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German Pages XXV, 211 [224] Year 2020
Tim Lüger
Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie Eine Theorie der Produktion pro Kopf basierend auf der Produktionstheorie nach Adam Smith und der Bevölkerungstheorie nach Thomas Malthus
Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie
Tim Lüger
Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie Eine Theorie der Produktion pro Kopf basierend auf der Produktionstheorie nach Adam Smith und der Bevölkerungstheorie nach Thomas Malthus
Tim Lüger Wirtschaftstheorie TU Darmstadt Pfungstadt, Deutschland Diese Dissertation wurde in Erfüllung der Voraussetzungen für den Grad des doctor rerum politicarum (Dr. rer. pol.) am 24. Juni 2019 am Fachbereich Rechts- und Wirtsch aftswissenschaften der TU Darmstadt eingereicht.Tag der Disputation: 21. November 2019
ISBN 978-3-658-31804-8 ISBN 978-3-658-31805-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Carina Reibold Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Geleitwort
Während meines Studiums gab es zahlreiche Begegnungen mit ganzheitlicher Wachstumstheorie im weiteren Sinne. Obwohl ich von jeher an einer historischen, allumfassenden Perspektive interessiert war, erschloss sich mir erst während des Studiums der internationalen Wirtschaftsgeschichte an der Universität Cardiff, dass außergewöhnliche historische Ereignisse in der Regel auf ökonomische Ursachen zurückzuführen sind. An der Universität Konstanz konnte ich mich im Rahmen eines Seminars zur Bevölkerungsökonomie mit dem Thema Demografie vertraut machen. Des Weiteren begann ich im Rahmen der Makroökonomie mit dem Studium der endogenen Wachstumstheorie, nachdem ich realisiert hatte, dass die neoklassische exogene Wachstumstheorie nach wie vor limitiert erscheint in ihrem Versuch, langfristiges Wirtschaftswachstum zu modellieren. Als Teil meines Schwerpunktes in Ökonometrie analysierte ich ökonometrische Papers zu wirtschaftlicher Stagnation unter Verwendung von vorindustriellen demografischen und ökonomischen Zeitreihen. Nichtsdestotrotz war es Clarks (2007) Buch „A Farewell to Alms“, welches mich den gesamten Prozess historischer Wirtschaftsentwicklung überdenken und abkürzen ließ, da mich nach der Diskussion malthusianischer Dynamiken in einem Kurs zur Entwicklungsökonomie die Idee einer Bevölkerungsfalle faszinierte. Aufbauend auf Galors (2011) Idee einer ganzheitlichen Wachstumstheorie handelte meine Diplomarbeit von „Demografie und Wohlstand in der langen Frist“, in welcher ich die theoretischen Ideen von Stagnation und Entwicklung bereits empirisch untermauern konnte. Während der vergangenen Jahre gelang es mir, meine inquisitive Einstellung zu behaupten. Diese führte mich zum Studium von Werken zahlreicher klassischer Ökonomen, welche bereits die Rolle demografischer Veränderungen betonten. Nachdem ich die klassischen malthusianischen Dynamiken vertiefender
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studiert hatte, bemerkte ich, dass bis zum heutigen Tag kein konsistenter Bezugsrahmen zur klassischen Bevölkerungstheorie etabliert worden war, über den unter Ökonomen allgemeine Übereinstimmung herrscht. Dies bedeutet, dass die Theorie entweder inkonsistent ist oder dass sie in wichtigen Punkten missverstanden wurde. Da ich das Zusammenspiel zwischen demografischem Wandel und Wirtschaftswachstum als das dringendste ökonomische Problem unserer Zeit erachte, beabsichtige ich, in diesem Buch ein klassisches mathematisches Modell zu erstellen, um die ökonomische Wissenschaft mit einem konsistenteren Verständnis des zukünftigen Entwicklungspotenzials auszustatten und damit Projektionen des Wirtschaftswachstums sowie der Entwicklung unter unterschiedlichen demografischen Umständen zu ermöglichen.1 Politische Erwägungen trugen sicherlich dazu bei, dass Diskussionen zur „Bevölkerungsfrage“ während des 20. Jahrhunderts in der Wirtschaftstheorie nicht vollumfänglich berücksichtigt wurden. Nichtsdestotrotz sollte dies den Wissenschaftler nicht davon abbringen, sich der allgemeineren Frage des „Fortschritts“ zuzuwenden, denn […] in einer Wissenschaft, in welcher Irrtum oder selbst Ignoranz ein derart ernsthaftes und weitreichendes Unheil produzieren können, ist er stets daran gebunden, wie ein Geschworener die Wahrheit gemäß ihrer Evidenz darzulegen und weder Anteilnahme an Bedürftigkeit noch Abscheu vor Luxus und Habgier zu erlauben; weder Ehrfurcht vor vorherrschenden Institutionen noch Abscheu vor vorherrschendem Missbrauch; weder die Freude an großer Beliebtheit noch die Neigung zum Paradoxen oder die Bevorzugung einer bestimmten Systematik, dürfen ihn davon abhalten, darzulegen, was er für Fakten hält, oder aus diesen Fakten zu schließen, was ihm als legitime Schlussfolgerungen erscheint.2
Bedauerlicherweise gibt es keinen Automatismus, welcher kontinuierlichen wissenschaftlichen Fortschritt garantiert. Jede Generation muss sich von Neuem
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mag der Einwand erhoben werden, dass sich die Forschung zur Bevölkerungsentwicklung doch traditionell einzig auf die demografische Wissenschaft beschränkt hat. Allerdings muss eine Analyse zur „Überbevölkerung“ auf ökonomischen Überlegungen beruhen, da sie sich stets auch mit dem Verhältnis zwischen Produktion und Bevölkerung auseinandersetzt. 2Senior (1836), S. 130. Alle ursprünglich englischen Zitate dieses Buches wurden vom Verfasser persönlich ins Deutsche übersetzt, da es sich in vielen Fällen um eine sensible Wortwahl handelt, deren Bedeutung in herkömmlichen Übersetzungen ohne das entsprechende Fachwissen leicht verloren gehen kann.
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dasjenige Wissen aneignen, welches die vorherige bereits ebenfalls durch eigene Erfahrung angesammelt hatte. Mit Glück begegnen wir in diesen Bemühungen einer historischen Figur, welche dieselben tiefgründigen Gedanken bereits viele Jahre zuvor verfolgte. Die beste Art und Weise, auf welche der Wissenschaftler die Weitergabe von Ideen verbessern kann, ist, seine Theorie effizient zu kommunizieren, nachdem er aus der gesamten Literatur zu älteren Theorien eine überzeugende Synthese herausgearbeitet hat. Da gegenwärtig niemand in der Lage zu sein scheint, die gesamte einschlägige Literatur zusammenzufassen, sollte zumindest ein Aufwand in Richtung einer Generalisierung betrieben und keine weitere Spezialisierung und damit Fragmentierung der Wissenschaft angestrebt werden, da Wissen weitaus weniger nützlich ist, wenn es nicht zwischen unterschiedlichen Feldern kommuniziert werden kann. Im letzteren Fall gerieten ausgeklügelte Methoden in Vergessenheit, sobald sie aufhören würden, nützlich zu sein, und Millionen wissenschaftlicher Artikel würden sich stapeln, ohne jemals gelesen worden zu sein. Im ersteren Fall der Generalisierung mag es uns hingegen möglich sein, unser gesammeltes Wissen auf die transparenteste und zugänglichste Art und Weise zu vereinen und zu strukturieren. Das Verfolgen dieses Generalisierungsansatzes ist das Fundament jeder ganzheitlichen Theorie.
Danksagung
Während der Erstellung dieser Dissertation erhielt ich Inspiration und Mithilfe aus dem gesamten ökonomischen Berufsstand. Ich erfuhr große Unterstützung durch meine Lehrer, Kollegen und Kommilitonen an den Universitäten von Konstanz, Cardiff, Frankfurt und Darmstadt sowie am IfW Kiel. Zuallererst bin ich dem Betreuer meiner Dissertation Volker Caspari zutiefst dankbar für seine unabdingbare Unterstützung, ohne welche ich dieses Projekt sicherlich nicht innerhalb der vergangenen drei Jahre hätte abschließen können. Außerdem danke ich Jens Krüger für seine Unterstützung als Zweitgutachter. Darüber hinaus schulde ich Heinrich Ursprung, Ralf Brüggemann und Derek Matthews großen Dank für ihre inspirierenden Anregungen. Diese Arbeit profitierte ebenfalls von ausführlichen Diskussionen mit Christian Berker und Günther Rehme. Des Weiteren möchte ich Uwe Hassler, Balint Tatar, Sabine Eschenhof-Kammer sowie einem anonymen ökonometrischen Gutachter für die wertvolle Unterstützung in methodischen Fragen meinen Dank aussprechen. Außerdem danke ich Uwe Cantner, Oded Galor und einem anonymen Wirtschaftshistoriker für die besonnene Beurteilung der relevanten Diskussionspapiere, Bernard Beaudreau, John Berdell und Michael Neugart für wichtige Resonanz zu meinen Präsentationen auf internationalen Konferenzen sowie Benjamin Friedman, Olivier de la Grandville, Bertram Schefold und David Weil für ihre sehr hilfreichen theoretischen Kommentare. Der Abschluss dieser Dissertation wurde darüber hinaus durch das Lektorat und die administrative Unterstützung von Casian Bardeanu, Ines Balta und Philipp Savage erheblich beschleunigt. Ich möchte zudem meinen Eltern für ihr unbedingtes Vertrauen und ihre Unterstützung danken. Ein besonders inniger, von Herzen kommender Dank gilt Noélle-Christin für ihre Liebe, ihr Vertrauen und ihre Geduld. Darmstadt 07.02.2020
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Zusammenfassung
In der Geschichte des ökonomischen Denkens gab es zahlreiche Versuche, eine Epoche malthusianischer wirtschaftlicher Stagnation sowie ihren Übergang zu einer Epoche kontinuierlicher wirtschaftlicher Entwicklung in ein und derselben kohärenten Darstellung zu modellieren oder, in anderen Worten, in einer „ganzheitlichen Wachstumstheorie“ (engl. Unified Growth Theory). In den vergangenen Jahren haben ganzheitliche Wachstumsmodelle zunehmende Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In den meisten dieser Modelle wurde allerdings ein wichtiger klassischer Argumentationspunkt übersehen. Bezieht man die Auswirkungen dieses von T. R. Malthus als „großen präventiven Check“ bezeichneten Effekts in das konventionelle malthusianische Modell, basierend auf dem Bevölkerungsprinzip, dem Prinzip abnehmender Erträge und dem Prinzip der Arbeitsteilung, mit ein, so lässt sich der Übergang zu wirtschaftlicher Entwicklung in einer sehr einfachen dynamischen, makroökonomischen Darstellung illustrieren. Die Theorie besagt demnach, dass ein Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung einer Ökonomie eine demografische Altersstruktur erzeuge, welche die Gefahr der Überbevölkerung zu großen Teilen eindämmt. Obwohl die „vagen Intuitionen“ der klassischen Ökonomen profundere Einsichten als die der meisten modernen Wachstumstheoretiker lieferten, war die verbale Formulierung ihrer Argumente anfälliger für Fehlinterpretationen. Der Zweck dieses Buches liegt darin, diese Fehlinterpretationen mithilfe einer neuen Darstellung eines klassischen ganzheitlichen Wachstumsmodells zu identifizieren und den wichtigsten klassischen Ideen wieder ihren rechtmäßigen Platz in der ökonomischen Wissenschaft zu sichern.
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Inhaltsverzeichnis
1 Einführung: Ganzheitliche Wachstumstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Historische Entwicklung des BIP pro Kopf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Ganzheitliche Wachstumstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.3.1 Die demografische Perspektive einer ganzheitlichen Wachstumstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.3.2 Endogenität einer ganzheitlichen Wachstumstheorie. . . . . . . 7 1.3.3 Eine ganzheitliche Wachstumstheorie auf der Grundlage eines durchgängigen Regimes. . . . . . . . . . . . . . . 10 1.3.4 Eine ganzheitliche Wachstumstheorie auf der Grundlage zweier Regime. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Teil I Die Epoche wirtschaftlicher Stagnation 2 Das Stagnationsregime. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1 Historische Entwicklung des BIP pro Kopf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1.1 Die Daten – warum Britannien?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1.2 Quantitative Evidenz für eine frühzeitliche Stagnation. . . . . 18 2.2 Historische Entwicklung von BIP und Bevölkerung. . . . . . . . . . . . . 21 2.2.1 Quantitative Evidenz für paralleles Wachstum von Produktion und Bevölkerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.2.2 Qualitative Evidenz für paralleles Wachstum von Produktion und Bevölkerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.3 Das Stagnationsregime: Stilisierte Fakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation. . . . . . 27 3.1 Die malthusianische Interpretation der Geschichte. . . . . . . . . . . . . . 27
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3.1.1 Die malthusianische Falle nach Galor. . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.1.2 Klassische Politische Ökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.1.3 Endogenität der malthusianischen Falle . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3.2 Die klassische Produktionstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.2.1 Eine Produktionstheorie der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.2.1.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.2.1.2 Statische Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.2.1.3 Dynamische Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.2.2 Eine Produktionstheorie basierend auf dem Faktor Bevölkerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.2.2.1 Statische Theorie: Das Prinzip abnehmender Erträge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.2.2.2 Dynamische Theorie: Das Prinzip der Arbeitsteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.2.2.3 Rekapitulation: Eine Produktionstheorie basierend auf Arbeitsteilung und abnehmenden Erträgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.3 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 1: Das Bevölkerungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.3.1 Das Potenzial des Bevölkerungswachstums . . . . . . . . . . . . . 51 3.3.2 Die Tendenz zum Bevölkerungswachstum . . . . . . . . . . . . . . 53 3.3.3 Die Grenzen des Bevölkerungswachstums . . . . . . . . . . . . . . 54 3.3.4 Modellierung des Bevölkerungsprinzips. . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.4 Klassische endogene Wachstumstheorie: Die malthusianische Falle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.4.1 Bevölkerungsprinzip und abnehmende Erträge in der natürlichen Ökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.4.2 Bevölkerungsprinzip, abnehmende Erträge und genetische Variation: Die malthusianische Falle in der natürlichen Ökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.4.3 Bevölkerungsprinzip, abnehmende Erträge und Arbeitsteilung: Die malthusianische Falle in der menschlichen Ökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.4.4 Evidenz für die malthusianische Falle. . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.4.5 Simulation der malthusianischen Falle . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
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Teil II Die Epoche wirtschaftlicher Entwicklung 4 Das Entwicklungsregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.1 Historische Entwicklung von BIP pro Kopf und BIP . . . . . . . . . . . . 76 4.2 Trugschluss 1: Die konventionelle Meinung, dass ein Anstieg der Produktion den Ausbruch aus der Stagnation bewirkt habe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.2.1 Ein endogener Produktionsschock?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.2.2 Ein exogener Produktionsschock?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.3 Historische Entwicklung von BIP pro Kopf, BIP, Bevölkerung und Geburtenrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.4 Das Entwicklungsregime: Stilisierte Fakten und Theorie. . . . . . . . . 86 4.5 Trugschluss 2: Die konventionelle Meinung, dass das Bevölkerungsprinzip falsifiziert worden sei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.6 Die klassische Bevölkerungstheorie und die klassische Produktionstheorie im Entwicklungsregime. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.6.1 Ein exogener Fertilitätsschock. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.6.2 Ein exogener Fertilitätsschock im neoklassischen Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4.6.3 Simulation eines Fertilitätsrückgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4.7 Trugschluss 3: Die konventionelle Meinung, dass Entwicklung einen Fertilitätsrückgang bewirke. . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.7.1 Ein endogener Fertilitätsschock?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.7.2 Humankapitalakkumulation als potenzieller präventiver Check?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.7.3 Weitere konventionelle Faktoren als potenzielle präventive Checks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.1 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 2: Das Generationenprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.1.1 Der demografische Übergang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.1.2 Das Gesetz der Bestandserhaltung: Das Generationenprinzip als großer präventiver Check. . . . . . . . 109 5.1.3 Das Generationenprinzip in der natürlichen Ökonomie: Das Ringen um Territorium und sexuelle Selektion . . . . . . . 112 5.1.4 Das Generationenprinzip in der menschlichen Ökonomie: Das Ringen um einen sozialen Rang, sexuelle Selektion und Menopause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
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5.1.5 Direkte und indirekte Effekte der Mortalität auf die Fertilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 5.2 Ein exogener Mortalitätstrend. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 5.3 Simulation der direkten Mortalitätseffekte auf die Fertilität. . . . . . . 126 5.4 Simulation der indirekten Mortalitätseffekte auf die Fertilität . . . . . 128 Teil III Die Vereinigung der Epochen der Stagnation und der Entwicklung 6 Eine klassische, ganzheitliche Wachstumstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6.1 Das Stagnationsregime und das Entwicklungsregime: Die stilisierten Fakten zusammengefasst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6.2 Simulation der klassischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie. . . . . 137 7 Spekulationen über ein zukünftiges Stagnationsregime. . . . . . . . . . . . 141 7.1 Die aktuelle Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 7.2 Prognose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 8 Schluss: Implikationen für die Wirtschaftswissenschaften. . . . . . . . . . 147 8.1 Rekapitulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 8.2 Zusammenfassung der Haupterkenntnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 8.3 Konsequenzen für die Geschichte des ökonomischen Denkens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 8.4 Konsequenzen für die Wirtschaftsgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 8.5 Konsequenzen für die Wirtschaftswachstumstheorie. . . . . . . . . . . . . 152 8.6 Konsequenzen für die Entwicklungsökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . 154 8.7 Konsequenzen für die „Naturphilosophie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Anhang C. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Abkürzungsverzeichnis
BIP (Reales) Bruttoinlandsprodukt n. Chr. nach Christus OLS Kleinste-Quadrate-Methode (engl.: Ordinary Least Squares Method) PoDR Prinzip abnehmender Erträge (engl.: Principle of Diminishing Returns) PoG Generationenprinzip (engl.: Principle of Generation) PoLD Prinzip der Arbeitsteilung (engl.: Principle of Labor Division) PoP Bevölkerungsprinzip (engl.: Principle of Population) VAR Vektorautoregression v. Chr. vor Christus
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1.1 Daten und stilisierte Fakten der Stagnation und Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Abbildung 1.2 Die demografische Perspektive des Wirtschaftswachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Abbildung 1.3 Stilisierte Evolution von Produktion (links, blau), Bevölkerung (links, orange) und Produktivität (rechts, grün) über die sehr lange Frist nach Kremer (1993) . . . . 11 Abbildung 1.4 Stilisierte Evolution von Produktion (links, blau), Bevölkerung (links, orange) und Produktivität (rechts, grün) über die sehr lange Frist nach Galor und Weil (1999). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Abbildung 2.1 Indiziertes britisches BIP pro Kopf 1541–1848. Links Broadberrys u. a. Datensatz, rechts Clarks Datensatz. . . 18 Abbildung 2.2 Indizierte Reallöhne Londons 1209–1848. . . . . . . . . . . . 20 Abbildung 2.3 Indizierter Anstieg des BIP und der Bevölkerungsgröße in Britannien 1541–1848. . . . . . . . . 22 Abbildung 2.4 Indizierte BIP-pro-Kopf-Werte ausgewählter Staaten 1960–2017. Links: Staaten im Stagnationsregime. Rechts: Staaten im Entwicklungsregime. . . . . . . . . . . . . 23 Abbildung 2.5 Links die stilisierten Fakten des „Elendszyklus“: steigende Produktion (blau) und parallel steigende Bevölkerung (orange). Rechts der stilisierte Fakt der Stagnation des BIP pro Kopf (grün). . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Abbildung 3.1 Eine Reduzierung des Arbeitswachstums im SolowModell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Abbildung 3.2 Ein Anstieg des Bevölkerungswachstums im Solow-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 XIX
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 3.3 Eine Simulation des Stagnationsmechanismus in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP-pro-Kopf-Wachstumsrate (hellgrün)). . . . . . . . . . . . 71 Abbildung 3.4 Eine Simulation des Stagnationsmechanismus in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange), BIP pro Kopf (grün)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Abbildung 3.5 Theoretische Herleitungen aus Teil I. . . . . . . . . . . . . . . . 72 Abbildung 4.1 Divergenz von BIP (links, blau) und Bevölkerungsgröße (links, orange) in Britannien 1541–2014. BIP pro Kopf (rechts, grün) in Britannien 1541–2014. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Abbildung 4.2 Divergenz von BIP-Wachstum (blau) und Bevölkerungswachstum (orange) in Britannien 1800–2010. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abbildung 4.3 Links: „Kreuz des Wohlstands“ in Britannien: Geburtenrate (blau) und BIP pro Kopf (grün) 1800–2007. Rechts: Stilisierter Fakt „Kreuz des Wohlstands“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abbildung 4.4 Ein Rückgang des Bevölkerungswachstums im Solow-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Abbildung 4.5 Eine Simulation eines exogenen Fertilitätsrückgangs in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP-pro-Kopf-Wachstumsrate (hellgrün)) . . . . . . . 97 Abbildung 4.6 Eine Simulation eines exogenen Fertilitätsrückgangs in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange), BIP pro Kopf (grün)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Abbildung 5.1 Links: „Demografischer Übergang“ in Britannien: Geburtenrate (blau) und Sterberate (rot) 1800–2016. Rechts: Stilisierter Fakt „demografischer Übergang“ . . . 106 Abbildung 5.2 Stilisierte britische Bevölkerungsstruktur im Jahr 1830 (links) und im Jahr 2010 (rechts). Dargestellt sind arbeitende Kohorten (blau schattiert), Kohorten in Ausbildung ( blau-orange schattiert), Fertilitätsintervalle (rote Linien), durchschnittliches Erbschaftsalter (schwarze Linien) sowie durchschnittliches standardisiertes Einkommen (grüne Linie) . . . . . . . . . . . 120
Abbildungsverzeichnis
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Abbildung 5.3 Links: Epidemiologischer Übergang in Britannien: Sterberate (rot) 1660–2016. Rechts: Stilisierter Fakt epidemiologischer Übergang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Abbildung 5.4 Eine Simulation eines exogenen Mortalitätsrückgangs in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP-pro-Kopf-Wachstumsrate (hellgrün)) . . . . . . . 128 Abbildung 5.5 Eine Simulation eines exogenen Mortalitätsrückgangs in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange) und Produktivität (grün)). . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Abbildung 5.6 Eine erweiterte Simulation eines exogenen Mortalitätsrückgangs in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP-pro-Kopf-Wachstumsrate (hellgrün)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Abbildung 5.7 Eine erweiterte Simulation eines exogenen Mortalitätsrückgangs in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange) und Produktivität (grün)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Abbildung 5.8 Theoretische Herleitungen aus Teil II . . . . . . . . . . . . . . . 131 Abbildung 6.1 Links: „Übergang zur Entwicklung“ in Britannien: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot) und BIP pro Kopf (grün) 1802–2007. Rechts: Stilisierter Fakt „Übergang zur Entwicklung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Abbildung 6.2 Eine Simulation der klassischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), Produktivitätswachstumsrate (hellgrün)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Abbildung 6.3 Eine Simulation der klassischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange), Produktivität (grün)) . . . . 139 Abbildung 7.1 Links: „Rückkehr zur Stagnation“ in Britannien: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot) und BIP pro Kopf (grün) 1802–2016. Rechts: Stilisierter Fakt „Rückkehr zur Stagnation“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Abbildung 7.2 Simulation konstanter zukünftiger Mortalität in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot) und Produktivitätswachstumsrate (hellgrün)) . . . . . . . . . 142
XXII
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 7.3 Simulation konstanter zukünftiger Mortalität in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange), Produktivität (grün)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Abbildung A.1 Britannien: Zeitreihen von Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP-pro-Kopf-Wachstumsrate (hellgrün) 1541–2010. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Abbildung A.2 Coirf-Matrix, basierend auf einem VAR(3)-Modell: Simulation des klassischen Wachstumsmodells. . . . . . . . 169 Abbildung A.3 Coirf-Matrix, basierend auf einem VAR(3)-Modell: Britannien 1541–2010. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Abbildung A.4 Coirf-Matrix, basierend auf einem VAR(3)-Modell: 55 Ökonomien 1815–2010. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Abbildung A.5 Coirf-Matrix, basierend auf einem VAR(3)-Modell: Britannien 1541–2010. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Abbildung A.6 Coirfs der Effekte des PoG (links) und des PoP (rechts), basierend auf einem VAR(3)-Modell, unter Verwendung von logarithmierten Geburtenraten. Obere Reihe: gestapelter Datensatz der 55 Ökonomien, untere Reihe: britischer Datensatz. . . . . . . . 174 Abbildung A.7 Coirfs der Effekte des PoG (links) und des PoP (rechts), basierend auf einem VAR(3)-Modell unter Verwendung einer alternativen Variablenordnung. Obere Reihe: gestapelter Datensatz der 55 Ökonomien, untere Reihe: britischer Datensatz. Variablen′ ordnung bgy d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 ′ Abbildung A.8 Variablenordnung gy bd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 ′
Abbildung A.9
Variablenordnung gy db . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
Abbildung A.10
Variablenordnung dbgy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Abbildung A.11
Variablenordnung dgy b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
′
′
Abbildung A.12 21 Samples: Messung des PoG: coirfs der Geburtenrate nach einem Sterberatenschock in Höhe einer Standardabweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Abbildung A.13 21 Samples: Messung des PoP: coirfs der Geburtenrate nach einem BIP-pro-Kopf-Wachstumsschock in Höhe einer Standardabweichung. . . . . . . . . . . 181
Abbildungsverzeichnis
XXIII
Abbildung A.14 Britannien: Evolution von PoG, PoP, PoDR und „positiven Checks“. Obere Reihe: 1541–1815. Untere Reihe: 1815–2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Abbildung B.1 llustration zweier hypothetischer Zeitreihen von Geburtenrate (blau) und BIP pro Kopf (grün), welche für eine ideale Schätzung von Gleichung (B.1) erforderlich wären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Abbildung B.2 Global aggregierte Daten: Geburtenrate (blau) und indiziertes BIP pro Kopf (grün) 1960–2014. . . . . . . . . . . 191 Abbildung B.3 Streudiagramm von 104 Ländern zum Vergleich von (negativen) Wachstumsraten der Geburtenrate (x-Achse) und Wachstumsraten des BIP pro Kopf (y-Achse) zwischen 1960 und 2014. . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Abbildung B.4 Größe des OLS-Schätzers β (blau) mit 95 %-Konfidenzintervallen (grau) und R2 (gelb) mit zunehmender Zeitspanne j . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Abbildung C.1 20 ausgewählte Staaten: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP pro Kopf (grün). Das BIP pro Kopf wurde auf das Jahr 2010 = 0,05 indiziert. X- und y-Achse schneiden sich bei null Länder: arg – den. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Abbildung C.2 20 ausgewählte Staaten: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP pro Kopf (grün). Das BIPpro-Kopf wurde auf das Jahr 2010 = 0,05 indiziert. X- und y-Achse schneiden sich bei null Länder: fin – jap. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Abbildung C.3 20 ausgewählte Staaten: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP pro Kopf (grün). Das BIPpro-Kopf wurde auf das Jahr 2010 = 0,05 indiziert. X- und y-Achse schneiden sich bei null Länder: net – swe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Abbildung C.4 20 ausgewählte Staaten: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP pro Kopf (grün). Das BIPpro-Kopf wurde auf das Jahr 2010 = 0,05 indiziert. X- und y-Achse schneiden sich bei null Länder: swi – ukc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
Tabellenverzeichnis
Tabelle 3.1 Kalibrierung des Systems (3.13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Tabelle 4.1 Kalibrierung des Systems (4.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Tabelle 5.1 Kalibrierung des Systems (5.1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Tabelle 5.2 Kalibrierung des Systems (5.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Tabelle 6.1 Kalibrierung des Systems (6.1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Tabelle A.1 Augmented Dickey-Fuller Tests für die relevanten Variablen (# Beob. = 468). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Tabelle A.2 Lagselektionskriterien für den britischen Datensatz (# Beob. = 459). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Tabelle A.3 Kumulierte, orthogonalisierte Impulsantworten von b in %, vier Perioden nach einem Schock in d bzw. gy in Höhe einer entsprechenden Standardabweichung. Alle Ökonomien mit über 70 Beobachtungen sind ausgewiesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Tabelle B.1 Berechnete und geschätzte Koeffizienten. . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Tabelle B.2 Berechnete Parameterwerte γi für diejenigen 34 Ökonomien, welche Daten für die Jahre 1949 und 2014 ausweisen, zur Messung der kombinierten Effekte von PoLD und PoDR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Tabelle B.3 Liste der 104 untersuchten Staaten. 34 Staaten mit langfristigen Daten sind mit * markiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
XXV
1
Einführung: Ganzheitliche Wachstumstheorie
1.1 Übersicht Dieses Buch wurde mit dem Ziel verfasst, ein ganzheitliches Wirtschaftswachstumsmodell, welches die stilisierte (grobe) historische Entwicklung des BIP pro Kopf über den ‚long run‘, d. h. über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg, in einem einzigen, kohärenten Modell erklären kann, zu konstruieren und zu validieren. Es wird dabei wie folgt vorgegangen: In diesem einführenden Kapitel wird die historische Entwicklung des BIP pro Kopf stilisiert, woraufhin die zwei prominentesten ganzheitlichen Wachstumsmodelle vorgestellt werden. Der erste Teil dieses Buches (Kapitel 2 und 3) hat die „frühzeitliche“ historische Wirtschaftsentwicklung zum Thema. Kapitel 2 beinhaltet die empirische Auswertung der beiden Wachstumsmodelle aus Kapitel 1 sowie die Schlussfolgerung, dass sich Großbritannien etwa bis zum Jahr 1800 n. Chr. in einem Stagnationsregime befand. Da das entsprechende Stagnationsmodell zum Großteil auf einem Mechanismus basiert, welcher bereits von dem klassischen Ökonomen T. R. Malthus im Jahr 1798 beschrieben wurde, wird es als „malthusianische Falle“ bezeichnet. In Kapitel 3 wird dieses Modell zurückverfolgt zu seiner ursprünglichen Formulierung durch Malthus und andere klassische Ökonomen, welche Gebrauch von drei universellen Prinzipien machten: dem Bevölkerungsprinzip, dem Prinzip abnehmender Erträge und dem Prinzip der Arbeitsteilung. Hierauf basierend wird die Plausibilität der „klassischen malthusianischen Falle“ durch den darwinschen Evolutionsprozess illustriert. Um ein empirisch testbares makroökonomisches Modell aufstellen zu können, werden die Prinzipien daraufhin qualitativ kausal zueinander in Beziehung gesetzt. Daran anschließend werden diese Beziehungen quantitativ in einem System linearer
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5_1
1
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1 Einführung: Ganzheitliche Wachstumstheorie
Gleichungen abgebildet, beispielhaft kalibriert und simuliert, um zu zeigen, dass sich mit dem klassischen Modell tatsächlich ein Stagnationsregime erklären lässt. In Teil II des Buches (Kapitel 4 und 5) erfolgt eine an das Stagnationsregime anschließende Darstellung der „spätzeitlichen“ historischen Wirtschaftsentwicklung. In Kapitel 4 werden die stilisierten Fakten dieses Entwicklungsregimes analysiert und das klassische Modell aus Kapitel 3 wird angewandt, um diesen Entwicklungsprozess zu erklären. Hier wird zudem gezeigt, dass die aktuell populären wirtschaftstheoretischen Ansätze den „Ausbruch aus der malthusianischen Falle“ nicht erklären können. Als vielversprechende Alternative wird in diesem Buch ein viertes klassisches Prinzip angeführt, durch welches sich dieser Übergang von einem Stagnationsregime zu einem Entwicklungsregime erklären lässt. Teil III (Kapitel 6 und 7) vereint die Erkenntnisse der vorherigen beiden Teile in einer ganzheitlichen Wachstumstheorie. In Kapitel 6 wird sowohl der Mechanismus der Stagnation als auch der der Entwicklung in ein und demselben „ganzheitlichen Wachstumsmodell“ simuliert. Anhand der Resultate aus Teil III lässt sich schließlich schlussfolgern, dass eine Reduktion der Mortalität in einer Ökonomie allgemein dazu führt, die für die frühzeitliche Stagnation verantwortliche hohe Geburtenrate zu senken, und daher eine notwendige Bedingung für wirtschaftliche Entwicklung darstellt. Dem vorangehend wird argumentiert, dass aufstrebende Ökonomien einem universellen makroökonomischen Entwicklungsmuster folgen: Eine sinkende Sterberate zieht eine sinkende Geburtenrate nach sich, welche gleichzeitig einen nachhaltigen Anstieg des BIP pro Kopf einleitet. Basierend auf dieser Erkenntnis wird über die zukünftige Mortalitätsentwicklung und über ihre Konsequenzen für die Wirtschaftsentwicklung spekuliert werden. Das Buch schließt mit der Einsicht, dass die ökonomischen Prinzipien, auf denen die klassische Wachstumstheorie fußt, weiterhin universell vorherrschen und dass die Erklärungskraft der klassischen Wachstumstheorie sich selbst nach über 200 Jahren aktuellen, ganzheitlichen Wachstumstheorien als überlegen erweist. Nachdem der Vergleich des klassischen Modells mit den stilisierten Fakten positiv ausgefallen ist, erfolgt in Anhang A und Anhang B zusätzlich eine Auseinandersetzung mit einer separaten empirischen Identifikation jedes der vier Prinzipien, auf welchen die klassische ganzheitliche Wachstumstheorie beruht. Zu diesem Zweck kommen die konventionelle Methode der kleinsten Quadrate (OLS) sowie eine Vektorautoregression (VAR) unter Einbezug länderspezifischer jährlicher historischer Daten zu Geburtenrate, Sterberate und BIP-pro-KopfWachstum zum Einsatz. Die verwendeten Zeitreihen stammen im Wesentlichen
1.2 Historische Entwicklung des BIP pro Kopf
3
aus Mitchells (2013) Datensammlung „International Historical Statistics“ und aus den frei zugänglichen Daten der Weltbank (2018).
