen christlichen König und setzte sich als inszenierte öffentliche Darstellung der Monarchie bis zur Herrschaft Ludwigs XV. und seines Nachfolgers fort. Die Vorstellung der in einer königlichen Dynastie erblichen Heiligkeit aus früheren Zeiten und ihre Manifestation im Ritual trugen wesentlich dazu bei, den Gedanken der Loyalität und der Opferbereitschaft gegenüber der Dynastie ständig neu zu aktualisieren. Der Glaube an die besondere Legitimität des Geschlechts wurde so zu einer wichtigen Stütze des französischen Königtums, die es dem Monarchen erlaubte, den Anspruch auf Verkörperung christlicher Werte und Tugenden zu monopolisieren. Gehorsam, Loyalität, Unterwerfung und letztlich auch das Kriegsopfer für den Herrscher nahmen den Charakter einer religiösen Haltung an. Der Tod für das Herrschergeschlecht bedeutete die Rettung der Seele eines kämpfenden Lehnsvasallen. Dieses sakral begründete Legitimationsmuster trug auch dazu bei, daß das französische Königtum seit dem 13. Jahrhundert immer stärker gegenüber der tra26

) Vgl. Marc Block. Les rois thaumaturges. Etude sur le caractere sumaturel attribue ä la puissance royale particulierement en France et en Angleterre (1923). Preface de Jacques Le Goff, Paris 1983 (deutsche Ausgabe: Marc Block. Die wundertätigen Könige, München 1998), sowie Philippe Contamine: La guerre et l'Etat monarchique dans la France de la fin du Moyen Äge, in: Rösener (Hrsg): Staat, S. 64-81.

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ditionalen Bindung an lokale oder regionale Lehnsherren hervortreten konnte. Aus der sakralen Qualität der Monarchie ergab sich zugleich ein besonderer Wert des individuellen Opfers für die Königsdynastie: Das Opfer der Soldaten im Kampf gegen die Ungläubigen entsprach dem Opfer für den französischen Monarchen. Er verkörperte das Ideal eines vorbildlichen christlichen Königtums, und der Opfertod fur ihn verhieß eine indirekte Teilnahme an der Sakralqualität der königlichen Dynastie.27) Im Zeitalter des Hundertjährigen Krieges erfuhr diese religiöse Überhöhung der monarchischen Selbstdeutung eine erhebliche Intensivierung, denn in der Abgrenzung von England verband sich die religiös-sakrale Qualität des Königtums mit einem territorial bestimmten Sonderbewußtsein.28) Im Kontext des Krieges trat das Ideal des individuellen Opfers für das höhere Gut der Monarchie als Verkörperung Frankreichs besonders klar hervor.29) Fokussiert wurde der Zusammenhang zwischen kriegerischer Gewalterfahrung und einem nationalpatriotischen Verständnis des Königtums in der Figur Jeanne d'Arcs, der von Gott mit der Rettung Frankreichs beauftragten Jungfrau, und in der mystischen Sicht auf den Krönungsort Reims als Zeichen für die besondere Gottesnähe der französischen Königsdynastie.30) Von der nationalreligiösen Stilisierung der französischen Monarchie und der Wendung gegen den äußeren Feind ging eine Flut kollektiv-identifikatorischer Selbstbilder aus. Davon profitierte langfristig vor allem die Monarchie selbst, weil sie in diesen Rekursen die sakrale Qualität ihres Herrschaftsanspruches immer neu aktualisieren und zugleich das Opfer im Krieg für eine im französischen Königtum sichtbar werdende geistlich-sakrale Dimension weltlicher Gewalt thematisieren konnte. Für den Zusammenhang zwischen Königtum und nationalreligiösen Selbstbeschreibungen Frankreichs bedeutete das Zeitalter der konfessionellen Bürgerkriege eine tiefgreifende Zäsur, aus der die Monarchie in der Figur Heinrichs IV. erst nach langen und blutigen Kämpfen gestärkt hervorgehen konnte. Erst ihm gelang es, der Monarchie gegenüber den konfessionellen Konfliktparteien jene Position zu sichern, von der aus sie wieder als universelle Verkörperung Frankreichs und nicht mehr als bloße Partei im Bürgerkrieg angesehen werden konnte. Versuche der Monarchie, eine eigene Streitmacht aus den „gens de notre Nation" und nicht aus angekauften Söldnern zu schaffen, denen jede Identifizierung mit der Krone fehlte, hatte es allerdings bereits vor dem Ende der Bürgerkriege gegeben. So unterstrich Heinrich II. in der Präambel zu einer Ordonnance im Juli 1551 den besonderen Wert einer aus französischen Unter27

) Vgl. Bloch: Könige, S. 83 ff. und 269 ff. ) Vgl. P. S. Lewis'. War Propaganda and Historiography in Fifteenth-Century France and England, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th Series, 15 (1965), S. 1-21. 29 ) Colette Beaune: Naissance de la nation France, Paris 1985, S. 324-335. 30 ) Vgl. Ernest Renan·. La monarchie constitutionnelle en France, in: Ders.: La reforme intellectuelle et morale, Paris 1871, S.251 f.; vgl. Bloch'. Könige, S.271. 28

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tanen geschaffenen Streitmacht.31) Vor dem Hintergrund der konfessionellen Bürgerkriege in Frankreich kam es zu einer Neubestimmung des monarchisch verfaßten Staates in seiner Funktion, die Bürger gegen Gewalt im Inneren zu schützen und nicht nur nach außen zu verteidigen.32) Jean Bodin reagierte 1572 damit auf eine Krise mittelalterlicher Gemeinschaftsvorstellungen. Der Krieg nicht als Auseinandersetzung mit einem anderen Herrschaftsverband, der sich ethnisch oder territorial definieren ließ, sondern als Konflikt zwischen konfessionellen Parteien bedeutete das Ende der als Einheit gedachten societas civilis sive res publica. Bodin zog daraus die Konsequenz, indem er dem monarchischen Staat die Aufgabe zuwies, Frieden und Sicherheit unter den Bürgern durch Ausrottung der „racines" und „semences des guerres civiles" zu garantieren. 33 ) Der Erfahrungseinschnitt durch den konfessionellen Bürgerkrieg führte zu einer veränderten Stellung des Monarchen über den streitenden Religionsparteien, die einen gesteigerten Souveränitätsbegriff voraussetzte. Der innere Frieden wurde zum primären Ziel allen Staatshandelns. Entscheidend für das neue Verständnis der Souveränität des Monarchen wurde das unantastbare Monopol der inneren und äußeren Gewaltmittel. Daraus ergab sich die Funktion der bonne guerre als Testfall der durch Souveränitätsübertragung legitimierten Macht des Monarchen, und zwar nach innen zum Schutz der Untertanen und nach außen zum Schutz des Staates. Nach Bodin handelte der Monarch allein in der Monarchie Royale gemäß den Naturgesetzen. Natürliche Freiheit und Eigentum ließen sich nur dort wirksam verteidigen, wo der Souverän über „le droit des armes, et de bonne guerre" verfuge. So trat aus der Erfahrung des konfessionellen Bürgerkrieges in Frankreich neben die aus dem Mittelalter stammende nationalreligiöse Bedeutungslinie des Königtums, die sich vor allem im Krieg offenbarte, eine veränderte Schutzfunktion des souveränen Monarchen, die ihm das Gewaltmonopol sicherte und ihn von daher zum Mittelpunkt einer personalisierten Kriegsdeutung werden ließ: „Done la Monarchie Royale, ou legitime, est celle oü les suiects obeissent aux loix du Monarque, et le Monarque aux loix de nature, demeurant la liberie naturelle et propriety des biens et des personnes par le droit des armes, et de bonne guerre, gouvernant ses subiects comme le pere de famille ses esclaves".34) Entscheidend an Bodins Prämisse blieb die Legitimation der Monarchie aus der Wahrnehmung des konfessionellen Bürgerkrieges, der die Existenz des 31

) Heinrich II. in der Präambel einer Ordonnance, 16. Juli 1551, zitiert nach: La Fin de la nation armee, Paris 1934, S. 13. 32 ) Vgl. Roman Schnur. Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, Berlin 1962. 33 ) Jean Bodin·. Les six livres de la Republique 4, 4 und 5, 5 (1576), ND. Aalen 1961, S. 582 und 760; vgl. Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 5, S. 262. 34 ) Bodin: Livres, 2, 2, S.273; vgl. Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 6, S. 672 f.

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französischen Staates in Frage gestellt hatte. Der Monarch wurde zum unbestrittenen Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols nach innen und außen und damit zum universellen Kriegssubjekt. Der neue Souveränitätsbegriff wurde an der guerre civile und der guerre estrangiere deutlich: Das monarchische Gewaltmonopol diente der Verhinderung des Bürgerkrieges im Inneren, schuf den nach außen hin homogenen Staat als eine abgeschlossene Einheit und ließ den Krieg zwischen souveränen Staaten entstehen. Zahlreiche Autoren stellten nach dem Bürgerkrieg einen direkten Bezug zwischen beiden Kriegskategorien her, indem sie den stabilisierenden Effekt zwischenstaatlicher Konflikte auf das innere Gefüge eines Staates betonten. So blieb auch für Michel de Montaigne die innere Befriedung wichtiger als der äußere Frieden: „une guerre estrangiere est un mal bien plus doux que la civile. Mais je ne croy pas que Dieu favorisat une si injuste entreprise d'offencer et quereler autruy pour nostre commodite". 35 ) Auch Kardinal Richelieu betonte den reinigenden und stabilisierenden Effekt von äußeren Staatenkriegen für den aus dem Bürgerkrieg hervorgegangenen französischen Staat.36) Die Umkehrung des Bellizismus von innen nach außen, die Ableitung der im konfessionellen Bürgerkrieg erfahrenen Gewalt in den äußeren Staatenkrieg, wurde zu einem wichtigen Bestandteil der Kriegsbestimmungen der folgenden Epochen. Nicht zu übersehen ist dabei zunächst die Steigerung des monarchischen Herrschaftsanspruches und Souveränitätsbegriffes. Aus ihm ergab sich nicht allein der monarchische Zugriff auf das Gewaltmonopol, sondern auch ein neuartiges Deutungsmonopol des Krieges. Es war nicht länger eine konfessionelle Partei, sondern allein der Monarch, der Beginn und Ende eines Krieges definierte, den Konfliktaustrag rechtfertigte und damit den Charakter des Konflikts präjudizielle. Nach den Verwüstungen des Landes durch die konfessionellen Bürgerkriege bot der erste Krieg Frankreichs nach dem Ende des inneren Konflikts gegen Spanien von 1595 Heinrich IV. eine Chance, den äußeren Konflikt als Integrationsmittel nach innen zu nutzen und zur Überwindung der Bürgerkriegserfahrungen beizutragen. Unter Hinweis auf die Tradition der antifranzösischen Politik Spaniens ließ sich der äußere Krieg als Vergeltung für die spanischen Interventionen während des Bürgerkrieges interpretieren, während gleichzeitig von den konfessionellen und politischen Konflikten innerhalb der französischen Gesellschaft abgelenkt werden konnte: „ceste guerre estrangere est issue, 35

) Michel de Montaigne: Essais (1595), 2, 23, hrsg. von Pierre Michel, Bd. 4, Paris 1957, S.24. 36 ) Vgl. Edmund Silberner. La Guerre dans la pensee economique du 16e au 18e siecle, Paris 1939, S. 12 ff.; Kurt von Raumer (Hrsg): Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, München 1953, S.69, und Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 2, S.564; vgl. auch Klaus Malettke: Konzeptionen kollektiver Sicherheit in Europa bei Sully und Richelieu, in: A. Buch (Hrsg): Der Europa-Gedanke, Tübingen 1992, S. 83-106, sowie David Parrott: Richelieu's Army: War, Government & Society in France 1624-1642, Cambridge 2001.

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comme une branche, du tronc de celle de la Ligue, ou plus tost que celle de la Ligue est un rejetton de la vielle souche de celle d'Espagne: et que de ceste longue tragedie de guerre civile, l'Espagnol avoit resolu de jouer le principal et dernier personnage. Car toutes les rebellions des sujets de sa Majeste n'ont este suscitees et fomentees que par les artifices, l'argent, et les forces de cest ancien ennemy de nostre patrie, de laquelle il esperoit de faire une adjonction ä son domaine".37) Die gedachte Einheit Frankreichs im Sinne eines im Königtum repräsentierten Sonderbewußtseins setzte die Abgrenzung von einem äußeren Gegner voraus, die über konfessionelle Trennlinien hinausging und sich deshalb zur Integration nach innen eignete. Der „ennemy de nostre pays" ließ die traumatische Erinnerung an den Bürgerkrieg zurücktreten. Der Krieg gegen Spanien erwies in den Augen der französischen Zeitgenossen die Unterstützung Gottes fur den Monarchen und den französischen Staat: „C'est un merveilleux aveuglement, et une opiniastrete extreme, de ne voir ny croire la grande assistance de Dieu a la conservation de l'Estat de France".38) Der Sieg markierte einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einem von Gott vorherbestimmten Ziel, der Errichtung eines machtvollen „Empire d'Occident" in Kontinentaleuropa, das im Krieg gegen Spanien erkennbar und zugleich als Mahnung verstanden wurde: „Le destin de la France, qui nous promet l'Empire d'Occident, nous y appelle, et si nous mesprisons les dons du Ciel, il y a danger qu'au lieu de nous continuer ses benedictions, dont il s'est monstre envers nous liberalement prodigue, il ne nous prive mesmes des biens presens".39) Damit knüpfte man an die nationalreligiöse Qualität der Monarchie an, die als ein Erbe des Mittelalters durch den konfessionellen Bürgerkrieg in eine Krise geraten war, als die königliche Dynastie selbst die Rolle einer Religionspartei angenommen und damit ihre neutrale Position eingebüßt hatte. Schließlich befestigte der Sieg über Spanien und die Überwindung des Bürgerkrieges die Dimension der souveränen Monarchie, die Identifizierung der besonderen nationalen Stellung des Landes mit der Person des vorbildlichen Monarchen. In Heinrich IV. zeigte sich nicht allein die göttliche Auserwähltheit Frankreichs, er symbolisierte zugleich die neue Einheit des Landes nach dem Ende des inneren Konflikts. Der doppelte Sieg im Innern gegen die konfessionellen Bürgerkriegsparteien und nach außen gegen Spanien sicherte ihm eine fast mythische Stellung. Von der Person des exemplarischen Monarchen aus ließ sich nun die patriotische Qualität jedes Untertanen ableiten, sein Bewußtsein als 37

) Discours de la declaration de la guerre contre l'Espagnol, o.O. 1595, S.4; vgl. Myriam Yardeni: La conscience nationale en France pendant les guerres de religion (1559— 1598), Paris 1971, S. 319 und im folgenden S. 322 f. und 329. 38 ) Discours sur la reddition de la ville d'Amiens, o.O. 1597, S. 3 39 ) Discours politique sur la deroute des Espagnols, Paris 1595, S. 12; vgl. auch Discours d'Estat sur la paix et restauration de la France. Redressee a son premier honneur par les armes invincibles de Tres-chrestien et Tres-Auguste Henry IIIIe Roy de France et de Navarre, Paris 1598.

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Frangois. Der König bildete nun den Mittelpunkt aller anderen Identifikationsbegriffe. Gesetze, Staat und Territorium gingen allein von ihm aus und blieben in ihrer ΒindungsWirkung auf ihn zugeordnet. Nur der Dienst für den Monarchen konnte als Dienst an derpatrie gelten: Ce que tous voz subjets seront bien conseillez de suivre vostre exemple: pour s'entr'aimer les uns et les autres, ä qui mieux mieux, n'ayant autre but, que de se combattre et se vaincre par toutes sortes d'honnestes et utiles offices de ferme et fidele amitie! Pour faire paroistre qui sera le meilleur Francis, en faisant plus de service ä Vostre Majeste et ä la France ... N'estes vous pas tous, Francis, tous patriotes, tous subjects d'un mesme Roy, tous ses enfans. Un Roy, une Loy d'Estat, une Patrie, une terre, un air, une naissance, un interest commun et de bien et de mal, de paix et de guerre.40)

b) Le roi connetable: Die nationalreligiöse Konnotation der patrie und die Kriegführung als fürstliche Herrschaftsqualität Neben die nationalreligiöse Stilisierung der mittelalterlichen Monarchie traten also seit dem 16. Jahrhundert die Krisenerfahrungen der konfessionellen Bürgerkriege und der aristokratischen Fronde in der Mitte des 17. Jahrhunderts, als der Zusammenhang zwischen der guerre civile und der bedrohten patrie erneut thematisiert wurde.41) Daraus ergab sich jene Vorstellung des Opfertodes für Monarchie und patrie, die im 17. Jahrhundert dominierte und die sich mit christlichen Wertmustern sowie alttestamentarischen und antiken Beispielen des individuellen Opfers im Namen einer höheren Idee verband. So ließ Racine seine Esther bekennen: „Contente de perir s'il faut que je perisse, / J'irais pour mon pays m'offrir en sacrifice". 42 ) Die gallikanische Tradition des französischen Katholizismus verstärkte diese Deutung, indem sie, wie bei Bossuet, der Pflicht des Christen gegenüber Gott die Pflicht des Untertanen gegenüber der patrie und dem sie symbolisierenden König hervorhob: „II faut etre bon citoyen et sacrifier ä sa patrie dans le besoin tout ce qu'on a et sa propre vie". Noch deutlicher wurde diese Verpflichtung des einzelnen Untertanen bei dem jansenistischen Prediger Jean Soanen, der in einer 1683 in der Eglise des Feuillants gehaltenen Predigt nicht allein Religion und Vaterland als kollektive Orientierungspunkte beschrieb, sondern den Tod im Kampf für die Erhaltung des französischen Königreichs zur Pflicht jedes Christen erhob. Übertrug man diesen Gedanken auf die absolutistische Herrschaftsform, so ergab sich ein monarchisch-religiöser Bellizismus, der das Ethos des Soldaten als Untertanenideal betonte. Jeder Mensch erschien zunächst als Soldat, während sich Gott als Dieu des armees offenbarte:

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) Jean de Serres: Vceu pour la prosperity du Roy et du Royaume, Paris 1597, S. 63 f. ) Vgl. Lettre d'un gentilhomme franfais, portee ä monseigneur le prince de Conde par une tompette de la veritable armee du roi, pour le dissuader de la guerre qu'il fait ä sa patrie, Paris 1649. 42 ) Jean Racine: Esther, 1. Akt, 3. Szene, zitiert nach: Contamine: Mourir, S. 1687. 41

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La religion et la patrie sont les deux grands objets qui doivent continuellement nous occuper et dinger nos etudes ainsi que nos travaux... Soit qu'on aille ä la guerre, soit qu'on ceuvre pour l'Etat, il ne faut envisager que la gloire de Dieu et le bonheur de la patrie, et le chretien, uniquement aime du desir de son devoir, sent qu'il n'a de vie que pour en faire le sacrifice a son Dieu et ä sa patrie ... la religion elle-meme nous fait une loi de mourir pour la conservation du royaume ... L'Ecriture nous apprend que le Tout-Puissant est vraiment le Dieu des armees, que c'est lui obeir que le defendre les interets de la religion et de la patrie au prix de son propre sang et que lorsqu'il s'agit de l'une et de l'autre tout homme est soldat: omnis homo miles.43)

Bei Soanen trat neben das selbstverständliche Nebeneinander von Religion und Vaterland die Stilisierung des Monarchen in der antikisierenden Tradition des pater patriae, als „pere de la patrie". Aus dieser Qualität des Monarchen wurde die identifikationsstiftende Qualität der patrie abgeleitet, denn sowohl „zele patriotique" als auch „esprit national" waren für ihn Ergebnisse der historischen Entwicklung der französischen Monarchie. Zumindest bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts besaßen patrie und nation noch keinen von Monarchie und Herrscherpersönlichkeit unabhängigen Eigenwert. Die monarchisch geführte Armee diente daher dem Ziel, den honneur von Monarch und Dynastie zu vermehren. Die Figur des roi connetable, des Feldherrnkönigs, der die Einheit von Monarchie und patrie symbolisierte, indem er sein Heer persönlich anführte und so sein Charisma bewies, war der unmittelbare Ausdruck dieses Ideals. Rekurse auf die im Krieg siegreiche französische Nation und das Ideal eines europäischen Machtgleichgewichts spielten für die symbolische Praxis des französischen Absolutismus seit dem Ausgang des Bürgerkrieges, vor allem aber seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts eine zunehmend wichtige Rolle.44) Entscheidend blieb hier aber stets die überragende Rolle der Fürsten als Verkörperung der Staaten, wobei nation nahezu synonym zur zeitgenössischen Semantik von Staat verwendet wurde.45) Die im späteren 17. Jahrhundert zahlreichen Traktate und Monographien zur Art de la guerre spiegeln dies deutlich wider.46) Frankreich wurde nicht zuletzt über diese Kriegskunst-Literatur als europäisches Modell für die kriegerische Manifestation königlicher Herrschaftsansprüche wahrgenommen. Louis de Gayas Schrift von 1677 war nicht allein dem französischen König gewidmet, sondern bezog sich auf die antiken Feldherrnkönige als Modell für die kriegsbereite Nation und ihre Verkör43

) Zitiert nach: ebd., S. 1687 f. •") Vgl. La France victorieuse sous Louis le Grand, ballet qui sera danse au college de Clermont, a la tragedie d'Erixane, le 21e jour d'aoüt, Paris 1680, sowie zum Gleichgewichtsgedanken im 18. Jahrhundert Ludwig Martin Kahle: La balance de Γ Europe consideree comme la regle de la paix et de la guerre, Berlin 1744. 45 ) Vgl. Jean de la Chapelle: Lettres d'un Suisse ä un Francois oü l'on voit les veritables interets des princes et des nations de l'Europe qui sont en guerre, 8 Bde., Basel 1704-09; vgl. Kapitel IH.l.a). ") Vgl. Jürgen Lüh (Hrsg): Kriegskunst in Europa 1650-1800, Köln 2005.

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perung in der Person des vorbildhaften Monarchen. Der dominierende Gesichtspunkt der Hierarchie entsprach der Vorstellungswelt des Absolutismus mit der zentralen Position des Monarchen, in dem patrie und Volk aufzugehen schienen. Während das Militär den fürstlichen Herrschaftsanspruch widerspiegelte, der sich auf alle Bereiche von Staat und Gesellschaft bezog, fehlten Bezüge auf das klassisch-republikanische Ideal des individuellen Opfers für die patrie. Statt dessen überwogen die aristokratischen Wertbegriffe honneteti und devoir,47) Andere Beispiele der Art de la guerre-Literatur vom Ende des 17. und dem Beginn des 18. Jahrhunderts dokumentieren, daß die Verknüpfung einer übergeordneten Nationsidee mit der Erfahrung des Krieges zumindest in dieser Textgattung keine dominierende Rolle spielte. 48 ) In dem bekannten Werk des Marquis de Quincy über den Art de la guerre von 1727 ging es vor allem um die Verbindung von militärischem Dienst und individueller Tugendbildung. Das verriet die Perspektive des Adels, der im Offizierscorps einen sozialexklusiven Raum zu monopolisieren suchte. Allenfalls fiel die Betonung der Religion als Grundlage aller anderen vertus auf. Im Blick auf die aristokratische Domäne des OfFiziersdienstes sollte der Kriegsdienst Ausdruck je persönlicher Tugenden sein. Auch hier sucht man einen Verweis aufpatrie oder patriotisme vergebens. 49 ) Lediglich in der herausgehobenen Position des Generals erkannte de Quincy die Bedeutung der patrie an, die aber stets auf den Fürsten ausgerichtet blieb. Den „General d'Armee" zeichne im Krieg „le zele pour le service de son Prince & de la Patrie" aus.50) 47

) Louis de Gaya: L'Art de la guerre et la maniere dont on la fait a present. Ou Ton voit les fonctions de tous les officiers, de cavalerie, de l'infanterie, d'artillerie & des vivres, depuis le general d'armee, jusqu'au simple soldat; avec la methode de conduire les armees, de camper, d'assieger, & de donner bataille; ensemble un estat de toutes les charges, & les noms de villes, places, citadelles, chasteaux & forts oü le Roy entretient garnison; avec les termes generaux & particuliers de la guerre, dedie au Roy, Paris 1677. 4S ) Vgl. Allain Manesson-Mallef. Les travaux de Mars ou l'art de la guerre: contenant la maniere de construire & de fortifier toutes sortes de villes & de places, selon toutes les divers manieres qui ont este inventees jusqu'ä present par les plus sfavans auteurs, & les plus fameux ingenieurs qui ont traite de cette science, La Haye 1696; Vaultier. Observations sur l'art de faire la guerre, Paris 1714; Louis de Cormontaingne: L'art de la guerre, La Haye 1741; Jacques Francois de Chastenet, Marquis de Puysegur: Art de la guerre, par principes et par regies, 2 Bde., Paris 1748; Jean-Baptiste Joseph Damarzit de Sahuguet d'Espagnac: Essai sur la science de la guerre, ou recueil des observations de differents auteurs sur les moyens de la perfectionner, 3 Bde., La Haye 1751; Lancelot Turpin de Crisse : Essai sur l'art de la guerre, 2 Bde., Paris 1754; Jean Victor Traverse·. Etude militaire, pour servir d'introduction a l'instruction methodique de l'art de la guerre, 2 Teile, 3 Supplement-Bde., Basel 1755; Dictionnaire militaire portatif. Contenant tous les termes propres ä la guerre, 2 Bde., 4. Aufl. Paris 1758; LeRoy de Bosroger. Principes de l'art de la guerre, Straßburg 1764, sowie [d'Ecrammeville] Essai historique et militaire sur l'art de la guerre, 3 Bde., Paris 1789-90. 4

') Vgl. Marquis de Quincy·. L'Art de la guerre: ou maximes et instructions sur l'art militaire, La Haye 1727, S. 8 und 28. 50 ) Ebd., S.30 und 33.

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c) L 'esprit de la monarchie est la guerre et l'agrandissement: Die Krise der monarchischen Kriegsdeutung im Spiegel der aufgeklärten Despotismuskritik Auch in der religiösen Feier des militärischen Sieges durch das Te Deum als Höhepunkt der monarchisch inszenierten Siegesfeier manifestierte sich zunächst die Sicht des Krieges durch die französischen Könige, doch zeigten sich hier die ersten Anzeichen eines tiefgreifenden Wandels.51) Fanden unter Ludwig XIV. zwischen 1635 und 1658 fünf solcher Feiern in einemJahr statt, bestimmte Ludwig XV. fur das Jahr 1745 nicht weniger als zwölf. Die Jahre des Österreichischen Erbfolgekrieges markierten den Höhepunkt mit insgesamt 28 Feiern. Dagegen zählt man während des Siebenjährigen Krieges nur noch sieben und während des Krieges in Nordamerika nur noch zwei Te Deum-Feiern. Idealtypisch formulierten die zur Bestellung eines Te Deum verfaßten lettres royales die monarchische Interpretation des Krieges, wobei der auf den Monarchen hin zentrierte Wertbegriff der honneur dominierte. 1756 wurde der Eintritt Frankreichs in den Krieg entsprechend begründet: „avanger l'honneur de ma Couronne et proteger le Commerce de mes Estats".52) Der König bestimmte als Subjekt die Sprache dieser Dokumente, indem alle politischen und staatsrechtlichen Elemente, die der Kriegsbegründung zugrunde lagen, als sein Eigentum erschienen: „mon royaume", „mes Estats", „ma frontiere", „mes armees". Das war in den übrigen europäischen Monarchien kaum anders als in Frankreich. Dagegen zeichnete sich hier zwischen 1744 und 1781 eine Veränderung in der sprachlichen Charakterisierung der militärischen Gegner ab und reflektierte eine tendenzielle Veränderung in der Wahrnehmung der kriegführenden Akteure. Überwogen während des Österreichischen Erbfolgekrieges noch eindeutig der Bezug auf die Person des Königs in „mes ennemis" oder die Bezeichnung der auf den Monarchen bezogenen fürstlich-höfischen Sphäre in „la Reine de Hongrie" oder „la Cour de Vienne" und erschienen Völkernamen lediglich als Bezeichnung der feindlichen Armeen in „les Anglais, les Hessois, les Hollandais, les Autrichiens",53) so kündigte sich mit dem Siebenjährigen Krieg in Europa und Nordamerika ein Wandel an. Nunmehr erschienen die Feinde als territorial oder ethnisch unterscheidbare nations, als „FAngleterre" oder „les Anglais". Versuche der französischen Monarchie wie zwischen 1620 und 1660, Völkernamen aus offiziellen Dokumenten anläßlich militärischer Siege überhaupt zu tilgen und den Krieg als Konflikt zwischen monarchischen

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) Vgl. Michele Fogel: Celebrations de la monarchie et de la guerre: Les Te deum de victoire en France de 1744 ä 1783, in: ViallaneixlEhrard (Hrsg): Bataille, Bd. 1, S. 35-44. 52 ) Archives de la Guerre, A l 3413, pieces 156,119, zitiert nach: Fogel·. Te Deum, S.40ff. 53 ) Vgl. Jean Rousset de Missy. Histoire memorable des guerres entre les maisons de France et d'Autriche, 2 Bde., Amsterdam 1742.

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Persönlichkeiten und Dynastien zu interpretieren, ließen sich nun nicht mehr nachweisen.54) Die im Te Deum aufscheinende persönlich-monarchische und religiöse Kriegsdeutung ließ sich in den letzten vierzig Jahren des Ancien regime, also seit dem Ausgang des Österreichischen Erbfolgekrieges, offenkundig immer weniger durchsetzen. Die Tatsache, daß es nach 1749 überhaupt nur noch wenige Te Dewm-Feiern gab, verwies auf eine Veränderung in der Wirksamkeit der monarchischen Kriegsdeutung. Die zentrale Rolle des Königs als Kriegsherr, als Emanation des französischen Staates und der nationalen Religion, war in dieser Form nicht mehr überzeugend zu vermitteln. Der Krieg schien sich dem monarchischen Willen zunehmend zu entziehen, er war jedenfalls kein Monopol des Königs in seiner Selbstinszenierung als Zentrum des Staates mehr. Der Versuch, in der Feier des militärischen Sieges zugleich den Herrschaftsanspruch der absoluten Monarchie zu kommunizieren, erwies sich immer mehr als gefährlich und kontraproduktiv. Der Erzbischof von Arles konstatierte „la triste destinee de la religion ... gemissante sous les inculpations les plus contradictoires [est]... & d'enerver par la terreur de ses dogmes le courage du guerrier & d'allumer dans les ämes l'horrible soif du carnage, par l'appareil & la pompe de ses ceremonies".55) Diese Umkehrung des monarchischen Bellizismus in eine destabilisierende Tendenz reflektierte eine latente Krise absolutistischer Herrschaftsbegründung. Der Krieg war für die französische Monarchie nach 1749 jedenfalls kein so selbstverständliches und eindeutiges Legitimationsreservoir mehr wie zu Beginn des Jahrhunderts. Vor allem die Verbindung zwischen Monarchie und nationalreligiöser Selbstvergewisserung schien äußerst fragil geworden. Diese Entwicklung hatte sich zumindest tendenziell bereits früher angedeutet. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts setzte eine Interpretation ein, welche die scheinbar natürliche Identität von monarchischer Herrschaft und patrie in Frage stellte. So betonte La Bruyere, in einer despotischen Herrschaft gebe es überhaupt keinen Platz fur die patrie, denn „autres choses y suppleent: l'interet, la gloire, le service du prince".56) Diese Trennung von tyrannischer Herrschaft und patrie ließ auch den Opfertod des Untertanen nur dann als gerechtfertigt erscheinen, wenn die monarchische Herrschaft die Kriterien von Gerechtigkeit und Nützlichkeit erfüllte. Auf diesen Grundgedanken berief sich die Militärkritik der französischen Aufklärung. Ein wesentlicher Katalysator für die Kritik am absolutistischen Herrschaftsanspruch war die intensivierte Rezeption republikanischer Ideale der griechisch-römischen Antike. So fragte der französische Kanzler d'Aguesseau anläßlich des Todes von Ludwig XIV. in seiner Mercuriale vom 11. November 1715, welches die Bedingungen der Va54

) Vgl. Fogel: Te Deum, S.40f. ) Bibliotheque Municipale de Marseille, 993/26, zitiert nach: ebd., S. 42 f. 56 ) Zitiert nach: Contamine: Mourir, S. 1688. 55

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terlandsliebe in Monarchien seien. Für ihn war diese Vaterlandsliebe im strengen Sinne überhaupt nur in Republiken möglich, in denen ein organisches Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen gleichberechtigten Bürgern herrsche, das in Monarchien fehle. 57 ) Bei Charles de Montesquieu standen die Kritik an der despotischen Herrschaft und die Idealisierung der klassischen Republik nebeneinander. Er argumentierte fur eine Trennung zwischen absolutem Staat und Vaterlandsliebe: „Dans le gouvernement monarchique, l'Etat subsiste independamment de l'amour de la patrie". Die wirkliche Vaterlandsliebe erkannte er im Vorbild der Griechen und Römer, hinter die das Idealbild des christlichen Herrschers und des durch ihn symbolisierten Gottesgnadentums zurücktrat. Die der Antike folgenden Epochen hätten demgegenüber die Bindung des einzelnen an das Gemeinwesen immer weiter untergraben. Hinter dem Bekenntnis zum antik-republikanischen Ideal der patria stand eine kritische Distanz zur absoluten Herrschaft, die sich nicht auf loyale Bürger, sondern bezahlte Söldner stütze. 58 ) Gegenüber den Söldnerheeren als Werkzeug absolutistischer Machtausübung vertrat Montesquieu das Ideal einer weitgehenden Identität von Volk und Militär, wie er es am ehesten in einem Milizheer als Ausdruck des klassischen Republikanismus erkannte: „Pour que celui qui execute ne puisse pas opprimer, il faut que les armees qu'on lui confie soient le peuple, et aient le meme esprit que le peuple, comme cela fut a Rome jusqu'au temps de Marius." Im Gegensatz zu stehenden Heeren sollten die Soldaten, für Montesquieu „une des plus viles parties de la nation", nicht vom Rest der Gesellschaft abgesondert, sondern unter den Bürgern leben, aus denen sie hervorgingen. Die Trennung zwischen status civilis und status militaris, Bedingung des fürstlichen Gewaltmonopols und damit des aus der Erfahrung der Bürgerkriege gebildeten Souveränitätsbegriffes, ließ sich mit diesem Ideal nicht verbinden. Aber Montesquieu ging in seiner Despotismuskritik noch einen Schritt weiter, indem er Krieg und Frieden an bestimmte Staatsformen koppelte. Aus der Idealisierung des klassischen Republikanismus formulierte er eine Prämisse, die für den bellizistischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts grundlegend werden sollte. Danach seien Krieg und Expansion natürliche Konsequenzen der monarchischen Staatsordnung, während Republiken grundsätzlich auf Frieden und Ausgleich bedacht seien: ,,L'esprit de la monarchic est la guerre et l'agrandissement; l'esprit de la republique est la paix et la moderation". 59 ) Mit 57

) Vgl. Henri Francois d'Aguesseau: (Euvres, contenant les Discours pour l'ouverture des audiences, les Mercuriales, les Requisitoires et autres discours faits en differentes occasions, les Instructions sur les etudes propres ä former un magistrat, et autres ouvrages sur quelques-uns des objets de ces etudes, Bd. 1, Paris 1759, S. 254. 58 ) Vgl. Contamine: Mourir, S. 1689, sowie Marie-Madeleine Martin: Histoire de l'unite fran^aise. L'idee de patrie en France des origines ä nos jours, Paris 1982. 59 ) Charles de Montesquieu: De l'esprit des lois, 9,2, in: Ders.: (Euvres completes, hrsg. von Roger Caillois, Bd. 2, Paris 1958.

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dieser Formulierung schuf Montesquieu fur alle späteren Kritiker des Absolutismus und des Ancien regime eine wichtige Argumentationsbasis. Sein Rekurs auf den klassischen Republikanismus erlaubte ihm die indirekte Kritik an der Gegenwart durch die Stilisierung eines vorbildlichen historischen Gegenmodells. Mit der Militärkritik des 18. Jahrhunderts zeichnete sich damit zum ersten Mal das Grundproblem im Verhältnis von monarchischen Herrschaftsansprüchen, Kriegsdeutungen und einem veränderten Verständnis von patrie ab. Für einen Teil der staatskritischen französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts schien der Zusammenhang zwischen monarchischer patrie und Opfertod im Krieg jedenfalls kein verpflichtendes Ideal mehr zu sein. Voltaire, der sich als Weltbürger begriff, erachtete die Idee des bellum iustum als einen Widerspruch in sich selbst.60) Die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts verschärfende Kritik am fürstlichen Militär zielte auf die Verbindung zwischen territorialer Herrschaftsgewalt und Söldnerheer als Zeichen der Despotie. Dieses Instrument, das dem Fürsten prinzipiell in dauerhafter Loyalität verbunden war, wurde nun zum Objekt zeitgenössischer Kritik, die sich nicht zuletzt unter häufig bürgerlichen Anhängern der neuen Aufklärungsphilosophie durchsetzte. Konfrontiert mit der sozialen Exklusion vom adlig dominierten Offizierskorps, sahen sie in den Söldnerheeren der Gegenwart nur mechanische Werkzeuge einer absoluten Herrschaftsgewalt, die es zu überwinden galt.

4. Deutschland a) Das gelieble Vaterland der Hoch-Edlen Teutschen Nation: Der Appell an den Reichspatriotismus als Krisensymptom im 16. und 17. Jahrhundert Im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation verminderte sich mit dem Zerbrechen der konfessionellen Einheit im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches die Integrationskraft des Reichsbegriffes in der politischen Sprache Deutschlands. An Reich und Nation wurde dennoch weiterhin in Konflikt- und Krisenphasen appelliert, etwa wenn es wie im Augsburger Religionsfrieden von 1555 um eine konfessionell übergreifende Friedensregelung ging. Von besonderer Bedeutung fur die Reaktivierung solcher Selbstdeutungen wurden im 16. Jahrhundert aber vor allem Kriege gegen auswärtige Feinde. In fast allen Friedensverträgen seit Beginn der Reformation bis zum Prager Frieden von 1635 ist von der Teutschen Nation die Rede, deren Sicherheit der Friedensschluß dienen sollte. In erster Linie stellte der Rekurs auf die Nation hier eine gemeinsame Grundlage nach dem Zerbrechen der politischen und konfessionellen Einheit dar, so daß sich daran keine weitergehenden Integrationser60

) Vgl. Contamine·. Mourir, S. 1690.

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Wartungen knüpfen konnten. 61 ) Insbesondere die Türkengefahr zwang den Kaiser auf den Reichstagen des späten 16. Jahrhunderts zu einer Beschwörung von Nation und Reich als überkonfessionellen Instanzen, um so auch die Unterstützung der evangelischen Stände zu gewinnen. Den Türken, so hieß es anläßlich des 1594 stattfindenden Regensburger Reichstages, stehe der Weg „in das hertz teutscher nation" offen. 62 ) 1598 sprach Reinhold von Grotenbeck von der „particular defension und widerstand des reichs deutscher nation". 63 ) Im Gegensatz zu dieser Bestimmung von „deutscher Nation" im Kontext des Krieges konnte Nation sich auch auf die Gesamtheit aller Christen im Gegensatz zu den Andersgläubigen beziehen. Die Abgrenzungsfunktion des Begriffes war also nicht stark ausgeprägt. Eine zweite Welle des Reichspatriotismus entwickelte sich im Kontext des Dreißigjährigen Krieges, als das Reich unter dem Eindruck der ausländischen Interventionen zu zerbrechen drohte. 64 ) Hatte Abraham von Dohna bereits anläßlich des Reichstages von 1613 über den möglichen Krieg zwischen den Konfessionen geklagt, unter dem nur der gemeine Mann zu leiden habe, 65 ) ging es im Prager Frieden vom Mai 1635 zwischen dem Kaiser und dem Kurfürsten von Sachsen als Sprecher der protestantischen Reichsstände um einen Frieden 61

) Vgl. Fisch: Krieg, S.443. ) Proposition an den Reichstag von Regensburg von 1594, zitiert nach: Winfried Schulz: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978, S. 97; vgl. auch Braudel: Mittelmeer, Bd. 2, S. 662; vgl. im folgenden Brunner/Conze/Koselleck(Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 7, S. 295 ff., Schmidt: Kriege, passim, sowie Almut Höfert: Den Feind beschreiben. ,Türkengefahr' und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450-1600, Frankfurt/M. 2004. 63 ) Reinhold von Grotenbeck: Außführlich Bedencken oder Rathschlag über dem noch schwebenden Kriegswesen in Ungarn, 1598, zitiert nach: Schulze: Reich, S.32. M ) Vgl. Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt/M. 1992; Konrad Repgen: Der Westfälische Friede und die zeitgenössische Öffentlichkeit, in: HJb 117/1 (1997), S. 38-83; Bernd Roeck: Der Dreißigjährige Krieg und die Menschen im Reich. Überlegungen zu den Formen psychischer Krisenbewältigung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Kroener/Präve (Hrsg.): Krieg, S. 265-280; Ernst Höfer: Das Ende des Dreißigjährigen Krieges. Strategie und Kriegsbild, Köln 1997; Michael Kaiser: „Excidium Magdeburgense". Beobachtungen zur Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im Dreißigjährigen Krieg, in: Markus MeumannfDirk Niefanger (Hrsg.): Ein Schauplatz herber Angst, Göttingen 1997, S.43-64, sowie Matthias Asche/Anton Schindling (Hrsg.): Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Münster 2001. 6S ) Abraham von Dohna: Historische reimen von dem ungereimten reichstag anno 1613. Durch einen kurzweiligen liebhaber der Wahrheit ans Hecht gebracht, desselben jars in der weinlese nach der stroernte, o.O., ca. 1613/14, zitiert nach: Anton Chroust: Abraham von Dohna. Sein Leben und sein Gedicht auf dem Reichstag von 1613, München 1896, sowie nach Albrecht Schöne (Hrsg.): Die Deutsche Literatur vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Bd. 3: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse, München 1968, S.740. 62

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat

zum Wohl von Reich und deutscher Nation. In dem in Prag unterzeichneten Friedensvertrag hieß es, daß eine Einigung „sonderlich wegen dero auffs Reichs Boden sich noch befindenden ausländischen Nationen und Kriegs-Partheyen" verhindert worden sei. Das Ziel sei, „nach so vielen lang gewährten Kriegen und darüber ausgestandenem Elend, Noth und Zerstörung" das „geliebte Vaterland der Hoch-Edlen Teutschen Nation" wiederaufzurichten. 66 ) Das Auseinanderfallen von Reich und Partikularstaaten verhinderten solche durchaus kalkulierten Bekenntnisse nicht, aber gemessen an den weitgespannten politischen Erwartungen der Reichsstände war der Wirkung solcher Positionen eine enge Grenze gesetzt. Aber der Dreißigjährige Krieg bedeutete einen wichtigen Anknüpfungspunkt fur die Artikulation nationalpatriotischer Bekenntnisse. Anlaß für den Appell an das fürstlich-partikulare Vaterland war bereits vor 1618, im Kontext zunehmender Spannungen zwischen den Religionsparteien, der Aufruf an die Untertanen, nicht für fremde Landesherren Kriegsdienst zu leisten. 67 ) Der 1618 ausgebrochene Krieg erschien Zeitgenossen ausdrücklich als „Religions Krieg".68) Aus beiden konfessionellen Lagern appellierte man immer wieder an die „Teutsche Nation", wobei man aus protestantischer Sicht damit

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) Pragischer Friedens-Schluß, welcher zwischen der Rom. Kayserl. Majestät Ferdinando II. und Churfurst Johann Georg dem I. zu Sachsen Anno 1635 zu Prag ausgerichtet worden, zitiert nach: Johann Christian Lünig: Das Teutsche Reichs-Archiv, Bd. 5, Pars Specialis, 1. Abt., Leipzig 1713, S. 104; vgl. Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 7, S. 296. 67 ) Wir Friedrich von Gottes gnaden Pfaltzgrave bey Rhein, des Heyligen Römischen Reichs Ertztruchsäß und Churfürst... Entbieten allen und jeden Unsem underthanen und angehörigen ... Unsern gnädigen grüß, und fugen denselben hiemit zu wissen, daß Wir eine gute zeit hero gespüret, welcher gestalt die zeit und leufften in dem Heyligen Reich ... sich je lenger je gefehrlicher ansehen lassen ... Befehlen derwegen ... allen Unsern Underthanen... und wollen, daß sich derselben keiner... in einige frembde Kriegsbestallung ein: oder sich sonsten einem frembden Herrn für einen Soldaten zu dienen schreiben und ufwegen lasse, Sondern sich vielmehr im Land und dergestalt gefaßt halte, damit er in zutragenden nothfällen sich und das liebe Vatterland vor gefahr erretten helffen möge, [Heidelberg] 1614 [10. Juni] [Bayerische Staatsbibliothek München]. 68 ) Päbstisches Post und Wechterhorn An Alle und jede der rechten reinen wahren Evangelischen allein Seligmachenden Religion zugethane und verwandte Könige, Chur- und Fürsten, Stände und Städte und alle rechtbestendige eyfferige Evangelische Christen inner und außerhalb deß heiligen Römischen Reichs Deutzscher Nation: Daraus zu hören und zu vernehmen: I. Was die Papisten von Luthero und der Lutherischen Religion halten und was demnach alle rechtbestendige eyfferige Lutheraner sich zu ihnen guts zuversehen. II. Was die Papisten von der Augspurgischen Confession halten? III. Was sie vom Religionsfrieden halten und wie weit sich auff denselben die Lutheraner in omnem eventum zu verlassen. IV. Was der S. Herr Lutheri von der gegenwehr und Assistenz in Religions Kriegen gehalten und was davon seine bestendige schrifftmessige Meynung gewesen etc. Allen denjenigen so sich zu deß S. Herrn Lutheri Lehr und der Augspurgischen Confession stanthafftig bekennen ... aus der vornembsten Pabisten und deß S.Herrn Lutheri selbst eygenen Schrifften ... unparteyisch zusammen getragen, o.O. 1620.

4. Deutschland

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die eigene konfessionelle Identität betonte.69) Zahlreiche Kriegsdeutungen hoben den universellen Charakter des Krieges hervor, der sich zwar auf Deutschland konzentriere, aber zugleich europäische Dimensionen aufweise und als universeller Religionskrieg zuweilen sogar heilsgeschichtlich interpretiert werden konnte.70) Der Appell an das Vaterland blieb aber zumeist situativ; in zahlreichen Aufrufen ging es darum, Untertanen fürstlicher Territorien vom Kriegsdienst für außerdeutsche Landesherren abzuhalten.71) Auffallig war schließlich die partikularstaatliche Bedeutung von Vaterland, das sich nicht auf die ab-

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) Vgl. Aufrichtiger Teutscher Soldaten Regul: Oder Kurtze Erinnerung an den Teutschen Evangelischen Kriegsmann, Durch Einen der Teutschen Nation, und deß Vatterlands recht liebhabenden Evangelischen FeldPredigern, o.O. 1620; Magna Horologii Campana, Tripartita. Das ist Dröyfache im gantzen Teutschen Landt hellauttende Glocke und Auffwecker der löbl. Teutschen Nation, den recht und billichmässigen defensionsKrieg wider den Römischen Papst... von allen Evangelischen Königen Chur-Fürsten und Ständen gesampter Handt vorzunehmen, die Päpstliche Tyranney abzuwenden und den Edlen Frieden widerbringen: In dreyen unterschiedlichen Theylen verfasset, o.O. 1632; David Meyer. Indicina Synoptica, Oder Kurtze Abbildung, Darinnen erwiesen werden die wahre Ursachen dieses tödlich in Teutschland entstandenen Kriegs und die Beschaffenheit deß gantzen Reichs und Papsthumbs: daß die Könige, Chur- und Fürsten deß Teutschlands sehen mögen, vor was für ein schöne Gesponß sie sich ... zu fechten unterstehen und das liebe Vatterlandt Teutscher Nation so erbärmlich verderben, o.O. 1633, sowie Thomas Maul: Bericht Wer an jetzigem Krieg und elenden Zustand unsere geliebten Vatterlandes Teutscher Nation Schuld habe und Ursach seye: Ob die Schuld den Catholischen oder den Evangelischen oder ihnen zugleich zuzuschreiben: Und wann wider guter Frieden Ruhe und Einigkeit geschafft und erlangt werden soll Was zuthun? Auß den Reichshandlungen hinc inde eingebrachten Gravaminibus, Schrifften und Gottes Wort genommen, o.O. 1637. ™) Vgl. Dionysius Klein: Holl Teuffelische geheime Cantzeley. Das ist, Eine kurtze Entdeckung unnd Beschreibung, von deß Allergroßmächtigsten Tyrannen, und Million listigen Ertzfeindes Christlichen Namens deß Teuffels unersäglich grosser Seelen Mörderey: welche er in der Christenheit,1 besonders dieser Zeit in unserm geliebten Vatterland Teutscher Nation, [et]c. vermittelst erwegten Kriegsempörungen übet unnd handlet ... Auch Von den Mitteln wardurch die Menschen ihrem ubergrossen ewigen Unheil ... begegnen könden; Mit beygefügten Sechs Kupfferstucken, auff welchen die unersäglich grosse Teuffelische Qual und Pein aller deren in der Höllen verdampften Menschen figurlichen gezeiget und gewissen werden, Ulm 1622, sowie Johann von Roerig: Bellis Cursus. Oder Kriegs-Lauff: Welcher gar nahe die gantze Welt, sonderlich aber das Reich Teutscher Nation durchstraiffi unnd alle Stände desselben betriffet. Wie es an jetzo mit demselben bewand, Warnburg 1623. ") Vgl. etwa Salomo Heermann: Deutscher freyer Soldat: Das ist Erörterung der Fragen: I. Ob ein Gebohrner Deutzscher im Kriege Dienen und Rathen möge ... auch wieder sein eigen Vaterland. II. Ob er solchen Dienst wieder sein Vaterland, durch einigerley Pflicht, Bündniß, oder etwas anderes entschuldigen könne, o.O. 1636, sowie Jobst Camalinus : Deutsche Trewhertzige Warnung, An alle und jede Deutsche, Hohe und niedere KriegesOfficirer, auch gemeinen Soldaten, zu Roß und Fuß, welche sich annoch in Schwedische Kriegesdienste wieder die Wolfahrt ihres Vaterlandes auffhalten: Daß sie endtlich in sich gehen, von Schwedischer Parthey abtreten, und dadurch ihr liebes Vaterland zu Friede und ruhe befordern helffen mögen, o.O. 1637.

