Globalisierung nach der Corona-Krise: oder wie eine resiliente Produktion gelingen kann – Ein Essay [1. Aufl.] 9783658311827, 9783658311834

Unterbrochene Lieferketten, Schwierigkeiten im Nachschub einfachster medizinischer Schutzkleidung (z. B. Mundschutz) im

264 24 1MB

German Pages X, 84 [92] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Wie das Coronavirus SARS-CoV-2 die Schwächen der Globalisierung offenlegt (Hartmut Frey, Engelbert Westkämper, Dieter Beste)....Pages 1-24
Wie die Entwicklung von künstlicher Intelligenz und selbsttätigen Produktionssystemen alle bisherige ökonomische Theoriebildung über den Haufen wirft (Hartmut Frey, Engelbert Westkämper, Dieter Beste)....Pages 25-51
Brauchen wir Globalisierung? (Hartmut Frey, Engelbert Westkämper, Dieter Beste)....Pages 53-75
Back Matter ....Pages 77-84
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Globalisierung nach der Corona-Krise: oder wie eine resiliente Produktion gelingen kann – Ein Essay [1. Aufl.]
 9783658311827, 9783658311834

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Hartmut Frey Engelbert Westkämper · Dieter Beste

Globalisierung nach der Coronaoder wie eine Krise resiliente Produktion gelingen kann – Ein Essay

Globalisierung nach der Corona-Krise

Hartmut Frey · Engelbert Westkämper · Dieter Beste

Globalisierung nach der Corona-Krise oder wie eine resiliente Produktion gelingen kann – Ein Essay

Hartmut Frey Esslingen am Neckar, Baden-Württemberg, Deutschland

Engelbert Westkämper Stuttgart, Baden-Württemberg, Deutschland

Dieter Beste Mediakonzept Düsseldorf, Deutschland

ISBN 978-3-658-31182-7 ISBN 978-3-658-31183-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31183-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © olinchuck/stock.adobe.com Planung/Lektorat: Daniel Froehlich Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Die pandemische Ausbreitung des neuartigen Coronavirus ­SARS-CoV-2 brachte es in überdeutlicher Klarheit an den Tag: Die bisherigen Mechanismen, mit denen wir meinten, die Weltwirtschaft steuern zu können, erwiesen sich in der Krise als weitgehend hilflos. Ein reflexhafter Rückzug hinter nationale Grenzen sollte retten, was nicht zu retten zu war: Die Globalisierung, Leitstern unseres ökonomischen Handelns, wurde zum Synonym für „gestörte Lieferketten“. Wie werden wir in einer Post-Pandemie-Periode wirtschaften? Wird eine Rückkehr zum Status quo ante der Weltwirtschaft möglich sein? Mindestens zwei Gründe sprechen dagegen: Die weltweiten Herausforderungen durch den Klimawandel sind so immens, dass die Flucht zurück in nationalstaatliches Agieren ein blanker Hohn wäre. Im übertragenen Sinne verdammt uns der Klimawandel zum Multilateralismus – wie es uns das Coronavirus lehrt. Aber es gibt noch einen zweiten Grund, der tief im Inneren unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems verborgten ist – bisherige, an Arbeit geknüpfte Wertschöpfung funktioniert nicht mehr, wenn Künstliche Intelligenz und Roboter in der Produktion das Kommando übernehmen. V

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Vorwort

Die Globalisierung hat zu einer Globalisierung von Waren, Menschen und Informationen geführt. Der Neokapitalismus hat den Wettbewerb forciert, den Konsum als Treibstoff zur Stabilisierung der Gesellschaftsordnung beschrieben, damit aber auch die Rahmenbedingungen für die Eingrenzung der individuellen Freiheitsrechte aufgezeigt. In diesem Kontext hat das Coronavirus zu neuen kritischen Betrachtungen über die Struktur der Industriegesellschaft geführt. Dabei setzte die Kritik bisher fast immer an den ökologischen Auswirkungen an, die den Menschen immer bewusster werden lässt, dass der Mensch die Begrenztheit seines Lebensraums und seiner Lebenszeit durch natürliche Bedrohungen aus Bequemlichkeit nicht rechtzeitig erkennt. Er überließ sich dem alten Gesetz der Biologie, nach dem sich eine Lebensform so weit ausbreitet, bis sie an die natürlichen Grenzen gerät. Es lässt sich leicht nachweisen1, dass alle prekären Sekundärfolgen, mit denen die Menschheit es jetzt zu tun hat, durch die Verstädterung in Kombination mit dem Neoliberalismus verursacht wird. Jeder technisch initiierte Fortschritt zusammen mit den Profitvorstellungen der Kapitalgeber, hat zu einer Erhöhung der Zahl der Menschen, was das Marktpotenzial für Konsumgüter erhöht, geführt. Da es aber der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt war, der die ungeheurere Ausbreitung des Menschen ermöglicht hat, so ist der größte Teil der Menschheit von eben diesem Fortschritt abhängig geworden – ohne technischen Fortschritt ist der größte Prozentsatz der Menschheit zum Tode verurteilt. Das bedeutet, dass bei wachsender Weltbevölkerung, trotz Corona-Krise, jede konstruktive Lösung einen hohen Einsatz neuer naturwissenschaftlich-technischer und sozialer Erkenntnisse verlangt, ­ und die bereits entstandenen ökologischen Schäden einschließlich der zu erwartenden Pandemien verlangen nach neuem technischen Fortschritt zu ihrer Kompensation, also schon definitiv nach verbesserter erzeugter Technologie. Offensiv wird sie zugleich auf weitere Zurück-

1Dustin Garrick, Lucia De Stefano u. a.: Rural water for thirsty cities: a systematic review of water reallocation from rural to urban regions. In: Environmental Research Letters. 14, 2019, S. 043003, doi: 10.1088/1748-9326/ab0db7.

Vorwort

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drängung der Toleranzgrenze der natürlichen Umwelt hinarbeiten: auch diese wiederum zweischneidig in jedem Erfolg, notwendig immer prekärer werdend, und natürlich nicht endlos. Die hier aufscheinende Dialektik eines Fortschritts, der zur Lösung der von ihm selbst geschaffenen Probleme neue schaffen muss, also sein eigener Zwang wird, begleitet ihn auch auf dem Weg in eine postindustrielle Gesellschaft. Fraglich ist jedoch, ob auch nur die jetzigen 7,5 Mrd. Menschen ohne nicht reparierbare Umweltschäden annähernd auf dem Niveau der fortgeschnittensten Länder, mit Energie versorgt und ernährt werden können. Und lässt sich die Entwicklung der Menschheit mittels des Fortschritts so steuern, dass nicht nur die Menschen in den westlich orientierten Industrieländern davon profitieren, sondern auch die Menschen in den unterentwickelten Weltregionen? Die Frage nach den Trägern und Wirkungen des n ­ aturwissenschaftlichtechnischen Fortschritts auf die institutionellen Strukturen von (demokratischen) Gesellschaften oder einer gerechten Welt mit allseits akzeptieren Normen und ethischen Grundsätzen wird zur zentralen Achse sozialer Theoriebildung. Alain Touraine2 etwa charakterisiert die gegenwärtige Industriegesellschaft durch die gestiegene Bedeutung von Planung und Steuerung. Wie Etzioni3 zielt er auf einen universal planungsfähig gewordenen Staat, dem durch die Digitalisierung umfangreiche Planungs- und Kontrollstrategien zur Verfügung stehen und damit ungeahnte Einwirkungsmöglichkeiten der Gesellschaft auf sich selbst. Diese neuen Möglichkeiten unterscheiden sich von den typischen Risiken einer Industriegesellschaft in vielerlei Hinsichten. Sie sind weder räumlich noch zeitlich noch sozial eingrenzbar; die etablierten Regeln einer

2Alain Touraine: 3Amitai

Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt/M 1969. Etzioni: Die aktive Gesellschaft. Opladen 1975.

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Vorwort

sozial orientierten Arbeitsgesellschaft der Zurechnung und Verantwortung versagen bei ihnen; die sich abzeichnenden Veränderungen durch die Digitalisierung und verstärkt durch die C ­ orona-Krise sind irreversibel; die drohenden Änderungen der Gesellschaft, die bereits sichtbar sind, lassen sich nicht umkehren – nur minimalisieren. Hartmut Frey Engelbert Westkämper Dieter Beste

Inhaltsverzeichnis

1 Wie das Coronavirus SARS-CoV-2 die Schwächen der Globalisierung offenlegt 1 1.1 Re-Vitalisierung naturwissenschaftlich-technischer Systeme 6 2 Wie die Entwicklung von künstlicher Intelligenz und selbsttätigen Produktionssystemen alle bisherige ökonomische Theoriebildung über den Haufen wirft 25 2.1 Wertschöpfung in einem erweiterten System der Produktion 29 2.2 Technische Intelligenz für die Wertschöpfung der Zukunft 37 2.3 Mehrwert durch Kapital ohne Arbeit 41

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X Inhaltsverzeichnis

3 Brauchen wir Globalisierung? 53 3.1 Wirtschaften in Kreisläufen – eine Chimäre 55 3.2 Ökologie, jenseits von Wahrheit und Aufklärung? 57 3.3 Ökonomie contra Ökologie 60 3.4 Dimension der Globalisierung 66 Glossar 77 Literatur 83

1 Wie das Coronavirus SARS-CoV-2 die Schwächen der Globalisierung offenlegt

Durch die Corona-Pandemie beginnt man den Sinn der Globalisierung zu hinterfragen. Grundstoffe für Medikamente werden in Indien und China hergestellt, gleiches gilt für einfache medizinische Geräte, Schutzkleidung und Masken. Was sich bei der Softwareentwicklung, der Computerhardware und der Handyproduktion bereits seit Jahren abgezeichnet hat, wird bei Medikamenten und medizinischen Produkten in der Corona-Pandemie offensichtlich. Die Globalisierung hat die Organisationsstruktur von Unternehmen, die Verlagerung von Produktionsstätten, die Forschungsaktivitäten insbesondere die Lieferketten von Unternehmen schleichend verändert. Dass Gewinnstreben, Macht und Propaganda in der Entwicklung der Ökonomie eine viel größere Rolle spielen als allgemein angenommen wird, lässt sich auch an einer Analyse der Weltwirtschaftskrisen erkennen. Weil heute alles mit allem kommunizieren kann, wächst die Menge an Informationen, die sich gewinnbringend verwerten lassen. Die Ökonomie wird sich dadurch grundlegend verändern. Es entstehen neue Geschäftsmodelle mit völlig veränderten Arten der Entscheidungsfindung. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Frey et al., Globalisierung nach der Corona-Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31183-4_1

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Vermehrt haben sich weltweit operierende Unternehmen entwickelt, die dort fertigen lassen, wo die Herstellungskosten am geringsten sind mit der Perspektive, dass die weltweiten Transportkosten expandieren und dadurch das klimaschädliche CO2 ansteigt. Ökonomen, die global agierenden Manager der Finanzierungsgesellschaften und die CEO der Investmentfonds im Verein mit den Marketingstrategen von Großkonzernen entscheiden über die Globalisierungsstrategien, die Finanzierung den Kauf oder Verkauf von Unternehmen, und die Politik schaut hilflos zu und springt dennoch mit Steuergeldern ein, wenn wie gegenwärtig im Corona Shutdown Krisen auftreten. Das bisherige Wachstumsmodell der Wirtschaft beruhte auf der Erzielung eines möglichst großen Profits, verbunden mit dem Raubbau an der Natur und der Externalisierung der Kosten bis zum Entstehen globaler Müllhalden. Die Ökonomie dreht sich global in nie gekanntem kurzatmigem Takt, Neues, ja sogar nur wenig Verbessertes, gilt es durch aufwendige Werbekampagnen gegen Altes auszutauschen, und zwar ohne Rücksicht auf den Verbrauch von Ressourcen. Nachhaltigkeit wurde inflationär, aber inhaltsleer, wurde zum Beipackzettel von Werbestrategien und Wahlprogrammen politischer Parteien. Die Corona-Pandemie führt nun den Akteuren in Wirtschaft und Politik die Schwachstellen der entfesselten Globalisierung insbesondere der letzten Jahrzehnte vor Augen. Hersteller, die ihre Lieferketten zu dünn über den Erdball gezogen haben, müssen erkennen, dass diese im Zuge der Pandemie schnell zerreißen. Wer Teile aus China bezog, das bisher von weltweit agierenden Unternehmen häufig schlicht als billige verlängerte Werkbank wahrgenommen wurde, konnte schon im Februar dieses Jahres Probleme bekommen. Und wer im Frühjahr 2020 seinen einzigen Lieferanten in Italien hatte, konnte eventuell nicht weiterproduzieren. Seitdem das Coronavirus SARS-CoV-2 die Welt in Atem hält, beginnt sich auch das Verständnis von Effizienz zu ändern: Lieferungen just in time, bisheriger Effizienz-Standard in der Zulieferung, passen irgendwie nicht mehr in die Zeit. Aber wer profitiert wirklich, wenn alles bis ins Letzte unter Profitaspekten optimiert ist? Zuallererst Kapitaleigner und ihre Manager, die diese Prozesse vorantreiben.

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Die Corona Pandemie führt jetzt allerdings zu einer schleichenden Erosion bislang höchst einträglicher Globalisierungskonzepte und erschüttert in der Folge die bislang – wenn auch auf kleinerem Niveau – von diesen Geschäftsmodellen ebenfalls profitierenden Industriegesellschaften. Die von staatlicher Regulierung immer mehr entfesselte Globalisierung folgte bislang dem amerikanischen Beispiel: Die gegenwärtig größte und reichste Volkswirtschaft der Erde saugt das Kapital der Welt wie ein Schwamm auf, um es dann für den Konsum zu verwenden oder in Finanzprodukte zu investieren. Das Werkzeug dieser Umverteilung ist die weltweite Leitwährung, der US-Dollar. Die Corona-Pandemie beginnt nun, diese Mechanismen außer Kraft zu setzen, verbunden mit ganz neuen Unsicherheiten und Gefahren im globalen Wettbewerb. Wie ist es dazu gekommen? In den letzten mehr als zwei Jahrhunderten hat die von Adam Smith begründete klassische Nationalökonomie die Entwicklung der Volkswirtschaften geprägt. Mit der Weigerung der Ökonomie seither, auch nur irgendwelche Grenzen des Energie- oder des Ressourcenverbrauchs anzuerkennen, war die Marktwirtschaft bislang extrem erfolgreich: Kein anderes Wirtschaftssystem der Geschichte hat in so kurzer Zeit mehr Reichtum generieren und verteilen können. Marktwirtschaft wurde – auch in Konkurrenz zur kommunistischen Staatswirtschaft zum Synonym für die Effizienz ökonomischer Prozesse. Allerdings wird schon seit Längerem deutliche, dass der zunehmend wettbewerbsarme Marktmechanismus des Neo-Kapitalismus1 etwa in Gestalt der führenden amerikanischen Internet-Konzerne zu weltweiten Oligopolen führt, deren Geschäftsführung nicht mehr von den politischen Entscheidungsträgern der Länder kontrolliert werden kann. Noch sind die Nationalstaaten die wichtigsten Aktoren innerhalb der politischen Globalisierung, die Unternehmen aber die treibende Kraft beim Aufbau der globalen Weltwirtschaft. Was die Handelsbeziehungen betrifft, welche die Unternehmen (Hersteller, Finanzierungsge-

1Wir

folgen der Unterscheidung zwischen Neo-Kapitalismus und „Rheinischem Kapitalismus“, wie sie etwa Michel Albert in „Kapitalismus contra Kapitalismus“ vorstellte.

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sellschaften, Internet-Konzerne und Banken) miteinander sowie mit Staaten und Konsumenten pflegen, sind sie letztlich auf die Produktion angewiesen, um Gewinn zu erzielen. Die globale Ausdehnung der Warenmärkte einschließlich der Geldmärkte war die Folge. Dieses Bild beginnt langsam zu verblassen und wird durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschleiert. Das Bruttosozialprodukt, die Messlatte der Ökonomen, kann nicht durch Medien, Versicherungen, Bildung, Pflege und Kinderbetreuung gesteigert werden, und auch nicht durch Finanzdienstleistungen, wie es der Großteil der Ökonomen vertritt, sondern durch die Erzeugung von Produkten, für die das Individuum bereit ist zu arbeiten bzw. Risiken als Unternehmer auf sich zu nehmen oder auf einen Teil seines Einkommens zu verzichten, um dies den Finanzierungsgesellschaften oder den Banken anzuvertrauen mit der Hoffnung, dafür eine Rendite zu erzielen. Das Streben nach Gewinn bzw. nach Rendite hat nicht nur Nachsondern auch Vorteile. Nachteilig ist die Anstachelung von Bedürfnissen zum Konsum durch Werbekampagnen mit dem Effekt der Ressourcenverschwendung und der Naturausbeutung, die immer tiefer in das Leben des Individuums eindringen. Verdeutlicht wird dies an der Produktion möglichst billiger, kurzlebiger Konsumgüter, die Suche nach billigen Rohstoffen und nach billigen Arbeitskräften ist die Folge. Diese Motive werden bei globaler Betrachtung Makulatur, denn sobald nationale Aspekte zu einem Politikum werden, entstehen Konflikte, bei denen es um Machtverteilung bzw. Machterhaltung geht und nicht um Wettbewerbsfähigkeit oder steigenden Konsum. Eine globale Auseinandersetzung zwischen den Staaten um das richtige Wirtschaftsmodell, herunter gebrochen auf Forschungsinstitutionen und Unternehmensmodelle bis hin zu betriebswirtschaftlichen Konzepten, findet anhand der Digitalisierung gegenwärtig statt und hat durch die Corona-Pandemie zusätzlich an Aktualität gewonnen. Löst man sich aber von der Vorstellung des Unternehmensgewinns, der Triebfeder der Marktwirtschaft, so ergibt sich eine überraschende Möglichkeit der Zukunftsgestaltung, die jedoch ein grundlegendes Umdenken erfordert. Die derzeitige Finanzierung der Gesellschaft beruht größtenteils auf der Besteuerung von menschlicher Arbeit und menschlichem Konsum. Dieses Prinzip ist tief in die Fundamente der

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Gesellschaft einzementiert und bildet quasi die Grundlage der Marktwirtschaft. Die Corona-Pandemie wirkt dabei wie ein Blick durch ein Brennglas auf den erforderlichen Umbau der Sozial- und Steuersysteme hin zur indirekten Besteuerung von nichtmenschlicher Arbeit und damit zu einer Vergesellschaftung der Automatisierungsdividende bzw. Rendite. Eine automatisierungsfreundliche Gesellschaft, in der niemand aus finanziellen Gründen seinem Job nachtrauern muss, der von einem Roboter oder einem intelligenten Computersystem übernommen wird, ist auch eine partielle Antwort auf eine alternde Gesellschaft. Die gegenwärtige Krise bietet die Chance, den erforderlichen Wandel in der Weltwirtschaft nicht passiv über sich ergehen zu lassen, sondern ihn aktiv zu gestalten. Als Reaktion hierauf kann aber nicht die Einberufung eines Expertenrats sein. Es sind Konzepte aufzuzeigen, anhand derer die Globalisierung so zu organisieren ist, dass nationale technologische Highlights erhalten und massiv unterstützt werden, z. B. die Forschung und Entwicklung von systemisch wichtigen Technologien, wie die Automatisierung in Kombination mit Prozesstechnologien und den dazu erforderlichen Mess- und Analysesystemen in Kombination mit intelligenten Algorithmen, um sich damit eine Art Alleinstellungsmerkmal im globalen Wettbewerb zu erarbeiten und dadurch autark zu werden. Diese Krise ist auch eine gewaltige Chance: Jetzt bietet sich die Möglichkeit, Milliarden in Unternehmen und Infrastruktur zu investieren. Warum dann nicht gleich in nachhaltige Automatisierungsprojekte, die helfen ein Stück Autarkie im Rahmen der Globalisierung wieder zurückzugewinnen. Der Weg dorthin ist keine Selbstverständlichkeit und erfordert erhebliche Investitionen in naturwissenschaftliche, technische und soziale Forschung, insbesondere wenn die Schere zwischen den hoch bezahlten Spezialisten, die automatische funktionierende Systeme entwickeln, konzipieren und bauen, und den freigesetzten Arbeitskräften mit geringem Bildungsniveau noch viel weiter aufgeht als heute? Noch sind die Antworten auf diese Fragen weitestgehend ungeklärt.