1.2 Historische Entwicklung des BIP pro Kopf Es ist sicherlich keine gewagte These zu behaupten, dass der durchschnittliche Erdbewohner im Jahr 2019 den höchsten jemals festgestellten materiellen Lebensstandard erwirtschaftet hat. Über die vergangenen 200 Jahre erfuhr die Welt, wenngleich sehr ungleich über Staaten und Regionen verteilt, ein nie zuvor gesehenes Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf. Maddison (2006) schätzt den Wert aller im Jahr 1830 global produzierten Güter und Dienstleistungen auf etwa 700 Mrd. US-Dollar (in 1990-US-Dollar gerechnet). Im selben Jahre belief sich die Weltbevölkerung auf etwa 1,1 Mrd. Einwohner. Bis zum Jahr 2003 wuchs die Bevölkerung global auf etwa 6,4 Mrd. Menschen an, wohingegen das BIP pro Kopf um das Zehnfache von ca. 640 US-Dollar auf etwa 6.400 US-Dollar anstieg. Gleichwohl gibt es zunehmende Evidenz dafür, dass sich diese spektakulärste Erfolgsgeschichte in der Geschichte der Menschheit derzeit abzuschwächen scheint und dass sich die globale Ökonomie graduell in Richtung eines stationären Zustands bewegt, welchen einige Autoren bereits als Rückkehr zur „säkularen Stagnation“ bezeichnen.1 Es mag sich daher lohnen, sich diese einzigartige Wachstumsperiode aus einem übergeordneten Blickwinkel zu vergegenwärtigen und mit dem nachträglich gewonnenen Wissen neu auszuwerten. Obwohl die Gültigkeit der Rekonstruktion historischer Daten zu vergangenen Lebensbedingungen von jeher stark debattiert wurde und dies auch in Zukunft so sein wird, ist es offensichtlich, dass das BIP pro Kopf über die vergangenen Jahrtausende nicht mit derselben Geschwindigkeit gestiegen sein kann wie in den vergangenen 200 Jahren. Eine Rückprojektion dieser Wachstumsraten würde zu „absurd niedrigen“ mittelalterlichen Lebensbedingungen führen.2 Deshalb ist es plausibel, die Existenz einer vormodernen Epoche einer Stagnation oder
1Vgl.
z. B. Cervellati u. a. (2017a). Mokyr und Voth (2010). Eine Rückprojektion des eingangs genannten Beispiels würde demnach ein BIP pro Kopf in Höhe von etwa 60 US-Dollar im Jahr 1650 suggerieren.
2Vgl.
4
1 Einführung: Ganzheitliche Wachstumstheorie
zumindest eines sehr niedrigen Wachstums anzunehmen, welche J. M. Keynes3 (1930) wie folgt beschrieb: Seit den frühesten Zeiten, von welchen wir Aufzeichnungen besitzen, sagen wir seit 2000 v. Chr., bis hin zum Beginn des 18. Jahrhunderts, gab es keine sehr große Veränderung im Lebensstandard des durchschnittlichen Einwohners der zivilisierten Zentren der Erde.4
Keynes war sich zu diesem Zeitpunkt durchaus bewusst, dass seine Landsleute ungefähr seit dem Jahr 1800 eine Übergangsphase von wirtschaftlicher Stagnation zu einem Wachstum des BIP pro Kopf durchliefen, und schlussfolgerte optimistischerweise, dass unter der Voraussetzung der Abwesenheit großer Kriege und großen Bevölkerungswachstums das ökonomische Problem innerhalb der nächsten 100 Jahre gelöst werden kann oder zumindest eine Lösung in Sicht sein wird.5
Neben anderen nahmen sich Clark (2009) und Broadberry u. a. (2015) dieses „ökonomischen Problems“ an und sammelten Daten zum britischen historischen BIP pro Kopf, um den Übergang eines historischen Stagnationsregimes oder eines Regimes mit sehr langsamem Wachstum zu einem Entwicklungsregime nachbilden zu können. Aus diesen Daten resultierte die aus der Klimadebatte bekannte „Hockeyschläger“-Form, wie in Abbildung 1.1 dargestellt. Sie werden zudem oft dahingehend interpretiert, dass sie nicht lediglich britische Wirtschaftsgeschichte, sondern ein globales Entwicklungsmuster abbilden, da sich erstens jede Ökonomie einst in einem Stagnationsregime befand oder derzeit noch darin befindet. Zweitens suggerieren die Datensätze, dass sich etwa um das Jahr 1800 etwas änderte, als Britannien anscheinend als erste Ökonomie auf scheinbar unerklärliche Weise nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung vorzuweisen hatte.6 So schrieben Broadberry und O’Rourke (2010):
3Sir
John Maynard Keynes (1883–1946), britischer Ökonom, Mitglied der Royal Commission im Jahr 1913, Financial Representative for the Treasury in der Friedenskonferenz von Versailles 1919, Begründer der modernen Makroökonomie. 4Keynes (1930), S. 1. 5Ibid., S. 4. 6Das Datum „1800” wird regelmäßig gewählt, um den britischen „Take-off“ zu markieren.
5
1.2 Historische Entwicklung des BIP pro Kopf Aus dem Blickwinkel übergeordneter historischer Ereignisse war diese Veränderung unzweifelhaft radikal und rangiert direkt neben anderen epochalen Veränderungen wie dem Übergang vom Jagen und Sammeln zu Landwirtschaft und Sesshaftigkeit.7
Zögerlich während der ersten 100 Jahre, dann immer schneller aufholend, folgte der Großteil der Weltökonomie dem britischen Beispiel.
Regime der Stagnation oder des sehr niedrigen Wachstums
Entwicklungsregime
Abbildung 1.1 Daten und stilisierte Fakten der Stagnation und Entwicklung. (Quellen: Broadberry u. a. (2015), Clark (2009) und Mitchell (2013))
Lässt man diese Fakten auf sich wirken, ergeben sich nahezu zwangsläufig die folgenden Fragen: „Warum stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung über einen derart langen Zeitraum?“ „Wieso erfuhren einige Ökonomien wirtschaftliche Entwicklung, während sich andere nach wie vor in einer Stagnation befinden?“ „Wird diese Verbesserung des materiellen Wohlstands andauern?“ Oder zusammengefasst: „Weshalb und wann entsteht langfristige wirtschaftliche Entwicklung?“ Der Argumentation von Lucas (1988) und North (2013) folgend, dass „die in solchen Fragen implizierten Konsequenzen für die menschliche Wohlfahrt
7Broadberry
und O’Rourke (2010), S. 1.
6
1 Einführung: Ganzheitliche Wachstumstheorie
einfach atemberaubend sind“8 und dass die Beleuchtung des Übergangs zu wirtschaftlicher Entwicklung „die wichtigste historische Fragestellung [sei], welche potenziell beantwortbar ist“, ist es der Hauptgegenstand dieses Buches, diejenigen Effekte zu analysieren, die eine Epoche der Stagnation oder des langsamen Wachstums erklären können, sowie solche, welche einen Übergang zu Wirtschaftsentwicklung ermöglichen. Es geht also darum, ein „sehr langfristig“ angelegtes Wirtschaftswachstumsmodell zu konstruieren oder – mit den Worten von Keynes – das ökonomische Problem zu lösen.
1.3 Ganzheitliche Wachstumstheorie 1.3.1 Die demografische Perspektive einer ganzheitlichen Wachstumstheorie Aufgabe der ganzheitlichen Wachstumtheorie ist es also, wirtschaftliche Entwicklung über den ‚long run‘ hinweg zu analysieren und zu erklären, d. h. die Ursachen für Veränderungen im BIP pro Kopf seit frühester Zeit aufzudecken. Als Ausgangspunkt für theoretische Analysen des BIP-pro-Kopf-Wachstums verweisen Ökonomen für gewöhnlich auf das konventionelle neoklassische Wachstumsmodell von Solow (1956), für welches er im Jahr 1987 den Nobel Memorial Prize in Economic Sciences aufgrund „seiner Beiträge zur Theorie des Wirtschaftswachstums“ erhielt. Da dieses Modell allerdings lediglich dazu genutzt wurde, langfristiges Wachstum während des 20. Jahrhunderts zu beschreiben, begannen vor etwa 30 Jahren zahlreiche Autoren damit, die Grenzen des Modells zu erweitern und einen Modellrahmen zu erstellen, der sich auf die gesamte Menschheitsgeschichte anwenden ließ, um die Entwicklung in der „sehr langen Frist“ zu analysieren. Mokyr und Voth (2010) fassen das Aufkommen dieser theoretischen Literatur folgendermaßen zusammen: Seit den 1990er-Jahren begannen Wissenschaftler, nach einer übergreifenden Theorie zu suchen, welche beides, langsames Wachstum und den Übergang zu schnell wachsenden Pro-Kopf-Einkommen, verbinden konnte – ein „ganzheitliches Wachstumsmodell“. Diese Disziplin hat sich seitdem zunehmend etabliert.
8„Wenn
man einmal beginnt, hierüber nachzudenken, wird es schwierig, noch über irgendetwas anderes nachzudenken.“ Lucas (1988), S. 5.
1.3 Ganzheitliche Wachstumstheorie
7
ahlreiche Ansätze ragen dabei heraus – Demografie, der Einfluss von Institutionen, Z Humankapital und Kultur sowie die Rolle der Technologie.9
Eine ganzheitliche Wachstumstheorie muss also demnach in der Lage sein, ein frühzeitliches Regime der Stagnation oder des niedrigen Wachstums mit einem neuzeitlichen Regime des BIP-pro-Kopf-Wachstums in Verbindung zu setzen.10
1.3.2 Endogenität einer ganzheitlichen Wachstumstheorie Des Weiteren wird von einer solchen ganzheitlichen Wachstumstheorie erwartet, wirtschaftliche Entwicklung „endogen“ erklären zu können. Hierzu verfolgten viele Wachstumsökonomen über die vergangenen 30 Jahre zunächst Romers (1986) wachstumstheoretischen Ansatz der endogenen „technologischen Veränderung“. Aus Mokyrs und Voths oben zitierter Aufzählung wird in diesem Buch dagegen lediglich der erste, der demografische Ansatz einer ganzheitlichen Wachstumstheorie, verfolgt werden. Tatsächlich stellt dieses Buch ein umfängliches Argument zugunsten der Berücksichtigung von Bevölkerungsdynamiken in Hinsicht auf die sehr langfristige Wirtschaftsentwicklung dar.11 Vor dem Hintergrund der neueren Literatur zur endogenen Wachstumstheorie wird die Fokussierung auf demografische Variablen nicht überraschend wirken. Besondere Vorteile dieser Sichtweise sind die relative Zuverlässigkeit demografischer Daten, die dazugehörige Transparenz historischer Quellen, die vergleichbare Einfachheit der Datengewinnung und die Länge der historischen Zeitreihen. Des Weiteren kann die Demografie möglicherweise als „härteste“ Sozialwissenschaft interpretiert werden, da ihre Indexnummern nicht viel Interpretationsspielraum bieten. Noch wichtiger für die Rolle der Demografie in einer ganzheitlichen Wachstumstheorie ist allerdings die Tatsache, dass das reale BIP pro Kopf als
9Mokyr
und Voth (2010), S. 8. Vereinfachung nehmen Modelle zur Darstellung der langen Frist regelmäßig an, dass Produktion pro Kopf, Einkommen pro Kopf und durchschnittlicher Lebensstandard identisch sind. 11„Die großen Ereignisse der Geschichte fanden oft aufgrund von säkularen Veränderungen im Bevölkerungswachstum und anderen fundamentalen ökonomischen Ursachen statt, welche aufgrund ihres graduellen Charakters der Aufmerksamkeit ihrer zeitgenössischen Beobachter entgingen und stattdessen den Torheiten von Staatsmännern oder dem Fanatismus von Atheisten zugeordnet wurden.“ Keynes (1919), Kapitel 1. 10Zur
8
1 Einführung: Ganzheitliche Wachstumstheorie
das Verhältnis zwischen (totalem) BIP und Bevölkerungsgröße (im Folgenden als Produktion (Y ) bzw. als Bevölkerung (N)bezeichnet) definiert ist und somit eine Funktion dieser beiden Variablen darstellt, welche zudem die Produktivität desProduktionsfaktors Bevölkerung NY beschreibt (im Folgenden als Produktivi Y tät N ≡ y bezeichnet). Des Weiteren wird ein Produktivitätsanstieg (intensives Wachstum) als Wirtschaftsentwicklung definiert, wohingegen der Ausdruck Wirtschaftswachstum verwendet wird, um einen Anstieg der totalen Produktion zu kennzeichnen (extensives Wachstum).12 Während der Nenner der Produktivität einfach den Grad der Verfügbarkeit der Bevölkerung widerspiegelt, drückt der Zähler den Wert allen produzierten Wohlstands innerhalb eines gegebenen Territoriums und eines gegebenen Zeitraums aus und ist seinerseits vom Faktor Bevölkerung abhängig, wenngleich dieser nur einen neben allen weiteren verfügbaren Produktionsfaktoren („C“) darstellt.13 Eine Synthese dieser beiden Elemente, in welcher Produktion durch Bevölkerung determiniert wird und (N) umgekehrt, erlaubt es uns, diese wechselseitige Beziehung y(Y , N) = YN(Y ) als endogene (demografische) Wachstumstheorie zu bezeichnen. Die erste Komponente einer solchen endogenen Wachstumstheorie – eine Produktionstheorie – unterliegt dem Bestreben, den Effekt der Bevölkerung auf ihre Produktion zu modellieren. Mit der zweiten Komponente sollten – im Gegensatz zum traditionellen exogenen Solow-Modell – die Ursachen für Bevölkerungswachstum mit irgendeiner anderen Variablen innerhalb des Modells erklärt werden können, idealerweise durch die Variable Produktion. Eine solche Komponente wird als Bevölkerungstheorie bezeichnet. Diese demografische Sichtweise einer ganzheitlichen Wachstumstheorie ist im oberen Teil von Abbildung 1.2 illustriert.
12Vgl. Lucas (1988). Diese Termini wurden in der Vergangenheit oft miteinander verwechselt, insbesondere in der Literatur zum Thema „Wachstum in der Wirtschaftsentwicklung“. Während sich der deutsche Begriff „Wirtschaftswachstum“ auf einen Anstieg des BIP bezieht, bezeichnet der englische Ausdruck „Economic Growth“ meist einen Anstieg des BIP pro Kopf. 13Es bedarf keiner großen Abstraktionsfähigkeit, um sich zu vergegenwärtigen, dass eine Bevölkerung eine bestimmte Produktionshöhe für ihre Versorgung benötigt und dass jede Produktion eine Bevölkerung erfordert, um realisiert zu werden, d. h., die eine Variable kann nicht ohne die andere Variable existieren.
1.3 Ganzheitliche Wachstumstheorie
9
Abbildung 1.2 Die demografische Perspektive des Wirtschaftswachstums
Obwohl die meisten Wachstumsökonomen eine wechselseitige Beziehung zwischen Bevölkerung und Produktion zu akzeptieren scheinen, sind sie geteilter Meinung bezüglich der Höhe der jeweiligen Wachstumsraten gi, welche per Definition wie folgt linear miteinander in Beziehung stehen:
gy = gY − gN 14 Hinsichtlich der demografischen Produktionstheorie können bis zum heutigen Tag grob zwei gegenläufige Denkschulen identifiziert werden, welche als „optimistische“ und „pessimistische“ Sichtweise zur „Bevölkerungsfrage“ bezeichnet werden können.15 Während Optimisten behaupten, dass ein Bevölkerungsanstieg – hauptsächlich aufgrund von mit ihm einhergehender Spezialisierung und „technologischem Fortschritt“ – die durchschnittliche ProKopf-Produktion erhöhen würde (gY (gN ) > gN ), sagen die Pessimisten eine sinkende Produktivität als Resultat eines erhöhten Ressourcenverbrauchs voraus
14
gy ≡
yt −yt−1 yt−1
=
Yt Nt
Y
− Nt−1
t−1 Yt−1 Nt−1
=
Yt Nt−1 Nt Yt−1
−1=
1+gY 1+gN
− 1 ⇔ ln 1 + gy = ln (1 + gY )
− ln (1 + gN ) ⇔ gy ≈ gY − gN . Diese Annäherung ist für kleine Wachstumsraten gültig. (Als Daumenregel sollten die Wachstumsraten 10 % nicht übersteigen, sodass die Abweichung von der tatsächlichen Wachstumsrate nicht mehr als 5 % beträgt.) 15Vgl.
z. B. Bloom u. a. (2003). Als Beispiele für eine optimistische Sichtweise können Becker (1988) oder Boserup (1965) angeführt werden. Mit Blick auf die pessimistische Sichtweise seien Hardin (1968) und Ehrlich (1968) genannt.
10
1 Einführung: Ganzheitliche Wachstumstheorie
(gY (gN ) < gN ). Um theoretische Ansätze dieser Sichtweisen anzuführen, werde ich kurz auf diese beiden prominentesten, konträren ganzheitlichen Wachstumstheorien eingehen.
1.3.3 Eine ganzheitliche Wachstumstheorie auf der Grundlage eines durchgängigen Regimes Obwohl theoretische Analysen der Interdependenzen zwischen Bevölkerung und Produktion älter als die ökonomische Wissenschaft selbst sind, scheint Kremer (1993) der erste Autor gewesen zu sein, welcher eine ganzheitliche endogene Wachstumstheorie leicht verständlich mathematisch modellierte. Der demografischen Sichtweise folgend, sind die beiden Variablen Produktion und Bevölkerung in seinem Modell essenziell, um den historischen Entwicklungsprozess grob beschreiben zu können. Abgekürzt besagt seine Produktionstheorie (gY (gN )), dass eine größere Bevölkerung eine größere Anzahl „technologischer“ Verbesserungen hervorbringt, welche wiederum zunehmend die Effizienz anderer Produktionsfaktoren erhöht und damit auch die Produktion selbst.16 Bezüglich der Bevölkerungstheorie (gN (gY )) nimmt Kremer lediglich an, dass Produktionswachstum ebenfalls dazu tendiert, die Bevölkerung wachsen zu lassen. Die daraus resultierende parallele Entwicklung von Bevölkerung und Produktion lässt sich über einen exponentiellen Anstieg beider Variablen modellieren, wie in Abbildung 1.3 (linke Grafik) dargestellt. Kremer schlägt einen sich verstärkenden Zyklus zwischen beiden Variablen vor, in welchem die Produktion ständig dazu neige, schneller zu wachsen als die Bevölkerung, und folglich zu einem langen, graduellen Anstieg des BIP pro Kopf seit frühester Zeit führe (siehe rechte
16Der
Wirtschaftshistoriker betrachtet einen Anstieg des BIP pro Kopf oft als das Resultat einer Verbesserung der Variablen „Technologie“. Eine breit gefasste Definition dieser Variablen würde vermutlich Produktivitätsverbesserungen aufgrund von Faktoren wie Kultur, Institutionen, Aufklärung usw. einschließen. Beispielsweise verwendet Kremer (1993) positive Externalitäten durch Wissensakkumulation, um diesen Effekt zu modellieren. Andere betonen die zunehmenden Erträge der Bevölkerung aus einer Arbeitsteilung. Da es der Wirtschaftstheorie nach wie vor an einer präzisen Definition von „Technologie“ mangelt, erscheint dieser Begriff in diesem Buch lediglich in Anführungszeichen. Ich werde in Kapitel 3 und 4 zum „Technologieproblem“ zurückkehren.
11
1.3 Ganzheitliche Wachstumstheorie
Grafik).17 Die stilisierten Fakten dieses Modells lassen sich folgendermaßen mathematisch zusammenfassen:
gy = gY (gN ) − gN (gY ) > 0 mit
∂gY ∂gN > 0, > 0. ∂gN ∂gY
Abbildung 1.3 Stilisierte Evolution von Produktion (links, blau), Bevölkerung (links, orange) und Produktivität (rechts, grün) über die sehr lange Frist nach Kremer (1993)
1.3.4 Eine ganzheitliche Wachstumstheorie auf der Grundlage zweier Regime Im Gegensatz zur Sichtweise einer graduellen Entwicklung über die gesamte historische Zeitspanne wird in der aktuelleren ganzheitlichen Wachstumstheorie eine differenziertere Sichtweise zweier Entwicklungsregime betont: Hiernach geht man in der Regel von einem Regime mit stagnierendem Pro-Kopf- Einkommen etwa bis zum Jahr 1800 n. Chr. sowie einem sich anschließenden, zweiten Regime wirtschaftlicher Entwicklung aus.18 Z. B. fordern Galor und Weil (1999) die konventionelle Sichtweise Kremers
17„In
früheren Modellen einer ganzheitlichen Wachstumstheorie wurde, wie im Falle Kremers, der Übergang von Stagnation zu Wachstum als eine lange, graduelle Zunahme des [Pro-Kopf-]Wachstums modelliert. […] Kremers geht in seinem Modell davon aus, mehr Menschen verbreiteten technologische Veränderungen schneller, da die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person eine gute Idee hervorbringt, mehr oder weniger konstant ist. […] Seit 1 Mio. Jahren könnten die Bevölkerungswachstumsraten damit aufgrund der derzeitigen Größe der Bevölkerung vorhergesagt werden.“ Mokyr und Voth (2010), S. 8. 18Vgl. z. B. Hansen und Prescott (2002) sowie Tournemaine und Luangaram (2012).
12
1 Einführung: Ganzheitliche Wachstumstheorie
heraus, indem sie anfügen, dass das Produktionswachstum bis um 1800 dem Bevölkerungswachstum unterlegen gewesen sei und dass letzteres schließlich jeglichen Wohlstand, welcher aus „technologischen“ Verbesserungen entstanden war, komplett verkonsumierte. Des Weiteren ergänzen sie dieses Stagnationsmodell um die Behauptung, dass der positive Effekt der Produktion auf das Bevölkerungswachstum nach 1800 verloren gegangen sei, da spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unbestrittenerweise eine wirtschaftliche Entwicklung begonnen habe. Demnach sei eine Verlangsamung des Bevölkerungswachstums die Hauptdeterminante des simultan beobachteten BIP-pro-Kopf-Wachstums gewesen.19 Die entsprechenden stilisierten Fakten sind in Abbildung 1.4 dargestellt.
Stagnationsregime
Entwicklungsregime
Stagnationsregime
Entwicklungsregime
Abbildung 1.4 Stilisierte Evolution von Produktion (links, blau), Bevölkerung (links, orange) und Produktivität (rechts, grün) über die sehr lange Frist nach Galor und Weil (1999)
Das Stagnationsregime lässt sich hiernach wie folgt mathematisch zusammenfassen:
gy = gY (gN ) − gN (gY ) = 0 mit
∂gY ∂gN > 0, > 0. ∂gN ∂gY
Zusätzlich entspricht die mathematische Darstellung des Entwicklungsregimes der folgenden Formulierung:
gy = gY (gN ) − gN (gY ) > 0 mit
19Die
∂gY ∂gN > 0, = 0. ∂gN ∂gY
wichtigsten Erkenntnisse aus Galors Forschung werden in seinem Buch „Unified Growth Theory“ (2011) zusammengefasst.
1.3 Ganzheitliche Wachstumstheorie
13
Obwohl also die Bevölkerung in beiden Modellen zunächst als positive endogene Quelle von Produktion betrachtet wird und umgekehrt, Produktion durch Bevölkerung positiv determiniert wird, erwächst aus Kremers Theorie über die sehr lange Frist ein Zyklus wirtschaftlicher Entwicklung (im Folgenden als „Wohlstandszyklus“ bezeichnet), während Galor und Weil einen Zyklus wirtschaftlicher Stagnation suggerieren, welcher sich nach dem Jahr 1800 abschwächt („Elendszyklus“).20 Um zu ergründen, welche der beiden Sichtweisen mit der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung übereinstimmt, wird in diesem Buch chronologisch vorgegangen, indem zunächst das Zusammenspiel zwischen demografischen und ökonomischen Variablen während der frühzeitlichen Epoche bis etwa 1800 (Teil I) und anschließend die entsprechenden Interaktionen während der spätzeitlichen Entwicklungsepoche nach 1800 (Teil II) analysiert werden.
20Vgl.
Livi-Bacci (2012) zu einer historischen Darstellung dieses Effekts und zu einer Übersicht über die globale Bevölkerungsgeschichte.
Teil I Die Epoche wirtschaftlicher Stagnation
2
Das Stagnationsregime
2.1 Historische Entwicklung des BIP pro Kopf 2.1.1 Die Daten – warum Britannien? Wie im einführenden Kapitel wird sich unsere Analyse zur Entwicklung des BIP pro Kopf während des frühzeitlichen Regimes größtenteils auf die britischen Daten fokussieren.1 Dies geschieht aus den folgenden Gründen: Erstens wird das Land aufgrund des frühen wirtschaftlichen Aufstiegs und der globalen britischen Hegemonie während des 19. Jahrhunderts oft als ein repräsentatives Beispiel für wirtschaftliche Entwicklung angesehen und hat daher unter Ökonomen weitaus mehr Interesse auf sich gezogen als irgendein anderes Land. Zweitens hat die daraus resultierende Diskussion unter Wirtschaftshistorikern die Sammlung und Rekonstruktion einer großen Anzahl qualitativ hochwertiger historischer Datenreihen in Bezug auf die britische Wirtschaftsentwicklung stark begünstigt. Drittens ermöglichte die außergewöhnlich lange Periode relativen Friedens ohne wichtige ausländische Intervention auf den Britischen Inseln seit dem 11. Jahrhundert eine vergleichsweise kontinuierliche Entwicklung ohne große Brüche in den Zeitreihen. Trotz dieser evidenten Sachverhalte wird über das tatsächliche Muster der britischen BIP-pro-Kopf-Zeitreihe nach wie vor debattiert. Um seine Entwicklung bis zum wirtschaftlichen Aufstieg während des 19. Jahrhunderts zu beleuchten,
1Ich
werde im Folgenden grob auf „Britannien“ verweisen als diejenige Ökonomie, für welche repräsentative Daten vorliegen. Eine differenziertere Darstellung dieser Bezeichnung würde eine aufwendigere Auswertung regionaler Datensätze erfordern.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5_2
17
18
2 Das Stagnationsregime
sind die aktuell populärsten Zeitreihen aus Abbildung 1.1 auf einer kürzeren Zeitskala in Abbildung 2.1 dargestellt, beginnend mit dem Jahr 1541 und endend im Jahr 1848. Die linke Grafik illustriert Broadberrys u. a. (2015) BIP-pro-KopfDaten; die rechte Grafik zeigt Clarks (2009) Daten. Obwohl im letzteren Fall Fluktuationen im BIP pro Kopf auszumachen sind, weist eine lineare Regression der Zeitreihe keinen positiven Trend auf. Broadberrys u. a. Daten lassen dagegen zumindest nach dem Jahr 1659 einen deutlichen positiven Trend erkennen. Während Broadberrys u. a. empirische Kalkulationen Kremers theoretische Sicht eines langsamen, graduellen Anstiegs im BIP pro Kopf zum Teil stützen, suggerieren Clarks historische Schätzungen eine Periode wirtschaftlicher Stagnation und untermauern damit Galors Ideen einer ganzheitlichen Wachstumstheorie.2 Ich werde daher nun grob die Verlässlichkeit beider Datenreihen auswerten und schlussfolgern, dass Clarks Zeitreihe die sehr viel plausiblere zu sein scheint.
Abbildung 2.1 Indiziertes britisches BIP pro Kopf 1541–1848. Links Broadberrys u. a. Datensatz, rechts Clarks Datensatz. (Quellen: Broadberry u. a. (2015) und Clark (2009))
2.1.2 Quantitative Evidenz für eine frühzeitliche Stagnation Zunächst sollte man sich vergegenwärtigen, dass die unterschiedlichen Muster der beiden abgebildeten Zeitreihen lediglich das Resultat persönlicher Rivalitäten gewesen sein mögen. In seinem Buch „A Farewell to Alms“ (2007) erarbeitet
2Clark mutmaßt sogar, dass der durchschnittliche Engländer im Jahr 1800 nicht bessergestellt war als seine Vorfahren in der afrikanischen Steppe Jahrtausende zuvor.
2.1 Historische Entwicklung des BIP pro Kopf
19
Clark (wenngleich nicht mathematisch) eine ganzheitliche Wachstumstheorie unter Einschluss der zwei im vorherigen Kapitel thematisierten Regime. Da seine Haupterkenntnisse stark von der bis dato vorherrschenden wichtigsten Quelle historischer BIP-pro-Kopf-Daten von Maddison (2006) abweichen, verurteilt Clark – vermutlich zu Recht – die Maddison-Datenreihen als teilweise willkürliche Extrapolationen und konstruiert seine eigene Reihe des britischen BIP pro Kopf.3 Als Antwort und höchstwahrscheinlich mit der Intention, das Monopol der historischen Interpretation nicht Clark zu überlassen, legten Broadberry u. a. (2015) eine weitere historische Reihe des britischen BIP pro Kopf mit der augenscheinlichen Absicht einer Aktualisierung des Maddison-Projekts an. Ihr Hauptargument dafür ist die Feststellung, dass Clark in seinen Daten die zunehmende Zahl an Arbeitstagen eines Arbeiters über den Verlauf der Jahrhunderte nicht berücksichtigt habe. Clark (2018) selbst weist diese Vorwürfe zurück.4 Da in diesem Buch lediglich die stilisierten Fakten zur wirtschaftlichen Entwicklung im Mittelpunkt stehen und viel weniger Wert auf punktuelle historische Phänomene gelegt wird, werde ich die Debatte über die detaillierte Rekonstruktion der besagten Datenreihen zurückstellen und mich auf ihre grobe empirische Plausibilität konzentrieren. Hierzu lassen sich folgende Argumente anbringen. Erstens scheint Clarks Kritik, die Datenreihe von Broadberry u. a. impliziere unplausibel niedrige BIP-pro-Kopf-Werte für die vorindustrielle Zeit, das überzeugendste Argument für deren Zurückweisung zu sein. Zweitens würde, selbst wenn wir hypothetischerweise die Datenreihe von Broadberry u. a. als korrekt akzeptierten, dies lediglich die Frage der Stagnation auf eine frühere Periode zurückverlegen. Wie Abbildung 2.1 zeigt, existiert im Datensatz von Broadberry u. a. ebenfalls ein Zeitraum der Stagnation, lediglich etwa 150 bis 200 Jahre vor dem Ausbruch aus der Stagnation in Clarks Daten. Da mit dieser Feststellung die Frage der Existenz von zwei Regimen geklärt sein mag, scheint lediglich hinsichtlich der Festlegung des Übergangszeitpunktes zwischen dem Stagnationsregime und dem Entwicklungsregime (ca. 1650 vs. ca. 1800) Uneinigkeit zu bestehen. Drittens stehen im Gegensatz zu den beiden oben dargestellten BIP-pro-KopfDatenreihen Allens (2001) Daten zu Reallöhnen Londoner Arbeiter weniger stark unter dem Verdacht des Opportunismus, da sie einige Jahre vor Beginn der Debatte konstruiert wurden. Der durchschnittliche Reallohn bzw. der „Wert
3Vgl. 4Vgl.
Clark (2008). Clark (2018).
20
2 Das Stagnationsregime
der Arbeit“ ist eine nützliche Approximation an das BIP pro Kopf, da in der Wachstumstheorie angenommen wird, dass sich dieser proportional zum BIP pro Kopf verhält, weshalb er auch oft als alternative Maßzahl des Lebensstandards dient. Wie in Abbildung 2.2 dargestellt, scheint der Trend dieser Reallohnreihe sehr viel besser dem Muster von Clarks Daten zu entsprechen als dem der Daten von Broadberry u. a., da wir auch hier keinen signifikanten Anstieg des Reallohns bis zum Jahr 1800 beobachten können. Livi-Bacci verallgemeinert diese Erkenntnis sogar, indem er erklärt, dass Reallöhne allgemein in Europa während des 18. Jahrhunderts und bis in die ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts sanken.5
Diese Sichtweise ist kaum mit dem von Broadberry u. a. vorgeschlagenen, langsamen, permanenten Anstieg des BIP pro Kopf zu vereinbaren.
Abbildung 2.2 Indizierte Reallöhne Londons 1209–1848. (Quelle: Allen (2001))
Viertens schließen die Indizien in Bezug auf das Für und Wider von Stagnation oder gradueller Veränderung anthropometrische und archäologische Evidenz mit ein. Selbst wenn wir Clarks Schätzungen zum BIP pro Kopf und Allens Schätzungen zum Reallohn infrage stellen, liefert die allgemein beobachtete Stagnation der Körpergröße aufgrund von unzureichender Nahrungsaufnahme bis
5Livi-Bacci
(2012), S. 72.
2.2 Historische Entwicklung von BIP und Bevölkerung
21
etwa zum Jahr 1800 einen starken Nachweis für wirtschaftliche Stagnation.6 LiviBacci fährt dazu beispielsweise fort: Ein anderes Indiz ist [die] durchschnittliche Körpergröße, welche in derselben Periode in England, im habsburgischen Reich und in Schweden abgenommen zu haben scheint.7
Wenn wir dagegen dem Datensatz von Broadberry u. a. Glauben schenken würden, so müssten wir damit rechnen, dass ein zunehmendes BIP pro Kopf durch ein paralleles Wachstum der Körpergröße reflektiert würde, was nicht der Fall ist. Alles in allem scheint die Evidenz für ein Stagnationsregime sehr viel stärker von den Fakten gestützt zu werden als die für ein Regime mit langsamer, gradueller Wirtschaftsentwicklung. Wir werden diesen Gedankengang im nächsten Abschnitt weiterverfolgen.