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat

strakte teutsche Nation, sondern das unmittelbare landesherrliche Territorium

bezog. Für die Bestimmung patriotischer Deutungsmuster wurde mit zunehmender Dauer des Konflikts der unmittelbare lokale und regionale Erfahrungsraum zugrunde gelegt.72) Eine Vielzahl der zwischen 1620 und 1640 von Geistlichen verfaßten Volksdichtungen verband die Klage über die zerstörerischen Folgen des Krieges mit einem patriotischen Appell: „Hertzliches Seuffizen unnd Wehklagen, auch Christlicher Trost" stand neben der Hoffnung auf „endtlich Göttliche Hülff unsere vielgeliebten Vatterlandes, werther Teutscher Nation".73) Die Reaktion auf die Kriegserfahrungen bedeutete aber keine offensive Selbstdeutung, sondern vielmehr eine defensive Antwort auf die Angst vor politischer und kultureller Fremdbestimmung, die als Folge der permanenten Interventionen auf dem Boden des Reiches begriffen wurde. Danach erschien die Nation primär durch gemeinsame Sprache und Kultur gekennzeichnet, was die Erfahrung der politischen Ohnmacht des Reiches in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges widerspiegelte. In Hans Michael Moscheroschs Philander-Romm von 1640/43 bildete der Krieg eine Folie, um den Verrat von „Heymat und Vatterland" in nationalen Kategorien kritisch zu thematisieren, und dies insbesondere im Blick auf Frankreich. Das Feindbild war stärker als das Selbstbild konturiert: „Die Alten habens für die größte Verrätherey gehalten, wo einer wider seinen Herren, wider sein Heymat und Vatterland einem Frembden Herrn zu zöge, wie unsere Teutschen dem König von Frankreich. Ist es ein Verrätherey, wen einer einen einzigen Mänschen verräth, so ists vielmehr, wo einer eine gantze Nation, sein Vatterland ... verläßt".74) Trotz des offenkundigen Auseinandertretens von Reich und Partikularstaaten blieb die Stellung des Kaisers als übergeordnete Instanz unangefochten.75) 72

) Vgl. Wurtznische Creutz- und Marter-Woche, Das ist, Kurtze, doch wahrhaftige, eigentliche Beschreibung, deß von Schwedischen Bannirischen Volcks ... den 4 Aprilis, dieses 1637 Jahrs, unversehenen, grawsamen Einfals, in die Churf. Sächs. Meißnische Stiffts-Stadt Wurtzen ... hernach gäntzlicher Abtrennung und Einäscherung derselben: Dem Christlichen Leser und trewen Patrioten zur Condolentz und Betrachtung der grawsamen KriegsPressuren in dem lieben Vaterland, der... Wurtznischen Bürgerschaft, zu Trost und Rettung, Leipzig 1637, sowie Johann Risten: Kriegs und Friedens Spiegel. Das ist, Christliche Teutsche und wolgemeinte Erinnerung an alle Kriegs- und Frieden liebende Menschen, insonderheit aber an sein vielgeliebtes Vater-Land Holstein: Worinnen die abschewliche grewel des blutigen Krieges, denn auch die mannigfaltige Süssigkeiten des güldnen Friedens ... beschrieben ... Poetisch auffgesetzet und auff Friedliebender Persohnen ... begehren hervor gegeben, Hamburg 1640. 73 ) Zitiert nach: Emil Weiler. Die Lieder des Dreißigjährigen Krieges nach den Originalen abgedruckt, Basel 1855, S. 96. 74 ) Hans Michael Moscherosch: Gesichte Philanders von Sittewald, 1640/43, zitiert nach: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 7, S.298. 75 ) Vgl. Kurt Wels: Die patriotischen Strömungen in der deutschen Literatur des Dreißigjährigen Krieges, Greifswald 1913; Irmgard Weithase: Die Darstellung von Krieg und Frieden in der deutschen Barockliteratur, Weimar 1953; Adam Wandruszka: Reichs-

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So sehr der Dreißigjährige Krieg zu einer Welle nationalpatriotischer Dichtungen führte, so blieb doch die Mehrzahl dieser Zeugnisse bei der bloßen Zeitklage stehen. Dem entsprachen die meisten Rekurse auf Vaterland und Deutschland, so etwa bei Martin Opitz, wenn er von „Des schweren Krieges Last / den Deutschland jetzt empfindet" sprach.76) 1632 hieß es bei Daniel Czepko von Reigersfeld: „Wo Freyheit ist und Recht, da ist das Vaterland, / Dis ist uns aber nun und wir ihm unbekannt".77) Die Anlehnung an den politische Ordnung und Recht verheißenden Reichsbegriff war offenkundig. Auch in Johann Rists Friedensspiel Das Friedejauchtzende Teutschland trat diese überkommene Verknüpfung zwischen dem Reichsgedanken und dem ansonsten unscharf konnotierten Begriff Teutschland als Reaktion auf die Verheerungen des Krieges zu Tage, umrahmt von der Vorstellung eines göttlichen Sündengerichts im Krieg: „Teutschland / ach ja / Teutschland das herrlichste Kaiserthumb der Welt / ist nun mehr auff den Grund ausgemergelt / verheeret und verderbet / diß bezeuget die Warheit! Der grimmige Mars oder der verfluchte Krieg ist die allerschrecklichste Straffe und abscheuliche Plage / mit welcher Gott die übermachte Boßheit und enzehlige Sünden des unbußfertigen Teutschlandes nunmehr gantzer dreissigJahre hat heimgeleuchtet / diß saget die Wahrheit!"78) Demgegenüber fehlte ein kollektives Selbstbild im Sinne einer offensiven Reichsidee. Es überwog eine defensive Reaktion, die an überkommene Reichsvorstellungen anknüpfte, aber mit der politischen Wirklichkeit nach 1648, dem Auseinandertreten von Reich und Staaten, nicht mehr viel gemeinsam hatte.79) Patriotismus und Reichspolitik zur Zeit des Prager Friedens von 1635. Eine Studie zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins, Graz 1955, sowie Michael Stolleis: Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum 18. Jahrhundert, in: Trierer Beiträge. Aus Forschung und Lehre an der Universität Trier 22 (1993), S. 21-28. 76 ) Martin Opitz: Trost Gedichte In Widerwertigkeit Des Krieges; In vier Bücher abgetheilt Vnd vor etzlichen Jahren von einem bekandten Poeten anderwerts geschrieben, Leipzig 1633, zitiert nach: Schöne (Hrsg.): Barock, S.743. 77 ) Daniel Czepko von Reigersfeld: Fragment (ca. 1632), in: Collectio Variorum Fragmentorum, Pars tertia, o.O. 1720, zitiert nach: Schöne (Hrsg.): Barock, S. 747. 78 ) Johann Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland Welches Vermittelst eines neuen Schauspieles theils in ungebundener theils in gebundener Rede und anmuthigen Liederen Mit neuen von Herrn Michael Jakobi bey der löblichen Stadt Lüneburg wolbesteltem Cantore und fürtrefflichen Musico, künst- und liebreich gesetzten Melodeien, Denen mit guter Ruhe und Frieden nun-mehr wolbeseligten Teutschen Teutsch und treumeinentlich vorstellet Johann Rist, Nürnberg 1653, zitiert nach: Schöne (Hrsg.): Barock, S.750. 79 ) Die Kriegserfahrungen des 17. Jahrhunderts hatten offenkundig starken Einfluß auf die semantische Konnotation des Pi>/fcr-Begriffes im Deutschen. Zwischen 1517 und 1648 traten nichtmilitärische Bedeutungen von Volk gegenüber militärischen und mit dem Erfahrungsraum des Krieges verbundene Konnotationen klar zurück. Volk bezeichnete zunehmend das Kriegsvolck und das militärisch geworbene Volck. Diese tendenzielle Militarisierung des Volksbegriffes kann als Konsequenz der Kriegserfahrungen im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges gedeutet werden; vgl. Abschied des Augsburger Reichstages, 25. September 1599, zitiert nach: Karl Zeumer (Hrsg.): Quellensammlung

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat b) Ehrgeiz, Atheisterey, Untreu, Falschheit, Verrätherey und Tyranney: Das Feindbild Frankreich und das Paradigma des Monarchenkrieges

Am Ende des 17. Jahrhunderts lassen sich in den zeitgenössischen Kriegsdeutungen zwei konkrete Themen identifizieren, die Anlaß für patriotische Appelle an das Reich boten. Zum einen reagierte man auf die wiederauftretende Türkengefahr mit dem Aufruf zur Einigkeit der ganzen Christenheit und unterstrich den überkonfessionellen Aspekt. 80 ) Die Abwehr der Türkengefahr bot dabei Anlaß zur Stilisierung individueller Heldenfiguren, so vor allem im Bild Kaiser Leopolds I. und des Prinzen Eugen. 81 ) Daneben zeigte sich die Funktion des Krieges, Charaktereigenschaften verschiedener Völker zu unterscheiden, vor allem im Hinblick auf Frankreich. So hob man seit der Mitte des 17. Jahrhunderts immer öfter negative Eigenschaften hervor, die sich dezidiert nicht mehr nur auf einen einzelnen Monarchen oder seine Dynastie bezogen, sondern die kollektiv und auch konfessionell bestimmt wurden. Die Franzosen schienen dabei „Ehrgeiz, Atheisterey, Untreu, Falschheit, Verrätherey und Tyranney" zu

zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Bd. 2, 2. Aufl. Tübingen 1913, §§ 49 ff., S.351; Pragerischer Friedensschluß, ebd., S. 111 und 114 ff.; vgl. Peter Blickle: Untertanen in der Frühneuzeit. Zur Rekonstruktion der politischen Kultur und der sozialen Wirklichkeit Deutschlands im 17. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70 (1983), S. 483-522, hier: S. 485 f., sowie Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 7, S.299f. 80 ) Vgl. bereits Türckisches Post- und Wechterhorn: An Käyser Könige, Chur- und Fürsten, Stände und Städte des Heiligen Römischen Reichs Teutscher Nation: auch alle andere Potentaten Christliches Glaubens und Namens, so denn alle Menschen in der gantzen Christenheit. Daraus lauter zu hören und zu vernehmen, welcher gestalt der Türckische Tyrann der Christenheit Ohneinigkeit und Kriege zu bestettigung seiner längst affectirten Monarchi und Beherrschung der Christenheit sich mißbraucht, auch wie ihm bey uns Christen Thür und Thor darzu geöffnet werden... Durch etliche Catholische und Evangelische trewhertzige Patrioten zu diesen gefahrlichen Zeiten berathschlagt und zusammen getragen, o.O. 1620; Erasmus Francisci: Die heran dringende Türcken-Gefahr: Das ist; Wohlgemeinte doch unvorgreiffliche Erinnerung in was hochbesorgtem und gefährlichem Zustande unser liebes Vatterland Teutscher Nation und das gantze Heil. Rom. Reich jetziger Zeit stecke: auch wie diesem blutdürstigem Erb- und ErtzFeinde fruchtbar und ersprießlich zu begegnen wäre, o.O. 1663; Balthasar Knellinger. Predigten zu Zeit deß Türken-Kriegs Von Anno 1683: In welchen das Christen-Volk Zur Büß, und Andacht, Dann auch Zu Lob- und Dank-Sprechung Auffgemahnet worden, 4 Bde., München 1687-92, sowie Ausfuhrliche ... Beschreibung des gegenwärtigen Türken-Kriegs, Augsburg 1717. ") Vgl. Maria Goloubeva: The Glorification of Emperor Leopold I in Image, Spectacle and Text, Mainz 2000, S. 123 ff., sowie Jutta Schumann: Die andere Sonne. Kaiserbild und Medienstrategien im Zeitalter Leopolds I., Berlin 2003, S. 103 ff. und 116ff.; vgl. auch Eugen von Savoyen-Carignan: Bellona die Kriegs-Göttin überreicht dem Durchleuchtigsten Printzen, und Grossen Feld-Capitain Francisco Eugenio Hertzogen von Savoyen und Piemont Einen auffs frisch gewundenen Palmen-Krantz, Mit beygefügter Anzeigung der ihro Kayserl. Majestät von denen Türcken durch den Friedens-Schluß zu Passarowitz abgetrettenen Landen, Kempten 1719.

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verkörpern.82) Die militärischen Operationen gegen linksrheinische Reichsterritorien katalysierten nicht allein die Artikulation solcher Stereotypen, sondern zumindest quantitativ auch die Projektion einer teutschen Nation und eines einheitlichen Vaterlandes, das es in der politischen Realität so nicht gab.83) Gerade die Probleme einer effektiven Verteidigung des Reiches erwiesen die kompensatorische Funktion solcher Appelle. 84 ) Nach 1650 setzte sich die Diskrepanz zwischen dem dominanten Feindbild und dem konturlosen Selbstentwurf fort. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts registrierte man vor dem Hintergrund der europäischen Erbfolgekriege sehr genau die Verdichtung von Kriegserfahrun-

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) Bartholomaeus Threnemanir. Der Frantzösischen Nation Historischer Laster- und Kriegs-Spiegel: Darinnen Deroselben unbeschreiblicher Ehrgeiz, Atheisterey, Untreu, Falschheit, Verrätherey und Tyranney so Sie mit Morden und Schänden ... an vielen Orthen, sonderlich In dem Unglückseligen Elsaß verübet, Kürtzlich entworffen und allen Ehrlichen Teutschen zur guten Nachricht herfür gegeben worden, o.O. 1678. 83 ) Vgl. Christian Hoburg: Vaterlandes Praeservatif. Das ist: Feurig Seufftzer und andere heilsame Mittel wie die grosse Krieges-Flamme in unserem lieben Vaterlande ja in der gantzen Christenheit gründlich könne gelöscht werden ... für die Sieben tausend welche ihre Knie für dem Baal nicht gebeuget auffgesetzet, Frankfurt/M. 1677; Frantzösische Kriegs-Folter Oder Soldaten-Teufel: Auff den Schauplatz Teutscher Nation gebracht und vorgestellet von M. S. Z., Einem alten Teutsch-gesinnten, o.O. 1677; Teutschland Traue nicht zu viel. Das ist, Was das Rom. Reich Teutscher Nation bey jetziger Zeit sich gegen die Europeischen Machten zu versehen sonderlich aber ob es von denen Frantzösischen Messures was zu besorgen habe; Ob dem Armistitio zu trauen? und was sonsten die gegenwärtigen Coniuncturen in Europa demselben vor Glück und Unheyl bringen möchten: Nebst Vielen Curiösen Denkwürdigkeiten und Iudiciis Politicis von denen vornehmsten Kriegs-Actionen so bißhero in Europa Vorgängen seyn, o.O. [ca. 1685], sowie Warhafftes Nacht-Gesichte Zweyer sonderbaren am Himmel gestandenen Wetter, Welche vorstellen: Römischen Reichs unvermutheten schnellen Kriegs-Schall Und Franckreichs plötzlich darauf betreffenden Unfall: Der Teutschen Nation, und deren Mitgewogenen zum Trost und zur erfreulichen Vorsage; Der Frantzösis. Nation aber samt ihrem Anhange zum Erschröck und endlichen Trauer-Klage herauß gegeben, o.O. 1688. M

) Vgl. Johann Dietrich Gülich: Wahres Interesse deß Heil. Römischen Reichs: Oder Rechtmäßige Fürstellung Der jenigen Hauptpuncten, Worauff das Interesse und die Wohlfahrt des Heil. Römischen Reichs und deß allgemeinen Vaterlandes Teutscher Nation sonderlich dieser Zeit beruhe und gegründet sey: Item Wie das Heil. Römische Reich Teutscher Nation in Friedens- und Krieges-Zeiten so wohl innerlich als wider alle äusserliche feindliche Gewalt könne erhalten werden Auß den bewehrtesten so wohl alten als neuesten Publicisten und andern Curieusen Schrifften dieser Zeiten zusammen getragen, Osteroda 1689, sowie Daniel Klesch: Im Nahmen Jesu des Alten der Tage; Abermahliger wehmütiger doch auffrichtiger fiymündiger Hell-lautender öffentlicher hochfeyerlicher Zuruff und Treuhertzige Warnungs-Anrede Eines unschuldig-vertriebenen Elend-Mannes ... An die ... Deutsche Völckerschaft Und Ihrer ... Heermänner und Hertzoge Welche in diesen ... Mord-Krieg noch immer zu Felde liegen ... Wider die bekanndten Ertz- Erb- und Erd-Feinde des Heil. Rom. Reichs Deutscher Nation ... mit hertzlichem Wunsch eines gedeylichen Neu-Jahrs-Segens, Halle 1695.

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat

gen. 85 ) Im Blick auf die Gegenwart erschien Zeitgenossen die Vielzahl europäischer Kriege wie ein „Labyrinth" und „blutiger Irr-Garten". Den Grund für das „Staats= und Kriegs=Labyrinth" erkannte man aus deutscher Perspektive in einer machtpolitisch ausgerichteten Staatsraison, die man auf die Prämissen politischer Notwendigkeit und die französische Diplomatie zurückführte: Nachdem die Machiavell- und Mazarinischen gefahrlichen Staats- und Kriegs-Reguln [sie!] an denen Christlichen Höffen derer Europaeischen Potentaten auffkommen und gleichsam eingewurzelt, ist fast gantz Europa von selbiger Zeit theils eine verschmitzte Staats- theils blutige Kriegs-Schule gewesen, welche niemals der Christenheit einen gewünschten und beständigen Frieden gegönnet, sondern die Christlichen Reiche und Länder aus einem Krieg in den andern aus einer Verwüstung in die andere verfallen müssen zum unbeschreiblichen Schaden und Hertzeleid derer Inwohner und Unterthanen.86) Entscheidend an diesen Kriegswahrnehmungen war vor allem die Rolle von Monarchen, Dynastien und Höfen als Rriegsakteuren.87) Die kaiserliche KriegsDeclaration an Frankreich von 1702 definierte den Konflikt als persönlichen Monarchenkrieg. Das Dokument erklärte „den König in Frankreich nicht minder als den Herzog von Anjou, deren Angehörige und Untergebene, Helffere und Helffers-HelfFere vor Unsere" zu ,,offentliche[n] Feindefn]".88) Auch Georg Zenners Kriegs- und Friedenslexikon von 1734 konzentrierte sich allein auf Staaten, Monarchen und Dynastien. Kriegsgründe, so Zenner in der Vorrede, ergaben sich aus den persönlichen Charaktereigenschaften, nicht aber aus dem Antagonismus zwischen Völkern. Lediglich konfessionelle Kriege unterschieden sich von diesem Muster: „Die meisten Kriege sind wohl aus dem verdammten Klee-Blatt, Ehr, Geldgeiz und Wollust der Männer entstanden, wenige aber auch von Weibern, und aus andern Affecten, als der Rache, EyfFersucht und Neid gegen den Nachbar, auch vermeinten Religions Eyffer, Gewissens-Zwang und gar vorgewandten Dienst gegen Gott angezettelt wor85

) Vgl. Chilemoni: Europäischer grosser Kriegs- und Staats-Rath, o.O. 1702; Die zeitcurieuse Staats-Balance über den jetzt wütenden Krieg in denen Europäischen Reichen und Ländern, Köln 1704; Das stürmende Kriegs-Wetter in Europa, Köln 1705; Allerneueste bisher geheime, und sehr gebrauche Kriegs-Maximen nebenst Apollinis und der Astraeae wahrhaftiges Staats-Oraculum über den gegenwärtigen äusserst verwirten und höchtstbetrübten Zustand Europae; mit Beifügung Staatistischer Glaubens-Artikul, einiger interessierten Potenzen, o.O. [ca. 1706], sowie Politische Conferenz, zwölf unterschidlicher Standes-Personen von allen neuen vorfallenden Friedens- und Kriegs-Begebenheiten der gantzen Welt, Im Monath December 1707, o.O. 1707. 86 ) Das europäische Staats= und Kriegs=Labyrinth, worinnen beschrieben/welcher Gestalt und warum das christliche Europa/sambt dessen höchsten Häuptern/von vielen Jahren hero fast nicht anders/als ein friedens-gehässiger und blutiger Irr-Garten gewesen ... insonderheit was der frantzöss.-spanische Krieg endlich voreinen Ausgang nehmen werde, Köln 1702, S.l. 87 ) Vgl. etwa Politische Nachsinnlichkeiten und Reflexiones auf Die Um- und Anstände gegenwärtiger Staats- und Kriegs-Beschaffenheiten, o.O. [ca. 1700]. 8S ) Kayserliche Kriegs-Declaration gegen den König von Frankreich, o.O. 1702, o.S.

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den".89) Doch auch innerhalb dieses Interpretationsrahmens existierten kollektive Bestimmungen, die den europäischen Völkern besondere Eigenschaften zuordneten. So erschien „Teutschland" als „trutzig", England sei „von Natur hochmüthig" und die „Französiche Nation gehäßig". 90 ) Die negative Wahrnehmung vor allem Frankreichs und Spaniens entwickelte sich in diesem Zusammenhang zu einem Topos deutscher Kriegsdeutungen. Neben der Klage über die französische Expansion am Rhein und die dauernden Angriffe auf Reichsterritorien standen der Appell an das Reich und die Forderung nach einem konsequenten Reichskrieg gegen den äußeren Feind. Frankreich blieb in diesen Deutungen der Inbegriff betrügerischer Diplomatie und bloßer „Friedensmascarade".91) Es stelle sich von jeher gegen die Interessen aller anderen europäischen Staaten. Der Kontinuität antifranzösischer Stereotypen entsprach das Bild des von Frankreich bedrängten Reiches. 92 ) Aber es blieb zumeist bei dieser Klage, 89

) Georg Amandus Zenner: Compendieuses Staats-Historisches Kriegs- und Friedenslexicon, Nürnberg 1734, S. 4 f.; vgl. David Fassmann: Allgemeines Kriegs-Protocoll der blutigsten Kriege in der Welt, Frankfurt/M. 1741. 90 ) Curieuse Staats-Gespräche über den noch währenden Spanischen SuccessionsKrieg und die von Franckreich gethane Friedens-Vorschläge; ingleichen von der Krieges-Macht und Land-Ausschusse der vornehmsten Europäischen Potenzen, Köln [1711], S.6f. 91 ) Franckreichs betrügliche Friedensmascarade, wie solche bey diesen anoch fortwährenden Krieg ... zu dem Utrechtischen Congress ... gespielet worden, Köln 1712; vgl. Manifest enthaltend die Ursachen, warum die Staaten General ... genöthiget worden sind, gegen die König von Frankreich und Spanien den Krieg zu declariren, o.O. 1702; Franckreich durch seine eigene Künste zu überwinden Oder Vorstellung der Französ. Kriegs- und Cammer Wirthschafit..., Augsburg 1703; Wahrhafte Geschichts-Erzehlung, welcher gestalt... Speyer nach des Königs von Frankreich furgenommenen Bruch des ... Stillstandes von desselben Kriegs-Völkern überfallen worden, Speyer 1709; Das Nach Frieden Seuffzende Europa, Bey seinen höchst-verderblichen Kriegen und langwieriger Unruhe, Welche Franckreich vornehmlich duch seine unnöthige und unglückliche Kriege und Despotische Herrsch-Sucht verursachet, zu seinem eigenen Spott und Ruin seines Reichs, Indem die Städte um ihre Privilegien, die Parlamente um ihre Autorität, auch die andern Unterthanen um ihr Vermögen und Nahrung, ja ins äusserste Verderben gebracht worden seyn. Ein denckwürdiges Exempel Christlicher Regenten, Insonderheit Was das beste Mittel sey, den König zur Raison und beständigen Frieden zu brinen, Köln 1710, sowie Manifest worinnen die Ursachen angefuhret, welche Franckreich bewogen, sich mit Spanien in einen Krieg einzulassen, o.O. [ca. 1711]; Classicum Belli Hispano-Gallici oder gründliche Ausführung, daß der jetzige Krieg wegen der Spanischen Succession das ganze Reich angehe, zu dessen Fortführung alle und jede des Heyl. Römischen Reichs Chur-Fuersten, Fürsten und Stände mit aller Macht zu concurriren schuldig seyen, o.O. 1702, S.4; vgl. auch Vom Reichs-Kriegs-Rechte insgeheim, o.O. 1723. 92

) Vgl. Unpartheyische Betrachtungen Uber die gegen denen Gräntzen des Heil. Rom. Reichs machende starcke Frantzösiche Kriegs-Zurüstungen, und die deßhalb vorwendende Ursachen, o.O. 1733, sowie vor allem Politische Betrugs-Historie von Frankreich, oder die wenig-aufrichtige Aufführung des Französischen Hofes bey Kriegs- und Friedens-Geschäften aus den Kriegs- und Friedens-Handlungen, so seit etlichen hundert Jahren die Crone Franckreich mit den Mächten von Europa, vornehmlich aber mit

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat

ohne daß sich damit Ansätze einer weitergehenden reichspatriotischen Selbstdeutung verbanden. Das Feindbild französischer Monarchenpolitik schuf wichtige Anknüpfungspunkte für spätere nationalpatriotische Deutungen, weil es die langfristige Kontinuität dieser Gegnerschaft seit der Frühen Neuzeit suggerierte. Für einen patriotischen Selbstentwurf fehlte in der politischen Wirklichkeit des Reiches die Grundlage. Das zeigte sich vor allem zu Beginn der Österreichischen Erbfolgekriege seit 1740 und im Konflikt zwischen Österreich und Preußen. Jetzt betonten zeitgenössische Kriegsdeutungen das partikulare Vaterland der österreichischen Erblande oder die Bedeutung der preußischen Siege in den ersten Schlesischen Kriegen für die europäische Reputation des Landes. Der Appell an das Reich als übergeordnete Instanz trat zurück, die reichspatriotische Interpretation der Kriegserfahrungen wurde von antagonistischen habsburgischen und preußischen Deutungen verdrängt.93)

c) Die absolutistische Staatsbildung als Trennung zwischen Kriegsstaat und Civilstaat Das 1702 so ausführlich beschriebene Kriegs-Labyrinth reflektierte noch die Erfahrung blutiger konfessioneller Bürgerkriege, die durch die Überlagerung mit machtstaatlichen Motiven das 17. Jahrhundert als Krisenepoche der europäischen Geschichte erscheinen ließen, und die vereinzelten Rekurse auf den Religionskrieg nach 1700 wiesen in die gleiche Richtung. 94 ) Doch der Bürgerdem gesammten Teutschen Reich, ingleichen mit ein und andern Reichs-Ständen, und insonderheit mit den durchlauchtigsten Häusern Österreich und Lothringen gepflogen, zur Nachachtung und Warnung bey den jetzigen Conjuncturen der Europäischen StaatsGeschäffte bis auf gegenwärtige Zeit beschrieben, o.O. 1745. 93 ) Vgl. Casimir Grustner. Neue Kriege von Gott für Österreich gefuhret; und ferneshin geführet zu werden verhoffet. Das ist: Danck- und Ermahnungs-Rede Wegen- und zu beglückten Fortgang Deren Oesterreichisch-Königlichen Waffen, Bey Offentlich-angestellter Andacht einer Hochlöbl. Landschaft Tyrol, in der Landschaftlichen Kirche Mariae-Hilf zu Yhns-Bruck vorgetragen, [Innsbruck] 1742; Kaspar Abel·. Caspar Abels fortgesetzte, vermehrte und verbesserte Preußische u. Brandenburgische Reichs- und Staats-Historie, Worinnen, nebst vielen nöthigen und nützlichen Zusätzen, Anmerckungen und Erläuterungen, Insonderheit des jetzigen Königs in Preussen, Friedrichs II. glorwürdige Thaten, Kriege und Siege, Dann auch die Geschichte und Geographie des souveräinen Hertzogthums Schlesien, samt denen dazu gehörigen Documenten und Friedens-Schlüssen, Mit wahrhafter und unpartheyischer Feder, so viel als möglich vorgestellet und beschrieben worden; Mit Registern, Leipzig 1747, sowie Gründlicher Beweis, daß das H. R. Reich an gegenwärtigem Krieg Theil zu nehmen, und das GleichGewicht von Europa wiederum herstellen zu helffen verbunden, o.O. 1746. 94 ) Vgl. Der Römischen Kayserlichen Majestät ... wegen eines erdichteten Spargements, als ob gegenwärtiger Krieg zu einem Religionskrieg angesehen seye publice ... contestirte Declaration, Dictatum Regenspurg den 12. April 1703 (resp. 22. April 1703), o.O. [1703]; Augustin Fuhrmann: Rettung der Alten Wahren Christlichen CatholischEvangelischen Religion wider etliche Hinderungen, welche unter den Religions-Kriegen des Satans unvermerckt gesäet, Amsterdam 1710, sowie Die seufftzende Pfaltz,

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krieg, im 16. und 17. Jahrhundert die wichtigste Herausforderung des Staates, stellte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts keine unmittelbare Gefahr mehr dar. Dies war die Voraussetzung fur die Entwicklung neuer Kriegsdeutungen, für die vor allem die Idee der Staatssouveränität, die Prämissen des europäischen Völkerrechts und das Ideal einer europäischen Machtbalance maßgeblich wurden.95) In der lexikographischen Wahrnehmung des Krieges überwog im frühen 18. Jahrhundert zunächst die Diskussion der Bedingungen für das bellum iustum. Die Komplexität zwischenstaatlicher Beziehungen in der Wirklichkeit stellte aber die aus der klassischen Naturrechtslehre abgeleitete Kopplung von bellum iustum und bellum punitivum, also die Vorstellung eines durch einen gerechten Krieg bestraften schuldhaften Unrechts, in Frage. So mündete die seit der Frühen Neuzeit zu beobachtende Ausweitung gerechter Kriegsgründe in die Konzeption eines bellum iustum ex utraqueparte, bei dem für die Definition schuldhaften Unrechts die Perspektivität der Akteure anerkannt wurde. So führte das Zedlersche Universallexikon 1737 aus: „Weil aber auf beiden Teilen solche Handlungen können vorgefallen sein, die unrecht, so kann der eine Teil in Ansehung der einen Handlung recht, der andere unrecht, in einer andern aber dieser recht, und jener unrecht haben, und folglich können beide rechtmäßige Ursache zum Kriege haben". In diesen Rechtfertigungsmustern spielte der Rückgriff auf national bestimmte Deutungen keine Rolle, denn es ging primär um die Definition des Kriegszustandes als Konfliktfall zwischen souveränen Staaten, für die sich das traditionelle Konzept der Bestrafung von Unrecht nicht mehr anwenden ließ. Da „also eines das andere nicht durch Strafen, wie in gemeinen Wesen, zu Beobachtung der schuldigen Pflichten anhalten kann", erschien es unumgänglich, „die Sache dem Ausfalle des Krieges zu übergeben".96) Hier garantierte der Fürst im Innern durch die summa potestas iurisdictionis Frieden und Sicherheit, so daß der Krieg zum rein äußeren Phänomen wurde. Der fürstliche Staat symbolisierte die Trennung zwischen der suprema potestas imperandi et iudicandi im Innern und der potestas bellandi nach außen. Das reduzierte auf der Basis eines staatlichen Gewaltmonopols den Kreis deijeoder Hist. Erzehlung der zum öfftern erregten Kriege Grausamkeit, und Tyranney, welche der Pabst durch Aufhetzung großer Potentaten ... zu allen Zeiten der Evangelischen Kirchen erwiesen, Frankfurt/M. 1720. 95 ) Hugo Gro/;WPhilipp Balthasar Sinold von ScAiftz/Christian Thomasiiis: Drey Bücher vom Rechte des Krieges und des Friedens, Mit 1 Titelkupfer, Aus d. Lat. übers, durch P. B. S.G. Schütz. Nebst einer Vorrede Gr. Thomasii, Leipzig 1707; Hugo Groriiw/Johann Heinrich Schweitzer. Vom Kriegs und Friedens-Recht, Zürich 1718; Neue Erläuterung der Europäischen Balance, als der vornehmsten Richtschnur des Kriegs und des Friedens, Hannover 1746, sowie Patriotische Vorschläge wie zu Vermeidung blutiger Kriege unter freyen Völkern dauerhaffte Verträge und nach diesen Grundsätzen der allgemeine Friede in Europa heilsam zu schliessen, Aachen 1748. Johann Heinrich Zedier (Hrsg.): Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde. und 4 Supplement Bde., Leipzig 1732-54, hier: Bd. 15, S. 1896 und 1890; vgl. Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 3, S.583.

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat

nigen, die zur Gewaltanwendung berechtigt waren. Die argumentative Verbindung von Krieg und Fürstenstaat provozierte aber auch jene Kritik der Aufklärung, die im Laufe des späteren 18. Jahrhunderts neuartige Kriegsdeutungen zuließ.97) Die Zedlersche Kriegsbestimmung unterstrich auch noch den möglichen Einsatz des Militärs im Innern des Staates und reflektierte so die Wirkungsreichweite des Bürgerkriegsparadigmas, auch wenn bei dieser Quelle die zeitliche Verschiebung durch die langen Redaktionszeiten zu berücksichtigen ist, so daß die 1737 publizierte Position eher die des frühen 18. Jahrhunderts wiedergegeben haben dürfte. Das Kriegsrecht habe sein „vornehmstes Absehen" zwar „auf die KriegsZeiten, inmittelst kann es aber auch währenden Frieden, sowohl in Absicht derer Soldaten und sonst statthaben". Denn die Armeen „leisten nicht nur Dienste, wenn der Feind einbrechen will, sondern dienen auch zum Schutz und Schirm derer Untertanen. Die Soldaten müssen in Friedenszeiten oft zuwege bringen, daß denen Bürgerlichen Gesetzen von jedermann gehorsam nachgelebt werde".98) Entscheidend blieb die Unterscheidung zwischen dem als Naturzustand interpretierten äußeren Krieg und dem Friedenszustand im Innern des Staates. In diesem Punkt gab es zwischen den großen europäischen Enzyklopädien keine Unterschiede: Wo der Zedier von 1744 zwischen „Kriegsstaat" und „Civilstaat" differenzierte, betonte man in der französischen Encyclopedie von 1778 den Antagonismus zwischen „etat de nature" und „etat civil".99) Diese Argumentation rekurrierte auf die von Thomas Hobbes formulierte Konsequenz aus der Erfahrung des bellum omnium contra omnes.m)

Der Zedlersche „Civil-

staat" hatte seinen idealtypischen Ursprung in der absolutistischen Staatsbildung, also der Konzentration politischer Herrschaftsgewalt unter Ausschaltung intermediärer Zwischengewalten. Daraus ergab sich die Unterscheidung zwischen der bürgerlichen Gesellschaft als einer politisch selbst verfaßten Gesellschaft und dem status civilis sive politicus,

dem „Civilstaat", und vor allem der

Gegensatz zwischen civilis und militaris als Kennzeichen absolutistischer Herrschaftslegitimation. Die Ausgrenzung des kriegerischen Erfahrungsraumes aus der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft zeichnete sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ab, als der fürstliche Staat die militärische Gewalt erfolgreich monopolisierte. Das wirkte sich auch auf das zeitgenössische Ideal der militärischen Erziehung aus. Zu ihm gehörte nicht allein der Rekurs auf antike Vor-

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) Vgl. Kapitel III.2.b). ) Zedier: Universallexicon, Bd. 15, S. 1934; vgl. Hans Friedrich von Fleming: Der vollkommene Teutsche Soldat, Leipzig 1726, S.485, sowie Johann Jakob Moser. Von der Landes-Hoheit in Militär-Sachen, Frankfurt/M. 1773, S. 192 f. 99 ) Zedier. Universallexicon, Bd. 39, S. 640 und Etat, in: [Jean le Rond d'Alembert/Dems Diderot (Hrsg.)] Encyclopedic ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers, par une societe de gens de lettres. Mise en ordre et publiee par Μ. Diderot, et, quant ä la partie mathematique, par Μ. d'Alembert, Paris 1753 ff., hier: Bd. 13, 3. Aufl. 1778, S. 147 f.; vgl. Allerneuester Kriegsstaat, Leipzig 1733-34. 10 °) Vgl. Kapitel Il.S.a). 98

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bilder, sondern auch die strikte Trennung von Gesellschaft und Militär sowie die Betonung der Standesunterschiede zwischen Adel und Bürgertum.101) Die politische Verfassung des Staates und der äußere Krieg erschienen als zwei unverbundene Sphären: „Bürgerlicher oder Civilstaat, status civilis, status politicus ... ist eigentlich die Verfassung eines Staates oder Republik, insofern dieselbe dem Kriegsstaat entgegensteht; und begreift überhaupt alle sogenannten Zivilbediente unter sich".102) Diese Trennung sollte einem zerstörerischen Bürgerkrieg vorbeugen und diente dem Ziel, eine Ideologisierung von Kriegszielen unter allen Umständen zu verhindern. Das Prinzip des „vis vim repellere licet" Schloß fur jede Gewaltlegitimation die Berufung auf ideologische Inhalte und entsprechende kollektive Selbstentwürfe aus.103) Mit dieser Monopolisierung beugte der fürstliche Staat dem Rückfall in den Naturzustand eines allgemeinen Krieges aller gegen alle vor. Nach innen bedeutete die Trennung zwischen „Civil-" und „Kriegsstaat" die Ausschaltung der überkommenen adligen Feudalgewalten. So hob Johann Heinrich Justi hervor, daß die ursprüngliche Lehensverfassung in eine Zeit gefallen sei, als der Staat „kein beständiges Kriegsheer unterhielt", sondern auf die aus dem Adel und seinen Lehnsabhängigen gebildeten Formationen angewiesen gewesen sei. Im Zeitalter des absoluten Fürsten dagegen erlaube die auf Steuereinnahmen gegründete Staatsmacht die Unterhaltung stehender Heere, die von Feudalstrukturen unabhängig seien.104) Nach außen brachte diese Konstellation ein System der relativen Machtbalance zwischen souveränen Staaten hervor, und im Idealfall dienten Kriege der Wiederherstellung eines von außen gestörten Gleichgewichts. Dieses Kriegsbild geriet seit den 1740er Jahren in eine Umbruchsphase. Aufmerksame Zeitgenossen wie Justi übten Kritik am System des Gleichgewichts, das den permanenten Staatenkrieg in Europa zu fordern schien. Demgegenüber betonte Justi, es komme nicht wie in den gegenwärtigen Kriegen der monarchischen Staaten auf die bloße Vermehrung fürstlicher Reputation und dynastischen Besitzes an, sondern auf Frieden, Ruhe und Sicherheit im Innern der Staaten. Das gelte nicht allein für eine einzelne Monarchie, sondern für alle Bewohner Europas. Justis Ziel war daher die Universalmonarchie, die „für die Wohlfahrt Europas und überhaupt des menschlichen Geschlechts die größte Glückseligkeit wirken würde".105) "") Paul J. Marperger. Das wohl-eingerichtete Seminarium militare, oder PflantzSchul künfftig geschickter Kriegs-Leute und Soldaten [Dresden 1727]. 102 ) Zedier. Universallexicon, Bd. 39, S. 640; vgl. Eugen Rosenstock-Huessy: Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, 3. Aufl. Stuttgart 1961, S. 2 4 1 245, sowie Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 2, S. 746 f. 103 ) Jacob Bernhard Multz: Repraesentatio majestatis imperatoriae, Otting 1690, S. 667; vgl. Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 1, S.354. 104 ) Vgl. Johann Heinrich Gottlob von Justi: Staatswirthschafl oder Systematische Abhandlung aller Oekonomischen und Cameral-Wissenschaften, Bd. 2, Leipzig 1758, S.404f. 105 ) Ders.·. Gesammelte Politische und Finanzschriften, Bd.2, Kopenhagen 1761, S. 236 ff.

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5. Großbritannien a) Der civil war als traumatische Krisenerfahrung der English nation·. Vom bellum omnium contra omnes zur Stigmatisierung der standing army Kriege trugen bereits vor der Mitte des 17. Jahrhunderts wesentlich zur Herausbildung eines abgegrenzten englischen Herrschaftsbereichs bei. Vor allem während des Hundertjährigen Krieges und der Behauptung gegen die spanischen Invasionspläne unter Elisabeth I. kam es dabei auch zu Ansätzen einer nationalenglischen Kriegsdeutung, wobei in der politischen Öffentlichkeit der frühen Tudor-Phase Kriegserfahrungen mit dynastischen Selbstdeutungen verknüpft wurden. Eine national bestimmte Kriegsdeutung bedeutete das aber keinesfalls.' 06 ) Auch läßt sich im Kontext dieser Kriegserfahrungen vor den 1640er Jahren kein imperiales Selbstbild rekonstruieren, denn der Erfahrungsraum blieb das englische Königreich, der von ihm ausgehende Ausgriff auf die anderen Inselnationalitäten und die Konflikte entlang der Celtic frontier, die zunächst primär lokale und regionale Ereignisse darstellten.107) Viel wichtiger wurden die großen äußeren Konflikte mit Frankreich und Spanien seit dem 15. Jahrhundert in der retrospektiven Aneignung seit dem 17. Jahrhundert, indem sie in eine lange Kontinuität von antifranzösischen und antispanischen Feindbildern eingeordnet wurden. Dagegen markierte der Beginn der Bürgerkriege in den 1640er Jahren einen tiefgreifenden Erfahrungsumbruch, der sich unmittelbar in der Kriegsdeutung bei Thomas Hobbes niederschlug. Nach ihm bestand die Aufgabe des Leviathan in der umfassenden Friedenswahrung nach außen und innen. Friedenssicherung bedeutete nach Hobbes die permanente Auseinandersetzung mit der aggressiven Natur des Menschen. Solange man dem Menschen diese Natur und damit seine grundsätzliche Freiheit zugestand, war ein Leviathan notwendig, um zwischen Freiheit und Frieden zu vermitteln.108) Gegen die Natur des Menschen, dessen Naturzustand zu einem permanenten bellum omnium contra omnes fuhren werde, müsse der Frieden ständig neu gesichert werden. Die Sicherung gegen äußere Feinde wurde zur Voraussetzung fur die Friedenssicherung im Innern. Aus beiden Aufgaben ergab sich die Notwendigkeit, den Leviathan io6) Vgl, ρ S.Lewis: War Propaganda, passim; vgl. Hastings: Construction, S.41ff., 48 f., 55 f. und 98 f.; Stephen Gunn: War, Dynasty and Public Opinion in Early Tudor England, in: George W. BernardlSt&phen Gunn (Hrsg.): Authority and Consent in Tudor England: Essays presented to C. S. L. Davies, Aldershot 2002, S. 131-149, sowie Roger Williams: A breef Discourse on Warre, London 1590. •07) v g l Colin Kidd: British Identities before Nationalism: Ethnicity and Nationhood in the Atlantic World, 1600-1800, Cambridge 1999, sowie Bruce Lenman: England's Colonial Wars 1550-1688. Conflicts, Empire and National Identity, Harlow 2001, S.286ff. 108 ) Vgl. Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan, München 1987, S. 182-188.

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mit einer ungeteilten Souveränität auszustatten, um so die Verteidigung des Gemeinwesens sicherzustellen. Dagegen sucht man eine expansive oder imperiale Bestimmung des Commonwealth in Hobbes' Schrift vergeblich. Das Militär blieb dem Leviathan als Instrument unterstellt, und die äußere Politik blieb auf Verteidigung ausgerichtet, was im Falle Englands die Konzentration auf die Flotte bedeutete. Wichtig war allerdings die Grenze des Zugriffs des Leviathan auf die Bürger des Commonwealth, die sich aus der prinzipiellen Zielsetzung des Commonwealth ergab. Das natürliche Recht des Individuums auf physische Selbsterhaltung begrenzte den Rahmen, innerhalb dessen der Leviathan Loyalität und Gehorsam einfordern konnte. Eine besondere emotionale Identifikation des einzelnen mit dem Commonwealth, die über diese Selbsterhaltung hinausging, gab es bei Hobbes nicht: Der Leviathan konnte von seinen Bürgern kein Verhalten erwarten, das ihr eigenes Leben gefährdete. Das machte das Kriegsopfer für ein abstraktes Staatsideal über die Verhinderung des bellum omnium contra omnes hinaus unmöglich. Hobbes unterschied zwischen man und soldier, zwischen dem freiwillig Kämpfenden einer Miliz und dem bezahlten Söldner, der sich durch Vertrag und im Wissen um die potentielle Gefahr einem Kriegsherrn unterstellte. Die Berufung auf die Erhaltung des eigenen Lebens rechtfertigte für den einzelnen sogar die Desertion, während der für Geld kämpfende Söldner auf dieses Recht verzichtet hatte.109) Nur für den Fall einer existenziellen Gefährdung des Gemeinwesens betonte Hobbes die Verpflichtung aller waffenfähigen Bürger zur Verteidigung."0) Zwischen der von Hobbes betonten Grenze der Verfügungsgewalt des Staates über das Leben seiner Bürger und dieser Forderung bestand ein gewisser Widerspruch, aber er verdeutlichte genau jene Spannung zwischen der Freiheit des Menschen, seinem Recht auf physische Selbsterhaltung unter allen Umständen und dem Primat der Friedenssicherung. Für diese Untersuchung ist Hobbes' Kriegsdeutung von besonderer Bedeutung, weil er die Idee der nach außen abgeschlossenen Souveränität des Gemeinwesens und damit die Trennung zwischen innerer und äußerer Politik entwickelte. Erst die Souveränität des Leviathan erlaubte die Einhegung der destabilisierenden Natur des Menschen. Nach außen entstanden dadurch unabhängige Staaten mit der Aufgabe der Friedenssicherung. Ließ sich aber der Naturzustand im Innern des Staates überwinden, blieb er in der Außenwelt der souveränen Staaten erhalten: Hier befanden sich die Staaten im klassischen Naturzustand, in dem keine allgemeine Herrschaft denkbar war. Das blieb für alle wichtigen Kriegsdeutungen der Folgezeit, mindestens bis zur Wiederbelebung des Bürgerkriegsparadigmas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, einer κ») Vg]. Thomas Hobbes: Leviathan, or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil (1651), hrsg. von C. B. Macpherson, London 1968, ND. 1985, hier: Teil 2, Kapitel 21, S.269f. u0 ) Vgl. ebd., S. 270 und 718 f.

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der wichtigsten argumentativen Anknüpfungspunkte. Zugleich ist Hobbes' Kriegsdeutung deshalb wichtig, weil er die Grenze zwischen individueller Selbsterhaltung und abstraktem Staatsideal thematisierte. Dem Primat der Selbsterhaltung entsprach die Entideologisierung der Kriegslegitimation; die Souveränität des Leviathan hatte keinen anderen Zweck als die Friedenssicherung nach innen und außen. Eine patriotische Imprägnierung des Verhältnisses zwischen subject und Leviathan ergab sich daraus nicht. Daneben markierte der Bürgerkrieg aber auch eine entscheidende Periode im Verhältnis Englands zu den übrigen Nationalitäten des Inselreichs. England war es, aufgrund seiner geographischen Lage vor feindlichen Invasionen geschützt und auf seine weitgehende ethnische, sprachliche und administrative Homogenität gestützt, bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts gelungen, die keltischen Nationalitäten im Norden und Westen weitgehend zu unterwerfen. Die Ereignisse seit dem Ende der 1630er Jahre stellten diese Konstellation in Frage. Der schottischen Rebellion 1637-39 folgten die englische Niederlage von 1640 im Norden und der Ausbruch des irischen Aufstandes 1641. Im Januar 1642 hatte Karl I. die Kontrolle über zwei der drei Königreiche, Schottland und Irland, verloren."1) In den folgenden Jahren des Bürgerkrieges führten die Auseinandersetzungen zwischen König und Parlament zu einer erheblichen Steigerung zentrifugaler Kräfte, die den Zusammenhalt der einzelnen keltischen Territorien mit England bedrohte. Vor diesem Hintergrund hob man aus der Sicht des Parlaments den besonderen englischen Charakter der New Model Army gegenüber dem aus verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzten Heer des Königs hervor. Nach dem Sieg der New Model Army über Karl bei Naseby im Juni 1645, der die militärische Unterlegenheit des Königs und die Notwendigkeit ausländischer Allianzen offenbarte, betonten parlamentarische Flugschriften, es sei „a great blessing ... that in all our battailes and armies formerly, there hath been a mixture with some of other Nations; but in this Armie ... there was not one man but of our owne Nation".112) Der Ausgang des Bürgerkrieges mit der Durchsetzung des Parlaments und der erneuten gewaltsamen Unterwerfung der keltischen Nationalitäten führte zu einer erheblichen Steigerung des englischen Selbstbewußtseins. Dazu trug die Stilisierung von Kriegsopfern als patriots und Märtyrer des parlamentarischen Kampfes um tradierte Freiheitsrechte bei. So erschien John Hampden, 1643 im Kampf gegen die royalistischen Cavaliers gefallen, als „that noble patriot of his country, whose losse is infinitely lamented in all places". Das Ideal des patriot im Kampf um die Verteidigung der parlamentarisch verankerten Freiheitsrechte wurde zu einem wichtigen Anknüpfungs-

'") Vgl. Mark Stoyle: English .Nationalism', Celtic Particularism, and the English Civil War, in: HJ 43 (2000), S. 1113-1128. ln ) Thomason Tracts [British Library London], The Scottish Dove, 11.-18. Juli 1645; vgl. Stoyle·. Nationalism, S. 1127.