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1.1 Re-Vitalisierung ­naturwissenschaftlichtechnischer Systeme Das Beziehungsgeflecht zwischen Naturwissenschaften und technischen Innovationen wird immer enger, wobei neuartige technische Systeme im Zusammenspiel mit verbesserten Analyseverfahren neue Experimentierniveaus ermöglichen. So führt die unterschiedliche Zielsetzung dieser beiden Handlungssysteme sowohl zu neuen Innovationen als auch zu neuem naturwissenschaftlichem Wissen. Und dies führt auch zu einer Veränderung der Beziehungen der Unternehmen untereinander, Abb. 1.1. Deutsche und europäische Großunternehmen haben ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilungen teilweise stark verkleinert

Generalunternehmer bildet mit Kompetenzlieferanten ein zeitlich begrenztes Gemeinschasunternehmen (Joint Venture) zum Bau von automaschen Produkonsanlagen nach Kundenspezifikaon bzw. gemeinsam entwickelten Spezifikaon Aufwand an interner Forschung und Entwicklung

Abb. 1.1  Potentielle Veränderung der Produktentwicklungsstrategie durch die Corona-Krise

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und diese an Generallieferanten abgegeben, die intensiver mit Komponentenherstellern im Forschungsbereich kooperieren, wobei gleichzeitig deren Einfluss auf Innovationen innerhalb der Technik zunimmt. Die Vorstellung von Großunternehmen und Generalanbietern (System- und- Modul-Lieferanten) als auch von Komponentenherstellern Know-how von Konkurrenten einzukaufen, kann keine Alternative mehr sein, da die Entwicklung von automatischen Produktionssystemen eine ganzheitliche Betrachtung von Prozessen, Sensoren, Aktoren, Analysensystemen und vor allem künstlicher Intelligenz erfordert. Die Neukonzipierung der Zusammenarbeit zwischen den Anlagenherstellern und ihren Kunden nach der Corona-Pandemie wird Forschungs- und Entwicklungsprozesse weg von den Kunden (OEM), hin zu dem Generalunternehmer verlagern, der für den Anlagenbau verantwortlich zeichnet, und hin zu den Komponentenlieferanten. Durch die Verschiebung der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten sparen die Kunden (OEM) Kosten, die sie für Marketing und Vertriebsaufgaben einsetzen können. Um die Anforderungen der Kunden schnell und kompetent mit neuestem Know-how erfüllen zu können, d. h. neue Innovationen vor der Konkurrenz auf den Markt zu bringen, sollte der Generalunternehmer mit einem oder zwei Kompetenzzulieferer Joint Venture auf Zeit gründen, in denen die gewonnenen Erkenntnisse aus Grundlagenforschung, angewandter Forschung, Entwicklung von Fertigungssystemen höchster Effizienz und Nachhaltigkeit eingebaut werden. Der Wissenstransfer erfolgt dabei über jene Personen, die am Forschungs- bzw. Entwicklungsprozess beteiligt waren, direkt in die Joint-Venture Unternehmen. Auf einen Wissenstransfer über Berichte, Besprechungen und Darstellungen von Projektfortschritten in Abhängigkeit von der Finanzierung, wie er bei der Einbindung externer Forschungseinrichtungen erforderlich ist, kann verzichtet werden. Auch dies spart Zeit und Geld. Die Fähigkeit und das Können der am Forschungsprozess Beteiligten kann zudem besser beurteilt werden. Der Ingenieur oder Wissenschaftler lernt durch ein Joint-Venture auf Zeit auch die Produktionsmethoden, die Managementstruktur mit den ent-

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sprechenden Entscheidungsprozessen der am Joint-Venture beteiligten Unternehmen kennen, was zur Kreativität beitragen kann. Der kreative Prozess ist ein Informationsgewinnungs- und Informationsverarbeitungsprozess, der in wesentlichen Teilen unterhalb der Schwelle reflexiver Kontrollierbarkeit abläuft. Kreatives Denken ist ferner ein Denken außerhalb von Regeln, wie sie in hierarchisch aufgebauten Unternehmen mit Entscheidungsstrukturen in der Regel vorgegeben werden. Der Kreativitätsprozess vollzieht sich oftmals nicht als gewollter Akt, sondern als das Zulassen von aufsteigenden Ideen oder Änderungen der Wahrnehmung. Kreativitätsmanagement wie von Wirtschaftspsychologen diskutiert ist wenig zielführend, wenn dafür notwendige Rahmenbedingungen wie hierarchieloses Brain-Storming nicht berücksichtigt werden. Sollen nach Auflösung des Joint-Ventures rechtliche Auseinandersetzungen vermieden werden, ist es erforderlich, sich über die Nutzung des erarbeitenden Wissens und Innovationen zu verständigen. Das Umsetzen einer Innovation bleibt immer ungewiss, sie lässt sich nicht zweckrational planen. Darin liegt das kreative Dilemma der Industriegesellschaft: Sie braucht noch den kreativen Prozess zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums und Reduzierung des Naturverbrauchs, versucht ihn aber zugleich durch Kosten-Controlling und Anreizsysteme für Start-ups zu lenken. In der neoliberalen Gesellschaftsordnung mit sozialen Elementen ist die funktionale Trennung von Neuheit und Wert institutionalisiert und zugleich brutalisiert. Nach der Corona-Krise wird der Druck zur Innovation noch zunehmen, um das Bruttosozialprodukt wieder auf das Niveau vor der Krise bringen zu können. Es müssen schnell neue wettbewerbsfähige Produkte auf den Markt gebracht werden, die zum einen ökonomisch und zum anderen kundenorientiert mit ökologischen, automatischen Produktionsmethoden hergestellt und verkauft werden können. Ein Problem, das sich sowohl in den Unternehmen und den Forschungsinstitutionen immer mehr ausbreitet, ist die Spezialisierung. Diese führt bei den am Forschungs- und Entwicklungsprozess Beteiligten zu einer Fragmentierung des vorhandenen Wissens durch

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die ungeheuerliche Vermehrung des Wissensstoffes und der dafür erforderlichen, immer subtiler werdenden Analysemethoden. Dieser Flut konditionaler, häufig zusammenhanglosen Detailergebnisse ist mit methodischen Überprüfungsregeln allein nicht mehr beizukommen. Auch Ersatzkriterien wie Reputation, Art und Ort der Veröffentlichung, institutionelle Basis usw. versagen. Das Peer-Review-System steht weltweit am Rand des Kollapses, da es die Fülle an Publikationen nicht mehr angemessen verarbeiten kann. Entsprechend greift die mit der Verwissenschaftlichung systematisch produzierte Unsicherheit auf die Gesellschaft über und macht die Adressaten und Verwender wissenschaftlicher Ergebnisse in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit zu aktiven Mitproduzenten im gesellschaftlichen Prozess der Erkenntnisdefinition. Dies ist eine Entwicklung von hochgradiger Ambivalenz wie die Corona-Pandemie zeigt: Sie enthält die Chance der Emanzipation gesellschaftlicher Praxis von Wissenschaft durch Wissenschaft; andererseits immunisieren gesellschaftlich geltende Ideologien und Interessenstandpunkte gegen globale, ökonomische Renditeforderungen. Eine weitere Chance aufgrund der Corona-Krise ist das Aufbrechen von informellen Netzwerken innerhalb der Wissenschaft und Technik. Der einzelne Naturwissenschaftler und Ingenieur zahlt in zunehmendem Maße für die schöpferische Mitwirkung an dem Entstehen neuen Wissens mit dem Verzicht auf Mitwissen an allem, was außerhalb seines engen Spezialgebietes liegt. So wird, während absolut der Wissensbestand wächst, das Wissen des einzelnen Wissenschaftlers immer mehr Stückwerk. Eine interne Analyse der Europäischen Kommission zum Ertrag von Forschungsmittel2, die an Forschungsinstitutionen vergeben wurden, hat gezeigt, dass nur 0,3 Prozent zu einer in der Industrie umsetzbaren Innovation geführt hat. Eine Straffung der staatlichen Forschungförderungssaktivitäten und deren Konzentration auf Technologien, in denen Deutschland als Exportnation noch global führend ist, wie etwa flexible, vollautomatische Produktionsverfahren mit on-line Sensorik und Auswertung ist daher nach der ­Corona-Krise dringend

2Rolf

Linkohr, ehemaliger MdEP, zuständig für Forschung und Entwicklung 2005.

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erforderlich. Schließung und Umbau von Forschungsinstitutionen könnte ein Weg sein. Darüber hinaus muss Schluss damit gemacht werden, die Gründung von Forschungsinstitutionen aufgrund des Proporzes der Bundesländer nach politischen Machtkriterien zu verteilen. Demgegenüber gilt es, wieder mehr Forschungsaktivitäten in die Unternehmen zurückzuverlagern und die bürokratische Projektförderung, verbunden mit langwieriger Antragstellung über Projektträger, Begutachtung, usw. zu überdenken. Noch in den achtziger Jahren war es nämlich üblich, dass Ideen in einem großen Kreis von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Marketingmanagern vorstellt und diskutiert wurden. Dabei war man sich einig, Ideen zu respektieren. Nach einer Pro- und Contra-Diskussion wurde meist schnell über die Förderung einer Idee entschieden. Vielmehr sollten wir dazu übergehen, hochqualifizierte Naturwissenschaftler und Ingenieure aus den zahlreichen Forschungseinrichtungen in Deutschland in Projektteams zusammenzuführen – ähnlich wie sie in Unternehmen bereits organisiert sind – um zu Themen wie neue automatische Produktionsmethoden, Anwendung von künstlicher Intelligenz oder Erforschung neuer Prozesse in interdisziplinärer Zusammenarbeit ressourcenschonende Innovationen zu entwickeln, die anschließend von Unternehmen in Produkte umgesetzt und auf den Markt gebracht werden können. Nach Abschluss eines Projekts löst sich das Team auf. Die Teammitglieder gehen an ihre Institutionen zurück oder bilden mit anderen Wissenschaftlern ein neues Projektteam. Dies erfordert von den Naturwissenschaftlern und Ingenieuren, neben der Bereitschaft, gesammelte Erfahrungen laufend infrage zu stellen, ihr Wissen und ihr Know-how mit anderen auszutauschen. Unternehmensberater werden sich darauf einstellen, künftig ganze Projektteams zur Bearbeitung einer Aufgabe nach einer Spezifikation zusammenzustellen. Nationale, öffentliche Forschungsförderung reduziert sich damit auf den Erhalt von Arbeitsplätzen in öffentlichen Institutionen oder dient zur Ausbildung bzw. Weiterbildung. Es

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wird sich eine Börse für qualifizierte Teams auf Zeit entwickeln, die Innovationen bis zur Produktreife führen, und deren Börsenwert von der Kreativität und dem Wissen der Teammitglieder und deren Zusammensetzung abhängt. Setzt sich der Trend zur weltweiten digitalen Vernetzung und der Einführung des 5G-Standards fort, werden rund um den Globus Fabriken entstehen, die sich sehr schnell auf neue, automatisch und nachhaltig hergestellte Produkte umrüsten lassen, wobei das Know-how bei den Herstellern der Produktionsanlagen bleibt. Unter Energie- und Ressourcenverbrauchsaspekten völlig sinnlos werden demgegenüber bis heute Waren und Zubehörteile rund um den Globus hin- und hergeschoben. Milliarden Tonnen von Feinstaub und Kohlendioxyd gelangen dabei in die Luft. Der aufgeblähte Warentransport ist mitverantwortlich für die sich anbahnende Klimakatastrophe. Um eine neue naturwissenschaftliche Erkenntnis in eine Innovation umzuwandeln, muss man zuerst bekannte naturwissenschaftlichmathematische Theorien und Hypothesen analysieren und diese dann mittels Algorithmen zu beschreiben versuchen. Die Regeln in der Rechenvorschrift des Algorithmus bestimmen, wie verfügbare Daten zu bewerten sind und was auf dieser Grundlage weiter geschehen soll. Der Produktionsprozess wird damit zum ganzheitlichen Datenverarbeitungsprozess, zu dem alle Teilprozesse in eine Beziehung gebracht werden können, der alle Teile zu einem Kontinuum verknüpft. Der intelligente Algorithmus hat das Potenzial, ganze Branchen zu transformieren, d. h. Unternehmenskonzentrationen herbeizuführen und diese in lernende Organisationen zu verwandeln. Hinter dieser Entwicklung verbirgt sich etwas Grundsätzliches: Man kann ein technisches System prinzipiell in ein formales, durch Codes beschreibbares Modell transponieren, es dort studieren und verändern, ohne es in der Realität testen zu müssen. Man kann es virtuell nachbilden, was sowohl Einfluss als auch Verantwortung mit sich bringt: Einfluss auf die Nutzung automatisierter Produktionsmittel und damit auf die Verteilung von Gütern. Und Verantwortung, weil alle Schlussfolgerungen nur in genauer Kenntnis der

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physikalischen Prozesse und den Voraussetzungen und Grenzen des Modells gezogen werden dürfen. Wissen, das auf abstrakten Datensätzen beruht, verarbeitet anhand selbstlernender Algorithmen, ist ausschließlich syntaktisch. Semantik kommt innerhalb der Entwicklung von künstlicher Intelligenz vor, sie existiert bisher hauptsächlich auf der Ebene der Interpretationen des menschlichen Programmierers oder Benutzers. Dies ist der Knackpunkt auf dem Weg zur Selbstbestimmung über das Maß an der Globalisierungsbeteiligung. Nur wer genaue physikalisch-chemisch-biologische Kenntnisse über das Verhalten von Reaktionen und deren Wirkungen besitzt, kann die Realität in ein Datenmodell übertragen und dies in automatisch funktionierende Fertigungsanlagen übertragen. Physik, Chemie, Biologie und Mathematik verschwimmen. Trotzdem ist der nächste Schritt zur selbstständigen Interpretation von Daten mit Deep Learning eingeläutet. Diese selbstlernenden Algorithmen basieren auf neuronalen Netzen. Algorithmen finden bereits heute Muster im Wust großer Datenmengen, etwa Strategien zur ökonomischen Herstellung von Produkten in automatischen Fertigungslinien, die global mit Lieferanten und Kunden vernetzt sind. Je komplexer die Kommunikation im System ist, umso mehr nähert es sich im Verhalten dem eines Organismus, der leicht zu infizieren ist – siehe Bankenkrise. Biologische Evolution und industrielle Innovation emergieren eine fortwährende Verbesserung der Umweltausbeute, zum einen durch höhere Effizienz der Verwertung und zum anderen durch effektiveren Zugriff auf die Umweltressourcen. Künstliche Intelligenz eines technischen Systems bedeutet letztlich, das System so zu generieren, dass es in der Lage ist, sich ein Bild der Umwelt mittels Sensoren und Aktoren zu machen, um daraus Handlungskonzepte entwerfen zu können; d. h. man muss es semantisch geschlossen generieren. Wahrscheinlich wird die künstliche Intelligenz im Laufe dieses Jahrhunderts dem Menschen in all seinen kognitiven Fähigkeiten ebenbürtig sein. Also nicht nur in logischem Denken, sondern auch in Kreativität, Intuition und Fähigkeit zur strategischen Planung. Auch bei naturwissenschaftlichen Experimenten, auf deren Ergebnissen immer mehr Innovationen beruhen, ist man auf Erfindungen und schöpferische Ideen angewiesen. Doch die Basis bildet mehr

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die mathematisch ausformulierte Theorie, die weit größer als die Orientierung am Nutzen im Falle der Technik ist, wo sich die erstrebte, funktionsfähige technologische Neuerung vielfach nur unter Zuhilfenahme von Berechnungsmethoden, Erfahrungsregeln und geschätzten Näherungsprozessen realisieren lässt. Diese methodologische Unterscheidung zwischen Technik und Naturwissenschaft wird idealtypisch hervorgehoben, wenn man von der projektiv-pragmatischen Methode der Technik – im Gegensatz zur hypothetisch-deduktiven Methode der Naturwissenschaften – spricht. Die projektiv-pragmatische Methode der Technik stützt sich hauptsächlich auf zwei Strategien: auf die erkenntnisliefernde (substantive) und auf die entscheidungssteuernde (operative) Strategie. Erstere findet stärker in der ingenieurwissenschaftlichen Grundlagenforschung, letztere vermehrt im Umgang mit technischen Systemen Anwendung. So ist beispielsweise in der Praxis Kognition, Invention und Innovation eines technischen Systems vom Betreiben – Steuern und Kontrollieren – in Bezug auf die andersartigen ökonomischen, betriebsorganisatorischen und produktionsorientierten Probleme zu unterscheiden. Es ist ein viel komplexerer Prozess ein neues technisches System zu konzipieren und naturgesetzlich-mathematisch zu erfassen, als es reibungslos und effizient zu betreiben. Wie viel jemand weiß, wird dank des sich stetig wachsenden Inhalts an gespeichertem Wissen der elektronischen Medien – wobei die intellektuelle Tiefe des Inhalts vernachlässigt ist – zunehmend irrelevant. Ist doch der Zugriff auf gespeichertes Wissen mittels Suchprogrammen und auf vertrauenswürdige Experten jederzeit und allerorts möglich. Das Nachschauen mit der Suchmaschine ist ohne Zweifel schneller als die Diskussion mit einem Fachmann, selbst wenn der unmittelbar neben einem säße. Damit relativiert sich das Nachdenken über die Lösung von Problemen, zum Beispiel das gründliche Einlesen in das Verhalten von Materie unter elektrischen und/oder magnetischen Feldern oder die Analyse von Artikeln unter dem Aspekt der Wahrheit oder der Hochstapelei des Autors. Das ständige Surfen im Netz mit der Suche nach konkreten Problemlösungen, einschließlich der Möglichkeit, Expertenmeinungen einzuholen, könnte die Kreativität des Einzelnen steigern. Die dahinterstehende Idee ist: Wenn einhundert Menschen ihre Ideen

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äußern, steigt die Chance, eine brauchbare zu finden. Die Innovationsbereitschaft des Einzelnen leidet dabei, da es bequemer ist, die Schwarmintelligenz zu nutzen, als selbst zu grübeln, und er außerdem darauf hinweisen kann, die anderen haben auch keine Lösung gefunden. Rechtfertigung beginnt, Kreativität zu überlagern. Noch sind die Algorithmen der Suchmaschinen vergleichsweise harmlos und nur ein erster Anfang der Digitalisierung von Wissen. Gegenwärtig wird nur das Finden von Wissen automatisiert, nicht jedoch seine Erzeugung durch das Suchen von immer neuen Vernetzungen – das aber wird Gegenstand der nächsten Stufe der Digitalisierung. Dann wird Wissen nicht mehr nur von Menschen erdacht, erforscht und aufgeschrieben, sondern aus verschiedenen Datensätzen neu zusammengefügt und errechnet. Die Grenze zwischen technischer Informationsverarbeitung und künstlicher Intelligenz wird im Verstehen liegen. Der Grund liegt darin, dass sich der Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion, der Bereich der Wechselwirkungen zwischen kognitiven Systemen im Zusammenhang mit dem Verstehen nicht auf psychische Prozesse reduzieren lassen, sondern als ein komplexes soziales und kognitives Geschehen zwischen Kommunikationspartnern begriffen werden muss. Wenn man das tut, wird deutlich, in welchem Maß psychische Prozesse der Menschen durch technische Kommunikation in automatisierten Fertigungssystemen beeinflusst werden. Die Digitalisierung der Kommunikation baut zwischenmenschliche Kontakte ab und lässt menschliche Beziehungen verarmen. Wo einst ein Subjekt mit moralischen Vorstellungen, Emotionen und individuellen Besonderheiten im Mittelpunkt stand, ist das Individuum in automatisierten Systemen einem beschränkten Vorrat rationaler Muster ausgeliefert. Die Funktionen der Betriebswirtschaft werden von der Digitalisierung tief greifend verändert – jetzt durch die Corona-Krise sogar noch beschleunigt. Die Folge sind Verwerfungen innerhalb des Sozialsystems Betrieb. Zur Analyse ist es sinnvoll ein geschlossenes, formales Modell eines Unternehmens aufzubauen. Formale Modelle gründen in der Regel auf menschlicher Anschauung und Erfahrung. Es sind Denkmodelle, die zunächst auf explizit formulierten Algorithmen basieren, wobei sich diese durch Deep Learning neu strukturieren lassen.

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Formale Modelle gleichen einem Spiel, das nach vorgegebenen Algorithmen abläuft. In jeder Situation des Spiels muss eindeutig definiert sein, was erlaubt ist und was nicht. Wichtig ist, dass alle Spieler – Mitarbeiter – die durch Algorithmen vorgegebenen Regeln gleich verstehen, dass also keine unterschiedlichen Interpretationen möglich sind. Die von allen voll verstandenen Vorgänge eröffnen betriebswirtschaftlichen Modellen neue Dimensionen mit der Gefahr, dass der Einzelne als austauschbare Nummer in den Dateien vernetzter Computer verschwindet. Algorithmen erstellen Diagnosen und Prognosen möglicher Entscheidungsalternativen einschließlich der Optimierung des Profits. Die automatische Verknüpfung von Wissen um Neues durch selbstlernende, immer komplexere Algorithmen zu generieren, beginnt langsam ohne Einwirkung des Menschen stattzufinden; mitgestalten kann der Mensch aber noch, auf welche Weise das geschieht und in welcher Form, ist noch höchst unklar3,4. Der Wandel kann auch als ein Prozess der „kreativen Zerstörung“ bezeichnet werden. Unternehmen verschwinden vom Markt oder werden von Großkonzernen assimiliert, ebenso einstmals mächtige Wirtschaftszweige und altbekannte Berufe. Gleichzeitig entstehen neue Tätigkeitsfelder, Unternehmungen und Branchen. Wer braucht noch geregelte Arbeitszeiten in Fabrikhallen, wenn es dort demnächst kaum noch Mitarbeiter gibt und stattdessen Roboter in großem Umfang Jobs übernehmen? Wer debattiert noch über Lohngerechtigkeit zwischen männlichen und weiblichen Angestellten in Büros, wenn der Sachbearbeiter und die Sachbearbeiterin weitgehend durch Algorithmen ersetzt werden? Die Corona-Pandemie hat mit der vielfachen Nutzung von Homeoffice den global agierenden Internetkonzernen riesige neue Märkte eröffnet.

3Brynjolfon,

Erik, Andrew McAfee: Race Against the Machine: How the Digital Revolution is Accelerating Innovation, Driving Productivity, and Irreversibly Transforming Employment and the Economy. Digital Frontier Press, Lexington (MA), 2012, ISBN 978-0-984-72511-3. 4Brynjolfsson, Erik; McAfee, Andrew; Pyka, Petra (2015): The second machine age. Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird. 2. Aufl. Kulmbach: Börsenmedien AG.

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Die Corona-Pandemie beschleunigt deshalb die Nutzung der Vernetzung zur Effizienzsteigerung der betrieblichen Abläufe innerhalb von Unternehmen und damit das Mensch-Maschine-System unter marktökonomischen Bedingungen. Wertschöpfungsketten verändern sich. Das Mensch-Maschine-System verschiebt sich zugunsten der Maschine. Im Ergebnis verschwindet so zum Beispiel das Internet zunehmend aus der direkten Wahrnehmung, obwohl seine Bedeutung weiterhin steigt und seine Präsenz zunimmt. Die Digitalisierung schreitet auf diese Weise weiter voran; sie erreicht inzwischen eine Stufe, auf der sich ihr Ausmaß erst bei genauerer Betrachtung zur Gänze offenbart. Ökonomen gehen davon aus, dass eine Gesellschaft, in der das reale Wachstum 0,1 oder 0,2 Prozent beträgt, nahezu unverändert bleibt. Auch nehmen sie an, dass sich dann die Struktur der Berufe nur wenig verändert. Aber künstliche Intelligenz verändert gegenwärtig alle bekannten Randbedingungen; die Karten des Spiels „Produktion“ werden neu gemischt. Automaten übernehmen die Wertschöpfung, d. h. der Neo-Kapitalismus als ökonomisches Modell muss grundlegend verändert werden. Ändert man die Rahmenbedingungen Profit zu machen, wie keine Schädigung der Umwelt, längere Nutzung von Geräten, geringerer Einsatz von Ressourcen, usw., so bieten sich neue Chancen der Zukunftsgestaltung, die jedoch ein grundlegendes Umdenken erfordern. Die derzeitige Finanzierung der Gesellschaft beruht größtenteils auf der Besteuerung von menschlicher Arbeit und menschlichem Konsum auf Kosten der Umwelt, regional und global. Dieses Prinzip ist tief in die Fundamente der Gesellschaft einzementiert und bildet quasi eine der Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft im Sinne des „Rheinischen Kapitalismus“. Die Alternative: ein schrittweiser, aber grundlegender Umbau der Sozial- und Steuersysteme hin zur indirekten Besteuerung von nichtmenschlicher Arbeit und damit zu einer Vergesellschaftung der Automatisierungsdividende. Gleichzeitig bietet eine automatisierungsfreundliche Gesellschaft, in der niemand aus finanziellen Gründen seinem Job nachtrauern muss, der von einem Roboter oder Algorithmus übernommen wurde, eine partielle Antwort auf das ­Demographie-Problem.

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Es bleibt nur eine Lösung: Roboter, vollautomatisch arbeitende Anlagen und Algorithmen müssen ein allgemeines Grundeinkommen erarbeiten. Der Weg dorthin ist keine Selbstverständlichkeit und erfordert erhebliche Investitionen in technische und soziale Forschung. Noch liegen die Antworten auf diese Fragen in weiter Ferne. Doch vor allem aus dem Silicon Valley kommt immer häufiger die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, um die Folgen der technologischen Arbeitslosigkeit abzufedern. Die neuen Technologien und die mit ihnen verwobenen ökonomischen Strukturen entstammen nicht dem Hirn eines bösen Mastermind. Sie sind vielmehr das Ergebnis des ungebremsten Strebens nach immer mehr Effizienz, nach Optimierung des Gewinns auf den Kapitaleinsatz. Die drängende Frage am Horizont ist, wie Wirtschaft und Gesellschaft dauerhaft als Konsumgesellschaft nach der Corona-Pandemie funktionieren sollen. Und es ist keineswegs sicher, ob die Aktionäre künftig ihr Eigentum nicht lieber unter den Schutz autokratisch regierter Staaten als unter den Schutz demokratischer Staaten stellen. Die globale Digitalisierung führt zu gewaltigen Umwälzungen, deren Ergebnisse heute nur erahnt werden können. Seitdem aufgrund der immer mehr auf Wissen und Erfahrungen basierenden technischen Entwicklungen die Zahl der international agierenden Großkonzerne wächst und deren Einfluss auf die Politik und damit auf die Veränderungen innerhalb der Gesellschaft zunimmt, werden die Wirtschaftswissenschaften attackiert, weil sie immer weniger in der Lage sind zu erklären, was eigentlich vorgeht. Selbst die modernsten Methoden, wie z. B. von Algorithmen erzeugten Modelle und Planspiele, sagen immer weniger über den Funktionsablauf einer Volkswirtschaft aus. Die Idee, eine auf mathematischen Beschreibungen basierende Ökonomie zu entwickeln, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, wenn man die bisherigen Ergebnisse der Volkswirtschaftslehre analysiert. Dann zeigt sich, dass es keine einzige ökonomische Theorie in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gibt, so einleuchtend und

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erkenntnistheoretisch sie auch gegenwärtig sein mag, die nicht aufgrund der stetigen Steigerung der Produktivität und Effizienz durch den technischen Fortschritt an Bedeutung verliert. Beispielhaft ändern sich die Besitzstrukturen von multinationalen Unternehmen. So hat die ETH-Zürich 43.000 multinationale Unternehmen untersucht und herausgefunden5, dass ein Prozent aller Firmen mehr als 40 % der Maschinen und anderer Investitionsgüter auf der Welt kontrollieren. Die einfache Erklärung lautet: Der Profit steigt mit der Größe des Unternehmens. In den 1990er Jahren waren die erfolgreichsten Firmen nur dreimal profitabler als der Durchschnitt, heute sind sie achtmal so profitabel. Jedes zweite Unternehmen mit überdurchschnittlich hohen Profiten kommt aus der Technologiebranche. Für Ökonomen war dies lange Zeit kein Problem. Übernahmen von Firmen unter der Ägide von Großbanken, die dabei reichlich Gewinn machten, wurden sogar von der Politik unterstützt. Doch nun wächst die Produktivität durch die Automatisierung. Das heißt, der Wettbewerb wird weniger intensiv durch die Konzentration, und der Einfluss einzelner Konzerne und Branchen auf die Politik wird größer. Neue Wege müssen gefunden werden, um den Missbrauch von Marktmacht zu bekämpfen. Das herkömmliche Kartellrecht hilft bei den global produzierenden Unternehmen mit ihren globalen Märkten kaum weiter. Die ökonomischen Vorstellungen werden sich nach der ­Corona-Krise grundlegend verändern müssen. Der heutige globale Kapitalismus hat keine positive Vision einer emanzipierten Gesellschaft zu bieten. Der liberal-demokratische Universalismus à la Fukuyama6 ist an seinen eigenen Beschränkungen und Widersprüchen gescheitert, und der Populismus ist das Symptom dies Scheiterns.