2.2 Historische Entwicklung von BIP und Bevölkerung 2.2.1 Quantitative Evidenz für paralleles Wachstum von Produktion und Bevölkerung Auf den ersten Blick scheint die Idee einer vormodernen wirtschaftlichen Stagnation der Intuition des modernen Laien, dass „Wachstum“ einem positiven langfristigen Trend folge, zu widersprechen. Auf den zweiten Blick werden wir allerdings erkennen, dass wir zwischen „Wirtschaftswachstum“ (des BIP) und „Wirtschaftsentwicklung“ (des BIP pro Kopf) streng unterscheiden müssen. Obwohl die Vorstellung einer Stagnation den Verdacht erweckt, dass Produktion und Bevölkerung ebenfalls bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts stagnierten, wird diese Auffassung in Abbildung 2.3 in einer separaten Darstellung von Produktionsentwicklung und Bevölkerungsentwicklung zurückgewiesen. Die Daten basieren wiederum auf Broadberry u. a. (links) und Clark (rechts). Die Bevölkerungsschätzungen gehen in beiden Fällen auf die relativ weitverbreiteten Schätzungen von Wrigley und Schofield (1981) zurück und stehen daher nicht zur Debatte.
6Vgl.
Tanner (1994) oder aktuell Hinde u. a. (2018). (2012), S. 72.
7Livi-Bacci
22
2 Das Stagnationsregime
Abbildung 2.3 Indizierter Anstieg des BIP und der Bevölkerungsgröße in Britannien 1541–1848. (Quellen: Broadberry u. a. (2015), Clark (2009), Wrigley und Schofield (1981))
Da beide Datenreihen aufdecken, dass die zwei Variablen nicht nur über die Zeit wuchsen, sondern zudem stetig und exponentiell anstiegen, scheint die Tatsache eines kontinuierlichen Wachstums der Produktion ebenfalls keiner weiteren Diskussion zu bedürfen. Nichtsdestotrotz tendieren die favorisierten Clark-Daten (rechte Grafik) dazu, den von Galor vorgeschlagenen „Elendszyklus“ anstelle von Kremers „Wohlstandszyklus“ zu stützen. Dies impliziert, dass das Bevölkerungswachstum dem Produktionswachstum überlegen zu sein schien (gN ≥ gY ), ohne wirtschaftliche Entwicklung in Form eines BIP-pro-Kopf-Anstiegs ermöglicht zu haben. Wenn wir also im Folgenden davon ausgehen, dass Clarks Daten aus stilisierter Sicht eine gute Beschreibung der Realität darstellen und diese Daten ebenfalls für andere Ökonomien repräsentativ sind, sollten wir proportionale Zuwächse des BIP und der Bevölkerung nicht nur in Britannien beobachten, sondern in jedem Land, welches sich im Stagnationsregime befindet. Tatsächlich dient uns der Sachverhalt der bis zum heutigen Tag andauernden Stagnation einiger afrikanischer Staaten, in welchen wir starkes simultanes Bevölkerungswachstum beobachten können, als fünfter Argumentationspunkt zur Unterstützung von Clarks Daten und Galors Sichtweise. Selbst für sehr große Ökonomien lässt sich feststellen, dass die niedrigsten Niveaus im BIP pro Kopf regelmäßig mit starkem Wachstum sowohl der Produktion als auch der Bevölkerung einhergehen, sei es in China (während der Jahre 1959–1961), Indien (1943) oder Russland (1932–1933) – eine Tatsache, die einmal mehr die Vorstellung verwirft, dass die Produktion dazu neigt, schneller zu wachsen als die Bevölkerung. Es kann also angenommen werden, dass die allgemeine historische Konstanz des BIP pro Kopf in Ökonomien mit beträchtlichem Wirtschaftswachstum einer noch schneller wachsenden Bevölkerung geschuldet ist. Daher erscheint es vernünftig, alle Ökonomien in zwei Gruppen einzuteilen: in die
2.2 Historische Entwicklung von BIP und Bevölkerung
23
Gruppe derjenigen, welche nach wie vor in einer Epoche der Stagnation gefangen sind, sowie in die Gruppe derjenigen, welche aus der Epoche einer niedrigen, stagnierenden Produktivität ausbrechen konnten. Beispiele für Länder in jeder der beiden Gruppen sind in Abbildung 2.4 dargestellt.
2011
2014
2017 2017
2005
2002
2014
Hai
2008
Nicaragua
2011
Madagaskar
2008
Kongo, DR
1999
1996
1993
1990
1984
1987
1981
1978
1975
1972
1969
1966
1963
1960
2 1.8 1.6 1.4 1.2 1 0.8 0.6 0.4 0.2 0
Niger
Bangladesch
China
Myanmar
Sri Lanka
2002
2005
1999
1996
1993
1990
1987
1984
1981
1978
1975
1972
1969
1966
1963
1960
10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0
Indien
Abbildung 2.4 Indizierte BIP-pro-Kopf-Werte ausgewählter Staaten 1960–2017. Links: Staaten im Stagnationsregime. Rechts: Staaten im Entwicklungsregime. (Quelle: Weltbank (2018))
24
2 Das Stagnationsregime
2.2.2 Qualitative Evidenz für paralleles Wachstum von Produktion und Bevölkerung Das sechste Argument, welches die Idee eines Stagnationsregimes untermauert, basiert auf der plausiblen Vermutung, dass sich britische Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts ihrer eigenen wirtschaftlichen Situation durchaus bewusst waren. Daher erscheint ein Verweis auf die Schriften dieser klassischen Zeitgenossen, welche die Stagnation bezeugen konnten, als geeignet, Evidenz für die wirtschaftliche Lage Britanniens im frühen 19. Jahrhundert zu liefern. So zweifelte beispielsweise J. S. Mill8 noch im Jahr 1848 an, dass Produktionswachstum und technische Fortschritte das Potenzial besäßen, dem Bevölkerungswachstum zu entwachsen: Bis dato ist es fragwürdig, ob alle mechanischen Erfindungen, welche bislang gemacht wurden, die täglichen Mühen irgendeines menschlichen Individuums erleichtert haben. Sie haben [lediglich] einer größeren Bevölkerung ermöglicht, dasselbe Leben in Schinderei und Gefangenschaft zu führen.9
Offensichtlich widerspricht Broadberrys u. a. Datenreihe dieser Einschätzung und unterstellt, dass die Autoren eine bessere Kenntnis von der klassischen britischen Wirtschaft hatten als die klassischen Ökonomen selbst. Dieser Punkt wird bei der Darstellung des genauen Stagnationsmechanismus in Kapitel 3 intensiver betrachtet werden. Schließlich bleibt festzuhalten, dass die Annahme, dass die Bevölkerungszahl ehemals dazu tendierte, schneller als die Produktion zu wachsen, von ökonometrischen Messungen gestützt wird. Diese Sichtweise hat daher bereits eine breite Akzeptanz in der Disziplin der „Kliometrie“ gefunden. Kliometrische Untersuchungen bestätigen, dass [der Elendszyklus in] der vorindustriellen Ökonomie eine gute Beschreibung eines Großteils der bevölkerungsökonomischen Geschichte darstellt.10
8John
Stuart Mill (1806–1873), britischer Philosoph, Rektor der University of St. Andrews, Parlamentsmitglied in Westminster. 9Mill (1848), Buch IV, Kapitel VI. 10Foreman-Peck (2019).
2.3 Das Stagnationsregime: Stilisierte Fakten
25
Da die Existenz eines Stagnationsregimes durch Quellen unterschiedlichster Art nachgewiesen wurde, werde ich im Folgenden davon ausgehen, dass Produktion und Bevölkerung bis etwa 1800 n. Chr. langfristig proportional zueinander wuchsen.
2.3 Das Stagnationsregime: Stilisierte Fakten Trotz der herausgearbeiteten Evidenz sollte bedacht werden, dass es mit Blick auf die Verallgemeinerung des britischen Falls zu einer globalen Darstellung vernünftig ist, den Ausdruck „Stagnation“ lediglich in seiner abstrakten Form als stilisierten Fakt zu betrachten und nicht am Vorherrschen eines fixen Produktivitätsniveaus in jedem historischen Einzelfall festzuhalten. Fraglos fand sporadische wirtschaftliche Entwicklung bereits in den antiken griechischen und römischen Ökonomien statt, ebenso wie im Spätmittelalter in einigen Regionen Chinas, Europas und Japans. Jedoch wird sich die Abstraktion der Stagnation als Start- und Referenzpunkt für theoretische Untersuchungen zum Übergang zu „moderner“ Wirtschaftsentwicklung für eine ganzheitliche Wachstumstheorie bei der Gegenüberstellung der beiden Regime als sehr nützlich erweisen. Die stilisierten Fakten des Stagnationsregimes lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Es existiert „wirtschaftliche Stagnation“: Das BIP pro Kopf bleibt hierbei langfristig konstant: gy = gY (gN ) − gN (gY ) = 0. 2. Es existiert ein „Elendszyklus“: BIP und Bevölkerung wachsen hierbei langfristig mit derselben positiven Rate: gY = gN > 0. Da festgestellt wurde, dass das Stagnationsregime mit niedrigem Produktivitätsniveau über mindestens 400 Jahre vorherrschte, kann man diesen Zeitraum gerechtfertigterweise als die „Epoche wirtschaftlicher Stagnation“ bezeichnen. Die stilisierten Fakten des Stagnationsregimes sind in Abbildung 2.5 grafisch dargestellt.
26
2 Das Stagnationsregime
Abbildung 2.5 Links die stilisierten Fakten des „Elendszyklus“: steigende Produktion (blau) und parallel steigende Bevölkerung (orange). Rechts der stilisierte Fakt der Stagnation des BIP pro Kopf (grün). (Quelle: eigene Darstellung)
3
Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
3.1 Die malthusianische Interpretation der Geschichte 3.1.1 Die malthusianische Falle nach Galor Bislang wurde lediglich die deskriptive Statistik zur historischen Darstellung der Entwicklung von BIP, BIP pro Kopf und der Bevölkerung angeführt. In diesem Kapitel werden wir den für eine endogene Wachstumstheorie essenziellen theoretischen Mechanismus zum „Elendszyklus“ zwischen Produktion und Bevölkerung näher betrachten. Wie gezeigt wurde, scheint die historische Entwicklung unserer drei Variablen grob mit der Stagnationstheorie von Galor und Weil (1999) übereinzustimmen. Da Galor und Weil ihre Theorie aus der des klassischen Ökonomen T. R. Malthus1 ableiteten, bezeichneten sie den für die Stagnation verantwortlichen Mechanismus als „malthusianische Falle“. Obwohl der Begriff „Bevölkerungsfalle“ zur Beschreibung eines theoretischen Stagnationsmechanismus nach wie vor weitverbreitet ist, kursierte in der Vergangenheit eine Reihe weiterer Bezeichnungen von F. Lassalles2 (1863) „ehernem Gesetz der Löhne“ bis hin zu Keynes (1930) „Ringen um Subsistenz“. Da alle diese Ausdrücke dasselbe theoretische Fundament teilen, namentlich die
1Thomas
Robert Malthus (1766–1834), britischer Professor für Geschichte und Politische Ökonomie am East India Company College of Haileybury, Mitglied der Royal Society. 2Ferdinand Lassalle (1825–1864), Schriftsteller, sozialistischer Politiker und Gründungsvater der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5_3
27
28
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
scheinbare Unvermeidbarkeit stagnierender Produktivität unter der Vorherrschaft exzessiven Bevölkerungswachstums, werden sie im Folgenden durch die nun unter „Unified-growth“-Autoren etablierte Bezeichnung „malthusianische Falle“ ersetzt. Es wird angenommen, dass die malthusianische Falle als detaillierterer Mechanismus des „Elendszyklus“ drei Effekten geschuldet ist, welche in Gleichung (3.1) dargestellt sind. Erstens scheinen Galor und Weil mit Kremer darin übereinzustimmen, dass Bevölkerungswachstum die Erfindung neuer „Technologien“ anstößt und daher die Produktion positiv beeinflusst (1). Zweitens wird, obwohl nicht immer explizit definiert, gewöhnlich davon ausgegangen, dass das Bevölkerungswachstum auf eine gewisse Art und Weise durch Produktionswachstum gefördert wird (2). Drittens scheint nach Galors und Weils Daten die höhere Bevölkerungswachstumsrate wiederholt die damit einhergehenden Produktionsfortschritte in der britischen Ökonomie vor 1800 neutralisiert zu haben, was vermuten lässt, dass eine abnehmende Produktivität auf abnehmende Erträge im Produktionsfaktor Bevölkerung zurückzuführen war (3). Diese drei Effekte scheinen die Produktivität grob auf einem konstanten „Subsistenzniveau“ gehalten zu haben und können gleichzeitig mathematisch wie folgt formuliert werden:
Galors und Weils Forschung belebte – zusammen mit Clarks (2007) Buch – eine Debatte wieder, welche für etwa 150 Jahre im ökonomischen Denken ein Schattendasein geführt hatte.3 Als Folge entstand über die vergangenen zwei Dekaden in der Wachstumstheorie ein wiedererstarktes Interesse an wirtschaftlicher Stagnation. Interpretationen der malthusianischen Falle bilden heute einen wichtigen Baustein ganzheitlicher Wachstumstheorien, da sie eine simple Erklärung für Produktivitätsstagnation liefern können. Dennoch scheint es so, als hätten die wenigsten dieser ganzheitlichen Wachstumstheoretiker, trotz ihres Bezugs auf Malthus, seine frühen Veröffentlichungen tatsächlich studiert, da ihre Theorien den entsprechenden Aussagen von Malthus oft stark widersprechen.4 Um diesen Defekt zu beheben, wird in diesem Buch die ursprüngliche Sichtweise
3Vgl. 4Vgl.
z. B. Artzrouni und Komlos (1985). Hardin (1999).
3.1 Die malthusianische Interpretation der Geschichte
29
der klassischen Ökonomen betont, wozu Malthus’ Theorie um Sichtweisen anderer klassischer und neoklassischer Ökonomen ergänzt wird. Die Darstellung dieser retrospektiven Sicht der Dinge wird als notwendig erachtet, da ein gründliches Verständnis des Mechanismus der Bevölkerungsfalle essenziell ist, um auf der einen Seite die soziale, makroökonomische Tragweite von Bevölkerungswachstum wahrnehmen, und auf der anderen Seite den Übergang zu wirtschaftlicher Entwicklung nachvollziehen zu können.5 Ist die klassische Sichtweise herausgestellt, wird sich zeigen, dass die Antwort auf die Frage „Warum existierte Stagnation?“ stärker zum Verständnis der Wachstumstheorie beiträgt als die Lösung des Rätsels „Warum kam es zur Entwicklung?“ Mit anderen Worten: Sobald die für die Stagnation verantwortlichen Prinzipien begreiflich gemacht sind, bleibt nur ein kleiner Schritt zum Verständnis des ganzheitlichen Wachstumsprozesses.
3.1.2 Klassische Politische Ökonomie Neben anderen erinnert uns North (2013) daran, dass die ursprüngliche Darstellung des Stagnationsproblems auf die klassische Wachstumstheorie zurückgeführt werden könne, welche bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bereits großen Einfluss auf die Philosophie und die Naturwissenschaften ausgeübt hat und deren Agenda sich nicht großartig von der aktueller ganzheitlicher Wachstumstheorien unterscheidet. Über ein volles Jahrhundert, etwa zwischen 1770 und 1870, als die klassische Wirtschaftswissenschaft noch als „Politische Ökonomie“ bekannt war, spielte die Demografie eine vitale Rolle in der Wachstumstheorie. Die Vertreter der früheren merkantilistischen Theorie betrachteten eine große Bevölkerung angesichts wiederkehrender, verheerender Mortalitätskrisen als das Fundament nationaler wirtschaftlicher Prosperität im internationalen Konkurrenzkampf um knappe Ressourcen (siehe z. B. Mun 1664). Demgegenüber schien der französische Ökonom und Staatsmann Turgot (1767), Zeuge der französischen
5Mit
Wicksteeds Worten: „Denn es ist eine Sache, mit einem Prinzip praktisch vertraut zu sein und es in einfachen Angelegenheiten als nützlich zu betrachten, und eine andere Sache, dieses Prinzip derart bewusst und tiefgründig erfasst zu haben, dass man es gedanklich niemals loslässt und alles mit ihm Inkonsistente abstreitet, unabhängig davon, wie weit es von unserer vertrauten Erfahrung entfernt liegt und wie komplex und abstrakt die untersuchten Felder sein mögen, in welchen wir es anwenden.“ Wicksteed (1894), S. 8.
30
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
Bevölkerungsexplosion des 18. Jhd., einer der ersten Autoren gewesen zu sein, welcher ein „Gesetz abnehmender Erträge der Arbeit“ offenlegte, nach welchem irgendein konstanter Produktionsfaktor (z. B. Kapital oder Land) den Anstieg der Produktion, welcher wiederum in der Regel durch eine Zunahme der Arbeitskräfte erfolgen würde, limitierte. Einige Jahre später revidierte A. Smith6 (1776) diese physiokratische Sichtweise zum Teil im Licht der britischen industriellen Revolution, nachdem er beobachtet hatte, dass eine höhere Bevölkerungsdichte und Urbanisierung eine größere Vielfalt an Berufen erzeugten und damit den Grad der Spezialisierung erhöhten. Sofern zunehmend spezialisierte Individuen vernünftigerweise miteinander handelten, würde der Grad der „Arbeitsteilung“ zwischen diesen ausgeweitet werden, was – so seine Vermutung – wiederum die Produktion überproportional steigere. Die Idee, der Wohlstand der Nationen könne auf Bevölkerungswachstum basieren, wurde weitere 20 Jahre später allerdings erneut infrage gestellt, als deutlich wurde, dass die britische Bevölkerungsexplosion die Reallöhne und das BIP pro Kopf trotz großartiger technischer, aus der Arbeitsteilung resultierender Fortschritte hatte sinken lassen. Malthus (1798) argumentierte hierzu mit dem „Bevölkerungsprinzip“, dem zufolge Bevölkerungen die inhärente Tendenz besäßen, unvermeidlich schneller als die Produktion zu wachsen. Weitere fünf Jahre später erklärte Malthus (1803) den „großen präventiven Check“, aufgrund dessen Individuen allgemein für Geburtenkontrolle empfänglich zu sein schienen, zur vermutlich einzigen praktikablen Lösung für solche Ökonomien, welche exzessivem Bevölkerungswachstum ausgesetzt waren. Wie vom ersten Professor für Politische Ökonomie vorhergesagt, wuchs seitdem die Produktivität im selben Maße, wie die Fertilität abnahm.
3.1.3 Endogenität der malthusianischen Falle Um unser theoretisches Verständnis der Produktivitätsstagnation als einer „Ad-hoc“-Beziehung zwischen Produktionswachstum und Bevölkerungswachstum hin zur klassischen, anspruchsvolleren Wachstumstheorie zu erweitern, werde ich zwischen einer klassischen Produktionstheorie und einer klassischen Bevölkerungstheorie unterscheiden. Dementsprechend werden wir
6Adam
Smith (1723–1790), britischer Professor für Moralphilosophie an der University of Glasgow, einer der Begründer der klassischen Wirtschaftswissenschaft bzw. der Politischen Ökonomie.
3.2 Die klassische Produktionstheorie
31
die Effekte von Bevölkerungswachstum auf Produktionswachstum (gY (gN )) und von Produktionswachstum auf Bevölkerungswachstum (gN (gY )) zunächst separat analysieren. Die zugrunde liegenden Prinzipien, welche diese Effekte verursachen, sollten universell und verifizierbar sein. Dementsprechend wird in den nachfolgenden Abschnitten viel Wert auf erschöpfende Definitionen und logische Deduktionen gelegt. Sobald die wichtigsten Prinzipien der klassischen Produktionstheorie und der klassischen Bevölkerungstheorie aufgedeckt sein werden, können wir diese in einem kohärenten, endogenen Wachstumsmodell zusammenführen und eine Epoche der Stagnation simulieren. Ich beginne mit der klassischen Produktionstheorie.
3.2 Die klassische Produktionstheorie 3.2.1 Eine Produktionstheorie der Arbeit 3.2.1.1 Einführung Die jährliche Arbeit jeder Nation ist der ursprüngliche Fundus, welcher sie mit allen Notwendigkeiten und Bequemlichkeiten des Lebens versorgt, welche sie jährlich verbraucht.7
Um den Rahmen einer langfristigen demografischen Produktionstheorie einzugrenzen, muss Produktion erstens erschöpfend definiert werden. Ein wichtiger Vorteil einer erschöpfenden Definition ist, dass sie uns erlaubt, unsere Theorie zu strukturieren, indem wir alle potenziellen Faktoren gleichzeitig berücksichtigen. Zum Zweck einer erschöpfenden Produktionstheorie werden wir den (statischen) neoklassischen Ansatz einer aggregierten Produktionsfunktion verfolgen. Dieser liefert eine Beziehung zwischen Produktion (dem produzierten Gesamtwert eines gegebenen Jahres) und jedem potenziellen Produktionsfaktor. Anstelle eines separaten Einbezugs von „Technologie“ werden hierbei alle potenziellen Produktionsfaktoren zusätzlich zur Bevölkerung in einer Sammelvariablen „generalisiertes Kapital“ vereint. In diesem Abschnitt wird gezeigt werden, dass dieser traditionelle Produktionsfunktionsansatz im Einklang mit der klassischen Theorie steht. Zweitens ist es essenziell, Bevölkerung als einzige Ursprungsquelle der Produktion zu modellieren. Nur wenn diese zwei Bedingungen für eine
7Smith
(1776), Einführung.
32
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
Produktionstheorie und analog für eine Bevölkerungstheorie erfüllt sind, können diese beiden zu einer endogenen Wachstumstheorie verschmelzen, welche den Prozess wirtschaftlicher Entwicklung ausreichend erklären kann. In diesem ersten Abschnitt wird, aufbauend auf der smithschen Annahme einer effizienten Arbeitsteilung, der (statische) Produktionsfunktionsansatz von Wicksteed8 (1894) um das (dynamische) Solow-Modell erweitert, in welchem angenommen wird, dass (exogene) Arbeit zusätzlich zu ihrem direkten Einfluss auf die Produktion diese ebenso indirekt über einen parallelen Anstieg aller anderen Produktionsfaktoren beeinflusst. Im zweiten Abschnitt wird klargestellt, dass das, was gewöhnlich als Variable „Arbeit“ bezeichnet wird, durch die Variable „unqualifizierte Arbeit“ substituiert werden sollte, welche sich gut durch die Variable „Bevölkerung“ approximieren lässt. In Anlehnung daran wird ein neues Modell mit dem Faktor Bevölkerung als der Ursprungsquelle allen Wertes vorgestellt, in welchem davon ausgegangen wird, dass alle regelmäßigen Innovationen vollständig auf die Folgen von Bevölkerungswachstum aufgrund verbesserter Arbeitsteilung und anschließender Spezialisierung zurückgeführt werden können. Anschließend wird eine entsprechende strukturelle Gleichung hergeleitet, welche die simultane Operation zweier universeller ökonomischer Prinzipien beschreibt – das Prinzip abnehmender Erträge und das Prinzip der Arbeitsteilung. Diese strukturelle Gleichung wird später für die Simulation und Evaluation unseres Modells genutzt werden.
3.2.1.2 Statische Theorie Der eine entscheidende reguläre Prozess, aufgrund dessen klassischerweise angenommen wird, dass Bevölkerungswachstum die Produktion erhöht, ist die Arbeitsteilung (engl. „division of labour“). Smith (1776) erklärte, dass in einer Umgebung, welche die Sicherheit des Eigentums und des Einkommens garantiere, die den Menschen inhärente Tendenz zum Austausch ihrer Produkte zu einer Arbeitsteilung zwischen Individuen führe.9 Man kann Smiths Begriff der Arbeitsteilung als die „effiziente Kooperation aller produktiven Individuen
8Philipp
Henry Wicksteed (1844–1927), britischer unitarischer Geistlicher, einer der Begründer der neoklassischen Ökonomie. 9Ich werde in diesem Buch durchweg die Existenz solcher institutionellen Bedingungen voraussetzen. Im Kontext einer abstrakteren Sichtweise könnte diese Voraussetzung allerdings ebenso gut durch die Annahme ersetzt werden, dass effiziente Institutionen ein Resultat einer solchen perfekten Arbeitsteilung und damit Teil der Gesamtheit aller Produktionsfaktoren sind.
3.2 Die klassische Produktionstheorie
33
einer Ökonomie zur Maximierung der Produktion verstehen“. Dieses effiziente Kooperationsniveau wäre erreicht, wenn alle Produktionsprozesse einer Ökonomie perfekt zwischen allen Individuen aufgeteilt würden. Eine solche perfekte Aufteilung impliziert, dass jedes neu in die Ökonomie eintretende Individuum dazu tendiert, eine neue Aufteilung der Produktion in kleinere, einfacher durchzuführende, effiziente Produktionsprozesse einzuleiten und dadurch die Gesamtproduktion zu erhöhen. Trotz dieser allgemein beobachteten Tendenz hin zu einer effizienten Arbeitsteilung in einer freien Marktwirtschaft hatten die Klassiker bereits große regionale Unterschiede in der durchschnittlichen Produktivität ausmachen können. Diese Unterschiede waren offensichtlich der relativen Knappheit oder dem Überschuss irgendeines anderen Produktionsfaktors (z. B. Kapital oder Land) geschuldet. N. W. Senior10 (1836) erweiterte die Doktrin der Arbeitsteilung, indem er behauptete, was Smith wirklich gemeint habe, sei die effiziente Aufteilung von Produktionsprozessen durch eine effiziente Kombination aller Produktionsfaktoren.11 Er argumentierte, dass dieses Konzept anstelle von „Arbeitsteilung“ tatsächlich als „Produktionsaufteilung“ bezeichnet werden müsse und als eine Beziehung zwischen Produktion und einem effizienten Gebrauch aller Produktionsfaktoren formuliert werden könne – als Produktionsfunktion.12 Neoklassische Ökonomen schlossen sich diesem Produktionsfunktionsansatz zum Ende des 19. Jahrhunderts an. Da jedoch Produktionsfaktoren in der Realität dynamisch miteinander interagieren, erforderte eine separate Analyse des Effekts eines jeden einzelnen Faktors die Betrachtung aus einer abstrakten, statischen Sichtweise, durch welche Produktionsfaktoren unabhängig voneinander in den Blick genommen werden konnten. J. B. Clark13 (1899) erschien es offensichtlich,
10Nassau
William Senior (1790–1864), britischer Rechtsanwalt, Professor für Politische Ökonomie an der University of Oxford, Mitglied der Royal Commissions in den Jahren 1832, 1837 und 1861. 11Ein Produktionsfaktor sei hier definiert als eine Inputressource, welche positiv zur Produktion beiträgt. 12„Produktionsaufteilung wäre ein passenderer Ausdruck gewesen als Arbeitsteilung; doch Adam Smiths Autorität hat dem Begriff Arbeitsteilung eine derartige Popularität beschert, dass wir ihn weiterhin verwenden werden, allerdings in dem weiteren Sinn, in welchem Adam Smith ihn verwendet zu haben scheint.“ Senior (1836), S. 159. 13John Bates Clark (1847–1938), US-amerikanischer Professor für Volkswirtschaft an der Columbia University, Begründer der American Economic Association.
34
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
dass der Ökonom mit der einfacheren Aufgabe der Modellierung einer statischen Produktionsfunktion beginnen sollte, wobei alle Größen außer dem analysierten Produktionsfaktor konstant zu halten waren (ceteris paribus), sodass keinerlei kausale Interaktionen zwischen Produktionsfaktoren störend einwirkten.14 Etwa zur selben Zeit wurde das formale statische Modell von Wicksteed (1894) entwickelt, welcher den obigen Betrachtungen das möglicherweise mächtigste Argument für die Verwendung einer gültigen aggregierten Produktionsfunktion mathematisch hinzufügte: das „Replikationsargument“. Dieses besagt, dass eine Replikation einer erschöpfenden Liste von Produktionsfaktoren unter statischen Bedingungen universell eine Replikation der Produktion generieren müsse. Dementsprechend wird eine aggregierte Produktionsfunktion definiert als eine statische Produktionsfunktion, welche das Replikationsargument erfüllt, welches wiederum später als die Doktrin konstanter Skalenerträge formuliert wurde:15 Nun muss man natürlich zugeben, dass, sofern die physischen Bedingungen, unter welchen ein bestimmter Betrag an Weizen oder irgendetwas anderem produziert wird, exakt wiederholt würden, sich auch das Resultat exakt wiederholen würde, und ein proportionaler Anstieg des einen würde zu einem proportionalen Ertrag des anderen führen. Die grobe Einteilung der Produktionsfaktoren in Land, Kapital und Arbeit müsste in der Tat aufgegeben werden […]. Wir müssten jede Art und Qualität von Arbeit […] als separaten Faktor betrachten; und auf dieselbe Weise wird jede Art von Land als separater Faktor genommen. […] Jeder dieser Faktoren mag in seiner eigenen Einheit dargestellt werden, und wenn dies erfolgt ist, mag die Auflistung der Produktionsfaktoren als vollständig betrachtet werden. Nach diesem Verständnis ist es natürlich offensichtlich, dass ein proportionaler Anstieg aller Produktionsfaktoren einen proportionalen Anstieg des Produkts sichern wird.16
Trotz der Erfordernis einer erschöpfenden Auflistung von Faktoren scheint sich der Großteil der klassischen Ökonomen auf die Verwendung von lediglich zwei zur Produktion Y erforderlichen Faktoren geeinigt zu haben: Arbeit L und Kapital
14„Warum
also benötigen wir die Gesetze eines imaginären statischen Zustands? Weil die Kräfte, welche in einem solchen Zustand wirken, auch weiterhin in einem dynamischen Zustand wirken. […] Um sich mit den komplexen Problemen einer dynamischen Ökonomie auseinandersetzen zu können, muss als Schlüssel zum Erfolg ein separates Studium der statischen Kräfte erfolgen, welche ständig in ihr wirken.“ Clark (1899), S. 60. 15Vgl. Hicks (1936). 16Wicksteed (1984), S. 33.
3.2 Die klassische Produktionstheorie
35
K .17 Wicksteed rechtfertigte den Gebrauch dieser Vereinfachung, solange Kapital als eine Approximation einer residualen „Sammelvariablen“ verwendet wurde, die dazu diente, eine erschöpfende Liste aller bis dato unberücksichtigten, für die Produktion erforderlichen Produktionsfaktoren, gemessen in einer komplexen Einheit (z. B. in der Höhe ihres Tauschwertes), miteinzubeziehen.18 Im Ergebnis wird Kapital als alle zur Produktion erforderlichen Dinge von Wert definiert, wohingegen die explizite Verwendung weiterer Produktionsfaktoren die theoretische und empirische Analyse unnötigerweise verkomplizieren würde. Von dieser Vereinfachung machten später Keynes (1936),19 Robinson (1954), Solow (1957)20 und viele andere Gebrauch.Dieser Definition folgend, wird die Obsoleszenz eines potenziellen Faktors „Technologie“21 offensichtlich. Neben diesem generalisierten Kapital lag das Hauptinteresse der Klassiker jedoch nach wie vor auf dem Produktionsfaktor Arbeit, da die Arbeitsproduktivität YL die individuelle Produktivität, d. h. die Produktion pro Kopf, am besten zu approximieren schien.22 Aus diesem Grund schlug Wicksteed vor, den Faktor Arbeit aus der unendlichen Anzahl an Produktionsfaktoren als separaten
17Oft
wurde Land als zusätzlicher Faktor hinzugefügt: „[…] wird gewöhnlicherweise jeder der drei großen Faktoren Land, Kapital und Arbeit einzeln betrachtet, um die jeweiligen speziellen Umstände zu untersuchen, unter welchen dieser Faktor in der Produktion kooperiert […].“ Wicksteed (1894), S. 7. Demnach wurde eine Produktionsfunktion mit konstanten Skalenerträgen mathematisch wie folgt definiert: F(K, L) = Y ⇐⇒ F(K, L) = Y . 18„Alle
Bestandteile dieses verallgemeinerten Kapitals werden als auf ihre Entsprechung in Geld reduziert betrachtet.“ Wicksteed (1894), S. 13. 19„Das in einem beliebigen Moment existierende Kapital mag lediglich behandelt werden als Teil der Umwelt, in welchem die Arbeit operiert.“ Keynes (1936) in Robinson (1954), S. 214. 20„Wären die Daten verfügbar, so wäre es besser, die Analyse auf irgendeine präzise definierte Produktionsfunktion mit vielen präzise definierten Inputs anzuwenden. Man mag zumindest hoffen, dass die aggregierte Analyse uns einen Hinweis darauf gibt, wohin uns eine detaillierte Analyse führen würde.“ Solow (1957), S. 312, Fußnote. 21Wie z. B. von Solow (1957) oder Romer (1986) aufgrund der Produktionsfunktion Y = F(A, K, L) angenommen wurde. 22„Dies ist dann der einfache und entscheidende Test, mit welchem wir die Zweckmäßigkeit aller Maßnahmen beurteilen müssen, welche den Wohlstand eines Landes und den Wert aller Innovationen beeinflussen. Sofern sie Arbeit produktiver machen, […] sind sie vorteilhaft; […] aus dieser Perspektive wird dieses große Feld der Wissenschaft, welches sich mit der Produktion von Wohlstand befasst, als übermäßig simpel betrachtet und einfach verstanden werden.“ McCulloch (1863), Teil I, Kapitel I, Abschnitt II.