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punkt des englischen Nationsverständnisses. Es ließ sich auch nach dem Ende des Bürgerkriegs auf den Widerstand des Parlaments gegen absolutistische Übergriffe der Monarchie beziehen. So wurde Algernon Sidney, 1683 unter Karl II. wegen Hochverrats hingerichtet, neben Hampden zu einer zweiten Märtyrerfigur für die entstehende Whig-party. Entscheidend war dabei die Verknüpfung der nationalen Selbstdeutung mit dem stilisierten Freiheitskampf des Parlaments. In seinem Traktat Sydney Redivivus von 1689 erklärte Humphrey Smith: „the blood of patriots is the seed of Asserters of the People's Liberty".113) Schließlich entwickelte sich aus der Erfahrung des Bürgerkrieges ein neues Verhältnis zwischen Militär und Politik, das im englischen Kontext zum ersten Mal in den 1640er Jahren thematisiert wurde.114) Mit der New Model Army, deren Militärfuhrer sich nicht zuletzt durch ein gesteigertes politisches und religiöses Bewußtsein auszeichneten, entstand auf der Seite des Parlaments zunächst ein militärisch schlagkräftiges Instrument im Kampf gegen Karl I.115) Die Konflikte nach der ersten Niederlage des Königs, sowohl zwischen den verschiedenen Gruppen im Parlament als auch zwischen Armee und Parlament, führten nach der zweiten Niederlage und dem Ende der Monarchie Karls I. schließlich zur Machtübernahme Cromwells. Damit hatte sich die Armee spätestens im April 1653, nach der Auflösung des letzten Rumpfparlaments durch Cromwell, in zwei entscheidenden Konfliktsituationen, zunächst gegen die Monarchie und dann gegenüber dem Parlament, als stärkste Macht erwiesen. Deshalb provozierte Cromwells Militärdiktatur schon bald kritische Reaktionen und wirkte als traumatische Konstante fort. James Harringtons Commonwealth of Oceana von 1656 thematisierte zum ersten Mal die spezifischen Gefahren, die von einer Söldnerarmee fur ein politisches Gemeinwesen ausgingen. Harrington hielt eine standing army fur unvereinbar mit den freiheitlichen Grundprinzipien eines republikanisch verfaßten Commonwealth. Die kritische Einschätzung Cromwells und der New Model Army war unübersehbar. Um diesen Gefahren wirksam begegnen zu können, favorisierte Harrington eine Bürgermiliz nach dem Vorbild klassischer Republiken. Grundbesitz, politische Partizipation und die Pflicht zur Verteidigung des Gemeinwesens bildeten da-

" 3 ) Zitiert nach: Peter Karsten: Patriot-Heroes in England and America, Madison 1978, S. 21-24, 33, 40 und 184; vgl. auch Dietz: Patriotism, S. 182ff.; vgl. auch Jörn Leonhard: „True English Guelphs and Gibelines": Zum historischen Bedeutungs- und Funktionswandel von whig und tory im englischen Politikdiskurs seit dem 17. Jahrhundert, in: Archiv fur Kulturgeschichte 84/1 (2002), S. 175-213. " 4 ) Vgl. Wolfgang Reinhard: Staat und Heer in England im Zeitalter der Revolutionen, in: Johannes Kunisch (Hrsg.): Staatsverfassug und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, Berlin 1986, S. 173-212, wieder in: Wolfgang Reinhard·. Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1997, S. 193-230, hier: S.214ff. " 5 ) Vgl. Mark A. Kishlansky·. The Rise of the New Model Army, Cambridge 1979.

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bei eine Einheit." 6 ) Seit den Erfahrungen der 1650er Jahre wurde die Ablehnung der standing army zu einem Topos der politisch-parlamentarischen Elite und vor allem der gegen die absolutistischen Tendenzen eintretenden country party und späteren Whigs, mit dem sich die Erinnerung an den Bürgerkrieg und die Suspendierung der historischen Freiheitsrechte verband. Das Schlagwort no standing armies wurde so zu einem Synonym für die Gefahrdung der konstitutionellen Grundlagen des Landes. 1679 wurde eine standing army in England durch das Parlament fur ungesetzlich erklärt." 7 ) Diese Konstellation prägte das Verhalten des Parlaments gegenüber den zurückgekehrten Stuarts und weit darüber hinaus. Auch wenn die Frage der standing army nicht im Mittelpunkt der Glorious Revolution von 1688/89 stand, schrieb die Declaration of Rights von 1689 den Primat des Parlaments in der entscheidenden Frage der Aushebung und Finanzierung des Militärs fest: Whereas the late King James the second ... did endeavour to Subvert and extirpate the Protestant Religion, and the Lawes and Liberties of this Kingdome ... By levying Money for and to the use of the Crown by pretence of Prerogative for other Time and in other manner than the same was granted by Parliament. By raising and keeping a standing army within this Kingdome in time of Peace without Consent of Parliament and quartering of Souldiers contrary to Law ... the ... Lords Spiritual and Temporall and Commons ... Declare ... That levying of money for or to the use of the Crowne by pretence of Prerogative without Grant of Parliament for longer time or in other manner, than the same is or shall be granted is illegal ... That the raising or keeping a Standing Army within the Kingdome in time of Peace anlesse [sic!] it be with consent of Parliament is against Law."8)

Diese Entwicklung stand im Gegensatz zum Verhältnis von monarchischem Herrschaftsausbau und Militär in den kontinentaleuropäischen Staaten. Das Mißtrauen gegenüber standing armies wurde nach den 1660er Jahren zu einem Synonym fur das Bekenntnis zu den konstitutionellen und konfessionellen Grundlagen Englands, fur die Unterscheidung zwischen den eigenen Institutionen und der ganz anderen Herrschaftsstruktur Kontinentaleuropas, und damit fur die Ausprägung eines spezifischen englischen Sonderbewußtseins. Die Wirkung der Formel no standing armies, Ausweis des klassischen Republikanismus und jederzeit aktualisierbares Zeichen für das gescheiterte Experiment eines kontinentalen Absolutismus in England, erhielt sich bis ins 19. Jahrhun116 ) James Harrington: Commonwealth of Oceana (1656), zitiert nach: [Ders.\ The Political Works of James Harrington, hrsg. von J. G. A. Pocock, Cambridge 1977; vgl. Reinhard: Staat, S.224; G. Nonnenmacher. Theorie und Geschichte - Studien zu den politischen Ideen von James Harrington, Meisenheim 1977, sowie J. G. A. Pocock: Introduction, in: Harrington: Works, S. 1-152. 117 ) Vgl. Lois G. Schwoerer: „No Standing Armies". The Antiarmy Ideology in Seventeenth-Century England, Baltimore 1974, sowie J. W. Fortescue: A History of the British Army, Bd. 1, 2. Aufl. London 1910, S.289ff. 118 ) Zitiert nach: Lois G. Schwoerer: The Declaration of Rights 1689, Baltimore 1981, S. 295 ff.; vgl. Reinhard: Staat, S. 226.

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dert. Darüber hinaus wurde sie ein entscheidender Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Sonderbewußtseins der amerikanischen Kolonien." 9 ) Im englischen Kontext war die Armee keine selbstverständliche Ressource, mit welcher der Monarch seine Legitimität als roi connetable unter Beweis stellen konnte. Eine solche monarchische Stilisierung hätte sofort die Erinnerung an die Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts aktiviert und den parlamentarischen Widerstand mobilisiert. Daraus ergab sich die besondere Angst vor neuerlichen civil wars und die Bedeutung geographisch entfernter Kriege, denn nur hier gab es keine Gefahrdung der politischen Ordnung des eigenen Landes durch eine standing army. b) A warlike nation? Der Gegensatz zu Kontinentaleuropa als Erfahrungssubstrat seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Mit der Glorious Revolution von 1688/89 endete nicht allein der Versuch, in England eine absolutistische Monarchie nach kontinentaleuropäischem Muster zu etablieren. Die Berufung des protestantischen Erbstatthalters der Niederlande auf den Thron bedeutete auch, daß England stärker als bisher an kontinentaleuropäischen Konflikten beteiligt sein würde, denn Wilhelm von Oranien blieb auch nach seiner Thronbesteigung Generalstatthalter der Niederlande. Diese neue außenpolitische Zielsetzung, für die vor allem Wilhelm persönlich stand, wandte sich primär gegen das Expansionsstreben Frankreichs. Gegen den dritten Eroberungskrieg Ludwigs XIV. von 1688 bis 1697 kam es zu einer Großen Allianz zwischen England, den Niederlanden, dem Kaiser und Spanien. 1701 brachte Wilhelm eine zweite Große Allianz gegen französische Ansprüche auf die Thronfolge in Spanien zusammen. Mit ihr begann ein langjähriger militärischer Konflikt, der England in zahlreiche Seeund Landoperationen verwickelte. Damit stellten die Ereignisse von 1688/89 in doppelter Hinsicht einen Umbruch dar: Erstens ging mit der konstitutionellen Neubestimmung des Verhältnisses von Monarchie und Parlament eine kritische Sicht der absolutistischen Herrschaftspraxis einher. Das kontinentaleuropäische Muster fürstlicher Herrschaft durch stehende Heere, zentralstaatliche Bürokratie und fiskalische Autonomie des Fürsten gegenüber ständischen Konkurrenzgewalten konnte sich in England so nicht entwickeln. Die jederzeit aktualisierbaren Erinnerungen an den Bürgerkrieg schienen die Gefährdung der liberties of all Englishmen durch solche Herrschaftsinstrumente zu belegen. Entsprechend wurde das Schlagwort der standing armies immer wieder als Chiffre für die despotische Unterdrückung politischer Freiheitsrechte eingesetzt.120) Nach dem "9) Vgl. J. G. A. Pocock. The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975, sowie Quentin Skinner. The Foundations of Modern Political Thought, Bd. 1: The Renaissance, Cambridge 1978. ,2 °) Vgl. John Trenchard: An Argument, Shewing that a Standing Army Is Inconsistent with a Free Government, and Absolutely Destructive to the Constitution of the English

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Scheitern der Stuarts ließ sich die Schreckensvision einer monarchischen Prärogative nach französischem Vorbild aus englischer Sicht zur Abgrenzung der eigenen Position gegenüber den europäischen Staaten nutzen. Zweitens wurde das Feindbild seit der Glorious Revolution aus seinem primär innenpolitischen Erfahrungsrahmen gelöst und auf die außenpolitische Situation übertragen. Mit der Überwindung der Bürgerkriegsepoche traten damit der Staatenkrieg und der Kampf gegen die französische und spanische Vorherrschaft in den Vordergrund. Die Selbstdeutungsmuster, die in dieser Periode zur Geltung kamen, griffen aber immer wieder auf das Erfahrungsarsenal der Bürgerkriege zurück. Der Bellizismus als Bestandteil englischer Selbstbilder nach 1689 war also Ergebnis einer eigenen Umbruchs- und Krisenphase, deren Ursprünge deutlich vor 1689 lagen, deren langfristige Wirkungen aber weit über dieses Schlüsseldatum hinausreichten. Die Ablehnung der standing armies als Ausdruck der historischen Erfahrungen des 17. Jahrhunderts wurde eine der tragenden Säulen der Whig interpretation of history, der eine bedeutende Funktion fur die nationale Selbstvergewisserung zukam. Sie interpretierte die politischen Entwicklungen der Gegenwart im Licht der Vergangenheit und brachte so ein suggestives Modell historischer Kontinuität hervor. Die Bedrohung der Freiheit eines Landes durch stehende Heere bildete einen klassischen Bestandteil dieser Whig interpretation, die Thomas Macaulay in seiner History of England beschrieb: „our ancestors had known a standing army only as an instrument of lawless power". Auch unter Politikern sei, jenseits aller anderen Kontroversen, jene „aversion to the red coats" unumstritten gewesen. Lediglich Flotte und Volksmilizen schienen angemessene Instrumente der Landesverteidigung zu sein.121) Die militärische Verfassung des Landes spiegelte aus dieser Sicht das Erfahrungssubstrat des parlamentarischen Widerstands gegen eine zu despotischen Herrschaftsinstrumenten greifende Monarchie wider. Obgleich die Armee in den zahllosen Kriegen Großbritanniens im 18. Jahrhundert eine hervorragende Rolle spielte und obwohl Kriege und Militär die Entwicklung eines militärisch-fiskalischen Zentralismus erheblich beschleunigten, blieb die Reputation des Militärs in der Öffentlichkeit zumeist negativ oder mindestens ambivalent. Während Daniel Defoe argumentierte, daß eine vom Parlament kontrollierte Armee die Freiheit nicht bedrohe, hob Dean Swift 1724 hervor, England sei weder geographisch noch historisch eine „warlike nation". Es könne sich in allen auswärtigen Kriegen allein auf seine Flotte und Subsidienzahlungen verlassen, während eine standing army angesichts der historischen Erfahrungen eine „direct absurdity" sei. Die Auffassung, es gebe in Monarchy, London 1697; Ders.: Α Short History of Standing Armies in England, London 1698, sowie Andrew Fletcher. A Discourse Concerning Militias and Standing Armies, with Relation to the Past and Present Governments of Europe, and of England in Particular, London 1697. 121 ) Thomas Babington Macaulay·. The History of England from the Accession of James II (1849), London 1906, Bd. 3, S.530 und 534-547.

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ganz Europa kein Beispiel von Versklavung und Unterdrückung, das sich in letzter Konsequenz nicht auf die Tatsache stehender Heere zurückführen ließe, war durchaus repräsentativ.122) Für den britischen Fall muß also sehr genau zwischen der Wahrnehmung von räumlich entfernten Kriegen und des Militärs unterschieden werden. In jener spiegelte sich das konstitutionelle Sonderbewußtsein nach 1689, in dieser das fortwirkende Paradigma des Bürgerkrieges und die Selbstvergewisserung angesichts der Bedrohung durch den kontinentaleuropäischen Absolutismus wider. In Großbritannien gab es im Gegensatz zu Kontinentaleuropa kein Nebeneinander von Kriegsdeutungen und starker Militärpräsenz als Ausweis einer monarchischen Zentralgewalt. Der Bellizismus mußte gleichsam ohne jede innenpolitische Funktion des Militärs auskommen. Hinzu trat die Frage nach dem Selbstverständnis als Landmacht oder Seemacht. Zwar verdeckte die Betonung von Flotte, maritimem Handel und Kolonialreich die konkrete Bedeutung der außerhalb des eigenen Landes auf europäischem Festland kämpfenden britischen Armeen zuweilen. Aber gegenüber den kontinentaleuropäischen Staaten hatte Großbritannien in dieser Hinsicht eine wichtige Deutungsalternative. Das Selbstverständnis als Seemacht, Handels· und Kolonialnation war dabei um so attraktiver, weil es ohne stehende Heere auszukommen schien und ein eigenes Sonderbewußtsein gegenüber Kontinentaleuropa gerade aus dem Fehlen einer standing army und den dadurch garantierten liberties of all Englishmen entstehen ließ.123) c) Protestant religion, liberties, honour: Der geographisch entfernte Krieg und die Entwicklung nationaler Identifikationsattribute bis 1750 Die Verknüpfung innerer und äußerer Politik erklärt, warum die Kriege gegen Frankreich und Spanien den bellizistischen Diskurs in England mit nationalen Bestimmungselementen anreicherten. Hinzu kam die mögliche Selbstvergewisserung über die endgültige Überwindung der krisenhaften Epoche der Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts. Das erlaubte es, die historischen Grundlagen der englischen Nationsbildung nach der Sicherung der politisch-konstitutionellen Basis von 1688/89 angesichts der Herausforderung des Krieges neu zu formulieren. Vor allem der Protestantismus der englischen Nation verband die

122 ) Vgl. [Daniel Defoe]: Some Reflections on a Pamphlet [by John Trenchard, assisted by W. Moyle] lately publish'd, entituled, An Argument shewing that a standing Army is inconsistent with a free Government, and absolutely destructive to the Constitution of the English Monarchy, 2. Aufl. London 1697; Daniel Defoe·. An Argument Showing that a Standing Army, with Consent of Parliament, is not inconsistent with a free Government, London 1698; Dean Swift'. Of Public Absurdities in England, London o.J.; A Discourse upon the present Number of Forces in Great-Britain and Ireland, o.O. 1724; zitiert nach: C. Μ. Clode: Military Forces of the Crown, Bd. 1, London 1869, S. 223 f. 123 ) Vgl. Jeremy Black: Exceptionalism, Structure and Contingency: Britain as a European State, 1688-1815, in: Diplomacy and Statecraft 8 (1997), S. 11-26.

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innen- und außenpolitische Dimension des Krieges und wurde so zu einem der langfristig wichtigsten Elemente nationaler Selbstvergewisserung.124) Der nationalkonfessionelle Horizont: Der Antagonismus zwischen Protestantism und Catholicism und die Katharsis der Nation im Krieg Der Rekurs auf die Protestant religion unterstrich die konfessionelle und konstitutionelle Sonderstellung Englands, denn true religion und liberties of all Englishmen bildeten nach den Auseinandersetzungen mit den katholischen Stuarts eine Einheit, aus der sich nach 1689 eine europäische Verantwortung Englands für das Überleben des Protestantismus ableiten ließ. Dieses Bekenntnis symbolisierte aber nicht allein den Sieg über die katholischen Stuarts, die Garantie politischer Freiheiten und die Position des Parlaments als ständisches Vertretungsorgan, sondern ließ sich auch suggestiv gegen den äußeren Feind einsetzen. Die Institutionen und Traditionen, die sich im Bewußtsein der politischen Öffentlichkeit mit 1688/89 assoziieren ließen, galt es gegen Frankreich als Vormacht des Katholizismus und Ausdruck despotischer Herrschaft zu verteidigen.'25) Alle anderen Deutungselemente, welche die englische Nation auszeichneten, ergaben sich erst aus dieser konfessionellen Identität und der mit ihr verbundenen Idealisierung der im Parlament verkörperten Freiheitsrechte. Bellizistische Stilisierungen bezogen sich zwar auch auf den Monarchen Wilhelm von Oranien, aber dahinter stand die Überzeugung, die Fähigkeit zum Krieg sei eine spezifische Fähigkeit und Auszeichnung der ganzen Nation. Der Krieg wurde nicht um politische, materielle oder territoriale Interessen, sondern um Freiheitsrechte gefuhrt, die man mit der Glorious Revolution 1688/89 gegen den Angriff einer absolutistischen Monarchie verteidigt hatte: „It is Resolv'd, the Starry Gods agree, / And Heav'n proclaims a War for Liberty".126) Hinter Daniel Defoes zeitgenössischer Warnung vor einem Religionskrieg in Europa stand daher nicht mehr das Bürgerkriegsparadigma des 17. Jahrhunderts, sondern der Antagonismus zwischen Konfessionen, politischen Traditionen und konstitutionellen Institutionen, der auf die Ebene äußerer Staatenkonflikte übertragen wurde. Aber es war aus englischer Sicht die Konfession, von der alle anderen Gegensätze abgeleitet wurden:

124 ) Vgl. J. C. D. Clark: Protestantism, Nationalism, and National Identity, 1660-1832, in: HJ 43 (2000), S. 249-279, sowie Hannah Smith: The Idea of a Protestant Nation in Britain, 1714-1760, in: PP 185 (2004), S.91-118. 125 ) Vgl. Private Debates in the House of Commons in the Year 1677. In Relation to a War with France, and an Alliance with Holland. Together with Speeches by King Charles II. With a Discourse shewing the absolute Necessity of a War with France on this critical Juncture, London 1702. 126 ) Of War. A Poem. Being an Encomium of the Bravery of the English Nation, both at Sea and Land. With a particular Description of the Fleet. Written at the Command of a Person of Honour, London 1701, S. 1.

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I rank all the powers of Europe into two classes only, papists and protestants: and we are supposing the popish powers shou'd link themselves together in a confederation for the extirpation of the protestants, whom they call Hereticks ... if a parliament of protestants forgets the safety of the Protestant religion, they neglect the chief work they assemble about. Trade, liberty, property, right and wrong, justice and equity, are things the convocated assemblies of the people are call'd together about; and they are in the right: but these are but the subservient preliminaries to preserve a state or country in peace, that they may with their joint force resolve, and be able to defend and secure their religion. The Protestant religion is the fundamental of the English constitution.127)

Der Konfessionsgegensatz als Basis der Kriegsdeutung erlaubte eine Strukturierung von Wertbegriffen und wirkte auf diese Weise bedeutungshomogenisierend: Unter den Schlagworten von Protestant religion und popish powers ließen sich andere Gegensatzpaare bündeln. Darüber hinaus legitimierte dieser Dualismus fur Defoe und viele zeitgenössische Beobachter die Involvierung Englands in europäische Kriege, indem er dem Land eine über politische und ökonomische Interessen hinausgehende Mission zuwies. Hier wurde erkennbar, daß der Konfessionskonflikt als bellizistisches Legitimationsmuster zwei historische Zeitebenen miteinander verband: In ihm ließen sich die historischen Erfahrungen Englands seit der Elisabethanischen Epoche und den Bürgerkriegen formulieren, und er schuf eine suggestive Projektionsfläche fur Erwartungen, die stets über konkrete politische Interessen hinauswiesen und den Krieg als Glaubens- und Prinzipienkonflikt erscheinen ließen. Das erklärt auch, warum die konfessionell grundierte Kriegsdeutung im englischen Falle eine besondere argumentative Beharrungskraft entfaltete. Daniel Defoes Interpretation lief auf eine konfessionell-religiöse Begründung des Krieges gegen Frankreich hinaus. Dies erscheint um so auffalliger, wenn man bedenkt, daß die zweite antifranzösische Allianz von 1701 mit dem Kaiser, Portugal und Savoyen auch katholische Dynastien einband. Dahinterstehende politische oder strategische Motive sucht man in den zeitgenössischen Reaktionen aber vergebens. Zahlreiche Kriegsdeutungen in der englischen Öffentlichkeit nutzten den Konfessionsgegensatz vor allem als Mittel, um den Krieg gegen das bourbonische Frankreich zu popularisieren. Defoe verknüpfte religion und liberty zu einer postrevolutionären Werteeinheit, von der er popery and slavery um so klarer abhob: „[God's] providence has... made our liberty so dependant on, and relative to our religion, that it is morally impossible liberty in England can be any longer liv'd than religion. Popery and slavery are like sin and death, direct consequences of one another; and whenever we think fit to admit the first, any body may promise us the last". Der verbreitete Antikatholizismus der Stuart-Gegner als Ausdruck nationaler Eigenständigkeit ließ sich auf die Situation des Krieges anwenden und erhielt in der konkreten Situation von 1701 eine aggressive Note. Angesichts der äußeren Bedrohung setzte sich 127 ) [Daniel Defoe] The Danger of the Protestant Religion considered from the present Prospect of a religious War in Europe, London 1701, S. 17 f.

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Defoe auch kritisch mit der Prämisse auseinander, standing armies seien stets eine Bedrohung politischer Freiheitsrechte. Eine Bedrohung, so Defoe, gehe von ihnen nur dann aus, wenn sich das Militär in den Händen eines absolutistischen Fürsten befinde. Das aber sei in England seit 1689 nicht mehr der Fall: „We have had armies in England, and have not lost our liberties. The difference lies here, that we had armies to enslave us, and they did it; but the last were raised to defend us; and when that was done, submitted the military to the civil power, and left our liberties entire. I wou'd say also ... that the grand difference lay in the kings we had".128) Das Motiv der Verteidigung der national-englischen Religion dominierte auch in zahlreichen anderen Stellungnahmen zur Beteiligung Englands am Krieg gegen Frankreich, während Rekurse auf die notwendige Erhaltung der „balance of Europe" relativ selten blieben.129) Eher betonte man, daß durch die Kriegserfahrung der besondere Charakter Englands und seines Volkes „as a wise and magnanimous nation who know when a war is necessary" hervortrete. Aber auch hier blieb die konfessionelle Dimension der Nationsdeutung im Krieg entscheidend: „But it must be remember'd that the true English spirit is not only a spirit of honesty and generosity, but a spirit of true and sincere religion at the bottom".130) Der Krieg lieferte den Beweis für eine besondere Beziehung zwischen Gott und dem englischen Volk, er manifestierte die göttliche Vorsehung. In diesem Kontext stand auch das Bild des Gottesurteils im Krieg: „That war is an appeal to God, praying him to shew himself as sovereign judge between nation and nation, and to determine the controversies, that are betwixt them".131)

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) Ebd., S.31 f. und 21. ) Charles Davenant: Essays upon Peace at Home and War abroad. In two Parts, Part I [Teil II nie publiziert], London 1704, S.8; vgl. Richard Chapman: The Necessity of Repentance asserted: In order to avert those Judgements which the present War, and strange Unseasonableness of the Weather at present, seem to threaten this Nation with. In a Sermon preached on Wednesday the 26th of May, 1703. Being the Fast-Day appointed by Her Majesty's Proclamation, London 1703, S. 10 und 17. ,3 °) The Dangers of Europe, from the growing Power of France. With some free Thoughts on Remedies. And particularly on the Cure of our Divisions at Home: In order to a successful War abroad, against the French King and his Allies, London 1702, S. 68, sowie [Edward Stephens] The Justice of our Cause in the present War, in respect of what is peculiar to the English, in Matter of civil Right [London 1702], S. 7. '") William Dawes: Times of War, Times of national Humiliation and Repentance. A Sermon preach'd before the Queen at St. James's Chapel, on Wednesday in PassionWeek. Being the Fast-Day appointed, for imploring the Continuance of God's Blessing and Assistance on the Arms of Her Majesty and Her Allies, engag'd in the present War, 2. Aufl. London 1707, S. 5; vgl. A Form of Prayer and Thanksgiving, to be used on Tuesday the Seventh Day of November next, throughout England. For the great Goodness and Mercy of Almighty God, in Continuing to us His Protection and Assistance in the just and necessary War in which we are engaged by giving to our Arms a wonderful Course of Successes this Campaign, and more particularly, a signal and glorious Victory in Spain, London 1710. 129

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Hinzu kam schließlich ein selbstkritisches Interpretament, das den Krieg gegen einen äußeren Feind als Anlaß zur notwendigen Reinigung des eigenen Volkes von Luxus und materiellem Überfluß begriff, als moralische Katharsis, die angesichts der zurückliegenden Krisenerfahrungen des 17. Jahrhunderts besonders virulent schien: And of all nations, that ever were engag'd in war, this is most necessary for us. For the wild inclinations to the gaities and extravagancies of living, which even during the heavy pressures we are under, have most unnaturally grown up among us, are sufficient in a few years, to render us a most miserable people, if we enter into a peace but with the same dispositions as we come out of the war. We seem to have anticipated with great industry, the mischievous effects of plenty; while not only the publick taxes, but a scarcity also, not known to former times, hath reduced multitudes among us to the utmost extremities."2) Das Motiv der Katharsis der Nation im Krieg blieb eine wichtige Deutungskonstante.133) In diesen Rahmen wurden auch die militärischen Siege Marlboroughs eingeordnet. Richard Chapman reagierte darauf in einer Predigt, indem er die durch den Krieg neu belebten Tugenden der Nation, die „national and personal reformation", in einen historischen Zusammenhang stellte und an die Durchsetzung der Reformation im 16. Jahrhundert erinnerte. Der Zusammenhang von „church and nation" war fur ihn nicht nur eine englische Errungenschaft, sondern auch eine Verpflichtung für alle Nationalitäten des britischen Königreichs. 134 ) Als die seit 1603 bestehende Personalunion zwischen England und Schottland 1707 durch eine Vereinigung der Parlamente in eine Realunion überführt wurde, glaubte man die besondere Verbindung zwischen Gott und der Nation zusätzlich bestätigt. Der Krieg gegen den kontinentaleuropäischen Feind ließ das Ziel der Einheit aller Inselnationalitäten besonders hervortreten.135) 132

) Philip Bisse: Α Sermon preach'd before the Honourable House of Commons, at St. Margaret's Westminster, on Wednesday, March, 15, 1709/10 [sic!]. Being the Day appointed by Her Majesty for a general Fast and Humiliation to be observ'd in a most solemn and devout Manner, for obtaining the Pardon of our Sins, and imploring God's Blessing and Assistance on the Arms of Her Majesty and Her Allies, engag'd in the present War: And for restoring and perpetuating Peace, &c., London 1710, S. 19 f. 133 ) Vgl. Walter Harte: The Reasonableness and Advantage of national Humiliations upon the Approach of War. A Sermon preached before the University of Oxford, 9 January 1740, being the Day appointed for a general Fast, Oxford [1740]. ,34 ) Richard Chapman: The Lawfulness of War in general, and Justness of the Present asserted. In a Sermon preach'd at Cheshunt in Hertforshire, on September 7, 1704, being the Thanks-giving Day for the late glorious Victory obtained over the French and Bavarians at Blenheim near Hochstet [sic!], on Wednesday the 2nd of August, by the Forces of Her Majesty and her allies, under the Command of the Duke of Marlborough, London 1704, S. 16 und 20. 135 ) Vgl. Charles Lamb: England happy at Home and abroad. A Sermon preached in the Parish Church of Enfield, in the County of Middlesex; on December the 31st, 1706. The Day of general Thanksgiving, for the glorious Successes with which God has been

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Though we are engaged in foreign wars, yet peace still flourishes in our own walls: Das offensive Selbstbild als maritime Kolonial- und Handelsmacht Im Gegensatz zu den Staaten des Kontinents war die Kriegserfahrung für Großbritannien seit den Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts durch die Insellage und die damit verbundene räumliche Abwesenheit kämpfender Armeen gekennzeichnet, die das Land und seine Bevölkerung gegen die unmittelbaren Auswirkungen des Krieges abschirmten: „though we are engaged in foreign wars, yet peace still flourishes in our own walls, and plenteousness within our palaces: God seems to have given us that happiness for which David interceeds for his own people".136) Aus dieser Konstellation ergab sich nicht allein die fur nationale Selbstdeutungen so wichtige Unterscheidung zwischen Seemacht und Landmacht, sondern auch die immer wieder auftretende panikartige Reaktion auf vermeintliche Gefahrdungen dieser strategischen Situation. Drohende Invasionen waren im Falle Großbritanniens stets auch Herausforderungen fur das nationale Selbstbild eines Landes, das den Landkrieg seit den 1640er Jahren nicht mehr unmittelbar erlebt hatte und fur das sich der Krieg mit einer völlig anderen Erfahrungswirklichkeit verband als im Falle kontinentaleuropäischer Staaten. Der subjektiven Vorstellung von Bedrohungsszenarien kam hier eine besondere Rolle zu. Invasionspaniken, die sich in Wellen und mit wechselnden Feindbildern über die Phase von 1790 bis 1815, in den 1850er Jahren, zwischen 1890 und 1914 sowie 1940 entfalteten, bildeten daher immer auch Höhepunkte bellizistischer Nationsdeutungen. 137 ) Die seit Ende der 1690er Jahre entwickelten antifranzösischen und antispanischen Feindbilder reichten weit über das faktische Ausscheiden Großbritanniens aus der antifranzösischen Koalition 1711 hinaus. Das Ideal des patriot erschien Zeitgenossen zu Beginn des 18. Jahrhunderts eng mit der Vorstellung des Krieges verbunden: „While war is Necessary, Just, and Fair, / He thinks that War becomes a Patriot's Care".138) Nicht zuletzt die Siege Marlboroughs boten Gelegenheit, bei aller vorhandenen Skepsis gegenüber standing armies die Bepleas'd to crown the Armies of Her Majesty, and the Confederates, both by Sea and Land, London 1707, S.15f. 136 ) Ebd., S. 13; vgl. Herman Moll·. A History of the English Wars in France, Spain, Portugal, Netherlands, Germany, &c, containing all the sieges and battles fought by the English in those Countries, from William the Conqueror to the present Time. With a large Map, London 1705. 137 ) Vgl. John Dunton: The Mob-War: or, a Detection of the present State of the British Nation, but more especially with Respect to that wou'd be King (or little popish Work of Darkness) that threatens us with a speedy Invasion. In sixteen Letters, London 1715, sowie F. McLynn: Invasion: From the Armada to Hitler 1588-1945, London 1987, und Ν. Longmate: Island Fortress: The Defense of Great Britain 1603-1945, London 1991. 13S ) George Sewell: The Patriot. A Poem, inscrib'd to the Right Honourable Robert Earl of Oxford, &c. Lord High Treasurer of Great Britain, London 1712, S.9; vgl. Jens Metzdorf·. Politik - Propaganda - Patronage. Francis Hare und die englische Publizistik im Spanischen Erbfolgekrieg, Mainz 2000.

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deutung abwesender Heere und Flotten für die Verteidigung der konfessionellen und dynastischen Grundlagen der Nation hervorzuheben.139) Das Militär wurde nur im Innern als potentielle Bedrohung empfunden, nicht aber als außerhalb Großbritanniens operierende Macht. Der räumlich abwesende Krieg ließ die Glorifizierung der Armee und ihrer Heerführer zu, auch weil von ihnen keine Bedrohung der konstitutionellen Ordnung zu befurchten war. Weder Marlborough noch andere Feldherrn des 18. oder 19. Jahrhunderts ließen sich mit Cromwells Position in den 1640er und 1650er Jahren vergleichen. Der Sieg Marlboroughs bei Blenheim erschien vielmehr als Triumph der Freiheit, mit der man Großbritannien und seine freemen identifizierte, über Despotismus und Tyrannei, wie man sie in Frankreich verkörpert sah: „Marlborough resolves to make th'Invader know, / Of Freeman and of Slaves the difFrent Force".140) Diese eingängige Selbststilisierung ließ sich zu einer Mission Großbritanniens auf dem europäischen Kontinent zuspitzen, eine Bestimmung, bei der stets die Abwertung Frankreichs als katholische und despotische Macht im Vordergrund stand: „She rescues Empires for their lawful Lord, / By Her each Nation has its Right restor'd".141) Verstärkt wurde diese Perspektive schließlich durch die Garantie der protestantischen Thronfolger aus dem Haus Hannover nach 1714. Frankreich und Spanien erschienen nicht allein als Verkörperung von „any popish claimant", sondern waren zugleich „your known enemy from the foundation of your government; and your too powerful rival in foreign trade, and the dominion of the sea".142) Der Rückgriff auf das Bild der englischen Handelsnation und ihrer kolonialen Expansion verriet eine veränderte Selbstwahrnehmung. Kriege gegen Frankreich oder Spanien blieben zugleich religiös be139 ) Vgl. John Miliner: A compendious Journal of all the Marches, famous Battles, Sieges, and other most note-worthy, heroical, and ever-memorable Actions of the triumphant Armies, of the ever-glorious confederate high Allies, in their late and victorious War against the powerful Armies of proud and lofty France, in and on the Confines of Holland, Germany, and Flanders, so far as our successful British Troops extended in Conjunction therein. Digested into twelve Campaigns, begun A.D. 1701, and ended in 1712. All but the first and last, the Grand Confederate Armies were under the Conduct and Command of our honourable and much honour-worthy, ever-renown'd, graceful, and excellent war-like hero John Duke of Marlborough, Prince of the Holy Empire, & c., London 1733. 140 ) Ode for the Thanksgiving Day, London 1706, S.4. 141 ) Ebd., S. 11 und 13; vgl. auch A Letter to a High-Churchman, in Answer to a Pamphlet, intitled Reasons why this Nation should put a speedy End to this Expensive War, London 1711, S. 6. 142 ) Jonathan Smedley: A Discourse concerning the Love of our Country. Preached at the Parish Church of St. Peter's le Poor in Broad-Street, January 20. Being the Day of publick Thanksgiving for King George's safe, quiet, and happy Accession to the Throne, London 1715, S.23 f., sowie John Dennis: A Proposal for putting a speedy End to the War, by ruining the Commerce of the French and Spaniards, and securing our own, without additional Expense to the Nation, London 1703; vgl. Gottfried Niedhart: Handel und Krieg in der britischen Weltpolitik 1738-1763, München 1979.

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stimmte Prüfungen, in denen sich die göttliche Privilegierung der englischen Nation offenbarte: „Who knows, but God will spare us? He has often deliver'd our Church and Nation, and mostly then, when they seem'd upon the brink of ruine. The year eighty-eight, the Gunpowder-Plot, and the late happy Revolution, will be memorable and lasting monuments hereof'. 143 ) Damit aber ließen sich diese Kriege in die Kontinuität historischer Entscheidungssituationen einordnen. John Oldmixon betonte, viele Zeitgenossen „seem to have ... no notion of that spirit and principle of liberty which inspir'd our Saxon fathers in the defence of it".144) Als Sinnlehre des Krieges verband der Bellizismus diese unterschiedlichen Vergangenheitsebenen miteinander. In ihm manifestierte sich ein historisches Identifikationsprinzip und eine historische Kontinuität, das konfessionelle und politisch-konstitutionelle Sonderbewußtsein der englischen Nation, das mit der Union von 1707 zumindest formell auf die anderen Nationalitäten des Inselreichs übertragen worden war. So sehr sich im Verlauf der 1730er Jahre die Konfliktzonen zwischen Großbritannien und Spanien auf handelspolitisches Terrain vor allem in der Karibik verschoben,145) so sehr blieb das dominierende Motiv in der Wahrnehmung des Konflikts primär die Verteidigung von protestantischem Bekenntnis, historischen Freiheitsrechten und der Thronfolge des Hauses Hannover als Garantie gegen eine Intervention der katholischen Gegner. Äußere Sicherheit und innere Stabilität schienen untrennbar miteinander verbunden. In Frankreich und Spanien mache man sich, so eine charakteristische Äußerung von 1734, Illusionen über die Uneinigkeit der britischen Union: „when the nation comes to be alarmed with a real sense of danger... we shall return to our senses... in defence of our religion and liberties, our trade and rights, that were secured to us by the revolution, and consequently in defence of the present happy settlement in the house of Hanover, from which our security, humanly speaking, is inseparable".146) Schon 1729 hatte sich Daniel Defoe energisch fur einen Krieg gegen Spanien eingesetzt. Dabei ging es ihm nicht allein um den karibischen Handel und die Verteidigung der „British nation", sondern vor allem um die disziplinierende Wirkung des Krieges nach innen: „A war will... stop the mouth of cla,43 ) Christopher Sudell: The People and Soldiers' Duty in this present Time of War and Rebellion. A Sermon preach'd at the Church of Trinity, within the City of Chester, upon Sunday the 13 th of November, 1715,London 1716, S.25f. 144 ) [John Oldmixon] Arcana gallica; or, the secret History of France, for the last Century. Shewing, by what Steps the French Ministers destroy'd the Liberties of that Nation in general and the Protestant Religion in particular. With a View of the Distractions and civil Wars during the two Minorities in that Period. Collected from the most authentick Authorities, never before printed in France or England, London 1714. 145 ) Vgl. Reasons for a War against Spain. In a Letter from a Merchant of London trading to America, to a Member of the House of Commons. With a Plan of Operations, London 1737. 146 ) A Letter to the Craftsmen, upon the Change of Affairs in Europe by the War that is begun against the Emperor, London 1734, S. 61 f.

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mouur [sic!], compose the heads of the people, which at present may be said to be a little turn'd; a war will put the nation's spirits in circulation, dissolve and disperse all our lethargick mists and vapours, and restore us to our political senses, which for some time have been bewilder'd with doubts and amusement".147) Die Auseinandersetzung mit Spanien, die zunächst als See- und Kolonialkrieg gefuhrt wurde, weitete sich seit 1740 zum Kontinentalkrieg gegen Frankreich aus, als Großbritannien zusammen mit den Niederlanden auf der Seite des Kaisers in den Österreichischen Erbfolgekrieg eingriff, um das französische Hegemonialstreben auf dem Kontinent einzudämmen. Seit Mitte der 1730er Jahre vermehrten sich die Stimmen, die „neutrality and pacifick conduct" der englischen Nation kritisierten.148) Der Krieg solle demgegenüber erweisen, „that we are still Britons, that we are still able to revenge the injuries we have received from her, and know how to make ourselves fear'd by any nation in Europe when we are thoroughly provoked". 149 ) Überhaupt nahmen seit den 1740er Jahren Hinweise auf die Überlegenheit des „British valour" auffallig zu.150) In einem 1739 publizierten fingierten Dialog zwischen einem courtier und einem citizen trat der citizen im Vergleich zur abwartenden und vorsichtigen Haltung des courtier offen fur den Krieg ein. Charakteristisch an seiner Begründung war das Bild Englands als überseeische Handelsmacht und das Anknüpfen an die Elisabethanische Epoche, die als Verpflichtung in der Auseinandersetzung mit Spanien galt. Dem Autor ging es zugleich um Außenwahrnehmung und Selbstdeutung Englands, das in diesem Konflikt völlig auf sich

,47 ) [Daniel Defoe] Reasons for a War, in order to establish the Tranquillity and Commerce of Europe, London 1729, S. 32; vgl. [Deri.] The evident Approach of a War; and something of the Necessity of it, in order to establish Peace and preserve Trade. To which is added, an exact Plan and Description of the Bay and City of Gibraltar, 2. Aufl. London 1727. 148 ) Reasons for a War; from the imminent Danger with which Europe is threatened, by the exorbitant Power of the House of Bourbon; and the Necessity of giving immediate Assistance to the House of Austria and the Empire. Humbly address'd to the Parliament of Great-Britain, 2. Aufl. London 1734, S.55. 149 ) [C. Ferguson] A Letter address'd to every honest Man in Britain; and most respectfully submitted to the serious and patriotal Perusal of the Ministry. Demonstrating that not only the Honour, the Interest, but even the Preservation of Great Britain, absolutely calls for a speedy and vigorous War with Spain, if Britain cannot, by amicable Means, and without any further Delay, obtain ample Satisfaction for the Damages she has already received from the Spaniards, and full Security for her Trade in the Future. By Mr. F-r-n, London 1738, S. 22; vgl. Britannicus [i.e. Mark Akenside]: A British Philippic. A Poem in Miltonic Verse. Occasion'd by the Insults of the Spaniards and the Preparations for War, London 1738. I5 °) Vgl. Η. Mackinstry: The Glory of Spain subdu'd by British Valour: a poetical Narrative of the Taking of the Gloriosa Spanish Man of War by the Russell and the Royal Family privateers; together with the blowing up of the Dartmouth, London 1748.

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allein gestellt sei.151) Auch das Eingreifen in den kontinentaleuropäischen Erbfolgekrieg beurteilte man nach diesem Muster. Der Krieg sei „not only lawful, but even necessary to enter". In ihm zeige sich, „that a steady belief of the great principles of religion, has a marvellous tendency to promote and encourage ... national, as well as private and personal virtue: That obedience to its precepts, has a marvellous tendency to promote national prosperity and happiness; as the breach of them has to provoke God's displeasure, and bring on national ruin". Erst auf der Grundlage der konfessionellen Identität ergab sich ein Bild der Nation, das sich mit individueller Tugend und ökonomischer Wohlfahrt verband.152) Auffallend an all diesen Äußerungen war die Konzentration auf überpersönliche Identifikationsattribute, auf Protestant religion, liberties und honour. Sie schufen ein nationalmoralisches Wertereservoir, das in Krisenphasen aktualisiert und mit dem die kollektive Erinnerung an die Krisenphase des 17. Jahrhunderts jederzeit wachgerufen werden konnte. Die nationale Selbstvergewisserung wurzelte in der Vergegenwärtigung der stilisierten Freiheitskämpfe des Parlaments bis 1688/89. Deshalb kam die Deutung des Krieges auch ohne den dezidierten Rekurs auf den Monarchen aus, oder sie band seine Figur an diese Erfahrungssubstrate. Die Interpretationsfigur des roi connetable, in dem absoluter Herrschaftsanspruch und persönliche Kriegführung zusammentrafen, gab es hier nicht. Dem entsprach das Idealbild eines Monarchen in Bolingbrokes Schrift The Idea of α Patriot King von 1738, der die historischen Prinzipien von Verfassung und Parlament respektierte und sein Ansehen nicht auf einzelne politische Fraktionen, sondern auf „the spirit and strength of the nation" gründete.153) Gegenüber der monarchischen Achtung vor der Verfassung spielte der militärische Ruhm als Manifestation persönlicher Ansehensmacht hier keine übergeordnete Rolle. Dieses relative Zurücktreten von Monarchie und Dynastie gegenüber abstrakten Prinzipien deutete darauf hin, daß der geographisch 151

) War against Spain declared: A Dialogue between a Citizen and a Courtier. To which is added a Proposal humbly offer'd to the Consideration of the Legislature for making England the Terror of the Whole World, London 1739, S. 17. ,52 ) George Smyth: The Lawfulness of War; and the Duty of a People entering into it; shewn in a Sermon preach'd at the New Meeting-House, in Hackney, on Wednesday, January 9 [1740]. Being the Day appointed by his Majesty for a general Fast throughout Britain, London 1740, S.6 und 25; vgl. Old England for ever, or, Spanish cruelty display'd; wherein the Spaniards Right to America is impartialy examined and found defective; their Pretensions founded in Blood, supported by Cruelty, and continued by Oppression, London 1740, sowie Great Britain's Complaints against Spain impartially examin'd, and the Conduct of each Nation, from the Treaty of Utrecht to the late Declarations of War, compared. To which is added an Abstract of the several Treaties which have been entered into between the two Crowns, so far as they relate to the present national Disputes, London 1740. 153 ) Viscount Henry St. John Bolingbroke: The Idea of a Patriot King (1738), hrsg. von S.Jackman, Indianapolis 1917, S. 51; vgl. Viscount Henry St. John Bolingbroke: Letters on the Spirit of Patriotism (1736), Oxford 1917; vgl. Dietz\ Patriotism, S. 184f.

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entfernte Krieg ein Feldherrnkönigtum nach französischem Vorbild nicht zuließ.154) Das galt nicht zuletzt für den Fall militärischer Auseinandersetzungen innerhalb des Kolonialreichs. Gleichzeitig schienen die erfolgreichen Militärfuhrer wie Marlborough zu jedem Zeitpunkt bereit, sich Krone und Parlament unterzuordnen. Sie überschritten eben nicht jene Legitimationsschwelle, die aus Cromwell und Monk eminent politische Figuren gemacht hatte und vor allem Cromwell aus erfolgreicher Heerfuhrerschaft und religiösem Bewußtsein in den 1640er Jahren zu einer Bedrohung des Parlaments hatte werden lassen. Der besondere Zusammenhang zwischen Kriegserfahrungen und Nationsdeutungen ergab sich im britischen Fall im Gegensatz zu Kontinentaleuropa aus einer Konstellation der geographisch entfernten Kriege, des abwesenden Militärs und des historisch verankerten Mißtrauens gegenüber stehenden Heeren. Das förderte das Eigenbewußtsein als Handels- und Kolonialmacht.155) To root us out from being a free and a Protestant nation: Das Dilemma der Inselnationalitäten und das Trauma des civil war in den Jakobitenaufständen Das Trauma eines Bürgerkrieges zwischen Engländern, Schotten und Iren, die Vorstellung, das Königreich könne in inneren Konflikten gelähmt werden, schien in der Realität geographisch entfernter Kriege seit dem Ende des 17. Jahrhunderts überwunden. In seiner populären Darstellung der Wars in England, Scotland & Ireland erinnerte Nathaniel Crouch 1737 daran, daß es die inneren Konflikte vor dem 18. Jahrhundert gewesen seien, welche die Konzentration der inneren Kräfte zur Bildung eines Empire verhindert hätten.156) Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die militärisch zum Scheitern verurteilten jakobitischen Aufstände der 1740er Jahre vielfältige Bedrohungsängste provozierten, die sich in einer Flut von Traktaten, Flugschriften und Predigten niederschlugen. Der Pretender der Stuart-Dynastie und die Aufstände in Schottland bedrohten jenes Paradigma der räumlich abwesenden Kriege, das so wesentlich zur national-englischen Selbstvergewisserung nach 1688 und 1714 beigetragen hatte. Die panikartige Reaktion der englischen Öffentlichkeit, die in keinem Verhältnis zur objektiven Bedrohung stand, zeigte, daß das Schreckbild eines von Spanien und Frankreich unterstützten Bürgerkrieges wiederbelebt werden konnte.157) Der Pretender verkörperte den inneren 154

) Vgl. Kapitel II.3.b). ) Vgl. Britons, awake and look about you; or, Ruin, the inevitable Consequence of a Land-War, whether successful, or not; humbly recommended to the serious Consideration of all true Britons. By a Lover of his Country, London 1743, S. 32. 156 ) Robert Burton [i.e. Nathaniel Crouch]: The Wars in England, Scotland & Ireland. Containing an Account of all the Battles, Sieges, Revolutions, Accidents, and other remarkable Transactions in Church and State, during the Reign of King Charles I. Being an impartial View of his Life and Actions, 10. Aufl. London 1737, S.4. '") Vgl. Edward Lewis: The Invasion: or, The Confederacy of Syria with Ephraim, to set the Son of Tabeal upon the Throne of Judah. A Sermon, occasion'd by the intended French Invasion in Favour of the Pretender, and by the general Fast on Wednesday, April 155

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und äußeren Feind, der es darauf anlegte, die konfessionellen und konstitutionellen Grundlagen und damit den Kompromiß von 1688 zu zerstören: „to root us out from being a free and a Protestant nation".158) Das erklärte auch die Vehemenz der zeitgenössischen Reaktionen. Die Krise erzwang die scharfe Abgrenzung der nationalen Institutionen Englands gegenüber Schottland sowie gegenüber Frankreich und Spanien: „A popish prince and civil liberty, a bigotted king and undefiled religion, have been found by sad experience to be incompatible in this nation".159) Auch jetzt erwies sich die Erinnerung an die Bürgerkriegssituationen des 17. Jahrhunderts als erfolgreiches Mittel, um die Tragweite des Konflikts hervorzuheben. War es im 17. Jahrhundert aber um die innenpolitische Konfliktlage zwischen König und Parlament gegangen, so boten die Ambitionen des Stuart-Thronanwärters 1745 Anlaß, antikatholische Feindbilder zu reaktivieren und dem Schreckbild eines durch Frankreich instrumentalisierten inneren Konflikts zu begegnen: „What views can she have in fomenting this civil war, but what she has had in all our civil wars, that of destroying our religion, liberty and trade, of making us a province of that universal monarchy she hath long projected".160) Der blutige Sieg königlicher Truppen über die schottischen Stuart-Anhänger in der Schlacht von Culloden im 11,1744. Appointed by His Majesty, for obtaining the Pardon of our Sins, London 1744; Theodore Delafaye: The proper Improvement of national Judgements. A third Sermon preach'd at Queenborough in Kent, on the 18th of December, 1745. Being the Day appointed by Authority for a Fast, on Account as well of the War with France and Spain, as of the present unnatural Rebellion, London 1746; Richard Canning: A Sermon, preach'd December 18, 1745, on Occasion of the present Rebellion, Ipswich 1746; Adam Ferguson: A Sermon preached in the Ersh Language to His Majesty's First Highland Regiment on Foot, commanded by Lord John Murray, at their Cantonment at Camberwell, on the 18th day of December 1745. Being appointed as a solemn Fast, London 1746, sowie Richard Meadowcourt, The Causes of our National Dangers and Distresses, assigned. In a Sermon preached at the Cathedral- Church of Worcester, December 18, 1745. Being the Day appointed for a general Fast. Published at the unanimour Request of the Gentlemen there associated for the Defense of our happy Constitution, 2. Aufl. London 1746. ,58 ) Edward Arrowsmith: What ought to be the Behaviour of Subjects in Time of War. A Sermon preach'd in the Parish-Church of St. Olave Hart-Street, April 11th, 1744. Being the Day appointed for a Fast upon the Account of the Spanish War, London 1744, S. 7; vgl. William Adams'. A Sermon preached at St. Chad's Church, in Shrewsbury, November 10,1742. Being the Day appointed for a general Fast, on Occasion of the War with Spain, London 1743. 159 ) Philip Williams: A Sermon preached in the Parish Church of Starston in Norfolk, upon the Fast-Day, December 18,1745. For averting the Judgements and imploring the Blessing of God on the Arms of His Majesty, Cambridge 1745, S. 16. ,60 ) Patrick Cuming: A Sermon preached in the Old Church of Edinburgh, December 18th, 1745, being the Fast-Day, appointed by the King, for the Rebellion, London 1746, S. 32; vgl. Samuel Lewis: A Sermon on the present Rebellion, and the War with France and Spain. Preached at Stratford, in Suffolk on Wednesday, December 18, 1745; Being the Day appointed by his Majesty for a general Fast. Suited to these Times of Danger and Trouble, London 1746, S. 11 und 20.