5www.blicklog.com/2011/08/22/neue-studie-der-eth-zrich 6Francis Fukujama: Political Order and Political Decay: From the Industrial Revolution to the Globalization of Democracy. Profile Books Ltd 2014, ISBN 978-1-84668-436-4

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Die Verteidigung des globalen Kapitalismus findet vor allem in den USA statt, dem Zentrum des modernen, entfesselten neoklassischen Kapitalismus. Der Neoliberalismus ist ein System, das allein dem Markt vertraut. Der braucht nicht reguliert zu werden, der Mensch hingegen schon. Er wurde zum Objekt einer ausgereiften Misstrauenskultur, eines Dauer-Testbetriebs. Auf allen Ebenen wird im Neoliberalismus evaluiert, auf jeder Stufe ein neues Rating hervorgezaubert, das Leben muss sich Tag für Tag neu bewähren, wird Schritt für Schritt bemessen. Inzwischen wächst die Erkenntnis, dass die konventionellen Wirtschaftstheorien den Bezug zur Realität verloren haben. Zu dieser neuen Skepsis trug die Ratlosigkeit bei, die den Vertretern des Faches ins Gesicht geschrieben schien, als 2008 die internationalen Finanzmärkte kollabierten und sich das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes in Luft auflöste. In dieser Situation ist es erforderlich, neue ökonomische Modelle und neue sozialwissenschaftliche Theorien zu entwickeln, insbesondere die Überarbeitung der Vorstellung des Grenznutzens ist unumgänglich. So gilt es beispielsweise die Werttheorie zu diskutieren, die nicht mehr von der Frage ausgeht, wie und von wem in der Produktion objektive Werte geschaffen werden, sondern von den Individuen mit ihren von den Medien und gesellschaftlichen Gruppen manipulierten Präferenzen und Bedürfnissen und damit davon, wie sich für diese subjektiv der Wert eines bestimmten Produkts konstituiert. Nicht mehr allein der Nutzwert eines Produkts sollte künftig kaufbestimmend sein, sondern es sollte auch die soziale und eine nachhaltige Komponente des Produkts ins Kalkül gezogen werden. Die Wirtschaftswissenschaften sind bis heute nicht in der Lage, den technischen Fortschritt als Treiber des Konsums – weder empirisch noch theoretisch – zu erfassen. Die Frage ist daher nicht, ob ökonomische Theorien, die den Produktionsfortschritt, das Sozialverhalten, den Ressourcenverbrauch, das individuelle Macht- und Gewinnstreben in die bestehenden Unsicherheiten integriert sind, sondern ob die bestehenden Unsicherheiten zwischen Theorie und Tatsachen vermehrt oder vermindert werden sollen, bzw. was sonst mit den aktuell diskutierten wirtschaftswissenschaftlichen Theorien geschehen soll. Aufgrund der offensichtlichen Fehlentwicklungen der Werttheorie, sichtbar in den Fehlentwicklungen der Finanzwirtschaft, empfiehlt es

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sich, über ein neues Konzept von Ökonomie, nach der ­Corona-Krise nachzudenken. Zu diskutieren sind insbesondere zwei Aspekte: der sozialen Aufbau einer neu zu organisierenden Gesellschaftsordnung – und darin eingebettet – die sich stets weiterentwickelnden Produktionssysteme in Kombination mit intelligenten, lernfähigen Algorithmen. Und zweitens der institutionelle Rahmen, bestehend aus gesellschaftlichen Normen, die einer stetigen Veränderung unterworfen sind. Relativ wenig ist darüber bekannt, wie die sich stetig verändernden Produktionsmethoden auf den institutionellen Rahmen der Gesellschaft rückwirken, in den sie eingebettet sind. Strukturelle Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen scheinen sich in Form von passiver Anpassung, zu vollziehen. Konzerne, die das Internet beherrschen, werden zu Oligopolen von Meinungen und Verbündete des tiefen Staates. Ohne Werbeeinahmen kollabieren sie. Allein unter diesen Aspekten ist ein ökonomischer Paradigmenwechsel erforderlich. Die Internetkonzerne beginnen darüber hinaus sich die Schlüsseltechnologien zur Professionalisierung der künstlichen Intelligenz anzueignen, um so die sozialen Netzwerke mit industriellen Netzwerken einschließlich neuer Technologien wie das autonome Fahren zu verknüpfen. Tatsächlich haben Ökonomen begonnen, neben der Rolle des technischen Fortschritts, worunter diese nicht nur Maschinen und Anlagen subsumieren, sondern auch die Qualität von Gesetzen und die Veränderungsgeschwindigkeit von gesellschaftlichen Normen, das Wissen und die Fähigkeiten der Menschen und weiteres mehr in ihre Gleichungen zu integrieren. Nicht aber die menschliche Anpassungsfähigkeit bzw. Trägheit, und vor allem nicht die Kreativität. Ebenso gibt es keine Analysen über die Auswirkungen der Verknüpfung sozialer Netzwerke mit industriellen Netzwerken auf die Ökonomie oder Ökologie, genauso wenig auf die Demokratie oder die Souveränität des Einzelnen. Die Verfügbarkeit über die Daten einschließlich deren Verknüpfung bis hin zur künstlichen Intelligenz ist zum Machtinstrument der Internetunternehmen geworden. Ausgangspunkt von Analysen über die schleichende Veränderung der Ökonomie dürfen indes nicht Untersuchungen von Ursachen und Wirkungen sein, sondern es müssen konkrete vorhandene Probleme

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und mögliche Problemlösungen, wie beispielsweise die weltweite Reduktion von CO2 als Folge automatisch betriebener Fertigungsanlagen, betrachtet werden. Das Ergebnis solcher Analysen darf sicht nicht nur in kausalen Verknüpfungen von Ursachen und Wirkungen erschöpfen, sondern muss einen Möglichkeitsspielraums funktionaler Äquidistanzen eröffnen. Das heißt, dass für Veränderungen im institutionellen Rahmen der Gesellschaft und damit der Ökonomie verursacht durch den technischen Fortschritt verschiedene Ursachenkombinationen oder für Ursachen einzelne Wirkungen herausgezogen und miteinander verglichen werden können, um daraus Konzepte für eine neue Ökonomie zu entwickeln. Medienwirksam aufgerüstete Ökonomen kämpfen hingegen für eine Anpassung des Neokapitalismus, in der moralische Selbstgefälligkeit mit dem Desinteresse für die Belange kommender Generationen zusammengeht. Begriffsblasen wie wertegebundene oder ethische Ökonomie oder Ökonomie für den Menschen führen zu keiner Umgestaltung der Ökonomie. Anstelle sich über die Deutungshoheit von Begriffsblasen zu echauffieren, über die Ungleichverteilung von Kapital und Einkommen ideologische Diskussionen zu führen, oder Kongresse über Wachstumsraten verursacht durch mehr oder weniger hohe Staatsschulden zu veranstalten, ist es für den Entwurf eines neuen Ökonomiekonzepts viel sinnvoller darüber nachzudenken, wie durch selbstlernende Algorithmen gesteuerte und betriebene Produktionssysteme bewertet werden sollen, insbesondere auch unter der Perspektive eines sich immer weiter ausdehnenden digitalen, globalen Netzwerks. Cloud-Computing, die Verlagerung von Informationsverarbeitungsprozessen auf externe Rechner und Speichersysteme, macht eigene informationsbezogene Infrastrukturen innerhalb von Unternehmen und Institutionen zunehmend obsolet. Die Vernetzung von Computersystemen in der Cloud ermöglicht eine flexible Bereitstellung von IT-Ressourcen. Ob dies bei immer schneller arbeitenden Computersystemen, deren Anschaffungskosten in gleichem Tempo sinken, langfristig sinnvoll ist, muss noch intensiver untersucht werden, insbesondere wenn zur Steuerung und Überwachung von automatischen Fertigungssystemen modifizierte Algorithmen eingesetzt werden.

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Im System Produktion sind solche Strukturveränderungen als Reaktionen auf externe Einflussfaktoren wie die Corona-Pandemie (Turbulenzen) und interne Veränderungen im Prozessablauf, in der Organisation, der Analytik und der Logistik erforderlich. Lernfähige Algorithmen organisieren die Speicherung von Erfahrungen mit dem Produktionssystem hierarchisch geordnet in schnellen, höchst integrierten Halbleiterspeichern, um so schnell auf geänderte Wiederholung eines Auftrages reagieren zu können. Anfangsdaten, für selbstlernende Algorithmen eines Produktionssystems lassen sich durch eine virtuelle Simulation der geplanten realen Produktion ermitteln. In dieser virtuellen Welt werden die Modifikationen und Veränderungen der Prozessabläufe und -parameter durchgespielt, um diese durch die virtuelle Simulation zu optimieren. Das Ziel dabei ist, menschliche Erfahrungen mit dem Umgang ähnlicher realer Produktionssysteme zu testen und dabei zu erkennen, welche Daten für Fertigungsparameter und Transportsysteme erforderlich sind. Ziel ist eine Kostensenkung. Die selbstlernenden Algorithmen lassen sich dadurch bereits mit den Erfahrungen von Experten (Expertenwissen) voreinstellen. Anfangsdaten für die selbstlernenden Algorithmen beschleunigen die reale Umsetzung einer Fertigungslinie und sparen dadurch Kosten. Die virtuelle Simulation greift neben dem Expertenwissen zunehmend auf Modelle der Werkstoffe und Prozesse sowie deren Verhaltensweisen unter Anwendungs- und Prozessbedingungen zurück. Werkstoffmodelle werden heute in der Wissenschaft mit spezifischen Eigenschaftsparametern entwickelt, welche eine Vorhersage des thermischen und mechanischen Verhaltens auch unter extremen Belastungen ermöglichen. Denkt man diese Entwicklung zu Ende, kommt man zum Konzept der Maschine, welche sich selbst nachbauen kann. Erreicht man erst einmal diese Stufe, so ist das industrielle Wachstum nur noch eine Frage des Materials, und es treten völlig neue soziale Gesichtspunkte auf, da die Menschen aus den Fabriken verschwinden. Der Gedanke lässt sich noch weiterverfolgen. Bei dem sich selbst nachbauenden technischem System hat man es mit einer homogenen Reihe zu tun, wobei in zyklischer Folge stets das gleiche technische System hergestellt

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wird. Ist diese Stufe des technischen Fortschritts erst einmal erreicht, kann man den Informationsfluss so verändern, dass ein von Stufe zu Stufe komplizierter werdendes technisches System entsteht. Geht man gedanklich noch einen Schritt weiter, könnte man auch den Maßstab des Systems verändern. Gelingt es, ein System zu bauen, das sich selbst im halben Maßstab nachzubauen in der Lage ist, so erhielte man eine Reihe solcher technischen Systeme, die immer mehr einschrumpfen, bis sie so klein sind, dass man die ganze Fabrik nur noch unter dem Mikroskop beobachten kann. Dieser Prozess stößt an seine Grenzen beim Übergang von der klassischen Mechanik zur Quantentheorie. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden endmonopolisiert: Neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden notwendiger, zugleich wird deren Wahrheitsgehalt immer mehr angezweifelt, wie die Berichterstattung über das Corona-Virus zeigt. So steckt beispielsweise in der Fähigkeit, höchst integrierten Chips herstellen zu können, die Innovationskraft neuer physikalischer Erkenntnisse ebenso wie die Umwandlung dieser in Verfahrenstechnologie und damit das Entstehen neuen Wissens im Umgang mit laufenden industriellen und informationstechnischen Prozessen. Maschinen, die Fehler vorhersagen können und automatisch Wartungsvorgänge auslösen, sparen enorm viel Zeit und Energie. Gleiches gilt für automatische Warnmeldungen, die Logistikteams über unerwartete Änderungen in der Produktion oder Materialengpässe informieren. Gegenwärtig wird nur das Wissen um den Prozessablauf einschließlich dessen Analytik automatisiert, nicht jedoch die Schritte, die zu neuen wissenschaftlich begründbaren Erkenntnissen über die Eigenschaften der Prozesse selbst führen. Diese beruhen meist auf Erfahrungen nach dem Prinzip Trial-and-Error. Anhand der Fortschritte bei der Entwicklung der künstlichen Intelligenz wird Wissen bald nicht mehr nur von Menschen erdacht, erforscht und aufgeschrieben, sondern aus verschiedenen Datensätzen neu zusammengefügt und errechnet. Es handelt sich hierbei um eine langfristige Entwicklung der Effizienzerhöhung für Maschinen und automatisierte Anlagen, die nicht allein auf die mechanische Fertigung anwendbar ist, sondern die sich auch auf andere Bereiche und Systeme übertragen lässt.

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Die Modellierung von Fertigungsprozessen, ist eine strategische Herausforderung der gesamten Industrie, wenn in nahezu allen Fertigungsprozessen die grundsätzlichen Phänomene und Wirkzusammenhänge geklärt sind, um sie simulieren und modellieren zu können. Durch die Entwicklung eines Digital-Twin-Modells – die Verbindung zwischen der physischen und der digitalen Welt, bereits beim Design einer Fertigungslinie – soll das Verhalten der Fertigungsprozesse in der realen Umgebung simuliert werden. Im Grunde schafft ein Digital-Twin-Modell anhand von Sensoren eine Verbindung zwischen der physischen und der digitalen Welt. Dabei wird mithilfe des digitalen Zwillings das Verhalten des Produkts oder Prozesses in der realen Umgebung simuliert. Die Prozessingenieure sind so in der Lage, mit der Software eines digitalen Zwillings eine erforderliche Korrekturmaßnahme vor ihrer Umsetzung zu erproben und damit Kosten einzusparen.

2 Wie die Entwicklung von künstlicher Intelligenz und selbsttätigen Produktionssystemen alle bisherige ökonomische Theoriebildung über den Haufen wirft

Die deutsche Fertigungstechnologie konnte in der Bankenkrise 2008/2009 ihre personellen und kapazitiven Kompetenzen im Wesentlichen erhalten und als die Nachfrage nach Produkten wieder anstieg, schnell reaktivieren. Einige wenige Unternehmen nutzten die Zeit der Krise, um Innovationen und Technologien für den Wiederanlauf vorzubereiten. Viele Wettbewerber wunderten sich über die Vorteile deutscher Unternehmen im internationalen Wettbewerb, die oft eine Folge der Nutzung von Kompetenzen zur Optimierung von Produkten und Prozessen war. Unternehmen waren dort erfolgreich, wo sie es wagten, neue Technologien zu implementieren, ihre Anwendungen zu perfektionieren und interne Prozesse zu rationalisieren. Die Anwendung der Methoden der Lean Produktion verschaffte vielen Unternehmen globale Wettbewerbsvorteile. In der Bankenkrise hatten in Europa Regionen mit mittelständischen Strukturen, breiten und tiefen Kompetenzen in den Technologien sowie der Fähigkeit zur Kooperation wirtschaftliche Vorteile, da sie ihre Produkte und Produktionen schneller wieder anlaufen lassen konnten. Die Zeit der Bankenkrise wurde vielfach zur Erneuerung der Produkte in einem strukturell geänderten Umfeld genutzt. Große staatliche © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Frey et al., Globalisierung nach der Corona-Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31183-4_2

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Forschungsprogramme wie das Programm der „Factory oft the Future“ der EU mit einem Volumen von 1.2 Mrd. Euro gaben wichtige Impulse für die verarbeitende Industrie. Die technologischen Ansätze waren bereits ausgearbeitet und konnten unmittelbar zum Recovery der Wirtschaft eingesetzt werden. Andere Unternehmen trieben nach der Bankenkrise mit Zuversicht neue Geschäftsmodelle im Life Cycle voran, die nachher kaum noch einholbar waren. Erstaunlich waren die großen Markterfolge einiger IT-Unternehmen. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass riskante Technologie wie beispielsweise in der Miniaturisierung in der Elektronikfertigung zur Anwendung gebracht und unkonventionelle Wege in den Geschäftsmodellen wie beispielsweise in der ­Internet-Community bestritten wurden. Die meisten der erfolgreichen Maßnahmen beruhten auf der Nutzung neuer Technologien, die bereits an der Schwelle zur Anwendung standen, aber ein mutiges Vorgehen brauchten, um die Wertschöpfungspotenziale nach der Bankenkrise zu aktivieren. Wurde die Bankenkrise von der nach Profit und Rendite strebenden Finanzwirtschaft verursacht, die mit Derivaten, die mit nicht mehr bedienten Krediten verknüpft waren, spekulierten, ist die Corona-Pandemie eine reine Wirtschaftskrise, die vor allem die westlichen Länder trifft. Den Verlauf einer Wirtschaftskrise zeigt die Grafik (Abb. 2.1) in einer abstrahierten Form. Zugleich standen aber die Technologien der globalen Kommunikation schon zur Verfügung, die für einige Unternehmen zur Grundlage des Wachstums wurden. Beispiele dafür sind die smarten Technologien oder die Logistik über Internetangebote wie sie von Amazon betrieben werden. Der stetige Ausbau der globalen Netze in Kombination mit selbstlernenden Algorithmen reduziert die Grenzkosten bei der Herstellung von Produkten. Die Personalkosten sinken dabei relativ im Verhältnis zu den Gesamtkosten. Die Material-, Transport- Energie- und Umweltkosten steigen, je nach Fertigungsprozess und Standort. Auch die Kosten für das Produktrecycling und die Aufarbeitung der verwendeten Materialien nehmen zu. Die weltweit agierenden, reale Produkte herstellenden Großkonzerne arbeiten mit Hochdruck an intelligenten

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Abb. 2.1  Wirtschaftskrisen: Schock und Reaktion in der global vernetzen Welt

ICT-Architekturen, die Billionen von Sensoren und Aktoren in Kombination mit Steuerungen in Produktionsstätten, Lagerhäusern Transportnetzen und dem Energienetz verbinden. Zwischen Autos, Büros, Fabriken, Wohnungen und den Internetkonzernen fließen bereits jetzt riesige Datenmengen, die von diesen für Werbebotschaften eingesetzt werden. Anhand der durch die Digitalisierung entstehenden Datenmengen, fangen die über viele Jahre entwickelten Algorithmen für maschinelles Lernen und „schmalbandige“ Künstliche Intelligenz plötzlich an, alltagstauglich zu funktionieren. Die Wertschöpfung als Summe der Erträge industrieller Leistungen abzüglich der Zukäufe ist abhängig von der Nachfrage nach Produkten, Produkt-Seviceleistungen und Dienstleistungen. Sie ist maßgeblich für Wohlstand und Volkseinkommen. Die vergangene Bankenkrise hat uns aber schon gezeigt, dass sich das System der Wertschöpfung dramatisch geändert hat. Dies war nur möglich, weil einige Schlüsseltechnologien bereits eine hohe technische Reife erreicht hatten. Nach der Bankenkrise passte auf einmal einiges gut zusammen: – Die Individualisierung der Nachfrage – Die globalen Standards der Kommunikationstechnik bestimmt von den amerikanischen Internetkonzernen

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– Die Digitalisierung in den Prozessen der Wertschöpfungskette – Die dadurch erhöhte Flexibilität und Verlässlichkeit der Herstellungsprozesse – Die Systematisierung des Qualitätswesens durch vorausschauende Analysen – Die Ausrichtung auf die maximale ökonomische, ökologische und soziale Effizienz Die Wirtschaft einiger Länder konnte sich schnell erholen, hat aber ihr ökonomisches System selbst nicht verändert. Nach wie vor basiert die Kostenrechnung der Unternehmen auf den direkten Kosten – mit Dominanz der Personalkosten – und Gemeinkostenzuschlägen. Der Gewinn aus der Differenz von Kosten zu Erlösen wird periodisch ermittelt und daraus werden die benötigten Ressourcen – Sachanlagen, Material und Beschäftigung – geplant. Das Management folgt überwiegend den geplanten Zielen und meidet Risiken unsicherer Technologien, was zu Verschleppung von Innovationen führt. Bewährte und beherrschte Technologien werden global eingesetzt und die Prozessstandards übertragen. In der Folge unterscheiden sich die in der Produktion eingesetzten Systeme in der Welt kaum, und es kam zur Suche nach den Standorten mit günstigsten Personalkosten. Nach der Finanzkrise wurden Forderungen laut, das System der Produktion resilienter zu machen und neue Konzepte zur Sicherung der Überlebensfähigkeit in turbulenten Umgebungen (Finanzen, Märkte, Technologien) zu entwickeln. Heute erlebt die Wirtschaft einen erneuten Schock durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen zur Eindämmung ihrer Verbreitung und zur Beherrschung der Anspannungen im Gesundheitswesen. In dieser Krise wurden die Schwächen der Globalisierung deutlich. Staatliche Maßnahmen mit Wirkung auf die verarbeitende Industrie richteten sich vornehmlich auf die Begrenzung der Mobilität von Menschen und Material und hatten damit unmittelbare Folgen für die Logistik und für die Verfügbarkeit von Ressourcen. Diese Maßnahmen änderten schlagartig die Nachfrage nach bestimmten Gütern wie Masken, Medizinprodukten und unterbrachen die Lieferketten. Der Internetbasierte Handel dagegen erlebte eine

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überdurchschnittliche Steigerung, was vielfach zu neuen Problemen in der Produktion führte. In den Prozessen des Service wirkten sich der Ausfall von Technikern aufgrund von Reiseverboten oder geschlossenen Grenzen vor allem in der exportorientierten Wirtschaft verheerend aus. Das Geschäftsmodell der kundenorientierten Produktion brach zusammen und wird sich erst dann wieder erholen, wenn die Mobilität von Menschen und Waren wieder frei von Einschränkungen ist. Eine Beschleunigung erfuhr hingegen die auf dem Internet basierende Kommunikation bzw. der digitale Informationsaustausch. Es zeigte sich plötzlich, dass virtuelle Konferenzen Hilfe im Austausch von Informationen sind und Meetings auch ohne persönliche Treffen zu Ergebnissen führen. Die Digitalisierung erfuhr durch Corona einen massiven Impuls in der gesamten Kommunikation. Die industrielle Produktion wiederum erfuhr durch digitale Kommunikation einen massiven Impuls, der auch in der Zukunft die Art und Weise der Erzeugung von Wertschöpfung in der Wirtschaft sowie die Geschäfts- und Unternehmensmodelle nachhaltig verändern wird. Die Kommunikation zwischen Kunden und Produzenten sowie Dienstleistern bedarf immer weniger der direkten persönlichen Kontakte.