36
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
Faktor zu isolieren.23 Des Weiteren schlussfolgerte Wicksteed, dass eine derart aggregierte Produktionsfunktion abnehmende Erträge jedes Produktionsfaktors nach der Beschreibung Turgots (1767) und von Thünens (1842) impliziere, d. h., ein zunehmender statischer Gebrauch irgendeines herausgefilterten Faktors bewirkt ein fortlaufend abnehmendes Grenzprodukt sowie eine abnehmende Produktivität des Faktors.24 Folglich wurde aus der Idee abnehmender Erträge ein universelles Gesetz in Bezug auf die Akkumulation eines jeden Produktionsfaktors, was als eine der abschließenden Erkenntnisse der statischen Produktionstheorie gelten kann.25 Demnach stützt die statische Produktionstheorie die Idee, dass jeder zusätzliche Betrag an Arbeit, welcher in eine effiziente Arbeitsteilung eintritt, einerseits einen Produktionsanstieg und andererseits ein Schrumpfen der Arbeitsproduktivität aufgrund von abnehmenden Erträgen bewirkt. Cobb und Douglas (1928) wiederum bauten auf Wicksteeds Ansatz auf und schlugen eine spezielle Form einer aggregierten Produktionsfunktion vor, welche die obigen Bedingungen in sich vereinen konnte.26 Ihre aggregierte Produktionsfunktion
Y = F(K, L) = K α L 1−α mit 0 < α < 1 mit α als konstanter Produktionselastizität des Kapitals ist nach wie vor ein weitverbreitetes Lehrinstrument der neoklassischen Wachstumsschule, obgleich sie
23„Was
wir tatsächlich wollen, ist, Arbeit herauszufiltern und sie mit Land plus Kapital zu veranlagen, wenn möglich bis zur Sättigung. […] Es ist vollkommen legitim, mit einer Einheit [Arbeit] zu beginnen, dann anzunehmen, dass die anderen Produktionsfaktoren so verwendet werden, dass das maximalproduktive Resultat erzielt wird, und dann das Produkt als eine Funktion von [Arbeit] und Pfund Sterling zu behandeln […], und wir könnten, wenn wir wollten, jeden beliebigen Faktor auswählen, um ihn in seiner eigenen geeigneten Einheit zu bestimmen, während der Rest in einer gemeinsamen Einheit gemessen wird.“ Wicksteed (1894), S. 39.
24„Falls
dann [Arbeit] konstant bleibt und Kapital-plus-[Land] ansteigt, so haben wir steigende Erträge pro Einheit [Arbeit] und abnehmende Erträge pro Einheit Kapital. Wenn jedoch Kapital konstant ist und [Arbeit] steigt, so haben wir zunehmende Erträge pro Einheit des Ersteren und abnehmende Erträge pro Einheit des Letzteren.“ Wicksteed (1894), S. 14, Fußnote. 25Vgl. Humphrey (1997). 26„Die Theorie, auf welche wir Bezug nehmen (von J. B. Clark, Wicksteed u. a.), besagt, dass Produktion, Arbeit und Kapital derart miteinander verbunden sind, dass […] Produktion eine homogene Funktion ersten Grades von Arbeit und Kapital ist.“ Cobb and Douglas (1928), S. 151.
3.2 Die klassische Produktionstheorie
37
nicht notwendigerweise die „wahre“ Form der aggregierten Produktionsfunktion wiedergibt, sondern lediglich alle bislang aufgeführten Bedingungen erfüllt. Da diese Funktion somit auf klassischen Annahmen beruht, wird sie auch in diesem Buch Anwendung finden.
3.2.1.3 Dynamische Theorie Indem wir lediglich angenommen haben, dass alle Produktionsfaktoren effizient verwendet werden, wurde bislang keine Annahme über die potenziellen dynamischen Effekte zwischen den Produktionsfaktoren und den Produktionserträgen, welche aus der Arbeitsteilung resultieren, getroffen. Diesbezüglich betonte Smith: Der Großteil aller Verbesserungen der produktiven Kraft der Arbeit [Arbeitsproduktivität] […] scheint von den Effekten der Arbeitsteilung herzurühren.27
Um die zeitneutrale,28 statische Produktionstheorie um eine dynamische Wachstumstheorie zu erweitern, integrierten Solow (1956) und Swan (1956) die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion in Harrods (1939) und Domars (1946) intertemporalen Ansatz unter Verwendung der zentralen, dynamischen Kapitalakkumulationsgleichung Kt+1 = sYt + (1 − δ)Kt oder, in Einheiten pro Arbeit ausgedrückt, als α Kt Kt Kt+1 (3.2) =s + (1 − δ) , L L L mit Zeitindex t für das entsprechende Jahr, jährlicher Sparrate s und jährlicher Kapitalabschreibungsrate δ. In Bezug auf die kausalen Beziehungen zwischen den Produktionsfaktoren wird mit diesem Modell angenommen, dass der Arbeitsbetrag exogen vergegeben ist, während sich der Kapitalbetrag über den Zeitverlauf hinweg anpasst. Demnach wird also vorausgesetzt, dass das Niveau der Arbeit nicht durch Kapitalveränderungen beeinflusst wird, während
27Smith
(1776), Buch I, Kapitel I. Kursive Markierung durch den Autor [TL]. Zeitdimension schlägt sich negativ in allen von uns diskutieren Zahlen nieder. Land ist die Nutzung von Land pro Zeiteinheit. Arbeit ist die Anzahl gearbeiteter Stunden pro Zeiteinheit usw. Aber die Universalität dieser Bedingung ermöglicht es uns, ihr keine spezielle Beachtung schenken zu müssen.“ Wicksteed (1894), S. 20, Fußnote.
28„Die
38
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
eränderungen im Arbeitsbetrag allgemein Veränderungen im Kapitalbetrag V bewirken können. Das Kalkül hinter der Verwendung von Arbeit als exogener Variable im Gegensatz zu Kapital (und damit allen anderen Produktionsfaktoren) kann wiederum auf die klassischen Ökonomen zurückgeführt werden, im Speziellen auf Locke (1689) und J. R. McCulloch29 (1863); Locke betrachtete in seinen Darstellungen Arbeit als die einzige Ursprungsquelle jeglichen (Produktions-)Wertes, ohne welche Kapital wertlos sei: „Es ist demnach die Arbeit, welche dem Land den größten Teil seines Wertes zuweist und ohne welche es kaum einen Wert hätte. Sie ist es, welcher wir den größten Teil unserer nützlichen Produkte schulden.“ […] Locke hat hier tatsächlich das fundamentale Prinzip etabliert, auf welchem die [Wirtschafts-]Wissenschaft basiert. Hätte er seine Analyse fortgesetzt, hätte er sicher nicht übersehen, dass weder Wasser, Blätter, Felle noch irgendeine spontane Produktion der Natur irgendeinen Wert besitzt, außer demjenigen, welchen sie aufgrund der zu ihrer Aneignung erforderlichen Arbeit erhalten. Der Nutzen dieser Produkte erhöht die Nachfrage nach ihnen; jedoch weist dieser ihnen keinen Wert zu. Dieser ist eine Qualität, welche einzig durch willentliche Arbeit jeglicher Art kommuniziert werden kann. […] Der Besitz aller Dinge von Wert ist somit einzig der Arbeit geschuldet.30
Aus diesem Grund können dynamische Veränderungen der Arbeitsproduktivität als Reaktion auf einen exogenen Arbeitsschock modelliert werden. Als Ausgangspunkt des Solow-Modells nehmen neoklassische Ökonomen vernünftigerweise ein statisches Gleichgewicht an, in welchem kein Kapital akkumuliert wird und daher die Kapitalabschreibung der Ersparnis gleicht, d. h., für Kt+1 = Kt = K gilt α K K (3.3) δ =s . L L Das sich durch ∗ Auflösen ergebende „Steady-State-Gleichgewicht“ des Kapitals pro Arbeit KL = KL00 ist auf der x-Achse in Abbildung 3.1 dargestellt (gL 2 wird vorerst ignoriert).
29John
Ramsay McCulloch (1779–1864), britischer Professor für Politische Ökonomie an der London University, Comptroller of Her Majesty’s Stationary Office. 30Locke (1689), „Of Civil Government“, Buch ii, §§ 42, 43; in McCulloch (1863), Teil I, Kapitel I, Abschnitt II.
3.2 Die klassische Produktionstheorie
39
Abbildung 3.1 Eine Reduzierung des Arbeitswachstums im Solow-Modell
In dieser Situation wird ein positiver statischer Arbeitsschock das Kapital pro Arbeit auf KL10 senken. Da in diesem Punkt die Ersparnis über der Kapitalabschreibung liegt, wird daraufhin zusätzliches Kapital akkumuliert und das Kapital pro Arbeiter konvergiert zurück zu seinem ursprünglichen Steady State, sodass KL00 = KL11 mit K1 > K0 und L1 > L0 gilt. Daraus ergibt sich, dass, obwohl die Arbeitsproduktivität aufgrund abnehmender Erträge kurzfristig reduziert worden ist, eine wachsende Arbeiterschaft in der Lage zu sein scheint, langfristig einen größeren Betrag an Kapital zu akkumulieren und aufrechtzuerhalten. Dieser Anstieg des Kapitals reflektiert die abstrakten „Erträge“ einer Arbeitsteilung, welche im nächsten Abschnitt detaillierter untersucht werden. Derselbe Mechanismus wirkt umgekehrt, wenn der Betrag der Arbeit sinkt. In diesem Fall würde eine relative Arbeitsknappheit die Arbeitsproduktivität kurzfristig erhöhen, ohne dass man jedoch in der Lage wäre, den alten Kapitalbetrag langfristig zu erhalten. Als allgemeines Resultat kann also geschlussfolgert werden, dass auf jede Veränderung der Variablen Arbeit langfristig eine proportionale Veränderung der Variablen Kapital folgt, sodass wir, ausgedrückt in Wachstumsraten, festhalten können:
gY = αgK + (1 − α)gL = gL ,
(3.4)
40
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
wobei gY , gK und gL die Wachstumsraten der Produktion bzw. des Kapitals und der Arbeit bezeichnen.31 Hiernach bliebe die Arbeitsproduktivität YL nach einem Arbeitsschock langfristig konstant, da gY /L = gY − gL = 0. Es wird oft argumentiert, dass das konventionelle Solow-Modell unvollständig sei, da es keine langfristigen Veränderungen in der Arbeitsproduktivität modellieren zu können scheint.32 Bei dieser Behauptung wird jedoch der entscheidende Effekt übersehen, bei welchem man von einer potenziellen Änderung des Arbeitswachstums ausgeht. Angenommen, Arbeit würde in jeder Periode t mit derselben konstanten Rate gL = Lt+1L−L wachsen, so ergäben sich hieraus ein t modifiziertes dynamisches Akkumulationsgesetz sowie ein modifizierter SteadyState-Wert für die Arbeitsproduktivität: α α 1−α ∗ Kt Y s Kt Kt+1 = (1 − δ) + s ⇐⇒ = . (1 + gL ) (3.5) Lt+1 Lt Lt L δ + gL Da ein höheres Arbeitswachstum den Steady-State-Wert der Arbeitsproduktivität nach Gleichung (3.5) also senkt, stellt sich heraus, dass ein exogener Rückgang des Arbeitswachstums von gL1 auf gL2 (siehe Abbildung 3.1) durchaus in der Lage ist, einen Arbeitsproduktivitätsanstieg zu bewirken.
3.2.2 Eine Produktionstheorie basierend auf dem Faktor Bevölkerung 3.2.2.1 Statische Theorie: Das Prinzip abnehmender Erträge Um die Gültigkeit des obigen Modells zu testen, existieren im Allgemeinen – wie wir im letzten Kapitel gesehen haben – langfristige empirische Schätzungen für die Produktion Yt. Da das generalisierte Kapital Kt sowie dessen Produktionselastizität α jedoch nur als Residualwert Ktα berechnet werden können, benötigen wir empirische Werte für die Arbeit Lt sowie für die Produktionselastizität der Arbeit (1 − α). Um diese messen zu können, müssen zunächst die beiden grundsätzlichen Fragen beantwortet werden, wie Arbeit in der Theorie definiert ist
31Wie Solow betonte: „[D]ie herkömmliche Wachstumsrate ist lediglich die exogen vorgegebene Wachstumsrate der Arbeitskräfte.“ Solow (2001), S. 357. 32Als eine direkte Konsequenz wurde der zusätzliche Faktor „Technologie“ (Solow 1956) bzw. das „Maß unserer Ignoranz“ (Abramowitz 1956) in Form des sogenannten „SolowResiduums“ eingeführt.
3.2 Die klassische Produktionstheorie
41
und in welchen Einheiten sie folglich in der Empirie gemessen werden sollte. Hinsichtlich der Theorie werde ich erneut der klassischen Sichtweise folgen, nach welcher Senior Arbeit als die willentliche Ausübung körperlicher oder mentaler Fähigkeiten zum Zweck der Produktion33
definierte.34 Eine solche Definition umfasst die Qualität und die Quantität von Arbeit oder, um eine moderne Begrifflichkeit zu verwenden, qualifizierte und unqualifizierte Arbeit. Empirisch wurde die erste auf der aggregierten Produktionsfunktion beruhende Auswertung von Wirtschaftswachstum von Cobb und Douglas (1928) durchgeführt. Die Autoren berechneten den empirischen Anteil des Arbeitseinkommens am Gesamteinkommen als Produktionselastizität der Arbeit (1 − α), d. h. in Arbeitseinheiten, maßen allerdings problematischerweise den Produktionsfaktor L in Einheiten von Arbeitern, mit dem folgenden Vorbehalt:35
33Senior
(1836), S. 152. Weiteren schien McCulloch ausreichend differenziert zu haben, inwiefern Arbeit als Teil des Produktionsprozesses betrachtet werden muss: „Solange ein Individuum sich auf eine Art und Weise beschäftigt, welche anderen nicht schadet, und damit das Ziel erreicht, welches es beabsichtigt, solange ist seine Arbeit offensichtlich produktiv; sollte er dagegen sein Ziel nicht und auch keine andere Art von äquivalentem Vorteil aus seiner Beschäftigung erreichen, ist seine Arbeit offensichtlich unproduktiv. Diese Definition erscheint ausreichend deutlich und führt zu keiner Verworrenheit. […] Es ist nicht möglich, irgendeine andere [Definition] zu übernehmen, ohne sich dabei in endlose Schwierigkeiten und Widersprüche zu verstricken.“ McCulloch (1863), Teil 1, Kapitel 1, Abschnitt 2. 35Die Berechnung erfolgte mithilfe von Wicksteeds „Produktionserschöpfungstheorem“: Da F(K, L) homogen vom Grad 1 ist, kann das Euler-Theorem wie folgt angewandt werden, wobei r das Grenzprodukt des Kapitals und w das Grenzprodukt der Arbeit repräsentieren: 34Des
Y = F(K, L) = K α L 1−α =
∂Y ∂Y wL K+ L = αY + (1 − α)Y = rK + wL ⇐⇒ 1 − α = . ∂K ∂L Y
„[U]nter normalen Wettbewerbsbedingungen ist es nachvollziehbar oder approximativ korrekt, dass, wenn jeder Produktionsfaktor mit seiner Grenzeffizienz oder -signifikanz vergütet wird, die vollständige Produktion genau [auf diese Faktoren] verteilt werden kann.“ Wicksteed (1894), S. 38.
42
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation Mit einem solchen Index [L] werden natürlich keine möglichen Veränderungen der Arbeitsqualität in Betracht gezogen […]. Wenn diese gemessen werden können, sollten sie eingeschlossen werden.36
Trotz dieses Vorbehaltes scheinen aktuelle empirische und theoretische Ansätze nach wie vor irrigerweise Cobbs und Douglas’ provisorisches Modell zu verwenden und dabei weiterhin die Produktionselastizität der Arbeit mit der der Anzahl der Arbeiter zu verwechseln, ohne die (Arbeits-)Qualität der Arbeiter zu berücksichtigen.37 Um diesen Defekt zu beseitigen, könnten wir zunächst von Neuem darüber sinnieren, ob heute ein Maß für Arbeit existiert, bei dem sowohl die Quantität als auch die Qualität der Arbeit miteinbezogen werden kann.38 Da wir jedoch feststellen werden, dass es nach wie vor nicht möglich ist, die Arbeitsqualität in allgemein gültigen Einheiten zu messen, ohne dabei fantastische Annahmen zu treffen, erscheint es weitaus vielversprechender, sich auf ein theoretisches Konzept zu konzentrieren, welches lediglich die Quantität der Arbeit aus allen Produktionsfaktoren herausfiltert. Ich werde daher nun die notwendigen Anpassungen für ein Solow-Modell, basierend auf unqualifizierter Arbeit als zentraler Variablen, diskutieren. Im Gegensatz zu Cobb und Douglas, welche die Anzahl der Arbeiter als Maßzahl für den Betrag unqualifizierter Arbeit verwendeten, wird in diesem Buch durchgängig die Anzahl der Einwohner herangezogen, konzentriert sich unsere Wachstumsanalyse doch auf die Variable Produktion pro Kopf, d. h. auf Bevölkerungsproduktivität anstelle von Arbeitsproduktivität. Da sich Bevölkerung und Anzahl an Arbeitern empirisch und theoretisch langfristig weitgehend proportional zueinander verhalten, scheint dieser Ansatz gerechtfertigt zu sein. Darüber hinaus wird diese Vorgehensweise die nachfolgende ökonomische und ökonometrische Analyse wesentlich vereinfachen. Um die unqualifizierte Arbeit aus dem gesamten Betrag der Arbeit herauszufiltern, werde ich den Produktionsfaktor, welcher die Quantität der Arbeit
36Cobb
und Douglas (1928), S. 149. verwenden Barro und Sala-i-Martin (2003), S. 27–28, Arbeitseinheiten anstelle von Einheiten von Arbeitern, Hilfsarbeitern oder Bevölkerung, um die Produktion pro Arbeiter und die Produktion pro Kopf zu kalkulieren. 38Bedauerlicherweise wurde neben der Cambridge-Kapitalkontroverse, in der die korrekte Messung des Produktionsfaktors Kapital infrage gestellt wird, keine weitere derartige Debatte zum empirischen Gebrauch des Produktionsfaktors Arbeit geführt. 37Beispielsweise
3.2 Die klassische Produktionstheorie
43
wiedergibt, als Bevölkerung N bezeichnen, wohingegen der verbleibende Faktor, welcher die residuale Qualität der Arbeit abbildet, Humankapital H genannt wird. Für letzteren Faktor wird also lediglich angenommen, dass er jegliche angeeignete produktive Fähigkeit mit Ausnahme unqualifizierter Arbeit umfasst. Wie jeder andere Produktionsfaktor müssen Humankapital und Bevölkerung notwendigerweise statisch abnehmende Erträge aufweisen. Hieraus lässt sich unser erstes universelles Prinzip, „das Prinzip der abnehmenden Erträge der Bevölkerung“ (engl. Principle of Diminishing Returns, im Folgenden abgekürzt mit „PoDR“), ableiten. Folgen wir Mankiws u. a. (1992) Erweiterung des SolowModells, so lässt sich die Produktionsfunktion mit der getroffenen Unterteilung wie folgt ausdrücken:39
Y = K α L 1−α = K α H β N 1−α−β mit 0 < α, β, (1 − α − β) < 1
3.2.2.2 Dynamische Theorie: Das Prinzip der Arbeitsteilung Auf der Grundlage der neuen statischen Produktionsaufteilung werde ich nun erneut die Beziehungen zwischen den Produktionsfaktoren untersuchen und das aktuell populäre Konzept dynamischer „Technologie“ miteinbeziehen. Im vorletzten Abschnitt wurde angenommen, dass die entscheidende kausale Beziehung von Arbeit, der Ursprungsquelle allen Wertes, zum Kapital hin verläuft. Wir werden sehen, dass sich diese Beziehung auf die Variable Bevölkerungswachstum als Ursprungsquelle aller Humankapital- sowie Kapitalakkumulation übertragen lässt – ein Resultat, welches aus einer detaillierteren, mikroökonomischen Interpretation von Smiths dynamischen Effekten der Arbeitsteilung hergeleitet werden kann. Zunächst gehen wir davon aus, dass jeder Mensch mit den gleichen Fähigkeiten geboren wird und dass jeder Arbeiter sich auf die gleiche Art und Weise sowohl produktive Fähigkeiten als auch produktives Kapital über seinen Lebenszeitraum aneignet, um seine individuelle Produktion zu optimieren. Zudem entscheiden sich Individuen im Allgemeinen freiwillig für den Eintritt in eine Ökonomie der Arbeitsteilung, welche die nachfolgenden Vorteile mit sich bringt: Die Vorteile, welche sich aus der Arbeitsteilung gewinnen lassen, wurden von Smith drei unterschiedlichen Umständen zugeschrieben. „Erstens der Verbesserung der
39Die
vorliegende Arbeit weicht in zwei wichtigen Punkten von Mankiws u. a. (1992) Modell ab: In ihr findet der Faktor Bevölkerung anstelle von Arbeit Verwendung, und eine totale Faktorproduktivität wird, Wicksteeds (1894) Ansatz folgend, explizit nicht modelliert.
44
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation Fähigkeiten jedes einzelnen Arbeiters; zweitens der Zeitersparnis, welche üblicherweise beim Übergang von einer Art von Arbeit zu einer anderen verloren geht, und zuletzt der Erfindung einer großen Anzahl an Maschinen, welche die Arbeit erleichtern und schneller vonstattengehen lassen und einem Mann erlauben, die Arbeit vieler durchzuführen.“40
Tatsächlich können diese Vorgänge den Produktionsprozess erschöpfend erklären, da sie sich explizit auf die drei einzigen Faktoren N, H und K beziehen. Allgemein lassen sich diese Vorteile auf die Erträge aus der Spezialisierung reduzieren. Erstens ist die „Zeitersparnis“ nichts weiter als die Spezialisierung innerhalb eines geschlossenen Territoriums. Es ist offensichtlich, dass, sobald neue Individuen in die Arbeitsteilung eintreten, die Ökonomie dichter bevölkert wird und dass die effiziente geografische Verteilung der Individuen jegliche Art von Transportkosten zwischen den Produktionsprozessen reduzieren hilft. Dieser Vorteil reflektiert lediglich den statischen Gebrauch des Faktors N und schließt damit abnehmende Erträge aufgrund des relativen Überschusses dieses Faktors ein. Zweitens ist die „Verbesserung der Fähigkeiten“ der Spezialisierung über einen gewissen Zeithorizont hinweg geschuldet. Wird derselbe Produktionsprozess regelmäßig durchgeführt, so werden die Individuen aufgrund ihrer Lernfähigkeit dazu tendieren, nach und nach ihre produktiven Fähigkeiten zu verbessern, und folglich ihre Erfahrung nutzen, um Spezialisten in ihrem Berufszweig zu werden.41 Da die qualifizierte Arbeit H nur durch die wiederholte Anwendung unqualifizierter Arbeit akkumuliert werden kann, darf das Bevölkerungswachstum gerechtfertigterweise als einzige Ursprungsquelle für Humankapitalakkumulation betrachtet werden. Drittens bezieht sich die „Erfindung einer großen Anzahl an Maschinen“ auf eine reguläre Tendenz zur Automatisierung spezialisierter Prozesse. Wann immer Produktionsprozesse in solch kleine Schritte unterteilt werden, dass ihre Wiederholung recht einfach von einem nichtmenschlichen Agenten durchgeführt werden kann, gibt es die Tendenz, qualifizierte und unqualifizierte Arbeit H und N durch Kapital K zu ersetzen. Folglich lässt sich feststellen, dass die Akkumulation eines jeden Produktionsfaktors im Gebrauch unqualifizierter Arbeit verwurzelt ist, approximiert durch den Faktor Bevölkerung. Jeder Bevölkerungsanstieg wird
40Smith
(1776), in Senior (1836), S. 159. ist sehr viel wahrscheinlicher, dass Menschen einfachere und praktikablere Methoden entdecken, ihr gewünschtes Objekt zu produzieren, wenn sie die gesamte Aufmerksamkeit ihres Verstandes auf dieses eine Objekt richten.“ Smith (1776), Buch 1, Kapitel 1.
41„Es
3.2 Die klassische Produktionstheorie
45
demnach den Betrag anderer Produktionsfaktoren erhöhen, was wiederum die Produktion Y erhöht. Aufgrund der Annahme konstanter Skalenerträge können wir zudem von einer proportionalen Erhöhung von H, K und Y nach einem Anstieg von N ausgehen – ein Sachverhalt, welchen ich im Folgenden als „Prinzip der Arbeitsteilung“ (engl. principle of labor division, im Folgenden abgekürzt mit „PoLD“) bezeichnen werde. Daher können wir festhalten, dass anstelle von Arbeit tatsächlich die Bevölkerung „der Ausgangs- und Endpunkt jeglicher ökonomischen Aktivität“,42 die Ursprungsquelle allen Wertes und der einzige reguläre Auslöser von Wirtschaftswachstum ist. „Somit ist der Prozess der Bevölkerung essenziell“,43 und wir sollten jede Untersuchung zum Wirtschaftswachstum mit einer Analyse jedweder vorheriger Bevölkerungsveränderung beginnen. Da also die demografische Produktionstheorie die einzige Sichtweise ist, welche langfristiges Wirtschaftswachstum erschöpfend erklären kann, ist es auch die einzig gültige Position. Young (1928) schrieb hierzu: Seniors positive Lehre ist wohlbekannt, und es gab andere, welche den Umstand betonten, dass sich mit dem Wachstum der Bevölkerung und der Märkte neue Möglichkeiten für die Arbeitsteilung ergaben, welchen neue Vorteile anhafteten. Auf diese Weise, und nur auf diese Weise, wurden allgemeine, reguläre Veränderungen erzielt, welche sie als „Verbesserungen“ betrachteten.44
Aus Smiths theoretischen Betrachtungen der Vorteile aus einer Arbeitsteilung lassen sich zusätzliche statische und dynamische Interpretationen des Bevölkerungsmodells herleiten. Da Kapital K und Humankapital H nach dem Eintritt neuer Individuen in die Ökonomie auf dieselbe Art und Weise graduell proportional akkumuliert werden, dürfen wir annehmen, dass das Humankapital demselben Akkumulationsgesetz wie das Kapital unterliegt (δH = δK ≡ δ, sH = sK ≡ s) und in derselben komplexen Einheit gemessen werden kann. Demnach können wir von einem Modell Gebrauch machen, in welchem Bevölkerung N aus der unendlichen Anzahl an Produktionsfaktoren heraussepariert wird und Humankapital und physisches Kapital in ein und
42Bairoch
(1988), S. 127. (2012), S. 21. 44Young (1928), S. 529. 43Lange
46
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
d emselben komplexen Produktionsfaktor, dem des „generalisierten Kapitals 2.0“ oder „breiten Kapitals“ (engl. broad Capital) C, wie folgt aggregiert werden:45
Y = K α H β N 1−α−β ≡ C γ N 1−γ mit 0 < γ < 1 Analog zu Gleichung (3.5) lautet unser neues dynamisches Gesetz breiter Kapitalakkumulation folgendermaßen:
(1 + gN )
Ct+1 Yt Ct = s + (1 − δ) . Nt+1 Nt Nt
Da (exogene) Veränderungen der Bevölkerung die Ursprungsquelle aller Produktion sind, kann analog zum Solow-Modell geschlussfolgert werden, dass breites Kapital langfristig proportional auf Veränderungen des Faktors Bevölkerung reagiert. Daraus folgt wiederum, dass das Bevölkerungswachstum Kapitalwachstum und Wirtschaftswachstum auslöst, ohne allerdings die Produktion pro Kopf ansteigen zu lassen. Dennoch ist in diesem Modell wiederum Pro-Kopf-Wachstum möglich, wenn von einem Rückgang der Bevölkerungswachstumsrate ausgegangen wird. Der entsprechende stabile Steady State für CNt+1 = CNtt = NC ist gegeben durch t+1
Y N
∗
∗
=y =
s δ + gN
γ 1−γ
=
s δ+b−d
γ 1−γ
=
γ s 1−γ
b
,
wobei wir die konstante (natürliche) Bevölkerungswachstumsrate als Differenz zwischen Geburtenrate (b) und Sterberate (d)definiert haben.46 Außerdem wurde
45Intuitiv
folgt dies aus der Argumentation von Smith: „Die verbesserten Fähigkeiten eines Arbeiters können in demselben Licht betrachtet werden wie eine handelbare Maschine oder ein Instrument, welches die Arbeit ermöglicht und schneller vonstattengehen lässt und durch welches, wenngleich es gewisse Ausgaben verursacht, diese Ausgaben mit einem Profit zurückgezahlt werden.“ Smith (1776), Buch 1, Kapitel 1. 46Die Geburtenrate und die Sterberate – beide im Englischen allgemein als vital rates (Vitalraten) bezeichnet – sind definiert als die Verhältnisse von Geburten bzw. Sterbefällen zur Gesamtbevölkerungsgröße in einem gegebenen Jahr. Da die natürliche Veränderung der Bevölkerung durch N = Births − Deaths = B − D bestimmt ist, kann die (natürliche) Bevölkerungswachstumsrate über gN = N = B−D = b − d berechnet werden. N N
47
3.2 Die klassische Produktionstheorie
die vereinfachende Annahme getroffen, dass langfristig δ = d gilt, da die Fähigkeiten einer Bevölkerung ebenso wie die (unqualifizierte) Bevölkerung selbst langfristig in Höhe der Sterberate „abgeschrieben“ werden (δ = δH = δN = d).47 Sollte die (exogene) Geburtenrate nun über den Zeitverlauf variieren, so würde das Produktivitätsverhältnis zwischen zwei aufeinanderfolgenden Steady States von den Schwankungen der Geburtenrate abhängen:48
yt∗ = ∗ yt−j
bt−j bt
γ 1−γ
mit 0 < γ < 1.
(3.6)
Alles in allem erlaubt uns diese „einheitsfreie“ intertemporelle Repräsentation des Produktivitätswachstums, zwischen den beiden in der Produktionstheorie grundsätzlich widerstrebenden Effekten von Bevölkerungswachstum zu unterscheiden. Während der Zähler der rechten Seite von Gleichung (3.6) einen positiven Effekt auf das Produktivitätswachstum ausübt und damit die Vorteile der Arbeitsteilung repräsentiert, beeinflusst der Nenner das Produktivitätswachstum zum gleichen Zeitpunkt negativ und bildet damit die Verluste durch abnehmende Erträge ab. Letztlich lässt sich die Bevölkerungsfrage auf diese beiden gegenläufigen Kräfte reduzieren, welche den grundlegenden Konflikt beschreiben, auf dessen Basis wir Bevölkerungswachstum ökonomisch beurteilen müssen. Die „Bevölkerungsfrage“ […] wird dann also letztlich darauf hinauslaufen, eine Balance zu finden zwischen der Bedeutung, welche ein Mann anderen freien Männern beimisst, wenn er sie als Werkzeuge betrachtet, und der Bedeutung dessen, welchen Raum diese anderen Männer für sich besetzen. Ist ihr Gebietsanspruch [Effekte aus abnehmenden Erträgen] oder ihre Gesellschaft [Effekte aus Arbeitsteilung] wichtiger?49 47Falls
die Sterberate auf null fällt (und die Geburtenrate positiv bleibt), so ist offensichtlich, dass die Bevölkerung ins Unendliche wächst, ebenso wie Humankapital und physisches Kapital. Wenn die Bevölkerung jedoch aufgrund einer hohen Sterberate stark „abgeschrieben“ wird, so wird im selben Maße H abnehmen, und da keine Aufrechterhaltung von K mehr möglich ist, wird es folglich ebenso abgeschrieben. Für gewöhnlich liegt sowohl die Abschreibungsrate als auch die Sterberate im Intervall [0, 01; 0, 04] (siehe auch Mankiw u. a. 1992, S. 410). Derartige Beobachtungen führen zu dem Schluss, dass sich Sterberate und Abschreibungsrate langfristig proportional zueinander verhalten. 48Der Autor ist sich des großen Umfangs der Literatur zur endogenen Ersparnis durchaus bewusst. Allerdings sollte diese Frage von der Bevölkerungsfrage differenziert behandelt werden. Wir werden daher in diesem Buch von einer konstanten aggregierten Ersparnis ausgehen. 49Wicksteed (1894), S. 22, Fußnote.
48
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
Abbildung 3.2 Ein Anstieg des Bevölkerungswachstums im Solow-Modell
Aus Gleichung (3.6) geht zudem hervor, dass die Steady-State-Wachstumsrate der Produktivität weder durch die Größe der Bevölkerung noch durch das Bevölkerungswachstum selbst determiniert wird. Stattdessen wird sie durch das (invertierte) Wachstum des Bevölkerungswachstums bestimmt. In Abbildung 3.2 wird gezeigt, dass, wann immer die Geburtenrate ansteigt, die Verluste durch abnehmende Erträge dazu tendieren, die Gewinne aus Arbeitsteilung zu überwiegen und Produktivitätsverluste zu bewirken. Dass dieser Sachverhalt die Grundlage für Thesen der Überbevölkerung aufgrund abnehmender Erträge lieferte, erscheint offensichtlich.