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April 1746 und der Zusammenbrach des jakobitischen Aufstandes bestätigten den Zeitgenossen die dynastischen und konstitutionellen Ergebnisse von 1688/89 und 1714. Die bellizistische Deutung der englischen Nation wandte sich nicht nur gegen die Franzosen, sondern vor allem gegen die Schotten und ihre Unterstützung der Stuarts: Now that our reason is awake, what is there to fright us? These Scots, whose names we trembled at, who are they? The same prowling race, that our fathers, but thirty years ago, compelled to skulk again to their mountains. Tho' now they point to our hearts the very swords, which were then indulged to them, on a pretense of self-preservation; headed to our slaughter by men, who owe their lives to the pardon of England. If nature has not a spark indignation may kindle us to courage. And these French, who would yoke us to a pretender, their thousands our ancestors have crushed with hundreds. A Marlborough ,never fought a battle, in which he did not conquer' them.161)

Die Krise der 1740er Jahre verknüpfte die Frage nach der inneren Stabilität des Königreichs unter englischer Dominanz mit der äußeren Behauptung Großbritanniens im Kampf gegen die kontinentaleuropäische Vorherrschaft der Bourbonen. Reflexartig wurde an den zeitgenössischen Reaktionen deutlich, wie fragil die Vorstellung einer die Inselnationalitäten überspannenden britischen Nation noch immer war.162) So sehr subjektive Wahrnehmung und objektive Gefahrdung in diesem konkreten Zusammenhang auseinanderfielen, so sehr reflektierte dies eine fur innere und äußere kriegerische Gefahrdungen hoch sensibilisierte Öffentlichkeit. Die Wirkung der Aufstände erklärte auch die sensible Wahrnehmung des Österreichischen Erbfolgekrieges. John Denne nahm den Krieg zum Anlaß, die „national foible" anzuprangern, „to talk of little else but our own Schemes, Strength, and Courage", wo es darum gehen müsse, jene göttlichen Hilfen zu erkennen, ohne die das Königreich längst „a conquered Province, under the Tyranny of an absolute Monarch and his People" geworden wäre. Auch hier ging es um die doppelte Bedrohung im Inneren durch die absolutistischen Stuarts des 17. Jahrhunderts und die Stuart-Anhänger der Gegenwart sowie von außen durch die katholischen Mächte Frankreich und Spanien.163) Das Nebeneinander 161 ) Robert Hargreaves: Unanimity, and a Patriot-Spirit, recommended in two Sermons. The first preached September the 22nd, 1745. The second preached December the 18th, 1745, the Fast-Day, York 1746, S. 50 ff. 162 ) Vgl. Michael Hechter. British Nationalism in Internal Colonialism: The Celtic Fringe in British National Development, 1536-1966, Berkeley 1975; J. C. D. Clark. English History's forgotten Context: Scotland, Ireland, Wales, in: HJ 32 (1989), S.211-228; Colin Kidd: North-Britishness and the Nature of Eighteenth-Century British Patriotism, in: HJ 39 (1996), S. 361-382, sowie Fiona J. Watson: The enigmatic Lion: Scotland, Kingship and national Identity in the Wars of Independence, in: David Brown/Richard J. FiWay/Michael Lynch (Hrsg.): Image and Identity. Making and Remaking of Scotland through the Ages, Edinburgh 1997, S. 18-37. 163 ) John Denne: The Religious, Moral, and Civil State of the Nation considered, in a Sermon Preached in the Parish Church of St. Leonard, Shoreditch, upon January 9,

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von Invasionsangst, antikatholischen und antifranzösischen Stereotypen sowie die stete Aufforderung zur nationalen Buße und der „Reformation of the Church of England from the Errors both in Doctrine and in Worship" blieb eine Konstante der Kriegswahrnehmungen der 1740erJahre und darüber hinaus.164) Hinzu kamen die Überzeugung als von Gott favorisierte Nation in Europa und die Auffassung, daß diese göttliche Privilegierung sich nicht allein in „liberty and freedom", sondern auch in der langen Reihe bedeutender nationaler Heerfuhrer offenbare.165) Ergänzt wurde dies durch antike Motive, etwa die Hinweise auf die „motives of national interest", welche die „Lacedemonians of Old" zu tapferen Kriegern gemacht hätten. So wiesen englische Selbstdeutungen der 1740er und 1750er Jahre eine charakteristische Überlagerung bellizistischer Merkmale, politisch-konstitutioneller sowie konfessioneller Elemente auf. Diese Interpretamente waren stets aufeinander bezogen; als „free and warlike people" blieb der Einsatz für die Grundlagen der am Ende des 17. Jahrhunderts durchgesetzten Verfassungsprinzipien verpflichtend und wies über die ökonomischen Interessen eines maritimen Handels- und Kolonialreiches hinaus: „hopeing thro' the blessing of heaven, by making such stands, not only to reap from it great and lasting advantages to these Kingdoms in respect to wealth, but above all the further security of the protestant religion and our liberties and properties in times to come upon a more solid and lasting foundation".166)

1744. Being the Day appointed for a General Fast, in order to obtain of Almighty God Pardon for our Sins: and to implore his Blessing and Assistance on His Majesty's Arms in the present War, London 1744, S.6; vgl. auch ebd., S. 14 f. ,64 ) An Authentic Copy of a Letter from Thomas Newans To His Grace The Duke of N****e [sic!]. Foretelling the Dangers threatening this Nation, especially London and Westminster. To which are added his Predictions and several other Events, London 1745, S.5. 165 ) Laurence Macpherson [Chaplain to the Highland Regiment]: Anew Form of Prayer, as used (since the Battle of Fontenoy] by the British Troops in the Allied Army in Flanders, London 1745, S.4 und 7 f.; vgl. auch A Scheme for Equipping and Maintaining Sixteen Men of War [i.e. Ships, J.L.], of Twenty Guns each; for Securing our Trade from the Insults of the French and the Spaniards &c. Without the least Expense to the Nation. In a Letter. By a Veteran, London 1747, S. 38. 16δ ) The Man's Mistaken, who thinks the Taxes so grievous as to render the Nation unable to maintain a War. To which are added, an Englishman's Advice, in the Year 1701, how we ought to act in Case of new War: with the Opinion of a Dutchman, touching what the British and other Nations might hope from relying on French Faith, London 1755, S.7.

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6. Vereinigte Staaten a) When sin advanc 'd on this our shore, Wars soon did then begin: Das religiöse Kriegsparadigma der frühen Siedlergemeinden Mit dem Beginn der Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents brachten europäische Auswanderer seit dem 17. Jahrhundert auch das in Europa als Reaktion auf die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts entwickelte Konzept des begrenzten Krieges nach Nordamerika. Aber aus der Sicht der frühen Siedlergemeinden ging es nicht um Konflikte zwischen Staaten und Dynastien, sondern um kriegerische Auseinandersetzungen bei der Besiedlung des Landes, vor allem mit den indianischen Ureinwohnern. Die Häufigkeit, mit der in frühen Zeugnissen das Phänomen des Indian war behandelt wurde, bezeugte den Stellenwert dieser Erfahrungen fur das Selbstverständnis der Kolonisten, wie vor allem die zeitgenössischen Reaktionen auf den sogenannten King Philip's War von 1675 dokumentierten.167) Die populäre Darstellung bei Thomas Church rekurrierte auf die besondere Erfahrung der frontier als Siedlungsgrenze und Symbol einer auf sich allein gestellten Siedlergemeinschaft. Dieses Motiv der permanenten Gefährdung durch Wildnis, Naturgewalt und indigene Bevölkerung verband sich mit dem tiefverwurzelten Bewußtsein der göttlichen Auserwähltheit und Protektion der Siedler als Werkzeuge Gottes. Für Church wurde dies in dem Augenblick deutlich, in dem er selbst den Auftrag zum Kampf gegen die Indianer erhielt: „through the grace of God I was spirited for that work... And although many of the actions that I was concerned in were very difficult... yet myself, and those who went with me voluntarily in the service, had our lives ... wonderfully preserved, by the over-ruling hand of the Almighty".168) Der King Philip 's War als Modell des Indian war bildete einen Erfahrungsraum, der die nordamerikanischen Kolonien von Europa unterschied. Die Indian wars bedeuteten die Artikulation und Popularisierung der frontier und damit für das Selbstverständnis der Kolonisten einen entscheidenden Bezugspunkt.169) Mit ihm existierte eine Grundlage fur die langfristige Entwicklung eines amerikanischen Sonderbewußtseins, die Teil einer seit dem

167

) Vgl. Stuart'. War, S. 1 ff. und 17 ff., sowie Lepore: Name, passim. ) Thomas Church: The entertaining History of King Philip's War, which began in the month of June, 1675. As also of Expeditions more lately made against the common Enemy, and Indian Rebels, in the Eastern Parts of New-England: with some Account of the divine Providence towards Col. Benjamin Church, 2. Aufl. Boston 1716, S. Ill f. 169 ) Vgl. Clement Downing: A compendious History of the Indian Wars; with an Account of the Rise, Progress, Strength, and Forces of Angria the Pyrate, London 1737, sowie Amos Adams: A concise, historical View of the Difficulties, Hardships, and Perils which attended the Planting and progressive Improvement of New England, with a particular Account of its long and destructive Wars, Expeditions, &c., Boston 1770. 168

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18. Jahrhundert intensivierten Suche nach kollektiven Selbstbildern war.170) Religiöse Bestimmungen spielten in allen amerikanischen Kriegsdeutungen am Beginn des 18. Jahrhunderts eine bestimmende Rolle, sei es im Sinne göttlicher Providenz, die sich im Krieg äußere, im Selbstverständnis der nordamerikanischen Kolonien als „professing people of God" oder in der Wahrnehmung der Herausforderungen der Siedler als göttliche Prüfung.171) Die permanente kriegerische Gefahrdung des Erreichten ließ sich wirkungsvoll in den Deutungsrahmen des auserwählten Gottesvolkes integrieren: „to humble and prove us, and for our sins to punish us, the righteous God hath left a sufficient number of the fierce and barbarous savages on our borders, to be pricks in our eyes, and thorns in our sides".172) Unter dem Eindruck der europäischen Kriege versuchten amerikanische Autoren bereits in den 1730er Jahren, nicht allein die Ursprünge von bewaffneten Konflikten zu systematisieren, sondern vor allem nach der Legitimität von Kriegen zu unterscheiden. Dabei überwog die Idee des gerechten Krieges im Falle der Notwehr gegen Despotismus und der daraus abgeleiteten Verteidigung verletzter Rechte: A war is lawful, when it is entered into, not for the gratifying our own lusts, but for the opposing the lusts of others that are injurious to us. A war is lawful, when it is for the necessary defence or recovering of our just rights. It is lawful also to enter into a war, when our help is desired, for the necessary protection and relief of a people whom we see oppressed, and in danger of being swallowed up by their enemies, who have without cause risen up against them. And I don't see why a war may not be lawful, for the opposing and suppressing the growing power and tyranny of any nation, whom we behold advancing themselves, by violent and unjust encroachments upon their neighbours, to such a degree of power, as would overbalance all the force that we could make against them.173) Ein so gerechtfertigter Krieg bot auch die Aussicht auf Förderung allgemeiner Tugenden: „when ... there is fortitude in dangers, patience in bearing hardships, industry in setting about things, counsel in providing for them and speed in accomplishing them, then it is not barely lawful, but is is honorable and glo170 ) Vgl. Jack P. Greene: Search for Identity: An Interpretation of the Meaning of Selected Patterns of Social Response in Eighteenth Century America, in: Ders. (Hrsg.): Imperatives, Behaviors, and Identities: Essays in Early American Cultural History, Charlottesville 1992, S.43-173. ,7 ') Benjamin Wadsworth: True Piety the best Policy for Times of War. A Sermon preacht at Boston-Lecture on August 16, 1722, soon after a Declaration of War, against the Eastern Indians & Rebels, Boston 1722, S. 12, sowie Daniel Brewer: God's Help to be sought, in Time of War with a due Sense of the Vanity of what Help Man can afford: shewed at Springfield, March 26, 1724, Boston 1724, S. 3. 172 ) Samuel Penhallow: The History of the Wars of New-England, with the Eastern Indians. Or, a Narrative of their continued Perfidy and Cruelty, Boston 1726, S.If. 173 ) Nathanael Appleton: The Origin of War examin'd and applied, in a Sermon preached at the Desire of the Honourable Artillery Company in Boston, June 4,1733, being the Day of their Election of Officers, Boston 1733, S. 21.

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rious". In den Predigten der Pilgerväter spielte der Krieg als universelle Grunderfahrung eine wichtige Rolle, wobei sich die Erfahrung der frühen Besiedlung und existenziellen Bedrohung der Siedlergemeinden in der Projektion eines „spiritual war" niederschlug. 174 ) Der Soldat diente in dieser Sicht als Instrument Gottes in einem gerechten Kampf zum Schutz der natürlichen Rechte und zur Verteidigung des commonwealth. Ansatzpunkt dieser religiös-theologischen Sichtweise war die Auffassung, daß mit der Existenz der Sünde auch der bewaffnete Konflikt unvermeidlich sei: „But War, alas a Judgement sore / Brought into th's World by Sin: / When Sin advanc'd on this Our Shore, / Wars soon did then begin". 175 ) b) Fighting the Lord's battles: Die göttliche Prädestination Amerikas und der Transfer der britischen Kriegsdeutungen bis 1754 Kriegsdeutungen entwickelten sich in den nordamerikanischen Kolonien vor dem Konflikt mit dem britischen Mutterland seit den 1760er Jahren zunächst auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Im Kampf gegen die indianischen Ureinwohner des Landes spielte das aus dem europäischen Kontext übernommene ius ad bellum, also die Rechtfertigungslehre des Krieges, keine besondere Rolle, wenn man vom Rekurs auf das natürliche Recht der Selbstverteidigung absah. Da die Ureinwohner nicht als gleichwertig angesehen wurden, erübrigte sich eine weitergehende Begründung des gewaltsamen Vorgehens gegen sie. Diese Konflikte blieben außerdem regional und lokal begrenzt, und Initiativen zum Vorgehen gegen die Indianer gingen in der Regel von den betroffenen Siedlergemeinden selbst aus. Während nationale Selbstdeutungen fehlten, überwog das Bild des individuellen Siedlers oder der Siedlergemeinde als Instrumente Gottes. 176 ) Die Konflikte zwischen den europäischen Staaten auf nordamerikanischem Boden erzwangen eine weitergehende Kriegsbegründung. Dabei kamen sowohl die ökonomischen Interessen der Siedlergesellschaft als auch konfessionelle und politische Begründungen zum Tragen. In der Einnahme der Stadt Louisbourg am Cape Breton durch englische Truppen und ,74

) Samuel Mather: War is lawful, and Arms are to be proved: A Sermon preached to the Ancient and Honourable Artillery Company on June 4, 1739, the Anniversary Day for Electing their Officers at Boston, New England, Boston 1739, S. 10 und 28; vgl. Joshua Moodey: Souldiery spiritualized, or the Christian Souldier orderly and strenuously engaged in the spiritual War, Cambridge/MA. 1674, sowie Hull Abbot: Jehovah's Character as a Man of War, illustrated and applied: A Sermon preached at the Desire of the Honourable Artillery Company in Boston, June 2,1735, being the Anniversary-Day for the Election of their Officers, Boston 1735, S. 33 f. 175 ) Rowley. War, temporal and spiritual, considered, Boston 1762, S. 1; vgl. Benjamin Wadsworth: Good Soldiers a great Blessing, Boston 1701. 176 ) Vgl. Ebenezer Gay: Well-accomplish'd Soldiers, a Glory to their King and Defence of their Country, Boston 1738, sowie Peter Clark: The Captain of the Lord's Host appearing with his Sword drawn, Boston 1741.

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amerikanische Siedler erkannte Thomas Prince 1745 ein Zeichen göttlicher Vorsehung. Der Konflikt mit Frankreich bot Anlaß, antikatholische Feindbilder zu popularisieren und damit die britischen Deutungsmuster auf Nordamerika zu übertragen. Der Sieg über die Franzosen erschien so als Bestätigung der göttlichen Auserwähltheit des eigenen Landes und, in bewußter Gleichsetzung von biblischer Heilsgeschichte und eigener Gegenwart, als Expansion von Gottes Reich. Diese Anlehnung an biblische Metaphern verlieh dem eigenen militärischen Handeln zusätzliche Legitimationskraft: „Let our joy rise higher, that hereby a great support of antichristian power is taken away, and the visible kingdom of Christ enlarged. Methinks, when the southern gates of Louisbourg were opened, and our army with their banners were marching in; the gates were lifted up ... and the King of Glory went in with them". Den Horizont solcher Interpretationen bildete aber noch kein eigener amerikanischer Nationsbegriff, sondern die britische Monarchie. Ihr galt die eigene Loyalität, denn von ihr erwartete man die Sicherung und Garantie der politischen und konfessionellen Freiheitsrechte.'77) Die Auseinandersetzungen Großbritanniens mit Spanien und vor allem Frankreich seit dem Ende der 1730er Jahre ließen mithin antifranzösische Feindbilder schärfer hervortreten, wobei wie in der britischen Öffentlichkeit konfessionelle Deutungsmuster dominierten. 1747 erschien der von den Franzosen geführte Krieg gegen Großbritannien als „holy War in the Romish sense".178) Amerikanische Kriegsdeutungen übernahmen also die Antagonismen von Katholizismus und Despotismus im Gegensatz zu Protestantismus und Freiheit aus den zeitgenössischen britischen Diskursen. Gegen den Fundamentalpazifismus der Quäkergemeinden gewandt, betonte William Currie 1748 den gerechten Krieg, indem er das antikatholische Feindbild aus dem britischen Kriegsdiskurs in den Vordergrund rückte und gegen „slavery and oppression" polemisierte.179) Wiederum zeigte sich hier nicht allein die Übernahme europäischer Deutungselemente, sondern vor allem die Identifizierung der Siedlergesellschaft mit der britischen Monarchie. Eine Rekrutierungskampagne in Maryland warb denn auch mit dem Argument: „No Popery nor Slavery / No arbitrary Pow'r for me. / But Royal George's Richteous Case / The Protestant and British Laws".180) 177 ) Thomas Prince: Extraordinary Events the Doings of God, and marvellous in pious Eyes, illustrated in a Sermon at the South Church in Boston (New England) on the General Thanksgiving, Thursday, July 18, 1745, occasion'd by Taking the City of Louisbourg on the Isle of Cap Breton, by New-England Soldiers, assisted by a British Squadron, 5. Aufl. Boston 1746, S. 29 und 31 f. 17S ) William Hobby: The Soldier caution'd and counsel'd, Boston 1747, S.26 und 31; vgl. William McClenachan: The Christian Warrior, Boston 1745, sowie Nathaniel Walter. The Character of a Christian Hero, Boston 1746. 179 ) William Currie: A Treatise on the Lawfulness of defensive War. In two Parts, Philadelphia 1748, S.36. 18 °) Zitiert nach: Harry Ward: ,Unite or Die': Intercolony Relations 1690-1763, Port Washington 1971, S.250.

7. Vergleich

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7. Vergleich Wer sich mit dem Zusammenhang zwischen Krieg und Nation beschäftigt, muß weit vor das 19. Jahrhundert zurückgehen. Es reicht nicht aus, das Modernisierungsparadigma des entwickelten Nationalstaates und der sich entfaltenden Industriegesellschaft zugrunde zu legen und den Rest zur bloßen Vorgeschichte eines epochalen Erfahrungsumbruchs zu reduzieren. Wie kaum ein anderes Beispiel zeigt das Verhältnis zwischen Kriegserfahrungen und Nationsentwürfen die longue duree von Argumenten und Leitmotiven. Das heißt keinesfalls, den Begriff der Nation und ihre seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts neue Bestimmung vorschnell auf die Zeit vor 1750 anzuwenden, aber es bedeutet, genau nach jenen Determinanten zu fragen, die langfristig kollektive Selbstentwürfe und Sinnzuweisungen imprägnierten. „National" bezog sich für diese Phase nicht auf den Idealtypus der souveränen Nation, sondern auf ein Deutungswissen, das auf einem kollektiven Bewußtsein fur ethnische, monarchisch-dynastische, politisch-staatliche oder konfessionelle Gemeinschaften und auf der Abgrenzung gegenüber Feindbildern gründete. Ein Zusammenhang zwischen Kriegserfahrungen und Mustern kollektiver Sinnstiftung existierte bereits in der griechisch-römischen Antike. Dazu gehörte nicht allein die Vorstellung des Krieges als Grundprinzip der Natur und des menschlichen Lebens überhaupt, sondern die seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland und in der attischen Demokratie Athens entwickelte Identifikation der eigenen Polis mit dem Gedanken des Opfers im Kampf gegen einen äußeren Feind. Daraus entwickelte sich eine positive ethische Konnotation des Opfergedankens fur die Gemeinschaft attischer Bürger und eine emotionale Verbindung des einzelnen mit der attischen Demokratie und ihrer Verteidigung gegen die Perser. Auch der Zusammenhang von Kriegsteilnahme und politischer Partizipation war hier zu erkennen. Zum Erbe der Antike gehörte darüber hinaus die idealtypische Kategorisierung von heiligen, agonalen und gerechten Kriegen. Auch wenn Bestandteile dieser Kategorien in griechischen und römischen Kriegsdeutungen auftauchten, überwog im antiken Griechenland in den kleinräumigen Konflikten zwischen den Poleis das Ideal des Duellkrieges mit der prinzipiellen Gleichartigkeit und Gleichrangigkeit der Gegner zur Wiederherstellung eines verletzten Rechtszustandes. Der Konflikt mit den Persern offenbarte die Wirkungsgrenze dieses agonalen Prinzips, verstärkte jedoch durch den stilisierten Antagonismus zwischen Griechen und Barbaren vor allem einen Prozeß kollektiver Selbstvergewisserung. Bei den Römern dominierte aufgrund der permanenten Expansion und des imperialen Ausgriffs Roms das Deutungsmuster des gerechten Krieges zur Wiedergutmachung eines Bruchs der naturrechtlichen Ordnung und eines an den Römern verübten Unrechts. Das bellum iustum stellte zunächst nicht das Individuum, sondern den tapferen und loyalen Offizier in den Mittelpunkt. Auch von ihm ging eine Prägung des Opfergedankens für die res publica und im Sinne der fides als Ausdruck der ge-

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genseitigen Verpflichtung zwischen patronus und clientes sowie zwischen Rom und seinen Bundesgenossen aus. Zum ersten Mal ließ sich in der römischen Antike auch der argumentative Zusammenhang zwischen bellum undpatria nachweisen, der bereits in der Republik angelegt war, dann aber vor allem in der Kaiserzeit hervortrat. Augustus markierte in dieser Hinsicht einen entscheidenden Umbruch, weil nun die Abstraktion der patria und die religiöse Konstruktion des Krieges als Legitimationsreservoir des Kaisers in den Vordergrund rückten. Die persönlichen Kriegserfolge des Kaisers wurden als Bestätigung der Übereinstimmung zwischen dem römischen Staatswesen und den Göttern verstanden. Diese bewußt inszenierte religiöse Überhöhung des imperialen Krieges und der imaginierten Friedensepoche dienten der Stabilisierung der res publica nach den Bürgerkriegen. Im Gegensatz zu dieser positiven Kopplung zwischen patria und bellum verwies die augustinische Unterscheidung zwischen civitas terrena und civitas dei auf eine spirituelle patria Gottes. Im Zentrum stand nicht länger die Pflichtethik des römischen Bürgers, der Rom als Objekt seiner Identifikation und Ziel seiner Opferbereitschaft ansah und damit nach augustinischem Verständnis in der civitas terrena gefangen blieb, sondern die christliche Opferbereitschaft nach dem Vorbild der Heiligen und Märtyrer zur Vorbereitung auf die wahre patria in der civitas dei. Erst die mittelalterliche Umbruchssituation des 12. und 13. Jahrhunderts führte erneut zu einer stärkeren Verbindung zwischen Kriegserfahrungen und den einzelstaatlichen patriae vor dem Hintergrund der europäischen Staatsbildungsprozesse. Auch in den theologischen Kriegsdeutungen ließ das Paradigma des bellum iustum nun ausdrücklich den amor patriae zu. Vor allem in Frankreich und England ging die Berufung auf die eigene patria im Zeichen des Krieges von den herrschenden Dynastien aus. Sie reflektierte den doppelten Sinn von Staatsbildungsprozessen durch die territoriale Abgrenzung nach außen und eine Herrschaftsverdichtung auf der Grundlage politischer und rechtlicher Institutionen der Krongewalt und eines verläßlichen Steuersystems nach innen. Beide strukturellen Prozesse waren untrennbar mit Kriegen verknüpft. Dazu gehört auch das Erbrecht als Determinante europäischer Staatsbildungsprozesse und wichtiges Motiv für kriegerische Konflikte. Daraus entstand eine auf den Fürst und seine Dynastie hin ausgerichtete Kriegs vorstellung, die erst im Laufe des späteren 18. Jahrhunderts zu erodieren begann. Ansätze kollektiver Selbstdeutungen im Kontext von Kriegen gingen seit dem 12. und 13. Jahrhundert primär von den Fürsten und Höfen aus. Der von ihnen programmatisch vorgetragene amor patriae war Teil einer fürstlichen Legitimationsstrategie, die auf den Ausbau institutioneller und finanzieller Ressourcen zielte. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts kündigte sich mit der Infragestellung der auctoritas principis als Teil der Bestimmung des bellum iustum ein tiefgreifender Wandel zeitgenössischer Kriegsbegründungen an. Im Zeitalter religiöser Reformbewegungen kam es zu einer Zuspitzung von Kriegsgründen, die auf

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eine emotionale Identifikation des einzelnen mit der als „gerecht" und „wahr" erachteten Sache hinauslief. Das führte in den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts zu neuen Legitimationsmustern kriegerischer Gewalt auf der Basis eines territorialen und konfessionellen Sonderbewußtseins. Auch Niccolö Machiavelli thematisierte den Zusammenhang zwischen Krieg und Staatsraison. Obwohl er nicht von einer Zwangsläufigkeit kriegerischer Aggression und Staatsexpansion ausging, traten ethische Begründungen in der Tradition des bellum iustum gegenüber dem Primat staatlicher Legitimation und Existenz durch die Behauptung im Krieg zurück. Dazu kam bei ihm die Förderung individueller und kollektiver Tugenden im Krieg, ohne die ein Gemeinwesen unrettbar dem historischen Niedergang ausgeliefert sei. Diese Vorstellung des Krieges als Vitalisierungserlebnis bildete einen Kern aller späteren bellizistischen Diskurse und stand in engem Zusammenhang zu Leitmotiven des klassischen Republikanismus. Der Umbruch seit dem 16. Jahrhundert und die konfessionellen Bürgerkriege markierten für Frankreich, Deutschland und England eine Erfahrungsschwelle, die sich auf Kriegsdeutungen auswirkte und kollektive Selbstdeutungen beförderte, ohne welche spätere Nationsvorstellungen nicht verstanden werden können. Aus der Erfahrung der Bürgerkriege entwickelte sich das Ziel, das ideologisch legitimierte bellum omnium contra omnes im Inneren eines Staates einzudämmen, den Krieg zu entideologisieren und durch Einhegung zu einer Angelegenheit souveräner, nach außen hin abgeschlossener Staaten zu machen. Die Folge war ein verändertes Staats- und Politikverständnis sowie ein Kriegsideal, das mit dem neuen Begriff staatlicher Souveränität eng verknüpft war. Der systematische Vergleich setzt hier an, weil sich in dieser Phase die Unterschiede zwischen den untersuchten Fällen deutlicher abzuzeichnen begannen. Für Frankreich ließen sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem drei Aspekte identifizieren, die den Zusammenhang zwischen Kriegserfahrungen und Nationsverständnis bestimmten. Erstens standen die Monarchie und ihre auf mittelalterlichen Grundlagen beruhende sakrale Überhöhung im Mittelpunkt der Kriegsdeutungen. Weil sich erst daraus die Verpflichtung zum Opfertod im Krieg ergab, entwickelte sich eine selbstbewußte monarchische Kriegsdeutung, in der die patrie stets mit der Person des Monarchen und seiner Dynastie identifiziert wurde. Das Motiv des sakralen Königtums als Verkörperung der patrie, das vor allem die Auseinandersetzungen mit England während des Hundertjährigen Krieges prägte, geriet seit dem späteren 16. Jahrhundert durch die Religions- und Bürgerkriege in eine schwere Krise. Die Monarchie wurde zur konfessionellen Bürgerkriegspartei und drohte damit den Zusammenhalt der patrie zu gefährden. Aus dieser Konstellation erklärte sich, zweitens, die besondere Stilisierung Heinrichs IV. als nationale Integrationsfigur nach dem Ende der Religionskriege, die sich vor allem in den zeitgenössischen Interpretationen seiner Kriege gegen Spanien nachweisen läßt. Der Kampf gegen den äußeren Feind, die guerre estrangiere, schien die patrie zu vereinigen, indem

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat

er das Trauma der guerre civile überwand. So gelang es dem bourbonischen Königtum, die national konnotierte Kriegsdeutung zu monopolisieren. Vor allem seit dem Ende des 17. Jahrhunderts stand dies im Zeichen einer gezielten nationalreligiösen Selbststilisierung der Monarchie, die an die Tradition des Gallikanismus anknüpfte. Weil sich, drittens, die Einheit von Staat und Nation in der Person des Monarchen manifestierte, konnten die Kriege Frankreichs nur monarchische Kriege sein, in denen die Untertanen bloßes Objekt der Kriegführung waren, während der Monarch als Kriegssubjekt dominierte. Die Verbindung der nationalreligiösen Konnotation von patrie, König und Dynastie steigerte sich unter Ludwig XIV. schließlich zum Ideal des roi connetable, des Feldherrnkönigs, der in der persönlichen Präsenz im Krieg seine besondere fürstliche Herrschaftsqualität und die Einheit von patrie und Monarchie symbolisierte. Diese Sicht dominierte in der verbreiteten art de la guerre-Literatur, in der zum roi connetable die aristokratischen Wertbegriffe honnetete und devoir hinzutraten. Die intensive Rezeption dieser Literatur in Kontinentaleuropa trug wesentlich zur Verbreitung eines französischen Idealtypus der monarchischen Kriegfuhrung und bellizistischen Disposition des Fürsten bei. Im Falle Frankreichs zeigte sich aber auch am frühesten, wie diese monarchische Kriegsdeutung auf die Despotismuskritik traf, die sich auch an den Prämissen des klassischen Republikanismus orientierte. Der von Charles de Montesquieu betonte Gegensatz zwischen friedlichen Republiken und aggressiven Monarchien sowie der Kontrast zwischen stehenden Heeren und republikanischen Milizarmeen ließ sich gegen das Bild des Monarchenkrieges und damit auch gegen die Identifizierung von Königtum, Dynastie und patrie wenden. Seinen Höhepunkt hatte der monarchische Bellizismus in Frankreich bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts überschritten, als seine symbolische Inszenierung in Te Deum-ΐtiem als zunehmend unzeitgemäß empfunden wurde. Auch die Versuche der französischen Monarchie, keine Völkernamen mehr in Kriegsdokumenten zu verwenden und den Krieg in der politisch-offiziellen Sprache zu einer Angelegenheit von Monarchenpersönlichkeiten zu machen, scheiterte. Die Krise monarchischer Legitimation auf der Basis eines gesteigerten Gottesgnadentums kündigte sich hier bereits lange vor 1789 an. Im Gegensatz zu den französischen Erfahrungsaneignungen stand die Entwicklung in Deutschland. Zwar gab es seit dem 16. Jahrhundert zahllose Appelle an das Vaterland der Teutschen Nation und das Reich. Aber es blieb im Kontext der konfessionellen Konflikte des 16. und 17. Jahrhunderts primär bei den klassischen Topoi der Kriegsklage. Rekurse auf Nation und Reich stellten nur den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, nachdem die konfessionelle Einheit verloren gegangen war, wie Aufrufe zur Einigkeit im Kampf gegen die Türken zeigten. Die in Frankreich so offensiv vermittelte Verbindung zwischen der nationalreligiösen Qualität der Monarchie und den zeitgenössischen Kriegserfahrungen konnte sich in Deutschland nicht entwickeln, wo Appelle an Reich

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und Nation defensiv konnotiert blieben. Verfestigten sich vor allem aufgrund der Kriegserfahrungen während des Dreißigjährigen Krieges antifranzösische Feindbilder, so fehlte ein positiv korrespondierendes und integratives Selbstbild der Teutschen Nation. Für den späteren bellizistischen Diskurs im 18. und 19. Jahrhundert boten vor allem die Feindbildkonstruktionen aber wichtige Anknüpfungspunkte. Auch im deutschen Kriegsdiskurs dominierten eindeutig Fürst, Dynastie und Hof als Kriegssubjekte, aber eine dem Ideal des französischen roi connetable entsprechende national konnotierte Integrationsfigur für eine Teutsche Nation im Krieg fehlte. Das reflektierte nicht zuletzt die konfessionelle Konfliktlinie und das Spannungsverhältnis zwischen Reich und Partikularstaaten; gerade im Kontext der zeitgenössischen Kritik am Söldnerwesen überwogen Appelle an das fürstlich-partikulare Vaterland und weniger an das Reich oder die Teutsche Nation. Ein wichtiges Element der kontinentaleuropäischen Kriegsdeutung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Trennung zwischen Kriegsstaat und Civilstaat. Ihr entsprach die französische Unterscheidung von etat de nature und etat civil. In ihr spiegelten sich nach den Erfahrungen der Bürgerkriege der Versuch, den äußeren Krieg von der Gesellschaft fernzuhalten, und ein auf Herrschaftsverdichtung angelegtes fürstliches Selbstverständnis. Zu ihm gehörte die Monopolisierung kriegerischer Gewalt durch stehende Heere und eine bellizistische Disposition des Fürsten. Während sich dies in Frankreich mit einer im roi connetable sichtbar gemachten nationalen Bestimmung des Krieges verband, fehlten solche Deutungsansätze in Deutschland. Lediglich bei Justi zeichnete sich in den 1740er Jahren eine prägnante Kritik an den monarchischen Staatenkriegen der eigenen Gegenwart ab, ohne daß dies jedoch wie in Frankreich mit einer offensiven Despotismuskritik einherging. Der im Vergleich besonders hervortretende Unterschied zwischen kontinentaleuropäischen und englischen Erfahrungsräumen zeigte sich bereits vor Mitte des 18. Jahrhunderts: Die Bedeutung des 17. Jahrhunderts fur die Prägung vormoderner Determinanten der Kriegswahrnehmungen wird gerade im Blick auf England besonders erkennbar. Erst die Analyse langfristiger Prozesse kann hier die Persistenz von Interpretamenten weit über das 17. Jahrhundert hinaus erklären. Vor allem werden die strukturellen Unterschiede innerhalb Europas deutlich, die eine genaue analytische Differenzierung zwischen England und Kontinentaleuropa seit dem Ausgang der Konflikte des 17. Jahrhunderts notwendig machen. Zunächst manifestierte sich in England der Zusammenhang zwischen Kriegen und kollektiven Selbstbildern besonders früh. Dazu trugen nicht allein die Auseinandersetzungen mit Frankreich bei, die im Hundertjährigen Krieg kulminierten, sondern auch die frühen Auseinandersetzungen mit Wales, Irland und Schottland. Auch wenn es sich bei diesen Celtic wars um lokale und regionale Konflikte handelte, beeinflußten sie die Stilisierung genuin englischer Kriege. Das setzte sich in der Tudor-Phase in dynastischen Selbstdeutungen fort. Die interpretatorische Aneignung des Sieges über die

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Spanische Armada unter Elisabeth I. verstärkte diese Tendenz noch. Den eigentlichen Umbruch markierten aber die Krisenerfahrungen des 17. Jahrhunderts. In der politischen Theorie reagierte Thomas Hobbes auf den Bürgerkrieg mit dem Paradigma der Friedenssicherung als einer permanenten Auseinandersetzung mit der Natur des Menschen und seiner Gewaltbereitschaft. Die innere und äußere Befriedung des Commonwealth trat in den Mittelpunkt, aber in der anthropologischen Konzentration auf das Ziel der Selbsterhaltung des einzelnen fehlte bei Hobbes jeder Hinweis auf ein Opferideal im Namen eines abstrakten Zieles. Im Gegensatz zu Kontinentaleuropa ging in England aus dieser Krise nicht der monarchische Staat gestärkt hervor, sondern es bildete sich ein Gleichgewicht zwischen Parlament und Krone, das absolutistische Übergriffe des Monarchen institutionell verhinderte. Die Versuche der Stuarts, eine nach dem kontinentaleuropäischen Muster ausgerichtete absolute Monarchie zu etablieren, scheiterten und prägten zugleich nachhaltig das Verhältnis zwischen der im Parlament vertretenen politischen Nation und der Sphäre von Krieg und Militär. Indem die standing armies die permanente Gefahr einer despotisch mißbrauchten Machtstellung verkörperten, wurde die stilisierte Verteidigung der liberties of all Englishmen zu einem der wichtigsten Topoi im nationalenglischen Selbstverständnis der Parlamentselite. Die vermeintliche Gefahr der standing armies bezog sich nicht allein auf die Politik Karls I., unter Umgehung parlamentarischer Mitwirkung Armeen aufzustellen, in denen auch katholische Söldner kämpften, sondern auch auf Oliver Cromwell und die New Model Army, deren besonders englischer Charakter in zeitgenössischen Reaktionen immer wieder hervorgehoben wurde. Die traumatischen Erfahrungen des civil war ließen die Sphäre des Militärischen als potentielle Gefahr für die vom Parlament erkämpften Freiheitsrechte erscheinen. Das hatte weitreichende Folgen fur die Verknüpfung von Kriegsdeutungen mit national konnotierten Selbstbildern. Die parlamentarische Elite nutzte spätestens nach der Glorious Revolution von 1688/89 ihre Deutungsposition und stilisierte den Kampf um die liberties und die Märtyrer im Kampf gegen den katholischen Despotismus zum Urgrund eines englischen Sonderbewußtseins, das sich in zweierlei Hinsicht von Kontinentaleuropa unterschied. Zum einen verknüpfte es mit den Schlagworten liberties, constitution und protestantism eine politisch-konstitutionelle und konfessionelle Sonderstellung, die sich gegen Absolutismus und Katholizismus zugleich wandte. Der innere Zusammenhang zwischen beiden Wertkategorien war den Zeitgenossen selbstverständlich. Sie verschmolzen zu einer manichäischen Struktur von Selbst- und Feindbildern mit enormer Suggestivkraft und bildeten fortan einen der wirkungsvollsten Topoi der Whig interpretation of history. Zum anderen gehörte zu diesem Sonderbewußtsein eine kritische Sicht des Militärs als potentielles Unterdrückungsinstrument in den Händen eines Despoten. Als Teil einer von der Monarchie ausgehenden Herrschaftsverdichtung kam es jedenfalls nicht in Frage. Daher gab es in England keine Kontinentaleuropa ver-

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gleichbare Entwicklung eines monarchischen Bellizismus, wie er sich vor allem in Frankreich herausgebildet hatte. Der Tod der wahren englischen patriots des 17. Jahrhunderts war kein Opfer fiir den persönlichen Monarchen, sondern für die politische und konfessionelle Verfassung, fur political and religious liberties. Englische Kriegsdeutungen nach 1689 bezogen sich daher auf geographisch entfernte Kriege, reflektierten aber in der sich periodisch verstärkenden Invasionsfurcht sowie in der Hysterie anläßlich der Stuart-Ansprüche auf den englischen Thron die fortwirkenden Erfahrungssubstrate des 17. Jahrhunderts. Der im civil war entstandene Gegensatz zwischen liberties und despotick power und der ihm entsprechende konfessionelle Antagonismus zwischen Protestantism und Catholicism wurde nach 1689 vom innergesellschaftlichen Erfahrungsraum auf die Ebene der Staatenkriege übertragen. Die Persistenz der antifranzösischen und antispanischen Feindbilder erklärte sich aus der Tatsache, daß sich in ihnen innere und äußere Antagonismen verbinden ließen: Die Schlagworte popery and slavery aktivierten immer neu die Konfliktlinien des 17. Jahrhunderts und banden die jeweilige Gegenwart an die heroisch imaginierte und damit verpflichtende Vergangenheit. Politisch konnte man dieses Reservoir historischer Deutungsmuster auch unter sich wandelnden Bedingungen immer wieder wirkungsvoll instrumentalisieren. Nach dem Ausgang des Dreißigjährigen Krieges schien England in der eigenen Selbstwahrnehmung zur letzten Bastion des Protestantismus in Europa geworden zu sein. Waren kontinentaleuropäische Konflikte wie der Dreißigjährige Krieg mit unmittelbaren Kriegsfolgen für die Bevölkerung verbunden, so erlebte England seit dem Ende des civil war in den 1640er Jahren keine vergleichbaren Kriegsszenarien mehr. An ihre Stelle traten räumlich entfernte Konflikte, deren Imagination das englische Sonderbewußtsein verstärkte. Das zeigte sich an den Auseinandersetzungen mit Frankreich und Spanien im 18. Jahrhundert, obwohl sich der Konfliktcharakter nun veränderte, denn beide Mächte waren europäische Gegner und zugleich Konkurrenten in Übersee. Dabei vertiefte sich das Selbstverständnis Englands als maritime Kolonial- und Handelsmacht, zumal mit dieser Selbstdeutung die Flotte und nicht das stehende Heer in den Vordergrund trat. Das Bild der Seemacht ergänzte die konstitutionelle Selbstvergewisserung. In den periodisch auftretenden Invasionspaniken und der kollektiven Hysterie anläßlich der Jakobitenaufstände in den 1740er Jahren zeichnete sich die Angst ab, die Grundbedingung räumlich entfernter Kriege könne in Frage gestellt werden. In den geographisch entfernten Kriegen wurden dagegen in der Wahrnehmung der Zeitgenossen Protestant religion, liberties und honour als nationalmoralische Ressourcen der englischen Nation gegen katholische und despotische Mächte und damit die 1688/89 etablierte Verfassungsordnung verteidigt. So blieben die Kriege des 18. Jahrhunderts in den Erfahrungsraum der Vergangenheit eingeordnet. Das Ergebnis war die Vorstellung einer historischen Kontinuität, die eine suggestive Sinnstiftung der englischen Nation im Krieg erlaubte.

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II. Krieg und Herrschaft, Krieg und Staat

Wenn sich nordamerikanische Kriegswahrnehmungen zunächst weitgehend an die aus England übernommenen antifranzösischen und antikatholischen Feindbilder anlehnten, so war dies Ausdruck eines noch bestehenden Loyalitätsverhältnisses zwischen englischem Mutterland und amerikanischen Kolonien. Hinzu trat das ebenfalls aus Europa übernommene Deutungsmuster des gerechten Krieges gegen Rechtsverletzungen. Aber auf zwei Ebenen lassen sich fur diese frühe Phase bereits Ansätze eines Sonderbewußtseins der amerikanischen Kolonien erkennen. Erstens spielte der frontier war mit der indianischen Urbevölkerung an den Grenzen des Siedlungsraumes eine Rolle, zu der es in Europa kein Äquivalent gab. Er wurde zum Sinnbild des individuellen Siedlers und seiner Gemeinde im Kampf mit den Mächten der Natur. Zweitens entwickelte sich eine besondere Intensität religiös bestimmter Kriegsdeutungen, die in der Chiffre des spiritual war eine Parallele zwischen Heilsgeschichte und amerikanischer Siedlungsgeschichte herstellten. Die Vorstellung einer göttlichen Prädestination der Kolonien als Neues Jerusalem, die sich in den Konflikten mit den indianischen Ureinwohnern und in den Kämpfen gegen die katholischen Franzosen um political and religious liberties in den 1740er Jahren zu manifestieren schien, ging bereits über englische Leitmotive der Kriegsdeutung hinaus. Frontier war und Prädestinationsgedanke boten vor 1776 entscheidende Anknüpfungspunkte für die Artikulation eines amerikanischen Sonderbewußtseins, auf die man in der Eskalation des Konflikts mit Großbritannien zurückgreifen konnte.

III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges: Die erste bellizistische Umbruchsphase zwischen aufgeklärtem Kriegsdiskurs und revolutionärer Gewalterfahrung (1750-1815) 1. Frankreich a) Grande nation und vertus guerrieres: Vom bellizistischen Diskurs der Aufklärung zur Revitalisierung des Bürgerkriegsparadigmas vor 1789 Die Erfahrung der fast ununterbrochenen Kriege Frankreichs seit Beginn der Regierungszeit Ludwigs XIV. blieb nicht ohne Folgen für die Prägung nationaler Selbstbilder. Vor allem der bellizistische Diskurs der französischen Aufklärung und die Wahrnehmung des Siebenjährigen Krieges reflektierten einen Wandel in der Kriegs- und Militärdeutung, der auf die Grenzen der überkommenen monarchisch-sakralen Legitimationsbasis hinwies.1) Despotismuskritik und patriotische Tugendbildung: Die Funktion des Krieges in der Meinungsbildung der lumieres In seiner Eloge für die 1741 gefallenen Offiziere betonte Voltaire nicht nur den Vorbildcharakter des Opfertodes, sondern unterstrich vor allem die Pflicht des Monarchen, den Frieden wiederherzustellen. Der Rückgriff auf das antike Vorbild der Ehrung der in der Verteidigung des Vaterlandes gefallenen Bürger verwies nicht auf die ständisch-feudale Unterordnung unter den monarchischen roi connetable, sondern auf ein patriotisches Bürgerideal, dem auch der Monarch unterworfen war. Voltaires Kritik an den monarchischen Kriegen der Gegenwart kontrastierte mit der Hochschätzung des Opfertodes des citoyen fur das gerechte und sittlich höherwertige Ziel. Das antike Motiv konturierte eine indirekte Despotismuskritik: „O memoire, ö noms du petit nombre d'hommes qui ont bien servi l'Etat! vivez eternellement: mais surtout ne perissez pas tout entiers, vous guerriers qui etes morts pour le defendre ... [ce sont eux] qui ont peri pour nous donner cette paix heureuse qui doit etre l'unique but de la guerre, et le seul objet de l'ambition d'un vrai monarque".2) ') Vgl. D. Bien: The Army in the French Enlightenment: Reform, Reaction and Revolution, in: PP 85 (1979), S. 68-98; Bernard Deschard: L'Armee et la Revolution. Du service du roi au service de la nation, Paris 1989; Claudius R. Fischbach: Krieg und Frieden in der französischen Aufklärung, Münster 1990, sowie Marcel Pekarek: Absolutismus als Kriegsursache. Die französische Aufklärung zu Krieg und Frieden, Stuttgart 1997. 2 ) Voltaire·. Le Siecle de Louis XIV, in: Ders.: CEuvres choisies. Nouvelle edition avec des notes et des observations critiques, hrsg. von Charles Palissot de Montenoy,

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges

Auf den ersten Blick schien die Ablehnung des Krieges durch die französische Aufklärung eindeutig, wie Jaucourts Artikel in der Encyclopedie dokumentierte.3) Er griff nicht allein auf Friedens vorstellungen in der Tradition von Fenelons Telemaque (1699) und des Projet de traite pour rendre la paix perpituelle des Abbe de Saint-Pierre (1717) zurück, sondern auch auf die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und unter dem Eindruck des Siebenjährigen Krieges intensivierte Kritik am Phänomen des Krieges bei Voltaire, Mably und d'Holbach, die in den Konflikten ihrer Gegenwart vor allem die Konsequenz despotischer Herrschaftsansprüche sahen. Im gleichen Zusammenhang stand auch der Versuch Emer de Vattels, durch ein europäisches Völkerrecht zu verhindern, daß ein Staat die Unabhängigkeit eines anderen bedrohte.4) Jaucourt führte aus, daß ein Herrscher erst dann Kriege fuhren dürfe, wenn er in seinem Gewissen erkannt habe, daß sie gerecht, fur das öffentliche Wohl notwendig und unerläßlich seien. Der Krieg war ein Konflikt zwischen Fürsten und zwischen dynastischen Interessen, die sich immer mehr von der Frage des Gemeinwohls abzukoppeln schienen. Ruhmsucht, Habgier, Eifersucht und ein falscher Ehrbegriff, der nichts mit dem Gemeinwohl zu tun habe, treibe die Fürsten zum Krieg und widerspreche dem bellum iustum, das den Krieg aus der Notwendigkeit von Selbstverteidigung und Selbsterhaltung rechtfertige.5) Die zeitgenössischen Wertbegriffe honneur, noblesse und gloire ließ Jaucourt nur fur den Krieg zu, welcher der Verteidigung der Religion, des Vaterlandes und der eigenen Person und ihres Eigentums gegen eine despotische Macht diente: De tout tems les hommes par ambition, par avarice, par jalousie, par mechancete, sont venus ä se depouiller, se brüler, s'egorger les uns les autres. Pour les faire plus ingenieusement, ils ont invente des regies & des principes qu'on appelle l'Art militaire, & ont attache ä la pratique de ces regies l'honneur, la noblesse, & la gloire. Cependant cet honneur, cette noblesse, & cette gloire consistent seulement ä la defense de sa religion, de sa patrie, de ses biens & de sa personne, contre les tyrans & d'injustes agresseurs. II faut done reconnoitre que la guerre sera legitime ou illegitime, selon la cause qui la produira; la guerre est legitime, si eile se fait pour des raisons evidemment justes; eile est illegitime, si on la fait sans une raison juste & süffisante.