2.1 Wertschöpfung in einem erweiterten System der Produktion Wertschöpfung beginnt mit der Entwicklung von kundenspezifischen Lösungen – also von Lösungen, die zumindest auf zu erwartenden Konsum treffen (Smartphone) – und vollzieht sich über die Herstellung bis zur Anwendung – einschließlich des Service im Lebenslauf der Produkte. Es ist auffallend, dass die Unternehmen, die diese Kette einschließlich der globalen Logistik voll beherrscht haben, die Gewinner in der vergangenen Bankenkrise waren. Diejenigen, die nach der Bankenkrise führend in der Umsetzung von Innovationen waren, konnten ihre Position erhalten und über Jahre ausbauen. Viele dieser Unternehmen wie beispielsweise Hersteller

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von Laserbearbeitungsmaschinen würden wir heute als Systemführer bezeichnen. Erstaunlicherweise gehören auch traditionelle Technologiesegmente wie der Maschinenbau, mit seiner Kompetenz zur Lösung von kundenspezifischen Problemen zu den Systemführern. Andere Sektoren nutzen neue Technologien der Informationsverarbeitung und der Kommunikationstechnik ebenso für die Generierung kundenindividueller Produkte. Sie folgen ihren Produkten in der Anwendung und bieten den Nutzern einen umfassenden Service. Dabei entstanden auch neue Modelle der Wirtschaft, deren Wertschöpfung nicht nur auf materiellen Produkten beruhte, sondern auf immateriellen Dienstleistungen. Sie benötigten für ihre Wertschöpfung die globale und standardisierte Kommunikationstechnik und IT-Netzwerke wie das Internet. Bei der Herstellung von Massenprodukten übernimmt der Computer bereits den Informationsfluss und damit die Kontrolle über den Produktionsablauf. Der Computer schafft damit die Voraussetzungen für eine Integration aller Unternehmensfunktionen. Der Mensch beginnt die Kontrolle dem Computer zu übertragen, der das aktive Teil eines Netzwerks ist, das die Anlagen und alle Maschinen darin mit sämtlichen Lieferanten, Entwicklern, potenziellen Kunden und damit mit dem Marketing verknüpft. Die Automation ist in dieser Betrachtungsweise nichts anderes als die Ausrüstung von technischen Systemen mit Sensoren und Aktoren kontrolliert von Algorithmen. Betrachtet man die bisherigen Unternehmensfunktionen, wird jedem Mitarbeiter quasi zugearbeitet: er hat Daten oder Produkte in ihrem Wert zu steigern und an andere Mitarbeiter zur Wertsteigerung weiterzuleiten. Dies bedeutet einerseits dem Arbeitszulieferer Verhaltensweisen vorzugeben, die die eigene Arbeit erleichtern, und andererseits dem Nacharbeiter Anweisungen weiterzuleiten, wie das wertgesteigerte Produkt zu interpretieren ist. Die formale Anweisung und der informelle Rat spielen dabei die gleiche Rolle, nur liegen bei der Transparenz für Dritte diese kaum offen zutage. Wird dieses Verhältnis durch den Einsatz von Algorithmen umgestaltet, so werden neue Absprachen erforderlich. Legt man Vereinbarungen in genau definierten Abläufen fest, wird die Veränderbarkeit einer Absprache nach einer Übergangsphase bis hin zur Starrheit reduziert. Wer dann wem zuarbeitet, wird belanglos,

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da allein das Endprodukt bzw. der Endzweck des Fertigungs- oder Montagevorganges zählt. Die angestrebte funktionelle Transparenz kehrt Weisungsstrukturen um. Dieser Vorgang verstärkt sich durch Vernetzung, weil sich die Reaktionszeiten verkürzen. Auf diese Weise entwickelt sich immer größere gegenseitige Abhängigkeit, die sich durch selbstlernende Algorithmen auflösen lässt. Eine virtuelle Produktion kann zunächst auch als eine Art Black Box betrachtet werden, in die Rohstoffe, Energie und Arbeitskräfte zugeführt werden und aus der fertige Produkte, niederenergetische Energie und Abfallstoffe herauskommen. Im Inneren der Black Box läuft alles nach Algorithmen ab. In jeder Situation muss eindeutig definiert sein, was erlaubt ist und was nicht. Wichtig ist, dass alle Algorithmen die Regeln gleich verstehen, dass also keine unterschiedlichen Interpretationen möglich sind. Selbstlernende Algorithmen beginnen diese Regel neu zu definieren. Eine Black Box, in der selbstlernende Algorithmen agieren, ist im Prinzip ein System, das über eine eigene Identität verfügt, ein Entwicklungspotenzial und eine Kontinuität besitzt, die es dem System ermöglicht, sich gegenüber verändernden Bedingungen anzupassen. Je komplexer die Kommunikation im System ist, umso mehr nähert es sich im Verhalten dem eines Organismus. Das Vorbild lernfähiger Systeme stammt aus der Psychologie und dem Versuch, das Lernen lebender Organismen nachzuvollziehen. Die Psychologie definiert das Lernen als eine Verhaltensänderung bzw. als Erwerb neuer Verhaltensweisen in einer wohldefinierten Situation. Lernen ist also kein reiner Abspeicherungsprozess, sondern ein Einordnungsprozess. Im System Produktion sind solche Verhaltensänderungen als Reaktionen auf externe Einflussfaktoren (Turbulenzen) und interne Veränderungen im Prozessablauf, in der Organisation, der Analytik und der Logistik erforderlich. Lernfähige Algorithmen organisieren die Speicherung von Erfahrungen hierarchisch geordnet in höchst integrierten Halbleiterspeichern, um so schnell auf geänderte Wiederholung eines Auftrages reagieren zu können. Anfangsdaten für selbstlernende Algorithmen eines Produktionssystems lassen sich durch eine virtuelle Simulation der geplanten realen Produktion ermitteln. In dieser virtuellen Welt werden die

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Modifikationen und Veränderungen der Prozessabläufe und -parameter durchgespielt, um diese durch die virtuelle Simulation zu optimieren. Das Ziel dabei ist, menschliche Erfahrungen mit dem Umgang ähnlicher realer Produktionssysteme zu testen und dabei zu erkennen, welche Daten für Fertigungsparameter und Transportsysteme erforderlich sind. Ziel ist eine Kostensenkung. Die selbstlernenden Algorithmen lassen sich dadurch bereits mit den Erfahrungen von Experten (Expertenwissen) voreinstellen. Die virtuelle Simulation greift neben dem Expertenwissen zunehmend auf Modelle der Werkstoffe und Prozesse sowie deren Verhaltensweisen unter Anwendungs- und Prozessbedingungen zurück. Werkstoffmodelle werden heute in der Wissenschaft mit spezifischen Eigenschaftsparametern entwickelt, welche eine Vorhersage des thermischen oder mechanischen Verhaltens auch unter extremen Belastungen ermöglichen sollen. Erreicht werden die Grenzen bereits mit der nächsten Generation von Computern. Die Strukturen der Speicher- und Prozessorelemente liegen jetzt schon im Nanometerbereich. Kleinere Strukturen bedeuten höhere Informations-Verarbeitungsgeschwindigkeit bei geringerem Energieverbrauch. Die modernsten Schaltkreise sind nur 5  nm (Milliardstel Meter) dick und können deshalb immer mehr Transistoren aufnehmen – Aberhunderte von Millionen. Die nächste Generation von Chips soll über 10 Mrd. Transistoren enthalten. Diese schaffen 35 bis 40 Billionen Rechenoperationen pro Sekunde und bilden damit eine wichtige Grundlage für selbstlernende Computersysteme. Die Life-Cycle Orientierung und die Digitalisierung haben eine global-vernetzte industrielle Welt geschaffen, die nicht mehr den herkömmlichen Methoden der betriebswirtschaftlichen Kostenrechnung und Konzentration auf direkte Arbeit folgt. Wettbewerbsvorteile lassen sich nicht mehr allein durch die Gewinnoptimierung in der Herstellung erzielen, sondern aus dem Gesamtnutzen von Produkten im Life-Cycle. In den Unternehmen kommt es zu einer grundlegenden strukturellen Veränderung der Arbeit, für die immer weniger direktes Personal und neue Aufgaben in den indirekten Bereichen benötigt

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Abb. 2.2  Wertschöpfung in Life-Cycle technischer Produkte

wuerden. Produktion beginnt beim Kunden sowie der Definition und Umsetzung seiner Anforderungen und endet mit der Verschrottung der materiellen Produkte. Die Darstellung zeigt den prinzipiellen Verlauf (Abb. 2.2) von Erträgen und Aufwendungen bzw. der Wertschöpfung. Wesentliche Aspekte der Optimierung betreffen die Minimierung der Summe aller Kosten für die gesamte Herstellung durch Anwendung neuer Technologien in Produkten und Prozessen sowie die Einbeziehung von Serviceleistungen in der Nutzungsphase. Dienstleister in der Peripherie, die mit ihren kommunikativen Relationen Einfluss auf die Systemeffizienz ausüben, sind Elemente des erweiterten Systems der Produktion. Dies ist für die Zukunft von entscheidender Bedeutung, da auf diese Weise eine hohe Resilienz und Flexibilität erzielt werden kann. Im Hinblick auf die Maximierung der Effizienz wird die Forderung nach regionaler Kooperation mit kurzen Wegen deutlich. Das Modell regionaler Wirtschaftszentren erklärt auch die Erfolge sogenannter regionaler Cluster, die breite Spektren unterschiedlichster regionaler Kompetenzen bündeln können und Risiken auf viele Schultern

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verteilen. Offene Innovationen basieren auf gemeinsamen Kulturen. Kurze Wege von Menschen und Material helfen, Verschwendung zu vermeiden. Diese Art der Produktion mit regionalen Wurzeln verfügt über eine hohe Systemdynamik, die den Austausch von Wissen zur Basis der Gewinnung einer hohen Wertschöpfung macht. Typisch für erfolgreiche Technologien ist deren Vernetzung und Kooperation in einem „erweiterten System Produktion“. Dieses System beginnt bei der kooperativen Produktentwicklung und endet mit dem Ende des Produktlebens bzw. mit Recycling und Wiedergewinnung der genutzten Materialien. Dieses Modell der Kreislaufwirtschaft passt in die Diskussion der aktuellen globalen Herausforderungen durch den Klimawandel. Es beruht auf dem Bemühen um einen maximalen Nutzen aus allen Erträgen und Aufwendungen im gesamten Lebenslauf. Es bricht mit klassischen Paradigmen wie der Verkürzung der Produktlebensdauer und bezieht die direkten und die peripheren Prozesse aller an der Entwicklung und Nutzung beteiligten Elemente des Systems Produktion mit ein. Es sucht nach der Profitabilität der einzelnen Prozesse und der Effizienz des gesamten Systems. Es werden die Gebrauchskosten für Energie und Emissionen sowie Abnutzung einbezogen. Die Abb. 2.3 zeigt die wesentlichen Merkmale eines erweiterten Systems industrieller Produktion, welches auf einem umfassenden

Abb. 2.3  Die Erweiterte Sicht auf das System der Produktion

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Systemmodell beruht, dessen Bilanzgrenzen in zwei Richtungen erweitert werden. Horizontal sind die materiellen Prozessketten von der Idee und der Generierung von Produkten bis zu derem Lebensende angeordnet. Die Prozesse der Herstellung und Nutzung stehen im Mittelpunkt der Wertschöpfung. Unter dem Einfluss moderner Technologien werden sie sich zu intelligenten, vernetzen, hoch automatisierten Elementen des Systems entwickeln, dessen Leistungsfähigkeit auch zukünftig für das gesamte System entscheidend ist. Der Wirkungsgrad dieses produzierenden Elementes hängt aber maßgeblich von den Prozessen bzw. den Elementen der Peripherie ab, die im Bild nur beispielhaft dargestellt sind, aber Einfluss auf die Wertschöpfung haben. Bei Letzteren handelt es sich sowohl um Unternehmen, die zu den Sektoren der Logistik und der Fabrikausrüster gehören, aber auch um Dienstleister für Fabriken wie beispielsweise Lieferanten für Betriebs- und Verbrauchstoffe sowie von Energie und Entsorgungsunternehmen. Im oberen Teil der Grafik sind diejenigen zu finden, welche Einfluss auf die Prozesse der Administration, und der Organisation der Unternehmen ausüben. Dazu zählen auch die öffentliche Hand mit ihren Gesetzen, Vorschriften und Informationsbedarf und Institutionen der Forschung, Aus- und Weiterbildung sowie Spezialisten des Engineerings einschließlich der Organisationen, die als klassische Dienstleister im Auftrag von Unternehmen tätig sind und mit diesen kooperieren (Beratung, Finanzierung, Banken, soziale Dienste etc.). Alle diese peripheren Elemente beeinflussen das operative Geschehen in den Unternehmen direkt oder indirekt. Ihre Kreativität und ihre Kompetenz können die Dynamik begrenzen, behindern oder verbessern. Verbindendes Element in diesem System ist die Kommunikationstechnik und in der Realität längst das Internet. Maßgebliche Innovationen in der Kommunikationstechnik wie beispielsweise neue Standards (5G) oder auch leistungsfähige Breitbandtechnologien haben das Potenzial zur Verkürzung der Wege zwischen Kunden und Herstellern und zwischen den Wissensgeneratoren und Anwendern, Gestaltern und Ausführenden oder zwischen den planenden, steuernden und überwachenden Techniken in allen Prozessen der Wertschöpfungskette.

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Typisch für ein derartig hoch vernetztes System ist seine Empfindlichkeit für Störungen. Kleinste Störungen können das ganze System lahmlegen. Die trifft umso mehr zu, je weniger Redundanzen im System verankert sind oder wenn die Kooperationsmechanismen gestört werden. Gerade die Maßnahmen zur Eindämmung der ­Corona-Infektionen haben gezeigt, dass plötzliche Störungen wie beispielsweise die eingeschränkte Mobilität der Facharbeiter oder die Schließung von Grenzübergängen ganze Lieferketten gestoppt und die Wirtschaft in vielen Sektoren zum Erliegen gebracht haben. In der aktuellen globalen Wirtschaftskrise, die durch die Corona Pandemie verursacht wurde und die erstmals in der Welt zu einem totalen und flächendeckenden Rückgang der Wertschöpfung geführt hat, zeigt sich der Grad der Vernetzung von Menschen und Wirtschaft dramatisch. Für langfristige Herausforderungen des Klimawandels werden noch keine befriedigende Lösungskonzepte für industrielle Unternehmen sichtbar. Wir müssen uns fragen, welche Technologien und Unternehmensmodelle uns langfristig weiterhelfen können und Gegenstand neuer technischer Lösungen für die Produkte und Geschäftsmodelle der Zukunft sein werden. Wir wissen, dass wir Lösungen mit langfristiger Perspektive brauchen, da unsere bisherige konsumorientierte Lebensweise nicht mehr lange das Rückgrat des Wohlstandes sein wird. Zukünftige Konzepte der Produktion sind regionale Konzepte, die in der Kultur regional verankert sind und eine viel höhere Robustheit gegenüber global vernetzten Strukturen der Wirtschaft haben. Sie folgen nicht nur den ökonomischen Gewinnzielen, sondern durchaus auch den sozialen Zielen, aber eingebettet in einen stabilen politischen Rahmen. Obwohl der Gedanke der Life Cycle-Optimierung nicht neu ist, muss man heute erkennen, dass die Wirtschaftskrise 2008 und 2009 die Anwendung dieses Modells stark beschleunigt hat. Viele Unternehmen folgten mit ihren Strategien erfolgreich diesem Gedanken. Dazu zusammenfassend einige Aspekte und Thesen: • Der ökonomische und ökologische Bilanzrahmen des Systems Produktion muss auf die gesamte Prozesskette von der Entwicklung bis zum Lebensende der Produkte bzw. Wiedergewinnung von Material erweitert werden.

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• Wir müssen die Industrie als ein skalierbares, komplexes, vernetztes soziotechnisches System aus Elementen und Relationen verstehen und danach streben, das System nachhaltig wandlungs- und anpassungsfähig zu halten. Vorbilder mit hoher Robustheit finden sich in der Natur. • Das Erweiterte System der Produktion hat erhebliche Potenziale für die Entwicklung regionaler Wirtschaftsräume mit Integration in die Wissensverarbeitung und Geschäftsmodelle der Zukunft. • Alle Elemente des Systems sind wiederum Teilsysteme und bedürfen der technologischen Optimierung auf der Grundlage von bewiesenem Wissen bis in die grundlegenden Wirkzusammenhänge zur Sicherung der effizientesten Arbeitsweise. • Die horizontale und vertikale Kommunikation muss Bestandteil einer Lernfähigkeit, Kooperationsfähigkeit und Selbstorganisation werden.

2.2 Technische Intelligenz für die Wertschöpfung der Zukunft In der Summe kann dies als eine Nutzung technischer Intelligenz bezeichnet werden, die in ihrer Konzeption auf die verschiedensten Sektoren der Wirtschaft Anwendung finden kann. Technische Intelligenz lässt sich definieren als Fähigkeit eines Systems zur Selbstorganisation, Selbstoptimierung und eine Skalierbarkeit in einem hierarchischen System von den elementaren Prozessen bis hinauf zu komplexen globalen Netzwerken. Ein technisch intelligentes System der Produktion (Abb. 2.4) umfasst also die grundlegenden wertschöpfenden Prozesse und verfügt über Fähigkeiten diese in ihren Grenzen zu beherrschen und Synergien durch kooperatives Handeln zu erreichen. Ein intelligentes Produktionssystem enthält Methoden der künstlichen Intelligenz und basiert auf einem multisensoriellen Kommunikationssystem ähnlich der Architektur biologischer kognitiver Systeme. Es bezieht letztlich das Wissen der Welt über eine Vernetzung der Wissensdateien ein und gründet sich auf den wissenschaftlichen Modellen komplexer technischer Systeme und ist lernfähig.

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Abb. 2.4  Technische Intelligenz in Systemen der Produktion

Mathematik und Informatik entwickelten die methodischen Grundlagen für eine Computerisierung der technischen Intelligenz, aber ohne das fundamentale Wissen um die Wirkzusammenhänge der Prozesse und ohne eine Überwindung von Grenzbereichen wird ihre Anwendung eine Fiktion bleiben. Technische Prozesse sind in ihrer Art hochdynamische Prozesse mit vielen dynamischen Einflussfaktoren. Einige bewirken Instabilität, weil sie trotz der Rückführung auf Naturgesetze und mathematisch beschreibbarer Phänomene immer auch zufällige Faktoren kennen. Beispielsweise Verschleiß oder Inhomogenitäten des Materials. Externe unzuverlässige Faktoren wie beispielsweise Eingriffe des Menschen tragen zur Unzuverlässigkeit bei. Erst mit experimentellen Untersuchungen und Erfahrungen aus der Praxis lassen sich statistische Sicherheiten erzeugen, welche Schrittweise zur Leistungssteigerung beitragen. Dies kann als ein Lernen bezeichnet werden, wenn es dem Erreichen von Zielen gerecht wird. In der industriellen Produktion geht es um die Wettbewerbsfähigkeit, die maßgeblich durch die Beherrschung der Prozesse in den Grenzbereichen von Leistung und Präzision bestimmt wird. Es ist ein Fakt, dass mit zunehmender Leistung – Geschwindigkeit, Ressourceneffizienz,

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Abb. 2.5  Handlungsfelder der Produktionsentwicklung

Präzision – die Prozess-Räume für die Beherrschung aller Parameter enger werden. Hier zeigt sich die Kompetenz der Gestalter von Produktionen in der Fähigkeit mit minimalem Aufwand einen maximalen Nutzen an Wertschöpfung zu erzielen. Das Wissen und dessen Integration in die technische Intelligenz ist folglich der Schlüssel der zukünftigen industriellen Arbeit. Abb. 2.5 stellt die Handlungsfelder für Produktionssysteme mit Höchstleistung (Performance) der Entwickler der Produktionen der Zukunft dar. In vielen Bereichen müssen erst noch die Grenzen der Technik überwunden werden, dazu bedarf es der Grundlagenforschung. Ein Beispiel dafür ist die Präzision elektronischer Bauelemente, bei der es gelang in den Nanometerbereich mithilfe extremer Präzision der Photonik und einer Beschichtungstechnologie auf atomarer Ebene vorzudringen. Grenzen setzen aber auch die spezifischen technischen Lösungen. So sind beispielsweise die Geschwindigkeiten und Bewegungsräume der Roboter. Das Verhalten technischer Systeme und ihrer Grenzen in Bezug auf Sicherheit, Verbrauch an Stoffen unter den Lasten der Anwendung kann mittels technischer Simulationen gelernt werden. Dies spart erhebliche Kosten von Experimenten und würde helfen die Effizienz permanent zu steigern.

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Ein Handlungsfeld betrifft das digitale Engineering mit Produktmodellen also digitalen Bildern der Produkte, die nicht nur Geometrie beschreiben, sondern auch das Verhalten der Werkstoffe im Fertigungsprozess oder unter den Bedingungen und Lasten der Anwendungen. Die digitalen Modelle gestatten eine Evaluierung der Lösungen bereits in der Entstehungsphase durch Ingenieure, wobei das Wissen aus dem Netzt bezogen werden kann. Dieses Wissen muss in die Steuerungen ganzer Prozessketten fließen, damit Abweichungen kompensiert werden können und die Selbstorganisation sowie Selbstoptimierung möglich werden. Das Wissen entsteht aus der sensorischen Beobachtung der praktischen Anwendung und wird über die Kommunikationsnetze des erweiterten Systems der Produktion permanent vergrößert. Schließlich gibt es das Handlungsfeld Management und administrative Prozesse. Dieses wird in der Zukunft zur Drehscheibe der Anwendung von Wissen im Kontext zu Situationen (Events), wobei auch hier der Automatisierungsgrad durch Verwendung von AI (Artificial Intelligence oder künstilche Intelligenz) zunehmen wird. Automatisierung der Geschäftsprozesse wird durch AI möglich, sofern diese auf reproduzierbaren Abläufen beruhen. Hier liegt das Kerngebiet der KI und AI in der industriellen Organisation. Alle wiederkehrenden Vorgänge lassen sich durch Rechner unterstützen und damit automatisieren. Die Methoden der modernen Informatik und speziell der lernfähigen Systeme (Künstliche Neuronale Netze, KNN) in Verbindung mit der Cloud-Technologie und dem Übertragen und Verarbeiten großer Datenmengen (Industrie 4.0) schaffen die Voraussetzungen für die eigentliche industrielle Revolution mit einer massiven Reduzierung des Personalbedarfs. Es entsteht ein Scenario einer hochgradig vernetzten Informationswelt mit dezentralen Aktoren und Produktionen, welche den Prinzipien der technischen Intelligenz folgen. Die Vernetzung und die Wirksamkeit der Kommunikation hängen natürlich von der globalen Standardisierung ab. Diesbezüglich besteht eine Notwendigkeit globaler Kooperation ungestörter Informationsflüsse. Eine intensive Forschung gekoppelt mit mathematischen Modellen liefert auch die Grundlagen für die Realisierung von Standards um die Kosten der Experimente und Erfahrungen aus Unsicherheit und

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Unwissen zu reduzieren. Die erfreulichen Initiativen zur Thematik Industrie 4.0 oder zu AI sind wichtige Schritte zur technischen Intelligenz, müssen aber um Grundlagen zur Klärung aller Phänomene der Prozesse und zur Absicherung des Wissens durch wissenschaftliche Arbeit ergänzt werden. In der Technik fehlt dann noch das gestalterische Element der Ingenieure bzw. die Kreativität neuer Lösungen im Hinblick auf die konkreten Bedarfe einzelner industrieller Sektoren. Das System der intelligenten Produktion im Life Cycle, in dem die Konzepte und Prinzipien des bisherigen Beschäftigungssystems zur Disposition stehen, wird bisher kaum theoretisch unter Beachtung der unterschiedlichsten Aspekte analysiert. So ist z. B. zu beobachten, je exakter man die Virtuelle Welt darstellen kann, desto umfassender verändert sich das Tätigkeitsprofil von Designern und Konstrukteuren, die es gewohnt sind, ihre Ideen und Vorstellungen direkt in konkrete Formen auszudrücken, oder sie als dreidimensionale Skizzen mit dem Zeichenstift auf Papier zu werfen. Zunächst hatte man geglaubt, dass der Designer als auch der Konstrukteur durch die Möglichkeiten und Fähigkeiten zum genialen Gestalter würde; aber die Praxis zeigt, dass die hohe Perfektion, mit der Algorithmen und Virtual Reality-Systeme funktionieren, den Designer und Konstrukteur häufig an die Hand nehmen und ihn unter Berücksichtigung aller wichtigen Randwerte zum spezifizierten Ziel führen. Für Kreativität bleibt nur begrenzter Raum; was bleibt ist die Überprüfung die am Bildschirm bzw. in Zukunft mittels Laser in Echtzeit und in der Realität dargestellten Produkte, die als Konsequenz von Grobspezifikationen nach komplexen Algorithmen erzeugt werden. Die Digitalisierung reduziert die Reflexion über innovative Problemlösungen, das Individuum ist einem System mit beschränktem Vorrat an rationalen Mustern ausgeliefert.