3.2.2.3 Rekapitulation: Eine Produktionstheorie basierend auf Arbeitsteilung und abnehmenden Erträgen In dieser abgekürzten Version einer klassischen Produktionstheorie wurde das konventionelle Solow-Modell durch die Wiederaufbereitung klassischer Annahmen modifiziert: Erstens wurde der Produktionsfaktor Arbeit durch den Produktionsfaktor Bevölkerung ersetzt. Zweitens wurde „Technologie“ in diesem Modell nicht exogen, sondern endogen berücksichtigt. Jede Verbesserung, welche gewöhnlicherweise sehr lose als „Maß unserer Ignoranz“ bezeichnet wird, ist im Produktionsfaktor „breites Kapital“ eingeschlossen. Anstatt Innovationen explizit
3.2 Die klassische Produktionstheorie
49
zu modellieren, beruhte die Darstellung insbesondere auf der folgenden Hypothese: Während die statische Produktionsfunktion auf Smiths Annahme einer effizienten Arbeitsteilung zurückgeht, basiert die theoretische Akkumulation von Produktionsfaktoren auf den von Smith genannten Vorteilen der Arbeitsteilung, durch welche Innovationen aufgrund von räumlicher und zeitlicher Spezialisierung sowie aufgrund von Automatisierung repetitiver Arbeitsprozesse generiert werden. Drittens werden einer wachsenden Bevölkerung bei Konstanthaltung aller anderen Produktionsfaktoren im Allgemeinen abnehmende Erträge zugeschrieben, i. e. eine Senkung der Produktion pro Kopf. Die mathematische Formulierung dieses Effekts wird durch den von Wicksteed (1894) entwickelten und von Cobb und Douglas (1928) popularisierten Gebrauch einer statischen Produktionsfunktion abgebildet. Da allerdings viertens diese abnehmenden Erträge im Zeitverlauf nach und nach durch eine zunehmende Arbeitsteilung kompensiert werden, kann die „Bevölkerungsfrage“ mit der Feststellung beantwortet werden, dass jeder Anstieg der Bevölkerung langfristig einen neutralen Einfluss auf die Produktivität ausübt. Um eine klare empirische Abgrenzung zwischen dem statischen Effekt abnehmender Erträge (PoDR) und dem dynamischen Effekt der Arbeitsteilung (PoLD) auf die Produktion zu ermöglichen, wird im Folgenden lediglich ein stark vereinfachtes klassisches Modell konstruiert. Erstens wird angenommen, dass das PoDR einen negativen „sofortigen“ (statischen) kausalen Effekt des Bevölkerungswachstums auf das Produktivitätswachstum reflektiert, welcher offensichtlich als der entscheidende ausgelassene Faktor des kremerschen Modells gelten kann. Dieser negative Effekt wird als simultane Beziehung zwischen Produktivität y und Bevölkerungswachstum gN modelliert, wobei Letzteres auf die Veränderungen der Geburtenrate b reduziert wird. Der resultierende Effekt, durch welchen ein neugeborenes Individuum per Definition zum selben Zeitpunkt die durchschnittliche Produktivität beeinflusst, wird dar∂g gestellt mit ∂bytt < 0. Zweitens setzt das PoLD den Produktionsfaktor Bevölkerung in eine positive Beziehung zu seinem Produktionsniveau und bildet damit die aus der Arbeitsteilung resultierenden Vorteile ab. Der Effekt des PoLD kann grob analog zur kremerschen (1993) (oder boserupschen 1965) Idee interpretiert werden, der zufolge eine größere Bevölkerung die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung produktiverer Innovationen erhöht. Gleichwohl ist Smiths Prinzip weniger dem Zufall geschuldet als vielmehr die logische Konsequenz eines zunehmenden Spezialisierungsprozesses.
50
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
Zeitlich wird ein Bevölkerungsanstieg die Vorteile aus zunehmender Arbeitsteilung nicht sofort (d. h. nicht im selben Jahr), sondern mit einer Verzögerung sichtbar werden lassen. Die minimale Verzögerung, im Zuge derer ein positiver Produktionsanstieg als Reaktion auf einen Bevölkerungsanstieg erzeugt wird, ist die für eine grundlegende Ausbildung reservierte Zeitspanne, welche der nachfolgenden Generation erlaubt, ihre unqualifizierte Arbeitskraft in der Ökonomie einzusetzen, d. h. „produktiv“ zu sein. Da der vollständige positive Effekt von Bevölkerungswachstum auf die Produktion über graduelle Humankapital- und Kapitalakkumulation in der Realität über die komplette Lebensdauer der Individuen hinweg verteilt ist, ist dieser nicht einfach darzustellen. Der Einfachheit halber und da es für eine Illustration der Rolle des PoLD im klassischen Modell ausreichend erscheint, wird im Folgenden lediglich der Effekt einer einzigen Geburtenkohorte pro Generation in unserem Modell berücksichtigt. Des Weiteren treffen wir die vereinfachende Annahme, dass alle Vorteile einer effizienten Arbeitsteilung (H - und K -Akkumulation) innerhalb des ersten Jahres realisiert werden, in welchem ein Individuum in den Arbeitsmarkt eintritt. Daher wird die Wachstumsrate eines gegebenen Jahres zusätzlich zu der ∂gyt > 0 bestimmt, wobei g die Dauer der Verzögerung obigen Beziehung über ∂bt−g beschreibt. Die beiden Prinzipien lassen sich wie folgt formulieren: erstens, dass in dem Moment des Eintritts in die Ökonomie jedes zusätzliche Individuum die Produktion pro Kopf senken wird (PoDR); zweitens, dass mit einer Verzögerung von etwa einer Generation die Produktion pro Kopf positiv und proportional auf einen Bevölkerungsanstieg reagiert, unter der Bedingung, dass der hinzugewonnene Teil der Bevölkerung an der Arbeitsteilung der Ökonomie teilnimmt (PoLD). Gegenwärtig wird, um eine simple lineare Beziehung der Produktionstheorie zu heranzuziehen, Gleichung (3.6) auf die folgende Repräsentation reduziert:
3.3 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 1: Das Bevölkerungsprinzip Bevölkerung ist, wie wir zugeben müssen, eines von zahlreichen Phänomenen, welche dazu dienen, uns daran zu erinnern, dass der Mensch sich auf Dauer lediglich der Wahl des geringeren Übels gegenübersieht. Wie auch immer er
3.3 Die klassische Bevölkerungstheorie …
51
geschaffen sein mag, sein Leiden ist Teil seiner Vorsehung. […] Es ergibt keinen Sinn, gegen diese Ordnung der Dinge zu rebellieren, denn sie umgibt uns; sie ist die Atmosphäre, in welcher wir leben und atmen; und mit den Alternativen der Beschränkung und der Prävention vor Augen, welchen wir nicht trotzen können und welche wir nicht aus dem Blick verlieren dürfen, fahren wir fort mit Malthus und der Thematik der Bevölkerung.50
Im letzten Abschnitt setzten wir die Exogenität der Bevölkerungswachstumsrate und die Endogenität der Produktionswachstumsrate voraus. Da hiermit der Einfluss der Bevölkerung auf die Produktivität modelliert wurde, wird in diesem Abschnitt nun zur Bestimmung des Einflusses der Produktivität auf die Bevölkerung das dritte klassische Prinzip definiert. Zuallererst muss jede klassische Bevölkerungstheorie auf dem Bevölkerungsprinzip von Malthus aufbauen. Im Gegensatz zum PoDR und zum PoLD wird dieses dritte Prinzip sehr viel seltener in neoklassischen Modellen verwendet. Daher liefert dieser Abschnitt eine neue, einleitende Darstellung des Bevölkerungsprinzips. Als ein Nebenprodukt werden vorherrschende Fehlinterpretationen korrigiert. Da in der Literatur in Bezug auf die Ausdrücke „Bevölkerungsprinzip“ und „malthusianische Falle“ einige Verwirrung zu bestehen scheint, wird auch dieser Unterschied erläutert werden. Um sich so nah wie möglich an Malthus’ eigenen, unverzerrten Gedanken zu orientieren, werden die nachfolgenden Ausführungen mit den entsprechenden Zitaten untermauert. Zudem ist es die Überzeugung des Autors, dass die Bedeutung des Prinzips am gründlichsten erfasst werden kann, indem Malthus’ intellektueller Einfluss auf einige der einflussreichsten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts ebenfalls anhand von zeitgenössischen Zitaten nachvollzogen wird.
3.3.1 Das Potenzial des Bevölkerungswachstums Malthus’ (1798) erste wichtige Prämisse zur Bevölkerungstheorie bestand in der Annahme, dass jede Bevölkerung das Potenzial besäße, exponentiell („in einem geometrischen Verhältnis“) zu wachsen. Obwohl diese These zunächst in den ersten Jahren nach ihrer Erscheinung kontrovers debattiert worden war, wurde sie bald darauf positiv aufgenommen. So beginnt etwa Seniors Übersicht der klassischen Bevölkerungstheorie mit der Aussage:
50Bastiat
(1860), S. 400.
52
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation Es wird nun allgemein zugegeben – tatsächlich ist es befremdlich, dass es jemals erforderlich gewesen ist, darauf hinzuweisen –, dass jede Spezies, ob Pflanze oder Tier, welche zu einer Zunahme imstande ist, […] zu einer konstant zunehmenden Zunahme in der Lage ist.51
Auf ähnliche Weise misst Mill (1848) dem Potenzial des Bevölkerungswachstums eine wichtige Rolle in seinen „Principles“ zu: Bezüglich dieser Eigenschaft organisierter Wesen bildet die menschliche Spezies keine Ausnahme. Ihr Potenzial zur Zunahme ist indefinit, und die tatsächliche Vermehrung wäre außergewöhnlich rapide, wenn dieses Potenzial in vollem Umfang ausgeschöpft werden würde.52
Zu Illustrationszwecken wird die nachfolgende Projektion das Potenzial eines (hypothetischen) unregulierten, exponentiellen Bevölkerungswachstums abbilden. Schätzungsweise belief sich die globale menschliche Bevölkerung des Jahres 1804 auf etwa eine Milliarde Menschen.53 Wenn wir annehmen, dass die maximale Lebenserwartung 80 Jahre beträgt, was sicherlich nicht zu hoch angesetzt ist, und wir die maximale Fertilität mit etwa 16,7 Kindern pro Frau54 kalkulieren, implizieren diese Werte in einer stationären55 Bevölkerung eine Geburtenrate von 10,43 % und eine Sterberate von 1,25 %.56 Die maximale natürliche57 Bevölkerungswachstumsrate kann somit berechnet werden über
gN =
N B−D = =b−d N N
(3.7)
und beträgt demnach 9,19 %. Wenn also das Potenzial des Bevölkerungswachstums seit dem Jahr 1804 uneingeschränkt ausgeschöpft worden wäre, hätte
51Senior
(1836), S. 141. (1848), Buch I, Kapitel X. 53Vgl. z. B. Bloom u. a. (2003). 54Vgl. Livi-Bacci (2012), S. 12. 55Eine Variable mit konstantem Mittel und konstanter Varianz wird als stationär bezeichnet. 56In einer stationären Bevölkerung reflektieren Veränderungen in Geburten-/Sterberate akkurat die Veränderungen in Fertilität/Mortalität, und die invertierte Sterberate gibt die Lebenserwartung wieder. 57Die natürliche Bevölkerungswachstumsrate schließt Migration aus. Empirisch stellt Migration in der Mehrheit der Staaten nur einen kleinen Anteil des Bevölkerungswachstums dar. Sie wird daher in den meisten Arbeiten als vernachlässigbar eingestuft. 52Mill
3.3 Die klassische Bevölkerungstheorie …
53
die hierauf projizierte Bevölkerungsgröße im Jahr 2017 135.155.105 Milliarden Einwohner betragen, d. h., eine durchschnittliche Person hätte über 213 Jahre über 135 Millionen Nachkommen produziert.58 Für andere Spezies kann dieser Sachverhalt noch eindrucksvoller dargestellt werden. H. Spencer59 (1852) berichtet im Kontext des Bevölkerungswachstums über weitere Beispiele, welche das enorme Potenzial der Bevölkerung aufzeigen.60 Nichtsdestotrotz scheint der Großteil der jüngeren Diskussionen ganzheitlicher Wachstumstheoretiker systematisch übersehen zu haben, dass der Ausdruck „Potenzial des Bevölkerungswachstums“ lediglich dazu dienen sollte, einen Referenzpunkt auszumachen, welcher nur unter optimalen Umweltbedingungen realisiert würde, oder – wie es ein Ökonom heute nennen würde – unter optimalen ökonomischen Anreizen.
3.3.2 Die Tendenz zum Bevölkerungswachstum Nach der Feststellung des Potenzials des Bevölkerungswachstums erklärte Malthus zweitens, in welchem Ausmaß dieses in der Realität seine Wirkung entfaltete. Allerdings argumentierte er lediglich deduktiv, dass jede Bevölkerung eine „Tendenz“ zu exponentieller Vermehrung aufweise, ohne die zugrunde liegenden
58Der
Grund für unsere Neigung, diese Zahlen mit Unglauben und Skepsis aufzunehmen, mag darauf bezogen sein, dass unsere Vorstellungskraft auf Veränderungen beschränkt ist, welche im Laufe unseres Lebens stattfinden. Nach 80 Jahren hätte das Durchschnittspaar lediglich einen Nachwuchs von „nur“ 1000 Individuen erzeugt. Da wir langsam darin sind, graduelle Veränderungen wahrzunehmen, welche länger als wenige Generationen andauern, wird der Effekt der nachfolgenden 133 Jahre selten miteinberechnet und intuitiv unterschätzt. 59Herbert Spencer (1820–1903), britischer Anthropologe, Biologe, Soziologe, Mitherausgeber des Journals „The Economist“, nominiert für den Friedensnobelpreis im Jahr 1901 und für den Literaturnobelpreis im Jahr 1902 (abgelehnt). 60„Unter polygastrischen Mikroorganismen findet die spontane Teilung so schnell statt, dass von Prof. Ehrenberg kalkuliert wurde, nicht weniger als 368 Millionen könnten innerhalb eines Monats aus einem einzigen Paramecium [Wimperntierchen] produziert werden; und selbst diese erstaunliche Anstiegsrate wird von einer anderen Spezies weit übertroffen, für welche berechnet wurde, dass ein Individuum […] 170 Milliarden Organismen in vier Tagen generieren kann.“ Spencer (1852), § 3.
54
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
Motive zu untersuchen, welche jedes Individuum dazu veranlasst, Nachwuchs zu produzieren. Es blieb C. R. Darwin,61 aufbauend auf Malthus und Spencer, überlassen zu bemerken, dass sich der Ursprung hoher Vermehrungsraten auf genetisch variierende, vererbbare Charakteristiken zurückführen lasse: Die Fertilität jeder Spezies wird dazu tendieren zuzunehmen, da die fruchtbareren Paare eine größere Zahl an Nachkommen produzieren, welche aufgrund ihrer bloßen Zahl die beste Überlebenschance besitzen, und ihre Tendenz zu größerer Fertilität weiter übertragen wird.62
Somit kann eine hohe Reproduktionsrate als dominante evolutionäre Strategie jeder Spezies betrachtet werden, da sich die jeweilige Spezies, wenn sie dieser Strategie nicht folgen würde, nach einigen Generationen auf eine Minderheit der Erdbevölkerung reduzieren würde. Als Resultat des evolutionären Prozesses ist jedes Individuum mit einem starken Fortpflanzungstrieb ausgestattet. Darwin argumentierte mit einer Feststellung, welche Ökonomen als mikroökonomische Fertilitätstheorie bezeichnen würden: In der Betrachtung der Natur ist es überaus notwendig […], niemals zu vergessen, dass jedes einzelne organische Wesen bis zum Äußersten danach strebt, seine Zahl zu erhöhen.63
3.3.3 Die Grenzen des Bevölkerungswachstums Eine dritte Prämisse von Malthus bestand in der unbestrittenen Feststellung, dass der Raum sowie die physische Materie, welche die Erde bietet, limitiert seien. Der begrenzte Raum der Erde ist unzweifelhaft wohldefiniert, und da außerirdische Ressourcen bislang in keiner beträchtlichen Menge akkumuliert worden sind, werden wir auch der Endlichkeit der Ressourcen seit dem Beginn des Lebens bis zur heutigen Zeit zustimmen. Unter den Voraussetzungen, dass der Raum limitiert ist und dass eine Bevölkerung Platz beansprucht, ist es unbestreitbar, dass irgendein Punkt existiert, an welchem das Bevölkerungs-
61Charles
Robert Darwin (1809–1882), britischer Naturalist, Geologe, Biologe, Begründer der Theorie der Evolution durch natürliche und sexuelle Selektion, Mitglied der Royal Society. 62Darwin (1871), S. 319. 63Darwin (1859), Kapitel III.
3.3 Die klassische Bevölkerungstheorie …
55
wachstum zu einem Ende kommen muss. Praktisch gesprochen, sollte es offensichtlich sein, dass eine limitierte Versorgung zur Erhaltung aller Lebewesen vorhanden ist, welche Malthus im Falle der menschlichen Spezies als „Subsistenzmittel“ bezeichnete. Aus der Existenz dieser Ressourcenbeschränkung leitete er wiederum seine erste Proposition her: Die Bevölkerung ist notwendigerweise durch die Subsistenzmittel limitiert.64
3.3.4 Modellierung des Bevölkerungsprinzips Malthus kombinierte die Tendenz zum Bevölkerungswachstum mit der Existenz einer Ressourcenbeschränkung, um das „Bevölkerungsprinzip“ (engl. Principle of Population, im Folgenden „PoP“) zu formulieren: Nach dem Bevölkerungsprinzip besitzt die menschliche Rasse […] eine konstante Tendenz, ein Land vollständig bis an die Grenzen der Subsistenzmittel zu bevölkern; wobei mit diesen Grenzen die niedrigste Nahrungsqualität gemeint ist, mit welcher eine stationäre Bevölkerung ernährt werden kann.65
Definiert man die Subsistenzmittel als Produktion Y und das durchschnittliche individuelle Subsistenzniveau als Produktion pro Kopf y ≡ NY , würde der Effekt des Bevölkerungsprinzips dazu führen, dass der Nenner dazu tendieren würde anzusteigen, bis eine Ökonomie bis zu den Grenzen der Subsistenzmittel vollständig bevölkert wäre, was wiederum die Produktivität grob auf einem konstanten minimalen Subsistenzniveau halten würde. Wäre das Land einmal vollständig bevölkert, so wären demnach Veränderungen der Produktion entscheidend für die Bestimmung der Bevölkerungswachstumsrate. In seiner zweiten Proposition schrieb Malthus explizit: Die Bevölkerung nimmt unweigerlich zu, wann immer die Subsistenzmittel zunehmen […].66
Kontextualisiert man diese Proposition mit dem Potenzial des Bevölkerungswachstums, so kann das Bevölkerungsprinzip auch formuliert werden als die 64Malthus
(1826), Buch I, Kapitel I. in Senior (1836), S. 147. 66Malthus (1826), Buch I, Kapitel I. 65Malthus
56
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
Tendenz der Bevölkerung, proportional zu wachsen, wann immer die Produktion erhöht werde. Demnach wird die das PoP definierende Beziehung nachfolgend über einen positiven proportionalen Effekt der Produktion auf die Anzahl der Geburten modelliert werden. Es ist biologisch evident, dass sich ein positiver Wohlstandseffekt im Durchschnitt allerdings nicht früher als nach 9 Monaten auf die Anzahl der Geburten (B) auswirken kann, und unter der Annahme einer sehr kurzfristigen Fertilitätsentscheidung reagiert die Anzahl der Geburten durchschnittlich mit einer Verzögerung von etwa einem Jahr auf einen Subsistenzmittelschock, vereinfachend und indiziert dargestellt als Bt = Yt−1 . Unter Berücksichtigung der natürlichen Bevölkerungsveränderung kann das Bevölkerungsprinzip demnach wie folgt mathematisch dargestellt werden:
Nt = Bt − Dt + Nt−1 = Yt−1 − dt Nt−1 + Nt−1 .
(3.8)
Diese Gleichung kann in Pro-Kopf-Größen umgeschrieben werden, indem beide Seiten durch Nt−1 dividiert werden:
gNt =
Yt−1 Nt−1 − dt ⇐⇒ bt − dt = yt−1 − dt ⇐⇒ bt = yt−1 . Nt−1 Nt−1
(3.9)
Eine Reformulierung dieser Beziehung in Wachstumsgrößen führt zu
bt yt−1 = , bt−1 yt−2 was als lineare Beziehung in der Form
dargestellt werden kann. Wir haben also vorläufig das Bevölkerungsprinzip als bislang einzige Komponente der Bevölkerungstheorie solcherart modelliert, dass Veränderungen der Produktivität einen positiven Einfluss auf die Geburtenrate besitzen: ∂g∂by t > 0, wobei x den Zeitraum zwischen Fertilitätsentscheidung und t−x Geburt beschreibt.
3.4 Klassische endogene Wachstumstheorie: Die malthusianische Falle Das malthusianische Bevölkerungsgesetz ist eine der größten Errungenschaften des Denkens. Zusammen mit dem Prinzip der Arbeitsteilung lieferte es die Grundlage für die moderne Biologie und für die Evolutionstheorie; […] die Kritikpunkte,
3.4 Klassische endogene Wachstumstheorie: Die malthusianische Falle
57
welche gegen das malthusianische Gesetz und gegen das Gesetz der [abnehmenden] Erträge erhoben wurden, sind trivial und wertlos. Beide Gesetze sind unbestreitbar.67
Die aussagekräftigste Veranschaulichung und gleichzeitig überwältigende Evidenz des Zusammenwirkens der drei oben definierten Prinzipien ergeben sich aus deren Anwendung auf die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion. Darwin und A. R. Wallace68 entwickelten ihre Idee der natürlichen Selektion unabhängig voneinander, nachdem sie Malthus’ Buch zum Bevölkerungsprinzip gelesen hatten.69 Den ursächlichen Anstoß für den evolutionären Mechanismus machten sie neben genetischer Variation in einer konstanten Tendenz zur Überbevölkerung aus, durch welche die am wenigsten geeigneten Individuen aussortiert wurden.70 Wenn wir diesen Prozess der Evolution durch Überbevölkerung als erwiesen hinnehmen, muss er – zumindest zu irgendeiner frühen Zeit – ebenfalls auf die menschliche Spezies zugetroffen haben. Clark (2007) schlussfolgert sogar, dass die menschliche Evolution mindestens bis etwa 1800 n. Chr. denselben Gesetzen des Bevölkerungswachstums aller anderen Arten unterlag, womit er vor allem suggeriert, dass menschliche Wesen bis dahin nicht dazu in der Lage gewesen seien, ihre Zahl bewusst zu beschränken. Auf ähnliche Art und Weise wurde das Bevölkerungsprinzip in der klassischen Wirtschaftswissenschaft für die malthusianische Falle verantwortlich gemacht. North (2013) charakterisiert diese Erkenntnis als die „große dunkle Wolke über der Aufklärungsbewegung“. Zum besseren Verständnis dieser Folgerung werden wir in diesem Abschnitt zeigen, dass die malthusianische Falle alleine aus dem simultanen Wirken von PoDR, PoLD und PoP resultieren kann. Um die Universalität dieser Prinzipien zu untermauern, werden wir mit der Erläuterung einer nichtmenschlichen Ökonomie beginnen, welche einen niedrigen Grad der Arbeitsteilung aufweist, bevor wir uns der menschlichen Ökonomie mit einem hohen Grad von Arbeitsteilung zuwenden werden.
67V.
Mises (1949), S. 633. Russel Wallace (1823–1913), britischer Naturalist, Mitbegründer der Theorie der Evolution durch natürliche Selektion, Mitglied der Royal Society. 69„[…] Ich bemerkte beim Lesen von Malthus zur Bevölkerung, dass natürliche Selektion das unvermeidbare Resultat der schnellen Vermehrung aller organischen Wesen war […].“ Darwin (1868). 70Vgl. „exctinction of the unfit.” Wallace (1890), S. 337. 68Alfred
58
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
3.4.1 Bevölkerungsprinzip und abnehmende Erträge in der natürlichen Ökonomie Um das Zusammenwirken des Bevölkerungsprinzips mit dem Prinzip der abnehmenden Erträge darzustellen, werden wir zunächst den primitivsten Fall einer nichtmenschlichen Ökonomie mit einer fixen Ressourcenbeschränkung in den Blick nehmen, wobei angenommen wird, dass die Bevölkerung nicht in der Lage ist, ihre Subsistenzmittel künstlich zu erhöhen. Da außerdem oft angeführt wird, der Homo sapiens sei die einzige Spezies, welche imstande sei, Geburtenkontrolle zu betreiben, wird diese Art der Kontrolle gleichermaßen als nicht existent angenommen und zu einem späteren Zeitpunkt untersucht werden, nachdem die menschliche Ökonomie dargestellt sein wird. In dieser natürlichen Ökonomie bewirkt das Bevölkerungsprinzip also eine unbeschränkte, maximale Geburtenrate. Folglich kann sich der Bevölkerungsdruck, welcher aus dem Bevölkerungsprinzip resultiert, nur über eine zur Geburtenrate proportional hohe Sterberate abschwächen lassen. Unter der Annahme, dass das Bevölkerungsprinzip bereits über Millionen von Jahren gewirkt hat, folgerte Darwin gerechtfertigterweise, dass in der Realität jede etablierte Spezies eine ökonomische Nische besetzt halten muss, um ihre Subsistenzmittel zu produzieren und somit ihr Überleben zu sichern: Aufgrund der hohen geometrischen Wachstumsrate aller organischen Wesen ist jedes Gebiet bereits vollständig mit Einwohnern bevölkert.71
Der ständige Nachschub durch einen unbeschränkten exponentiellen Anstieg der Bevölkerung impliziert zuallererst, dass die nachrückende Generation einer Gruppe von Lebewesen dazu tendiert, in ihrer Zahl die vorherige Generation zu übertreffen. Da jedoch die hypothetisch stabile Umwelt keine zusätzlichen Nischen für die nachrückende Generation liefern kann, müssen einige Individuen nischenlos bleiben. Als Resultat muss notwendigerweise Konkurrenz zwischen diesen „überschüssigen“ Individuen entstehen, resultierend in einem „Ringen um die Existenz“ (engl. struggle for existence), welches eine der konsolidiertesten biologischen Erkenntnisse ist.72 Das folgende Beispiel illustriert einen
71Darwin 72Vgl.
(1859), Kapitel IV. z. B. Weiner (1995).
3.4 Klassische endogene Wachstumstheorie: Die malthusianische Falle
59
sehr simplen und offensichtlichen Fall des Wettbewerbsdrucks, welcher dem Bevölkerungsprinzip entspringt. In einem Wald, welcher vollständig mit Buchen bewachsen ist, ist es für deren Samen unmöglich aufzugehen, solange kein existierender Baum abgestorben ist. Wenn jedoch ein alter Baum durch Absterben einen freien Platz in der Sonne zur Verfügung stellt, wird dieser frei gewordene Raum nach dem Bevölkerungsprinzip bald von Keimlingen bedeckt sein. Während diese wachsen, wird allerdings jede Jungpflanze zunehmend Platz und Ressourcen verbrauchen, bis unauflösbare Konflikte entstehen, da es physisch unmöglich ist, dass sich alle Jungbäume zu einem großen Baum entwickeln. Obwohl das genaue Ergebnis dieser Konflikte unsicher sein mag, können diese nicht umgangen werden und offenbaren sich durch regelmäßigen Wettbewerb zwischen Individuen. Selbst wenn wir zugestehen, dass tierische und menschliche Populationen sehr viel dynamischer auf diese Konflikte reagieren, sind sie dennoch den Gesetzen des Wettbewerbs unterworfen, welche aus dem Bevölkerungsprinzip und dem Prinzip der abnehmenden Erträge hergeleitet werden können. Folglich, da mehr Individuen produziert werden, als potenziell überleben können, muss es in jedem Fall zu einem „Ringen um ihre Existenz“ kommen, entweder zwischen Individuen derselben Spezies oder zwischen Individuen unterschiedlicher Spezies oder mit den physischen Lebensbedingungen. Es ist die Lehre von Malthus, angewandt mit mannigfaltiger Kraft auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich; denn in ihrem Falle gibt es keinen künstlichen Anstieg der Nahrungsproduktion und keine besonnene Begrenzung der Vermählungen. Auch wenn derzeit die Bevölkerungszahl einiger Arten mehr oder weniger rapide ansteigen mag, ist dies nicht für alle möglich, da die Welt sie nicht nähren könnte.73
Nach Darwin sind einige dieser unvermeidlich überschüssigen Individuen dazu bestimmt, einen frühen Tod zu sterben, letztendlich durch Verhungern, wenngleich unter den meisten Spezies fortgeschrittenere Mechanismen hoher Mortalität wie Krankheit, Kindstötung, Selbsttötung oder andere Formen vorherrschen. Malthus definierte diese Ökonomien, aus welchen ein überschüssiger Teil der Bevölkerung regelmäßig durch hohe Mortalität ausscheidet, als positiv gecheckt (engl. positively checked). Aus seiner Definition, dass
73Darwin
(1859), Kapitel III.
60
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation die positiven Bevölkerungschecks […] jeden Grund einschließen […], welcher in irgendeinem Grad dazu beiträgt, die natürliche Lebensdauer zu verkürzen,74
wird deutlich, dass die Stärke der positiven Checks und die Höhe der Sterberate Synonyme sind.75 Wann immer die positiven Checks stark wirken, ist die Sterberate hoch. Wann immer die Sterberate auf ihrem minimalen Niveau liegt und das durchschnittliche Individuum seine „natürliche Lebensdauer“ auslebt, sind die positiven Checks am schwächsten. Es sollte jedoch bei der Bewertung der positiven Checks daran erinnert werden, dass ihre Existenz allein nicht die Anwesenheit eines hohen Bevölkerungsdrucks beweist. Auch wenn eine hohe Sterberate ein Nebenprodukt und ein guter Indikator ist, ist sie weder eine ausreichende noch notwendige Bedingung für den aus dem Bevölkerungsprinzip und dem Prinzip der abnehmenden Erträge resultierenden Wettbewerb. Werden diese Checks gemessen, ist lediglich belegt, dass das Bevölkerungswachstum unter seiner maximalen Rate liegt. Zusammenfassend wird die hier beschriebene Ökonomie jedoch dazu tendieren, eine konstant hohe Sterberate aufzuweisen, welche als Teil unserer Bevölkerungstheorie wie folgt modelliert wird:
dt = dt−1 .
(3.10)
Es sollte ebenfalls bereits darauf hingewiesen werden, dass es Situationen gibt, in welchen ein Ringen um die Existenz nicht notwendigerweise einem Überschuss neugeborener Individuen geschuldet ist, welche über die Grenzen ihrer Subsistenzmittel hinaus expandieren. Konkurrenz mag ebenfalls dadurch entstehen, dass ein bereits vollständig bevölkertes Territorium von einer Verschlechterung der natürlichen Bedingungen und damit einer Senkung seiner Subsistenzmittel betroffen ist, oder durch eine zunehmende Bevölkerung aufgrund verbesserter Lebensbedingungen, beispielsweise bedingt durch das Aussterben eines Räubers oder das Verschwinden von Krankheiten, welche die Mortalität senken (wir werden auf die entsprechende Form des Wettbewerbs in Kapitel 5 zurückkommen). Trotz allem bleibt das Bevölkerungsprinzip die regelmäßigste treibende Kraft von Konflikten und Wettbewerb, denn ohne die Tendenz der Zahl der Geburten, die Zahl der Todesfälle zu übersteigen, wäre nicht jedes Territorium grundsätzlich vollständig bevölkert. Nur durch das permanente Wirken dieses
74Malthus
(1826), Buch I, Kapitel II. oben bemerkt wurde, entspricht die „natürliche Lebensdauer“ (Lebenserwartung) in einer stationären Bevölkerung der invertierten Sterberate.
75Wie
3.4 Klassische endogene Wachstumstheorie: Die malthusianische Falle
61
universellen Bevölkerungsprinzips auf einem gegebenen Territorium können wir die Regel ableiten, dass jedes [Individuum] in irgendeiner Periode seines Lebens einem Ringen [um sein Überleben] ausgesetzt ist; dass schwere Zerstörung unvermeidlich entweder die Alten oder die Jungen während jeder Generation oder in wiederkehrenden Intervallen trifft. Erleichtere irgendeinen Check, schwäche die Zerstörung nur zu einem kleinen Teil ab, und die Zahl der Spezies wird nahezu auf der Stelle anwachsen auf jedes beliebige Ausmaß.76
3.4.2 Bevölkerungsprinzip, abnehmende Erträge und genetische Variation: Die malthusianische Falle in der natürlichen Ökonomie Für ein vertieftes Verständnis des Prozesses der malthusianischen Falle und des aus ihr resultierenden Elendszyklus werden wir nun die Idee des Prinzips der Arbeitsteilung aufgreifen, um die oben dargestellte Illustration einer nichtmenschlichen Ökonomie zu erweitern. Obwohl im letzten Abschnitt von einer fixen Ressourcenbeschränkung ausgegangen wurde, sollten wir nicht allzu leichtfertig dem Irrtum erliegen zu glauben, dass die Begrenzung der Subsistenzmittel in der natürlichen Ökonomie tatsächlich konstant ist. Indem Darwin die Divergenz zwischen unterschiedlichen Spezies auf der Basis eines gemeinsamen Vorfahrens analysierte und damit einen Mechanismus für evolutionäre Entwicklung etablierte, gab er eine schlüssige Erklärung für eine über den Verlauf der Evolution regelmäßige Ausweitung der Ressourcenbarriere. Obwohl tödliche Konflikte die Regel seien, so Darwin, umfasse der Bevölkerungsdruck mildere Wettbewerbsformen, z. B. das Verdrängen von Individuen in Nischen, welche unmöglich von der vorherigen Generation besetzt werden konnten. Da sich die Nachkommenschaft der meisten Spezies in ihrer genetischen Ausstattung von der Elterngeneration unterscheide, passiere es, dass jene Lebensräume erkunde, welche ihren Vorfahren verwehrt gewesen seien, wie es im folgenden Beispiel illustriert ist. Man mag sich eine Nagerkolonie vorstellen, welche anfänglich den Grund und Boden eines gegebenen Territoriums vollständig bevölkert hat. Aufgrund des weiterhin exponentiellen Bevölkerungswachstums kann es nun vorkommen, dass
76Darwin
(1859), Kapitel III.