Jaucourt verurteilte den Krieg als unmoralische Barbarei und Unvernunft, die dem universellen moralischen und zivilisatorischen Fortschritt widerspreche.6) 41 Bde., Paris 1792, hier: Bd. 33, S.531; vgl. Agricole-Hippolyte deLapierre Chateauneuf. Histoire des generaux qui se sont illustres dans la guerre de la Revolution, nouvelle edition, l re partie, Paris 1809, S. 24-27, hier: S.24. 3 ) Jaucourt: Guerre. Droit naturel et politique, in: d'Alembert/Diderot (Hrsg.): Encyclopedic, Bd. 7, 1757, S. 995-998. 4 ) Vgl. Emer de Vattel: Memoires politiques concernant la guerre, ou principes de la loi naturelle, Frankfurt/M. 1758, sowie Jean-Fran^ois de La Harpe, Des malheurs de la guerre et des avantages de la paix, Paris 1767; vgl. GanteV. Guerre, S. 332. 5 ) Vgl. Jean Ehrard: L'Encyclopedie et la guerre, in: Viallaneix/Ehrard (Hrsg.): Bataille, S. 93-101. 6 ) Jaucourt·. Guerre, S.996 und 998.

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In der Erwartung eines allgemeinen Zivilisationsfortschrittes schien den Autoren der Encyclopedie mit der wachsenden Einsicht der Fürsten in die Nachteile des Krieges eine Periode in Europa angebrochen, die nicht mehr von einer expansiven Fürstenpolitik bestimmt werde, sondern von den rationalen Prinzipien der Aufklärung. So hieß es im Artikel Epargne von Faiguet de Villeneuve von 1755, also nur ein Jahr vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges: „II paroit que depuis la paix de 1748 le goüt de l'economie publique gagne insensiblement l'Europe entiere. Les princes aujourd'hui, plus eclaires qu'autrefois, ambitionnent beaucoup moins de s'agrandir par la guerre".7) In dem zwei Jahre nach Ende des Siebenjährigen Krieges publizierten Artikel Legislateur betonte Saint-Lambert zwar noch immer die grundsätzliche „impossibilite morale de faire des conquetes". 8 ) Man erwartete nun aber nicht mehr das Ende aller Kriege in Europa durch Handel, Gewerbe und Verkehr, sondern lediglich einen Wandel im Charakter des Krieges und das Ende der dynastischen Konflikte. Zugleich betonte der Autor aber in Anlehnung an Montesquieu, daß mit einem Krieg die Förderung vitaler und der Nation notwendiger Tugenden verbunden sei. Zwar lägen, so Saint-Lambert, die wahren Interessen der Menschen heute im „esprit de commerce & de la connoissance", aber eine bellizistische Tugendlehre schloß dies nicht aus: „ils doivent veiller en meme tems ä ce que les moeurs polies ne s'affoiblissent point trop & ä maintenir l'estime des vertus guerrieres". Saint-Lambert formulierte ausdrücklich die Notwendigkeit der vertus guerrieres, wo es um die Verteidigung der Freiheit gehe. Die Situation Europas biete mit dem Nebeneinander von Monarchien und Republiken stets neue Anlässe für Konflikte. Um so wichtiger war es aus seiner Sicht, durch die „emulation des vertus fortes et guerrieres" dem möglichen Niedergang eines Volkes durch zu viel Luxus und zu lange Friedensepochen vorzubeugen. Vor dem Hintergrund des Siebenjährigen Krieges entstand hier eine ideologische Kriegslehre auf der Grundlage von Tugendbildung und freiheitlicher Verfassung, durch die der Krieg an ein höherwertiges moralisches Ziel gebunden wurde: „l'esprit des republiques est pacifique, mais l'amour de la liberte... porteront souvent les etats republicans a faire la guerre pour abaisser ou pour reprimer les etats monarchiques; cette situation de l'Europe entretiendra l'emulation des vertus fortes et guerrieres; cette diversite de sentimens & de moeurs qui naissent de differens gouvernemens, s'opposeront au progres de cette mollesse, de cette douceur excessive des moeurs, effet du commerce, du luxe & des longues paix".') Der legislateur könne durch den Krieg einen Gemeinschaftsgeist fördern, „changer l'esprit de propriete en esprit de communaute", den die einseitige Konzentration auf materielle Interessen sonst nicht zuließ.

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) Faiguet de Villeneuve: Epargne, in: d'Alembert/Diderot (Hrsg.): Encyclopedie, Bd. 5, 1755, S. 745-750, hier: S.750. 8 ) [Saint-Lambert] Legislateur, in: ebd., Bd. 9, 1765, S. 357-363, hier: S.362. ') Ebd., S. 363

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Entscheidend blieb für Saint-Lambert 1765 die Erhaltung jener vitalistischen „vertus guerrieres", mit denen man der Dekadenz der Tugend vorbeugen und die Identifikation des citoyen mit dem Gemeinwesen fördern könne.10) Im Gegensatz zu Jaucourts Bestimmung ging es hier um die Frage nach den moralischen Sinnelementen des Krieges. Das Ideal der guten Regierung vereinte in einer Nation bellizistische Aspekte und Elemente der allgemeinen Wohlfahrt und des Fortschritts. Das war für Saint-Lambert kein Widerspruch, sondern ließ sich im Sinne einer höheren Einheit des zivilisatorischen Fortschritts und der Emanzipation zusammenfuhren. Die Erziehung zu einem selbstbewußten Bürger konnte daher nicht auf die „vertus guerrieres" verzichten. In diesem vorrevolutionären Zusammenhang wurde auch der Begriff der Grande nation explizit mit bellizistischen Motiven versehen. Gerade das Nebeneinander von Attributen einer friedlichen Handelsnation und einer besonderen Kriegsbereitschaft erscheint bemerkenswert. Für den Autor stellte dies eine Bedingung für die vorbildliche Nation dar: „II n'y a point de nation, du moins de grande nation, qui ne puisse etre ä la fois, sous un bon gouvernement, guerriere, commer9ante, savante & polie". Auch Saint-Lambert betonte das Opfer für das Vaterland, also nicht für den persönlichen Monarchen. Vaterlandsliebe und patriotische Opferbereitschaft waren Teil eines moralischen Erziehungsprozesses, der nicht der aggressiven Machtexpansion des Fürstenstaates entsprang: „Famour de la patrie donne le plus noble de tous les courages: on se sacrifie ä ce qu'on aime. L'amour de la patrie etend les vues, parce qu'il les porte vers mille objets qui Interessent les autres: il eleve l'äme au-dessus des petits interets... il lui donne l'enthousiasme de la vertu: un etat anime de cet esprit ne menace pas les voisins d'invasion". 11 ) Saint-Lamberts vitalistische Kriegslehre aus dem Geist einer aufgeklärten Tugendlehre war einem zivilisatorischen Fortschrittsideal verpflichtet, das die naturrechtlich verankerte Freiheit in den Mittelpunkt stellte und dem Argumentationsmuster des klassischen Republikanismus folgte. Für den Verfasser des Artikels patrie konnte es kein Vaterland geben, wo das Joch des Despotismus herrschte.12) Entsprechend lehnte Saint-Lambert wie die anderen Autoren der Encyclopedie die Söldnerheere der absolutistischen Herrscher genauso ab wie die Militarisierung von Staat und Gesellschaft nach preußisch-friderizianischem Vorbild. Dagegen erkannte er in der Schweiz und in Frankreich zwei mögliche Modelle des soldat citoyen, ein demokratisches in Form des bewaffneten Volkes nach dem antik-republikanischen Ideal sowie ein aristokratisches, in dem erst der Waffendienst soziale und rechtliche Privilegien begründete.13) So sehr die Autoren der Encyclopedie die aggressive Kriegsneigung der Für-

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) ") ,2 ) 13 )

Ebd., S. 358; vgl. Artikel Luxe, in: ebd., Bd. 9,1765, S. 763-771, hier: S.766. Saint-Lambert: Legislateur, S. 362 und 358. Vgl. Jaucourf. Patrie, in: ebd., Bd. 12, 1765, S. 178-180, hier: S. 178. Vgl. Saint-Lambert: Legislateur, S. 362, sowie Luxe, ebd., Bd. 9, S. 769.

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sten verurteilten, die sie mit stehenden Heeren, dynastischen Kriegen und der Unterdrückung der Freiheit identifizierten, so sehr wurden sie Wegbereiter für eine Sinnlehre des Krieges, die aus einem aufgeklärten Erziehungsideal resultierte. Dieser Bellizismus distanzierte sich vom Ideal der sich allein im autonomen fürstlichen Handeln manifestierenden patrie und bezog sich auf eine aufgeklärte Tugendlehre, die den Krieg um die Freiheit ausdrücklich einschloß: Der Krieg wurde moralisiert und an ethisch konnotierte Wertbegriffe gekoppelt. So feierte auch der Artikel Gloire die Tugend des guerrier, die sich aus der Opferbereitschaft für ein höheres Gut ergab. Dabei wurde zwischen dem bloßen Söldner, der einem Fürsten diente, ohne nach der moralischen Rechtfertigung des Krieges zu fragen, und dem Krieger unterschieden, der für einen universellen Wert kämpfte. Nur in diesem Falle erkannte der Autor eine über die individuelle gloire hinausgehende Identifikation zwischen dem einzelnen und dem Kriegsgrund. Die höherwertige gloire bezog sich nicht mehr auf den persönlichen Fürsten, sondern auf einen übergeordneten Wertehorizont: „Nous n'avons point voulu disputer ä la profession des armes la part qu'elle doit avoir ä la gloire: que celui qui sert son prince, soit arme pour la bonne ou la mauvaise cause, il n'est point juge des projets qu'il execute; sa gloire personnelle doit etre proportionnee aux efforts qu'elle lui coüte. En supposant le fleau de la guerre inevitable pour l'humanite, la profession des armes doit etre la plus honorable, comme elle est la plus perilleuse".14) Zumindest in Umrissen bot der guerrier damit auch eine Möglichkeit zur Teilhabe an der Gemeinschaft. Das überkommene Bild der abgesonderten Sphären von status militaris und status civilis, aber auch die dominierende Stellung des Monarchen als Ursprung von gloire, honneur und patrie traten zurück. La guerre est quelquefois un devoir: Der Krieg und das Erziehungsideal des klassischen Republikanismus bei Jean-Jacques Rousseau Die Ambivalenz der aufgeklärten Kriegsdeutung und ihr Gewicht für die Entstehung einer republikanischen Gemeinschaftsideologie wird bei kaum einem Autor des 18. Jahrhunderts so offenkundig wie bei Jean-Jacques Rousseau. Er ging in seiner Betrachtung des Krieges von einem Unterschied im Umgang zwischen Menschen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen Völkern aus.15) Seine Beobachtung, „d'homme ä homme, nous vivons dans Γ etat civil et soumis aux lois; de peuple ä peuple, chacun jouit de la liberie naturelle", führte ihn zu der Schlußfolgerung, daß der Krieg gerade nicht der Ursprung für die Einrichtung von Gesellschaften und Staaten sei, wie Thomas Hobbes und seine Nachfolger naturrechtlich argumentiert hatten, sondern erst der Institutionali-

,4 ) Mormontel: Gloire. Philosophie morale, in: ebd., Bd. 7, 1757, S. 716-721, hier: S.721. ") Vgl. Catherine Larrere: L'Etat de guerre et la guerre entre les etats, in: Viallaneix! Ehrard (Hrsg.): Bataille, Bd. 1, S. 135-148.

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges

sierang von Gesellschaften folge: „Bien loin que l'etat de guerre soit naturel ä l'homme, la guerre est nee de la paix, ou du moins des precautions que les hommes ont prises pour s'assurer une paix durable".16) Während sich nach Hobbes die Staaten wie Individuen verhielten und es nur die Alternative zwischen dem Commonwealth des Leviathan und einem allgemeinen Kriegszustand gab, betonte Rousseau den Zusammenhang von Krieg und Despotismus, der zu einem Topos der zeitgenössischen aufgeklärten Kriegsdeutung wurde. Durch die Unterwerfung unter den Fürsten schienen die Untertanen den Bürgerkrieg innerhalb der Gesellschaft auf den äußeren Krieg zwischen souveränen Staaten abgeleitet zu haben. Von den Gesetzen unabhängig, dienten die ungerechten Kriege der Fürsten lediglich der Befriedigung fürstlicher gloire und gingen Hand in Hand mit einem despotischen Regime: „il est facile encore de comprendre que d'un cöte la guerre et les conquetes et de l'autre le progres du despotisme s'entr'aident mutuellement".17) Kriegerische Gewalt sei erst die Folge entwickelter Gesellschaften und etablierter Staaten, sie charakterisiere nicht den Naturzustand des Menschen, sondern sei erst in dem Augenblick entstanden, als sich der Mensch nicht mehr im Naturzustand befunden habe. Die permanenten Kriege der Gegenwart schienen zu dokumentieren, daß „l'etat de guerre est naturel entre les puissances".18) Lediglich im Blick auf die äußeren Machtstaatenkonflikte erinnerte Rousseaus Sicht an die Interpretation von Hobbes. Während das Commonwealth für Hobbes lediglich ein Mittel darstellte, um das äußere Ziel einer unbeschränkten Souveränität zu garantieren, durch den der Krieg aller gegen alle als Rückfall in den Naturzustand verhindert werden sollte, war der Staat als Ausdruck der volonti generale für Rousseau ein Ziel an sich und nicht lediglich Mittel zum Zweck. Er sicherte den „corps general de la nation", der durch den contrat social zustandegekommen war und eine eigene volonte des „corps moral et collectif' begründete.19) Der Krieg zwischen zwei Staaten konnte nur eine Auseinandersetzung zwischen zwei solchen volontes sein, aber nicht zwischen denjenigen Individuen, deren vertragliche Bindung erst den corps moral et collectif gebildet hatte. Rousseaus Unterscheidung von Staaten und Individuen, die bei Hobbes weitestgehend gleichgesetzt worden waren, wurde zum Ausgangspunkt einer prinzipiell veränderten Kriegsdeutung. Rousseau ersetzte den Naturzustand des bellum omnium contra omnes durch die rechtliche Fassung des Krieges zwischen Staaten. Dies setzte eine 16 ) Jean-Jacques Rousseau: Que l'etat de guerre nait de l'etat social, in: Ders.: CEuvres completes, hrsg. von Bernard Gagnebin/Maicel Raymond, 5 Bde. (Bibliotheque de la Pleiade), Paris 1959-95, hier: Bd. 3, 1964, S. 601-612, hier: S.609 f. ,7 ) Ders.: Du Contrat social; ou, principes du droit politique, in: ebd., Bd. 3, S. 347-470, hier: S.355, sowie Ders.: Jugement sur le projet de paix perpetuelle, in: ebd., S . 5 9 1 600, hier: S.593. ") Ders. : L'etat, S.603 und 607.

") Vgl. Ders.: Contrat, S. 361.

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präzise Definition und eine von den Subjekten ausgesprochene Kriegserklärung voraus. Rousseaus Versuch, dem Krieg einen rechtlichen Rahmen zu geben trug direkt zur Entwicklung des europäischen Völkerrechtsdenkens bei.20) Der Staatenkrieg bringe in die äußeren Beziehungen zwischen Staaten eine Stabilität und Kontinuität, die es zwischen Individuen so nicht geben könne. Die gegen Hobbes und die naturrechtliche Kriegsdeutung der frühen Neuzeit gewandte Prämisse lautete entsprechend: „il n'y a point de guerre entre les hommes, il n'y en a qu'entre les Etats". 2 ') Der Krieg, dem als Ziel die Unterwerfung bereits Besiegter zugrundelag, war danach illegitim, denn in dem Augenblick, in dem die Verteidiger die Waffen niederlegten, hörten sie auf, Feinde zu sein. Indem der Krieg zumindest auf der Ebene des Rechts nur in der äußeren Sphäre der Staaten stattfand, blieb der Innenraum der Gesellschaft davon unberührt. Entscheidend war Rousseaus Unterscheidung zwischen den Ebenen des Rechts einerseits sowie der Moral und der Affekte andererseits. Rousseaus Ausgangspunkt bildete eine rechtliche Argumentation, aber Krieg und Gemeinwesen hatten auch eine moralisch-ethische Dimension, und hier setzte der Bellizismus als Lehre vom sittlichen Wert des Krieges an. Entsprechend der Unterscheidung zwischen Recht und Moral differenzierte Rousseau zwischen einer Gesellschaft von Individuen als bloßen Privateigentümern, die allein das Recht aneinander band, und einer organischen Gemeinschaft, die auf emotionalen und moralischen Bindungen sowie ihrer Vergegenwärtigung durch konkrete Erfahrungen beruhte. In einer Gesellschaft individueller Privateigentümer könne es im Krieg keine weitergehende Identifizierung mit dem Gemeinwesen geben. Entsprechend fehlte nach Rousseau hier das Selbstverständnis der Individuen als soldat-citoyen, es dominierte vielmehr die Funktion als Soldat und defenseur des Gemeinwesens: „ne sont ennemis qu'accidentellement, non point comme hommes, ni memes comme citoyens, mais comme soldats; non point comme membres de la patrie, mais comme ses defenseurs". 22 ) Dagegen sei in einer „communaute organique" diese Identifikation des einzelnen mit der als legitim erachteten Sache zwingende Voraussetzung für die Gemeinschaftsbildung im Krieg, in der jede Partikularidentität des einzelnen in der des Gemeinwesens aufgehe: „[que] chaque particulier ne se croie plus un, mais partie de l'unite, et ne soit plus sensible que dans le tout". In einer solchen Bedrohungssituation würden alle freien Bürger automatisch zu Verteidigern des Vaterlandes: „tous les citoyens sont soldats en temps de guerre". Indem sie die Existenz des Vaterlandes über die eigenen Interessen stellten, erfuhren sie kon-

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) Vgl. Ders.: Fragments sur la guerre, in: Ders.: CEuvres, Bd.3, S.613—616, hier: S.615, sowie Olaf Asbach: Zwischen Souveränität und Föderation. Moderne Staatlichkeit und die Ordnung Europas beim Abbe de Saint Pierre und bei Jean-Jacques Rousseau, in: ZfP 11/3 (2001), S. 1073-1099. 21 ) Rousseau·. L'etat, S.602 und 604. 22 ) Ders.: Contrat, S.357.

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kret die moralische Tugend der Opferbereitschaft.23) Der Krieg wurde zum Bestandteil eines republikanischen Erziehungsprozesses, die Erfahrung einer bellizistischen Tugend zur Basis kollektiver Vergemeinschaftung. Während Rousseau den Krieg von Fürsten und Dynastien verurteilte und im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen im Studium historischer Schlachten keinen pädagogischen Wert erkannte,24) bot der Krieg als Teil republikanischer Erziehung eine Gelegenheit zum Erweis von Tugenden, ohne die keine Gemeinschaft bestehen könne. Rousseaus Sicht, geprägt vom republikanischen Ideal der klassischen Antike, ging von der Beziehung zwischen Staaten aus und zielte auf das äußere Verhältnis zwischen politischen Akteuren.25) In seiner konkreten Kritik am zeitgenössischen Söldnerwesen und der Forderung nach Mobilisierung aller Bürger zur Verteidigung ihres Gemeinwesens gelangte er schließlich zur bellizistischen Idealisierung des republikanischen Staates: „La guerre est quelquefois un devoir, et n'est point faite pour etre un metier. Tout homme doit etre soldat pour la defense de sa liberie; nul ne doit l'etre pour envahir celle d'autrui; et mourir en servant la patrie est un emploi trop beau pour le confier ä des mercenaires". Diesem Ideal gegenüber stand das Bild der Tyrannei, die sich stehender Heere bediente,26) und zwar als Mittel der aggressiven Expansion nach außen und der Unterdrückung freier Bürger im Inneren: „Les troupes reglees, peste et depopulation de l'Europe, ne sont bonnes qu'ä deux fins: ou pour attaquer et conquerir les voisins ou pour enchainer et asservir les Citoyens". Das Milizheer als Inbegriff der wehrhaften Nation, das Rousseau aus der Schweiz kannte, erschien ihm als das einzig adäquate „systeme militaire" einer Gesellschaft freier Bürger und entsprach zudem der Verbindung von Volk und Heer in der Tradition der römischen Republik. Während in der Miliz das Ideal des Dienstes für die Gemeinschaft aus eigenen Antrieb und eigener Überzeugung dominierte, fehlte dem angeworbenen Söldner jede Identifikation mit den Kriegsgründen.27) Solche Vorstellungen gingen auch in Rousseaus zeitgenössische Verfassungsentwürfe ein. In seinem Plan für eine Verfassung Korsikas von 1765 betonte er, ein National Charakter sei niemals vorgegeben, sondern nur durch Erziehung zu erreichen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit eines Bürgereides, in dem der Opfertod für das Gemeinwesen einen besonderen Platz 23

) Oers.: Emile ou de l'education, in: Ders.: (Euvres, Bd.4, 1969, S.239-869, hier: Livre I, S.249, sowie Ders.: Fragments, Bd. 3, S.614. 24 ) Vgl. Ders. : Emile, Bd. 4, S.529. 25 ) Vgl. Ders.\ Contrat, Bd. 3, S. 355-358; Carl Schmitt: Der Nomos der Erde, Köln 1950, S. 121 ff., sowie Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd.4, S.9 f. 26 ) Jean-Jacques Rousseau: Reponse ä M. Bordes, in: Rousseau: (Euvres, Bd. 3, S. 1405, Anm. 1 zu S. 269; vgl. Ders.: Sur l'economie politique, erschienen als Artikel Economie politique, in: d'AlembertlDiderot (Hrsg.): Encyclopedie, Bd. 5,1755, zitiert nach: Rousseau: (Euvres, Bd. 3, 239-278, hier: S.269. 27 ) Vgl. Ders.: Considerations sur le gouvemement de Pologne et sur la reformation projetee (1772), in: Ders.: (Euvres, Bd.3, S.951-1041, hier: S. 1014.

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einnahm: „Je m'unis de corps, de biens, de volonte et de toute ma puissance ä la nation corse pour lui appartenir en toute propriete, moi et tout ce qui depend de moi. Je jure de vivre et mourir pour eile".28) Sang de la France und gloire de lapatrie: Der Siebenjährige Krieg als Erfahrungsumbruch und die Distanzierung von der monarchischen patrie Die Spannung zwischen der überkommenen Bestimmung des Krieges aus der Perspektive des monarchischen Herrschaftsanspruchs und einer tendenziellen Verklärung des Krieges, die sich aufpatrie und la France bezog, wird deutlich, wenn man Stil und Inhalt der offiziellen Kriegserklärung des französischen Königs an den britischen Monarchen aus dem Jahre 1756 mit Reaktionen außerhalb der Sphäre von Monarchie, Hof und Regierung vergleicht. In den offiziellen Dokumenten dominierte ganz traditionell die auf die Person des Monarchen und die von ihm repräsentierte Dynastie hin orientierte Sicht, blieb der Krieg ein Konflikt zwischen Monarchenpersönlichkeiten. Volk und Militär waren lediglich Objekte der vom Fürsten ausgehenden Kriegshandlung, und auch die Reverenz gegenüber dem Dieu des armies als Symbol der überkommenen nationalreligiösen Verbindung von Monarchie und Religion fehlte nicht: Le Roi justement offense de cette infidelite, & de Pinsulte faite ä son pavilion, n'a suspendu pendant huit mois les effets de son ressentiment, & ce qu'il devoit ä la dignite de la Couronne, que par la crainte d'exposer l'Europe aux malheurs d'une nouvelle guerre ... En agissant par des principes si dignes de determiner les resolutions, Elle est assuree de trouver dans la justice de sa cause, dans la valeur de ses troupes, dans l'amour de ses sujets les ressources qu'EUe a toujours eprouvees de leur part, & Elle compte principalement sur la protection du Dieu des armees.29)

Auf der anderen Seite zeichnete sich seit der Mitte der 1750er Jahre und vor allem seit dem Beginn des Siebenjährigen Krieges 1756 eine Konjunktur patriotischer Literatur in Frankreich ab; insbesondere der Begriffpatriotisme erlebte einen erheblichen Aufschwung. 30 ) Hier stand nicht mehr der Konflikt zwischen Monarchen, sondern der Kampf der französischen Patrioten gegen die englische Nation im Zentrum. Dahinter zeichnete sich eine Distanzierung gegenüber der Monarchie als Verkörperung der patrie, eine durch den Krieg beförderte Krise der überkommenen monarchischen Legitimationsmuster und des ihnen zugrundeliegenden Gottesgnadentums ab. Der Kampf gegen Großbritan-

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) Ders.: Projet de constitution pour la Corse (1765), in: Ders.: (Euvres, Bd. 3, S. 899-950, hier: S.913; vgl. auch den Entwurf zu einer polnischen Verfassung, in: ebd., S.966. 29 ) Ordonnance du Roi, portant declaration de guerre contre le Roi d'Angleterre, du 9 juin 1756 de par le roi, Paris 1756, S. 2 und 5 f. 30 ) Vgl. Le patriotisme, o.O. 1759; Basset de La Marelle: La difference du patriotisme national chez les Fran^ais et chez les Anglais. Discours lu ä l'Academie des sciences, belles-lettres et arts de Lyon, Lyon 1762; Charles-Pierre Colardeau: Le patriotisme, poeme, Paris 1762, sowie Le patriotisme, poeme qui a ete presente ä l'Academie franfoise pour le prix de l'annee 1766, et dont on n'a fait aucune mention, Paris 1767.

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nien zwang dazu, den Zusammenhang zwischen äußeren Kriegen und nationalen Selbst- und Feindbildern verstärkt zu artikulieren. Mit den militärischen Operationen in Europa und in Nordamerika intensivierte der Krieg in der französischen Publizistik zunächst traditionelle Selbstdeutungen, so in der Abgrenzung gegenüber Großbritannien, dem man einen aggressiven Eroberungswillen und Machtarroganz in Europa und Amerika unterstellte.31) Darüber hinaus kam es während des Siebenjährigen Krieges zu einem Deutungswandel gegenüber dem traditionellen monarchischen Bellizismus. Nicht mehr primär der roi connetable stand im Mittelpunkt,32) sondern der abstrakte Begriff „la France", mit dem sich ein überpersönliches Bewußtsein artikulieren ließ. Ohne daß es bereits um einen ausdifferenzierten oder gar voluntaristisch konnotierten Nationsbegriff ging, reflektierte der Rekurs auf territoriale und ethnische Bezeichnungen eine Distanzierung vom Bild des Monarchenkrieges. So wies der spätere Marschall Davout in den 1780er Jahren daraufhin, der Sieg des Marschalls von Estrees gegen den Herzog von Cumberland bei Minden 1757 sei ein Kampf gewesen, „oü le sang de la France soutenait la gloire de la patrie contre le sang d'Angleterre".33) Das ging nicht nur rhetorisch über die Vorstellung des reinen Machtinteressen folgenden Kabinettskrieges hinaus, es reflektierte vielmehr eine sich wandelnde Argumentationsrichtung innerhalb des patriotischen Diskurses seit der Mitte der 1750er Jahre. Aus französischer und britischer Perspektive beschränkte sich der Konflikt nicht allein auf Europa, und so trug gerade die Popularisierung von Ereignissen in Nordamerika zur Ausbildung neuer Selbst- und Feindbilder bei. Ein Beispiel war die Reaktion auf das Schicksal des Offiziers Joseph Coulon de Jumonville, der mit neun französischen Soldaten von Seneca-Indianern, die zusammen mit britischen Truppen operierten, im Mai 1754 in Pennsylvania getötet wurde. Obgleich offiziell noch nicht im Kriegszustand, fiel dieses Ereignis bereits in den Kontext zunehmender Spannungen zwischen Frankreich und Großbritannien. Dieses Einzelereignis erlaubte es, in der französischen Öffentlichkeit das vermeintlich unehrenhafte Verhalten des Gegners herauszustellen. Zahllose Flugschriften, Artikel und Lieder feierten Jumonville als Märtyrer der patrie. Antoine-Leonard Thomas widmete ihm ein sechzig Seiten langes Gedicht, in dem der christusgleiche Heldentod für Frankreich zum verpflichtenden Vorbild für die ganze Nation im Krieg wurde: „Par un plomb homicide indignement perce, / Aux pieds de ses bourreaux il tombe renverse. / Trois fois il souleva sa pesante paupiere, / Trois fois son ceil eteint se ferme ä la lumiere. / 31

) Vgl. [Claude-Rigobert Lefebvre de Beauvray] Adresse έ la Nation angloise, poeme patriotique, par un citoyen, sur la guerre presente, Amsterdam und Paris 1757, S. 5 f. und 11 f.; vgl. Jean Henri Maubert de Gouvest: Esprit de la presente guerre, o.O. 1758. 32 ) Vgl. La grandeur du roy dans la guerre et dans la paix. Poeme, o.O. [ca. 1760]. 33 ) Zitiert nach: D. Reichel: Davout et Part de la guerre. Recherches sur la formation, Taction pendant la Revolution et les commandements du marechal Davout, due d'Auerstaedt, prince d'Eckmühl (1770-1823), Neuchätel 1975, S.6.

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De la France en mourant le tendre souvenir, / Vient charmer sa grande äme ä son dernier soupir. / II meurt: foules aux pieds d'une troupe inhumaine / Ses membres dechires palpitent sur l'arene".34) Es war kein Zufall, daß Thomas' Gedicht in Johann Georg Zimmermanns Schrift Vom Nationalstolze ausfuhrlich als Beispiel für den zeitgenössischen Haß der Franzosen auf Ausländer, vor allem aber auf die Briten, zitiert wurde.35) Das Motiv des Opfer- und Erlösungstodes fur das Vaterland stand neben der Abqualifizierung des Feindes und seiner barbarischen Kriegführung. Insbesondere die Kooperation der Briten mit Indianerstämmen stand in diesem Kontext.36) Entscheidend ist die hier sichtbare Verschiebung des Zielhorizonts der Heldenerzählung, denn die Schilderung des Feindes bezog sich nicht länger auf einen dynastischen Konflikt oder den Interessengegensatz zwischen zwei Monarchen, sondern auf abgrenzbare Nationen. Im Gegensatz zur britischen Kriegswahrnehmung spielte fur den bellizistischen Diskurs in Frankreich das konfessionelle Motiv zur Kennzeichnung des Feindes keine herausragende Rolle mehr. Damit entfernten sich die Propagandisten des Krieges in den 1750er und 1760er Jahren in Frankreich nicht nur vom Bild des personalisierbaren Monarchenkrieges, sondern auch von den überkommenen konfessionellen Feindbildschemata, die aus der Zeit der religiösen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts stammten. Noch während des Spanischen Erbfolgekrieges hatten König und führende Minister versucht, durch entsprechende Publikationen ausländischer und daher der Parteinahme unverdächtiger Autoren die Legitimation des Krieges aus französischer Sicht zu verbreiten, so vor allem in Jean de la Chapelles Lettres d'un Suisse von 1704, das immer wieder auf konfessionelle Topoi zurückgegriffen hatte.37) Der Appell an nation und patrie in öffentlichen Spendenaufrufen zur Zeit des Siebenjährigen Krieges ging nicht mehr von solchen Kriegsmustern aus. Auch trat die Bedeutung von Monarch und Dynastie hinter die Betonung der kulturellen und historischen Unterschiede zwischen Franzosen und Briten zurück. Dazu gehörte der Antagonismus zwischen Barbarentum und Zivilisation, den zahlreiche Texte aufnahmen. Selbst der französische Außenminister Choiseul sprach nun von einem Krieg zwischen Nationen. Ein Artikel ACT Annie literaire unterschied zwischen Konflikten, an denen eine Nation nur Interesse 34

) Antoine-Leonard Thomas: Jumonville, Paris 1759, S.22; vgl. David A. Bell: Jumonville's Death: War Propaganda and National Identity in Eighteenth-Century France, in: Colin JonesiDror Wahrman (Hrsg.): The Age of Cultural Revolutions. Britain and France, 1750-1820, Berkeley 2002, S. 33-61, sowie Bell: Cult, S. 78-82. 35 ) Johann Georg Zimmermann: Vom Nationalstolze, Zürich 1768, S. 177. 36 ) Vgl. Seran de la Tour: Parallele de la conduite des Carthaginois ä l'egard des Romains, dans la seconde guerre Punique, avec la conduite de l'Angleterre, ä l'egard de la France, dans la guerre declaree par ces deux puissances en 1756, o.0.1757, S. 185-191. 3? ) Jean de la Chapelle: Lettres d'un Suisse, qui demeure en France, ä un Francois, qui s'est retire en Suisse, touchant l'estat present des affaires en Europe, o.O. 1704; vgl. Bell: Cult, S. 89 ff., sowie Joseph Klaits: Printed Propaganda under Louis XIV. Absolute Monarchy and Public Opinion, Princeton 1976.

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zeige, indem sie sich ihrem Fürsten unterwarf, weil es sich um dessen persönlichen Krieg handele, und dem gegenwärtigen Kampf, in dem die englische Nation die französische angegriffen habe. Jeder einzelne schien in diesen Konflikt verwickelt und identifiziere sich mit dem Kampf gegen den Feind.38) Entscheidend war eine veränderte Erwartungshaltung der Öffentlichkeit, in der diese Sicht des Krieges nun sehr viel intensiver wahrgenommen wurde. Dazu trug vor allem das expandierende Zeitungswesen bei, wie das Beispiel des von Jacob-Nicolas Moreau herausgegebenen Observateur hollandois zeigte.39) So sehr allerdings in diesen Publikationen das antinomische Paradigma von britischer Barbarei und französischer Zivilisation hervortrat und damit die konfessionellen Feindbilder oder die Personalisierung des Feindes im gegnerischen Monarchen in den Hintergrand rückte, so sehr zeigte sich indirekt die Fortwirkung des religiösen Interpretaments, wenngleich auf einer anderen Deutungsebene. Denn nation und patrie wurde nun ein neuartiger religionsähnlicher Wert zugeschrieben, der vor allem im Motiv von Opfer und Erlösung erkennbar wurde.40) Die monarchische Konnotation von patrie geriet in den Hintergrund, und die seltenen Rekurse auf den roi connetable blieben ohne größere Resonanz. Die Kriegshelden selbst, auf die sich die populäre Kriegsliteratur nach 1750 bezog, waren nicht mehr aristokratische Feldherren, sondern zunehmend einfache Soldaten, deren christusähnlicher Opfertod wie bei Jumonville auf das abstrakte Ideal der patrie verwies und nicht mehr auf die gloire als Synonym einer ständisch-feudalen Werte- und Sozialordnung.4') In diesem Zusammenhang wurde der Rückgriff auf das antik-republikanische Motiv des Opfertodes für das Vaterland besonders virulent. Diese Tendenz verstärkte sich nach dem Ende des Krieges noch einmal erheblich. In seiner 1769 in sechs Bänden publizierten Histoire du patriotisme frangais versuchte der französische Advokat Rossel zu beweisen, daß die Opferbereitschaft der Franzosen keinesfalls geringer ausgeprägt sei als die der Römer. Der „citoyen franfais" habe ein weit entwickeltes patriotisches Gefühl, und im Gegensatz zu den Bürgern Roms opfere sich der Franzose stets im Namen höherer Ziele. Die Geschichte Frankreichs erschien wie eine einzige Abfolge patriotischer Akte, wobei Rossel gloire dezidiert auf den König und honneur auf die nation bezog. 38

) Etienne-Fran^ois de Choiseul: Memoire historique sur la negotiation de la France et de l'Angleterre depuis le 26 mars 1761 jusqu'au 20 septembre de la meme annee, avec les pieces justificatives, Paris 1761, sowie Projet patriotique, in: Annee litteraire 6 (1756), S.42ff. 39 ) Vgl. Jacob-Nicolas Moreau: L'Observateur hollandois, ou seconde lettre de M. Van ** ä Μ. H** de la Haye, Den Haag 1755, S. 20-35. 40 ) Vgl. N. de Coulange: Ode sur les anglois au sujet de la Guerre presente, Paris 1756; L'AIbionide, ou Γ Anglais demasque: Poeme heroi'-comique, Aix 1759, sowie RobertMartin Lesuire: Les Sauvages de l'Europe, Berlin 1760; vgl. Bell: Cult, S. 101-06. 41 ) Vgl. Louis-Pierre Manuel: L'Annee fran^oise, ou vies des hommes qui ont honore la France, ou par leurs talens, ou par leur services, & surtout par leurs vertus, 4 Bde., Paris 1789.

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Hier standen monarchische Herrscherpersönlichkeit und abstrakter Nationsbegriff noch nebeneinander und vermittelten das Bild einer harmonischen Einheit.42) Der auf den König konzentrierte Bellizismus war in Frankreich seit dem Siebenjährigen Krieg also mit einem tendenziellen Wandel monarchischer Legitimationsvorstellungen konfrontiert. Von den überkommenen Inszenierungen des fürstlichen Krieges ging nicht mehr die gleiche Handlungslegitimation aus, welche die sakrale Einheit von Königtum und patrie ursprünglich ausgezeichnet hatte. Zugleich entwickelte sich in der aufgeklärten Kritik am monarchischen Krieg eine neue bellizistische Sinnlehre, die nicht mehr primär auf den König rekurrierte, neue transpersonale Wertbegriffe wie patrie und la France in den Mittelpunkt stellte und sie kritisch gegen die Monarchie wandte. Der klassiche Republikanismus bot dazu ein unerschöpfliches Reservoir an Konnotationen und suggestiven Metaphern, die zudem mit der unangreifbaren Reputation des antiken Vorbilds ausgestattet waren. Noch blieb die Kritik am Herrscher eher latent, aber die Erfahrung des Siebenjährigen Krieges, der wahrgenommene relative Niedergang des französischen Einflusses in Europa und die Abtretung wichtiger Einflußsphären in Übersee an Großbritannien ließen einen neuen Maßstab hervortreten, mit dem man die Monarchie im Krieg beurteilte. Der monarchische Bellizismus als Bestandteil des absoluten Herrschaftsanspruches enthielt im Unterschied zum klassisch-republikanischen Modell keine Partizipationsverheißung. Volk und patrie blieben hier auf den Monarchen hin zugeordnete Objekte des Krieges, während sich das Bild des freien Bürgers als geborener Vaterlandsverteidiger als um so attraktiveres Gegenmodell davon abheben ließ. Seit dem Siebenjährigen Krieg intensivierte sich in der französischen Publizistik der Gegensatz zwischen promonarchischen Rechtfertigungen des Opfertodes und Vorstellungen, die bestimmte Institutionen als Verkörperungen der französischen Nation in den Vordergrund stellten. Hob Sacy 1769 noch hervor, daß der „patriotisme fran^ois" nicht nur in der Republik, sondern gerade auch in der Monarchie möglich sei, so verriet der Ton seiner Argumentation eine defensive Position. Es schien keine Selbstverständlichkeit mehr, daß auch in Monarchien die Vaterlandsliebe keine bloße Idee sei, und die zahlreichen Schriften zum Thema patriotisme in der Monarchie seit den 1770er Jahren wiesen in dieselbe Richtung.-43) Sacy ging es um die Verteidigung der im Krieg sichtbaren 42

) Vgl. Rossel: Histoire du patriotisme fran^ais, ou nouvelle histoire de France, dans laquelle on s'est principalement attache ä decrire les traits de patriotisme qui ont illustre nos rois, la noblesse et le peuple franfais, depuis l'origine de la monarchie jusqu'ä nos jours, 6 Bde., Paris 1769. 43 ) Vgl. Les efforts de la liberte & du patriotisme contre le despotisme, du Sr. de Maupeou chancelier de France, ou recueil des ecrits patriotiques publies pour maintenir l'ancien gouvernement franfais, 4 Bde., London 1772-73; Elie de Beaumont: Discours sur le patriotisme dans la monarchie, Bordeaux 1777; Reflexions d'un magistrat sur le

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patriotischen Qualität des französischen Königtums. Dazu griff er auf das Bild des roi connetable und die Schlachten der Vergangenheit zurück, in denen die Monarchie durch ihre Präsenz das Opfer ermöglicht und damit die Einheit der patrie im charismatischen Vorbild symbolisiert hatte. Daher stand der Monarch und das durch ihn wirksame Opfer fur Sacy höher als der republikanisch intonierte Titel des citoyen: „Qu'un Monarque franfois s'avance ä la tete de ses troupes: c'est la patrie, qui, les lauriers ä la main, fraye a ses citoyens le chemin de la gloire. Quelle äme basse ne se sent pas embrasee ä cette vüe? Quel soldat oseroit fuir sous les yeux de son Roi? II craint moins les reproches de la nation entiere, qu'un regard de mepris lance par le Souverain. Sa presence cree les Heros; & c'est ä ces Heros qu'on refuse le titre de Citoyen! A Bouvines, a Taillebourg, ä Fontenoy, qu'auroient fait de plus ces fiers Republicains?"44) Dagegen zeigte eine Rede des M. le Blanc de Castillon vor dem Gerichtshof in Aix von 1765, daß sich das parlement als Vorkämpfer der französischen Nation auf die Geschichte berufen und das höchste Opfer fur die Einhaltung der Gesetze einfordern konnte, ohne die Person des Monarchen überhaupt noch zu erwähnen. Religiöse Codierungen des Opfertodes ließen sich auch außerhalb der monarchischen, höfischen und kirchlichen Sphäre auf den patriotisme übertragen: „La Religion a ses Martyres, la Magistrature doit avoir les siens. Le Patriotisme renferme dans le cceur d'un petit nombre de citoyens vous y invite ... Verser votre sang pour le maintien de la Loi, s'il faut, est votre devoir".45) Die verbreitete Kritik an der zeitgenössischen Entfremdung zwischen Bürgern und Militär, die zu einem festen Bestandteil des aufgeklärten Kriegsdiskurses in Frankreich geworden war, bestimmte auch den einflußreichen Essai giniral de tactique von Jacques de Guibert von 1770. Vor dem Hintergrund der stehenden Söldnerheere und der fehlenden Anerkennung des Militärs als Verpatriotisme, les diverses formes de gouvernement, les caracteres de la souverainete, la nature de l'office dans les etats monarchiques; suivies d'observations sur le privilege parlementaire de la Bretagne, avec des preuves, o.O. [1788]; Mathon de la Cour: Discours sur les meilleurs moyens de faire naitre et d'encourager le patriotisme dans une monarchic, qui a remporte le prix dans l'Academie de Chälons-sur-Marne, le 25 aoüt 1787, Paris 1788; Joseph-Marie Lequinio: Les trois chapitres ou la voix du patriotisme, Rennes 1789, sowie Le patriotisme, ou tres humbles et tres respectueuses representations du tiers etat, au roi, o.O. [1789]. M ) M. de Sacy: L'Honneur franfois, ou histoire des vertus et des exploits de notre nation, depuis l'etablissement der la Monarchie jusqu'ä nos jours, 12 Bde., Paris 1769-1784, hier: Bd. 1, S. XXXIII f. 45 ) Extrait du Discours de M. le Blanc de Castillon: Avocat General du Parlement de Provence, le jour de la rentree de cette Cour, le 10 octobre 1765, au Palais d'Aix, zitiert nach: Louis Petit de BachaumontfPidansai de Mairobert et al.: Memoires secrets pour servir ä l'histoire de la republique des lettres en France depuis 1762 jusqu'ä nos jours, ou Journal d'un observateur, 36 Bde., London 1777-89, hier: Bd. 2, S.244; vgl. Elisabeth Fehrenbach: Nation, in: Rolf ReichhardtfEberhaid ScAmitt/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, Heft 7, München 1986, S. 75-107, hier: S.84f.

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körperung der Nation fiel der Kontrast zum überragenden Wert von Krieg und Militär in der Antike um so deutlicher aus. In der Gegenwart gehe es darum, die militärische und politische Verfassung nach dem antiken Vorbild wieder in Übereinstimmung zu bringen: C'est la bonte de leur milice, la vigueur de leur discipline, l'education guerriere de leur jeunesse, l'espece de leurs peines et de leurs recompenses. C'est ce rapport important qui liait leurs constitutions militaires ä leurs constitutions politiques. Aucun de ces objets ne semble interesser les gouvemements modernes. II n'y en a point qui ait calcule le nombre et la constitution de ses troupes, sur la population de ses Etats, sur la politique, sur le genie national. II n'y en a point oü la profession de soldat soit honoree; oü la jeunesse re^oive une education guerriere; oü les lois inspirent le courage et fletrissent la mollesse; oü la nation, en un mot, soit preparee par ses mceurs et ses prejuges ä former une milice vigoureuse.46) Auch fur Preußen, in dem der Zusammenhang zwischen Staat, Krieg und Militär besonders hervorgetreten war, konstatierte Guibert eine gefährliche Lücke zwischen Militär und Gesellschaft. Denn die Armee sei dort kein Ausdruck bürgerlicher Partizipation, sondern bestehe vor allem aus angeworbenen und unzuverlässigen Söldnern. Die preußische Staatsbildung, deren Fortschritte zuletzt der Siebenjährige Krieg eindrucksvoll bewiesen hatte, schien ganz vom Genius und Charisma des erfolgreichen roi connetable abzuhängen, und Guibert sagte Preußen eine existenzielle Krise voraus, sobald dieser Feldherrnkönig nicht mehr regieren werde. Für Guibert stand fest, daß sich ein Volk allein in der Vorbereitung und inneren Einstellung auf einen Krieg als eine organische Einheit erkennen könne. Wo diese Prämisse vergessen werde, verliere der Begriff der patrie seine sinngebende Bedeutung. Indem er patriotische Tugenden am Ideal des bürgerlichen Vaterlandsverteidigers ausrichtete, konnte Guibert nicht nur die stehenden Söldnerheere kritisieren. Auch die öffentliche Meinung trat als Mobilisierungsfaktor hervor: Si enfin un peuple s'amollit, se corrompt, dedaigne la profession des armes, perd toute l'habitude des travaux qui y preparent; si une nation etant degradee ä ce point, le nom de patrie n'y est plus qu'un mot vide de sens; si ses defenseurs ne sont plus que des mercenaires, avilis, miserables, mal constitues, indifferents au succes, ou aux revers ... c'est encore la faute du gouvernement. Car le gouvernement doit veiller sur les mceurs, sur les opinions, sur les prejuges, sur les courages. Avec la vertu, l'exemple, l'honneur, le chätiment, il peut etre plus puissant que le luxe, que les abus, que les vices, que les passions, que la corruption la plus inveteree.47)

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) Jacques de Guibert: Essai general de tactique, precede d'un discours sur l'etat actuel de la science politique et de la science militaire en Europe avec le plan d'un ouvrage intitule: La France politique et militaire, Leyde 1770, wieder in: Ders.: Ecrits militaires 1772-1790. Essai general de tactique et Traite de la Force Publique. Preface et notes du general Menard, Paris 1977, S. 51-240, hier: S.79; vgl. R. R. Palmer. Frederick the Great, Guibert, Bülow: From Dynastic to National War, in: Paret (Hrsg.): Makers, S.91-122. 47 ) Guibert: Essai, S. 79 f. und 82.

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges

Die Gründe für die zeitgenössischen Kriege erkannte Guibert in der Unfähigkeit der Kabinette und den Intrigen führender Minister. Der zwischen den Nationen geschürte Haß stand neben kontroversen Handelsinteressen und Expansionsbestrebungen. Von gekauften Söldnern ohne jede weitergehende Überzeugung ausgetragen, sei der Krieg eine Sache der Regierungen und nicht der Völker. Die monarchischen Regierungen repräsentierten, so Guibert, nicht die Interessen und Wünsche des Volkes, sie schienen selbst „etre en guerre secrete avec leurs sujets" und „indifferent au sort des peuples, et les peuples, par represailles, indifferents aux succes des gouvernements".48) Im Vergleich mit den Konflikten der Vergangenheit schienen die Kriege der Gegenwart zivilisierter geworden zu sein: Die Bevölkerung werde nur noch mittelbar betroffen. Wo sich die Staaten in ihrer Herrschaftspraxis immer mehr anglichen, bedeute es keinen großen Unterschied mehr, ob man infolge eines Krieges den Herrscher wechsele. Wo die Kriege entsprechend „moins decisives, et pourtant plus funestes ä la population et aux peuples" seien, könne man auch keine Identifizierung der Bevölkerung mit den Kriegsgründen erwarten. Aber Guibert glaubte nicht an den Erfolg dieser Disziplinierung des Krieges durch die Fürsten und ihre Regierungen, denn allen Kriegen lägen letztlich die Leidenschaften des Menschen zugrunde.49) Der Blick auf das antike Rom illustrierte fur ihn, daß die emotionale Erfahrung von imperialer grandeur und gloire nur im Krieg möglich war: „peut-etre il y a eu dans quelques coins de l'Univers une nation obscure et paisible, dont les membres ont ete plus heureux; mais [que] certainement jamais peuple n'a eu autant de grandeur, autant de gloire". Das Ideal des Krieges deutete Guibert nicht mehr als rationale Entscheidung eines Rechtskonflikts wie im europäischen Völkerrechtsdenken seit den frühneuzeitlichen Bürgerkriegen, sondern als Abfolge der „grandes conquetes". Nur auf sie ließ sich die gloire beziehen, und erst von ihnen gingen jene existenziellen Veränderungen aus, die den Aufstieg und Niedergang großer Reiche bestimmten: „De parailles armees... plus amoureuses de gloire que de commodite... feraient encore de grandes conquetes et des revolutions dans les empires".50) Guiberts einflußreiche Schriften illustrierten eine neue Sicht auf die Emotionalisierung des Krieges nach 1760, die sowohl die überkommene Trennung zwischen Militär und Gesellschaft als auch das Paradigma des monarchischen Krieges in Frage stellte. Damit unterstrich er auch die Wirkungsreichweite des aufgeklärten Kriegsdiskurses und dessen vitalistischer Kriegslehre als Erziehungsprogramm.