2.3 Mehrwert durch Kapital ohne Arbeit Das Neue an der Corona-Pandemie in Verbindung mit der globalen Digitalisierung ist, dass diese Veränderungen, mit denen das Kapital auf sie reagiert, mit den gegenwärtigen Steuerungsmechanismen der Notenbanken immer weniger beherrschbar sind.

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Zur Beschreibung dieser Entwicklung verwenden die Ökonomen den Begriff Produktionsfunktion. Hierbei handelt es sich um eine mathematische Formel, in der die Ökonomen den technologischen Stand von Produktionsmittel einer Gesellschaft versuchen zu beschreiben. Die Produktionsfunktion ist nach den Vorstellungen der Ökonomen maßgeblich durch eine Substitutionselastizität zwischen Kapital und Arbeit gekennzeichnet, wobei dieser Begriff messen soll, wie leicht es möglich ist, Arbeit durch Kapital zu ersetzen, um die nachgefragten Güter und Dienstleistungen zu erzeugen. Eine Substitutionselastizität von null bedeutet nach Vorstellungen der Ökonomen eine Produktionsfunktion mit völlig starren Koeffizienten: Auf einen Industriearbeiter kommt genau eine Maschine nicht mehr und nicht weniger. Würde jede Arbeitskraft auch nur eine zusätzliche Maschine bedienen, könnte sie damit nichts mehr an Zusätzlichem herstellen was der Markt aufnehmen kann, und die Grenzproduktivität dieser zusätzlichen Kapitaleinheit läge bei null. Wenn es im Verhältnis zum verfügbaren Kapitalstock eine Arbeitskraft zu viel gibt, ist es unmöglich, ihn in irgendeiner Weise produktiv einzusetzen. Umgekehrt bedeutet eine grenzenlose Substitutionselastizität, dass die Grenzproduktivität des Kapitals völlig unabhängig von der Kapitalmenge und der verfügbaren Arbeit ist. Insbesondere die Kapitalrendite hängt nicht von der Kapitalmenge ab: Es ist immer möglich, mehr Kapital zu akkumulieren, um die Produktion um einen Prozentsatz zu erhöhen, z. B. um 5 oder 10 % pro Jahr und pro zusätzlicher Kapitaleinheit. Man kann an eine voll automatische Produktion, gesteuert durch selbstlernende Algorithmen denken, in der die Produktion grenzenlos gesteigert werden kann, da allein das Kapital arbeitet. Keiner dieser beiden Fälle ist tatsächlich relevant: Beide gehören gegenwärtig noch ins Reich der Phantasie. Bei einer vollautomatischen Produktion kann die Herstellung von realen Produkten nicht unbegrenzt gesteigert werden, auch unter der Prämisse, dass sich Maschinen und Anlagen mittels künstlicher Intelligenz selbst reproduzieren und Ressourcen, wie Rohstoffe und Energie ohne Schädigung der Natur unbegrenzt zur Verfügung stehen würden. Die Zahl der Abnehmer der Produkte ist einfach begrenzt. Die Substitutionselastizität zwischen Arbeit und Kapital nähert sich null,

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d. h. die Grenzproduktivität des Kapitals nimmt ebenfalls ab, das Kapital wiederum würde sinken, was aber nicht der Fall ist, da es sich selbst reproduziert. Die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Kapital wird dadurch immer undurchsichtiger. So gibt es längst zahlreiche Tätigkeitsfelder, auf denen sich Organisations- und Eigentumsformen entwickelt haben – öffentlich finanzierte Forschungs- und Entwicklungszentren –, die mit den polar einander gegenüberstehenden Paradigmen rein privaten Kapitals oder rein öffentlichen Kapitals nur noch wenig zu tun haben. Einher geht diese Entwicklung mit einer schleichenden Enteignung des Sparkapitals des Individuums zugunsten des Staatskapitals und damit der Machtverteilung zugunsten politischer Entscheidungsträger, die gleichzeitig immer stärker in die Abhängigkeit von global agierenden Großkonzernen geraten. Mehr mit weniger Arbeiten war schon immer eines der Ziele der politischen Ökonomie; aber man verfolgte und verfolgt immer noch dieses Ziel lediglich unter der Betrachtung relativer Größen (weniger Kapital und Arbeit pro Produkt, d. h. Reduktion der Grenzkosten) im Rahmen eines Wachstums der absoluten Mengen (mehr verwertetes Kapital mithilfe einer Produktion, die schneller Anstieg als dieses). Nun hat aber Automatisierung die Folge, dass es zu einer Reduktion der absoluten Kapitalmengen kommt, die sich durch die Produktion einer wachsenden Menge von Waren verwerten lässt. Nach kapitalistischer Vorstellung würden mit dem Verlust von Arbeitsplätzen durch die Automatisierung auch die potenziellen Käufer beseitigt werden. Der Konsum der hergestellten Produkte kann nur noch durch Verteilungen von Kaufkraft gewährleistet werden, die außerhalb des klassischen Wirtschaftskreislaufs stehen, da sie keine Arbeitsleistung mehr entgelten. Der Warenwert (Tauschwert) der Produkte tendiert zu einer Größe, die den Kosten für die Rohstoffe, des Energieverbrauchs, der Logistik, der Instandhaltung der automatischen Maschinerie gleichkommt. Es zeichnet sich der Zusammenbruch der auf dem Tauschwert beruhenden Produktion ab, den bereits Karl Marx in den Grundrissen ankündigte1.

1Karl

592.

Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Dietz Verlag, Leipzig, 1953, S.

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Die automatische Produktion basiert nicht mehr auf dem Wachsen des Tauschwerts, der Mehrarbeit und des Mehrwerts, um das Kapital akkumulieren zu lassen, da die automatische Fabrik praktisch nur noch Mehrwert produziert, allerdings auf Kosten der natürlichen Ressourcen, der Umwelt und dem Verbrauch von Energie. In dem Maße, wie sich die Automatisierung durchsetzt und die Masse des Mehrwerts sowie seine Rate steigen, lässt er sich immer weniger kapitalisieren: die Möglichkeit, den Mehrwert rentabel neu zu investieren, verschwindet. Die Modalitäten der Ökonomie, basierend auf dem Prinzip des Profits, können also nicht mehr die des Kapitalismus bleiben, ebenso wenig wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen länger auf dem Verkauf der Arbeitskraft, d. h. auf dem Prinzip der Lohnarbeit zur Herstellung von Produkten, gründen können. Die Fabrik ohne Menschen verweist auf ein Ende der bisher propagierten Ökonomie. Auf dieses Ende verweisen auch die Kapitalströme, die bei sinkenden Renditen weltweit nach Anlagemöglichkeiten suchen. Die dominierende Moral des Kapitalismus – das primitive Anhäufen von Reichtum und das vordringliche Befriedigen persönlicher Wünsche – schwächt zusätzlich die innere Einheit jeder demokratisch, freiheitlichen Gesellschaftsordnung, die ohnehin mit ethnischen und in wachsenden religiösen Entfremdungen und sektiererischen Auseinandersetzungen zu kämpfen haben. Die Auseinandersetzung um die Entwicklung einer zukunftsfähigen Ökonomie reduziert sich gegenwärtig zu Diskussionsforen und Politikund Taskshows über die Infektionsraten, hervorgerufen durch das Corona-Virus, anstelle darüber nachzudenken, wie die Realität nach dem Ende der Pandemie aussehen könnte. Solange das Individuum als auch die demokratischen Institutionen mit ihrem bürokratischen Überbau die Maximierung des Profits zur Bedürfnisbefriedigung und den Fetischismus des wirtschaftlichen Wachstums zum Machterhalt im Auge haben, wird die Ökonomie nur repariert aber nicht neu durchdacht. Produktive Arbeit war und ist auch noch in der Corona-Pandemie das Lebenselixier des Kapitalismus. Wo nicht produktiv gearbeitet wird, da gibt es auch keine Produktion von Wert, und ohne Wert gibt es keinen Kapitalismus. Alles in allem werden die Betätigungsfelder für

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produktive Arbeit infolge der enormen Effizienzsteigerung technischer Systeme immer weniger bzw. immer kleiner. Gleichzeitig existieren sehr große Bereiche unproduktiver Arbeit, auf die das Kapital nicht verzichten kann. Es handelt sich dabei vor allem um die Staatsaufgaben. Hier nimmt die unproduktive Arbeit ständig zu, was wiederum dazu führt, dass die toten Kosten nicht nur relativ, sondern sogar absolut immer weiter ansteigen. Dieser zusätzliche und wachsende Finanzierungsbedarf für Zirkulation und Staatstätigkeit muss nach kapitalistischen Grundprinzipien aus der stetig schrumpfenden produktiven Arbeit durch automatische Herstellungsmethoden bestritten werden. Kapital, das nicht profitabel zur Herstellung von Produkten verwertet wird, verliert seinen Wert. Um dem drohenden Zusammenbruch des neokapitalistischen Systems so lange wie möglich zu entgehen, wird nach dem Prinzip „das Hemd sitzt näher als der Rock“ die Sphäre der Staatstätigkeit als mögliche Lösung des Problems in Betracht gezogen. Nach dem Selbstverständnis, das dieser Haltung gegenüber dem Staat zugrunde liegt, wird einfach nicht mehr genug Wert geschöpft, um den Staat und seine Institutionen noch an den Früchten der kapitalistischen Produktionsweise beteiligen zu können. Auf die Zirkulation dagegen kann das Kapital schlechthin gar nicht verzichten, da es nur hier seine Geldgestalt wieder annimmt und dies lässt sich durch Anschalten der Druckerpresse vermehren. Die Sphäre der Staatstätigkeit entwickelt sich damit in neokapitalistischer Logik als reiner Konsum, genauer als Staatskonsum, der noch vom vorhandenen Kapital durch Steuern, Lohnnebenkosten und andere Abgaben alimentiert wird. Die kapitalistische Akkumulation lässt sich nicht unbegrenzt fortsetzen, denn sie kann sich im Hinblick auf die Ressourcen nicht selbst erhalten und führt damit quasi automatisch zur Reduzierung von Arbeit. Gelöst werden soll das Problem der Reduzierung der Arbeitsplätze und damit auch die Zirkulation des Kapitals nach den Vorstellungen der Ökonomen in Kooperation mit Finanzwirtschaftlern und ­-gesellschaften durch die Ausdehnung des Dienstleistungssektors. Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor können entsprechend den Vorstellungen der Ökonomen neue Werte schaffen und so verhindern, dass der weltweite Prozess von Wertproduktion und Äquivalenten-Tausch

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zum Erliegen kommt. Arbeit wird es auch noch für Wissenschaftler und Ingenieure zur Aufrechterhaltung der Lebensbedingungen für die Menschen auf der Erde geben, und zwar aufgrund der wachsenden Anzahl der Menschen auf dem Erdball, die ernährt, bekleidet und mit Energie versorgt werden müssen. Die Vertreter des Neoliberalismus gehen indes auch davon aus, dass Verluste an einfachen Arbeitsplätzen, die von lernfähigen Algorithmen übernommen werden, mittels Arbeitszeitreduktion, Arbeitsplatzaufbau und Arbeitszeitkonten in der Dienstleistungsbranche und im Staatswesen kompensieren zu können. Basierend auf diesen Überlegungen müsste man also lediglich jede menschliche Tätigkeit in kapitalgebundene Arbeit verwandeln, dann würde die Gesellschaft über riesige Mengen an produktiver Arbeit verfügen und schon wäre der Kapitalismus elegant gerettet. Genauer betrachtet ist Dienstleistung ein Kunstbegriff der politisch ökonomischen Theoriebildung. Die Dienstleistung umfasst sehr unterschiedliche Tätigkeiten. Einige sind ausschließlich unproduktiv, andere dagegen Mischformen zwischen produktiv und unproduktiv. Und in einigen wird zwar produktiv gearbeitet, aber die produktiven Arbeiten müssen entweder durch große Mengen unproduktiver Arbeit z. B. weltumspannende Lieferketten, flankiert werden, um für das Kapital dauerhaft verwertbare Waren zu produzieren, oder aber die Verwandlung von vormals unproduktiver Arbeit in produktive Arbeit beinhaltet einen hohen Preis für die Gesellschaft und letztlich sogar für das Kapital – auch sie ist daher im Endeffekt unrentabel im kapitalistischen Sinne. Im Prozess seiner Reproduktion durchläuft das Kapital nach dem Theoretiker Isaak Iljitsch Rubin2, die Phasen Geldkapital, Produktivkapital und Warenkapital. Nur der Produktionsprozess, d. h. die Umwandlung von Rohstoffen und Energie hauptsächlich auf Kosten der Umwelt, steigert den Wert einer Ware, nur hier findet also produktive Arbeitsverausgabung statt, die künftig von automatischen Fertigungsanlagen mit künstlicher Intelligenz übernommen wird. Erst

2Rubin: Studien zur Marxschen Werttheorie.,Moskau/Leningrad 1928, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-434-30141-0.

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wenn sich die hergestellten Waren wieder gegen Geld umtauschen lassen, nimmt das Kapital eine Form an, mit der es wieder in die Produktion eingehen kann. Scheitert dieser Vorgang, weil sich das Produkt nicht mehr verkaufen lässt, ist das eingesetzte Kapital wertlos geworden. Geldkapital erhält seinen Wert einfach dadurch, dass öffentliche Institutionen wie Zentralbanken diesen Wert behaupten und die Menschen daran glauben. Von diesem Geld, auch Fiatgeld genannt, kann die Zentralbank so viel schöpfen, wie sie will. Fiatgeld ist ein Objekt ohne inneren Wert, das nur als öffentlich kontrolliertes Tauschmittel dient. Fiatgeld schöpft gegenwärtig die europäische Zentralbank, die jeden Monat für frische Milliarden europäische Anleihen kauft. Bei Fiatgeld setzt die Bürokratie die Nutzung des Fiatgeldes, unabhängig vom Vertrauen oder Misstrauen der Bevölkerung, über Zwang, Gewaltmonopol und Staatsgewalt durch. Nach Ansicht von Heiner Flassbeck3 muss man sich indes vor Augen halten, wie unvollkommen und krisenanfällig der Prozess von Sparen und Investieren wäre, gäbe es kein „Geld aus dem Nichts“, Geld also allein geschaffen von der Zentralbank oder dem Bankensystem … Gespart werden kann in der gegenwärtigen Industriegesellschaft nur aus Einkommen, das in der Vergangenheit erzielt wurde, und zwar mit Hilfe von Produktionskapazitäten organisiert, aufgebaut und betrieben von Menschen, die damit Einkommen bzw. Profite erzielen. Werden von den erzielten Profiten und dem Einkommen 15 oder 20 % nicht wieder ausgegeben, können die vorhandenen Kapazitäten nicht mehr ausgelastet werden und der Anreiz der Unternehmen zu investieren sinkt. Diese inhärente Tendenz eines marktwirtschaftlichen, kapitalistischen Systems, sich selbst zu strangulieren, kann durch Schöpfung von Fiatgeld prinzipiell überwunden werden, was in der Bankenkrise erfolgte. Sparen der privaten und öffentlichen Haushalte führt direkt in eine tiefe Krise, da weniger konsumiert wird, das Bruttosozialprodukt sinkt. Tendenziell führt auch die flexible Automatisierung gesteuert

3Heiner

2012.

Flassbeck: Das Geld aus der Druckmaschine und die Marktwirtschaft, vom 28. August

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und überwacht von künstlicher Intelligenz zum gleichen Ergebnis. Kompensieren lässt sich diese Entwicklung neben der Schöpfung von Fiatgeld durch Bevölkerungsanstieg, da mehr Menschen einfach mehr konsumieren. Wird Geld aus dem Nichts zu geringen Zinsen denjenigen zur Verfügung gestellt, die nur über geringe Einkommen verfügen, können sich diese damit Güter auch dann kaufen, wenn sie keine Ersparnisse besitzen. Der konfliktfreie Übergang aus dem gegenwärtigen neokapitalistischen System der Marktwirtschaft zu einer Gesellschaft nach der Corona-Pandemie, die auf automatisierten Produktionssystemen gründet und diese intensiv nutzt, kann nur unter zwei Perspektiven erfolgen: Erstens, die retardierenden Effekte der alten kapitalistischen Wirtschaftsordnung dürfen nicht zu stark oder die anregenden Effekte der Neuen, von der künstlichen Intelligenz beeinflussten ökonomischen und sozialen Veränderungen, müssen sehr stark sein. Zweitens, die Investitionen, finanziert mit dem Fiatgeld, müssen einen sozialen Ertrag für die Gesamtgesellschaft bringen. Beide Problembereiche erfordern eine aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik, und zwar eine Politik, die weit über Theorien der Volkswirtschaft einschließlich der Sozialwissenschaften hinausgeht. Der erste Punkt betrifft der schrittweise Abschied von der Ideologie der kapitalistisch orientierten Marktwirtschaft, die von der Politik und der Volkswirtschaft akzeptiert werden muss. Die Transmission geldpolitischer Impulse zur Ankurbelung des Konsums darf ebenso wie die Wirksamkeit der Fiskalpolitik nicht mehr von den Einkommenserwartungen der privaten Haushalte und den Gewinnen der Unternehmen abhängen. Weder darf die Zentralbank in einer falschen Fixierung ihre Rolle bei der Anregung neuer Investitionen auf der Basis der künstlichen Intelligenz aus dem Auge verlieren, noch darf die politisch-gelenkte Bürokratie Schulden zur Erhöhung ihrer Personalzahl und damit zur Steigerung ihres Einflusses fordern. Der zweite Punkt betrifft die Regulierung und längerfristig die Schließung der Finanzmärkte. Finanzmärkte haben im Prinzip die Aufgabe, die Zentralbank bei der Finanzierung von Investitionen in neue, automatisch funktionierende Produktionsanlagen und deren globale digitale Vernetzung zu unterstützen, und nicht den Konsum über die Verteilung von Fiatgeld zur Entwicklung von Medienkampagnen anzukurbeln. Ein

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Bankensektor, der zum scheinbaren Selbstläufer geworden ist und sich überwiegend durch Werbemaßnahmen profiliert, ist nicht nur nutzlos, er schädigt längerfristig die Umwelt und reduziert die Lebensqualität des Einzelnen im Alter. Er verzerrt nicht nur die Wechselkurse, sondern auch die Rohstoffpreise aus Profitinteresse und manipuliert die Zinsen für Fiatgeld. Enorme Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeit eröffnen sich, laut Volkswirtschaftlern Hand in Hand mit den gegenwärtigen politischen Entscheidungsträgern, auf dem Feld der so genannten personennahen Dienstleistungen, vor allen in den Bereichen Bildung, deren Bildungsinhalte künftig zunehmend virtuell angeboten werden, Kultur, Pflege, Medizin etc. Auf diese Tätigkeitsfelder setzt die neoliberale Krisenverwaltung besondere Hoffnungen. Zurzeit werden Erziehungs-, Bildungs- sowie Gesundheitseinrichtungen noch weitgehend über Steuern und Sozialabgaben finanziert. Das führt bei hohen Ausgaben des Staates zu einer nicht zu vernachlässigenden Beschäftigungsquote in den genannten Bereichen. Dadurch handelt es sich aber bei den betreffenden Arbeiten um Staatstätigkeit, die weitgehend unproduktiv ist, da die betreffenden Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Theater, Museen etc. nicht gewinnorientiert arbeiten, sondern in erster Linie vorgegebenen politischen oder sozialen Zielen wie z. B. der Bereitstellung gut ausgebildeter Schulund Universitätsabsolventen dienen. Es handelt sich vorwiegend um unproduktive Arbeit. Über eine weitere Alternative Arbeit zu schaffen, durch die sich künftig angeblich enorme Felder für produktive Arbeit auftun sollen, diskutieren Ökonomen seit den achtziger Jahren. Es handelt sich um die Verheißungen der sogenannten Wissensgesellschaft, in welcher Wissen zur wichtigsten Produktivkraft und zum Hauptfeld zur Erhöhung des Reichtums werden soll. Angeblich gibt es hier viel Arbeit zu verrichten und große Scharen von Konsumenten warteten nur darauf, den Herstellern die entsprechenden Produkte aus den Händen zu reißen. Hier, so glauben die neoliberalen Ökonomen, eröffnet sich ein Feld für enorme, „unbedingt nötige Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung, um die mentalen Produktivkräfte zu entwickeln“ – so und ähnlich lässt es sich häufig vernehmen.