62
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
eine überschüssige Zahl junger Individuen in eine Umgebung verdrängt wird, welche bislang für den gemeinen Nager als Lebensraum ungeeignet gewesen war. Da die genetische Ausstattung dieser Nachkommenschaft von der der Eltern leicht abweicht, mag zu einem gewissen Zeitpunkt ein Individuum erscheinen, welches die Fähigkeit besitzt, auf Bäume zu klettern, ein anderes mit dem Vermögen, im Wasser zu tauchen, und ein drittes, sich in den Erdboden einzugraben – Fähigkeiten, welche die Elterngeneration nicht besaß. Sofern diese speziellen Fähigkeiten ausreichen, um den Nachwuchs zu versorgen, indem neue Wege der Nahrungsbeschaffung erkundet werden und somit zusätzliche Subsistenz geschaffen wird, könnten diese Individuen neue Nischen besetzen. Einmal in diesen spezialisierten Nischen etabliert, würde sich ihre wachsende Nachkommenschaft, welche erneut über einen Pool genetischer Variation verfügte, wiederum zunehmendem Wettbewerb gegenübersehen. Durch den Prozess der „natürlichen Selektion“ würden die überschüssigen, zum Überleben ungeeigneten Nachfahren Generation für Generation regelmäßig aussortiert, während diejenigen mit der besten genetischen Eignung unter den vorherrschenden Bedingungen dazu tendierten, sich am schnellsten zu vermehren. Auf diese Art und Weise sind Darwin zufolge die Gattungen Eichhörnchen, Otter und Maulwurf als Abspaltungen einer einzigen Spezies und durch eine schrittweise Anpassung an neue Umweltbedingungen entstanden. Somit hatte Darwin zwei wichtige Resultate eines frei wirkenden Bevölkerungsprinzips hergeleitet: Erstens sind im Fall der natürlichen Ökonomie genetische Variation sowie das Wirken des Bevölkerungsprinzips und des Prinzips der abnehmenden Erträge neben der Erschaffung neuer Spezies für eine Ausweitung der natürlichen Ressourcenbeschränkung verantwortlich: Da die Gesamtbevölkerung der Individuen N die Anzahl der Nischen erhöht hat, müssen die natürlichen Subsistenzgrenzen Y ebenfalls erhöht worden sein. Folglich generierte der Wettbewerb durch die einfachen Mittel des Bevölkerungswachstums und der Variation nicht nur neue Spezies, sondern er kreierte außerdem eine „Symbiose spezialisierter Spezies“, durch welche die Ressourcenbeschränkung permanent angehoben wurde, was den parallelen Anstieg von Bevölkerung und Produktion erklären kann. Zweitens verbesserte sich die langfristige materielle Situation der entsprechenden Nachfahren nicht, wenngleich genetische Variation bzw. „Innovation“ die ursprünglichen individuellen Überlebenschancen vergrößerte, da die Geschwindigkeit der Zunahme der Subsistenzmittel aufgrund von Spezialisierung der Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums deutlich unterlegen war. Individuelle Spezialisierung war lediglich dazu geeignet, das unmittelbare Überleben zu sichern, und nicht dazu, Wohlstand zu akkumulieren. Und die Nachfahren des ersten innovativen
3.4 Klassische endogene Wachstumstheorie: Die malthusianische Falle
63
Individuums waren in den meisten Fällen nicht bessergestellt als ihre Vorfahren vor Beginn der Divergenz. Somit verharrte die Produktivität auf demselben Subsistenzniveau y über den Verlauf der evolutionären Entwicklung. Es ist demnach der Überlegenheit des Potenzials der Bevölkerung gegenüber dem Potenzial der Entstehung von Innovationen aufgrund von genetischer Variation geschuldet, dass der Mechanismus der natürlichen Selektion eine sehr lange Zeit wirken konnte, ohne irgendwelche permanenten materiellen Vorteile zu erbringen. Für Darwin bildete das beobachtete Ringen ums Überleben, welches eine logische Implikation des zweiten Resultats ist, das Fundament der Theorie der Evolution durch natürliche Selektion. Er drängte seine Leser zu realisieren, dass nichts einfacher ist, als ein universelles Ringen ums Leben in Worten zuzugeben, und nichts schwieriger, zumindest empfinde ich es so, als diesen Schluss ständig im Kopf zu behalten. Jedoch wird, wenn er nicht gründlich im Geist verankert ist, die gesamte Ökonomie der Natur mit allen Fakten zu Verteilung, Knappheit, Überschuss, Aussterben und Variation nur trübe gesehen oder ziemlich missverstanden werden.77
Indem wir das Wirken des Prinzips der Arbeitsteilung in der menschlichen Ökonomie im Folgenden beleuchten, werden wir realisieren, dass das überlegene Potenzial der Bevölkerung vermutlich gleichermaßen in der Lage ist, die Verbesserungen all jener Innovationen zu neutralisieren, welche für gewöhnlich als „technologischer Fortschritt“ bezeichnet werden.
3.4.3 Bevölkerungsprinzip, abnehmende Erträge und Arbeitsteilung: Die malthusianische Falle in der menschlichen Ökonomie Wenngleich die Existenz der drei Prinzipien aufgrund ihrer Auswirkungen auf die natürliche Selektion bereits für nichtmenschliche Spezies ausreichend bewiesen wurde und in den Naturwissenschaften weitestgehend Akzeptanz gefunden hat, wird die Relevanz dieser Prinzipien für die menschliche Ökonomie oftmals angezweifelt. Unter der Annahme der Gültigkeit des oben illustrierten darwinschen Innovationsprozesses war der häufigste Kritikpunkt, welchem sich Malthus’ Theorie in den vergangenen 200 Jahren ausgesetzt sah, das Argument,
77Darwin
(1859), Kapitel III.
64
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
dass die Spezies Homo sapiens scheinbar die Fähigkeit besitze, ihre natürliche Ressourcenbeschränkung selbstständig anzuheben, ohne dabei notwendigerweise auf langsame und zufällige genetische Verbesserungen angewiesen zu sein und damit ihre Subsistenzmittel außerordentlich schnell erhöhen könne. Malthus war sich allerdings – wie jeder klassische Ökonom – der Tatsache bewusst, dass das Phänomen regulär ansteigender Produktion stets selbst auf Bevölkerungswachstum zurückzuführen war. Die klassischen Ökonomen hatten bereits erkannt, dass Produktionswachstum zum größten Teil individueller Spezialisierung und dem Austausch von Produkten geschuldet war, resultierend aus der von Smith angeführten Arbeitsteilung. Wie im Folgenden gezeigt werden wird, ist jedoch das Aufkommen der smithschen Arbeitsteilung in der menschlichen Ökonomie – oder das, was heute manchmal als „smithianisches Wachstum“78 bezeichnet wird– nichts anderes als das, was wir in der nichtmenschlichen Ökonomie in Form einer Symbiose spezialisierter Spezies beobachtet haben. Wie in der natürlichen Ökonomie kann der Prozess der menschlichen Spezialisierung in unterschiedliche Professionen auf den Wettbewerb zurückgeführt werden, welcher sich aus dem Wirken des Bevölkerungsprinzips und des Prinzips der abnehmenden Erträge ergibt. Da wir nach wie vor annehmen, dass die präventiven Checks nicht existieren und die Fertilität daher maximal ist, werde ich weiterhin argumentieren, dass eine neu aufstrebende Generation ihren vorherigen Kohorten zahlenmäßig überlegen ist und dazu tendiert, Bevölkerungsdruck sowie Wettbewerb und folglich Konflikte aufgrund abnehmender Erträge der Bevölkerung zu erzeugen. Analog zur natürlichen Ökonomie würde dieser Bevölkerungsdruck, wie im folgenden Beispiel dargestellt, überschüssige Individuen dazu anleiten, neue Produktionsmethoden zu erkunden. Beginnend mit Jäger- und Sammlergemeinschaften würden diejenigen Mitglieder eines Stammes, welche von der Gemeinschaft als redundant erachtet würden, dazu neigen, nach neuen Subsistenzmitteln zu suchen, d. h., z. B. neue Beutetierspezies zu jagen oder unbekannte Früchte zu probieren. Bei misslungener Erkundung würde das entsprechende Individuum letztlich bei diesem Versuch getötet oder von der Gemeinschaft verstoßen werden. Ist die Erkundung erfolgreich, würde die neue Produktionsart allerdings permanent in die Gesamtproduktion der Gemeinschaft integriert werden, zumal hierdurch eine zusätzliche
78Vgl.
z. B. Kelly (1997).
3.4 Klassische endogene Wachstumstheorie: Die malthusianische Falle
65
Nische zum Überleben und neue Subsistenz für Nachwuchs geschaffen worden wäre. Da aufgrund der Tendenz zum Bevölkerungswachstum die Anzahl dieser Erkundungen kontinuierlich auf der Basis von „trial and error“ ansteigt, tendiert jede Gemeinschaft zur Akkumulation zahlreicher Produktionsarten. Trotz dieser Ähnlichkeiten zur natürlichen Ökonomie scheint der Mechanismus, durch welchen spezialisierte Professionen akkumuliert wurden, in der menschlichen Ökonomie größtenteils unabhängig von genetischer Variation gewesen zu sein. Dass die neuen Prozesse tatsächlich regelmäßig in das ökonomische System integriert wurden, war nach Smith der inhärenten und scheinbar einzigartigen Tendenz menschlicher Wesen geschuldet, ihre Produkte „auszutauschen“. Die Entstehung von Austausch sowie die entsprechend ansteigende Nachfrage brachten den offensichtlichen Vorteil einer „Skalenökonomie“ (engl. economies of scale) mit sich: die Spezialisierung eines jeden Individuums auf die Produktion eines bestimmten Gutes, die hierauf basierende Sicherstellung der Nachfrage der gesamten Gemeinschaft und damit die Schaffung einer Arbeitsteilung innerhalb der arbeitenden Bevölkerung. So lange die Erträge einer solchen Beschäftigung ausreichend waren, um eine Familie zu ernähren, konnte sie vernünftigerweise als „Profession“ bezeichnet werden.79 Es erfordert keine hohe Abstraktionsfähigkeit, um sich vorzustellen, dass dieser evolutionäre Prozess für jede anschließend aufkommende Profession verantwortlich gewesen sein mag, graduell diffundierend vom steinzeitlichen Sammler zum Reisbauern, zum Uhrmacher bis in die Moderne. Smith zog die Produktion des Wollkleides als Beispiel heran, um zu demonstrieren, in welchem Ausmaß Arbeitsteilung und Spezialisierung eine „Symbiose“ in der vorindustriellen menschlichen Ökonomie erzeugt hatten:
79Dies
bedeutet nicht, dass der darwinsche Prozess der Spezialisierung verschwunden wäre. Da sich die Mitglieder einer Gemeinschaft aufgrund des Bevölkerungsprinzips nach wie vor einem Wettbewerb gegenübersahen und somit ständig dazu gezwungen waren, ihre Produktivität zu erhöhen, mussten sie sich langfristig auf diejenigen Prozesse konzentrieren, welche am ehesten ihren individuellen Ausstattungen entsprachen – eine Tendenz, welche als „ricardianisches Wachstum“ bezeichnet werden könnte. Diese Tendenz, Arbeit entsprechend genetischer Ausstattung zu verteilen, wird vielleicht am besten durch die Arbeitsteilung nach Geschlechtszugehörigkeit in vielen Ureinwohnergesellschaften illustriert, in welchen die Jagd größtenteils von den männlichen und das Sammeln von den weiblichen Mitgliedern durchgeführt wird. Im Gegensatz hierzu ist „smithianisches Wachstum“ unabhängig von der individuellen natürlichen Ausstattung.
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3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation Der Schäfer, der Sortierer der Wolle, der Wollkämmer, der Färber, der Schmierer, der Spinner, der Weber, der Walker, der Ankleider, zusammen mit vielen anderen […] wie viele Schiffsbauer, Segler, Segelmacher, Seiler müssen beschäftigt worden sein, um die unterschiedlichen Stoffe, von denen Gebrauch gemacht wird, zusammenzubringen […]. Lasst uns nur darüber nachdenken, welche Arbeitsvielfalt vorausgesetzt wird, um […] nur die Scheren zu formen, mit welchen der Schäfer die Wolle schneidet: der Bergbauer, der Erbauer der Schmiede zum Schmelzen des Erzes, der Verkäufer des Nutzholzes, der Brenner der Holzkohle, welche im Schmelzhaus genutzt wird, der Ziegler, der Maurer, die Arbeiter, welche die Schmiede beaufsichtigen, der Schlosser, der Grobschmied, der Schmied, sie alle müssen ihre unterschiedlichen Künste zusammenführen, um sie hervorzubringen.80
Unter der Annahme der Gültigkeit der oben illustrierten menschlichen Ökonomie können dieselben zwei wichtigen Regeln wie in der natürlichen Ökonomie hergeleitet werden. Die erste Regel ist die Idee, dass die Kombination von Bevölkerungsprinzip, Prinzip der abnehmenden Erträge und Spezialisierung die einzige Quelle permanenter ökonomischer Innovation darstellte, und die zweite ist die Tendenz, zum vorherigen Subsistenzniveau der Produktivität zurückzukehren, da die Geschwindigkeit, mit welcher neue Innovationen generiert wurden, in den meisten vorindustriellen Ökonomien der Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums unterlegen gewesen zu sein scheint, weshalb die Produktion pro Kopf nicht nachhaltig ansteigen konnte. Der zweite Punkt ist sicherlich nicht überraschend, wenn wir – Smith, Malthus und Darwin folgend – Bevölkerungswachstum als den primären Stimulus für Innovationen betrachten. Denn hätte die Bevölkerung nicht mit der Produktion Schritt gehalten, hätte es keinen starken Wettbewerbsgrad gegeben. In der Tat waren die klassischen Ökonomen, wenn wir Mills Urteil folgen, davon überzeugt, dass die Tendenz zur Erhöhung des ökonomischen Outputs mithilfe von Innovationen vollständig dieser Art des Wettbewerbs geschuldet war, abgeleitet aus dem Zusammenspiel der drei Prinzipien.81 Die Tendenz zum Wettbewerb und die dazugehörige Spezialisierung waren für Spencer ebenfalls die Hauptquellen für das, was er sehr allgemein als „Fortschritt“ (engl. progress) bezeichnete: Von Beginn an war Bevölkerungsdruck die unmittelbare Ursache für Fortschritt. Er verursachte die ursprüngliche Diffusion der menschlichen Rasse. Er überzeugte die Menschen, Jägergewohnheiten aufzugeben und sich dem Ackerbau zuzuwenden.
80Smith
(1776), Buch I, Kapitel I. durch das Prinzip des Wettbewerbs besitzt die Politische Ökonomie einen Anspruch auf den Charakter einer Wissenschaft.“ Mill (1848), Buch II, Kapital IV.
81„Allein
3.4 Klassische endogene Wachstumstheorie: Die malthusianische Falle
67
Er führte zur Urbarmachung der Erdoberfläche. Er zwang die Menschen in die soziale Lebensweise, machte soziale Organisation unvermeidbar und führte zur Entwicklung sozialer Neigungen. Er stimulierte Verbesserungen in der Produktion und erhöhte Fähigkeiten und Intelligenz. Er presst uns täglich in engere Kontakte miteinander und in untereinander abhängigere Beziehungen.82
Zusammenfassend werde ich im weiteren Verlauf annehmen, dass die drei dargestellten klassischen Prinzipien während der Epoche der Stagnation auf ein Wachstum der Bevölkerung und der Produktion sowie auf eine konstant niedrige Produktivität hinarbeiteten. Somit beobachten wir in Anlehnung an Galors malthusianische Falle einen Elendszyklus zwischen Bevölkerung und Produktion in der Form
3.4.4 Evidenz für die malthusianische Falle Wie wir gesehen haben, liefert die etablierte Akzeptanz der Theorie der Evolution durch natürliche Selektion den wichtigsten Nachweis für das simultane Wirken der drei Prinzipien in der Realität. Wenn nicht mehr Individuen hervorgebracht worden wären, als potenziell überleben können, hätte die Natur nicht die „Ungeeigneten“ aussortieren können, da in diesem Fall jedes Individuum lediglich seine besetzte Nische an die nächste Generation weitergereicht hätte. In diesem Fall hätte sich der genetische Pool kaum verändert und eine Spezialisierung hätte sich womöglich niemals herausgebildet. Weiterhin existieren aus historischer Sicht drei Fakten, welche gemeinsam stark auf die Gültigkeit des obigen evolutionären Wirtschaftswachstumsmodells in der menschlichen Ökonomie bis zum Jahr 1800 hindeuten: Erstens akzeptieren die meisten Wirtschaftshistoriker den stilisierten Fakt, dass sich die menschliche Pro-Kopf-Produktion im Jahr 1800 nicht grundlegend von derjenigen im Jahre 10.000 v. Chr. unterschied.83 Zweitens wurde geschätzt, dass die menschliche Bevölkerung – wenngleich mit nicht unbeträchtlichen Schwankungen – über dieselbe Zeitspanne exponentiell von etwa sechs Millionen auf etwa eine Milliarde anstieg.84 Da drittens nach Darwin angenommen werden kann, dass 82Spencer
(1852), § 16. z. B. McCloskey (2010), S. 2. 84Vgl. Livi-Bacci (2012), S. 25. 83Vgl.
68
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
die Erde bereits zu Beginn der um 10.000 v. Chr. einsetzenden Phase vollständig mit menschlichen Individuen bevölkert gewesen war, ist offensichtlich, dass über dieselbe Periode eine Zunahme von Professionen stattgefunden haben muss.85 Dieser letzte Punkt beweist, dass sich eine Spezialisierung herausgebildet hat. Da jedoch die Produktivität langfristig konstant blieb, obwohl Spezialisierungsvorteile die Ressourcengrenze angehoben hatten, ist evident, dass das Bevölkerungswachstum die Vorteile aus der Spezialisierung vollkommen verkonsumiert haben muss. Diese Deduktion repräsentiert die Logik der malthusianischen Falle, wie sie von Malthus in seinem „Essay“ von 1798 dargestellt wurde. Die Auffassung, dass die Anzahl der Nischen, welche durch Spezialisierung erzeugt werden, nicht ausreichen würde, um die Beschäftigung der nachkommenden Generationen sicherzustellen, wird nicht zuletzt durch hohe Sterblichkeits- und Emigrationsraten in denjenigen Staaten gestützt, welche sich hohen Bevölkerungswachstumsraten gegenübersehen. Wenn man sich den nachweislichen Mustern historischer Populationen zuwendet, wird man unzählige Fälle ausmachen können, in welchen die negativen Effekte des Prinzips der abnehmenden Erträge die positiven Effekte des Prinzips der Arbeitsteilung aufgrund eines unbeschränkten Bevölkerungsprinzips überlagerten und damit Sterblichkeits- und Migrationskrisen verursachten. Dies ist beispielsweise gut dokumentiert für die wikingischen und mongolischen Expansionen,86 für die Kreuzzüge87 oder für die
85Wenn
sich die Zahl der Professionen nicht verändert hätte, wären wir heute Zeugen einer Weltbevölkerung von acht Milliarden Jägern und Sammlern, was prinzipiell nicht möglich ist. 86„[D]enn wir sind uns dessen bewusst, dass die Horden Zentralasiens und der nördlichen Teile Europas sowie die überschüssigen Einwohner einiger kleiner Gemeinschaften, wie die der kleineren Staaten des antiken Griechenlands und Phöniziens, ein periodisches Ventil gefunden hatten – die einen in Kolonisierung, die anderen in bewaffneter Migration.“ Senior (1836), S. 41. 87„Das Land, das ihr bewohnt, ist überall von Meer und Bergen umgeben und zu eng für eure große Zahl. Es hat keinen Überfluss an Reichtümern und nährt kaum jene, die es bearbeiten. Aus diesem Grunde streitet ihr euch, führt Kriege gegeneinander und bringt euch gegenseitig um. Hört auf, euch zu hassen und zu bekriegen. Geht hin zum heiligen Grabe, nehmt das Land den verruchten Heiden ab und macht es zu eurem eigenen, jenes Land, von dem die Schrift sagt, dass Milch und Honig dort fließen.“ Aufruf zum Kreuzzug in Clermont durch Papst Urban II. (1095).
69
3.4 Klassische endogene Wachstumstheorie: Die malthusianische Falle
irische Hungersnot 1846–184788 und plausibel dargestellt für weitere Fälle, u. a. für die amerikanischen Ureinwohner.89 McCulloch betrachtete diese Form der „Überbevölkerung“ ebenfalls als ein reguläres historisches Phänomen und stellte fest: Kriege, Pesten und Epidemien – diese „schrecklichen Korrektive“ […] der Redundanz der Menschheit stellen die Auswirkung der [abnehmenden Erträge] auf eindrucksvolle Weise dar. Sie verringern die Anzahl der Einwohner ohne in den meisten Fällen das Kapital zu verringern, welches sie nährt und erhält.90
3.4.5 Simulation der malthusianischen Falle Nachdem die klassische Literatur zusammengefasst und ausreichend Evidenz für die Existenz der drei Prinzipien und ihres Zusammenwirkens in einer malthusianischen Falle dargelegt wurde, werden in diesem Abschnitt die strukturellen Gleichungen der Produktionstheorie und der Bevölkerungstheorie derart vereint, dass damit eine Simulation generiert werden kann, welche die Existenz der malthusianischen Falle in Übereinstimmung mit den stilisierten Fakten des Elendszyklus und wirtschaftlicher Stagnation abzubilden vermag. Das resultierende lineare Gleichungssystem, welches die oben abgeleiteten Gleichungen (3.7), (3.9) und (3.10) zusammenführt, kann wie folgt dargestellt werden:
gyt = α1 ln bt−15 − α2 ln bt ln bt = α3 ln bt−1 + α4 gyt−1 dt = α5 dt−1
88„[D]ie
(3.12)
kürzliche Situation Irlands und der Highlands […] sollte nicht als Schicksalsschlag betrachtet werden, welcher nach temporärer Hilfe vom Rest der Nation verlangt, sondern als ein Anzeichen eines ehemals mangelbehafteten Zustands der Bevölkerungsgröße […].“ Alison (1847), S. 9. 89„Tatsächlich ist eine der Hauptlektionen, welche wir aus dem Kollaps der Maya, Anasazi, Osterinselbewohner und der anderen vergangenen Gesellschafen lernen, […] einfach: Maximale Bevölkerung, Wohlstand, Ressourcenverbrauch und vergeudete Produktion bedeuten maximale Auswirkungen auf die Umwelt und eine Annäherung an die Grenze, an welcher die Auswirkungen dieses Zustands die Ressourcen übersteigen.“ Diamond (2005), S. 509. 90McCulloch (1863), Teil I, Kapitel VIII.
70
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
Um zu diesem System zu gelangen, werden zwei zusätzliche Annahmen getroffen: Erstens wird die Dauer einer Generation auf 15 Jahre begrenzt, was als das niedrigste plausible durchschnittliche Arbeitseintrittsalter erscheint. Zweitens wird die Größe eines jeden Effekts durch einen unbekannten Koeffizienten αi repräsentiert, um ein wenig Spielraum für die Interpretation der relativen Effekte der Prinzipien über den Zeitverlauf zu lassen. Ökonometrische Schätzungen der drei Prinzipien, basierend auf diesem Gleichungssystem, werden im Anhang angeführt. Gegenwärtig begnügen wir uns mit der Simulation eines sehr simplen Modells, in welchem alle Koeffizienten auf eins gesetzt werden. Darüber hinaus lassen wir den exponentiellen Charakter der Beziehung zwischen Geburtenrate und Produktivitätswachstum für illustrative Zwecke beiseite. Dies impliziert lediglich, dass der Effekt der Geburtenrate auf das Produktivitätswachstum sowie der positive Effekt des Produktivitätswachstums auf die Geburtenrate in der Simulation schwächer dargestellt werden, als sie in der Realität nachgewiesen werden sollten. Qualitative Betrachtungen bleiben daher unberührt.
Tabelle 3.1 Kalibrierung des Systems (3.13) α1
α2
α3
α4
α5
b0
d0
gy0
ǫgy15
1
1
1
1
1
0, 035
0, 020
0, 000
0, 025
Mit der Kalibrierung der Koeffizienten und Anfangswerte nach Tabelle 3.1 und mit der Simulation eines Produktivitätsschocks nach 15 Perioden erhalten wir, wie in Abbildung 3.3 dargestellt, die malthusianische Falle: Ein Schock des Produktivitätswachstums in Periode 15 erhöht aufgrund des PoP die Geburtenrate eine Periode später. Dieser Bevölkerungsanstieg verkonsumiert aufgrund des PoDR mit sofortiger Wirkung die bisherigen Produktivitätsgewinne. Hiernach folgen 15 Perioden Stagnation, bis die größere Geburtenkohorte in den Arbeitsmarkt eintritt und somit über das PoLD das Produktivitätswachstum erhöht, was zu einem weiteren, daran anschließenden Anstieg der Geburten führt, usw. Über den Zeitverlauf führt dieser Mechanismus, wie in Abbildung 3.4 illustriert, zu einem stetigen Anstieg des Produktions- und Bevölkerungsniveaus, wohingegen die Wachstumsraten sowie die Produktivität als langfristig stabil betrachtet
3.4 Klassische endogene Wachstumstheorie: Die malthusianische Falle
71
werden können. Somit lassen sich mit unserem Modell die stilisierten Fakten des Elendszyklus und der wirtschaftlichen Stagnation erklären. Abbildung 3.5 liefert einen Überblick über die theoretischen Befunde des ersten Teils dieses Buches.
Abbildung 3.3 Eine Simulation des Stagnationsmechanismus in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP-pro-Kopf-Wachstumsrate (hellgrün))
Abbildung 3.4 Eine Simulation des Stagnationsmechanismus in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange), BIP pro Kopf (grün))
72
3 Eine klassische Wachstumstheorie wirtschaftlicher Stagnation
Abbildung 3.5 Theoretische Herleitungen aus Teil I
Teil II Die Epoche wirtschaftlicher Entwicklung
4
Das Entwicklungsregime
Dieses [Bevölkerungs-]Gesetz kann von niemandem bestritten werden. Ich könnte Ihnen für dasselbe ebenso viele Gewährsmänner anführen, als es große und berühmte Namen in der nationalökonomischen Wissenschaft gibt, und zwar aus der [klassischen] Schule selbst, denn gerade die [klassische] ökonomische Schule ist es, welche selbst dieses Gesetz entdeckt und nachgewiesen hat. Dieses eherne und grausame Gesetz, meine Herren, müssen Sie sich vor allem tief, tief in die Seele prägen und bei all Ihrem Denken von ihm ausgehen. Bei dieser Gelegenheit kann ich Ihnen und dem gesamten Arbeiterstand ein unfehlbares Mittel angeben, wie Sie ein für allemal allen Täuschungen und Irreführungen entgehen können. Jedem, der Ihnen von der Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes erzählt, müssen Sie vor allem die Frage vorlegen, ob er dieses Gesetz anerkennt oder nicht. Erkennt er es nicht an, so müssen Sie sich von vornherein sagen, daß dieser Mann entweder Sie täuschen will oder aber von der kläglichsten Unerfahrenheit in der nationalökonomischen Wissenschaft ist. Denn es gibt, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, in der [klassischen] Schule selbst nicht einen namhaften Nationalökonomen, der dasselbe leugnete. Adam Smith wie Say, Ricardo wie Malthus, Bastiat wie John Stuart Mill sind einstimmig darin, es anzuerkennen. Es herrscht hierin eine Übereinstimmung aller Männer der Wissenschaft. Und wenn nun derjenige, der Ihnen von der Lage der Arbeiter erzählt, auf Ihre Frage hin dieses Gesetz anerkennt, so fragen Sie ihn weiter, wie er dasselbe beseitigen will. Und wenn er hierauf nicht zu antworten weiß, so wenden Sie ihm ruhig den Rücken zu. Er ist ein leerer Schwätzer, der Sie oder sich selbst täuschen und mit hohlen Phrasen verblenden will.1
1Lassalle
(1863).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5_4
75
76
4 Das Entwicklungsregime
4.1 Historische Entwicklung von BIP pro Kopf und BIP In diesem Kapitel werden zunächst die historischen Entwicklungen dargelegt, welche gewöhnlich für eine Entspannung des Bevölkerungsdrucks sorgen und den anschließenden beobachteten Anstieg des BIP pro Kopf einleiten – den Ausbruch aus der Stagnation. Die Analyse dieser Epoche wirtschaftlicher Entwicklung beginnt mit der grafischen Darstellung der britischen Zeitreihen aus Kapitel 2, erweitert um die offiziellen Daten von Mitchell (2013) und der Weltbank bis zum Jahr 2016. In Anhang C sind zusätzlich Beispiele illustriert, welche den Eindruck bestätigen, dass das Muster der britischen stilisierten Fakten durchaus als global repräsentativ anzusehen ist. Die rechte Grafik von Abbildung 4.1 zeigt die Entwicklung des britischen BIP pro Kopf. Ein kurzer Blick hierauf offenbart, dass das BIP pro Kopf während des 19. Jahrhunderts langsam anstieg und während des 20. Jahrhunderts rapide hochschnellte. Trotz der Richtigkeit und Konsistenz des im letzten Kapitel eingeführten Mechanismus zum Stagnationsregime kann die Wirksamkeit der malthusianischen Falle nach dem Jahr 1800 nicht mehr aufrechterhalten werden, da der Elendszyklus zwischen Produktion und Bevölkerung nicht mehr zu beobachten war (linke Grafik von Abbildung 4.1).2
Abbildung 4.1 Divergenz von BIP (links, blau) und Bevölkerungsgröße (links, orange) in Britannien 1541–2014. BIP pro Kopf (rechts, grün) in Britannien 1541–2014. (Quellen: BIP: Clark (2009) für 1541–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010. Bevölkerung: Wrigley und Schofield (1981) für 1541–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010)
2In
der heutigen Diskussion spielt der Bevölkerungsdruck, wie er von den klassischen Ökonomen formuliert wurde, nahezu keine Rolle mehr.
4.2 Trugschluss 1: Die konventionelle Meinung, dass ein Anstieg …
77
Um den Ausbruch aus der Stagnation detaillierter zu untersuchen, wenden wir uns den Zeitreihen des BIP und der Bevölkerung zu. Zunächst scheint das Jahr 1847, welches durch ökonomische Depression und weitverbreitete Hungersnöte in Europa gekennzeichnet war und deshalb weitverbreitete politische Unruhen während des Jahres 1848 nach sich zog, das letztmögliche Datum gewesen zu sein, zu welchem wir von einem Elendszyklus sprechen können, zumal das Verhältnis zwischen BIP und Bevölkerung hier zum letzten Mal unter dem Niveau des Jahres 1541 lag. Dementsprechend sollte das Jahr 1848 als letztmögliches Datum für den Beginn des britischen Ausbruchs aus der Stagnation gewählt werden. Zweitens scheinen BIP und Bevölkerung während der Periode 1760– 1815 stark zugenommen zu haben. Obgleich die Grafik nicht die vollständige Zeitreihe umfasst, setzte sich die Zunahme des BIP-Wachstums bis weit in das 20. Jahrhundert fort und hat erst in den vergangenen Dekaden begonnen abzunehmen. Drittens lässt sich erkennen, dass das Bevölkerungswachstum bereits Anfang des 19. Jahrhunderts abnahm (siehe später dazu Abbildung 4.2 und Abbildung 5.1). Im Folgenden werden die Ursachen für den Anstieg des BIP pro Kopf dargestellt, indem die Entwicklungsstränge von BIP und Bevölkerung separat analysiert werden. Ich habe außerdem drei wichtige Fehlschlüsse aktuell populärer ökonomischer Theorien identifiziert, welche eine explizite Klarstellung verdienen, da sie weiterhin die tatsächlichen Ursachen für den Ausbruch aus der Stagnation verschleiern und ein klares Verständnis des Prozesses verhindern. Um diese Fehlschlüsse aufzuklären und eine Wiederbelebung des klassischen Bezugsrahmens voranzutreiben, werden diese Theorien zu Wachstum und Entwicklung in den nächsten Abschnitten kritisiert und widerlegt werden.
4.2 Trugschluss 1: Die konventionelle Meinung, dass ein Anstieg der Produktion den Ausbruch aus der Stagnation bewirkt habe 4.2.1 Ein endogener Produktionsschock? Wir haben gesehen, dass Kremers Idee, der zufolge eine wachsende Bevölkerung im Allgemeinen dazu in der Lage sei, ihre Produktion überproportional zu erhöhen, von den britischen Daten bis etwa 1800 n. Chr. nicht gestützt wird. Es wird nun kurz ausgeführt werden, dass die Auffassung von „steigenden Erträgen der Bevölkerung aufgrund von technologischem Fortschritt“ selbst nach 1800
78
4 Das Entwicklungsregime
unrealistisch ist und daher auch in der Epoche der Entwicklung nicht als universelles ökonomisches Prinzip gelten kann. Naturgemäß ist die Behauptung, dass die Produktion das Potenzial besitze, schneller als die Bevölkerung zu wachsen, die einfachste Art und Weise, einen nachhaltigen Anstieg der Produktion pro Kopf zu erklären. Obwohl das britische Produktionswachstum, welches während der Periode 1760–1820 generiert wurden, regelmäßig durch das Bevölkerungswachstum übertroffen wurden, hatten Smiths Überlegungen bereits damals einige Ökonomen dazu veranlasst zu glauben, dass die Vorteile aus der Arbeitsteilung das Potenzial hätten, den Bevölkerungsanstieg zu überflügeln. Diese Idee hatte Senior zufolge während des frühen 19. Jahrhunderts ein breites Interesse geweckt: Auf der einen Seite stehen diejenigen, welche glauben, dass ein Anstieg der Bevölkerungszahl notwendigerweise nicht bloß mit einem positiven, sondern sogar mit einem relativen Anstieg der produktiven Kräfte einhergehe, dass Bevölkerungsdichte die Ursache des Wohlstands sei und dass, wäre jede Nation unter der Sonne von all ihren natürlichen und künstlichen Bevölkerungschecks befreit und würde sie beginnen, sich mit der schnellstmöglichen Rate zu vermehren, viele, sehr viele Generationen vergehen müssten, bevor sich notwendigerweise irgendeine Notsituation einstellen würde.3
Konfrontiert mit dieser Argumentation und wohlvertraut mit dem Prozess der Arbeitsteilung, der Spezialisierung und folglich mit „technologischem Fortschritt“ verteidigte Malthus die Idee, dass das Potenzial des Bevölkerungswachstums dem Potenzial des Produktionswachstums überlegen sei: Das Potenzial der Erde, Subsistenz zu produzieren, ist sicherlich nicht unbegrenzt, jedoch ist es strikt gesprochen indefinit; d. h., seine Grenzen sind nicht definiert und es wird vermutlich niemals die Zeit kommen, zu welcher wir sagen können, dass keine weitere menschliche Arbeit oder Erfindungsgabe weitere Verbesserungen bringen kann. Aber das Potenzial, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne durch geeignete Bewirtschaftung einen zusätzlichen Betrag an [Subsistenz] von der Erde zu erwirtschaften, besitzt die entfernteste vorstellbare Beziehung zum Potenzial, welches nötig wäre, um mit einem unbeschränkten Bevölkerungsanstieg Schritt zu halten.4
3Senior
(1836), S. 146. (1826), Buch V, Kapitel I.