48

) Vgl. Comte de Guibert: Essai general de tactique, in: Ders.: Strategiques. Introduction de J.-D. Charnay, hrsg. von L'Herne, Paris 1977, S. 138 f., 188,439,135 f. und 145; vgl. Raymond Mas: L'Essai general de tactique (1770) de Guibert ou le rationalisme des Lumieres face ä la guerre, in: ViallaneixtEhrard (Hrsg.): Bataille, Bd. 1, S. 119-134. 49 ) Guibert: Essai, in: Ders. : Strategiques, S. 187 f., 159 und 152; vgl. auch S.435. so ) Ebd., S. 135, 171 und 383.

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Die französische Nation als neuer Identifikationsrahmen: Die nation belliqueuse und die Moralisierung der guerre civile aus dem Geist der Absolutismuskritik vor 1789 Bereits vor Ausbruch der Revolution zeichnete sich im französischen Ancien regime also eine neue Sicht auf das Verhältnis von Militär, Krieg und Gesellschaft ab. Dafür stand vor 1789 das aufschlußreiche Bild des soldat citoyen, das repräsentativ fur zeitgenössische Erwartungen des gebildeten Lesepublikums war. Dieser Bürgersoldat gelange, so Joseph Servan 1780, durch die Verteidigung seines Vaterlandes zu einer Identifikation mit der patrie, und daraus erwachse jene Tugend, die den Sieg verspreche. Servan verband die f elicite nationale mit dem esprit militaire. Das Militär dürfe nicht als Kaste abgesondert werden, sondern müsse in organischer Verbindung mit den Bürgern existieren. Der soldat citoyen drückte insofern die geforderte Hochschätzung aus, welche die Nation dem Militär entgegenbringen sollte: „La felicite nationale est un objet si essentiel, les moyens de l'etablir & de la porter au plus haut degre possible, Interessent si fort chaque individu, que Γ on devroit regarder comme la plus grande preuve d'une sage constitution ... L'esprit militaire ne peut se perpetuer dans une nation & tourner ä son avantage, que par l'estime attachee ä cette profession".51) Die Kriege der Gegenwart wurden als Konsequenz des Despotismus interpretiert und nicht mehr als begrenzbare Rechtskonflikte zwischen souveränen Fürsten. So erschien der Despotismus als die eigentliche Ursache jener Gewalt, welche die Existenz der Nation in Frage stellte: „Quand le progres du gouvernement militaire a amene le despotisme, alors il n'y a plus de nation ... L'esprit de desunion et de haine gagne entre tous les Etats, alternativement corrumpus et fletris".52) Selbst dort, wo man noch die Person des Monarchen und die „amour des Francois pour leur souverain" hervorhob, betonte man die Notwendigkeit einer aus dem eigenen Volk hervorgegangenen Armee, in der Bürger ihr Vaterland verteidigen sollten. Das aber setzte politische und soziale Teilhaberechte am Gemeinwesen voraus: „Quand on voudra des armees invincibles, lorsque l'on rendra les soldats vraiment citoyens, qu'on leur fera cherir & desirer leur etat, & qu'ils seront assures de recevoir les recompenses dues ä leur services... Ce sont les citoyens, & non pas les etrangers qui doivent etre les gardiens & les defenseurs d'un Etat".53) 51 ) [Joseph Servan] Le Soldat citoyen, ou vues patriotiques sur la maniere la plus avantageuse de pourvoir ä la defense du royaume, Paris 1780, S. 19, 22 und 54. 52 ) Guillaume-Thomas Raynat Histoire philosophique et politique des etablissements et du commerce des Europeens dans les deux Indes, 10 Bde., Genf 1780, hier: Bd. 10, S.208. 53 ) Grande Tactique et Manoeuvres de guerre, suivant les principes de sa Majeste Prussienne; Renfermant des reflexions sur la necessite de conformer la discipline militaire & la tenue des troupes, au genie de chaque Nation; suivies d'un precis de la Campagne de 1778, entre les armees autrichiennes & prussiennes, traduit de Γ Allemand, par Chev. M.***. de C***., Potsdam 1780, S.XXXXVIII und 15 f.

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges

Bereits am Vorabend der Revolution existierte in Frankreich also eine aus der Aufklärungsphilosophie stammende Kritik am absolutistischen Militärund Kriegssystem, die sich mit der Prämisse verband, daß aus despotischen Staats- und Gesellschaftsverfassungen stets Angriffskriege hervorgingen. Im Rekurs auf patrie und citoyen als Vaterlandsverteidiger wurde die Trennung zwischen dem äußeren Kriegszustand und den inneren Verhältnissen eines Staates, die in der monarchischen Souveränität zur Unterbindung des bellum omnium contra omnes begründet lag, aufgehoben. Der Rekurs auf Metaphern und Interpretamente des klassischen Republikanismus schuf für diesen Umbruch einen Deutungsrahmen, förderte die Entstehung neuer Kriegslehren und ließ neue Konnotationen des Nationsbegriffes hervortreten. Es ging nicht mehr primär um die Frage der äußeren Staatsmacht, die man mit Monarch und Dynastie verband, sondern um die moralische Stärke der Nation, aus der zugleich ihr politisches Selbstbewußtsein abzuleiten war, und diese moralische Superiorität manifestierte sich im Krieg. Die nation belliqueuse fand sich im roi connetable nicht mehr adäquat repräsentiert: „J'ai dit que Γ on considere surtout la nation sous les rapports politiques de [la] puissance, mais sans exclure d'autres rapports, qui soient generaux et communs ä tout peuple, ou plutöt a tous les peuples de l'Etat, surtout les qualites morales ... Une nation est belliqueuse, fiere, superbe, comme un peuple, plutöt meme qu'un peuple, car la notion s'empare naturellement de toute idee d'elevation". 54 ) Diese Bestimmung verriet die Paradigmen, die im bellizistischen Diskurs der Aufklärung entwickelt worden waren, spitzte diese aber nunmehr auf die nation zu. Gabriel Bonnot Abbe de Mably markierte mit seiner 1789 erschienenen Schrift Des droits et des devoirs du citoyen vor diesem Hintergrund einen Wendepunkt in der Deutungsgeschichte der Beziehung zwischen Krieg und Nation. In seiner Interpretation der guerre civile zeigte sich am Vorabend der Französischen Revolution eine Bruchstelle der neuzeitlichen Kriegsdeutung. Mablys Ansatzpunkt war die überkommene Sicht des Bürgerkrieges als Katastrophe für die Bürger eines Staates, die es unter allen Umständen zu verhindern galt. Dem hielt er unter Rückgriff auf die Körpermetaphorik entgegen, daß es notwendig sein könne, auch ein Körperteil zu amputieren, falls nur so das Überleben des Gesamtorganismus gesichert werden könne: „La guerre civile est un mal dans ce sens qu'elle est contraire a la sürete et au bonheur que les hommes se sont proposes en formant des societes ... de meme que l'amputation d'un bras ou d'une jambe est un mal pour moi, parce qu'elle est contraire ä l'organisation de mon corps et me cause une douleur cuisante. Mais quand j'ai la gangrene ä la jambe ou au bras, cette amputation est un bien, lorsque la societe, sans le secours de cette operation, seroit exposee ä perir dans la gangrene". Angewandt auf die Wirklichkeit eines Staates hieß dies für ihn, eine Gesellschaft „courroit risque de mourir du despotisme", falls man den gewaltsamen Kampf 54

) AbbeRoubaud: Nouveaux Synonymes franfois, 4 Bde., Pais 1785, hier: Bd.3, S.241.

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gegen die Tyrannei scheue, auch wenn dies den offenen Bürgerkrieg bedeutete.55) Nur ein anarchistischer Bürgerkrieg ohne Orientierung am übergeordneten Wohl des Vaterlandes und ohne Respekt vor den Gesetzen und Rechten sei für eine Nation ein gefährliches Übel. Der historische Unterschied zwischen dem römischen Bürgerkrieg als Folge persönlicher Machtrivalitäten und dem Freiheitskampf der Niederlande gegen die spanische Krone illustrierte Mablys Argument. Für ein aufgeklärtes und tugendhaftes, sich seiner Rechte bewußtes Volk könne der Bürgerkrieg eine Wohltat sein und werde zur moralischen Pflicht, wenn es um den existenziellen Wert der Freiheit und Selbstbestimmung gehe: Quand la guerre civile est l'ouvrage de l'anarchie, c'est-ä-dire quand les citoyens, sans mceurs, sans connoissance de Ieurs droits et de leurs devoirs, meprisent et haissent autant les lois que les magistrate ... dans ces circonstances, la guerre civile est un tresgrand mal... II n'en est pas de meme des guerres civiles qu'allument l'amour de la Patrie, le respect pour les loix, et la defense legitime des droits, de la liberte d'une nation. Les guerres de Cesar, de Pompee, d'Octave et d'Antoine etoient une sottise; quel que füt le vainqueur, un maitre devoit se mettre ä la place des loix qui ne subsistoient plus ... Mais regardez-vous du meme ceil la guerre que soutinrent les Provinces-Unies pour se soustraire ä la domination de Philippe II! Le remede etoit dur... mais il m'est salutaire, mais il m'est necessaire de me couper un bras ou une jambe pour me sauver la vie.56) Mably blieb aber nicht bei der theoretischen Legitimation des Bürgerkrieges gegen den Despotismus stehen, sondern reflektierte auch die konkreten Konsequenzen seiner Argumentation. So kritisierte er offen das Prinzip der Trennung zwischen dem status civilis und dem status militaris. Wo Bürger und Soldaten aus derselben Gemeinschaft stammten, die sich gegen die Despotie wandte, wurde der Bürgerkrieg zum legitimen Mittel. Gegen die Praxis absoluter Herrscher gewandt, die unter dem argumentativen Rückgriff auf das Schreckbild des Bürgerkrieges die Unterdrückung zu legitimieren suchten, bezog sich Mably auf die eigenständige Nation, deren moralische Grundlagen durch die Unfreiheit zerstört würden. Damit wurde die Anwendung der Gewalt eine Frage der Abwägung und der sittlichen Rechtfertigung. Der Despotismus bedeutete ein größeres Übel als die Risiken der guerre civile: „Je commence ä trouver etrange que les oppresseurs de la societe ayent eu l'habilete magique de nous persuader ... que la guerre civile, pour un peuple encore assez vertueux pour pouvoir en profiter, est cependant un plus grand fleau que la tyrannie dont il est menace ... Ce qui me consterne, c'est cette langueur, cet aneantissement, cette stupidite, cette solitude, cette devastation lente, vaste et perpetuelle que produit notre despotisme d'Europe, et qui semble aneantir une nation". 57 ) Die Nation werde sich gerade im Kampf gegen die Unfreiheit ihrer selbst bewußt. 55

) [Gabriel Bonnot] Abbe de Mably: Des droits et des devoirs du citoyen, Kell 1789, S. 93 f. 56 ) Ebd., S. 94 f. 57 ) Ebd., S.98f.; vgl. ebd., S.97.

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges

Es ging also nicht mehr um die Verteidigung der von Hobbes favorisierten pax civilis durch Souveränitätsübertragung auf einen Leviathan, sondern um die moralische Pflicht der Bürger einer Nation, ihre Freiheit gegen einen Despoten zu erkämpfen. Die Revitalisierung des Bürgerkriegsparadigmas, nun nicht mehr unter konfessionellen Vorzeichen, sondern zur Verteidigung der bürgerlichen Freiheitsrechte einer Nation, stand für eine neue Sinnlehre des Krieges, der den Monarchen als Kriegssubjekt durch die selbstbewußte Nation prinzipiell gleicher Bürger ersetzte. Dieser Bellizismus betonte die moralische Qualität einer nationalen Gemeinschaft aus der kathartischen Wirkung des Kampfes, dessen positive Ergebnisse auch die Opfer rechtfertigten: , jamais un peuple n'est plus fort, plus respecte ni plus heureux, qu'apres les agitations d'une guerre domestique". Vor allem das Beispiel Heinrichs IV. und die Entwicklung Frankreichs nach dem Ende der konfessionellen Bürgerkriege und der aristokratischen Fronde illustrierten dieses Argument. Für die Gegenwart hoffte Mably auf eine vergleichbare nationale Regeneration in der Wendung gegen die tyrannische Monarchie. Erst der gewaltsame Kampf um die Freiheit lasse eine neue Nation entstehen, die durch die Erfahrung des Krieges einen moralisch höherwertigen Begriff von sich selbst gewinne: „Voyez ce qu'etoit la France apres que Henri IV eut triomphe de la Ligue. C'est peut-etre notre Fronde, dont les Heros cependant avoient bien peu de sens, qui rendit ä la nation cette activite et cette noblesse que le Ministere du Cardinal de Richelieu avoit alterees; qui a fait tout Γ eclat du dernier regne, et dont des Ministres plus sages que ceux de Louis XIV auroient tire un parti plus avantageux".58) Mably stand 1789 an der Schnittstelle zweier Zeitschichten und der ihr zugehörigen Deutungsmuster: einer vom Bild des konfessionellen Bürgerkrieges und der kritischen Sicht des absolutistischen Herrschaftsanspruches geprägten Erfahrungsebene und einer Erwartungshaltung, welche die Nation und den durch den Kampf um ihre Rechte und ihre Freiheit legitimierten Bürgerkrieg in den Mittelpunkt stellte. Die eigentliche Kriegsursache könne nur beseitigt werden, wenn die Staats- und Gesellschaftsordnung des Ancien regime zerstört werde. Die moralisch legitime guerre civile und die Anwendung revolutionärer Gewalt war mithin ein Krieg gegen die Ursachen des monarchisch intendierten Staatenkrieges. Nicht mehr die Gewaltanwendung an sich erschien gefahrlich, sondern die kriegerische Gewalt des Despoten. So beruhte die Legitimation des Krieges auf seiner Moralisierung, und der Bürgerkrieg wurde zur Verpflichtung einer Gesellschaft, die sich nur so der despotischen Gewalt erwehren konnte. Darin lag die legitime Funktion des Bügerkrieges, das bien der im Namen einer politischen und nationalen Ideologie gerechtfertigten und im Krieg erfahrbaren Gewalt. Ihr Subjekt war die „nation militaire", die im Bürgerkrieg gegen den Despotismus vereinte und gewaltbereite, bellizistische Nation. Mablys Argumentation bedeutete eine Absage an das frühneuzeitliche Paradigma der Kriegs58

) Ebd., S. 99 f. und 100 f.

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deutung im Sinne von Hobbes' Ideal der pax civilis, die nur im Rahmen eines fürstlichen Gewaltmonopols möglich geworden war. Dagegen wurde für Mably am Vorabend der Revolution die moralische Rechtfertigung der Gewaltanwendung im Krieg entscheidend. Wandte sie sich gegen die despotische Macht des Fürsten, wurde der Bürgerkrieg zur moralischen Wohltat und die Masse der Untertanen zur sittlich bestimmten „nation militaire", die den Monarchen als Kriegssubjekt ablöste.59) Diese Mission im Krieg bedeutete ein Angebot abstrakter Identifikation mit dem Deutungsmuster der Nation. Zugleich äußerte sich dieser Bellizismus zunächst noch ganz in der Sprache der Aufklärung, als Teil eines allgemeinen zivilisatorischen Bildungsprozesses. Der Einsatz für Freiheit und Selbstbestimmung der Nation bedeutete fur jedes einzelne Mitglied der Nation ein Stück Emanzipation und Partizipation. b) Die Krisenphase der inneren und äußeren Gewalterfahrung: Die bellizistische Revolution und der Erfahrungsraum der erneuerten Nation Mit der Krise der monarchischen Legitimität am Ende der 1780er Jahre und der Bewegung des Sommers 1789 setzte ein tiefgreifender Erfahrungsumbruch ein. In der Revolution traf tradiertes Deutungswissen auf neue Handlungsspielräume und Erwartungen, waren überkommene Interpretationsmuster mit krisenhaften Erfahrungen konfrontiert, welche die Erklärungsreichweite existierender Interpretamente in Frage stellten und ihre Weiterentwicklung und Neukonzeption erzwangen. Nur so war es möglich, sich eine beschleunigt veränderte Wirklichkeit sinnhaft anzueignen. Das galt nicht zuletzt für den Erfahrungsraum von Militär und Krieg, dessen Wahrnehmung sich seit den 1750er Jahren verändert hatte. Hier wirkte die Revolution zunächst als Katalysator älterer Argumente und Diskurse, brachte dann aber bald neue Bestimmungen des Zusammenhangs zwischen Nation und Krieg hervor.60) Zwei Positionen beleuch59 ) [Gabriel Bonnot] Abbe de Mably. Du gouvernement et des lois de Pologne, in: Ders.\ CEuvres completes, Bd. 8, Paris 1794, S. 199; vgl. Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 4, S. 10. ®°) Vgl. Eberhard Kessel·. Die Wandlung der Kriegskunst im Zeitalter der französischen Revolution, in: HZ 148 (1933), S. 248-276; Gunther Erich Rothenberg: The Origins, Causes, and Extension of the Wars of the French Revolution and Napoleon, in: JIH 18 (1987/88), S. 771-793; John ^ / T h o m a s W. Collier. Revolutionary War, in: Paret (Hrsg.): Makers, S. 815-862; Frank Attar. La Revolution fran^aise declare la guerre ä l'Europe, Brüssel 1992; Timothy Blanning: The French Revolutionary Wars 17871802, London 1996; zu Krieg und Revolution vgl. Peter Paret: Internal War and Pacification. The Vendee, 1789-1796, Princeton 1961; Jacques Godechot: L'Influence de la guerre sur la Revolution, in: Eberhard Schmitt!Rolf Reichardt (Hrsg.): Die Französische Revolution - zufalliges oder notwendiges Ereignis?, Bd. 1, München 1983, S.3-21; Siegfried Fiedler. Kriegswesen und Kriegführung im Zeitalter der Revolutionskriege, Koblenz 1988; Elisabeth Fehrenbach: Die Ideologisierung des Krieges und die Radikalisierung der Französischen Revolution, in: Langewiesche (Hrsg.): Revolution, S. 5 7 66; Hartmut Bock: Bürgerliche Revolution - mit oder ohne Krieg? Fortschrittsaltemati-

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ten diesen Prozeß wie in einem Brennglas. Hielt Abbe Sieyes 1789 noch am Militär als einem primär nach außen gerichteten Machtinstrument, als einem „pouvoir exterieur" fest, der unter keinen Umständen gegen die Bürger eines Staates eingesetzt werden dürfe, so verriet die Karriere der von Merlin de Thionville erfundenen Formel „guerre aux rois, paix aux nations" eine nach innen gewandte und Sozialrevolutionäre Argumentationsrichtung. 61 ) Hinter diesen Positionen zeichneten sich Staatenkrieg und Bürgerkrieg als Deutungskategorien ab. Thionville ging wie viele von der Vorstellungswelt der Aufklärung beeinflußte Anhänger der Revolution davon aus, daß ein allgemeiner Friedenszustand der Menschheit nur dann erreicht werden könne, wenn die unter Despotismusverdacht stehenden Monarchien beseitigt würden. Der Kampf gegen die strukturellen Ursachen des Krieges knüpfte argumentativ an Elemente des aufgeklärten Kriegsdiskurses an, hob sie aber vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse auf eine veränderte Wahrnehmungs- und Wirkungsebene.62) Von der Erfahrung kollektiver Gewalt zur imaginierten Handlungseinheit der nation courageuse Die im Juli und August 1789 kulminierenden Ereignisse standen fur eine veränderte Qualität kollektiver Gewalterfahrung, die sich neuartiger Foren und Medien bediente, was vor allem fur die städtischen Revolutionsbewegungen und die Ereignisse auf dem Land galt. Im Wandel des Gewaltbegriffs und seiner Rechtfertigung wurden zahlreiche Argumente entwickelt, die nach 1792 in der Situation der äußeren Bedrohung wieder aufgegriffen und radikalisiert werden konnten. Die kollektive Gewalterfahrung, die fur den nationalen Bellizismus der Französischen Revolution so wichtig werden sollte, begann also keinesfalls erst 1791/92.63) In den Deutungen revolutionärer Gewaltausbrüche überwog zu Beginn der Revolution das Bild des citoyen als Ausweis bürgerlichen Gleichheit, die sich in der Wahrnehmung einer gewaltbereiten Handlungseinheit des dritten Standes manifestierte. Aus der Anschauung der bewaff-

ven 1792, in: H. Timmermann (Hrsg.): Die Französische Revolution und Europa, 17891799, Saarbrücken 1989, S.65-86; Hans Ulrich Thamer: ,Freiheit oder Tod'. Zur Heroisierung und Ästhetisierung von Krieg und Gewalt in der Ikonographie der Französischen Revolution, in: Kunisch/Münkler (Hrsg.): Wiedergeburt, S.75-91; Wolfgang Kruse: ,Vivre libre ou mourir!' Zur kriegerischen Formierung der bürgerlichen Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution, 1789-1799, in: Michael Grüttner (Hrsg.): Geschichte und Emanzipation, FS. für Reinhard Rürup, Frankfurt/M. 1999, S. 163-188, sowie Kruse'. Erfindung, passim. 61 ) Art. 13 des Entwurfs zur Declaration des droits de l'homme et du citoyen, zitiert nach: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 1, S. 362, sowie Η. A. GötzBernstein: La Diplomatie de la Gironde, Paris 1912, S. 61. 62 ) Vgl. Kapitel III.l.a). 63 ) Vgl. Michel Vovelle: Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, Frankfurt/M. 1985, S.98ff.

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neten Menge ergab sich eine besondere Verheißung an die nation courageuse.64) Die imaginierte Einheit der Nation stand hier für eine aus der Gewaltanwendung hervorgegangene Handlungsgemeinschaft, in der sozialständische Unterschiede situativ an Wirkung einzubüßen schienen. Die Revolutions de Paris berichteten in ihrer ersten Ausgabe über die Journees vom 12. bis 17. Juli 1789 und fragten euphorisch: „De vils courtisans ... pourroient-ils done etre vainqueurs contre les legions de citoyens...? Ne craignez point, nation courageuse; intrepides citoyens, la liberie vous attend ... Cent mille citoyens ce jour lä [17. Juli 1789, J.L.] portoient les armes dans la capitale ... Gardes frangaises, milices bourgeoises... tous etoient confondus, meles, sans distinctions; tous etaient amis; tous etaient citoyens ... les rangs n'existoient plus, tous etaient egaux".65) Mit der Einrichtung der Nationalgarde auf Vorschlag La Fayettes vom 16. Juli 1789 und der Assemble Generale des Electeurs zeichnete sich eine Institutionalisierung der revolutionären Gewalt unter bürgerlichen Vorzeichen ab.66) Das Dekret vom 6. Dezember präzisierte den besonderen Charakter der gardes nationales als Selbstorganisation gleicher Bürger: „[Elles] ne forment ni un corps militaire ni une institution dans l'Etat; ce sont les citoyens eux-memes appeles au service de la force publique".67) In diesem innenpolitischen Kontext standen zunächst auch die Bezeichnungen soldat citoyen und soldat national, mit denen unter dem Eindruck der Ereignisse ganz bewußt die vor 1789 kritisierte Kluft zwischen Militär und Gesellschaft überbrückt und in eine funktionale Einheit verwandelt werden sollte. Nach 1792 konnte man in einem veränderten Kontext auf Begriffe zurückgreifen, deren Ursprünge im bellizistischen Diskurs vor 1789 lagen und nun das gewachsene Bedürfnis reflek64

) Vgl. P. Sagnac: L'idee de la nation en France (1788-1789), in: Revue d'histoire politique et constitutionnelle 1 (1937), S. 158-163; R. R. Palmer: The National Idea in France before the Revolution, in: JHI 1 (1940), S. 95-111, sowie B. Hyslop: French Nationalism in 1789, according to the General Cahiers, New York 1934, 2. Aufl. 1968. 65 ) Revolutions de Paris, Nr. 1,12.-17. Juli 1789, S. 5 und 32; vgl. Pierce Retat: CitoyenSujet, Civisme, in: Reichardt/Schmitt/Lüsebrink (Hrsg.): Handbuch, Heft 9, 1988, S. 75-105, hier S. 92. ") Vgl. P. J. Β. Buchez/P. C. Roux: Histoire parlementaire de la Revolution franijaise ou Journal des assemblies nationales depuis 1789 jusqu'en 1815,40 Bde., Paris 1834-38, hier: Bd. 2, S. 130; Reglement pour la fondation de l'Infanterie Nationale parisienne. Comite Militaire de la Ville de Paris, tit. I, art. II, 31. Juli 1789, S. 2; vgl. auch Dekrete, 14. Dezember 1789, 7. Januar, 2./3. Februar und 16. März 1790, in: J. B. Duvergier: Collection complete des lois, decrets, ordonnances, reglements, avis du Conseil d'Etat, 2. Aufl. Paris 1834ff. [Bd. 1-12: 1789-1799], hier: Bd. 1, S.63, 92 und 97; vgl. Georges Carrot: La Garde Nationale (1789-1871). Une Institution de la Nation. These pour le Doctorat, Universite de Nice (MS.), Nice 1979, sowie Lazare Hippolyte Sadi Carnot: Les Volontaires de la Cöte-d'Or en Campagne 1792-1796, Dijon 1942, S.43 und 49. 67 ) Zitiert nach: Ferdinand Brunot: Histoire de la Langue Franfaise des origines ä nos jours, Bd. 9/2: La Revolution et l'Empire. Les evenements, les institutions et la langue, Paris 1967, S.787f.

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges

tierten, sich von der armee du roi auch sprachlich zu distanzieren. 68 ) Wie verbreitet die Skepsis gegenüber dem Monarchen als Kriegsherr geworden war und wie sehr man um eine Orientierung der Armee an der Nation bemüht war, dokumentierte ein fingierter Dialog zwischen einem Bürger und einem Soldaten, der 1789 erschien. Zwar betonte der Verfasser darin noch die Notwendigkeit einer professionellen Streitkraft, „parce que la bravoure, le courage et Γ esprit patriotique ne suffisent point ä la longue, contre des Troupes aguerries et disciplinees", und er hielt auch an der Trennung zwischen dem Militär und den produktiven Gruppen der Gesellschaft fest, „parce qu'enfin tous les Citoyens ne pourroient abandonner leurs travaux sans detruire la societe". Aber diese Streitkraft aus rechtsgleichen Bürgern sollte der gesetzgebenden Gewalt und damit mittelbar der Nation unterstellt sein: „la Nation craignant que le Roi, trompe sur ses vrais interets, ne se servit un jour de ses Troupes pour opprimer les Citoyens, eile Γ a conjure de prevenir ces abus d'autorite, en mettant l'armee sous la dependance directe de la loi". Der Monarch erschien dagegen lediglich als „depositaire et dispensateur des tresors de la Nation, qui n'a pu le charger de Γ execution des lois, sans lui fournir en meme temps les moyens d'entretenir une force executrice". 69 ) Damit wurden Militär und Krieg potentiell aus dem persönlichen Einflußbereich des Monarchen gerückt, so daß Krieg und Militär auf das abstrakte Deutungsmuster der Nation ausgerichtet werden konnten. Auch in der politischen Diskussion des Jahres 1789 dominierte bald das Ideal der Einheit von Bürger und Soldat als Symbol der selbstbewußten Nation. Der spätere Kriegsminister und Militärreformer Dubois-Crance betonte bereits im Dezember 1789 vor der Assemblee nationale nicht allein die erkämpfte Freiheit als neues Fundament der Nation, sondern verwies auch auf die Bedrohung des Erreichten durch die europäischen Nachbarn. In dieser Situation könne allein die nach außen bewaffnete und kriegsbereite Nation die in der Revolution erkämpfte Freiheit garantieren: „dans une nation qui veut etre libre,

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) Vgl. Buchez/Roux: Histoire, Bd. 2, S. 99; Reglement pour la formation de l'lnfanterie Nationale parisienne. Comite militaire de la Ville de Paris, tit. I, art. Ill, 31. Juli 1789, S.2; Pierre Nicolas Chantreau: Dictionnaire national et anecdotique, pour servir ä l'intelligence des mots dont notre langue s'est enrichie depuis la Revolution, et ä la nouvelle signification qu'ont re?ue quelques anciens mots, enrichi d'une notice exacte et raisonnee des journaux, gazettes et feuilletons anterieurs ä cette epoque, avec un appendice contenant les mots qui vont cesser d'etre en usage, et qu'il est necessaire d'inserer dans nos archives pour l'intelligence de nos neveux, Politicopolis 1790, Artikel milice; vgl. auch Point du Jour, VI, Nr. 189,19. Januar 1790, S. 90; vgl. Samuel F. Scot: Foreign Mercenaries, Revolutionary War, and Citizen-Soldiers in the Late Eighteenth Century, in: War and Society 2/2 (1984), S. 40-58, sowie Hans-Jürgen Lüsebrink: Die Genese der ,Grande Nation'. Vom Soldat-Citoyen zur Idee des Empire, in: Ulrich Herrmann (Hrsg.): Volk-Nation-Vaterland, Hamburg 1996, S. 118-130. 69

) Dialogue entre un citoyen et un Soldat. Par Mr. T. D. M. Capitaine d'Artillerie. Gespräch zwischen einem Bürger und einem Soldaten. Von Hrn. T. D. M. Artilleriehauptmann, Paris [September] 1789, S.4, 7f. und 13.

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qui est entouree de voisins puissants, criblee de factions sourdes et ulcerees, tout citoyen doit etre soldat et tout soldat citoyen, sinon la France est arrivee au terme de son aneantissement".70) Dubois-Crance thematisierte über dieses Motiv des klassischen Republikanismus hinaus ein Partizipationsversprechen, das im Kontext der politischen Erwartungen am Ende des Jahres 1789 erhebliches Gewicht hatte: Der Verpflichtung des soldat zur Verteidigung des Vaterlandes entsprachen die politische Beteiligung des citoyen durch das Wahlrecht und seine rechtliche Gleichheit innerhalb der Nation. Dubois-Crance zog aus dieser Prämisse die Konsequenz einer allgemeinen Wehrpflicht ohne jede Exemption, weil diese dem Despotismus nutze: II faut done une conscription... le mode de cette conscription sera Tabus le plus condamnable du pouvoir arbitraire ou l'acte du patriotisme le plus eclaire ... II faut done une conscription vraiment nationale, qui comprenne la seconde tete de l'empire et le dernier citoyen actif. II faut que chaque homme, des que la patrie sera en danger, soit pret a marcher. Si vous tolerez une fois les avoues, les remplacements, tout est perdu; de proche en proche, tous les riches voudront se soustraire au service personnel et les pauvres resteront seuls charges de cette fonction, si noble pour un peuple libre ... le despotisme en profitera et vous redeviendrez esclaves ... La conscription militaire est la sauvegarde de la liberie, lorsqu'elle est ordonnee par la nation.71)

Dubois-Crance antizipierte eine erzieherische Funktion von Militär und Krieg, der er große Bedeutung beimaß. Von einer natürlichen und instinktiven Vaterlandsliebe, die keiner weiteren Reflexion bedurfte, unterschied er eine innere Beziehung zwischen dem soldat citoyen und den compatriotes. Partizipation und organische Gemeinschaft gleicher Bürger bildeten die Zielvorstellungen, esprit militaire und force publique sollten aufeinander bezogen werden. Der honneur der Franzosen war daher kein aristokratischer oder monarchischer Wert begriff mehr, sondern Ausweis des neuen Bewußtseins von einer selbstbestimmten Nation gleicher Bürger. Er artikulierte ein moralisch höherwertiges Gut, welches das Opfer des einzelnen rechtfertigte. Der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft war in dieser Projektion aufgehoben. Anders als der deutsche Söldner, der dem Befehl dessen gehorche, der ihn gekauft habe, kämpfe der französische Soldat fiir ein Ideal, mit dem er sich emotional identifiziere:

™) Edmond-Louis-Alexis Dubois de Crance: Rede vor der Assemblee nationale, 12. Dezember 1789, in: Th. lung: L'Armee et la revolution. Edmond-Louis-Alexis DuboisCrance, mousquetaire, constituant, conventionnel, general de division, ministre de la guerre 1747-1814, 2 Bde., Paris 1884, hier: Bd. 1, S. 15-29, hier: S. 18f., sowie Archives Parlementaires de 1787 ä 1860. Premiere serie (1787 ä 1799), 94 Bde., Paris 1867 ff., hier: Bd. 9; vgl. Edmond-Louis-Alexis Dubois de Crance: Memoire sur les moyens d'etablir des rapports entre les troupes soldees et les milices nationales, Paris 1789. 71 ) Ders.: Rede, S.22f. und 28 f.

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges

L'esprit militaire doit acquerir d'autant plus d'energie qu'il est guide par un patriotisme plus eclaire. Independamment de l'instinct naturel qui fait aimer ä l'homme sa patrie, si cet homme est considere dans son etat, s'il est environne des regards de ses proches, si son interet se trouve lie ä la force publique, si eile le protege et le nourrit, si, pour la service qu'il en retire, il ne sacrifie que la portion de sa liberie necessaire au maintien de l'ordre social, si, toujours ä portee de ses plus chers compatriotes, en temps de paix, il peut quelquefois partager leurs plaisirs et leurs sollicitudes, s'il cesse d'etre l'agent du despotisme et la terreur des bourgeois, cet homme doit devenir d'autant meilleur soldat qu'il conserve les droits et la qualite de citoyen. Cet etat est surtout celui qui convient au caractere franfais.72)

Zu Beginn der Revolution erschien der citoyen in zahlreichen Publikationen als Verkörperung klassisch-republikanischer Tugenden, indem er seine Eigeninteressen dem Gemeinwohl unterordnete und seine Opferbereitschaft für das Vaterland zeigte. Die Rollen von citoyen und soldat fielen in der Verteidigung der Nation zusammen, die durch den erfolgreichen Freiheitskampf gegen die Despotie für jeden einzelnen aufgewertet schien. Jean-Paul Marat forderte im Juli 1790 im Ami du Peuple entsprechend: „N'oubliez jamais que tout citoyen en etat de porter les armes est soldat ne de la patrie, qu'il doit etre arme pour la defense commune".73) Im Augenblick der Gefahr sollte die reguläre Armee durch Freiwilligenverbände dieser „soldats patriotes" unterstützt werden. Dabei verließ man sich nicht nur auf den seit dem Sommer 1789 erwiesenen „patriotisme" der städtischen Bevölkerung, sondern hob ausdrücklich auch den „ardeur des habitans des campagnes" hervor.74) Das Motiv der Opferbereitschaft bezog sich auch auf die Frau innerhalb der Bürgernation, die in idealisierenden Darstellungen des Jahres 1789 das Silber aus den Spitzen ihrer Kleider trennte, um ihrem Mann den Kauf der Uniform des soldat citoyen zu ermöglichen, und so zur citoyenne wurde. Dagegen blieb der auf seine Standesinteressen bedachte Klerus von dieser Teilhabe an der Nation ausgeschlossen. Die Egalitätsrhetorik der radikalen Revolutionäre ging noch einen Schritt weiter und gestand nur dem Soldaten, nicht aber dem Offizier, in dem man ein Symbol für das Ancien regime erkannte, die politische Qualität des Bürgers zu. Im Januar 1791 betonten die Annales patriotiques entsprechend: „Le soldat est citoyen, l'officier ne l'est pas, et ne peut l'etre".75) Solche Erwartungen blieben nicht unwidersprochen. Jacques de Guibert, der sich bereits in den 1770er Jahren mit

72

) Ders. ·. Observations sur la constitution militaire ou bases du travail, proposees au comite militaire, Paris 1789, in: lung: Armee, Bd. 1, S. 111-115, hier: S. 111 ff., sowie Archives Parlementaires, Premiere serie, Bd. 10, S.595. 73 ) Jean-Paul Marat zitiert nach: Ami du Peuple, Nr. 160, 12. Juli 1790; vgl. Retat: Citoyen-Sujet, S.92. 74 ) Plan de constitution, formation et organisation pour l'armee Belgique, avec des reflexions, presente ä la Nation en Janvier 1790, Brüssel 1790, S.55 und 76 f. 75 ) Revolutions des Paris, Nr. 9, 13. September 1789, S. 13 und 28, sowie Nr. 11, 27. September 1789, S.24; Annales patriotiques, Nr. 473, 18. Januar 1791, S.929; vgl. Retat: Citoyen-Sujet, S. 97 f.

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dem Problem von Militär und Gesellschaft auseinandergesetzt hatte, erkannte in einer armde citoyenne den Widerspruch zwischen politischen Freiheitsrechten und soldatischen Pflichten.76) Während Dubois-Crance pragmatisch die Sicherung der erkämpften Freiheit im Angesicht feindlicher Nachbarn verlangte,77) konnten radikalere Zeitgenossen die Forderung nach dem Opfertod für das Vaterland bereits 1789 in die Nähe religiöser Motive stellen. Deren Wurzeln lagen in der sakralen Sphäre der Monarchie und ihrer in Frankreich besonders stark ausgeprägten nationalreligiösen Konnotation, die aber bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts immer weniger als überzeugendes Legitimationsreservoir wahrgenommen worden war. So konnte die religiöse Symbolsprache mit ihren suggestiven Motiven von Opfer und Erlösung auf neue politische Inhalte übertragen werden. 1789/90 wies Jacques Roux auf die mit dem Bürgereid verbundene Verpflichtung zur Verteidigung von nation, loi und roi hin. Dabei wurden Gewaltbereitschaft, Nation und Bürgerideal religiös codiert: „Car la religion est-elle autre chose qu'un commerce entre Dieu et les hommes? Or, ce n'est que par un devouement sans reserve ä la defense de la Nation, de la Loi et du Roi, ce n'est... que par l'exercice d'une ardente charite oü aboutissent toutes les bonnes ceuvres, les lois et les prophetes, que cette douce et naturelle relation entre la creature et l'auteur de ses jours, peut etre entretenue d'une maniere digne de la Majeste supreme".78) Obwohl der König in der Öffentlichkeit und in der Armee ausdrücklich noch als Teil des neuen nationalpatriotischen Selbstverständnisses angesehen wurde, verstärkten diese Vorstellungen die Kritik an den Aristokraten und ihrem vermeintlichen „patriotisme", den man mit dem Despotismus der absolutistischen Heere identifizierte und mit der „bravoure civique" und der „grande gloire" der Bürgersoldaten kontrastierte.79) Hinter solchen Äußerungen zeichnete sich auch eine bellizistische Grundeinstellung ab, die sich nicht nur nach 76

) Jacques de Guibert: De la Force publique consideree dans tous ses rapports, Paris 1790, wieder in: Ders.: Ecrits militaires 1772-1790. Essai general de tactique et Traite de la Force Publique. Preface et notes du general Menard, Paris 1977, S. 243-302, hier: S.247 und 259; vgl. Kapitel III.l.a). 7? ) Edmond-Louis-Alexis Dubois de Crance: Discours sur la force publique, Paris 1790 und Ders.\ Suite de discours sur la force publique, Paris 1790, in: lung·. Armee, Bd. 1, S. 143-145; vgl. Edmond-Louis-Alexis Dubois de Crance: Nouvelles observations sur la constitution militaire, sur ses rapports avec la defense du dehors, la liberte interieure, l'egalite des droits et Γ incorporation des milices, suivies d'un plan d'organisation, compare avec celui de M. de la Tour-du-Pin, Paris 1790. 7S ) Jacques Roux: Triomphe des braves Parisiens (1789/90), in: Ders.: Scripta et Acta, hrsg. von Walter Markov: Berlin 1969, Nr. 2, S. 17. 79 ) Vgl. Motion qu'un soldat-citoyen se propose de faire ä l'assemblee de son bataillon, Paris 1790, S.2f.; vgl. Adresse des volontaires de l'armee Belgique aux habitans de la ville et province de Luxembourg, Brügge [Januar] 1790, S. 2 f.; La Maison du Roi justifiee, avec des observations sur chacun des departemens qui la composent. Par un soldatcitoyen, Versailles 1789, S. V, sowie Lettre aux bataillons de l'armee de la revolution, par un soldat-citoyen, Paris 1790, S. 1 und 4 f.

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innen richtete, sondern bereits einen Krieg im Namen der Freiheit in Aussicht nahm: „Apres une glorieuse Campagne, au sein de vos concitoyens, vous recevrez la recompense due ä vos services ... vous vous entendrez nommer les defenseurs de la liberie. Ce sont les voeux que nous formons pour vous, la raeme cause nous anime, c'est l'amour de la patrie".80) Dabei kam der Rolle Frankreichs als Vorreiterin des universellen Freiheitskampfes in der Welt besonderes Gewicht zu, ließ sich hier doch eine universelle Mission der seit 1789 selbstbestimmten Nation artikulieren: „Quelle Ιβςοη pour les despotes, quelle consolation pour les peuples infortunes, quand nous leur apprendrons que la premiere nation de l'Europe ... nous a donne le signal du bonheur de la France et des deux mondes".81) La Nation veut, le Roi execute: Die Prärogative der Kriegsentscheidung als Ausweis der selbstbestimmten Nation im Verfassungsdiskurs von 1790/91 Zu einer ersten großen Auseinandersetzung um die Deutung zukünftiger Kriege kam es im Zusammenhang der Debatten um die künftige Verfassung. Den Anlaß hierzu bot die Frage, welcher Institution das Recht zukommen sollte, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Die Wahrnehmung dieser Prärogative war im Ancien regime ein Ausweis des absoluten Herrschaftsanspruches des Monarchen gewesen, und aus ihm hatte sich das Ideal des roi connetable in der Mischung aus zentraler Machtautonomie, persönlicher Autorität und Symbolisierung der patrie im Krieg entwickelt. Hinter der Entscheidung über Krieg und Frieden stand insofern die Frage nach dem Charakter zukünftiger Kriege, denn erst die Durchsetzung des monarchischen Herrschaftsanspruches hatte die mittelalterlichen Privatkriege und die frühneuzeitlichen Bürgerkriege überwunden. So wie der Fürst die Souveränität des Staates nach innen und außen verkörpert hatte, war der Krieg zum äußeren Konflikt zwischen Staaten, Monarchen und Dynastien geworden. Dieses Paradigma stand nach dem Umbruch von 1789 zur Disposition. Argumentativer Ausgangspunkt war das verbreitete Bekenntnis zur Friedensgesinnung des revolutionären Frankreich im Gegensatz zur monarchischen Kriegsdisposition und den Staatenkriegen absolutistischer Regime, die als prinzipiell „agressif' wahrgenommen wurden.82) Be80

) Exercice et Manoeuvres d'Infanterie dediees aux volontaires patriotiques des provinces Belgiques, ou Methode pour apprendre en peu de tems l'exercice & le commandement, & ä rendre les honneurs aux Chefs, sans le secours d'aucun Maitre, revue & corrigee par un Officier superieur, Brüssel 1790, Vorwort des Herausgebers, S.2; vgl. Reponse d'un grenadier volontaire ä la lettre adressee aux soixante bataillons de l'armee parisienne, sur la necessite de se preparer ä la guerre contre les ennemis du dehors, o.O. [ca. 1790], 81 ) Anacharsis Clootz: Rede vor der Assemblee Constituante, 19. Juni 1790, zitiert nach: Robinet: Le Mouvement religieux ä Paris pendant la Revolution, Bd. 1, Paris 1896, S.515; vgl. Georges Goyau: L'Idee de patrie et l'humanitarisme. Essai d'histoire fran?aise 1866-1901, Paris 1902, S.4. 82 ) Zitiert nach: Brunol: Histoire, Bd. 9/2, S. 917.

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reits in den Cahiers de doleances hatten sich zahlreiche Autoren gegen das königliche Recht der Entscheidung über Krieg und Frieden gewandt: „La nation ne consentira aucun impöt pour une guerre offensive, qu'autant que les Etats Generaux l'auront juge necessaire". Der erfolgreiche Kampf für die politische Freiheit schien die Nation gegen jeden möglichen Angriff von außen immunisiert zu haben, die politisch befreite Nation konnte nur defensiv eingestellt sein. Enthusiastisch führte Carat 1790 aus: „En devenant libre, la France est devenue invincible et inattaquable ä ses voisins; eile doit etre, par cette meme raison, ,inoffensible' pour eux".83) In der Nationalversammlung selbst zeigte sich zunächst noch der beherrschende Einfluß des naturrechtlichen bellum-iustum-ΫΆradigmas, und entsprechend konventionell fielen die Argumente für die Legitimität des Verteidigungskrieges aus.84) Die Debatte unterstrich aber, wie sich an der Frage des Krieges unterschiedliche Vorstellungen vom Gewicht der Nation gegenüber der Monarchie entwickelten. Einerseits betonte man, das Recht der Entscheidung über Krieg und Frieden stehe dem König zu, weil nur so eine adäquate Reaktion auf einen Angriff von außen gewährleistet sei und eine Rücksichtnahme auf die Wünsche der Nation die notwendige Einheitlichkeit staatlicher Handlungen beeinträchtige. Nur der Monarch als Zentrum der Herrschaftsausübung könne die Sicherheit des Staates garantieren: „la sürete de l'Etat le veut ainsi. C'est que la defense ne peut pas etre trop prompte: c'est avec la vitesse de l'aigle & la force du lion que l'ennemi doit etre repousse".85) Der Marquis d'Estourmel betonte, die Funktion des Königs als „Roi des Fran901s" und Oberhaupt der Legislative werde sinnlos, wenn man ihm diese Entscheidungsbefugnis nehme. Hinzu kam die Angst vor einer aufgrund politischer Fraktionierungen und Intrigen unberechenbar gewordenen Nationalversammlung, der man eine so weitreichende Entscheidung nicht zukommen lassen wollte.86)

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) Tiers de Mäcon in den Cahiers de doleances, zitiert nach: Charles-Louis Chassin: L'Armee et la Revolution. La paix et la guerre, l'enrölement volontaire, la levee en masse, la conscription, Paris 1867, S.38, sowie Francis-Alphonse Aulard: La Societe des Jacobins, 6 Bde., Paris 1889-97, hier: Bd.2, S.243. 84 ) Vgl. Rede des Herzogs von Levis vor der Assemblee Nationale, 16. Mai 1790, in: Archives Parlementaires, Premiere serie, Bd. 15, 1883, S. 526; vgl. auch Volney: Rede, 18. Mai 1790, in: ebd., S.576. 85 ) Question Importante de la Constitution. Qui de la Nation ou du Roi doit etre l'arbitre de la guerre? [Paris 1790], S.4f. 86 ) [d'Estourmel] Opinion de M. Le Marquis d'Estourmel, Depute du Cambresis, sur la question de savoir si la Nation doit deleguer au Roi le Droit de Guerre & de Paix, prononcee dans la Seance du 22 Mai 1790 [Paris 1790], S. 3; vgl. [M. du Quesnoi] Opinion de M. du Quesnoi, Depute du Departement de la Moselle. Sur cette question constitutionnelle: ,La Nation doit-elle deleguer au Roi l'exercice du droit de la Paix et de la Guerre', prononce a la Seance du 22 Mai 1790, a 10 heures du matin [Paris 1790], S.9.