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Eine wesentliche Eigenschaft der entsprechenden Produkte besteht allerdings darin, dass sie entweder gar nicht an materielle Träger gebunden oder sehr einfach und schnell auf lächerlich billige Trägermedien zu übertragen sind. Auch der räumliche Transport entfällt dank Internet. Zugegebenermaßen kostet die Erstellung etwa von Software bzw. Algorithmen viel Zeit. Aber im Verhältnis zu den Möglichkeiten der nahezu kostenlosen Vervielfältigung, ihrer raschen Verbreitungsmöglichkeit und ihrer hohen Anwendungsbreite sind die Entstehungskosten immer noch unglaublich gering. Der Anteil der Arbeit an der einzelnen Kopie wird dadurch nahezu homöopathisch. Eine jeweils einzelne Kopie weist mit anderen Worten einen Wert auf, der praktisch gegen Null tendiert. Im Grunde wird Wissen nie wirklich ausgetauscht oder verkauft, da derjenige, der es weitergibt, es nicht tatsächlich hergibt. Der „Austausch“ von Wissen ist in Wirklichkeit das Anfertigen einer Kopie (sei es im Kopf, sei es auf einem Trägermedium). Anschließend können sowohl der Hergebende wie auch der Empfangende neue Kopien anfertigen und weitergeben. Wissen kann auf diese Weise mit exponentieller Geschwindigkeit weiterverbreitet werden. Einmal auf den Markt gebracht neigt Wissen daher dazu, diesen in Windeseile zu überfluten und dabei jeden Wert zu verlieren. Um überhaupt weiter handelbar zu bleiben, erzwingt die Warenförmigkeit von Wissen die künstliche Herstellung von Knappheit: Technisch durch verschiedene Möglichkeiten, die Kopierbarkeit von Wissen zu beeinträchtigen, bzw. zu verunmöglichen. Juristisch durch den permanenten Schrei nach dem Staat, der die Warenform per Jurisdiktion durchsetzen soll z. B. mittels Patentgesetzen, die indes Software ausschließt – eine ziemlich paradoxe Angelegenheit vom Standpunkt der herrschenden Marktideologie aus betrachtet. Durch solche Barrieren sollen immaterielle Güter in Scheinkapital verwandelt werden. Faktisch wird kein reeller Warentausch mehr betrieben. Vielmehr wird gegen Zahlung die Gunst gewährt, am Wissen teilzuhaben. Eine solche Monopolisierung von Wissen verlangt eine viel größere Investition in Zugangsbarrieren, Kontrollen und Sanktionsmöglichkeiten als die Produktion des Wissens selbst. Große Mengen unproduktiver Arbeit werden hier verrichtet: Im Rahmen der Zirkulationssphäre, um die unentgeltliche Weitergabe zu unterbinden

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und nur bezahlten Konsum zuzulassen; im Rahmen der Staatstätigkeit, um mit Kontrollen und Strafen zu drohen. Und trotzdem sind solche Begrenzungen immer nur vorübergehend wirksam. Hacker, Codeknacker und Raubkopierer überwinden die Barrieren spielend und unter den Anwendern will einfach kein Unrechtsbewusstsein mit Bezug auf die Nutzung kopierten Wissens aufkommen. Während der Warenwert eines Wissensgutes auf diese Weise schnell zerrinnt, ist sein gesellschaftlicher Nutzen jenseits von der Wertform umso größer, je weiter es verbreitet ist. Im Grunde ähnelt das Verhältnis zwischen dem Kapital, das in der Wissensproduktion neue Betätigungsfelder sucht und den Produzenten freier Software einer wechselseitigen Geiselhaft: Jede Seite verfügt über das, was die andere zum Überleben braucht. Sie ist aber nur bereit es herzugeben, wenn die andere ihre eigene Daseinsweise aufgibt. Zur Zufriedenheit der freien Softwareentwickler kann diese Situation erst aufgelöst werden, wenn es sehr großen anderen Teilen der Gesellschaft gelingen sollte, sich aus der Wertform zu lösen und dabei gleichzeitig den stofflichen Reichtum weitgehend zu erhalten – eine Perspektive, die sich zurzeit nicht abzeichnet. Auf der anderen Seite sind aber auch die Hoffnungen der Softwareindustrie trügerisch. Die Rettung der Warengesellschaft in Form eines neuen Arbeitsfeldes für produktive Arbeit lässt sich ganz gewiss nicht auf dem Feld der sogenannten Wissensproduktion finden. Das Gegenteil ist der Fall. Denn die Wissensproduktion kann sehr viel mehr Arbeit einsparen, als sie kostet und das in gigantischen, noch vor kurzem unvorstellbaren Ausmaßen. Das bedeutet, dass das formale Wissen unermesslich viel mehr ‚Wert‘ zerstört, als es zu schöpfen erlaubt. Anders gesagt, es führt zu Unmengen von bezahlter gesellschaftlicher Arbeit und verkleinert folglich den (monetären) Tauschwert einer wachsenden Anzahl von Produkten und Dienstleistungen. Früher oder später muss es zu einer Senkung des (Geld)Wertes, des insgesamt produzierten Reichtums sowie zu einer Schrumpfung des Profitvolumens kommen – unter Umständen zu einem Zusammenbruch der auf dem Tauschwert basierenden Produktion. Statt eines neuen Feldes zur Rettung der kapitalistischen Produktionsweise zu sein, wohnt der „Wissensproduktion“ also vielmehr das Potenzial eines Totengräbers eben dieser Produktionsweise inne.

3 Brauchen wir Globalisierung?

Die bisherigen Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik, basierend auf den Hypothesen der Volkswirtschaftler von der Wertschöpfung des Konsums in Kombination mit der wachsenden Weltbevölkerung, haben zu einer immer intensiveren Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe geführt, gekoppelt mit einer zunehmenden Verschmutzung der Umwelt. Die Frage ist gegenwärtig unter den Prämissen des neoliberalen Kapitalismus mit dem Zwang zum Profit gar nicht, wie viel der Mensch noch zu tun imstande sein wird, sondern wie viel die Natur noch ausgebeutet werden kann, bevor es zu schweren nachteiligen, globalen Auswirkungen für die Menschen kommt. Für die gegenwärtige Gesellschaftsform ist daher die Prognose, wann sich die Gewinne durch die Ausbeutung der Ressourcen zu trüben beginnen und sich dann in Verluste umwandeln, von eminenter Bedeutung. Die Frage ist hier: welches sind die Grenzen und wo liegen sie – wie weit noch oder wie nahe schon? Die Situation ist bereits jetzt dramatisch. Die Menschen haben in den letzten Jahrzehnten die Erde so stark verändert wie zuvor in der gesamten Zeit vom Beginn der Menschheit bis zum Zweiten Weltkrieg. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Frey et al., Globalisierung nach der Corona-Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31183-4_3

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Jedes Jahr wird fünf Prozent des Planeten Opfer der Flammen. Gerade mal sechs Prozent sind heute noch mit tropischen Wäldern bedeckt, den artenreichsten Biotopen der Erde, innerhalb von nicht einmal dreißig Jahren schrumpften die Wälder auf weniger als die Hälfte zusammen. Bei konstant anhaltender Abholzungsrate auf heutigem Niveau ist der letzte Tropenbaum im Jahr 2045 gefällt. Tag für Tag sterben einige hundert Tierarten aus; die meisten namenlos und von der Wissenschaft nie entdeckt. Mit jeder Spezies erlischt das komplizierte Erbgut von einer bis zehn Millionen Basenpaaren für immer. Die Verdrängung dieses ökologischen Desasters in den Massenmedien, insbesondere auch der sozialen Medien und der Politik stellt zukünftige Generationen vor ein kaum lösbares Rätsel. Neben der Veränderung natürlicher Prozesse, treten langsam auch der Umfang von Reserven an mineralischen Rohstoffen in der Erdkruste, einschließlich deren Rückgewinnung ins Bewusstsein der Ökonomen und Großkonzernen. Die mineralischen Rohstoffe in der Erdkruste mögen an sich praktisch unerschöpflich sein, aber gewiss sind es nicht die oberflächennahen und konzentrierten Vorkommen des bisherigen, relativen leichten Abbaus. Was immer in den tieferen Schichten oder auf dem Ozeanboden oder in niedriger Konzentration durch die Kruste ausgebreitet liegt, wird für seine Förderung und Aufbereitung einen immer größeren Energieaufwand verlangen. Und dann erst seine industrielle Verarbeitung für den erhofften gesteigerten Lebensstandard der Bevölkerungsmilliarden auf dem Globus – eine immer mehr zunehmende Steigerung des schon jetzt bedrohlichen Energieverbrauchs wird nötig, wenn der westliche Lebensstandard auch nur annähernd zum Weltdurchschnitt werden soll. Jeder Gebrauch von Energie endet letztlich in Wärme. Das Ausmaß des Gebrauches steht daher im irdischen Raum nicht frei. Durch unermesslichem Energieverbrauch wird die Entropie ein kritischer Faktor: die in allen Stadien der Nutzung – mechanischer, chemischer, organischer – sich wiederholende Wärmeabgabe an die Umgebung, bis zur animalischen Wärme der Milliarden Menschenleiber und ihrer tierischen Trabanten, und selbst noch die Gärungshitze ihrer verwesenden Kadaver. Bei den weiter zunehmenden Milliarden von Menschen mit steigendem Lebensstandard basierend auf automatischer

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Produktion und durch progressive Erschwerung der Abbaubedingungen in der ausgebeuteten Erdkruste, mit immer energiekostspieliger werdender, also mehr Abwärme produzierender Rohstoffgewinnung für dasselbe Gut. All diese Maschinen- und Lebenswärme muss abgeführt werden, und dafür steht bisher nur die irdische Umgebung, nicht das Weltall zur Verfügung. Die Unmöglichkeit aber für jede Innovation diese Kausalität zu umgehen, d. h. das eine zu haben und das andere zu vermeiden, Exzess des Energieverbrauchs von den thermalen Folgen zu trennen, ist letztlich dieselbe wie die Unmöglichkeit, ein Perpetuum mobile zu bauen: die Überwindung der Entropie, dass alle Energie zuletzt zu Wärme degeneriert, und dass sich dadurch die globale Temperatur erhöht. Die heraufziehende Krise lässt sich auch als Krise der Kreativität deuten.

3.1 Wirtschaften in Kreisläufen – eine Chimäre Das Konzept der Kreislaufwirtschaft wurde 1990 von dem britischen Wirtschaftswissenschaftler David W. Pearce1,2 entwickelt. Grundlage war die Idee einer industriellen Ökologie zur Ressourcenminimierung mit Hilfe von sauberen Technologien, die keine Umweltschäden verursachen sollen. Die Entwicklung ökologisch sauberer Technologien bedeutet im Prinzip eine effizientere und nachhaltigere Nutzung von Rohstoffen, Energieträgern und Gemeinschaftsgütern (Boden, Wasser, Luft). Basis ist die umweltökonomische Vision, dass Ökologie und neokapitalistische Ökonomie kombiniert werden können. Wird das Prinzip des Profits auch auf ökologisches Wirtschaften angewandt, d. h. wenn ökologische Aspekte in die Herstellung und Kostenplanung von Produkten integriert werden statt sie auszublenden (internalisieren statt externalisieren), dann behindert die Kreislaufwirtschaft weiteres 1D.W.

Pearce (2006), Energy Economics, 28: 149158. D. (2003) The social and economic value of construction pub. New Construction Industry Research and Innovation Strategy Panel.

2Pearce,

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ökonomisches Wachstum und damit den technischen Fortschritt nach kapitalistischen Vorstellungen in keiner Weise, sondern facht diesen sogar noch an. Die Steigerung der Produktion mit sauberen Technologien wird damit eine ebensolche Quelle von Profit wie bisher schon die Steigerung von Arbeits- und Kapitalproduktivität. Kreislaufwirtschaft ist daher kein Naturschutz-Programm, das einen bestimmten Naturzustand erhalten oder herbeiführen möchte oder kann. Im Idealfall zielt die Kreislaufwirtschaft auf eine dauerhaft gleichbleibende Menge an Ressourcen, die durch regenerative Energien wiederaufbereitet werden und dies in Einklang mit einem globalen Anstieg der Weltbevölkerung. Naturwissenschaftler und Ingenieure verkennen meist die Realität gesellschaftlicher und politischer Entscheidungsstrukturen, die zu einer Änderung des Umwelthandelns führen könnten. Umgekehrt mangelt es Politikern, Sozial- und Geisteswissenschaftlern nicht selten an Wissen und Verständnis bezüglich der Chancen und Möglichkeiten, die der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt bietet und der industriellen Wertschöpfungsketten. Es ist daher erforderlich, im Nachhaltigkeitsdiskurs viel deutlicher als bisher neue, radikalere Werte und gesellschaftlich akzeptiere Normen im ethischen Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu entwickeln. Technische Innovationen, die ökologisch besser angepasste Systeme an die Stelle von alten setzen, sind kontraproduktiv. Eine solche Innovationsstrategie folgt im Ansatz einer ökologischen Modernisierung, die den Menschen vorgaukelt, die Politik und die Industrie habe die Probleme erkannt und tue etwas zur Lösung. Themen wie Recycling/Kreislaufwirtschaft/Verbundproduktion sowie Ökobilanzen und einer ökologischen Betrachtung von Wertschöpfungsketten (value chain, chain management) wurden hauptsächlich von Ökonomen und Ingenieuren analysiert, mit dem erwarteten Ergebnis, die Marktwirtschaft sei die flexibelste und daher optimale Wirtschaftsform. In Europa wurden auch Politologen, Soziologen, Historiker, Philosophen, Pädagogen und Psychologen in den Diskurs über eine ökologisch orientierte Gesellschaftsordnung eingebunden. Das Ergebnis: allein mit technischen Innovationen lässt sich das Problem einer nachhaltigen, globalen Wirtschaftsordnung mit wachsender Weltbevölkerung nicht lösen.

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3.2 Ökologie, jenseits von Wahrheit und Aufklärung? Mit dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt verschiebt sich das Verhältnis von Ausnutzen und Nutzen im Umgang mit der Natur. Durch die Möglichkeit, die in der Gentechnik steckt, liefert die Natur den Stoff für ihre eigene Manipulation. Von Anfang an wurde die Ökologie, der nachhaltige Umgang mit der Natur, von einem Problem verfolgt: der Kapitalisierung. Die Ökologie ist ein Bereich, wo es nicht ausreicht, sich nur wissenschaftlich objektiv zu den Tatsachen zu verhalten, sondern vom Wissenschaftler mehr gefordert werden muss, als bloß die Fähigkeit, Daten zu erheben, Statistiken herzustellen und Theorien zu formulieren. Die Pluralität ausdifferenzierter, quasi-autonomer Wirklichkeitsbereiche ökologischer Untersuchungen und die damit korrespondierenden moralischen Betrachtungen, sind der Grund dafür, dass die Ökologie ein Mutant aus politischer Ökonomie und wissenschaftlichen Widersprüchen ist. Ein neues Wertbewusstsein von Ökologie kann nur aus einer progressiven Bewusstmachung dessen kommen, dass und warum es keine Unschuld gegenüber der Natur geben kann, außer wenn ihre Zerstörung aufgrund von Profitbedürfnis und Bequemlichkeit in Kauf genommen werden soll. Der Schöpfung ein quasi eigenes Grundgesetz zu zugestehen, in der die Menschen mit der Natur gleichberechtigt umgehen, setzt voraus, dass der Wille zur Wahrheit stärker sein muss als der in jedem Ich drängende Wille zur Macht, zur Selbstdurchsetzung und zur Bequemlichkeit. Bestes Beispiel dafür ist die politische Ökonomie mit ihren Ideologien, Staatsaktionen, ihren großen Worten und kleinen Taten. Das Wissen über die Auswirkungen der extensiven Nutzung der Natur ist durchzogen von Spannungen zwischen Intelligenz und Dummheit, Bürgersinn und Polemik, wissenschaftlicher Erkenntniss und Scharlatanerie. In diesem Zusammenhang muss man sich einfach vergegenwärtigen, dass die Natur keine Abfälle kennt. Die Abfälle werden einfach wiederverwendet. Das Endprodukt wandelt sich wieder zum Ausgangsprodukt. Jedes Produkt, jede Funktion und jede Organisation müssen

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daher, soll die Menschheit längerfristig überleben, dieses Prinzip ins Kalkül ziehen. D. h. soll die Natur und damit die Lebensgrundlage der Menschheit erhalten bleiben, müssen die Abfälle, die von den Menschen erzeugt werden, wieder in Produkte verwandelt werden, und zwar mittels möglichst wenig nachhaltig erzeugter Energie, den auch nachhaltig erzeugte Energie führt zu einer Zunahme der Entropie in der Natur. Bei der zunehmenden globalen Bevölkerungsdichte und der damit zusammenhängenden Verflechtung all dessen, was die Menschen tun, können selbst sparsamer Umgang mit Rohstoffen und Energie, Einschränkung des Konsums durch Eindämmung der Abfall-Lawine oder Schutz der Gewässer, Landschaften und Tiere ohne eine wie immer geartete Veränderung der politischen Ökonomie die Probleme nicht mehr lösen. Und hier liegt die Chance der Nach-Corona-Zeit. Es beginnt sich weltweit das Lebensgefühl vor allem in den Industriegesellschaften zu verändern. Es scheint sich eine Bereitschaft zu entwickeln, den Zustand der Natur nicht mehr zu ignorieren, da sich der Mensch selbst als Teil der Natur erkennt und nicht mehr als unbedarfter Teil einer Konsumgesellschaft. Das Verdrängen von nachhaltigem Verhalten gegenüber der Natur beginnt sich in ein Ja zu ­gesellschaftlich-politischen und ideologisch/ökonomischen Bewegungen umzuwandeln, die die größte Vereinfachung und die energischste Rückkehr zu substantiellen und zuverlässigen Verhältnissen versprechen. Das globale Nachhaltigkeitsproblem, der Umgang mit der Natur, entwickelt sich zu einem psycho-ökonomischen Problem. Noch immer verstehen die Menschen ziemlich wenig von sich selbst und ihren eigenen Interessen, die sie so leichtfertig „anthropozentrisch“ nennen. So als sei das Verseuchen der Meere, das Verpesten der Luft und die schonungslose Plünderung aller Ressourcen tatsächlich „anthropozentrisch“ auf das Wohl und die Zukunft der Menschheit hin ausgerichtet und nicht schlichtweg Dummheit. Eine überwältigende Sorge um Gewissheit, eine ebenso unwiderstehliche Täuschungserwartung in Kombination mit dem Hang zur Bequemlichkeit treiben einerseits die Bereitschaft an, die ökologischen Erkenntnisse zu akzeptieren und andererseits dem Prinzip nach mir die Sintflut zu huldigen. Aufklärung über den nachhaltigen Umgang mit der Natur

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und ihren Ressourcen ist konfrontiert mit Misstrauen gegenüber technischen Systemen und dessen Förderern, aus welchen Gründen auch immer. Rationalismus und Misstrauen sind verschwisterte Impulse. Die gesamtgesellschaftliche Irrationalität des Verhaltens gegenüber der Natur, den Ressourcen hat einen Grad erreicht, der die Frage aufwirft, ob die politischen Eliten dieser Welt überhaupt noch genügend Energie aufbringen können, um die in ihnen selbst agierende Irrationalität ihren Narzissmus und ihr Machtstreben zu überwinden. Alles, was heute Macht hätte den Knoten zu lösen, ist selbst Teil des Knotens. Was heute Rationalität heißt, ist bis in die tiefsten Schichten dadurch kompromittiert, dass es sich als die Denkform des verwilderten Selbsterhaltungsprinzips in Verbindung mit Profitstreben zu erkennen gibt. Die Kombination automatischer Produktionssysteme mit Ausbeutung der Ressourcen, eingebettet in eine politisch-kapitalistische Ökonomie basierend auf dem individuellen Profit, lässt diesen inneren Widerspruch immer deutlicher zutage treten: Die Verantwortung für das Menschliche an sich und für eine erhaltenswerte Natur verkommt zu einem ideologischen Diskurs zwischen Machteliten, die ihre Einflusssphären aufrechterhalten wollen. Das Individuum ist durch seine Bequemlichkeit darin verstrickt, und es verstrickt sich nur noch tiefer, wenn es den Machteliten glaubt, sie würden durch eine humanistische, anthropozentrische Ethik die heraufziehende ökologische Katastrophe zu verhindern suchen. Ob dies den notorisch selbstverliebten Menschen gelingt? Danach sieht es zurzeit nicht aus. Aber es könnte nicht schaden, würden die Politiker den Mut aufbringen, ein Eigenrecht der Natur überhaupt einmal anzuerkennen und ihr Gegenteil, das unverbindliche Tun und Lassen im eingeschliffenen Gefühl der Folgenlosigkeit, als eine der großen mörderischen Ideologien der heutigen Zeit demaskieren. Vieles spricht für die These, dass es bisher eine solche Ethik nicht gibt, vielleicht kann die Corona-Pandemie dazu führen, dass sich eine herausbildet. Man darf indes nicht vergessen, dass die automatischen Produktionstechnologien auf den Prinzipien und Erkenntnissen der Naturwissenschaft beruhen und dass ihre Methoden auch für die künftige Entwicklung von Technik maßgebend sind. Die Umsetzung in

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Konsumartikel und deren Vermarktung indes hat mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nur noch wenig gemein, denn die Volkswirtschaft entwickelt sich zu einem geistigen Abenteuer, das außer der Profitmaximierung keine Regeln gelten lässt, nicht einmal die Logik. So ist es erstaunlich mit welcher Inbrunst sich Ökonomen in Allianz mit Politikern jedweder Couleur auf das Heil Steigerung des Bruttosozialprodukts und damit Erhöhung der Zahl an Arbeitsplätzen berufen. Wer diese Haltung als ein Handeln aus der Vernunft hinstellt, der findet stets aufmerksame Zuhörer, obwohl sie mit Vernunft überhaupt nichts zu tun hat. Es ist schwer, die Widersprüche zwischen Ökonomie und technischer Entwicklung mit der Vernunft zu überwinden, und eine Form des Rationalismus zu entwickeln, der die Widersprüche zwischen Ökonomie, Sozialreformen, Umweltschädigung, Ressourcenverbrauch und individueller Freiheit aufdecken, um damit fertig zu werden. Erscheint eine neue Technologie am Horizont, die jeden betrifft wie die Digitalisierung, dann ist sie gewöhnlich etwas unausgegoren. Die Technologie ist zunächst noch voller Mängel, doch diese werden im Rahmen der Weiterentwicklung behoben, die sozialen Aspekte einschließlich des Ressourcenverbrauchs und der ökologischen Wirkungen dagegen meist verdrängt, wenn ökonomische Perspektiven negativ betroffen sind.