4Malthus
4.2 Trugschluss 1: Die konventionelle Meinung, dass ein Anstieg …
79
H. C. Carey5 (1837) bemühte eine recht einfache Illustration, um gleichermaßen auf die Tatsache zu verweisen, dass das Prinzip der abnehmenden Erträge letztendlich jede Innovation neutralisieren müsste: Wenn das Land stets proportionale Erträge zu der Größe der [Bevölkerung] generieren würde, so würde es nicht notwendig sein, mehr als einen einzigen Bauernhof oder einen einzelnen Bezirk zu kultivieren, um jegliche Einwohnerzahl zu versorgen; und weil dies nicht der Fall sein kann, wird angenommen, dass jede weitere, auf die Kultivierung angesetzte [Bevölkerung] abnehmende Erträge generiert.6
Selbst unter den geeignetsten Bedingungen für Spezialisierung und „technologischen Fortschritt“ sollte es allen Ökonomen in der Tat als schlichtweg unmöglich erscheinen, eine Bevölkerung von der Größe des eingangs erwähnten Potenzials von etwa 135.000.000 Milliarden Erdbewohnern zu versorgen, welche unter den Bedingungen eines unbeschränkten Bevölkerungswachstums innerhalb von etwa 200 Jahren entstünde. Trotz jener außergewöhnlichen historischen Fälle, in welchen die Entdeckung neuer Territorien oder seltener natürlicher Ressourcen (Rohöl, Gold etc.) die Produktion einer Ökonomie kurzfristig beträchtlich erhöhte, argumentiert Senior (1836) ebenso wie Carey und Malthus, dass dies nicht der permanente Stand der Dinge sein könne: Obwohl es also nicht möglich ist, dem Fortschritt von Verbesserungen irgendwelche festen Grenzen zuzuweisen, ist es nichtsdestotrotz evident, dass er sich nicht über einen längeren Zeitraum in demselben Verhältnis fortsetzen kann, in welchem die Bevölkerung unter einer grenzenlosen Ressourcenversorgung voranschreiten würde.7
Während die Bevölkerung also das Potenzial besitzt, um bis zu neun Prozent jährlich zu wachsen, überschritten die beobachteten jährlichen Wirtschaftswachstumsraten des BIP in historisch dokumentierten Ökonomien langfristig selten fünf oder sechs Prozent. Um die Idee eines das Bevölkerungswachstum überragenden Wirtschaftswachstums zu rechtfertigen, müssten wir demnach eine
5Henry
Charles Carey (1793–1879), US-amerikanischer Ökonom, Chief Economic Advisor von US-Präsident Abraham Lincoln. 6Carey (1837), Vol. 3, S. 8. 7Senior (1836), S. 147.
80
4 Das Entwicklungsregime
nachhaltige BIP-Wachstumsrate von mehr als neun Prozent in denjenigen Ökonomien erwarten, welche bislang erfolgreich der Stagnation entrinnen konnten. Da ein solches Wachstum offensichtlich nicht stattgefunden hat, kann die Idee, dass das Bevölkerungswachstum allgemein durch das Produktionswachstum aufgrund schnellerer Akkumulation von „Technologie“ überproportional übertroffen wurde, auch aus empirischer Sicht nicht bestätigt werden und sollte daher nicht als ökonomisches Prinzip gelten.
4.2.2 Ein exogener Produktionsschock? Es wird oft darauf verwiesen, dass der „Take-off“-Zeitpunkt des Ausbruchs aus der Stagnation stark mit dem Beginn der sogenannten „industriellen Revolution“8 korrespondiert. Diese Koinzidenz wurde insbesondere von Historikern als eine Wende in der Menschheitsgeschichte hin zu einem neuen Pfad nachhaltiger ökonomischer Entwicklung betrachtet. Außerdem führte sie unter Wirtschaftshistorikern zu der populären, wenngleich falschen Einschätzung, dass die industrielle Revolution in Form von rapidem „technologischen Fortschritt“ den Ausbruch aus der Stagnation sogar bewirkt habe.9 Es mag sicherlich richtig sein, dass „technologischer Fortschritt“ fundamental zur britischen industriellen Revolution beigetragen hat und dass dieser nahezu identisch mit einem permanenten Anheben der menschlichen Ressourcenbeschränkung ist. Wenn wir allerdings weiterhin mit dem Modell aus dem vorigen Kapitel argumentieren, dass „technologischer Fortschritt“ bzw. Spezialisierung lediglich ein Resultat des Bevölkerungswachstums ist, müssten wir erneut von einem endogenen, durch Bevölkerungswachstum ausgelösten Produktionsschock als Ursache für den „Take-off“ ausgehen – eine Idee, welche jedoch bereits im letzten Unterabschnitt falsifiziert wurde. Beim Versuch, das Ursachen- und Wirkungsproblem der Endogenität von Produktion und Bevölkerung zu umgehen, bemühen sich Wirtschaftshistoriker aktuell um ein differenzierteres Verständnis zum ursprünglichen Entstehen eines „exogenen Schocks“, welcher in der Lage gewesen sein soll, die britische industrielle Revolution auszulösen. Beispielsweise stellt Clark (2007) die These einer einzigartigen britischen sozialen Aufwärtsmobilität auf, der zufolge wohlhabendere Individuen vormals mehr Nachwuchs bekommen und ihre positive
8Dieser Ausdruck
sollte möglicherweise grundsätzlich neu bewertet werden, da er für wissenschaftliche Zwecke nicht ausreichend genau definiert ist. 9Vgl. z. B. Allen (2009).
4.2 Trugschluss 1: Die konventionelle Meinung, dass ein Anstieg …
81
Einstellung zu harter Arbeit an ihre Kinder vererbt und damit letztendlich über die gesamte Bevölkerung verteilt hätten. Allen (2009) vermutet hingegen, dass steigende britische Nominallöhne eine rapide Kapitalsubstitution und damit „technologischen Fortschritt“ erlaubt hätten, wohingegen Mokyr (2016) das Aufkommen der „technologischen Revolution“ einer einzigartigen britischen Kultur der Aufklärung zuschreibt. Jede dieser Ursachen impliziert, dass die mit der industriellen Revolution beträchtlich wachsende Produktion den Ausbruch aus der Stagnation bewirkte. Um mit einem weitverbreiteten Missverständnis aufzuräumen, muss an dieser Stelle allerdings darauf hingewiesen werden, dass der industriellen Revolution bei der Erklärung des Übergangs zu wirtschaftlicher Entwicklung im Allgemeinen eine zu wichtige Rolle zugeschrieben wurde, welche vermutlich in der Zweideutigkeit des Ausdrucks „Wirtschaftswachstum“ begründet liegt. Die Verbesserungen der industriellen Revolution sowie des „technologischen Fortschritts“ beziehen sich lediglich auf das Wachstum des absoluten BIP seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Dagegen lässt sich hiermit der starke Anstieg des BIP pro Kopf kaum erklären, da dessen Entwicklung bis zum frühen 19. Jahrhundert weiterhin nach dem bisherigen, regulären Muster einer malthusianischen Bevölkerungsfalle verlief, wie nachfolgend illustriert wird. Beginnend im 18. Jahrhundert, hauptsächlich gestützt durch die Einführung der Kartoffel als Nahrungsmittel sowie das Verschwinden endemischer Pestepidemien und die damit einhergehende Absenkung der Mortalität, erfuhren nach und nach alle europäischen Ökonomien ein starkes Bevölkerungswachstum.10 Da – wie gezeigt wurde – eine zunehmend wachsende Bevölkerung aufgrund eines „Trial-and-Error“-Prozesses eine zunehmend größere Zahl an Innovationen erzeugte, erhöhte sich das Tempo der Spezialisierung – ein Prozess, welcher in der industriellen Revolution kulminierte, die wiederum ein wichtiger Referenzpunkt für Smiths Betrachtungen zur Arbeitsteilung gewesen war. Allerdings konnte mit dem Aufkommen dieses Industrialisierungsprozesses das Stagnationsregime nicht überwunden werden, vielmehr folgte dieser Spezialisierungs- und Urbanisierungsprozess der Logik des traditionellen Elendszyklus: Wie im Fall der Jäger- und Sammlergesellschaften war die industrielle Revolution nichts anderes als eine Erkundung neuer Produktionsprozesse, resultierend aus dem Wettbewerb einer wachsenden Arbeiterschaft. Als der ländliche Raum immer dichter (über-)bevölkert wurde, boten die Märkte und Häfen der Dörfer, später die der
10Vgl.
Nunn und Qian (2011) in Bezug auf die Kartoffel und Langer (1963) bezüglich der Pestepidemien.
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4 Das Entwicklungsregime
Städte und letztlich die der Metropolen ein natürliches Sammelbecken, um überschüssige Landarbeiter über spezialisierte Fabriken und Transportunternehmen zu absorbieren, indem man von ökonomischen Skalenerträgen Gebrauch machte, ohne dabei allerdings in der frühen Phase dieses Prozesses die durchschnittliche Produktivität zu erhöhen.11 Im Gegenteil: Die industrielle Revolution ließ mit hoher Wahrscheinlichkeit den Bevölkerungsdruck ansteigen, wobei sie Subsistenz für eine zusätzliche Bevölkerung erzeugte und damit eine Bevölkerungsexplosion stimulierte, welche im Jahr 1815 in einer Bevölkerungswachstumsrate von 1,8 % kulminierte. Wenn wir den Beginn der britischen industriellen Revolution auf die späten 1760er-Jahre datieren, wie es Historiker für gewöhnlich tun, können wir ein paralleles Wachstum von BIP (75 %) und Bevölkerung (78 %) während der ersten 50 Jahre (1770–1820) beobachten, was bedeutet, dass das BIP pro Kopf während dieser Periode stagnierte oder womöglich sogar sank. Folglich scheint der einzige substanzielle Unterschied zwischen der industriellen Revolution und der neolithischen Revolution in ihren ausgewiesenen Geschwindigkeiten zu liegen, mit welchen sich Innovationen aufgrund einer Zunahme der Gesamtbevölkerung verbreiteten, während beide Ereignisse denselben zugrunde liegenden malthusianischen und smithianischen Prinzipien und daher letztlich wirtschaftlicher Stagnation unterworfen waren. Auch hier lässt sich wieder festhalten: „Technologischen Fortschritt“ gab es immer und wird es immer geben, jedoch ist dieser nicht ausschlaggebend für Wohlstand. Ein zusätzliches Indiz dafür, dass die malthusianische Falle durch die industrielle Revolution nicht durchbrochen werden konnte, ergibt sich aus einem Blick auf aktuell wirtschaftlich aufstrebende Staaten: Selbst heute beobachten wir in vielen sich industrialisierenden Ökonomien, dass ein starkes, paralleles Bevölkerungswachstum dazu tendiert, die überschüssigen Individuen in die Emigration oder in tödlichen Wettbewerb zu drängen, oftmals durch kollektive Kriegstreiberei, wobei es regelmäßig die durch Arbeitsteilung und Spezialisierung erzeugten Gewinne vollständig verkonsumiert.12 Zusätzlich zu den oben erwähnten Versuchen, bei welchen von einem exogenen Produktionsschock ausgegangen wird, existieren in der Literatur unzählige weitere Darstellungen, in welchen der Ausbruch aus der Stagnation mit der These, dass „Länder mehr produziert haben“, gerechtfertigt wird, von
11Allen
(2001) und Clark (2009) zufolge kann ein nachhaltiger Anstieg der britischen Löhne nicht bis nach 1820 beobachtet werden. 12Korotayev (2014).
4.3 Historische Entwicklung von BIP pro Kopf, BIP …
83
denen wir lediglich die zwei aktuell populärsten kurz aufgreifen wollen. Während Acemoglu und Robinson (2012) dem institutionellen Ansatz von North (1992) folgen, dem zufolge geeignete politische und ökonomische Institutionen entscheidend für den Ausbruch aus der Stagnation gewesen sein könnten, kritisiert McCloskey (2010) jeden der zuvor genannten Ansätze und stellt fest, dass „die Wirtschaftswissenschaft die moderne Welt nicht erklären kann“, sondern dass das Aufkommen einer spezifischen britischen „bürgerlichen Würde“ (engl. burgeois dignity) den „Take-off“ eingeleitet haben muss. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Ideen eher auf „Ad-hoc“-Theorien basieren und sich daher nicht für eine endogene Wachstumstheorie eignen, mangelt es ihnen allen an einer grundsätzlichen Einsicht: Dass der Ausbruch aus der Stagnation nicht entscheidend durch „bessere Produktionsmethoden“ ausgelöst wurde, welche Verbesserungen in politischer Organisation einschließen, sondern dass der Anstieg des BIP pro Kopf im Wesentlichen durch eine „demografische Drosselung“ des Nenners Bevölkerung verursacht wurde. Obwohl die meisten der angeführten Autoren die Existenz einer malthusianischen Bevölkerungsfalle zu einem früheren Zeitpunkt akzeptieren, lässt nahezu keine ihrer Theorien den Versuch erkennen zu erklären, warum die Bevölkerung seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr in der Lage zu sein schien, zur Produktion aufzuschließen. Wie wir im Folgenden sehen werden, kann im Zuge der Erarbeitung eines Wachstumsregimes jedoch der Mechanismus der Stagnation nicht still und leise ausgelassen werden, vielmehr ist es notwendig, seine Prinzipien weiterhin zu verwenden und in einem nächsten Schritt zu erklären, warum das Bevölkerungswachstum unter diesen Umständen zurückging, wenn man beabsichtigt, eine ganzheitliche Wachstumstheorie zu formulieren.
4.3 Historische Entwicklung von BIP pro Kopf, BIP, Bevölkerung und Geburtenrate Wenn wir den Beginn der britischen industriellen Revolution auf die Einführung von Watts Dampfmaschine im Jahr 1769 datieren, ging diese also dem britischen Bevölkerungswachstumsrückgang, dessen erstes Anzeichen nicht vor dem Jahr 1815 beobachtet werden konnte, deutlich voraus.13 Darüber hinaus
13Alter
und Clark folgern: „Die industrielle Revolution und der demografische Übergang […] waren bislang unabhängig voneinander, wobei die industrielle Revolution dem [demografischen Übergang] in Europa um über 100 Jahre vorausging.“ Alter und Clark (2010), S. 44.
84
4 Das Entwicklungsregime
können wir den Zeitpunkt, an welchem der „Take-off“ stattgefunden haben muss, weitestgehend auf den Zeitraum 1815–1848 eingrenzen. Im Gegensatz zur konventionellen Meinung scheint der Bevölkerungswachstumsrückgang der geeignetere Kandidat für die Auslösung des „Take-offs“ zu sein, da er zeitlich präziser mit dem Ausbruch aus der Stagnation zusammenfällt als die industrielle Revolution. Dies wird bestätigt, wenn wir die Wachstumsraten des BIP und der Bevölkerung anstelle der Niveauvariablen über die vergangenen 200 Jahre betrachten, wie in Abbildung 4.2 dargestellt. Wie gezeigt, kann der Trend des BIP-pro-Kopf-Wachstums einfach approximativ aus der Differenz zwischen dem linearen Trend des BIP-Wachstums und dem linearen Trend des Bevölkerungswachstums hergeleitet werden. Zum einen beobachten wir eine Divergenz zwischen Bevölkerungswachstum (orange) und Produktionswachstum (blau) und damit natürlich einen Anstieg des Produktivitätswachstums. Zum anderen lässt sich feststellen, dass der starke Bevölkerungswachstumsrückgang im Vergleich zum schwachen Anstieg des BIP-Wachstums etwa die zwei- bis dreifache Erklärungskraft besitzt. Dementsprechend muss der überwiegende Anteil des BIP-pro-Kopf-Anstiegs der demografischen Drosselung geschuldet sein und sehr viel weniger einer (über einen Produktionsanstieg definierten) industriellen Revolution. Da wir bereits gesehen haben, dass die Variable (natürliches) Bevölkerungswachstum erschöpfend in die Differenz von Geburten- und Sterberaten aufgesplittet werden kann, und da, wie wir weiter unten sehen werden, beide demografischen Raten einen relativ kontinuierlichen, negativen, linearen Trend nach 1815 aufweisen, muss der Rückgang des Bevölkerungswachstums darüber hinaus allein der fallenden Geburtenrate zugeschrieben werden – ein Prozess, welcher als „Fertilitätsrückgang“ bezeichnet wurde. Als Teil des Bevölkerungswachstumsrückgangs muss dieser Fertilitätsrückgang per Definition bis zu einem gewissen Grad mit einem ansteigenden BIP-pro-Kopf assoziiert gewesen sein. Wie in Abbildung 4.3 illustriert, verlief der Fertilitätsrückgang in Britannien nach etwa 1800 langfristig ungefähr diametral zum Anstieg des BIP pro Kopf. Die globale Betrachtung aus Mitchells (2013) „International Historical Statistics“ bestätigt diese Idee, da hiernach keine Ökonomie existiert, in welcher ein nachhaltiger Anstieg des BIP pro Kopf zeitlich vor einem nachhaltigen Rückgang der Geburtenrate realisiert wurde (siehe erneut Anhang C für diverse Beispiele). Folglich wird angenommen, dass der stilisierte Fakt „Kreuz des Wohlstands“, welcher in der rechten Grafik von Abbildung 4.3 dargestellt ist, das allgemeine Muster zwischen Geburtenrate und BIP pro Kopf passend abbildet.
4.3 Historische Entwicklung von BIP pro Kopf, BIP …
85
Abbildung 4.2 Divergenz von BIP-Wachstum (blau) und Bevölkerungswachstum (orange) in Britannien 1800–2010. Quellen: BIP: Clark (2009) für 1800–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010. Bevölkerung: Wrigley und Schofield (1981) für 1800–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010
Index
Stagnations-
regime
Entwicklungsregime
BIP pro Kopf
Geburtenrate Zeit
x
Abbildung 4.3 Links: „Kreuz des Wohlstands“ in Britannien: Geburtenrate (blau) und BIP pro Kopf (grün) 1800–2007. Rechts: Stilisierter Fakt „Kreuz des Wohlstands“. (Quellen: BIP: Clark (2009) für 1800–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010. Bevölkerung: Wrigley und Schofield (1981) für 1800–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010)
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4 Das Entwicklungsregime
4.4 Das Entwicklungsregime: Stilisierte Fakten und Theorie Die umfassendste aktuelle Ausarbeitung zu den stilisierten Fakten des Wachstums ist vermutlich in Galors Buch „Unified Growth Theory“ (2011) zusammengefasst, welcher einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Geburtenrate und dem Ausbruch aus der Stagnation vermutet. Galors ganzheitliche Wachstumstheorie baut im Wesentlichen auf den folgenden beobachteten stilisierten Fakten wirtschaftlicher Entwicklung auf: 1. Jede Ökonomie befand sich zu einem gewissen Punkt in den vergangenen drei Jahrhunderten in einem Stagnationsregime, in welchem die Produktivität auf einem niedrigen Niveau und die Geburtenrate auf einem hohen Niveau verharrten. 2. Heute (im 21. Jahrhundert) haben nahezu alle Ökonomien dieses Stagnationsregime zugunsten eines Wachstumsregimes verlassen, in welchem die Produktivität von einem niedrigen auf ein hohes Niveau ansteigt. 3. Ungefähr zur selben Zeit, zu der diese Ökonomien das Stagnationsregime verließen, setzte ein Fertilitätsrückgang ein, aufgrund dessen die Geburtenrate von einem hohen Niveau auf ein niedriges sank.14 Die Aufgabe des Wachstumsökonomen ist es nun, Hypothesen zur Erklärung dieser negativen Beziehung zwischen Geburtenrate und BIP-pro-Kopf-Wachstum aufzustellen, sie zu testen und die entsprechenden kausalen Effekte plausibel zu modellieren. Vertreter des kremerschen Modells tendieren dazu, den Fertilitätsrückgang zu vernachlässigen, indem sie konventionellerweise behaupten, dass die Produktion nicht nur ausreichend anstieg, um das Bevölkerungswachstum zu überflügeln, sondern um abnehmende Erträge auszuhebeln,15
was allerdings, wie gesagt, unter dem Gesichtspunkt der Betrachtungen in den vorherigen Abschnitten nicht länger tragbar ist. Dennoch ergibt sich aus der Fest-
14Vgl.
Thompson (1930), welcher den Fertilitätsübergang als Teil des „demografischen Übergangs“ bezeichnete. 15Vgl. Komlos (2003).
4.5 Trugschluss 2: Die konventionelle Meinung …
87
stellung, dass der Fertilitätsrückgang global mit dem BIP-pro-Kopf-„Take-off“ einhergeht, regelmäßig die Frage, ob der Übergang zum Wachstum eine gleichzeitige Konsequenz oder eine gleichzeitige Ursache für den Fertilitätsrückgang gewesen ist. Während letztere Hypothese in Abschnitt 4.7 betrachtet und falsifiziert werden wird, tendieren Demografen dazu, den Fertilitätsrückgang eher als Ursache für den BIP-pro-Kopf-Anstieg anzusehen, indem sie das Konzept der Stagnation auf den Kopf stellen: Wenn nachgewiesen wurde, dass ehemals starkes Bevölkerungswachstum Zuwächse im Lebensstandard verhinderte, eröffnet ein Bevölkerungswachstumsrückgang die Option für moderne wirtschaftliche Entwicklung.16 Nachfolgend wird argumentiert werden, dass diese demografische Vorhersage mit der klassischen Theorie übereinstimmt.
4.5 Trugschluss 2: Die konventionelle Meinung, dass das Bevölkerungsprinzip falsifiziert worden sei Vor 200 Jahren war Malthus’ Bevölkerungsprinzip gemeinhin bekannt und seine theoretische Bedeutung schien, wenngleich unter Laien kontrovers diskutiert, unter Ökonomen allgemein akzeptiert zu sein. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts bildete es nicht nur eine der theoretischen Grundlagen der Politischen Ökonomie, sondern auch die Basis der aufstrebenden Wissenschaften Soziologie und Biologie. Dennoch ließ seine Popularität bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stark nach, da die neuen Generationen Britanniens nicht mehr mit denselben wiederkehrenden, das Überleben betreffenden Alltagsproblemen konfrontiert waren, welchen sich die klassischen Ökonomen noch gegenübersahen. So wurde das Bevölkerungsprinzip zunächst zunehmend fehlinterpretiert und letzten Endes als falsifiziert betrachtet. Wie konnte es dazu kommen? Das kontroverse und berühmte Argument, welches Malthus ursprünglich im Jahr 1798 vorgebracht hatte, war, dass das Bevölkerungsprinzip in der Realität unvermeidlich die Bevölkerung, welche exponentiell wachse („geometrisch“), dazu antreibe, sich dauerhaft jeder höheren Produktion, welche lediglich linear steige („arithmetisch“), anzupassen: Die natürliche Ungleichheit der zwei Potenziale der Bevölkerung und der Produktion auf der Erde und dieses maßgebende Gesetz unserer Natur, welches ihre Effekte andauernd ausgleicht, bilden die wesentliche Problematik, welche mir
16Vgl.
Livi-Bacci (2012).
88
4 Das Entwicklungsregime unüberwindbar erscheint bezüglich der Perfektionierbarkeit der Gesellschaft. Alle anderen Argumente sind von niedriger oder untergeordneter Wichtigkeit im Vergleich zu dieser. Ich sehe keinen Weg, durch welchen der Mensch dem Gewicht dieses Gesetzes entkommen kann, welches die gesamte Natur beherrscht.17
Gegen diese Aussage wurde (auch von den Klassikern selbst) ein wichtiger und legitimer Einwand erhoben. Trotz der illustrierten frühen Stagnation des BIP pro Kopf und ihrer dargestellten Gültigkeit für alle Spezies wirkt die Position der Unvermeidbarkeit eines Stagnationsregimes heute für viele Ökonomen aus den folgenden zwei Gründen nicht überzeugend: Erstens beobachten sie ein global wachsendes BIP pro Kopf. Zweitens registrieren sie gleichzeitig ein abnehmendes Bevölkerungswachstum. Nun wird meist übersehen, dass Malthus in seinen späteren Veröffentlichungen optimistischer wurde und klar zu verstehen gab, dass seine ursprüngliche Version eines „unbeschränkten“ Bevölkerungsprinzips, welches unvermeidbar zu einem permanenten Stagnationsregime führe, irreführend gewesen war. Nachdem er große Teile Europas bereist und Eindrücke und Bevölkerungsdaten gesammelt hatte, kam Malthus zu der Einsicht, dass es möglich sei, das exponentielle Bevölkerungspotenzial einzudämmen, und schwächte seine vormaligen Schlussfolgerungen in seinen späteren Publikationen (1803–1826) ab, indem er häufiger den Ausdruck „Tendenz“ verwendete. Demnach wurde das Bevölkerungsprinzip nun richtigerweise als eine dauerhaft wirkende, abstrakte Tendenz (wobei das Wort „Tendenz“ verwendet werden sollte, um eine natürliche Neigung hin zu einem Bevölkerungsanstieg auszudrücken) interpretiert und lediglich als Referenzpunkt für theoretische Betrachtungen herangezogen. Die tatsächliche historische Epoche der Stagnation musste im Gegensatz dazu als eine jederzeit testbare empirische Tatsache angesehen werden. Demnach sollte also das Bevölkerungsprinzip als „universelles Gesetz“ (wie das „Gesetz der Schwerkraft“) akzeptiert werden, wohingegen der Mechanismus der malthusianischen Falle und das aus ihm resultierende Stagnationsregime unter geeigneten Bedingungen umgangen werden können. Das Bevölkerungsprinzip besagt also nicht, dass jede Bevölkerung in der Realität zu allen Zeiten exponentielles Wachstum aufweist, wie es oft fälschlicherweise dargestellt wird, sondern reflektiert einen latenten „Druck“, welcher ständig auf einen Bevölkerungsanstieg hinarbeitet. Neben anderen untermauerte McCulloch (1863) die Universalität dieses Prinzips, indem
17Malthus
(1798), Kapitel 1.
4.5 Trugschluss 2: Die konventionelle Meinung …
89
er behauptete, dass die Menschheit sich in der Tat zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte mit dem Bevölkerungsprinzip konfrontiert gesehen habe: Das Prinzip, dessen Wirken sich unter geeigneten Umständen folglich herausgearbeitet hat, ist, in der Sprache der Geometer (?), eine „konstante“ Quantität. Dasselbe Potenzial, welches die Bevölkerung von Kentucky, Illinois und New South Wales in 25 oder 30 Jahren verdoppelt hat, existiert überall und ist gleichermaßen wirksam in England, Frankreich und Holland.18
Trotz Malthus’ Eingeständnis scheint sich die Mehrheit der modernen Ökonomen in ihren intellektuellen Ausführungen stets auf seinen ersten Essay zum Bevölkerungsprinzip zu beziehen. Daher neigen sie auch daher dazu, die „Tendenz“ des Bevölkerungsprinzips und die „selbstevidente Tatsache“ der Stagnation nicht voneinander zu differenzieren.19 Senior hatte bereits eine weitverbreitete Ignoranz in Bezug auf Malthus’ revidierte Auffassung wahrgenommen und er befürchtete längst, dass es schwierig sein würde, die ursprüngliche, populärere, eingängigere, jedoch falsche Version zurückzunehmen: Auf der anderen Seite stehen jene, die behaupten, die Bevölkerung besitze eine Tendenz (wobei das Wort „Tendenz“ verwendet wird, um eine Wahrscheinlichkeit und Mutmaßlichkeit auszudrücken), über ihre Subsistenzmittel hinauszuwachsen, oder, in anderen Worten, dass, wie auch immer die existierenden Subsistenzmittel geartet seien, die Bevölkerung sie mutmaßlich vollständig aufzehren wird und sogar dazu neigt, hierüber hinauszuwachsen, und dass die Bevölkerung nur durch Untugend und Elend, welche durch dieses Wachstum entstehen, auf einem erträglichen Niveau gehalten wird.20
Jede mit dieser veralteten malthusianischen Behauptung konfrontierte Person wird diese mit hoher Wahrscheinlichkeit als empirisch falsifiziert betrachten und daher vernünftigerweise zurückweisen. Wenn diese Person darüber hinaus diese Behauptung als das zentrale Argument der malthusianischen Bevölkerungstheorie erachtet, wird sie irrtümlicherweise dazu neigen, das Bevölkerungsprinzip ebenso
18McCulloch
(1863), Teil I, Kapitel VIII. bereits bemerkt wurde, scheinen selbst die aktuellen Versuche, die klassische malthusianische Sichtweise wiederzubeleben, einer Geschichtsauffassung zu unterliegen, in welcher die Bevölkerung die Produktion dauerhaft und unvermeidbar als eine „selbstevidente Tatsache“ übersteigt und nicht vernünftigerweise als eine „Tendenz des Bevölkerungswachstums“ zu verstehen ist. 20Senior (1836), S. 146. 19Wie
90
4 Das Entwicklungsregime
abzulehnen. Folglich, zumal Mill und McCulloch Sätze wie den folgenden formulierten, dass es eine konstante Tendenz aller Lebewesen gibt, über die für sie bereitgestellten Nahrungsmittel hinauszuwachsen, kann niemand ernsthaft bezweifeln,21
fühlte sich Senior dazu verpflichtet, ihre Wortwahl zu kommentieren und klarzustellen, dass wir glauben, dass sie [Mill und McCulloch] sie nutzten, ohne selbst in die Irre geführt worden zu sein, und, vielleicht gerade deswegen, ohne ihre Tendenz wahrzunehmen, andere in die Irre zu führen. Doch dass diejenigen, welche nur oberflächlich mit Politischer Ökonomie vertraut sind (und diese bilden die große Masse selbst in den gebildeten Klassen), durch die Art, in welcher die Bevölkerungslehre formuliert wurde, in die Irre geführt wurden, erscheint uns unbestreitbar. Wenn solchen Personen gesagt wird, dass „es die Tendenz der menschlichen Rasse ist, schneller als die Subsistenzmittel zu wachsen“, schließen sie daraus, dass das, was eine Tendenz besitzt, tatsächlich erwartet werden muss. Weil zusätzliche Bevölkerung Armut bringen könnte, nehmen sie an, dass sie es notwendigerweise tun wird […]. [Eine solche Lehre] bildet einen einfachen Ausweg aus Problemen jeglicher Projekte zur Verbesserung. „Welchen Nutzen hätte es“, fragen sie, „eine intensive Emigration voranzutreiben? Das komplette Vakuum würde sofort durch den unvermeidlichen Bevölkerungsanstieg aufgefüllt.“ […] Wir haben unsere Leser mit dieser Diskussion derart lange aufgehalten, weil wir glauben, dass diese Fehlkonzeptionen weitverbreitet sind. Eine Diskussion, welche einige lediglich als Disput um den geeigneten Gebrauch eines Wortes betrachten und andere als Versuch, eine selbstevidente Tatsache zu beweisen.22
Zusammenfassend werde ich, Malthus’ späteren Publikationen folgend, das Bevölkerungsprinzip in diesem Buch als ein „universelles Gesetz“ betrachten, welches auch in der Epoche des Entwicklungsregimes fortwirkt, wohingegen seine ursprüngliche Auffassung einer malthusianischen Falle nach dem Ausbruch aus der Stagnation als empirisch falsifiziert gelten kann. Folglich muss, da das Ende des Stagnationsregimes nicht das Ende des Bevölkerungsprinzips einleitet, der positive Effekt des Produktivitätswachstums auf die Bevölkerung weiterhin als Teil des hier vorgeschlagenen, ganzheitlichen Wachstumsmechanismus modelliert werden.
21Mill
(1848), Buch I, Kapitel VII. (1836), S. 149.
22Senior
4.6 Die klassische Bevölkerungstheorie und die klassische …
91
4.6 Die klassische Bevölkerungstheorie und die klassische Produktionstheorie im Entwicklungsregime 4.6.1 Ein exogener Fertilitätsschock Nachdem wir gesehen haben, dass das Bevölkerungsprinzip sein volles Potenzial nur in der Theorie entfaltet, müssen wir uns fragen, durch welche Kräfte sein Druck in der Realität abgeschwächt oder „gecheckt“ wird. Mit seiner zweiten Proposition, dass die Bevölkerung unweigerlich zunimmt, wann immer die Subsistenzmittel zunehmen, es sei denn, sie wird durch irgendeinen sehr mächtigen und offensichtlichen Check unterdrückt,23
bestimmte Malthus implizit die Bedingungen, unter welchen die Bevölkerung die Subsistenzgrenzen nicht überschreiten würde. Aufgrund der (erschöpfenden) Definition der Produktivität durch das Verhältnis von Produktion zu Bevölkerung wissen wir, dass der Bevölkerungsdruck lediglich entweder durch „einen Anstieg der Subsistenzmittel“ Y oder durch „einen mächtigen und offensichtlichen Check“ der Bevölkerung N abgeschwächt werden kann. Um der zweiten Option nachgehen zu können, werde ich die Bevölkerungschecks zunächst erschöpfend definieren, indem ich wiederum von der Formel der N = B − D ausgehe. Mr. Malthus hat die Bevölkerungschecks [N] in die präventiven und die positiven eingeteilt. Die ersten sind diejenigen, welche die Fertilität beschränken, die zweiten diejenigen, welche die Lebensdauer verkürzen. Die ersten reduzieren die Zahl der Geburten [B], die zweiten erhöhen die Zahl der Sterbefälle [D]. Und da Fertilität und Lebensdauer die einzigen Elemente der Kalkulation sind, ist es offensichtlich, dass Mr. Malthus’ Einteilung erschöpfend ist.24
Somit lassen sich nun drei Optionen zur Abschwächung des Bevölkerungsdrucks unterscheiden: „positive Checks“, „Anstieg der Subsistenzmittel“ und „präventive Checks“. Bis hierher wurde argumentiert, dass weder die positiven Checks noch
23Malthus 24Senior
(1826), Buch I, Kapitel II. (1836), S. 141.