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges

Andererseits wandten sich nicht wenige Mitglieder der Versammlung entschieden gegen die „tyrannie ministerielle", welche die zahlreichen Kriege der Vergangenheit zu verantworten habe, und antizipierten in der friedlichen Solidarität aller Völker die Überwindung des monarchischen Bellizismus. 87 ) Schließlich ließen sich auch Argumente anfuhren, die aus einer Neuinterpretation des Naturrechts abgeleitet wurden: Der Offensivkrieg sei überhaupt kein Recht, das man delegieren könne, sondern Folge eines Machtmißbrauchs, während ein Verteidigungskrieg gegen die Unterdrückung ein Naturrecht der freien Nation darstelle, das sie nicht an einen Monarchen delegieren könne. Der Krieg wurde so zum Ergebnis eines in der Nation begründeten voluntaristischen Prinzips, während dem König nur noch die Umsetzung dieses nationalen Kriegswillens zukam: „La Nation veut, le Roi execute. Si la Nation veut et execute, il y a anarchie. Si le Roi veut et execute, il y a despotisme".88) Die Dominanz solcher Argumente trat zurück, als Graf Mirabeau seinen Verfassungsentwurf für eine konstitutionelle Monarchie einbrachte. Krieg und Frieden seien grundsätzlich „actes de souverainete, qui n'appartiennent qu'ä la nation". Die Rückbindung der Entscheidung an die Nation als Souverän bedeutete praktisch die Delegation der Entscheidung an die Repräsentanten der Nation. Regierung und Monarch waren in dieser Deutung nurmehr Exekutoren des Willens der Nation: Mais il ne s'agit pas du droit en lui-meme, il s'agit de la delegation. D'un cöte, quoique tous les preparatifs et toute la direction de la guerre et de la paix tiennent ä Taction du pouvoir executif, on ne peut pas se dissimuler que la declaration de la guerre et de la paix ne soit un acte de pure volonte; que toute hostilite, que tout traite de paix ne soit en quelque sort traductible par ces mots: moi, nation, je fais la guerre, je fais la paix; et deslors comment un seul homme, comment un roi, un ministre pourra-t-il etre l'organe de la volonte de tous? Comment l'executeur de la volonte generale pourra-t-il etre en meme tems l'organe de cette volonte? 89 ) 87

) Baillio [i.e. Montalbanois, volontaire de la Garde Nationale de Paris]: Les Mangeurs de Peuples au diable! Motion faite aux citoyens du Palais Royal, le 22 mai ä neuf heures et demie du soir, dans les tentes du cafe de Foi. Au sujet du Decret de l'Assemblee Nationale, qui porte que le Droit de decider de la paix ou de la guerre appartient ä la Nation, Paris 1790, S.2. 88 ) [Augustin-Felix-Elisabeth Barrin de la Galissonniere] Opinion de M. le Comte de la Galissonniere, Depute de l'Anjou ä l'Assemblee nationale, prononcee, le 20 mai 1790 ä l'ouverture de la seance, sur la question: Si la Nation doit deleguer au Roi, ou au Corps legislatif, l'exercice du droit de la guerre et de la paix, ainsi que celui de faire les traites d'alliance et de commerce, Paris 1790, S. 25 f. 89 ) Mercure de France und Mercure historique et politique de Bruxelles, Nr. 22,29. Mai 1790, S. 320-327 und ebd. Nr. 23,5. Juni 1790, S. 1 lf.; vgl. Alexandre Lameth: Examen d'un Ecrit intitule: Discours et Replique du Comte de Mirabeau ä l'Assemblee Nationale, dans les Seances des 20 et 22 Mai, sur cette Question: A qui la Nation doit-elle deleguer le droit de la Paix & de la Guerre? avec une Lettre d'envoi ä MM. les Administrateurs des Departemens, Paris 1790; [Lafayette] Opinion de Μ. de Lafayette dans la seance d'aujourd'hui, 22 Mai 1790 [Paris 1790], S.2; vgl. als weitere Beiträge die Reden von D Aiguillon, 16. Mai 1790, in: Francis Furet/Ran ΗαΙένί (Hrsg.): Orateurs de

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In diesem Zusammenhang unterschied Mirabeau zwischen „guerres nationales" und „guerres anti-nationales", die sich der volonte generale der Nation und dem monarchischen Willen zuordnen ließen. In Mirabeaus Entwurf wurden die Legislative und der König als Inhaber der „direction de la force publique" gemeinsam eingebunden, auch wenn die Legislative als Ausdruck des Willens der Nation den Entscheidungsprozeß bestimmte. 90 ) So sollten „guerres anti-nationales" im Sinne monarchischer Staatenkriege des Ancien regime ausgeschlossen werden: „Le roi, dit-on, pourra faire des guerres injustes, des guerres anti-nationales. Mais une telle objection ne sauroit s'adresser ä moi qui ne veut accorder au roi qu'un simple concours dans l'exercice du droit de la guerre; et comment dans mon systeme pourroit-il y avoir des guerres anti-nationales ... l'interet de la Nation est que toute hostilite soit repoussee par celui qui a la direction de la force publique". Das am 22. Mai 1790 von der Nationalversammlung verabschiedete Dekret formulierte gemäß der Souveränität der Nation den Primat der Legislative, band aber den Monarchen mit ein und entsprach damit dem Kompromißcharakter der konstitutionellen Monarchie. So bestimmte der erste Artikel: „Le droit de la paix et de la guerre appartient ä la nation. La guerre ne pourra etre decidee que par un decret de l'assemblee nationale, qui sera rendu sur la proposition formelle et necessaire du roi, et qui sera sanctionne par lui". Artikel sechs präzisierte: „Toute declaration de guerre sera faite en ces termes: De la part du roi des Francois et au nom de la nation". Mirabeau wies ausdrücklich auf die Gefahr hin, das Recht der Kriegserklärung einseitig politischen Versammlungen zuzugestehen, die unter dem Einfluß politischer Leidenschaften entscheiden könnten.91) Das Ergebnis bedeutete verfassungsrechtlich den ersten Schritt im Übergang vom überkommenen Monarchen- und Staatenkrieg als einem agonalen Rechtskonflikt zur guerre nationale, die für neuartige ideologische Motive und Ziele offen war. Ganz in der Tradition der aufgeklärten Kritik an den Kriegen absolutistischer Despoten verzichtete die „nation franfaise" im Text der Verfassung ausdrücklich darauf, „entreprende aucune guerre dans la vue de faire des conquetes", Truppen würden niemals „contre la liberie d'aucun peuple" eingesetzt. la Revolution fran^aise, Bd. 1: Les Constituante, Paris 1989, S. 5 f.; Malouef. 17. Mai. 1790, in: ebd., S. 467^75; Clermont-Tonnerre: 18. Mai 1790, in: ebd., S. 255-267; Maury: 18. Mai 1790, in: ebd., S. 559-590; Boisgelin: 21. Mai 1790, in: ebd., S. 171187; Cazales: 21. Mai 1790, in: ebd., S.209-214; Barnave: 21. Mai 1790 und 22. Mai 1790, in: ebd., S. 17-27 und S.27f.; Le Chapelier: 22. Mai 1790, in: ebd., S.412-^15; Mirabeau: 20. Mai 1790 und 22. Mai 1790, in: ebd., S. 732-756 und S. 756-768. 90 ) [Graf Mirabeau] Discours et Replique du Comte de Mirabeau ä l'Assemblee Nationale, dans les Seances des 20 et 22 Mai, sur cette question: A qui la Nation doit-elle deleguer le droit de la paix et de la guerre. Avec une Lettre d'envoi ä Messieurs les Administrateurs des Departements, Paris 1790, Vorwort, o.S. 91 ) Mirabeau, in: Mercure de France, Nr. 23, 5. Juni 1790, S.21 f., sowie [Ders.] Discours de Μ. de Mirabeau, Adresse aux Administrateurs des Departements, in: Lameth: Examen, S. 17-79 (jeweils auf den ungeraden Seitenzahlen), hier: S.49 und 51.

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges

Dies band die Kriegführung an moralische Kriterien, die das europäische Völkerrecht in seiner seit den frühneuzeitlichen Bürgerkriegen entwickelten Formalisierung des ius ad bellum so nicht gekannt hatte. 92 ) Obwohl die Verfassung von 1791 nur Frankreich selbst betraf, formulierte sie auch einen Wendepunkt in europäischer Perspektive, denn mit dem Scheitern der konstitutionellen Monarchie, der Radikalisierung der Revolution und dem Ausbruch des Krieges sollte dieser Anspruch weit über Frankreich hinaus getragen werden. Hier traf er auf die naturrechtliche Begründung des Krieges als Verteidigung gegen äußere Angriffe mit dem Ziel der Wiederherstellung eines europäischen Mächtegleichgewichts. So berief sich der Herzog von Braunschweig bei seiner Forderung nach Unterwerfung der Franzosen auf die Grundsätze des „Natur- und Völkerrechts". Der König von Preußen rechtfertigte seine Kriegserklärung durch Hinweis auf die Abwehr der aus einem „funeste esprit d'insubordination" hervorgehenden Risiken für Frankreich und das gesamte „equilibre de l'Europe". 93 ) Die Ideologisierung des Krieges im Namen der revolutionären Nation traf auf die überkommene Tradition des europäischen Völkerrechts. La nation sans-culotte? Vom revolutionären Patriotismus zur antizipierten Universalisierung des Bürgerkriegsmodells bis 1792 Hatte der Verfassungstext des Jahres 1791 im Bürgereid noch den inneren Zusammenhang von nation, loi und roi betont, so zerbrach diese Kompromißformel in der Krise der konstitutionellen Monarchie. Während die Royalisten den Nationskult auf das äußerste bekämpften, wandte sich die radikale Presse gegen jedes Gebot der Loyalität gegenüber dem König, und der Ami du Peuple polemisierte gegen das Prinzip der Repräsentation des Volkes durch angeblich korrupte Abgeordnete. Hinter den politischen Fraktionen zeichnete sich eine tiefgreifende Spaltung der französischen Gesellschaft ab. Zugleich traten Girondins und Montagnards mit dem Anspruch auf, allein den Willen der Gesamtnation auszudrücken. Robespierres Folgerung, die terreur als Emanation der Tugend der Nation einzusetzen, um die Gesellschaft nach Grundsätzen politischer Moral zu nationalisieren, stand in diesem Zusammenhang. 94 ) Vor diesem Hintergrund bedeutete die sich abzeichnende Konfrontation mit dem gegenrevolutionären Europa eine Verschärfung der innenpolitischen Krise, die seit dem Scheitern der konstitutionellen Monarchie offenkundig geworden war. 92

) Constitution Franfaise, 3. September 1791, zitiert nach: Günther Franz (Hrsg.): Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung, 2. Aufl. 1964, S. 366; vgl. Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Grundbegriffe, Bd. 7, S. 121 ff., sowie Kapitel II.3.a). 93 ) Karl Wilhelm Ferdinand: Herzog von Braunschweig: Manifest an die Bewohner Frankreichs vom 25. Juli 1792, zitiert nach: Claus Träger (Hrsg.): Mainz zwischen Rot und Schwarz, Berlin 1963, S.95, sowie Expose succinct des raisons qui ont determine Sa Majeste le Roi de Prusse ä prendre les armes contre la France, 26. Juni 1792, in: Johann August Reuss: Teutsche Staatscanceley, Bd. 36, Berlin 1793, S.237f. 94 ) Vgl. Fehrenbach·. Nation, S. 100ff.

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Die städtischen Unterschichten, deren Ideal in der nation sans-culotte lag, drängte nun auf eine konsequente Ausweitung der rechtlichen und politischen Partizipationsrechte innerhalb der Nation. Damit veränderte sich das der Verfassung zugrundeliegende Idealbild des citoyem Hatte die Zensusverfassung von 1791 noch den Aktivbürger in den Mittelpunkt gestellt, übernahm seit der Einfuhrung des allgemeinen Wahlrechts und der allgemeinen Wehrpflicht der kämpfende patriot diese Rolle.95) Im Kontext des Krieges, der den Konflikt um die legitime Teilhabe an der Nation katalysierte, wurde diese durch Ausschlußprinzipien neu bestimmt. Führten die Ereignisse der Jahre 1789 bis 1791 zur Ausgrenzung der eidverweigernden Priester und Aristokraten aus der nationalen Gemeinschaft, so wurde nach Beginn des Krieges 1792 der neue Nationsbegriff auf den petitpeuple eingeschränkt, also die Masse der städtischen Lohnarbeiter, Handwerker, Gesellen und kleinen Geschäftsleute unter Ausschluß von Großhändlern und Unternehmern. Dieses sozial-ökonomische Kriterium wurde schließlich noch um ein ideologisches Merkmal erweitert, durch das die suspects, denen man ein fehlendes Bekenntnis zur Revolution vorwarf, von der revolutionären Nation ausgeschlossen wurden. Auch wenn die Jakobinerführung ein offenes Bekenntnis zur nation sans-culotte vermied, schuf die äußere Bedrohung einen Kontext, in dem sich soziale Spannungen und politische Konflikte zunächst ableiten und kanalisieren ließen, indem man propagandistisch die innerlich geeinte Nation im Kampf gegen den äußeren Feind thematisierte. In dieser Interpretation verwandelte sich der Konflikt vom Staatenkrieg in der Tradition des Ancien regime zum revolutionären Bürgerkrieg. In der Wendung gegen die äußeren Feinde wurden innere Spannungen internationalisiert und die Trennung zwischen äußerer und innerer Politik aufgehoben. Diese ideologische Rechtfertigung offenbarte zugleich das Potential möglicher Eroberungen im Namen der revolutionären Mission. Solche Argumente waren kein Ergebnis des Krieges, sondern entwickelten sich bereits vor dem Frühjahr 1792. Blickten gemäßigte Konstitutionelle im Sommer 1791 noch auf den König als Garanten von Frieden und Stabilität in Europa,96) vertrat die Zeitschrift Revolutions de Paris bereits die Idee einer universellen Republik aller freien Völker und wurde so zum Sprachrohr der expansiven Revolution. Dem Despotismus der Fürsten hielt man die Solidarität aller unterdrückten Völker entgegen, zu der sich die französische Nation verpflichtet fühle. Frankreich wurde zu einem über sich selbst hinausweisenden Modell der revolutionären Befreiung europäischer Völker: „La trompette du jugement dernier s'est fait entendre aux quatre coins de l'Europe. Du fond de la tombe de la servitude, les hommes l'ont entendue: ils se reveillent... Les voilä tous qui 95

) Vgl. La nation sans-culotte, Paris [1791], sowie Le patriotisme epure ou le soldat vrai patriote parlant au peuple, o.O. 1791. 96 ) Vgl. Charles-Joseph Panckoucke: Projet d'une adresse au Roi, tendant ä ramener le calme et la paix, ä empecher la guerre et ä retablir Louis XVI dans l'esprit de la nation, Paris 1791, S. 6.

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tournent leurs regards vers la France, d'oü est parti le bruit qui les a reveilles ... II ne s'agit plus maintenant de guerre de nation ä nation. Puisque les rois ont toujours ete d'accord pour despotiser les peuples; les peuples sont maintenant d'accord pour detröniser les rois".97) Diese Radikalisierung stand unmittelbar im Kontext des gescheiterten Fluchtversuchs Ludwigs XVI. Damit verschärfte sich nicht nur die Krise zwischen der Monarchie und der politischen Bewegung vom Sommer 1789, vielmehr zeigte der König selbst, wie wenig er an die Tragfähigkeit des konstitutionellen Kompromisses glaubte. Als Reaktion auf die Verhaftung Ludwigs regte Friedrich Wilhelm II. von Preußen im August 1791 ein gemeinsames Vorgehen mit Österreich an. Die Erklärung von Pillnitz betonte das gemeinsame Interesse aller europäischen Monarchen an einer vollständigen Wiederherstellung der monarchischen Regierung in Frankreich, auch wenn dies den Einsatz militärischer Gewalt notwendig mache. Die Regierungen konnten zu diesem Zeitpunkt und auch ein Jahr später im Manifest des Herzogs von Braunschweig kaum die Tragweite der Ereignisse in Frankreich abschätzen. Die Wahrnehmung der Erklärung von Pillnitz, von dem emigrierten Bruder Ludwigs XVI., dem Grafen von Artois, als Ultimatum ausgelegt, wirkte in Frankreich wie ein Katalysator für die politische Radikalisierung. Ab Oktober 1791 begannen die Vertreter der Gironde mit ihrer gezielten Propaganda für einen Krieg, und bellizistische Argumente traten immer mehr in den Vordergrund.98) Eine positive Einstellung zum Krieg und seine Bewertung als notwendiges Instrument des politischen Freiheitskampfes zeichneten sich also bereits vor Ausbruch der Kämpfe im Frühjahr 1792 ab. Schon im Sommer 1789 hatte man von Fahnenweihen in mehreren revolutionären Distrikten von Paris berichtet und diese als 97

) Revolutions de Paris, Bd. 8, Nr.93, 14. bis 21. Mai 1791, S.269ff., sowie Alphonse Aulard: Histoire politique de la revolution franfaise. Origine et developpement de la democratic et de la republique (1789-1804), 2. Aufl. Paris 1903, S. 111 f.; vgl. L'esprit du vrai patriotisme. Avis aux Polonais, Hamburg 1791. 98 ) Vgl. Elisabeth Fehrenbach. Vom Ancien Regime zum Wiener Kongreß, München 1981, S.41 f.; Frank L. Kidner: The Girondists and the propaganda War' 1792. Α ReEvaluation of French Revolutionary Foreign Policy from 1791 to 1793, Ph.D. Princeton 1971, sowie Michael Hochedlinger. ,La cause de tous les maux de la France'. Die , Austrophobie' im revolutionären Frankreich und der Sturz des Königtums 1789-1792, in: Francia 24/2 (1997), S. 73-120; vgl. Pierre-Louis Roederer: Discours sur la question de la guerre, Paris 1791; Jacques Pierre Brissot: Discours sur la necessite de faire la guerre aux princes allemands qui protegent les emigres, presente ä la Societe des amis de la Constitution, Paris 1791; Ders.: Second discours sur la necessite de faire la guerre aux princes allemands qui protegent les emigres, presente ä la Societe des amis de la Constitution, Paris 1792; Jacques Nicolas Billaud-Varenne: Discours sur la guerre, presente ä la Societe des amis de la Constitution, Paris 1792; Ders.: Discours sur cette question: Comment doit-on faire la guerre, au cas oü il faille la declarer?, presente ä la Societe des amis de la Constitution, Paris 1792; Louis Pierre Manuel: Discours sur la guerre. Prononce aux Amis de la Constitution, Paris [1792], sowie Bancal des Issart: Discours sur la guerre, Paris 1792.

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„spectacle d'une fete guerriere" beschrieben.99) Hier erschien die Gewalt nicht allein als legitimes Mittel, um der Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen, sie wurde zu einer heroischen Notwendigkeit, um die Mission Frankreichs zu verwirklichen, allen unterdrückten Völkern die Freiheit zu bringen. Ein revolutionärer Ausgriff ging mit der Verherrlichung der Gewalt im Namen der fortschrittlichen Revolution einher. Sobald sich in Frankreich die inneren Konflikte zwischen Revolution und Gegenrevolution zuspitzten, Nachrichten über drohende Verschwörungen von Emigranten und anderen europäischen Mächten eingingen und sich der Widerstand des Königs gegen die Verfassung offenbarte, erschien ein Krieg für die radikalen Revolutionäre als offensive Verteidigung des Erreichten. Nach innen verlängerte der äußere Konflikt eine kollektive grande peur und trug dazu bei, eine revolutionäre Erwartungshaltung aufrechtzuerhalten, ohne die die Radikalisierung der Revolution nach 1791 nicht zu erklären ist. Mit den Ereignissen im Sommer 1791 spitzte sich diese Konstellation aus steigenden Erwartungen an die Revolution bei wachsendem Mißtrauen gegenüber dem König zu und ließ die inneren und äußeren Konfliktlagen als miteinander verbunden erscheinen. Die ab Oktober einsetzende Kriegspropaganda der radikalen Revolutionäre um Brissot war eine der Konsequenzen dieser Entwicklung. Ideologisch konnte man nun von einem Krieg für die Verbreitung der Freiheit sprechen, durch den die Ergebnisse der Revolution gesichert und die historische Mission Frankreichs erfüllt werde. In seiner Rede vom 16. Dezember 1791 führte Brissot aus, ein Volk, das nach zehn Jahrhunderten der Sklaverei die Freiheit errungen habe, müsse Krieg führen, um die Freiheit auf eine feste Basis zu stellen. Zur äußeren Sicherung der revolutionären Errungenschaften und zur inneren Festigung der Revolution sei der Krieg eine natürliche Reaktion. Die Verbindung von äußerer Sicherheit und innerer Selbstvergewisserung über die Errungenschaften der Revolution bis 1791 ließ sich am ehesten im Begriff des honneur der Nation konturieren, die nicht mehr der Monarch, sondern die in der Verfassung manifestierte neue politische Ordnung verkörperte.100) Gegen Brissots Kriegspropaganda wandte sich Robespierre in seiner zweiten Kriegsrede, die er am 2. Januar 1792 im Pariser Jakobinerclub hielt. Pragmatisch vom Standpunkt historischer Erfahrung aus argumentierend, spitzte er zunächst Brissots Position zu. Ein kriegerischer Export der Revolutionsprinzipien werde nicht zum Erfolg fuhren, weil die Reaktion auf den Krieg in den betroffenen Ländern, zumal im deutschen Südwesten, negativ sei. Illusionslos analysierte Robespierre die kriegerische Befreiungsrhetorik der RevoCourrier de Versailles ä Paris 35,11. August 1789, Bd. 2, S. 222, zitiert nach: Pierre Retat: Aux armes, citoyens! 1789 ou l'apprentissage de la guerre, in: Commentaire 1988/11, S. 526-533, hier: S. 527. 10 °) Rede Brissots, 16. Dezember 1791, in: Buchez/Roux: Histoire, Bd. 12, S. 409 ff.; vgl. Walter Markov: Revolution im Zeugenstand. Frankreich 1789-1799,2 Bde., Frankfurt/M. 1987, hier: Bd. 2, S. 198-200.

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lutionäre: Niemand liebe Sendboten in Waffen, und gerade in Süddeutschland werde eine solche Invasion die Erinnerung an die Verwüstungen von 1688 provozieren und weder den revolutionären Enthusiasmus noch die konstitutionellen Ideen befördern. Wo Brissot von der Ehre der französischen Nation sprach, entwickelte Robespierre die neuen revolutionären Wertbegriffe der Großmut, Klugheit, Freiheit, des Glücks und der Tugend, die für ihn das eigentlich Substrat der Revolution darstellten. Das wahre Koblenz liege in Frankreich, und ohne die Sicherung der Revolution gegen die ideologischen Gegner im Innern könne es keine Zukunft geben. Robespierre wies vielmehr auf die Gefahren des Krieges für die Revolution hin, denn so werde das Militär erneut von den Bürgern getrennt und dem Einfluß des blinden Gehorsams und des alten militärischen Geistes ausgesetzt, der unmerklich an die Stelle von Freiheitsliebe und Patriotismus trete. Der Krieg lenke das Volk von jenen politischen Beschlüssen ab, welche die Grundlagen der Freiheit beträfen.101) Gerade in dieser kontroversen Debatte zeigte sich der Umbruch der Kriegsdeutungen: Knüpfte Robespierre noch an Traditionen der Aufklärung an, popularisierte Brissot bereits die Vision der bellizistischen Nation mit der ihr eigenen Opfer- und Erlösungsrhetorik. Robespierre wandte sich mit dem Hinweis „Domptons nos ennemis interieurs et marchons ensuite contre nos ennemis" gegen die Idee einer Ausbreitung der Revolution.102) Brissot dagegen rechtfertigte den Krieg ausdrücklich als Möglichkeit, um die Revolution in ihrer Expansion umumkehrbar zu machen. Hinzu traten die Sozialrevolutionäre Bestimmung der liberti und ihre konsequente Universalisierung im religiösen Tonfall einer Erlösungserwartung. Die Erinnerung der Deutschen an die Zerstörungen der Pfalz unter Ludwig XIV. würde wettgemacht durch die Erfahrung eines Volkes, das für seine eigene und die Freiheit anderer Völker kämpfe: Des tyrans peuvent convertir les plus beaux pays en deserts: l'homme libre voudrait peupler, en un instant, les deserts d'hommes libres et heureux comme lui; la chaumiere est pour un homme libre plus respectable qu'un palais. Tels sont les principes qui dirigeront l'armee fran?aise ... lis feront oublier ces scenes affreuses du Palatinat qui ont souille, non pas la nation, mais le despotisme ministeriel. C'est alors que les Allemands verront la difference d'un peuple qui se bat pour la liberte, ä une armee qui soutient les fantaisies de quelques brigands couronnes ... Le moment est venu pour une autre croisade et eile a un objet bien plus noble, bien plus saint. C'est une croisade de liberte universelle.

101 ) Maximilien Robespierre: Zweite Rede gegen den Krieg, 2. Januar 1792, in: [Ders.] CEuvres de Maximilien Robespierre, 10 Bde., Paris 1912-67, hier: Bd. 7, S. 74-92; vgl. Markov: Revolution, Bd.2, S. 200-225, hier: S. 210, 216 und 218 f. 102 ) Societe des amis de la Constitution, seance aux Jacobins ä Paris. Discours de Μ. Robespierre prononce ä la Societe le 18 decembre, sur le parti que Γ Assemblee nationale doit prendre relativement ä la proposition de guerre annoncee par le pouvoir executif [Paris 1791]; vgl. Götz-Bernstein: Diplomatie, S. 54, sowie George Michon: Robespierre et la guerre revolutionnaire, Paris 1937.

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Von einem europäischen Krieg erwartete Brissot die Zerstörung der überkommenen Monarchien, so wie es in Frankreich geschehen war: „Ce n'est pas au patriotisme ä en craindre les suites; eile ne menace que les trönes".'03) Das nahm das wenig später von Merlin de Thionville formulierte Sozialrevolutionäre Paradigma „Guerre aux rois, paix aux nations!" vorweg. In seiner Zuspitzung „Guerre aux chateaux, paix aux chaumieres!" wurde dieses Motto der bellizistischen Revolution zu einem Signum der Epoche seit 1789 weit über Frankreich hinaus.,04) 1791 /92 spiegelte sich darin ein entscheidender Deutungsumbruch: Der universelle Krieg übernahm als ideologisch legitimierte Gewaltanwendung im Namen der freiheitlichen Nation den Erfahrungsgehalt des Bürgerkrieges. Als moralischer Kampf gegen das Ancien regime wurde er dabei auf ganz Europa erweitert; von hier aus forderte man die universelle Solidarität aller Unterdrückten und versicherte sie zugleich der Hilfe durch die französische Nation. Überzeugt von den gegenrevolutionären Aktivitäten des Hofes, betonte auch Condorcet in seiner Rede vom 25. Januar 1792 den Unterschied zwischen dem universalistischen Ideal eines Befreiungskrieges der revolutionären Nation und dem Despotismus außerhalb Frankreichs. Das pazifistische Bewußtsein der Aufklärer schlug in den Bellizismus der Revolutionäre um: Der Krieg werde den Charakter eines internationalisierten Bürgerkrieges annehmen und eine Solidarisierung aller Unterdrückten bewirken: „Les tyrans croient-ils que leurs peuples ne feront aucune comparaison entre ces guerriers patriotes, qui regarderont comme des freres les habitants des terres ennemies, et les nobles qui traitent en ennemis les freres que la nature leur avait donnes? ... C'est en detestant la guerre que j'ai vote pour la declarer; c'est parce qu'elle etait le seul moyen de dejouer les complots d'une cour conspiratrice".105) Das der freiheitlichen Selbstbestimmung und der ungeteilten Souveränität der Nation entsprechende Motto „Guerre aux despotes, paix et liberie aux

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) Brissot, zitiert nach: Götz-Bernstein: Diplomatie, S. 60 und 90. ) Ebd., S.61, wo die schwächere Version dokumentiert ist. Die Werkausgabe Chamforts (i.e. Merlin de Thionville) vermerkt in einer Notiz über die Biographie Chamforts, der Autor habe den französischen Soldaten, die in den Krieg zogen, den Wahlspruch vorgeschlagen: „Guerre aux chateaux, paix aux chaumieres!"; vgl. Sebastian Roch Nicolas Chamfort: CEuvres, hrsg. von P.-L. Ginguene, Bd. 1, Paris 1795, S. 58; vgl. Johann Wilhelm von Archenholz: Die Pariser Jakobiner in ihren Sitzungen, Hamburg 1793, S. 118, der berichtet, in der Sitzung vom 22. Februar 1792 sei ein Brief der Sozietät der Stadt Bethune verlesen worden, in dem es geheißen habe: „.Krieg den Palästen, Friede den Hütten!' ist der Wahlspruch aller Nationen"; die heute geläufige Formel „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" geht auf Georg Büchner: Der Hessische Landbote. Erste Botschaft, 1834, zurück; vgl. Georg Büchner. Werke und Briefe. Gesamtausgabe, hrsg. von F. Bergemann, 12. Aufl. Frankfurt/M. 1974, S.333; vgl. Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, neubearb. von Winfried Hofmann, 33. Aufl. Frankfurt/M. 1981, S.327. 104

105 ) Rede Condorcets, 25. Januar 1792, zitiert nach: Jean Lestocquoy: Histoire du patriotisme en France des origines ä nos jours, Paris 1968, S. 102.

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peuples" fand sich in zahllosen offiziellen Verlautbarungen der Revolutionsarmeen seit 1792.'06) Bereits vor dem Ausbruch des Krieges im April 1792 hatte sich diese revolutionäre Neufassung des Nationsbegriffs abgezeichnet, aber erst in der konkreten Situation des Krieges kam es zur Popularisierung dieses Konzepts. Als mit der Abschaffung der Feudalrelikte und mit den neuen Kirchengesetzen Rechte deutscher Reichsfürsten und Bischöfe im deutsch-französischen Grenzbereich des Elsaß berührt wurden und Kaiser und Reichstag daraufhin Protest einlegten, verwies die Konstituante darauf, daß die territorialen Enklaven nicht deshalb zu Frankreich gehörten, weil sie annektiert worden seien, sondern aufgrund der freiwilligen Entscheidung der Elsässer, zur französischen Nation zu gehören. Bereits vor dem Krieg wurde hier in Ansätzen ein voluntaristisches Nationskonzept formuliert, welches das überkommene Völkerrecht des 18. Jahrhunderts in Frage stellte, indem es auf der Basis nationaler Selbstbestimmung argumentierte. Der Unterschied zwischen dieser Position und den monarchischen Entscheidungen war ideologischer Natur, und aus ihm ergab sich die besondere Schärfe der Auseinandersetzung seit dem Frühjahr 1792. Der Kontrast wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, daß zur gleichen Zeit die europäischen Mächte Preußen, Österreich und Rußland mit der endgültigen Aufteilung Polens jene fürstliche Machtpolitik territorialer Arrondierung fortsetzten, die auf die Kategorien von Volk und Nation keinerlei Rücksicht nahm.107) In dieser Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Legitimationsstrategien manifestierte sich der Unterschied zwischen der überkommenen Rolle des Volkes als Objekt monarchischer Handlungen und dem Subjektcharakter der Nation. Der Krieg seit 1792 war nicht die einzige Ursache dieser Polarisierung, aber er hob sie auf eine neue Wirkungsebene, und er beschleunigte die Aneignung und Kommunikation dieses Erfahrungsumbruchs. Die Vorstellung von der souveränen Nation beflügelte entsprechend bellizistische Positionen in der französischen Öffentlichkeit. Äußerungen, welche die Idee des Krieges gegen die Unterdrückung in ganz Europa bekräftigten, wurden durch den Schutz emigrierter Aristokraten durch ausländische Truppen und die Erklärung von Pillnitz im August 1791 erheblich verstärkt.108) Seit Ende 1791 erschien ein Krieg unvermeidlich, und der öffentliche Druck auf die Legislative nahm spürbar zu. Dubois-Crance reflektierte in seiner Rede vom Dezember 1791 das Doppelgesicht des Krieges, durch den im Ancien regime Nationen ihre Freiheit verloren hätten, mittels dem sie aber nun ihre Befreiung erreichen könnten. Durch das Schreckbild einer von außen und innen bedrohten Verfassung erhielt der Bellizismus auch eine äußere und innere Stoßrichtung gegen alle Feinde der Revo-

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) Vgl. General Montesquieu: Au Nom de la Nation Fran^aise [o.O. 1792], ) Vgl. Fehrenbach·. Regime, S. 41. tos) Vgl. Imitation d'un chant de la Henriade, ou Adresse de la France en danger, ä la Nation et a 1 'Armee, Metz [ca. 1791 ], S. 4 f. 107

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lution. Gegenüber Dubois-Crances Ausführungen vom Dezember 1789 bedeutete dies eine erhebliche Radikalisierung: „Sans doute, c'est par la guerre qu'une nation usee, corrompue, menacee par l'orgueil, flechit sous le joug des despotes; mais qu'on me cite un peuple qui soit sorti de l'esclavage autrement que par la guerre ... Un coup de canon tire il y a six mois eüt assure le pavilion de notre liberie. Depuis cette epoque, la Constitution a plus souffert que si Ton eüt perdu dix batailles. J'en conclus qu'encore un an d'intrigues, de manoeuvres et de factions sourdes suffira pour nous remettre dans l'esclavage".109) DuboisCrance zeichnete das Bild eines Konflikts, den Frankreich nicht wolle, der aber aufgrund des prinzipiellen Gegensatzes zwischen Freiheit und Despotismus jede Vermittlung ausschloß. Man wende sich überall gegen jene Teile der alten Gesellschaft, die von den ständischen Privilegien profitiert und in der patrie nur die Garantie der eigenen Vorrechte gesehen hätten. Dieser patriotische Krieg im Namen der revolutionären Freiheit müsse notwendig über die Grenzen Frankreichs hinaus gefuhrt werden. Der Bellizismus der Nation und die expansive Revolution traten nebeneinander. c) Das Militär zwischen Ancien regime und Revolution: Der Mythos der volontaires und die Realität der nouvelles armies Wie verhielten sich diese Kriegsdeutungen zur Lage des Militärs im Übergang vom Ancien regime zur Revolution? Gerade weil die aus der französischen Wirklichkeitswahrnehmung gewonnenen Argumente für die weitere Bestimmung des Verhältnisses zwischen Krieg und Nation in Europa so wichtig wurden, sollen diese Strukturveränderungen wenigstens skizziert werden. Im Unterschied zwischen der Realität des Militärs und dem Selbstbild der bellizistischen Nation wird erkennbar, inwieweit die Imagination ihre eigene Wirklichkeit schuf. Die Revolution übernahm zunächst die Linientruppen des Ancien regime. Die Rekrutierung auf lokaler Basis, die körperlichen Strafen und das adlige Privileg der Offiziere ließen das Militär in der öffentlichen Wahrnehmung als besondere Belastung erscheinen, wie zahllose Klagen der Cahiers de doleances zeigten. Meutereien in den Jahren 1790/91, durch die Emigration und Entlassung von einem Drittel aller Offiziere ausgelöst, machten umfassende Armeereformen unumgänglich. Zwischen dem 15. September und dem 1. Dezember 1791 emigrierten nicht weniger als 2.160 Offiziere, und noch einmal 542 verließen Frankreich zwischen dem 27. April und dem 15. Juli 1792."°) Die Reformen umfaßten nicht allein die Abschaffung körperlicher Strafen und die Beförderung nach Verdienst, sondern vor allem die Abschaffung der 109

) Edmond-Louis-Alexis Dubois de Crance: Discours a la Societe des amis de la constitution, sur la situation presente des affaires, le 25 decembre 1791, l'an III de la liberte, Paris 1791, in: lung: Armee, Bd. 1, S. 230-238, hier: S. 235 ff. M0 ) Vgl. Ernest Lavisse: Histoire de la France contemporaine depuis la Revolution jusqu'ä lapaix de 1919, Bd. 1, Paris 1921, S. 416, sowie Lestocquoy: Histoire, S. 101.

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Zwangsrekrutierung und die Aufhebung der traditionellen Trennung zwischen Linientruppen und Milizverbänden. Indem die Bindung einzelner Regimenter an bestimmte Provinzen aufgehoben wurde, trat die patrie als übergeordnetes Identifikationsmuster des Militärs in den Vordergrund."1) Die Aufmerksamkeit, welche die Nationalversammlung der Armeefrage widmete, unterstrich die grundlegende Bedeutung der Armee fur den Verlauf der Revolution. Gegenüber dem verbreiteten Bild des Soldaten als einer Kreatur ohne Bürgerrechte und persönliche Freiheiten betonte die Nationalversammlung das Prinzip der Freiwilligkeit, das auch die Appelle von 1791 und 1792 prägte. Während die Aushebung der Linientruppen zunehmend vernachlässigt wurde, feierten die Lokalverwaltungen die neuen volontaires und versprachen ihnen Privilegien, die den Soldaten der Linientruppen vorenthalten blieben. Das Dekret vom 28. Dezember 1791 bestimmte sogar, den Kriegsdienst der Freiwilligen in den Nationalgarden auf jeweils eine Saison zu begrenzen."2) Auf das Problem, daß mit den Linientruppen und den volontaires eine duale Militärstruktur enstand, reagierte Dubois-Crance am 21. Februar 1793 mit seinem umstrittenen Gesetz, das die Verschmelzung von Linientruppen und Nationalgarden vorsah. Unterschiede in Besoldung, Uniformierung und Disziplin wurden abgeschafft und die Wahl der mittleren und unteren Offiziere eingeführt. Nur noch ein Drittel der Offiziere avancierte über das Kriterium des Dienstalters. Erst im Winter 1793/94 trat das vor allem bei den Girondisten umstrittene Gesetz in Kraft. Obgleich Dubois-Crances Idee, den politisch-revolutionären Enthusiasmus der Freiwilligen mit der militärischen Erfahrung der Linientruppen zu verbinden, auf Mißtrauen stieß, bedeutete diese Regelung einen Schritt hin zu einer schlagkräftigen Revolutionsarmee, hinter dem die ambivalente Erfahrung mit den Freiwilligen stand. Weil deren Zahl schon 1792 '") Vgl. Alan Forrest: Armee, in: Franfois FuretlMona Ozouf{Hrsg.): Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2: Institutionen und Neuerungen, Ideen, Deutungen und Darstellungen (1988), Frankfurt/M. 1996, S. 687-701; Alan Forrest: Conscripts and Deserters. The Army and French Society during the Revolution and Empire, New York 1989; Ders.: Soldiers of the French Revolution, Durham 1990; Ders.: The Nation in Arms I: The French Wars, in: Townshend (Hrsg.): History, S. 55-73; Albert Soboul: Problemes de la guerre revolutionnaire en l'an II, in: La Pensee 85 (1959), S. 33-48; Ders.: Die Große Französische Revolution, Bd. 2, Frankfurt/M. 1973, S. 200-236, 261-265 und 294-369; Marcel Reinhard: Nostalgie et service militaire pendant la Revolution, in: Annales historiques de la Revolution fran^aise 30/1 (1958), S. 1-15; Andre Corvisier: L'Armee frangaise de la fin du XVII s siecle au ministere de Choiseul, 2 Bde., Paris 1964; Jacques Godechot: Les Institutions de la France sous la Revolution et l'Empire, 2. Aufl. Paris 1968; Jean-Paul Bertaud: La Revolution armee. Les soldats-citoyens et la Revolution franfaise, Paris 1979; Ders.: La Vie quotidienne des soldats de la Revolution, 1789-1799, Paris 1985; Ders.: L'Administration de la guerre sous la Revolution, in: Colin Lucas (Hrsg.): The Political Culture of the French Revolution, Oxford 1988, S. 421^128, sowie Andre Corvisier: La Place de l'armee dans la Revolution fran^aise, in: Revue du Nord 75 (1993), S. 7-19. " 2 ) Vgl. Eugene Deprez: Les Volontaires nationaux (1791-1793), Genf 1977.

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zurückging, mußte die Regierung 1793 erneut eine Dienstverpflichtung einfuhren. Obgleich die Aushebung von 300.000 Mann und die levee en masse vom Herbst 1793 noch das Prinzip der Freiwilligkeit betonten, waren Zwangsmaßnahmen unumgänglich, um die geplanten Truppenstärken zu erreichen. Eine auch nur annähernde Wehrgerechtigkeit wurde nicht erreicht: Stadtbewohner und vor allem Handwerker waren unter den Rekrutierten über-, Bewohner des Landes und Bauern deutlich unterrepräsentiert. Bis zur Einfuhrung der jährlichen Wehrpflicht durch die Loi Jourdan 1799 stellten die 1793 Rekrutierten die Mehrzahl der Soldaten. Erschien die Wehrpflicht zumindest als vergleichsweise gerecht, weil sie eine generelle Prüfung der Jahrgänge beinhaltete, erinnerten Losverfahren und Abstimmung unter den Gemeindebewohnern an die Mißbräuche des Ancien Regime und riefen auf dem Land erhebliche Widerstände hervor. Die Vorstellung des Militärdienstes als einer heiligen Bürgerpflicht, welche die levee en masse publizistisch begleitete, traf hier auf eine klare Wirkungsgrenze."3) Der sich zunächst einstellende militärische Erfolg der Revolutionsarmeen hatte unterschiedliche Ursachen. Einmal gelang die soziale Öffnung des Offizierskorps, und politische Loyalität ersetzte immer mehr die soziale Herkunft als Kriterium militärischer Karrieren, was die Verwandlung der Armee in eine nationale Institution erleichterte. Obgleich sich das ursprüngliche Ziel der levee en masse von 750.000 Mann nicht verwirklichen ließ, verfugten die Revolutionsregierungen zwischen 1793 und 1799 über Massenarmeen, die eine neuartige Taktik möglich machten. Diese konzentrierte sich auf den aggressiven Angri ff. Der Kampf als Akt ritterlicher Ehrauffassungen, so der Wohlfahrtsausschuß im Oktober 1793, passe nicht mehr zum System der revolutionären Masse, denn ein falsch verstandenes Ehrgefühl verlängere nur den Krieg. Der militärische Erfolg der Revolutionsarmeen beruhte mithin keinesfalls allein auf dem politischen Enthusiasmus der Soldaten, sondern zunächst auf einer neuen Professionalität, auf kohärenten Machtstrukturen und dem gezielten Einsatz der Massenheere."") Dennoch spielte die politische Überzeugung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vor allem durch die Kriegskommissare ließen sich politische Doktrinen und das Konzept der armee-nation bis in die Bataillone hinein vermittelt. Gerade höhere Offiziere wurden wegen militärischer Niederlagen persönlich zur Verantwortung gezogen, wie die Beispiele von Luckner, Custine und Houchard demonstrierten, die wegen anhaltender Mißerfolge in den Feldzügen bis 1794 angeklagt und hingerichtet wurden. Hier zeigte sich die äußerste Radikalisierung des militärischen Erfolgskriteriums im Namen der revolutionären Nation, die für aristokratische Standesprivilegien keinen Platz mehr m

) Vgl. Albert Soboul: Les Soldats de l'an II, Paris 1959. 'l4) Vgl. John Albert Lynn: The Bayonets of the Republic: Motivation and Tactics in the Army of Revolutionary France, 1791-1794, Champaign 1984, sowie Samuel F. Scott: The Response of the Royal Army to the French Revolution: The Role and Development of the Line Army, 1787-1793, Oxford 1978.

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ließ. Kaum ein Kriegskommissar schätzte die politische Bedeutung der Armee fur die Schlagkraft der revolutionären Nation so hoch ein wie Saint-Just. Die Truppe erweise ihre Loyalität der Nation gegenüber im siegreichen Kampf, und diese Loyalität erst schaffe die wahre Kraft der Armee. Dem entsprach die gezielte Politisierung der Soldaten:115) Neben Pamphleten und politischen Katechismen wurden über sieben Millionen Exemplare zeitgenössischer Zeitungen fur die Armee gekauft und verteilt. Darunter fanden sich nicht nur Armeepublikationen wie die Soirees du Camp, sondern auch das Bulletin de la Convention Nationale und in der Nordarmee sogar der Pere Duchesne. Aber so weit diese Politisierung zumal in der Phase der Jakobinerherrschaft auch dringen mochte, so wenig konnte die Regierungspropaganda mit ihrer Betonung des soldat citoyen die Wirklichkeit der Rekruten angemessen erfassen und die tendenzielle Verselbständigung der Armeefuhrung verhindern. Spätestens mit dem Beginn des Italienfeldzuges 1796 zeigten sich die Konsequenzen einer Professionalisierung, in deren Verlauf aus den improvisierten Freiwilligenbataillonen von Jemmapes und Valmy ein straff organisiertes Instrument machtbewußter Revolutionsgeneräle geworden war. d) Die Erfahrung des Revolutionskrieges und die Erfindung der Kriegsnation: Die doppelte Radikalisierung des Bellizismus nach innen und außen 1792/94 Der Kriegsausbruch im Frühjahr 1792 alarmierte die Anhänger der konstitutionellen Monarchie, denn das Selbstbild der bellizistischen Nation hatte die antiroyalistische Kritik seit Sommer 1791 verstärkt. So hob man nun den patriotischen Einsatz des Königs für die Verteidigung der Freiheit und der „honneur de la nation" hervor."6) Der Appell an die Einheit der Nation im Angesicht des Krieges baute hier auf die Integrationskraft im Rahmen der konstitutionellen Monarchie und wandte sich gegen weitergehende republikanische Forderungen sowie gegen die Gefahr eines Bürgerkrieges. Gegenüber den Unwägbarkeiten des Krieges sei die Treue zu nation, loi, roi und constitution die einzig verläßliche Größe: „Le bonheur de la nation ne depend pas du sort inconstant des armes; il sera quelque chose qui puisse arriver, toujours necessairement l'effet de vos vertus, de votre union de votre foi et de votre religion ä garder le serment que vous avez fait d'etre fidele ä la nation, ä la loi et au roi et de maintenir la

115 ) Vgl. Jean-Pierre Gross: Saint-Just. Sa politique et ses missions, Paris 1976, sowie Jacques Godechot: Les Commissaires aux armees sous le directoire. Contribution ä Γ etude des rapports entre les pouvoirs civils et militaires, 2 Bde., Paris 1937. 116 ) [Louis de Narbonne] Declaration de M. Louis de Narbonne, ancien Ministre de la Guerre, envoyee ä MM. Tronchet et de Malesherbes, o.J., in: M.-A. Myevre: Du 10 aoüt 1792 [Paris, o.J.], S.2-5, hier: S.3.

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constitution".117) Warnende Stimmen betonten, der Krieg widerspreche dem in der Verfassung verankerten Grundsatz, die französische Nation führe keine Offensivkriege, und könne jenen Despotismus fordern, den man durch die Revolution überwunden zu haben glaubte.118) Aristokratische Gegner der Revolution sahen in der französischen Kriegserklärung vor allem eine Widerlegung der angeblichen Friedenspolitik der Revolutionäre und ihrer aufgeklärten Ideen: „ces philosophes, ces amis du genre humain, qui ne prechent que la paix et la fraternite, viennent de declarer la guerre, en trois heures de tems, au mepris de toutes les formes constitutionnelles, et avec la meme legerete qu'ils auroient rendu le decret le moins important". Eine Niederlage, die angesichts der Massendesertionen unausweichlich schien, werde den Terror des Revolutionsregimes nur verstärken." 9 ) Soziale Exklusion und ideologische Universalisierung: Die Erfindung der Grande nation und der Umschlag des Befreiungskrieges in den Eroberungskrieg Im Gegensatz zu diesen Positionen standen die enthusiastischen Äußerungen, die der Kriegsbeginn im Frühjahr 1792 provozierte und die ganz in der Tradition des universalisierten Bürgerkrieges der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker argumentierten. Neben der Überordnung der patrie im Augenblick des Krieges stand die Hoffnung auf Überwindung der despotischen Kriegsregime als Voraussetzung fur die Verbrüderung aller Völker. Die von Rouget de Lisle komponierte Hymne der Revolution, die später so genannte Marseillaise, die beim Einzug eines Freiwilligenbataillons aus Marseilles in Paris im Juli 1792 zum ersten Mal gespielt wurde, war eindeutig eine Kriegshymne, ein Chant de guerre de l'armee du Rhin."0) Charakteristisch daran war aber nicht allein die Tatsache, daß die patrie als religiös imprägniertes Deutungsmuster den König und das Ideal der politischen Freiheit das Gottesgnadentum verdrängte: „Amour sacre de la patrie, / Conduis, soutiens nos bras vengeurs! / Liberte, Liberie cherie, / Combats avec tes defenseurs!" Vielmehr enthielt die im Ton des revoluti-

"') [Gerard] Lettre du Pere Gerard, Depute aux Etat-Generaux, aux Soldats et Officiers des armees de France et ä toute la nation sur la presente guerre [Paris 1792], S. 2 f. Ils ) Vgl. Pierre-Paul le Marchant-Caligny: Reflexions sommaires et impartiales de Pierre-Paul Le Marchant-Caligny, Citoyen Francois, sur la guerre projetee par la Nation fran^oise contre quelques Princes d'AIlemagne, au sujet des Francis emigres, Paris [Januar] 1792, S.7und 18. '") Lettre ecrite ä Paris par l'auteur de l'Histoire de la dissolution de la Monarchie Franfaise, en deux parties, au Comte de Sanois, in: Moufle d'Angerville: Adresse aux princes fran^ois et aux emigrants de cette malheureuse nation, aux sujet de la guerre et de leur retour, Paris [Mai] 1792, S. 3-11, hier: S. 4, sowie Reponse du Comte de Sanois, in: ebd., S. 11-18, hier: S. 13. ,2 °) Vgl. Hinrich Hudde: Un air et mille couplets. La Marseillaise et ,les marseillaises' pendant la Revolution, in: Dietmar Rieger (Hrsg.): La Chanson fran^aise et son histoire, Tübingen 1988, sowie H. Luxardo: Histoire de la Marseillaise, Paris 1989, S. 75-87.

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onären Kampfes abgefaßte Hymne in einer der ersten publizierten Versionen eine abschließende achte Strophe, die über den Krieg hinauswies. Der Kampf war also keinesfalls revolutionärer Selbstzweck: „Alors les Frangais cesseront / De chanter ce refrain terrible: / Aux armes! citoyens, / Formez vos bataillons, / Marchons, marchons, / Qu'un sang impur abreuve nos sillons!" Das Motiv, den Krieg prinzipiell zu überwinden, indem man seine Ursachen ein für alle Mal beseitigte, prägte zunächst auch den Konvent; gerade hier unterstrich man die historische Mission Frankreichs: „La Convention doit se regarder comme chargee du bonheur du monde et de l'alliance generale entre tous les peuples".121) Ganz anders stellte sich die Kriegswahrnehmung auf der Ebene der ideologischen Selbstdeutung der Revolution dar, denn hier markierte der Kriegsausbruch die verschärfte Auseinandersetzung zwischen den Prinzipien der Revolution und der Gegenrevolution und äußerte sich als konkreter militärischer Konflikt mit den gegen Frankreich verbündeten Mächten Europas. Beide Aspekte waren für die Zeitgenossen seit April 1792 untrennbar miteinander verbunden. Die Legitimation des Krieges als Befreiungskrieg im Namen der Revolution verband Innen- und Außenraum der Nation, weil es jeweils um die Bekämpfung der Gegenrevolution ging. Zugleich intensivierte der Konflikt die bereits bestehende innergesellschaftliche Auseinandersetzung über die revolutionäre Identität der Nation, er forderte aber auch die Profilierung neuer Nationskonzepte. Unter dem Eindruck der Kriegserfahrungen zeichnete sich die Differenzierung und schließlich Spaltung zwischen den patriotes de 1789 und den patriotes de 1793 ab, hinter denen entgegengesetzte Auffassungen über den legitimen Charakter der Revolution und die damit verbundenen politischkonstitutionellen und sozialen Erwartungen standen. Während erstere sich primär auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 beriefen und aus der Sicht der bourgeoisie, derpaysannerie riche et moyenne sowie der reicheren Handwerker, die alle von der Revolution des Jahres 1789 profitiert hatten, auf Rechtsgleichheit und politischer Partizipation in Form gewählter Repräsentationsorgane beharrten, gingen die patriotes de 1793 in ihren Forderungen nach sozialer und ökonomischer Gleichheit weit über dieses bürgerliche Revolutionsverständnis hinaus.122) Die extremistische Variante der Nationsdeutung, die der Pere Duchesne bereits wenige Monate nach Beginn des Krieges im August 1792 formulierte, hob auf den Zusammenhang zwischen der Selbstreinigung von allen gegenrevolutionären Elementen und der dadurch gewonnenen Einheit der bellizistischen ,21 ) Zitiert nach: Georges Pouchet: Les Sciences pendant la Terreur, d'apres les documents du temps et les pieces des Archives nationales, Paris 1896, S. 51, Nr. 2 (J. Guillaume); vgl. Lestocquoy: Histoire, S. 105 f. ,22 ) Vgl. Jacques Godechof. Nation, patrie, nationalisme et patriotisme en France au XVIIPsiecle, in: Annales Historiques de la Revolution Fran^aise 43 (1971), S.481-501, hier: S. 498 ff.