3.3 Ökonomie contra Ökologie Klima- und Umweltschutz wird nach wie vor als Kostenfaktor gesehen. Denn die Einhaltung von Vorschriften erzeugt Kosten, hat darüber hinaus aber keine unmittelbare und chancenträchtige Wettbewerbsrelevanz. Hier zeichnet sich eine Wandlung ab. Immerhin wird der Umweltschutz kaum noch als „Jobkiller” gesehen, sondern zunehmend mit Qualitätssicherung und Werbestrategie in Verbindung gebracht. Was jedoch oft noch ganz oder in Teilen fehlt, ist die unternehmensstrategische und gesellschaftlich akzeptierte Suche nach umweltbezogenen Geschäftspotenzialen und der politische Wille, diese Suche zu unterstützen. Denn wo sich Märkte verändern, sind nicht nur

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Risiken, sondern auch Chancen. Veränderung ist sogar die Grundbedingung dafür, dass Innovationen und Mehrwert nachgefragt werden. Zumal wenn die Veränderung insgesamt in eine langfristig kalkulierbare Richtung läuft, sollten die Chancen überwiegen. So steht beispielsweise, angesichts einer weltweit zu beobachtenden rapiden Verstädterung und der Zusammenballung großer Menschenmassen in immer zahlreicher werdenden Megastädten, die individuelle Mobilität auf dem Prüfstand, wie die Corona-Pandemie grell offenbart. Aufgrund der immer kürzer werdenden Produktlebenszyklen und dem zunehmendem Verbrauch an Ressourcen, den immer umfangreicheren Gebrauch von Elektronik, Mikroelektronik und der Digitalisierung einschließlich der immer fehlerhafteren Prognosen von Experten, müssen sich Unternehmen mehr denn je auf ein unablässig variierendes Kontinuum von Projekten einstellen, deren jedes eine andere Kombination von Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen der Beschäftigten erfordert. Wissen, wie man umweltgerecht Produkte herstellt und entsorgt, bedeutet zweckorientierte, vernetzte Information, die konkrete und logisch nachvollziehbare Handlungen ermöglicht, was indes immer häufiger von nichtrationalen Interessenskonflikten überlagert wird. Die Möglichkeiten, die in der Digitalisierung stecken, führen zur Abhängigkeit der Menschen mit dem Ergebnis, dass die Pluralität abnimmt und der tiefe Staat immer mehr die Rahmenbedingungen der Gesellschaftsordnung setzt und gegebenenfalls aussetzt. Die Unterordnung des Individuums und seiner Handlungen unter ein soziologisch-sozialpsychologisches Wertesystem, wobei man meist ­ einfach auf das Grundgesetz verweist, wird damit propagiert. Das Individuum wird zu einem Spielball in einer Maschinerie von Machtzentralen, die nur dessen Funktionieren und Anpassung an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Auge haben. Wenn die Grundwerte soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit, die immer nur in praktisch-vernünftigen Kompromissen versöhnt werden können, ihren Vorrang austauschen, dann bedeutet dies, dass die Ableitung des einen vom anderen sich umkehrt: Gegenwärtig wird das Individuum primär nur noch in seinem sozialen Status und als Konsument betrachtet und nicht als personale Individualität; die

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Humanität richtet sich an der sozialen Rolle und dem sozialen Status aus, nicht am Selbstverständnis und Selbstbewusstsein des Einzelnen Analog gilt dies für das Individuum als Konsument, wobei das Ziel die Steigerung des individuellen Konsums ist, hervorgerufen durch Marketingstrategien, die bewusst den sozialen Status ins Kalkül ziehen. Analysiert man diese Entwicklungen hinsichtlich des Entstehens einer Gesellschaft nach der Corona-Pandemie, so scheint es an der Zeit zu sein, Intelligenz für das Allgemeinwohl zu verpflichten. Denn Intelligenz, die Solidarität mit den weniger Intelligenten außer Acht lässt und sich im Grenzfall nicht für die vielen, sondern für die Selbstherrlichkeit entscheidet, diese Intelligenz lässt eine Gesellschaft implodieren. Fast unmerklich und doch auf dramatische Weise verschiebt sich das Verhältnis von Intelligenz und Dummheit. Die Dummheit verliert ihre scheinbare Simplizität, man erkennt in ihr nicht mehr einen primären Zustand unaufgeklärter Köpfe, sondern ein in sich selbst vieldeutiges, ja geradezu aufregend kompliziertes Phänomen. Es entsteht eine unheilige Allianz der Ahnungslosen, die in einer Demokratie, die zunehmend auf Täuschungen und versteckte Propaganda beruht, die Entscheidungen maßgeblich mit beeinflussen. Je mehr die Ökonomie durch die Dynamisierung des Wissens und durch Krisen ins Wanken gerät, desto intensiver werden soziale und ökonomische Repressionen. Die zur Selbsterhaltung erzwungene Triebstruktur wird schwächer, die Anpassung steigt, der individuelle Lebensstil verdrängt solidarisches Handeln. Kompensiert wird dies in der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur durch eine immer größere Zahl an Institutionen und damit bürokratischer Kontrolle. Das Individuum gibt immer mehr an innerer und äußerer Freiheit und damit seine Selbstbestimmung an Institutionen ab, wird dafür ökonomisch versorgt und „sicher“ verwaltet. Unsicherheit war immer die Grundbedingung menschlicher Existenz und auch der Antrieb Neues zu schaffen. Und hier stellen sich Fragen: „Wie weit kann die Herrschaft der Intelligenten über die Herrschaft der weniger Intelligenten gehen? Und was sind die Maßstäbe von Intelligenz?“ Die wenigen Versuche, die sich wissens- und kultursoziologisch mit dem Entwicklungsprozess hin zu einer postindustriellen Gesellschaft auseinandersetzen, arbeiten selbst sehr freihändig mit Unterstellungen,

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Annahmen und Wertordnungen und führen die postindustrielle Diskussion auf Resignation und Saturiertheit der konsumorientierten gegenwärtigen Industriegesellschaft oder auf die Status- und Identitätskrise der Intellektuellen in der Informationsgesellschaft zurück3. Die Lebensstile beginnen sich radikal zu enttraditionalisieren und zu individualisieren, so dass sich eindeutige Normalitätsmaßstäbe nicht mehr definieren lassen. Untersuchungen zu Sozialstruktur, Verteilung des Reichtums, Auswirkungen von künstlicher Intelligenz, deren mögliche Begrenzung durch bürokratisch kontrollierte Maßnahmen, Einfluss von Bildungsstandards auf die Sozialstruktur und Lebensstil haben durchaus begonnen und Wissenschaftler ihre Aufmerksamkeit diesen Fragen zugewendet. Freilich bisher meist mit nicht schmeichelhaftem Ergebnis für die Diagnosen, die von einem sozialkulturellen Epochenbruch sprechen4. Beschäftigt man sich mit postindustriellen Gesellschaftsordnungen, darf man nicht vergessen, dass der öffentliche Sektor, wenn er eine bestimmte Größe überschreitet, in eine machtorientierte Bürokratie, die von der politischen Machtelite nicht mehr kontrolliert werden kann, abgleitet. Eine soziologische Gegenwartsdiagnose muss den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt als Teil der Öko­ nomie mit Vorstellungen über Norm und Moral, Solidarität und Gerechtigkeit, Manipulation und Täuschung versuchen zu verknüpfen. Und dazu muss man einfach bedenken, dass wenige kreative Köpfe Naturwissenschaft betreiben und mehr als 90 % der Menschheit von der Umwandlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Technologien gedankenlos leben. Die uralte Unterscheidung zwischen den Faulen und den Fleißigen, eine zu allen Zeiten vorhandene charakterologische oder auf Erziehungsleistungen beruhende individuelle Unterscheidung, die durch soziale Strukturen begünstigt und verstärkt werden und damit zu einer bestimmenden Sozialstruktur werden kann, wird obsolet. Wenn nach der Funktions- und Sozialstruktur

3Zygmunt

Baumann: Is There a Postmodern Sociology? In: Theory, Culture an Society 5 (1988), S. 217–237. 4Scott Lash/John Urry, The End of Organized Capitalism. Cambridge.

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einer Gesellschaft deren Wohlstand auf der Intelligenz und Kreativität Weniger beruht, die grundsätzlich mehr als das sozial Verlangte leisten, während die normal Tätigen eben ihren Zustand der Normalität, d. h. eines verhältnismäßig mühelosen, arbeitsentlasteten und sozial gesicherten Lebens jenen verdanken, die intelligenter und kreativer sind, dann ist in der Tat an die Stelle der Ausbeutung des Mehrwerts der Arbeit durch das Kapital die Ausbeutung der Kreativen und Intelligenten getreten. Die Idee der Demokratie verliert dadurch ihre Substanz. Imperative neuer Art sind erforderlich. Wenn die Sphäre künstlicher Intelligenz zur politisch ökonomischen Entscheidungsfindung vordringt und damit auch in den Raum der Überwachung des Individuums, dann ist es notwendig die Strukturen von Entscheidungsfindungsvorgängen in postindustriellen Gesellschaften zu überdenken. Der öffentliche Raum wird schleichend immer mehr von Gesetzen eingeschnürt. An die Stelle der Normen, die z. B. Triebbefriedigung kanalisieren und zugleich versagen, tritt die Außensteuerung durch Stimuli. Diese dienen zur Manipulation menschlicher Aktivitäten und sind vom Individuum schwer zu durchschauen. Man darf indes nicht vergessen, dass die Innovation automatischer Produktionssysteme auf den Prinzipien und Erkenntnissen der Naturwissenschaft und der Mathematik beruht und dass ihre Methoden auch für die künftige Entwicklung von Technik maßgebend sind. Die Übertragung in Konsumartikel und deren Marketing indes hat – wie bereits erwähnt – mit naturwissenschaftlichen, mathematischen Erkenntnissen nur noch wenig gemein, denn die Volkswirtschaft entwickelt sich zu einem geistigen Abenteuer, das außer der Profitmaximierung keine Regeln gelten lässt, nicht einmal die Logik. Bisher hat die Automatisierung der Produktionstechnologie in einer recht simplen, unreflektierten Weise Eingang in die mittelständischen Unternehmen gefunden; die Auseinandersetzung mit bedenklichen Sekundärerscheinungen erfolgte erst in der Konfrontation mit den fest etablierten Machtstrukturen. Typisch dafür ist das System Mensch/ Technik, dessen ökologische Auswirkungen für das Überleben der Menschheit immer bedrohlicher wird. Dabei setzt die Kritik bisher fast immer an den ökologischen Auswirkungen an, die den Menschen immer bewusster werden. Der Fehler liegt vor allem darin, dass der Mensch die

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Begrenztheit seines Lebensraums und der darin enthaltenen Rohstoffe nicht rechtzeitig erkannt hat. Er überließ sich dem alten Gesetz der Biologie, nach dem sich eine Lebensform so weit ausbreitet, bis sie an natürliche Grenzen gerät. Es lässt sich leicht nachweisen, dass alle prekären Sekundärfolgen, mit denen die Menschheit es jetzt zu tun hat, durch die Überbevölkerung basierend auf technischen Fortschritt in Kombination mit dem Kapitalismus verursacht wurden. Da es aber der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt war, der die ungeheurere Ausbreitung des Menschen ermöglicht hat, so ist der größte Teil der Menschheit von eben diesem Fortschritt abhängig geworden – ohne technischen Fortschritt ist der größte Prozentsatz der Menschheit zum Tode verurteilt. Das bedeutet, dass bei wachsender Weltbevölkerung jede konstruktive Lösung einen hohen Einsatz neuer n ­aturwissenschaftlich-technischer Erkenntnisse verlangt, und die bereits entstandenen ökologischen Schäden (teils aus Profitgier, teils aus Dummheit oder Bequemlichkeit) verlangen nach neuem technischen Fortschritt zu ihrer Kompensation, also schon definitiv nach verbesserter Technologie. Offensiv wird sie zugleich auf weitere Zurückdrängung der Toleranzgrenze der natürlichen Umwelt hinarbeiten: auch diese wiederum zweischneidig in jedem Erfolg, notwendig immer prekärer werdend, und natürlich nicht endlos. Die hier aufscheinende Dialektik eines Fortschritts, der zur Lösung der von ihm selbst geschaffenen Probleme neue schaffen muss, also sein eigener Zwang wird, begleitet ihn auch auf dem Weg in eine postindustrielle Gesellschaft. Fraglich ist jedoch, ob auch nur die jetzigen 7,5 Mrd. Menschen ohne nicht reparierbare Umweltschäden annähernd auf dem Niveau der fortgeschnittensten Länder, mit Energie versorgt und ernährt werden können. Und lässt sich der Fortschritt so steuern, dass nicht nur die Menschen in den westlich orientierten Industrieländern davon profitieren, sondern auch die Menschen in den unterentwickelten Weltregionen? Der Neo-Kapitalismus in Kombination mit der Digitalisierung ist schlichtweg eine irrationale Methode zur Steuerung des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts, denn beide kombinieren die Steigerung des Konsums durch die Entwicklung immer neuer Bedürfnisse mit der Überwachung des Individuums zur Verfestigung der Machtbasis der politischen Bürokratie.

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Die Frage nach den Trägern und Wirkungen des ­aturwissenschaftlich-technischen Fortschritts auf die institutionellen n Strukturen von (demokratischen) Gesellschaften oder einer gerechten Welt mit allseits akzeptieren Normen und ethischen Grundsätzen wird zur zentralen Achse sozialer Theoriebildung. Alain Touraine5 etwa charakterisiert die gegenwärtige postindustrielle Gesellschaft durch die gestiegene Bedeutung von Planung und Steuerung. Wie Etzioni6 zielt er auf einen universal planungsfähig gewordenen Staat, dem durch die Digitalisierung und in Erweiterung mit der künstlichen Intelligenz umfangreiche Planungsstrategien zur Verfügung stehen und damit ungeahnte Einwirkungsmöglichkeiten der Gesellschaft auf sich selbst. Diese neuen Möglichkeiten unterscheiden sich von den typischen Risiken einer Industriegesellschaft. Sie sind weder räumlich noch zeitlich noch sozial eingrenzbar; die etablierten Regeln einer sozial orientierten Arbeitsgesellschaft der Zurechnung und Verantwortung versagen; die sich abzeichnenden Veränderungen durch die Digitalisierung sind irreversibel; die drohenden Änderungen der Gesellschaft, die bereits sichtbar sind lassen sich nicht umkehren, bestenfalls minimalisieren.

3.4 Dimension der Globalisierung In ihrem inneren Wesen ist die Globalisierung ohne Digitalisierung undenkbar, d. h. der Verteilung von Produktionsstätten mit steigendem Automatisierungsgrads zwischen mehr und weniger industrialisierten Gebieten der Welt, einschließlich der Verlagerung von Dienstleistungen und Forschungs- und Entwicklungsprozessen. Diese Entwicklung führte dazu, dass der wirtschaftliche Dirigismus, der teilweise in Staaten mit hohem Industrialisierungsniveau vorhanden ist bzw. sich zu entwickeln beginnt, wächst.

5Alain Touraine: 6Amitai

Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt/M 1969. Etzioni: Die aktive Gesellschaft. Opladen 1975.

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Ein weiterer Aspekt der Digitalisierung ist die kulturelle Globalisierung.  Die ethnisch-religiösen Konflikte sind die Form des Kampfes, die dem globalen Kapitalismus entspricht: Im Zeitalter der Digitalisierung, bei der die politisch-ökonomische Bürokratie die Sozialverwaltung bestimmt, sind die Konfliktquellen kulturelle Spannungen und nicht der Übergang von vor-Corona in nach-Corona neu strukturierte Produktionssysteme. Die kulturellen Spannungen zeigen die Form von Auseinandersetzungen, die dem globalen Kapitalismus entspricht: Im Zeitalter der Verfestigung von politischen Machtstrukturen, die den offenen Diskurs durch inhaltslose Worthülsen und durch Sozialverwaltung ersetzt, bestehen die Konfliktquellen in kulturellen Spannungen anstelle der Auseinandersetzung mit den sozialen Folgen der Corona-Pandemie. Zur Debatte steht dann die Frage, was bleibt vom mittelständischen Maschinenbau, der beim Entwurf und dem Bau flexibler Fertigungssysteme sehr erfolgreich war und noch ist, allerdings bei der Software zum Betrieb der Anlagen auf Zulieferer angewiesen ist. Wird z. B. das Internet aus politischen Gründen abgeschaltet, funktionieren die automatisierten Fertigungsanlagen noch; Updates von Algorithmen und Anlagenwartung sind dann nur noch über Servicepersonal möglich. Aus der Perspektive der Risiken, welche die Menschen bedrohen, die dieser unbeabsichtigt mit der Globalisierung zugewachsen und erst seit wenigen Jahren in das Bewusstsein der Menschen eingedrungen sind, leben diese in einer einzigartigen, paradoxen Gleichzeitigkeit: Beides, die tiefe Vergangenheit und die ferne Zukunft, ragen in die Gegenwart hinein. Selten sind Naturwissenschaftler gemeinsam mit Ingenieuren mehr gefordert, die global auftretenden Probleme unter humanen Aspekten zu lösen. Dies wird nur mittels einer Transformation des Systems der Profitmaximierung möglich sein. Technologie wird häufig außerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs mit der Hoffnung entwickelt, damit Profit zu machen. Dies allerdings niemals außerhalb gesellschaftlicher Akzeptanz. Dabei bleibt meist die Frage unbeantwortet, wofür Ressourcen und Rohstoffe eingesetzt werden und wer von der Technologie profitieren soll. Das soziale Dilemma, das in der Verteilung der Güter, produziert von automatisch arbeitenden Maschinen, gesteuert von künstlicher

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Intelligenz, steckt, lässt sich nicht wegdiskutieren. Das Ringen um Recht und Gerechtigkeit bei der Güterverteilung einschließlich der Ressourcenausbeutung lässt sich nicht maschinisieren. Mit der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Strukturen wurde der technische Fortschritt immer mehr zum Spielball der politischen Ökonomie. Das Mantra lautete schlicht: Geht es der Wirtschaft gut, fallen auch Krümel für das arbeitende Individuum ab. Jetzt da allen bewusst wird, welche sozialen und ökologische Schäden ein Virus anrichten kann, jetzt da unübersehbar ist, dass eine weltumspannende Finanzwirtschaft mit ihren Billionen auf die Menschen drückt, beginnen sich Ökonomen immer mehr für eine Umstellung der Werttheorie zu interessieren. Die Werttheorie soll nicht mehr von der Frage ausgehen, wie und von wem in der Produktion objektive Werte geschaffen werden, sondern von den Individuen mit ihren definierbaren Präferenzen und Ressourcen und damit davon, wie sich diese subjektiv im Wert eines bestimmten Produkts konstituieren. Von diesem Ausgangspunkt aus hoffen kritische Ökonomen ein neues Verständnis von Privateigentum und Arbeitsteilung, Markt und Geld als Mittel zur optimalen Allokation von Ressourcen entwickeln zu können. Selbstverständlich wird dabei vielfach an Gedanken der klassischen Ökonomie angeknüpft. Die von den kritischen Ökonomen vorgeschlagene Werttheorie ist im Prinzip keine Gesellschaftstheorie mit moralphilosophischem und politischem Aspekt, sondern eine Theorie des Handelns von Individuen mit beliebigen Bedürfnissen. Eine solche reine Theorie arbeitet freilich mit idealisierten Annahmen von rationalem Handeln, von Konkurrenz und Kenntnis der Bedingungen, wie es in der Wirklichkeit nicht vorkommt. Und hier liegt das Manko der Werttheorie. Rationales Handeln von Individuen wird zunehmend durch in Werbebotschaften verpackte Info-Viren manipuliert. Das Individuum in der konsumgetriebenen Marktwirtschaft ist mit materiellen Werten und sozialer Risikoabsicherung weitgehend gesättigt, die Nutzenkonformität konkurrierender Produkte gestattet nur unbedeutende und vorübergehende Differenzierung, sodass sein Bedürfnis nach emotionalem Erleben, spirituellen Werten und einem profilierten Lebensstil wächst. Befriedigt wird dieses Bedürfnis durch mehr Erleben beim Shoppen, das von der politischen Ökonomie als

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patriotische Pflicht zur Steigerung des Bruttosozialprodukts verkauft wird. Die Reaktionen der klassischen Soziologie auf die sich entwickelnde Krise der ökonomischen globalen Entwicklungen und auf den neoklassischen Ausweg durch Änderung der Werttheorie sind hilflos. Man versucht, rationales Handeln auf ökonomische Prozesse zu beschränken, logisches Handeln auf Institutionen zu beziehen und nichtlogische Handlungen dem Individuum zu zuordnen. Man hat erkannt, dass Rationalität in der politischen Ökonomie im Prinzip nur den Profit kaschiert. Logische Handlungen basieren nach Meinung vieler Soziologen auf Konsensbildung innerhalb von Institutionen und sind wenigsten teilweise das Ergebnis einer Strategie; die nicht logischen Handlungen entspringen hauptsächlich einem bestimmten seelischen Zustand, Gefühlen, dem Unterbewusstsein von Individuen, wobei diese Merkmale in sich wiederum disponibel sind, insbesondere wenn man politisch-ökonomische Entscheidungen unter dem Druck eines Hegemons analysiert. So ist das Ziel eines Hegemons, die ­ökonomisch-politische Macht seiner eigenen Machteliten zu stabilisieren und damit die Wertvorstellungen dieser Eliten auf die Gesellschaften zu übertragen, die direkt oder indirekt von dem Hegemonen abhängig sind. Je konsequenter die gesellschaftliche Entwicklung hin zu einer postindustriellen Gesellschaft auf den kapitalistischen Strukturen eines automatisch produzierenden hegemonialen Systemen beruht, desto inkonsistenter ist die Erwartung, dass reale handelnde Personen dieses System ändern oder abschaffen könnten. Hinzu kommt, dass an der Schnittstelle zwischen sozialer Lebenswelt und neokapitalistischen Wirtschaftsstrukturen in verschiedenen Ländern unterschiedliche Kompromisse, abgesprochen mit dem Hegemon, entwickelt wurden. Keiner dieser Kompromisse ist, betrachtet man die Folgen globaler Digitalisierung, wirklich durchdacht und damit sozial stabil, und keiner ist den anderen per se moralisch überlegen; alle sind auf ihre Art unsauber und niemals mehr als ein zeitweiliger, dauerhaft umkämpfter Interessensausgleich mit dem Hegemon unter gegebenen geostrategischen Bedingungen, Ressourcenverbrauch, Umweltschutz und so weiter.

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Durch die Digitalisierung einschließlich deren Parallelentwicklungen stehen die Menschen und damit auch die ökonomischen Theorien, basierend auf marktwirtschaftlichen Vorstellungen, vor einer historisch neuen Situation, die dieses Selbst immer mehr manipuliert, ohne dass sich am rechtlichen Rahmen und den sozialen Bedingungen etwas ändert. Die Algorithmen, die die individuellen Klicks auswerten, die individuellen Kontakte registrieren, um daraus eine Persönlichkeitsdiagnose zu erstellen, das Wissen über Einkünfte und Ausgaben, haben zu einer Asymmetrie in der Beurteilung des Selbst hervorgebracht: Dachte man bislang, es gäbe niemand, der mehr über einen wisse als man selbst, gilt dies heute keineswegs mehr. Das Individuum weiß nicht einmal, wer oder was mehr über es weiß als es selbst. Dies bedeutet: Macht über das Konsumverhalten des Einzelnen zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen ökonomisch-politischen Gesellschaftsstruktur. Man muss dabei sehen, dass die Erosion des Kapitalismus durch die Folgen der Digitalisierung noch kein Thema ist, für das sich die Politik wirklich interessiert. Bislang jedenfalls sind Versuche, abgesehen von der Vorstellung einiger Studien – mit unterschiedlichen Interessenslagen – zum Thema Arbeitsplatzabbau durch Automatisierung, ohne nachhaltige Resonanz in Politik und Öffentlichkeit geblieben. Das Ausmaß der Digitalisierung und dessen Sichtbarkeit in der Corona-Pandemie, die als eine Art Brennglas wirkt, hat zur Folge, dass der Abstand zwischen alltäglichen und künftigen Forderungen, zwischen gewöhnlichen und klugen, weitsichtigen potischen Entscheidungen stetig schrumpft. Da sich die Gesellschaft durch den naturwissenschaftlichtechnischen Fortschritt auf dem Weg zur Utopie befindet – wobei sich diese bei stetig wachsender Menschheit zur Chimäre entwickelt –, ist die Menschheit mit Perspektiven konfrontiert, deren Wahl höchste Klugheit erfordert – eine unmögliche Situation für den Menschen überhaupt, weil er diese Klugheit nicht besitzt, und für den gegenwärtigen Menschen im Besonderen, der sogar wissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellt. Angesichts des q­uasi-eschatologischen Potenzials, das in der Digitalisierung steckt, wird Unwissen über die Folgen ein wesentlicher Grund für kluge Zurückhaltung. Hinzu kommen Zweifel an der Zulänglichkeit politischökonomischer Repräsentanzen, die häufig den Einflüsterungen von Interessenvertretern ausgesetzt sind.

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Diese vertreten im Wesentlichen nur gegenwärtige oder kurzfristige Interessen ihrer Auftraggeber und machen ihren politisch-ökonomischen Einfluss geltend. Die Zukunft, d.  ­ h. das Nichtexistente hat im Prinzip keine Lobby, die Zukunft hat noch keine Macht, sie benutzt Prognosen, als Anreiz zum Aufbau sozialer Bewegungen. Lassen sich Nahprognosen noch einigermaßen durch wissenschaftliche Methoden in einem bestimmten Rahmen sinnvoll beschreiben und daraus deren Eintreten vorhersagen, ist dies trotz immer leistungsfähigerer Computersysteme für eine fernere Zukunft nicht mehr möglich. Gründe dafür sind die Komplexität sozialer und biosphärischer Abläufe und deren Wirkungen aufeinander, die stets mit Überraschungen aufwartende Unergründlichkeit des Menschen – trotz der wachsenden Möglichkeiten zur Manipulation der Menschen mittels der auf das Individuum direkt einwirkenden Digitaltechnologie – und die Unvorhersagbarkeit, das heißt Nicht-Vorerfindbarkeit künftiger Erfindungen. Die dafür erforderliche Extrapolation verlangt einen größenordnungsmäßig höheren Grad an wissenschaftlichen Erkenntnissen, als sie bisher existieren und nicht einmal die vorhandenen vernetzt sind. Das darf die Menschen jedoch nicht davon abhalten Denkexperimente durchzuführen, die allerdings bestenfalls Wahrscheinlichkeit beanspruchen können. Zur Veranschaulichung möglicher sozialer Entwicklungen einer Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht bzw. in der künstlich Arbeit geschaffen werden muss, in der jeder ein Grundeinkommen bezieht und entscheiden kann, ob er sich der Muße hingibt oder etwas tun will; in einer Gesellschaft, in der Produktionsmittel beginnen sich selbst zu reproduzieren und sich somit Kapital immer mehr von privater Hand in öffentliche Hände übergeht, mit den sich daraus ergebenden Folgen, dienen solche Gedankenexperimente. Allerdings werden die Gedankenexperimente zum Problem, wenn sie in die Rolle von Prognosen gedrängt oder gar als Ideologie aufgebauscht werden, d. h. das bloß „möglich“ der Gedankenexperimente, die sich auch bereichsweise nicht wissenschaftlich begründen lassen, kann zu einem unvorhergesehenen Bruch in der Gesellschaftsstruktur führen, wobei dann jedes Mal Interesse, Neigung oder Meinung von Machtinstitutionen und gesellschaftlichen Gruppen das weitere soziale und ökonomische Geschehen bestimmen.

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Unter Modernitätsbedingungen kann die soziale Welt mit dem Bezug auf den Input neuer Erkenntnisse über ihre Beschaffenheit und ihr Funktionieren niemals ein stabiles Umfeld bilden. Neue Erkenntnisse (neue Begriffe – häufig zur Verschleierung von Machtinteressen oder Konzipierung neuer Bedürfnisse – bzw. Theorien) führen nicht einfach dazu, dass die soziale Welt durchsichtiger wird, sondern sie verändern das Wesen dieser Welt und lassen sie in bisher unbekannte Richtungen schlingern. Die Wirkungen dieses Phänomens, hervorgerufen durch die Wirkungen des technischen Fortschritts, betrifft sowohl die sozialen Institutionen selbst als auch die ausgebeutete Natur. Die Menschheit ist immer weniger imstande, die Auswirkungen technischer Systeme, insbesondere die Digitalisierung, für ihre kollektiven Zwecke entsprechend zurechtzubiegen. Obwohl die Menschen ihre Geschichte durch ihre Handlungen produzieren und reproduzieren, sind die Menschen als Kollektiv nicht dazu in der Lage, das soziale Leben, auch unter dem Aspekt einer lebenslangen Grundsicherung und Überwachung durch Big-Brother, vollständig unter Kontrolle zu halten. Die ungleiche Machtverteilung, die Anhäufung von Kapital in immer weniger Händen, und die Instabilität der Werte spielen ebenfalls eine maßgebliche Rolle. In mancher Hinsicht ist die Welt zwar eine einzige, doch durch Machtungleichgewichte, insbesondere durch eine oder mehrere Hegemonien, ist sie in verschiedene Welt aufgespalten. Die stark kontrafaktische Perspektive zukunftsorientierten Denkens, die ein wesentliches Element der Reflexivität über eine ­Nach-Virus-Zeit-Gesellschaft ausmacht, kann zu alternativen Zukunftsverläufen führen, deren Propagierung zu ihrer Verwirklichung beiträgt. Was in diesem Zusammenhang notwendig erscheint, ist das Nachdenken über automatische Produktionssysteme und der Verteilung der damit erzeugten Wertschöpfung. Und hier beginnen die Gedankenexperimente an ihre Grenzen zu stoßen. Auch unter der Annahme, dass sich selbst regenerierende automatische Systeme weitgehend selbstständig den Konsum der Menschen befriedigen, werden die dafür notwendigen Ressourcen bei stetig wachsender Menschheit nicht ausreichen. Und hier kommt die Macht zur Durchführung von Reformen, zur Begrenzung der Menschen auf dem Globus, zur Verteilung von Nahrungsmitteln und Konsumgütern,

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Ersatztätigkeiten anstelle von Arbeit einschließlich der Entwicklung von Konzepten zu den sozialen Strukturen zum Tragen. Sollte es jedoch möglich sein, die Produktionssysteme so umzugestalten, dass es gelingt, das Wachstum der Menschheit zu begrenzen, ist zu fragen, was jenseits des Kapitalismus mit seinem Konsumfetischismus liegen könnte. In solchen Debatten geht es um die Konsequenzen aus einer Tatsache, die alle gleichermaßen anerkennen. Die Auseinandersetzung entsteht aus Deutungen, Ideen und Ideologien. Was aber passiert, wenn das Faktische selbst in Abrede gestellt wird, indem systematisch gelogen, abgelenkt, verwässert wird? Wo es keine gemeinsame Faktenlage gibt, wird nur noch über Wirklichkeitsbilder gestritten, nicht mehr über Handlungsoptionen. Ein konkretes Beispiel dafür sind die Propaganda-Bots, die immer häufiger als Wahlkampfmethode eingesetzt werden. Propaganda-Bots wird eine Position mit einer weitreichenden inhaltlichen Ideologie vorgegeben, und dann mischen sie sich aktiv in Diskussionen in den sozialen Netzwerken ein und verbreiten die Botschaften, die Auftraggeber gern im Netz hätten. Und sie antworten auch auf Posts oder Tweets des Gegners. Die Bot-Entwickler gehen bei der Erarbeitung des Algorithmus von typischen, häufig benutzten Sprachakten der Menschen aus, die in Datenbanken gespeichert sind. In dieser Datenbank finden sich sprachliche Muster zu den Propagandaaussagen, die verbreitet werden sollen, angepasst an das jeweilige intellektuelle Niveau des Anzusprechenden. Diese Verbindung zwischen wachsender Selbstkontrolle und Beeinflussung mittels der Medien kann der klassischen Demokratie den Todesstoß versetzten. In der medialen Auflistung von Großem, Kleinem, Wichtigem, Unwichtigem, Verrücktem, Ernstem etc. verschwindet das Besondere und das eigentlich Wirkliche in sozialen Netzwerken. Wer chronisch diese falschen Gleichwertigkeiten vorgesetzt bekommt, der verliert die Fähigkeit, Dinge in ihrer Individualität, Wesentlichkeit und Absurdität zu erkennen. Als glaubwürdig wird inzwischen der Politiker angesehen, der Glaubwürdigkeit gut vorführt, nicht derjenige, der ehrlich ist. Hohle Gesten, raffiniert eingeübte Phraseologie, abgelesen vom Teleprompter, wo unter jedem offiziellen Wort sich private Vorbehalte, Gegenwelten und Ironie verstecken, und wo unter öffentlichen Verlautbarungen Submonologe fließen, von denen nur der Eingeweihte etwas weiß oder erahnt, tragen gegenwärtig den Sieg davon.

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Die Sozialisation hat prinzipiell die Individuen so zu formen, dass sie tun wollen, was sie tun sollen. Um die globale Digitalisierung der sozialen Medien auf die sich stetig verändernde Sozialisation einfangen zu können, ist ein realistisches offenes Gesellschaftsmodell auf einer Theorie des individuellen und kollektiven Handelns erforderlich. Und dies ohne den direkten oder indirekten Einfluss eines Hegemons, der im Hintergrund die Rahmenbedingungen vorgibt. Nur eine solche realistische Verwendung erlaubt es die dringendsten Desiderate gegenwärtiger Gesellschaftstheorie anzugehen: die Berücksichtigung der Auswirkungen der politisch neo-kapitalistischen Ökonomie, des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts, der Konsumgesellschaft unter dem Einfluss der sozialen Netzwerke und der daraus resultierenden Zerstörung der Natur auf den Einfluss von politisch-sozialen Prozessen. Versuche der Sozialwissenschaften, diese Vorgänge einigermaßen plausibel zu beschreiben, sind allesamt gescheitert7,8. Die Sozialwissenschaften entwickeln leider immer noch Theorien und analysieren Gesellschaftsprozesse, die sich in der Vergangenheit abspielten und übertragen die daraus gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwart. Manche Sozialwissenschaftler versuchen mit diesen Erkenntnissen sogar einen Blick in die Zukunft, was an Scharlatanerie grenzt. An die Stelle von Sozialtheorien rückt zunehmend die schlichte Beschreibung von Phänomenen wie Automatisierung, Kommunikation über soziale Netzwerke, Einfluss von künstlicher Intelligenz, Informationsspeicherung, Beschränkung der individuellen Freiheit zur Steigerung von persönlicher Sicherheit (schleichende Stärkung des tiefen Staates), ökologische Nutzung von Ressourcen, Anpassung der Ökonomie an die Wirkungen des technischen Fortschritts und die Kontrolle der Machteliten ins Zentrum einer Disziplin, die diese vormals eher zu ignorieren neigte.

7Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt/M. 1987, S. 275–303. 8Giddens, Anthony, Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1988.

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Themen, die die Rahmenbedingungen einer postindustriellen Gesellschaft betreffen, wie Machtverteilung und deren Kontrolle, die Distribution des Wohlstands durch künstliche Intelligenz, Einschränkung der Freiheit durch Bürokratie, medizinische Versorgung, Wissensniveau, Entstehung neuer Arbeitsplätze durch mehr bürokratische Regulierungen und so weiter sind es demgegenüber wert, theoretisch durchdrungen zu werden. Die Quintessenz aus all dem kann letzlich nur lauten: Wir brauchen mehr Globalisierung denn je. Ohne weitere und intensivere Globalisierung auf allen Ebenen – Wissenschaft, Technologie, Ökonomie und ja, auch der Politik – wird es der Menschheit wohl nicht gelingen, die vor ihr liegenden extremen ökologischen Herausforderungen zu meistern.

Glossar

Automatisierung    Automatisierung

bezeichnet einen selbstständig oder programm-gesteuert ablaufenden Prozess oder Prozessfolgen in Maschinen oder flexiblen Fertigungssystemen, um in der industriellen Fertigung Handarbeit durch Maschinen zu substituieren. Die Vielzahl von Einzelschritten in der Produktion benötigen jeweils eine bestimmte Zeit zu ihrer Ausführung. Je schneller diese zeitliche Wegstrecke (Durchlaufzeit) überwunden wird, desto mehr Wertschöpfung kann mit den verfügbaren Produktionsressourcen (Menschen, Maschinen, Energie) erzielt werden. Durch einen hohen Automatisierungsgrad kann der Wertschöpfungsprozess beschleunigt werden Anmerkung: auch Computer sind als Automaten in denen Operationen ­programm-gesteuert (Software) selbstständig ausgeführt werden. Cloud-Computing    Cloud-Computing ist eine relativ neue Technologie, um die Effizienz, Effektivität und Nachhaltigkeit der Investitionen in Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen (ICT) zu verbessern. Cloud-Computing nutzt Rechner und Speicher in einem globalen oder lokalen Informations-Netzwerk. Hauptmerkmale von Cloud- Computing sind ein bedarfsgerechter Netzwerkzugang, die gemeinsame Nutzung von Computing-Ressourcen sowie eine schnelle und elastische Zuweisung von Computerleistung © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Frey et al., Globalisierung nach der Corona-Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31183-4

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78     Glossar Controlling    Unternehmerisches

Handeln in einem nationalen und weltweit hochkomplexen Umfeld bedarf des Einsatzes geeigneter ­Controlling-Informationssystemen (CIS) für erfolgreiches wirtschaftliches Handeln. CIS stellen dem Management spezifische Informationen für die Entscheidungsfindung zur Verfügung Digital-Twin   Ein Digitaler Zwilling (Digital-Twin), ein Abbild der realen Fabrik im Cyberspace, bietet unter anderem die Möglichkeit, das Zusammenspiel von Anlagen und Prozessen im Computer zu testen. Ganze Fabriken können vorab virtuell in Betrieb genommen werden, um Anfahrschwierigkeiten zu vermeiden und Inbetriebnahmezeiten zu verkürzen Grenzproduktivität    Der Begriff aus der Produktionstheorie hebt auf die Änderung der Produktionsmenge bei einer kleinen Änderung der Einsatzmenge eines Produktionsfaktors (Arbeit, Kapital) ab. Grenzproduktivität ist der Zuwachs des Ertrags, der durch den Einsatz einer jeweils weiteren Einheit eines Produktionsfaktors erzielt wird Hegemon    Ein Hegemon, ob Staat, Organisation oder Person, nimmt eine ihm (freiwillig) zuerkannte Führungsrolle ein. Die internationale Ordnung ist von Natur aus hierarchisch, da nicht alle Beteiligten über das gleiche Maß an Macht und Einfluss verfügen. Hegemonien der internationalen Ordnung nutzen solche strategischen Vorteile. Ein dauerhafter Hegemon hängt allerdings nicht nur von seiner alleinigen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Macht ab, sondern auch von seinen Netzwerkfähigkeiten, die langfristig freiwillige Akzeptanz fördern Industrie 4.0   Die erste industrielle Revolution, die Einführung mechanischer Produktionsanlagen Ende des 18. Jahrhunderts und die zweite industrielle Revolution, die arbeitsteilige Massenproduktion von Gütern am Fließband mithilfe elektrischer Energie seit der Wende zum 20. Jahrhundert mündeten ab etwa 1970 in die dritte industrielle Revolution, mit der durch den Einsatz von Elektronik und Informationstechnologie getriebenen zunehmenden Automatisierung von Produktionsprozessen. Jetzt stehen wir wieder vor einem Paradigmenwechsel, denn in den kommenden Jahren werden sich die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung auch in der Industrie voll entfalten. Industrie 4.0 kennzeichnet eine hochflexible, ressourcenschonende und hochadaptive Produktion Industrieles Lernen   Ist eine Fähigkeit zur Verbesserung von Prozessen bei Wiederholung aufgrund von konstruktiven Verbesserungen, Optimierungen der Prozesse, Vermeidung von Fehlern und Nutzung von Erfahrungswissen

Glossar     79 Lean Produktion   Die

Vermeidung der Verschwendung von Ressourcen ist ein wirksamer Beitrag zur Nachhaltigkeit der Produktion. Größere Nachhaltigkeit bedeutet bessere Wirtschaftlichkeit. Viele Unternehmen haben mit der Anwendung von Prinzipien des Lean Manufacturing erhebliche Verbesserungen der Effizienz erzielen können Life Cycle   Die nachhaltige Herstellung von Produkten ist wesentlich für eine nachhaltige Entwicklung insgesamt, wobei die Produktlebenszeit ein wichtiger Indikator ist. Der Life Cycle eines Produktes beginnt mit der Definition und Erfindung und endet mit dem physischen Ende aufgrund von Verschleiß oder Abnutzung und der Wiederaufbereitung (Recycling) des Materials. Kein Produkt lebt ewig. Zwischen der ersten Produktidee und dem letzten Verkauf durchläuft ein Produkt verschiedene Phasen, von der Forschung und Entwicklung (FuE) über Markteinführung, Herstellung und produktbezogenen Dienstleistungen (Service) und schließlich zur Verdrängung durch neue Produkte Mega-City/Megastadt   Weltweit ist das rasante Wachstum von Städten bis hin zu hochgradig verdichteten Stadtregionen und Megacities zu beobachten, die teilweise mehr Menschen beherbergen als ganze Länder. Eine MegaCity ist nach Definition der Vereinten Nationen eine Stadt mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. In der Vergangenheit wuchsen und schrumpften Städte durch eine natürliche Urbanisierung. Heutige Mega-Städte werden vielfach hinsichtlich einer Funktion, die sie erfüllen sollen, am Reißbrett geplant und konstruiert. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wohnt in Megacities Nationalökonomie   Der Begriff „Politische Ökonomie“ war im 19. Jahrhundert die gebräuchlichste Bezeichnung für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaft, Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre. Unter einem „System der politischen Ökonomie“ versteht man seit Joseph A. Schumpeter ein eigenständiges wirtschaftspolitisches System, das auf normativen Prinzipien beruht (Liberalismus bei Adam Smith, Sozialismus bei Karl Marx). Der international renommierte deutscher Nationalökonom Friedrich List gilt als „Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft“. Die Nationalökonomie fand als deutscher Sonderweg nach dem Ersten Weltkrieg ein Ende Neokapitalismus   Neokapitalistische oder neoliberale Ansätze gehen im Unterschied etwa zu Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft davon aus, dass Gesellschaften zu einem höchstmöglichen Wohlstandszuwachs für alle kommen, wenn man in allen Bereichen ökonomische Kriterien walten lässt

80     Glossar

und das sich über Preise selbst regulierende Spiel der Märkte nicht durch politische Interventionen verzerrt Prozesstechnologie   Technologien sind die Grundlage der industriellen Wertschöpfung. Auf Ebene einzelner Unternehmungen können sie relative Wettbewerbsvorteile begründen. Andererseits sind Defizite in der technologischen Ausstattung mit Wettbewerbsnachteilen verbunden. Als Ressourcen zur Realisation unternehmerischer Zielsetzungen sind Produktund Prozesstechnologien zu unterscheiden. Produkttechnologien sind konstituierende Elemente des Produkts, während Prozesstechnologien zur Leistungserstellung zwar unabdingbar sind, jedoch nicht in das Produkte eingehen Peer-Review    Peer-Review ist die kritische Begutachtung wissenschaftlicher Manuskripte durch fachkundige und unabhängige Experten aus der jeweiligen wissenschaftlichen Community. In Peer-Review-Verfahren wird geprüft, ob die Autoren wissenschaftliche Grundprinzipien korrekt anwenden. Diese Form der externen Begutachtung ist ein weitgehend akzeptierter Sicherheitsmechanismus, jedoch keine Bewertung Resilienz   Resilienz, die Fähigkeit, Krisen bestmöglich zu durchstehen und sich danach schnell wieder zu erholen, hat ihren Wortursprung im lateinischen resiliere für „zurückspringen“ oder „abprallen“. Ein Material wird zum Beispiel als resilient bezeichnet, wenn es nach einer Verformung wieder in den ursprünglichen Zustand zurückspringt Rheinischer Kapitalismus   Zwei gedankliche Entwicklungsstränge prägen die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft: Der freie, aber grundlegenden Ordnungsprinzipien folgende Wettbewerb bildet die gedankliche Grundlage des durch die „Freiburger Schule“ geprägten „Ordoliberalismus“. Der Markt sei das „genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte“, war Walter Eucken überzeugt. Der „Rheinische Kapitalismus“ ist der zweite Entwicklungsstrang der Sozialen Marktwirtschaft. Der Ökonom und Soziologen Alfred Müller-Armack war überzeugt, dass eine freiheitliche Wettbewerbsordnung im Nachkriegsdeutschland nur dann zu verwirklichen sei, wenn man die Vorbehalte der Menschen gegenüber dem Markt bei der Gestaltung der Wirtschaftsordnung berücksichtige 5G-Standard    Der 5G-Standard macht Mobilkommunikation sozusagen industrietauglich. Ermöglicht der klassische Breitbandzugang des 4G-Smartphones komfortablen Datenaustausch, geht der neue 5G-Standard weit darüber hinaus. Zum Beispiel Maschine-zu-MaschineKommunikation quasi in Echtzeit. Neben der Vernetzung von Menschen

Glossar     81

wird 5G zum Türöffner zur Vernetzung intelligenter Objekten wie Autos und damit Grundlage für automatisiertes Fahren Schwarmintelligenz   Schwarmintelligenz fasziniert. Aus dem Tierreich ist die Vielzahl an sozialen Insekten zu nennen, aber auch ein Vogelschwarm und eine Schaf- oder Büffelherde scheinen auf besondere Weise organisiert zu sein. Ingenieure haben sich Prinzipien des Schwarmverhaltens abgeschaut und versuchen, künstliche Schwarmsysteme in Software und Hardware zu bauen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Eine große Gruppe kleiner und einfacher technischer Geräte ist ausfallsicher und eventuell besser zu handhaben Substitutionselastizität    Die Aufteilung des Sozialprodukts auf die beiden Faktoranbieter (Lohn und Kapitaleinkommen) hängt vom relativen Einsatz der beiden Faktoren ab. Diese Abhängigkeit ist interessant, wenn man etwa untersuchen möchte, wie die Lohnquote auf eine relative Verknappung des Faktors Arbeit (infolge eines Bevölkerungsrückgangs) oder auf eine starke Kapitalintensivierung (Automation) in der Produktion reagiert. Ist die Substitutionselastizität zwischen Arbeits- und Maschinenstunden gleich 1, so wird die Änderung der Kapitalintensität durch die Änderung der Grenzrate der Substitution und damit des Faktorpreisverhältnisses aufgewogen: Der knapper gewordene Faktor verteuert sich genau so stark, dass sein Einkommensanteil gleich bleibt. Ist die Substitutionselastizität größer als 1, so reicht schon eine geringe Änderung der Faktorpreise, um die in der Produktion eingesetzte Kapitalintensität an das geänderte Faktorangebotsverhältnis anzupassen, und die Einkommensquote des verknappten Faktors nimmt ab. Ist die Substitutionselastizität dagegen kleiner als 1, so ändert sich das Faktorpreisverhältnis stark und die Einkommensquote des knapper gewordenen Faktors nimmt zu Tiefer Staat   Der Begriff Tiefer Staat (deep state) bezeichnet eine Verflechtung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Kräfte innerhalb eines Staates, die sich der demokratischen Kontrolle entziehen und versuchen, politische, juristische und wirtschaftliche Vorgänge und Entscheidungen zum Vorteil der Beteiligten zu manipulieren Universalismus   Universalismus meint im Wissenschaftsbetrieb die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Behauptungen von den individuellen oder sozialen Merkmalen ihrer Verfechter, also Ausschluss von Rasse, Nationalität, Religion, Klasse, Geschlecht usw. bei der Diskussion dieser Behauptungen. Das Ethos der Wissenschaft ist jedoch nicht explizit kodifiziert

82     Glossar Verbundproduktion    Bei

großen Stückzahlerhöhung wird der wirtschaftliche Einsatz von Verbundproduktionssystemen möglich. Darunter werden Systeme verstanden, in denen die Fertigung der Einzelteile eines Produktes direkt mit deren Montage in einer Linie verbunden ist Virtual Reality System   Virtual Reality Systeme erzeugen Reize, die einen Menschen die Virtuelle Realität (VR) etwa mit computergenerierten Grafiken realitätsnah wahrnehmen lassen. Eine wesentliche Eigenschaft von VR-Systemen ist ihre Interaktivität. Für die Immersion eines Nutzers in die Virtuelle Umgebung ist es essenziell, dass er die Konsequenzen seiner Handlungen in der Virtuellen Welt wahrnehmen und seinem eigenen Handeln zuordnen kann Wertschöpfung    Die Produktion ist ein soziotechnisches System, in dem Menschen mit ihrem Wissen und ihren Kompetenzen unter Nutzung von Maschinen aus eingesetzten Ressourcen (Material, Energie, Information) höherwertige materielle Produkte oder immaterielle Dienstleistungen herstellen. Dieser Transformationsprozess, genannt Wertschöpfung, ist allgemein monetär durch den Erlös des Produkts am Markt abzüglich der eingesetzten Ressourcen definiert. Wertschöpfung umfasst die Erlöse aus der Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen abzüglich der Kosten für Zukauf von Material sowie Veränderungen der Lagerbestände

Literatur

Baumann Zygmunt: Is There a Postmodern Sociology? In: Theory, Culture & Society, 5, S. 217–237, 1988. Brynjolfon Erik, McAfee Andrew: Second Machine Age: Work, Progress, and Prosperity in a Time of Brilliant Technologies. Norton & Company, New York City, 2014. Etzioni Amitai: Die aktive Gesellschaft. Opladen, 1975. Flassbeck Heiner: http:// www.flassbeck.de/pdf/2012/juli2012 Fukujama Francis: Political Order and Political Decay: From the Industrial Revolution to the Globalization of Democracy. Profile Books Ltd, 2014. Garrick Dustin, De Stefano Lucia et.  al.:  Rural water for thirsty cities: a systematic review of water reallocation from rural to urban regions. In: Environmental Research Letters. 14, 2019, S. 043003, doi: 10.1088/1748-9326/ab0db7. Giddens Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Campus Verl., Frankfurt/M., 1988. Haferkamp Hans, Schmid Michael (Hrsg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme. S. 275– 303, Shurkamp, Frankfurt/M., 1987. Lash Scott, Urry John: The End of Organized Capitalism. Madison (Wisconsin) 1987, ISBN 0299116700

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Frey et al., Globalisierung nach der Corona-Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31183-4

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84     Literatur

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