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Nation nach außen ab. Hier dominierte nicht mehr ein politisch-konstitutioneller Begriff von Freiheit, sondern ein sozialrevolutionäres Egalitätsideal. Im Zentrum dieser Nationalisierung des Krieges und des Militärs standen die sansculottes, die nach dieser Interpretation ein moralisch höherwertiges Verlangen nach Freiheit und Gleichheit verkörperten, das sie zum Opfer für die Nation prädestinierte. Nation armee und nation sans-culotte schienen untrennbar verbunden: „La France serait purgee de tous les ennemis de l'interieur. La canaille royaliste, les cartouches feuillans seraient extermines: nous n'aurions plus aujourd'hui qu'une seule volonte, et les ennemis de l'exterieur rebrousseroient bientöt chemin en voyant s'avancer vers eux une nation entiere. Quand je dis la nation entiere j'entends les braves sans-culottes, car eux seuls veulent etre veritablement libres et mourirpour la patrie... Les gens riches ne sont que des soldats de parade, s'ils ne sont pas des conspirateurs ou des traitres".123) Die Betonung der besonderen Kriegstugend der sans-culottes schloß die patriotes de 1789 von der Teilhabe an der legitimen Nation aus. Unter dem Eindruck des weiteren Kriegs verlaufs kam es daher zur Gründung eines Journal des patriotes de 89 und eigener Clubs. Diese Spaltung der patriotes trug zur Schwächung eines integrativen Nationsverständnisses bei, machte aber das bellizistische Verständnis der Nation auch attraktiver, weil sich in der Rhetorik eines übergeordneten Kriegsnationalismus die faktische Fragmentierung innergesellschaftlicher Nationsdeutungen einstweilen rhetorisch überdecken ließ. Für diese Integrationsstrategie stand das Konzept der Grande nation, mit der die zweite Ebene bezeichnet ist, auf der Kriegserfahrungen zu neuartigen Nationskonzepten führten. Zwar war der Begriff selbst keine Erfindung der Revolution, sondern existierte im 18. Jahrhundert mit einer bereits bei Montesquieu eindeutigen Verbindung zur Sphäre von Krieg und Militär: „il n'y a que les grandes nations qui aient des armees".124) Während aber Montesquieu mit der Grande nation primär auf das quantitative Gewicht der Bevölkerung angespielt hatte, bezog sich der Begriff nach 1792 auf den sittlichen Wert der im Krieg triumphierenden und progressiven Nation, die den Sieg der revolutionären Prinzipien symbolisierte. Wenn sich irische Revolutionssympathisanten im Dezember 1792 mit den Worten „Nous observons avec joie votre Grande nation donnant la liberie ä l'Europe" an den Nationalkonvent wandten, feierten sie nicht mehr allein die Durchsetzung der Revolution gegen die Monarchie und die Ergebnisse des Jahres 1789, sondern auch den militärischen Erfolg der revolutionären Nation sowie die Aussicht auf Befreiung aller Unterdrückten in Europa. Die Grande nation als Ausdruck einer bellizistischen Grunderfahrung war damit Verheißung nach innen und Projektion nach außen, ein Moment der Integration und ein Instrument der Expansion der Revolution. Der Gedanke der Verpflichtung der französischen Nation, die Revolution über Frankreich hi123

) Pere Duchesne, Nr. 159, August 1792, S. 3. ) Charles de Montesquieu: Considerations, in: Ders.: CEuvres, Bd. 3, S. 80.

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nauszutragen, legitimierte die Anwendung militärischer Gewalt auf bisher ungeahnte Weise, indem sie die ideologische Schubkraft der Revolution direkt auf den Krieg umleitete. Diese Argumentation markierte eine der Grundlagen der bellizistischen Nationsidee in Frankreich, die weit über den konkreten Entstehungszusammenhang hinauswies. Sie wurde eine prägende Konstante der Revolutionsdeutung im 19. Jahrhundert und damit der historiographischen Selbstvergewisserung der Nation, wie sie Jules Michelet 1846 formulierte, indem er Frankreich als diejenige Nation Europas beschrieb, „qui [doit] enfanter toute nation ä la liberte".'25) Für die Zeitgenossen der 1790er Jahre war die inhaltliche Verbindung zwischen der Grande nation und den militärischen Erfolgen in den Kriegen seit 1792 eindeutig. So sprach Marie-Joseph Chenier in seiner Hymne funebre en l'honneur de Hoche von „La Grande nation ä vaincre accoutumee".126) Seit 1793/94 wurde der Rekurs auf die Grande nation aber immer mehr von den Vertretern der sans-culottes monopolisiert. Eine Adresse an den Nationalkonvent vom März 1794 feierte die Einmütigkeit der Nation angesichts der äußeren Bedrohungen und die Überwindung aller inneren und äußeren Widerstände: „C'est de cette harmonie dans la volonte generale que doit resulter le total aneantissement de ce qui s'oppose au bonheur d'une Grande nation". Revolutionierung und ideologische Nationalisierung des Krieges ließen ein Überlegenheitsgefühl entstehen, das den ursprünglich solidarischen Internationalismus des Bürgerkrieges zunehmend hinter sich ließ.127) Das Programm der Grande nation war aber nur scheinbar ein integratives Nationskonzept. In Wirklichkeit war es das Ergebnis einer doppelten, durch den Fortgang der Revolution erzwungenen Exklusion, zunächst der ideologischen Feinde des Jahres 1789, der Aristokraten und Priester, und dann der sozialen Gegner seit 1791/92, der bürgerlichen Profiteure und Anhänger der konstitutionellen Monarchie. Die militärischen Ereignisse im Sommer und Herbst des Jahres 1792 markierten den Beginn eines im kollektiven Gedächtnis Frankreichs wirkungsmächtigen Mythos. Die Behauptung der französischen Armeen gegen die preußischen und österreichischen Truppen gab Anlaß zur Idealisierung der volon125

) Jules Michelet Le peuple (1846), Paris 1946, S.245f. ) Marie-Joseph Chenier: Hymne funebre en l'honneur de Hoche, 1797, zitiert nach: Godechof. Nation, S. 500. 127 ) Dokument 68,10. März 1794, in: Walter Markov/Albert Soboul (Hrsg.): Die Sansculotten von Paris. Dokumente zur Volksbewegung 1793-1794, Berlin 1957, S.308; vgl. Fehrenback. Nation, S. 103 ff.; Peter Klassen·. Nationalbewußtsein und Weltfriedensidee in der französischen Revolution, in: Die Welt als Geschichte 2 (1936), S . 3 3 67; Roman Schnur. Weltfriedensidee und Weltbürgerkrieg 1791/92, in: Der Staat 2 (1963), S.297-317; Roman Schnur: Revolution und Weltbürgerkrieg. Studien zur Ouverture von 1789, Berlin 1983; Henry Leuvers: Revolution et guerre de conquete. Les origines d'une nouvelle raison d'Etat (1789-1795), in: Revue du Nord 75 (1993), S. 31-40, sowie Stig Förster: Der Weltkrieg 1792-1815. Bewaffnete Konflikte und Revolutionen in der Weltgesellschaft, in: Dülffer (Hrsg.): Kriegsbereitschaft, S. 17-38. 126

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taires als Verkörperung eines revolutionären Patriotismus, der die französische Nation unbesiegbar mache. Die volontaires illustrierten die für den Zusammenhang zwischen Nation und Bellizismus neue Beziehung zwischen militärischer Front und Heimatfront. Diese Integration gelang nur über die ideologische Aufwertung der Kriegsnation als übergeordnetes Deutungsmuster. Zahlreiche Freiwillige nahmen sowohl an der Feier zur Erinnerung an den Bastillesturm am 14. Juli 1792 und dann am Sturz der Monarchie am 10. August, am antiroyalistischen Terror und an der Kanonade von Valmy im September 1792 teil.'28) Für sie reduzierte sich der Unterschied zwischen den inneren und äußeren Frontlinien zusehends, was sie im kollektiven Gedächtnis fur die Rolle der nationalen Helden prädestinierte. Obgleich ihr Anteil an den militärischen Erfolgen des Jahres 1792 zum Teil grotesk überbewertet wurde, spiegelte sich in zahlreichen Zeugnissen der volontaires und ihrer Familien die von dem Pariser Revolutionsregime verbreitete ideologische Sprache wider. Im Sprechen über den Krieg entstand ein kommunikatives Reservoir an Motiven, die das kollektive Gedächtnis durchdrangen. So hieß es in dem Brief eines Vaters an seinen im Feld stehenden Sohn aus dieser Zeit, daß ein Republikaner „doit savoir souffrir et mourir pour la liberte de son pays ... Rien ne coüte quand il s'agit du salut de la Patrie ... sachez preferez la mort meme a l'ignominie".129) Indem sich die Familie dem Ideal der republikanischen patrie unterstellte, wurden Kampf und Tod zu einer Opfergabe im individuellen Lebenshorizont des Soldaten und zugleich fur das republikanische Ideal. Der lebensweltliche Erfahrungsraum der Familie und der abstrakte der Nation ließen sich aufeinander beziehen. Es war kein Zufall, daß die Lettres de volontaires von E. Picard 1914 zu Beginn des Ersten Weltkrieges publiziert wurden.130) Das Vorbild der Freiwilligen der 1790er Jahre, im 19. Jahrhundert immer mehr zu einem sinnstiftenden Mythos der revolutionären Nation geworden, schuf einen verpflichtenden Rahmen republikanischer Identität, der auf der idealisierenden Deutung von Kriegserfahrungen und ihrer kommunikativen Verwandlung im kollektiven Gedächtnis beruhte. Diese deutende Aneignung koppelte sich von der Realität des Kriegsgeschehens ab und schuf sich eine eigene Wirklichkeit. Obwohl die idealisierenden 128) Vgl. Jean-Paul Bertaud: Valmy. La Democratic en armes, Paris 1989; Ders.: La Revolution armee. Les Soldats-citoyens et la Revolution fran^aise, Paris 1979; John A. Lynn: The Bayonets of the Republic. Revolution and Tactics in the Army of Revolutionary France, 1791-1794, Urbana 1984, sowie Hew Strachan: The Nation in Arms, in: Geoffrey Best (Hrsg.): The Permanent Revolution. The French Revolution and its Legacy, 1789-1989, Chicago 1988, S.49-73. 129

) Zitiert nach: Contamine: Mourir, S. 1692. °) E. Pica«/(Hrsg.): Au Service de la nation. Lettres de volontaires (1792-1798), Paris 1914; vgl. auch Charles Louis Chossin/Leon Hennef (Hrsg.): Les Volontaires nationaux pendant la revolution, 3 Bde., Paris 1899-1906; Arthur Chuquet (Hrsg.): Lettres des volontaires (1793), Paris 1911; vgl. zur Interpretation Bertaud: Revolution, S.222, sowie Contamine: Mourir, S. 1692. 13

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Schilderungen etwa der Kanonade von Valmy im September 1792 wenig mit den konkreten militärischen Details zu tun hatten, spiegelten sich in ihnen die weitgespannten Erwartungen der politischen Meinungsfuhrer und der breiteren Öffentlichkeit in Paris.'31) Hier radikalisierte sich das Nationsverständnis, denn mit den ersten Anzeichen dafür, daß sich Frankreich erfolgreich gegen die Armeen der europäischen Staaten verteidigen konnte, ging die Idee des universalisierten Befreiungskrieges in ein expansives Kriegskonzept über. Vor diesem Hintergrund beschwor Danton im September 1792 das Zusammenwirken des ganzen Volkes an den Verteidigungsanstrengungen der Nation nach außen und innen.132) Aber mit dem zunächst erfolgreichen Fortgang des Krieges gewann der Gedanke der revolutionären Befreiung anderer Völker, des Exports der Revolution durch den auswärtigen Krieg, an Gewicht. Hatte man in der Verfassung von 1791 noch ausdrücklich auf Angriffskriege gegen die Freiheit eines anderen Volkes verzichtet, so vollzog sich seit Sommer 1791 ein bemerkenswerter Wandel: Die Versicherung, die Republik werde niemals „repandre ses districts au dehors", wich der Konzentration auf die „invasions patriotiques".133) Die offiziellen Stellungnahmen enthielten nun einen aggressiveren Grundton, der aber stets in die Befreiungsrhetorik eingebunden blieb. Die Verfassung von 1793 folgte diesem Gedanken, indem sie das französische Volk als natürlichen Verbündeten aller freien Völker darstellte. Dieses Selbstbild wurde über zahlreiche Foren und Medien wie Feste, Vereine, Journale und Pamphlete auch Teil der politischen Erziehung des Heeres. Eines der bekanntestes Marschlieder der französischen Armee, der 1794 von Marie-Joseph Chenier komponierte Chant du Depart, übertrug den in den Verfassungsdokumenten formulierten Anspruch in eine suggestive Botschaft. Ihr lag das Motiv einer Schwurgemeinschaft im Zeichen des Krieges zugrunde, die Familien und Generationen umfaßte und den universellen Bürgerkrieg propagierte. Dieses Motiv sollte sich im Verlauf der zahlreichen Kriege der Revolutionsregime und des Napoleonischen Kaiserreichs als außerordentlich stabiles ideologisches Fundament erweisen: „Sur le fer, devant Dieu, nous jurons a nos peres, / A nos epouses, ä nos sceurs, / Α nos representants, ä nos fils, ä nos meres, / D'aneantir les oppresseurs. / ... Les Fran9ais donneront au monde / Et la paix et la liberte".134) 131 ) Vgl. Macors: Le patriotisme, ou les volontaires aux frontieres, divertissement en un acte, orne de chants et de danses, paroles de M. Macors, Lyon 1792, sowie Thomas Rousseau·. Les chants du patriotisme, avec des notes, dedies ä la jeunesse citoyenne, Paris 1792. ,32 ) Zitiert nach: Moniteur, 4. September 1792; vgl. Markov: Revolution, Bd. 2, S. 293 f. 133 ) Sheridan, zitiert nach: [Camille Desmoulins] Le vieux Cordelier, journal redige par Camille Desmoulins, depute ä la Convention, et doyen des jacobins, Paris 1793-94, hier: Nr. 7, sowie Carra: Rede vor dem Nationalkonvent, 24. September 1792, in: Archives Parlementaires, Premiere serie, Bd. 52, S. 116, Sp. 2. 134 ) Zitiert nach: Chants et Chansons populaires de la France, Paris 1843, o.S.; vgl. Robert Gildea: The Past in French History, New Haven 1994, S. 135 f.

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Vous faites une guerre de peuple: Die Krise des Jahres 1793 und die Militarisierung der Nation Unruhen und militärische Rückschläge im Frühjahr 1793 spitzten die inneren Konflikte zu und führten nach der Ausschaltung der gemäßigten Girondisten schließlich zur Machtübernahme der Montagnards im Konvent und seinen Ausschüssen. Die Debatten konzentrierten sich nun auf die Bekämpfung aller konterrevolutionären Kräfte, die als Volkskrieg gerechtfertigt wurde: „Nos ennemis font une guerre d'armee, vous faites une guerre de peuple".'35) Robespierre bekannte sich zur Solidarität aller Völker gegen den Despotismus und zur Legitimität eines internationalen Bürgerkrieges mit sozialegalitärer Absicht. In diesem Zusammenhang kam der Radikalisierung von Feindbildern aus ideologischen Motiven ein um so größeres Gewicht zu: „Ceux qui font la guerre ä un peuple pour arreter le progres de la liberie et aneantir les droits de l'homme, doivent etre poursuivis par tous, non comme des ennemis ordinaires, mais comme des assassins et des brigands rebelles".'36) Desmoulins stellte den Krieg gegen Großbritannien als Sache der ganzen Nation dar, wenn er als Ziel ausgab, ,„nationaliser' la guerre avec le peuple Anglais".137) Dubois-Crance hob hervor, wie wichtig es im Sinne der nationalen Einheit sei, ,„nationaliser' Parmee en la soumettant au meme regime que les volontaires".138) Im Verlauf des Jahres 1793 und unter dem Eindruck der Krise kam es so zu einer erheblichen Radikalisierung im Verständnis des patriotisme,139)

135 ) Rede im Nationalkonvent, 16. April 1793; vgl. Jeudy de Lhoumaud: Continueronsnous la guerre?, o.O. [1793], sowie P.-F.-D. Lamble: Discours sur les dangers de la patrie, avec les moyens de la sauver, de recuperer les frais de la guerre, et de proclamer la liberte, la paix et la republique universelles, par le republicain P.-F.-D. Lamble, Dunkerque 1793. 136 ) Nationalkonvent, 24. April 1793, in: Archives Parlementaires, Premiere serie, Bd. 63, S. 198. 137 ) Desmoulins: Le vieux Cordelier, Nr. 7; vgl. Rapport de Brissot, Januar 1793, in: Buchez/Roux: Histoire, Bd. 23, S. 68. 13S ) Edmond-Louis-Alexis Dubois de Crance: Rede vor dem Nationalkonvent, 7. Februar 1793, in: lung: Armee, Bd. 1, S. 338 f.; vgl. auch Edmond-Louis-Alexis Dubois de Crance: Rapport sur les moyens de defense generale pour l'annee 1793, Paris 1793 und Ders.: Rapport sur l'organisation de l'armee, Paris 1793. 139 ) Vgl. Pierre-Claude-Fran^ois Daunou: Discours sur le patriotisme, prononce le 4 septembre, durant le service que le district de l'Oratoire a fait celebrer pour le repos des ämes des braves citoyens morts en combattant pour la patrie, o.O. o.J.; [Philippe Drulhe] Philippe Drulhe, depute du departement de Haute-Garonne, ä ses collegues et ä ses concitoyens. II ne peut y avoir de patriotisme sans vertu, Paris [1793]; [A.-S. Duchesne] Le patriotisme opprime, Paris 1793; Etrennes patriotiques aux armees fran^aises, ou recueil des plus beaux traits de courage, de bravoure, de patriotisme des armees de la republique; avec gravure en taille douce, Paris 1793, sowie Nicolas-Gabriel Le Clerc: Le patriotisme du cceur et de l'esprit, ou l'accord des devoirs et des droits de Thomme pour le bonheur commun, Versailles [1795].

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Vor allem am Beispiel Robespierres, der noch Ende 1791 mit pragmatischen Argumenten die Kriegspropaganda der Brissotisten kritisiert hatte, läßt sich der Richtungswandel rekonstruieren. Ende 1793, nach der Hinrichtung des Königs, der Kriegserklärung an die Koalition und der Errichtung der Jakobinerherrschaft schien allein die Erfahrung entfesselter Gewalt den wahren patriotisme hervorzubringen. Der Kampf wurde zum moralischen Vitalerlebnis der Nation, der Krieg zum notwendigen Teil der Tugendbildung. Am 25. Dezember 1793 erklärte Robespierre vor dem Wohlfahrtsausschuß, es sei notwendig, „proteger le patriotisme, meme dans ses erreurs... S'il fallait choisir entre un exces de ferveur patriotique et le neant de l'incivisme ou le marasme du moderantisme, il n'y aurait pas a balancer. Un corps vigoureux, tourmente par une abondance de seve laisse plus de ressources qu'un cadavre".140) Dieser Appell an die Opferbereitschaft griff religiöse Symbolsprachen auf. Verwies der Tod im christlichen Verständnis auf die Unsterblichkeit des gläubigen Christen, so symbolisierte der Tod des patriote die Unsterblichkeit von Nation und Revolution. Das antike Motiv des Opfertodes am Thermopylen-Paß aufnehmend, formulierte Robespierre 1794: „Leonidas aux Thermopyles, soupant avec ses compagnons d'armes ... les invite pour le lendemain ä un autre banquet dans une vie nouvelle". Damit verlieh er dem Tod des Bürgers fur die Nation eine metaphysische Qualität, die ohne sakrale Symbole und religiöse Sprechweisen nicht überzeugend kommuniziert werden konnte: „Non, la mort n'est pas un sommeil eternel", sondern „le commencement de l'immortalite" und „un testament redoutable aux oppresseurs du peuple".141) Das ideologische Glaubensbekenntnis wurde im Gewand christlicher Formeln formuliert. Der Opfertod stand fur die völlige Übereinstimmung des einzelnen mit dem Gemeinwesen und erwies die Vereinigung der Freiheit des Bürgers, seiner volonte

individuelle,

mit der volonti

generale

der N a t i o n u n d

markierte so den Triumph der Tugend. Saint-Just sekundierte: „II y a quelque chose de terrible dans l'amour de la patrie; il est tellement exclusif qu'il immole tout sans pitie, sans frayeur, sans respect humain ä l'interet public".142) Diese 140

) Maximilien Robespierre·. Rede, 5 nivöse, an II (25. Dezember 1793): Rapport fait par Robespierre au nom du Comite de salut public sur les principes du gouvernement revolutionnaire, in: [Ders.] (Euvres de Maximilian Robespierre, avec une notice historique, des notes et des commentaires par Lapormeraye, precedees de considerations generates par Armand Carrel, 3 Bde., Paris 1840, hier: Bd. 3, S. 511-525; vgl. Elisabeth Guibert-Sledziewski: Pour la patrie: mort heroi'que et redemption, in: Viallaneix/Ehrard (Hrsg.): Bataille, Bd. 1, S. 199-208. 141 ) Maximilien Robespierre: Rede, 18 floreal, an II (7. Mai 1794): Rapport fait par Robespierre au nom du Comite du salut public sur les rapports des idees religieuses et morales avec les principes republicans et sur les fetes nationales, in: Ders.: (Euvres, Bd. 3, S. 607-642, sowie Ders.: Rede, 8 thermidor, an II (26. Juli 1794): Dernier discours de Robespierre, trouve manuscrit dans ses papiers, et imprime par ordre de la Convention nationale, in: ebd., S. 689-736. 142 ) Saint-Just: Rapport sur la conjuration ourdie pour obtenir un changement de dynastie; et contre Fabre d'Eglantine, Danton, Philippeaux, Lacroix et Camille Desmoulins,

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Umdeutung des Motivs christlicher Devotion in das Ideal des Opfertodes für die Nation wurde von Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts sehr genau wahrgenommen. Stendhals enthusiastische Schilderung von Kinderbataillonen in Grenoble während der terreur war insofern auch eine Reaktion auf eine bellizistische Tugendlehre, in der das neue Erziehungsideal des Krieges im Gegensatz zur bloßen Vorstellungswelt christlicher Werte eine konkrete Dimension hatte: „Je brülais d'etre de ces bataillons que je voyais defiler. Je vois aujourd'hui que c'etait une excellente institution, la seule qui puisse deraciner le pretrisme en France. Au lieu de jouer ä la chapelle, l'imagination des enfants pense ä la guerre et s'accoutume au danger. D'ailleurs, quand la patrie les appelle ä vingt ans, ils savent l'exercice".143) Unübersehbar trat seit Frühjahr 1793 die radikal-republikanische Bestimmung der Nation im Krieg immer deutlicher hervor. Angesichts militärischer Rückschläge äußerte sich darin eine kompensatorische Funktion der Kriegsdeutung, der eine systematische Greuelpropaganda entsprach, die sich vor allem gegen Großbritannien richtete und dabei antibritische Stereotypen aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges zuspitzte.'44) Als Folge dieser dynamisierten Kriegsdiskurse unterschied man zwischen dem Soldaten, der nichts als sein Leben habe, um es dem Vaterland zu opfern, und dem „franc republicain, electrise par ce nom sacre fde la patrie]", der durch den Krieg und die Berufung auf das Vaterland „sent doubler son existence, sent multiplier ses facultes". Auch hier setzte man ganz in der Tradition der Aufklärung auf eine moralische Erziehung durch den Krieg. Die äußerlich bedrohte Existenz der Republik ließ die „defenseurs" in den Mittelpunkt der Nation rücken. Die republikanische Tugend jedes einzelnen steigere sich im Augenblick des Kampfes zu einer unwiderstehlichen Kraft: La stabilite de la republique est aujourd'hui basee sur la vertu et le courage de ses defenseurs, sur le triomphe organisateur des talens qui doivent en soutenir les colonnes ... L'homme libre doit etre assez grand pour rapporter toutes ses actions ä Taction commune, de maniere que tous ses mouvemens combines avec ceux d'une force imposante, concourent egalement ä un succes decisif oü se trouvent confondus la fermete, l'hero'isme et la vertu republicaine de chaque individu. Delä ce triomphe universel, les vceux et l'espoir des vrais Citoyens.'45) 11 germinal, an II (31. März 1794), in: [Saint-Just] CEuvres completes de Saint-Just. Avec une introduction et des notes par Charles Vellay, 2 Bde., Paris 1908, hier: Bd. 2, S. 305-332. 143 ) Stendhal·. Vie d'Henry Brulard, Kapitel XII, zitiert nach: Guibert-Sledziewski: Patrie, S. 199. 144 ) Vgl. Bertrand Barere: Rapport sur les crimes de l'Angleterre envers le Peuple fran9ais, et sur ses attentats contre la liberie des Nations, Paris 1794; vgl. Sophie Wahnich: L'impossible Citoyen. L'etranger dans le discours de la Revolution franfaise, Paris 1997, S.318ff., sowie Michael Rapport: Nationality and Citizenship in Revolutionary France. The Treatment of Foreigners 1789-1799, Oxford 2000, S. 134 ff. 145 ) P. F. D. Lanible: Discours sur les dangers de la patrie, avec les moyens de la sauver, de recuperer les frais de la guerre, et de proclamer la liberte, la paix et la republique universelles, Dunkerque 1793, l'an second de la republique Fran9aise, une et indivisible, S.3, 15 und 40.

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges

Überzeugt von der Mission der Befreiung aller unterdrückten Völker, schien die „invasion Fran?aise" und die „republique invasionnaire" das Ende des Ancien regime in ganz Europa anzukündigen. Der Krieg war keinesfalls Selbstzweck, sondern notwendiges Instrument des zivilisatorischen Fortschritts, in dem die Republik als Verkörperung moralischer Tugenden handelte. Der Invasion sollte dementsprechend die Erziehung der befreiten Völker folgen: „Des proclamations amicales ... annonceront aux paisibles habitans la mission du peuple Franfais, qui ne combat que pour la gloire et le bonheur commun. On jugera sans doute indispensable, ä mesure que Γ invasion prendra un caractere de consistance, d'operer un desarmement universel. Lequel devra s'effectuer avec une tres grande circonspection, et on lui substituera les armes, plus fortes dans cette circonstance, de l'instruction". 146 ) Seit 1792/93 verfestigte sich mit dem Krieg vor allem der Gegensatz von positiven und negativen Wertattributen: Patriotischer Hingabe und Heroismus im Zeichen des Krieges standen Verrat an der Revolution und die gerechte Strafe dafür gegenüber.147) Die Idee einer allgemeinen Volksbewaffnung wurde in diesem Kontext zuerst von den radikalen Pariser Sektionen formuliert. Bereits am 6. Juli 1793 schlug die Sektion Luxembourg dem Konvent vor, alle Bürger vom 16. bis zum 50. Lebensjahr ohne Unterschied und auf Dauer einzuziehen und sie vor allem gegen die konterrevolutionären Departements einzusetzen. Noch weiter ging am 28. Juli Lacroix aus der Sektion Unite mit der Forderung, unverzüglich auf die Arbeiter und Handwerker aller entsprechenden Werkstätten zurückzugreifen, um sie mit der Herstellung von Waffen und Munition zu beschäftigen. Wer selbst keine Waffen habe, könne für den Munitionstransport sorgen oder Lebensmittel besorgen. Hier zeichnete sich die Idee einer umfassenden Mobilisierung und Funktionalisierung der gesamten Gesellschaft ab, um die Herausforderung des Krieges zu bestehen.148) Den Zusammenhang zwischen Kampfbereitschaft und Egalität aller Mitglieder der Nation formulierten zumal die Vertreter der radikalen Sansculotten. Im Namen der in Paris zur Bestätigung der Verfassung anwesenden Urwählerversammlung erklärte Abbe Royer am 11. August 1793, daß man nur in die Heimat zurückkehren werde, um Frankreichs Freiheit und die Rettung des Vaterlandes zu verkünden. Die Verfassung stand für die wehrbereite Nation, und Royers patriotischer Enthusiasmus verpflichtete alle Franzosen auf die Ausbreitung von Freiheit und Zivilisation.149)

Ebd., S.44—47. ) Vgl. Jean Gabriel Maurice Rocques de Montgaillard: Necessite de la guerre et dangers de la paix, La Haye 1794, sowie Louis-Fran^is Jauffret: Discours sur les plus beaux traits de courage, de bravoure et de patriotisme des soldats de la Republique, prononce a la Societe fraternelle de la section des sans-culottes, le 7 nivöse l'an deux, Paris [1794], 14S ) Vgl. Markov/Soboul (Hrsg.): Sansculotten, S. 107; vgl. Markov. Revolution, Bd. I, S.342. 149 ) Moniteur, 13. August 1793; vgl. Markov: Revolution, Bd.2, S.473ff. ,47

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Obgleich sich der Wohlfahrtsausschuß zunächst noch reserviert verhielt, weil er die praktischen Probleme eines Massenheeres fürchtete, übernahm der Konvent unter dem Druck der Urwählerdelegationen schließlich das Programm der allgemeinen Volksbewaffnung. Mit der Verkündung der levee en masse am 23. August 1793 wurden zum ersten Mal die Grundsätze eines Militärstaates und einer bewaffneten Nation formuliert, in der die Funktion aller Mitglieder geschlechter- und generationenübergreifend durch die direkte oder indirekte Beteiligung am Krieg definiert wurde.150) Diese Militarisierung der ganzen Nation im Krieg stieß aber sehr bald an ihre Grenzen. Mit den immer neuen Aushebungen nahm im Verlauf des Jahres 1793 vor allem außerhalb von Paris der passive und aktive Widerstand gegen die levee en masse zu. Charakteristisch war die Reaktion des Bürgermeisters von Berlencourt, einer typischen Handwerkergemeinde: „Que ceux qui se disent citoyens aillent defendre la Patrie, nous ne sommes pas faits pour defendre la nation".151) Die Volksbewaffnung und die postulierte Identität von Volk und Armee ließen eine weitere Dimension des Bellizismus erkennbar werden: Armie revolutionnaire und terreur wurden miteinander verbunden. Der Begriff der armie revolutionnaire, „habillee ä la ,demi-hussarde' et coiffee du bonnet de la liberie", stammte aus dem Kontext des Jahres 1793 und bezog sich zunächst auf die Feldzüge Frankreichs im Norden.152) Bertrand Barere, eines der radikalsten Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses, sagte im November 1793 zu, eine solche „armee revolutionnaire" aufzustellen, „qui executera enfin ce grand mot qu'on doit ä la commune de Paris: ,Pla9ons la terreur ä l'ordre du jour'". Dabei rechtfertigte er diese Maßnahmen mit der terreur der Revolutionsfeinde gegen die Jakobiner und betonte die legale, vom Konvent kontrollierte Gewaltanwendung: „ce ne sont pas des vengeances illegales, ce sont les tribunaux extraordinaires qui vont l'operer".153) Ganz anders, als es die revolutionären Befürworter eines gewaltsamen Exports der fortschrittlichen Revolutionsprinzipien erhofft hatten, überwog in der Reaktion der vom Krieg betroffenen Gesellschaften sehr bald die Opposition gegen den Sendungsgedanken der Revolution. Als Organisator der levee en masse vom August 1793 erkannte Carnot die Gefahr, daß sich die Nationalisierung des Krieges gegen Frankreich selbst wenden könne, indem die vom Krieg betroffenen europäischen Gesellschaften sich der gleichen nationalen Selbstbilder wie Frankreich bedienen könnten, um den Kampf gegen die Invasoren nun ihrerseits als Befreiungskampf zu rechtfertigen. Daher forderte er die Armeefuhrung auf, die nationale Kriegsrhetorik nicht ausufern zu lassen. Im Mai 15

°) Duvergier. Collection, Bd.6, S. 107f.; vgl. Markov: Revolution, Bd.2, S.481-484. ) Zitiert nach: Lestocquoy: Histoire, S. 111; vgl. G. Sangnier: La Desertion dans le Pas-de-Calais de 1792 ä 1802, Paris 1964. 152 ) Zitiert nach: Brunot: Histoire, Bd. 9/2, S. 789; vgl. T. Rousseau: L'Äme du peuple et du soldat, chants republicans, Paris 1793. 15 ') Moniteur, Nr. 251, 8. November 1793, S. 531. 151

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1794 mahnte Carnot die Armeeführer, es müsse alles unternommen werden, „pour empecher la guerre de se nationaliser contre nous". Hinter der Angst vor der terreur stand zudem die Furcht vor einer nicht mehr kontrollierbaren levee en masse.'54) Vaincre nos ennemis etrangers en arretant l 'audace de nos ennemis interieurs: Das Verhältnis von terreur und Krieg als Paradigma des revolutionären Bellizismus Die Zuspitzung von Gewalt legitimierenden Argumenten in der Phase nach 1791/92 wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis die Erfahrung der Nation im Krieg zur terreur als äußerster Steigerung revolutionärer Gewalt stand.155) Für Albert Soboul war die terreur eine Reaktion auf die militärische Bedrohung und ein Mittel, um den Krieg erfolgreich zu bestehen. Die Maßnahmen des Regimes von der levie en masse bis zur Verstaatlichung kriegswichtiger Betriebe schienen notwendig, um der Bedrohung von außen wirksam begegnen zu können.156) Die terreur konnte dabei als Folge des Krieges oder als eine seiner Ursachen interpretiert werden. Hinter beiden Erklärungen standen weitergehende Prämissen der Revolutionsdeutung: War die terreur die zwangsläufige Folge des Krieges, dann ließ sie sich als Konsequenz zunehmend eingeschränkter Handlungsspielräume einer von außen bedrohten Revolution rechtfertigen. Ging aber von der terreur ein eigener Bellizismus aus, der den Kriegsausbruch befördert und den weiteren Kriegsverlauf radikalisiert hatte, dann unterstellte

154 ) Carnot: Le Comite de Salut Public aux Representants a Γ Armee de la Moselle, 27. Mai 1794, in: Fran^ois-Alphonse Aulard (Hrsg.): Recueil des actes du Comite de salut public avec la correspondance officielle des representants en mission et le registre du conseil executif provisoire, Paris 1889 ff., hier: Bd. 13, S.779; vgl. ebd., Bd. 12, S.690 (19. April 1794) und Bd. 13, S. 285 (4. Mai 1794); vgl. Fehrenbach: Nation, S. 103; vgl. Gerd van den Heuvel: Terreur, Terroriste, Terrorisme, in: ReichardtlSchmitt!Lüsebrink (Hrsg.): Handbuch, Heft 3, S. 89-132, hier: S. 108, sowie A. Geffroy. „Terreur" et sa famille morphologique de 1793 ä 1796, in: Neologie et lexicologie. Hommage ä Louis Guilbert, Paris 1979, S. 124-134, hier: S. 126. 155 ) Vgl. im folgenden Mona Ozouf. Guerre et terreur dans le discours revolutionnaire, in: Viallaneix/Ehrard (Hrsg.): Bataille, Bd. 1, S. 283-298; Harry Kessler. Terreur. Ideologie und Nomenklatur der revolutionären Gewaltanwendung in Frankreich von 1770 bis 1794, München 1973; Jacques Guilhaumou: La Formation d'un mot d'ordre: ,Pla90ns la terreur ä l'ordre du jour' (13 juillet 1792 - 5 septembre 1793), in: Bulletin du Centre d'Analyse du Discours 5 (1981), S. 149-196; Richard Cobb: The People's Arms. The armees revolutionnaires: Instrument of the Terror in the Departments, April 1793 to Floreal Year II (1961-63), New Haven 1987; Sophie Wahnich: Declarer la patrie en danger. De Γ emotion souveraine ä l'acte du discours souverain, in: Jean-Paul Bertaud (Hrsg.): Melanges Michel Vovelle. Volume de l'Institut d'histoire de la Revolution fran9aise, Paris 1997, S. 207-217; Dies.: La Liberte ou la mort. Essai sur la Terreur et le terrorisme, Paris 2003, S. 59 ff., sowie Patrice Gueniffey: La Politique de la terreur. Essai sur la violence revolutionnaire 1789-1794, Paris 2000. 156 ) Albert Soboul: La Civilisation et la Revolution frangaise, Paris 1982, S.375.

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man eine größere Handlungsfreiheit, die es auch erlaubte, die historisch handelnden Individuen retrospektiv zur Verantwortung ziehen. Französische Historiker des 19. Jahrhunderts widmeten sich intensiv der Frage, ob terreur und Krieg als dialektisch verbundene Erfahrungen gelten konnten. Jules Michelet und noch Albert Sorel erkannten in den Akteuren der Septembermorde von 1792 die unmittelbaren Vorläufer der Siege von Valmy und Jemmapes.157) Edgar Quinet betonte, die Revolution habe auf jede innere oder äußere Bedrohung mit der ihr eigenen Gewalt und Aggression geantwortet: „au renvoi du ministere girondin le dix-aoüt; ä la prise de Verdun les massacres de septembre; ä la ligue des rois le terrorisme". Gegen die Vorstellung gewandt, die Siege der Republik seien nur durch die Maßnahmen der terreur möglich gewesen, argumentierte er, die „Grande Terreur" habe sich fast immer erst nach den militärischen Siegen eingestellt.'58) Seit der Mitte des Jahres 1793 habe die Systematisierung des Terrors durch Saint-Just und Robespierre dieses Muster irrationaler Reaktion zugunsten einer neuen terroristischen Tugendlehre abgelöst, die sich von äußeren Bedingungen immer mehr entfernt habe. Für Louis Blanc war die terreur ein aus der unmittelbaren Gefahr erwachsenes System, das die Konzentration aller Kräfte der Nation erlaubte und auf ein höheres Ziel hin ausgerichtet war: „La France ceda ä la necessite de centupler sa force et son energie en les concentrant".159) In dieser Sicht, die sich von Blanc bis zu Soboul fortsetzte, stellte die gesamte Entwicklung seit 1789 einen revolutionären Prozeß dar, der sich nicht in mehr oder weniger legitime Phasen aufteilen ließ. Bürgerkrieg und äußerer Kampf bildeten in dieser Perspektive eine Einheit, denn immer ging es um die Verteidigung der Revolution. Das ließ eine Isolierung der terreur aus der historischen Aneignung der Revolution nicht zu und schuf Raum für ihre Rechtfertigung, indem man sie als notwendiges Mittel zur Verteidigung der Freiheit begriff.160) In der historischen Situation Anfang September 1792, als der drohende Verlust Verduns die äußere Gefährdung Frankreichs vor Augen führte, war das gewaltsame Vorgehen gegen vermeintliche Revolutionsgegner allerdings keine direkte Reaktion auf dieses äußere Bedrohungsgefuhl. Am selben Tag, an dem in Paris die Nachricht vom drohenden Fall Verduns eintraf, warnte Vergniaud im Nationalkonvent vor den „terreurs paniques", mit denen die Emissäre der Gegenrevolution das Volk aufhetzen und so die revolutionäre Bewegung lahmen könnten. Nicht mehr gegen die „rois de bronze", sondern gegen die „rois '") Vgl. Albert Sorel: L'Europe et la Revolution fran^aise, 9 Bde., Paris 1885-1911, hier: Bd. 11, S. 531. 158 ) Edgar Quinet: La Revolution, 2 Bde., Paris 1865, hier: Bd. 2, S. 182, sowie Ders.: La Revolution, 2 Bde., Paris 1868, edition revue et augmentee de La Critique de la Revolution, hier: Bd. 1, S. 31. ,59 ) Louis Blanc: Histoire de la Revolution fran^aise, 2 Bde., Paris 1868, hier: Bd. 1, S.XVI. 16 °) Vgl. Benjamin Constant: Des effets de la terreur [Paris 1797], S. 78.

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environnes d'armees puissantes" gelte es zu kämpfen.161) Zudem widersprach die relative Inkohärenz des Geschehens in Paris einer intendierten Funktion des Terrors als Folge der äußeren Bedrohung. Eher wirkte die Bedrohung als Ferment für eine Vertrauenskrise, die seit der Wendung des Königs gegen die Verfassung schwelte, sich im September 1792 zuspitzte und in Gewaltaktionen überging. In den Berichten der Commissaires de la Commune fehlte jedenfalls jeder deutlichere Bezug auf die drohende militärische Niederlage und die Gefahr einer feindlichen Invasion. Angesichts der Aufstände der fidiris und der Einnahme Toulons durch die Engländer im Sommer 1793 schien die Republik erneut in höchster Gefahr. Unter dem Eindruck der Forderungen der sans-culottes beschloß der Konvent innerhalb von wenigen Wochen Zwangsmaßnahmen zur Aufstellung einer neuen armie revolutionnaire und zur Ausschaltung innerer Regimegegner im loi des suspects. Trotzdem läßt sich ein einseitiger Zusammenhang zwischen beiden Entwicklungen nicht ohne weiteres konstatieren, denn die Maßnahmen, mit denen das Regime die defense nationale organisierte, bedeuteten keine automatische Umsetzung der terreur. Zwar war der Kriegsdiskurs im Sommer 1793 von der Vorstellung geprägt, die Grenzen zwischen innerem und äußerem Kampf würden sich auflösen und eine nationale Verteidigungsgemeinschaft erzwingen, die Generationen und Geschlechter umfasse. Entsprechend betonte Bertrand Barere: „La Republique n'est plus qu'une grande ville assiegee".162) Aber für diese Projektion spielte die terreur keine entscheidende Rolle. Als der Nationalkonvent dann im September 1793 über die Legitimität und die Praxis der terreur debattierte, trat zwar der Zusammenhang zwischen inneren und äußeren Feinden der Revolution klarer hervor, denn viele Redner argumentierten, die inneren Staatsfeinde suchten die Unterstützung der äußeren Feinde Frankreichs. Die geforderte armee revolutionnaire sollte in den Departements mit der Guillotine vorgehen, „Γ instrument fatal qui tranche d'un seul coup et les complots et les jours de leurs auteurs". Dennoch folgte der Terror im September 1793 nicht einfach der militärischen Bedrohung. Der Aufruf „pla90ns la terreur ä l'ordre du jour" war in diesem Kontext vielmehr eine Reaktion auf die Wahrnehmung der angeblichen terreur der Gegenseite und bot die Chance, die revolutionäre Bewegung der sans-culottes zu institutionalisieren.163) Die Jakobiner argumentierten mit angeblichen Verschwörungsplänen, um die terreur zu rechtfertigen. Sosehr der Krieg gegen die Alliierten diesen Prozeß intensivierte, sowenig war er seine eigentliche Ursache. Wenn im Frühjahr 1794 die Terrormaßnahmen noch einmal verschärft und systematisiert wurden, dann sicher nicht unter dem Eindruck militärischer Niederlagen. Couthon forderte den Terror gerade unter Hinweis auf „cette energie, qui, dans 161

) Moniteur, Bd. 13, S. 596 und 600. ) Ebd., Bd. 17, S.475; vgl. Ozouf: Guerre, S.289. 163 ) Moniteur, Bd. 17, S.580 und 591. 162

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les derniers temps, nous a donne les moyens de vaincre nos ennemis etrangers en arretant l'audace de nos ennemis interieurs".164) Für die Zeitgenossen waren die Maßnahmen gegen die Revolutions- und Staatsfeinde stets mehr als eine Reaktion auf innere oder äußere Bedrohungen, sie waren Ausdruck einer revolutionären Tugend. Die günstige Entwicklung der militärischen Situation im Frühjahr 1794 konnte entsprechend nicht vorschnell als Sieg der Revolution gedeutet werden, sondern nur als Auftakt zu verschärften Spannungen, denen man mit einer um so radikaleren Förderung der revolutionären Moral begegnen müsse. Als Folge der gegnerischen Niederlagen erwartete man geradezu eine Verschärfung der terreur royale, auf die das Regime schon jetzt reagieren müsse, wenn es den Bestand der Revolution sichern wolle. Die nach außen siegreiche Revolution schien gefährdeter denn je, und Robespierre folgerte: „si nous battons les ennemis, si nous dejouons les conspirations qu'ils ont creees par la corruption, nous serons assassines".'65) Wo es im Sommer 1793 noch die Unterscheidung zwischen den äußeren und inneren Frontlinien gegeben hatte, wurden die Argumente in der Deutung des Krieges seit dem Frühjahr 1794 entschieden zugespitzt. Für Barere waren die Engländer als Synonym für die Revolutionsfeinde inmitten Frankreichs und sogar im Nationalkonvent zu finden. Dieser Totalisierung des Kriegsbildes nach innen und außen entsprach die Universalisierung der Feindvorstellungen. In der von Couthon aufgestellten Liste der zu bekämpfenden Volksfeinde nahmen nur drei Kategorien eindeutig Bezug auf den Krieg, so die der militärischen Kommandeure, welche Feinde Frankreichs unterstützten, während sich alle anderen Kategorien auf die prinzipielle Gegnerschaft zur Revolution bezogen. Die faktische Gleichsetzung der inneren und äußeren Feinde der Revolution rekurrierte aber weniger auf den Krieg als Ursache, sondern vielmehr auf das Verbrechen gegen die Revolution, das sich auch im Krieg zeigen konnte. Dagegen schien nur die gewaltsame Durchsetzung der revolutionären Moral des Volkes eine Lösung zu bieten. Wo aber durch die Erfahrungen der Revolution die Tugend eines einigen Volkes erodiert war und „deux peuples" existierten die Masse der Bürger „pure, simple, alteree de la justice et amie de la liberie" und die „ramas de factieux et d'intrigants, c'est le peuple babillard, charlatan, artificieux" - , dort geriet die projizierte Vollendung der Revolution durch die terreur an eine Grenze.166)

,64

) Ebd., Bd. 20, S. 696. ) Rede vom 6 prairial, an II, in: ebd., S. 579. ,66 ) Ebd., S. 589. 165

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III. Patriotische Deutung und revolutionäre Ideologisierung des Krieges e) Das Erbe des revolutionären Bellizismus nach 1794: Napoleon als Verkörperung der Grande nation und das fragile Legitimationsmuster des Krieges

Der Sturz Robespierres und die thermidorianische Wende im Juli 1794 bedeuteten keinesfalls eine Abwendung von der Idee der im Krieg manifestierten Grande nation, sondern ihre diskursive Steigerung unter veränderten ideologischen Vorzeichen. Das Ende der Diktatur offenbarte Spannungen zwischen den unterschiedlichen politisch-ideologischen Lagern, und der Rekurs auf die im Krieg siegreiche Nation konnte zunächst von solchen Polarisierungen ablenken. Auch nach dem 9. Thermidor bildete der Krieg einen wichtigen Legitimationsrahmen für das aus der Revolution hervorgegangene Nationskonzept, während sich das Verhältnis zwischen dem nach innen und dem nach außen gerichteten Bellizismus veränderte. Der Terror im Namen der bellizistischen Nation hatte seinen Höhepunkt überschritten und machte Kriegsbestimmungen Platz, in denen Interpretamente des expansiven Revolutionskrieges und des Staatenkrieges miteinander verschmolzen. La nation η 'a jamais ite plus grande: Die Stabilisierungsfunktion des Krieges in der Phase des Direktoriums Das Stabilitätskonzept der Thermidorianer machte militärische Erfolge als Beweis für den ungebrochenen Elan der Nation unentbehrlicher denn je. Die Kriegsdeutung setzte dabei aber weniger auf Erneuerung der Nation durch radikale Ausschaltung vermeintlicher Revolutionsgegner im Inneren als auf die Popularisierung des neuen Regimes durch äußere Erfolge. In diesem Kontext stand das Konzept der natürlichen Grenzen Frankreichs, wobei man sich vor allem auf den Rhein konzentrierte. Bereits im Oktober 1794 hatte der Wohlfahrtsausschuß bemerkt: „Sous peu de jours, le Rhin sera notre seule barriere. La nation n'a jamais ete plus grande".167) Die Kriege der Vergangenheit und die militärischen Führer der Gegenwart wie Hoche, Marceau, Pichegru und Joubert rückten nach dem Thermidor in das Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit und standen für eine nationale Sinnstiftung, auf die Bonaparte nach 1799 zurückgreifen konnte.168) Diese verband die militärische Machtexpansion Frankreichs mit dem Ideal des Befreiungskrieges und der vor 1789 zurückgreifenden Mission der Grande nation, enthielt also ein Element historischer Kontinuitätsstiftung. Das spätere Kaisertum Napoleons war insofern zunächst ein gesteigertes Feldherrnkönigtum, das plebiszitär abgesichert eine Brücke zwischen 167

) Le Comite de Salut Public aux Representants ä Γ Armee de Pyrennes Orientales, 7. Oktober 1794, in: Aulard·. Recueil, Bd. 17, S.287. 168 ) Vgl. Jean B. Carre: Panoplie ou reunion de tout ce qui a trait ä la guerre depuis l'origine de la nation fran9aise, jusqu'ä nos jours, Chalons sur Marne 1795, sowie Louis Pierre Anquetil: Motifs des guerres et des traites de paix de la France, pendant les regnes de Louis XIV, Louis XV et Louis XVI, depuis la paix de Westphalie, en 1648, jusqu'ä celle de Versailles, en 1783, Paris [1797],

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der revolutionären Legitimation und dem charismatischen Herrschaftsanspruch des erfolgreichen Militärfuhrers schlug. Die Erfahrung des Krieges hatte an diesem Wandel der Herrschaftslegitimation entscheidenden Anteil, denn aus der Revolutionierung der Nation seit 1789 war die Nationalisierung der Revolution im Krieg hervorgegangen. Sie bildete langfristig den Legitimationsrahmen für das napoleonische Kaisertum auf der Basis von Kriegen als Mittel der Machtexpansion nach außen und der Herrschaftsverdichtung nach innen. Mit dem Übergang zur Direktorialverfassung setzte um 1795 auch die gezielte Publikation von Heldenerzählungen ein, die das Bild des soldat citoyen und seiner Opferbereitschaft als verpflichtendes Erziehungsideal popularisieren sollten. Die als „livres elementaires" bezeichneten und der „universalite des Citoyens fran