92
4 Das Entwicklungsregime
ein Anstieg der Produktion im Falle eines unbeschränkten Bevölkerungsprinzips in der Lage seien, den Bevölkerungsdruck dauerhaft zu reduzieren und damit die Produktivität langfristig zu erhöhen. Da wir also diese beiden Möglichkeiten für einen dauerhaften Anstieg der Produktion pro Kopf ausschließen müssen, bleibt die finale Option zu evaluieren, i. e., den Bevölkerungsdruck zu reduzieren, indem die Geburtenzahl präventiv gecheckt wird, und zu schlussfolgern, dass die präventiven Checks alleinverantwortlich für den Ausbruch aus der malthusianischen Falle sind. In der vorliegenden einschlägigen Literatur wird regelmäßig übersehen, dass sich dieses Resultat direkt aus einer von Malthus’ wichtigsten Illustrationen ableitet: Im Bestreben, der Menge der Erträge zur Anzahl der Konsumenten in das Verhältnis jedem Land y = NY zu erhöhen, werden wir unsere Aufmerksamkeit zunächst auf einen Anstieg der Menge der Erträge [Y ] richten. Aber erkennend, dass, mit welcher Geschwindigkeit wir dies auch täten, die Anzahl der Konsumenten [N] mehr als Schritt hält und dass wir mit all unseren Bemühungen dennoch soweit zurücklägen wie nie zuvor, sollten wir davon überzeugt sein, dass wir, wenn wir unsere Anstrengungen nur in diese Richtung lenkten, niemals erfolgreich sein würden. Es würde uns erscheinen, als würden wir die Schildkröte aussetzen, um den Hasen einzuholen. Erkennen wir also, dass wir aufgrund von Naturgesetzen nicht die Nahrungsmittel [Y ] an die Bevölkerung [N] anpassen können, sollte unser nächster Versuch natürlich sein, die Bevölkerung an die Nahrungsmittel anzupassen. Wenn wir den Hasen vom Einschlafen überzeugen können, mag die Schildkröte eine Chance besitzen, ihn zu überholen.25
Wenngleich er oft als Pessimist dargestellt wurde, sah Malthus die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation als eine sehr reale Möglichkeit an. Nachvollziehbarerweise kann das Potenzial des Bevölkerungswachstums nicht voll ausgeschöpft werden, sofern das Bevölkerungswachstum beschränkt wird. Des Weiteren wird allein dann und nur dann, wenn das Bevölkerungspotenzial eingedämmt ist, eine Situation erzeugt, in welcher die Produktion möglicherweise schneller als die Bevölkerung ansteigen kann und damit Pro-Kopf-Wachstum generiert. Logischerweise ist, von den positiven Checks abgesehen, der einzig gangbare Weg, über welchen der „Hase zum Einschlafen“ gebracht werden kann, irgendeine Art von Geburtenbeschränkung anzuregen und somit das Bevölkerungswachstum präventiv zu checken, denn
25Malthus
(1826), Buch IV, Kapitel III.
4.6 Die klassische Bevölkerungstheorie und die klassische …
93
Es liegt nicht in der Natur der Sache, dass irgendeine dauerhafte und allgemeine Verbesserung der Lage der Armen eintreten kann, ohne den präventiven Check zu verstärken; und bis dies stattfindet, entweder mit unserer oder ohne unsere Unterstützung, ist alles, was für die Armen getan wird, temporär und Stückwerk. […] Dies ist eine solch wichtige Wahrheit und so wenig verstanden, dass man kaum zu oft darauf bestehen kann.26
Nach Malthus schließen die präventiven Checks jede Aktion ein, welche die Geburtenzahl negativ beeinflusst und somit die maximale Fertilitätsrate senkt. Analog zum Fall der positiven Checks riet er dazu, zur Messung der präventiven Checks die Geburtenrate zu verwenden, da diese Vorgehensweise der einzige Weg sei, sie erschöpfend zu erfassen. Der präventive Check wird möglicherweise am besten durch die Größe des Verhältnisses der jährlichen Geburten zur gesamten Bevölkerung gemessen werden.27
Dementsprechend wird, wann immer die präventiven Checks stark ausgeprägt sind, eine niedrige Geburtenrate beobachtet werden – und umgekehrt. Unter Berücksichtigung der vorangehenden Betrachtungen muss der entscheidende Mechanismus einer Theorie wirtschaftlicher Entwicklung darauf basieren, dass das Wachstum der Bevölkerung erst mit dem Beginn des Fertilitätsrückgangs zunehmend daran gehindert wurde, jedwede Produktivitätsgewinne aufzubrauchen, und damit das Wachstum des BIP pro Kopf ermöglichte. In diesem Buch wird daher die These vertreten, dass der Hauptunterschied zwischen den beiden Regimen der Stagnation und der Entwicklung auf ihre kontrastierenden Formen der Bevölkerungskontrolle reduziert werden kann. Genauer gesagt, wurde durch den Beginn des Fertilitätsrückgangs die Epoche der Stagnation – charakterisiert durch „positiv gecheckte“ periodische Überbevölkerung und ausgewiesen durch hohe Sterberaten – durch ein modernes Wachstumsregime abgelöst, weil ein potenziell überschüssiger Teil der Bevölkerung konstant präventiv gecheckt wurde, d. h. via Geburtenkontrolle, ausgewiesen durch niedrige Geburtenraten. Wir können daher den oben erwähnten skeptischen Ökonomen antworten: „Ja, es stimmt. Wir beobachten ein zunehmendes BIP pro Kopf und zur gleichen Zeit abnehmendes Bevölkerungswachstum. Aber das widerspricht nicht der malthusianischen Theorie, sondern ist
26Malthus 27Ibid.,
(1826), Buch IV, Kapitel XIII. Buch II, Kapitel XI.
94
4 Das Entwicklungsregime
ein Teil von ihr. Eine Zunahme des präventiven Checks bewirkt eine Abnahme des Bevölkerungswachstums, welches wiederum eine gleichzeitige Ursache für den Anstieg der Produktivität ist.“
4.6.2 Ein exogener Fertilitätsschock im neoklassischen Modell In diesem Abschnitt wird unter Verwendung des neoklassischen Bezugsrahmens mathematisch und grafisch argumentiert, dass nachhaltig zunehmende Produktivität vornehmlich das Resultat der Reduzierung einer zu hohen Fertilität ist. Dieses Ergebnis folgt grob Galors (2011) Argumentationslinie. Dieser vermutet, dass eine Veränderung der elterlichen Fertilitätspräferenzen von einer ehemals bevorzugten hohen Quantität des Nachwuchses hin zu einer nun stärker gewichteten Qualität des Nachwuchses (über eine verbesserte Erziehung bzw. Ausbildung) den „Take-off“ wirtschaftlicher Entwicklung forciert hat. Insbesondere Ashraf u. a. (2013) machen einen negativen Effekt von Veränderungen der Fertilität auf das BIP pro Kopf aus, welcher etwa 10 % der langfristigen Entwicklung erklären kann.28 Die in diesem Buch dargestellte klassische Theorie folgert weit darüber hinausgehend, dass sich mit der historischen Reduzierung der Fertilität langfristige Entwicklung nahezu vollständig begründen lasse. Wie erwähnt, wird oft eingewendet, dass das in Kapitel 3 verwendete Solow-Modell nicht in der Lage sei, den historisch beobachteten BIP-pro-KopfAnstieg zu erklären. Wie wir jedoch ebenfalls gesehen haben, wird bei dieser Behauptung oft der von einem Rückgang der Geburtenrate ausgehende, positive Effekt übersehen, welcher in die strukturelle Gleichung aus Kapitel 3 wie folgt eingeflossen ist:
gyt,j =
γ ln bt−j − ln bt 1−γ
(4.1)
Während eine über den Zeitverlauf zunehmende Geburtenrate den Steady-StateWert der Produktivität senkt, erkennen wir, dass ein Rückgang der Geburtenrate sehr wohl als Auslöser für Produktivitätswachstum während des Übergangs zwischen zwei Steady States geeignet ist. Man kann also davon ausgehen, dass,
28Die
möglicherweise aktuellste Auswertung dieses Arguments wurde von Chatterjee und Vogl (2018) präsentiert.
4.6 Die klassische Bevölkerungstheorie und die klassische …
95
wie in Abbildung 4.4 gezeigt wird, eine kontinuierlich sinkende Geburtenrate von bt−j hin zu bt während dieses Übergangs Produktionswachstum erzeugt, da in diesem Fall die rechte Seite von Gleichung (4.1) positiv ist.29 Die entsprechende ökonomische Intuition besagt, dass wirtschaftliche Entwicklung in diesem Fall allein dadurch bewirkt wird, dass die vorteilhaften Effekte der Arbeitsteilung den nachteiligen Effekten der abnehmenden Erträge des Faktors Bevölkerung überlegen sind.
Abbildung 4.4 Ein Rückgang des Bevölkerungswachstums im Solow-Modell
Wir konnten bereits im ersten Teil dieser Arbeit empirisch feststellen, dass das Bevölkerungswachstum ehemals das Produktionswachstum überstieg und damit Pro-Kopf-Stagnation bewirkte. Außerdem verlangsamte sich in der sich anschließenden Epoche das Bevölkerungswachstum und bedingte das Potenzial für wirtschaftliche Entwicklung. Offensichtlich fügt sich unser Modell perfekt in diesen Rahmen ein, da hier eine abnehmende Geburtenrate als die entscheidende Ursache für einen Produktivitätsanstieg betrachtet werden kann.
29Dieses Resultat wurde in zahlreichen Studien zur Wirtschaftsentwicklung bestätigt, u. a. in der Studie von Sachs und Malaney (2002).
96
4 Das Entwicklungsregime
Dementsprechend wirkt die negative Kausalbeziehung von Geburtenrate zu Produktivität – ausgewiesen durch den Zusammenhang zwischen PoDR und PoLD – über beide Epochen bzw. Regime hinfort und kann den Missing Link zwischen Galors zweitem und drittem stilisierten Fakt liefern. Um das präzise Timing sowie die Größenordnung der Beziehung zwischen Geburtenrate und BIP-pro-Kopf-Wachstum bestimmen zu können, werden die Parameter γ und j in Anhang B empirisch geschätzt.
4.6.3 Simulation eines Fertilitätsrückgangs Wenn wir die obigen Erkenntnisse rekapitulieren, können wir den Einfluss eines einfachen (exogenen) Fertilitätsrückgangs auf Produktion und Bevölkerung über die Einführung eines negativen Trends lt in die Bevölkerungsgleichung unseres vereinfachten Stagnationsmodells wie folgt simulieren (Tabelle 4.1):
gyt = α1 bt−15 − α2 bt + ǫgy15 bt = α3 bt−1 + α4 gyt−1 + α0 glt dt = α5 dt−1
(4.2)
Tabelle 4.1 Kalibrierung des Systems (4.2) α1
α2
α3
Siehe Tabelle 3.1
α4
α5
α0
b0
d0
0, 40
Siehe Tabelle 3.1
gy0
ǫgy15
l 0, 02 − 0, 001t
Wie in den Abbildungen 4.5 und 4.6 zu sehen ist, erhöht ein exogen modellierter Rückgang der Geburtenrate über eine Reduzierung des Bevölkerungswachstums das Produktionswachstum pro Kopf aufgrund – nicht trotz – des anhaltenden Wirkens der drei klassischen Prinzipien. Obwohl die Produktivität mit einem exponentiellen Anstieg reagiert, ist der Einfluss der Geburtenrate nicht stark genug, um den beobachteten 16-fachen Anstieg des britischen BIP pro Kopf zu erklären, was zum Teil dem Gebrauch der absoluten Geburtenrate anstelle der logarithmierten Geburtenrate geschuldet ist. Da wir zudem bislang die Sterblichkeit konstant gehalten und damit den Effekt einer abnehmenden Sterberate auf die Bevölkerungswachstumsrate ausgeblendet haben, kann ein paralleler Rückgang von Bevölkerung und Produktion während der letzten in der Simulation ausgewiesenen Perioden beobachtet werden, welcher von den stilisierten Fakten nicht gestützt wird. Wir werden daher im nächsten Kapitel den Sterblichkeitsrückgang ausführlich betrachten.
4.7 Trugschluss 3: Die konventionelle Meinung, dass Entwicklung …
97
Abbildung 4.5 Eine Simulation eines exogenen Fertilitätsrückgangs in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP-pro-Kopf-Wachstumsrate (hellgrün))
Abbildung 4.6 Eine Simulation eines exogenen Fertilitätsrückgangs in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange), BIP pro Kopf (grün))
4.7 Trugschluss 3: Die konventionelle Meinung, dass Entwicklung einen Fertilitätsrückgang bewirke Bis hierher können wir schlussfolgern, dass der Fertilitätsrückgang den Ausbruch aus der Stagnation auslöste. Im Rahmen der Bevölkerungstheorie ist es daher von größtem Interesse, die Frage zu beantworten, wodurch die Fertilität gesenkt wurde. Wenngleich also gezeigt wurde, dass der Fertilitätsrückgang eher
98
4 Das Entwicklungsregime
eine Ursache für (als eine Reaktion auf) den Produktivitätsanstieg gewesen ist, wird dennoch sehr oft ungerechtfertigterweise umgekehrt argumentiert, dass der Ausbruch aus der Stagnation den Fertilitätsrückgang eingeleitet habe. Diese Idee führte zu der populären, jedoch falschen Auffassung, dass „Entwicklung die beste Verhütung“ sei, anstatt richtigerweise zu schlussfolgern, dass „Verhütung die beste Entwicklung“ ist. Da wir in unserer Simulation Fertilität in Abhängigkeit vom Produktionswachstum modelliert haben, sollte auf dieses Missverständnis zumindest eingegangen werden, was wir im Folgenden tun werden.
4.7.1 Ein endogener Fertilitätsschock? Aufgrund der Tatsache, dass sich Produktivität und Geburtenrate während des Entwicklungsprozesses auseinanderentwickeln, begannen Theoretiker des 20. Jahrhunderts zu glauben, dass ein steigender Lebensstandard Individuen grundsätzlich dazu anleitet, die Zahl ihrer Kinder zu senken. Dies ist eine aktuell sehr geläufige Idee, welche als das „demografisch-ökonomische Paradoxon“ Bekanntheit erlangte.30 Diese irrige Annahme ist bereits bei A. Marshall31 (1890) zu finden, welcher feststellt: Insgesamt scheint es erwiesen zu sein, dass die Geburtenrate im Allgemeinen niedriger unter den Wohlhabenden ist als unter denjenigen, welche wenige kostspielige Vorkehrungen für ihre eigene Zukunft und die ihrer Familien treffen und welche ein aktives Leben führen, und dass die Fertilität durch luxuriöse Lebensgewohnheiten gesenkt wird.32
Dieses Zitat mag dazu verleiten, eine negative Auswirkung erhöhter Produktivität (d. h. von Lebensstandard bzw. individuellem Einkommen) auf die Fertilität zu vermuten. Hierauf aufbauend erklärte der Nobelpreisträger G. Becker, dass das Erreichen einer gewissen Einkommens- oder Produktivitätsschwelle die Opportunitätskosten für Nachwuchs erhöhen und einen Rückgang der Fertilität einleiten würde.33 Das Dafürhalten für eine Einkommensschwelle mag zum
30Vgl.
z. B. Becker und Lewis (1973). Marshall (1842–1924), britischer Professor für Politische Ökonomie an der Cambridge University, Mitglied der Royal Commission von 1891, einer der Begründer der neoklassischen Wirtschaftstheorie. 32Marshall (1890), Buch IV, Kapitel IV. 33Becker (1981). 31Alfred
4.7 Trugschluss 3: Die konventionelle Meinung, dass Entwicklung …
99
Teil von der Dringlichkeit herrühren, eine ökonomische Rechtfertigung für die kremersche/boserupsche Sichtweise zu finden, nachdem die ursprüngliche malthusianische Sichtweise (ungerechtfertigterweise) verworfen worden war. Mokyr und Voth hielten dazu fest: Um zu vermeiden, dass [die Bevölkerung] ein explosives Verhalten [während des Ausbruchs aus der Stagnation] aufweist, ist ein [Fertilitätsrückgang] notwendig in der Form, dass Fertilität negativ auf höhere Einkommen über irgendeinem Schwellenwert reagiert.34
Demgegenüber bemerkten Alter und Clark: [Heute] sehen sich ökonomische Fertilitätsmodelle einer fundamentalen Herausforderung gegenüber. Alle plausiblen Modelle der Bevölkerungsregulierung in der vorindustriellen Welt hängen von einer positiven Verbindung zwischen Nettofertilität und Einkommen ab. Diese positive Korrelation zwischen Fertilität und Einkommen entwickelte sich in Europa [während des 19. Jahrhunderts] zu einer negativen, und heute scheint kein Zusammenhang zwischen Einkommen und Fertilität in Gesellschaften mit hohem Einkommen und niedriger Fertilität zu existieren.35
Es existieren zahlreiche Argumente, mit welchen ein potenziell negativer Einfluss der Produktivität auf die Fertilität verneint werden kann. Wir werden hier lediglich vier Argumente anführen und uns in Anhang B einer empirischen Darstellung dieser Auffassung zuwenden. Erstens konnte die Existenz einer Einkommensschwelle seit Beckers Pionierarbeit trotz reichlich verfügbarer Daten nicht nachgewiesen werden. Zweitens ist ein derartiger negativer Effekt des Einkommens auf die Fertilität inkompatibel mit dem evolutionär erwiesenen Bevölkerungsprinzip, welches einen positiven Effekt des Einkommens auf die Fertilität postuliert. Drittens kritisierte bereits Spencer (1852) die allgemeinere Idee, der zufolge über ein evolutionäres Prinzip „Überernährung den Bevölkerungszuwachs checkt“: Die Theorie, welche Mr. Doubleday zu etablieren versucht, ist, dass auf der einen Seite im Tier- und Pflanzenreich durchweg „Nahrungsüberfluss den Bevölkerungszuwachs checkt, während auf der anderen Seite eine limitierte oder unzureichende
34Mokyr 35Alter
und Voth (2010), S. 9. und Clark (2010), S. 63.
100
4 Das Entwicklungsregime
Ernährung den Zuwachs stimuliert.“ Oder, wie er andernorts sagt, „[sei] das natürliche Potenzial des Bevölkerungszuwachses noch so hoch, der plethorische Zustand wird es unweigerlich checken, während der deplethorische Zustand es unweigerlich befördern wird.“ […] Doch wie sollte unter diesem mutmaßlichen Gesetz ein vergleichsweise plethorischer Zustand jemals erreicht werden? Wenn die gegenwärtige Produktion der zum Leben notwendigen Güter für die normale Ernährung einer Rasse unzureichend ist und wenn der resultierende deplethorische Zustand beinhaltet, dass die nächste Generation die derzeitige zahlenmäßig stark überschreiten wird, scheint viel mehr das Gegenteil der Fall zu sein, nämlich dass die nächste Generation sich in einem noch deplethorischeren Zustand befinden wird. Bis Mr. Doubleday zeigen kann, dass die Subsistenzmittel schneller anwachsen als die Zahl der übermäßig fruchtbaren Menschen, kann er die Existenz irgendeines derart entlastenden Prozesses nicht beweisen. Er muss in der Tat zeigen, dass sein Gesetz unter solchen Umständen einen größeren Anstieg der Nahrungsmittel als der Menschen beinhaltet. Nun zeigt er dies weder, noch kann er dies zeigen; und folglich fehlt diesem mutmaßlichen Gesetz genau die Eigenschaft der Selbstregulierung, welche er richtigerweise als den Praxistest eines wirklichen Gesetzes betrachtet.36
Da, in anderen Worten, im vorrangehenden Kapitel gezeigt wurde, dass das Produktionswachstum nicht mit einem unbeschränkten Bevölkerungsanstieg mithalten kann, würde dieser nach und nach weniger produktive Generationen hervorbringen, was zu einem Elendszyklus höherer Fertilität und niedrigerer Produktivität führte. Aus der Auffassung, dass das Produktivitätswachstum die Fertilität negativ beeinflusst, lässt sich also kein Gleichgewicht herleiten, da die Fertilität langfristig entweder zu einem maximalen oder zu einem minimalen Wert des Produktivitätsanstiegs divergierte. Viertens beweist – aus individueller Perspektive – die Existenz der Evolution durch das Instrument der sexuellen Selektion, wie es im fünften Kapitel beschrieben werden wird, dass die Wahl eines Partners stark von seinem sozialen Rang abhängt, welcher wiederum in den meisten Fällen durch das individuelle Einkommens- bzw. Produktivitätsniveau bestimmt wird. Dem scheint die von Becker vermutete, negative Beziehung jeder Modellierung von Fertilitätsverhalten zu widersprechen, da sie suggeriert, dass die Wahl auf diejenigen potenziellen Partner fällt, bei welchen die wirtschaftliche Not am größten ist. In diesem Fall wäre Müßiggang ein permanent höher bewertetes Attraktivitätskriterium als wirtschaftlicher Erfolg, was in jeder Hinsicht mehr als unplausibel erscheint. Wenn wir den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung der Subsahara-Ökonomien über die vergangenen 60 Jahre
36Spencer
(1852), Einführung.
4.7 Trugschluss 3: Die konventionelle Meinung, dass Entwicklung …
101
betrachten, erscheint es vielmehr wahrscheinlicher, dass die Idee „Entwicklung sei die beste Verhütung“ zu einer Entwicklungspolitik führte, durch welche unbeabsichtigterweise das Bevölkerungswachstum forciert wurde.37
4.7.2 Humankapitalakkumulation als potenzieller präventiver Check? Nichtsdestotrotz befindet Becker in seiner „Presidential Address“ von 1988, dass Ökonomen versuchen sollten, das neoklassische Wachstumsmodell in einem endogenen Rahmen zusammen mit dem malthusianischen Wachstumsmodell darzustellen, um den Ausbruch aus der malthusianischen Falle erklären zu können. Im Zusammenhang mit der Theorie einer Einkommensschwelle stellt Becker eine Humankapitalhypothese des Fertilitätsverhaltens auf, welche nachfolgend kurz zusammengefasst wird, da sie aktuell die Aufmerksamkeit ganzheitlicher Wachstumsforscher auf sich zu ziehen scheint, wenngleich dieser Exkurs in Hinsicht auf zukünftige Untersuchungen zum Ausbruch aus der Stagnation als nicht notwendig erscheint. Mokyr und Voth argumentieren in diesem Zusammenhang wie folgt: In vielen langfristigen Wachstumsmodellen spielt der Fertilitätsübergang eine grundlegende Rolle, und das Timing des Fertilitätsrückgangs ist zentral für viele Theorien, welche den Übergang zu sich selbsttragendem Wachstum erklären [sollen]. Der Rückgang wird normalerweise als eine Reaktion auf sich verändernde ökonomische Anreize modelliert. Becker und Barro (1988) und Lucas in Johnston (2002) betonen in ihren führenden Interpretationen den Quantitäts-Qualitäts- Zielkonflikt, welchem Eltern im Kontext schnellerer technologischer Veränderung und höherer Humankapitalerträge gegenüberstehen.38
Beispielsweise schreiben Galor und Weil (2000) das angepasste Fertilitätsverhalten dem plötzlichen „technologischen Fortschritt“ zu, welcher den allgemeinen Wissensstand erhöht habe. Letztlich investieren Eltern stärker in das Humankapital ihres Nachwuchses. Dies treibt wiederum das Wachstum des Wissensstands an. Höhere Einkommen machen es Eltern einfacher, viele Kinder zu haben. Gleichzeitig erzeugt ein wachsender
37Easterly 38Mokyr
(2001). und Voth (2010), S. 10.
102
4 Das Entwicklungsregime
Wert des Humankapitals Anreize für die Eltern, die Qualität ihres Nachwuchses zu verbessern und die Quantität zu reduzieren. Anfänglich, nach dem Beginn des modernen Wachstums, dominierte der Einkommenseffekt und führte zu mehr Geburten; später wurde der Substitutionseffekt wichtiger und die Fertilität ging zurück.39
Allerdings liegt Galor falsch mit seiner Vermutung, dass der Anstieg des Humankapitals sowie der Produktivität dem Fertilitätsrückgang vorausgegangen sei, welche jedoch eine logische Schlussfolgerung darstellt, wenn man, wie er es tut, den Fertilitätsrückgang in Britannien irrtümlicherweise am Ende – und nicht zu Beginn – des 19. Jahrhunderts verortet. Clark kritisiert sowohl die Theorie einer Einkommensschwelle als auch die Theorie der Humankapitalakkumulation, indem er indirekt darauf verweist, dass das Bevölkerungsprinzip auch nach dem Ausbruch aus der Stagnation aktiv geblieben sei: Die Evidenz […] zeigt, dass diejenigen mit den höchsten Einkommen und den größten Investments in das Humankapital ihrer Kinder auch die größte Anzahl überlebender Kinder hatten.40
Folglich wird in diesem Buch Humankapital – ebenso wie „technologischer Fortschritt“ – weiterhin als eine (endogene) Funktion von demografischen Variablen behandelt, verkörpert durch das Prinzip der Arbeitsteilung, und daher von weiteren Betrachtungen unserer demografischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie ausgeschlossen.41
4.7.3 Weitere konventionelle Faktoren als potenzielle präventive Checks Schließlich listet Livi-Bacci (2012) eine Anzahl an Faktoren auf, welche potentiell den Fertilitätsrückgang bewirkt haben könnten, von welchen sicherlich die meisten ebenfalls direkt und positiv durch den begleitenden Anstieg der Produktivität verursacht wurden, darunter die Rentenversicherung, kulturelle Faktoren, Opportunitätskosten, die Schulpflicht, politische Institutionen, gesund-
39Ibid.,
S. 10. und Clark (2010), S. 48. 41Während „technologischer Fortschritt“ parallel zur Bevölkerungsgröße voranschreitet, tendiert das Humankapital dazu, mit der Lebensdauer zu wachsen. 40Alter
4.7 Trugschluss 3: Die konventionelle Meinung, dass Entwicklung …
103
heitliche Faktoren und das Verbot der Kinderarbeit.42 Allerdings könnte angesichts dieser Fülle an Erklärungsversuchen auch der Eindruck erweckt werden, dass eine lange Liste von Hypothesen lediglich die Hilflosigkeit der involvierten wissenschaftlichen Disziplinen ausdrückt. Wir schließen daher diese Betrachtung mit einer Einschätzung von Mokyr und Voth ab: Das Auffinden einer ökonomischen Ursache für den Fertilitätsrückgang ist nie einfach gewesen, und aktuell existiert kein Konsens über die grundlegenden mitwirkenden Faktoren.43
42Livi-Bacci 43Mokyr
(2012), S. 178. und Voth (2010), S. 19.
5
Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
5.1 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 2: Das Generationenprinzip Da die Bevölkerungsgröße in der angeführten Produktionstheorie eine (exogen) vorgegebene Variable darstellt und sie daher den (endogenen) Rückgang der Bevölkerungszunahme nicht erklären kann, werden wir nun zur Bevölkerungstheorie zurückkehren, um die Gründe für den Fertilitätsrückgang zu eruieren. Weil sie wesentlich zur Erhellung der modernen wirtschaftlichen Entwicklung beitragen können, wird in diesem Kapitel beabsichtigt, den „vagen Intuitionen“ der klassischen Ökonomen zum Ausbruch aus der Stagnation wieder Geltung zu verschaffen und eine konsistente Version der klassischen Bevölkerungstheorie zu liefern. In diesem Abschnitt wird daher eine Erklärung für denjenigen Mechanismus vorgeschlagen, dem zufolge die Fertilität reguliert und durch welchen die malthusianische Falle umgangen werden kann. Wir haben bereits gesehen, dass der Anstieg der Einkommen bzw. der Produktivität den Fertilitätsrückgang nicht ausgelöst haben kann, und werden uns nun der Sterberate als verbleibender erklärender Variablen zuwenden. Da er wohl den abstraktesten Teil der Theorie bildet, verdient der große präventive Check, das „Allheilmittel“, welches von den klassischen Ökonomen dazu auserkoren worden war, der malthusianischen Falle zu entrinnen, eine weitere ausführliche Behandlung. Zunächst werde ich daher die stilisierten Fakten der Entwicklung von Sterbe- und Geburtenrate zusammenfassen, bevor ich über einen kurzen Literaturüberblick die existierenden Theorien bezüglich dieser Variablen sondiere. Nachdem bereits gezeigt wurde, dass diese Literatur noch (oder erneut) in ihren Kinderschuhen steckt, werde ich zu den klassischen Autoren zurückkehren und ihre finale Proposition in Überein-
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5_5
105
106
5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
stimmung mit den stilisierten Fakten als Teil der ganzheitlichen Wachstumstheorie modellieren.
5.1.1 Der demografische Übergang Um den Rückgang des Bevölkerungswachstums detaillierter zu analysieren, zerlegen Demografen dessen Zeitreihen für gewöhnlich in eine Reduktion der Sterberate, welche Mortalität (Sterblichkeit) repräsentiert, und in ein Absinken der Geburtenrate, welche Fertilität (Fruchtbarkeit) reflektiert. Die Entwicklungen dieser demografischen Raten über die vergangenen Jahrhunderte hinweg werden normalerweise gemeinsam auf nationaler Ebene stilisiert und durch ein VierPhasen-Modell illustriert, was in der Regel als „demografischer Übergang“ bezeichnet wird (siehe Abbildung 5.1). Das Modell des demografischen Übergangs in der rechten Grafik von Abbildung 5.1 basiert grob auf der britischen Entwicklung in der Zeitspanne zwischen 1800 und 2000, wie sie in der linken Grafik von Abbildung 5.1 dargestellt ist. Index Phase 2
Phase 3
Phase 4
Phase 1
Geburtenrate
Sterberate
Zeit
Abbildung 5.1 Links: „Demografischer Übergang“ in Britannien: Geburtenrate (blau) und Sterberate (rot) 1800–2016. Rechts: Stilisierter Fakt „demografischer Übergang“. (Quellen: Wrigley und Schofield (1981) für 1800–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010)
In Phase 1 weisen Geburtenraten und Sterberaten relativ hohe Werte auf. Zu Beginn von Phase 2 sinkt die Sterberate aufgrund des sogenannten „epidemiologischen Übergangs“, mit welchem in der Regel eine Bevölkerungsexplosion, Urbanisierung und in vielen Fällen eine industrielle Revolution einhergehen. In Phase 3 beginnt die Geburtenrate der sinkenden Sterberate zu folgen, womit das Bevölkerungswachstum zurückgeht, bis sich beide Raten in Phase 4 etwa auf dem gleichen niedrigen Niveau einpendeln.
5.1 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 2 …
107
Bei der Betrachtung der nationalen Darstellungen des demografischen Übergangs muss dem neutralen Beobachter ins Auge stechen, dass zwischen Sterbeund Geburtenraten eine gewisse inhärente Verbindung besteht. Wenn wir die internationalen Daten der demografischen Raten miteinander vergleichen, so finden wir keine Ökonomie, in welcher ein nachhaltiger Rückgang der Geburtenrate vonstattenging, ohne dass zuvor die Sterberate gesunken war (siehe erneut Anhang C mit zahlreichen Beispielen). Aus diesem Grund ist es nahezu unmöglich, nicht von der Idee beeindruckt zu sein, dass es ein statistisches Gesetz zu geben scheint, dem zufolge die Mortalitätsreduktion dem Fertilitätsrückgang allgemein vorausgeht. Daher haben Demografen – im Gegensatz zu Ökonomen – von jeher einen positiven kausalen Effekt von Veränderungen der Mortalität auf Veränderungen der Fertilität vermutet.1 Wenngleich die Fertilität universell verzögert auf die Mortalität zu reagieren scheint, variiert diese Verzögerung stark zwischen einzelnen Ökonomien (von einigen Jahren bis über ein Jahrhundert), was den Großteil der Ökonomen irrtümlicherweise dazu veranlasste, ihre Aufmerksamkeit auf die industrielle Revolution anstatt auf den epidemiologischen Übergang als Hauptursache für den Fertilitätsrückgang zu richten. Nichtsdestotrotz kamen ebenfalls viele Ökonomen zu dem Schluss, dass abnehmende Sterblichkeit kausal für den Fertilitätsrückgang und den damit einhergehenden Anstieg des BIP pro Kopf sei. Die derzeit meist zitierte Erklärung für einen positiven Effekt der Sterblichkeit auf die Fertilität liegt in der Tatsache begründet, dass abnehmende Mortalität eine steigende Lebenserwartung impliziert. Eine gestiegene Lebensdauer mag beispielsweise wiederum Humankapitalakkumulation begünstigen, indem sie die Zeitpräferenzrate von Individuen senkt. Ähnlich zu Galors (2011) Modell, in welchem Humankapitalakkumulation durch „technologischen Fortschritt“ eingeleitet wird, mag angenommen werden, dass eine steigende Lebenserwartung die Nachfrage nach Humankapital und nach Kinderqualität auf Kosten der Kinderquantität erhöht.2 Zuletzt wurde diese Theorie von Herzer u. a. (2012)
1Vgl.
Kirk (1996) zu einer weiterführenden Diskussion. und Sunde (2005) sowie de la adjustieren dieses [Galors] Modell, indem sie argumentieren, dass die Lebenserwartung gleichzeitig mit der Produktivität rasch anwuchs. Dieses stieß wiederum Investitionen in Humankapital an, da sich der Rückzahlungshorizont verlängerte. Selbst wenn der technologische Wandel auch nur geringfügig von „Skills“ abhängig ist, könnte ein sich selbst verstärkender Zyklus verbesserter Technologie, höherer Lebenserwartung und höherer Investitionen in Humankapital beginnen.“ Mokyr und Voth (2010), S. 11.
2„Cervellati
108
5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
sowie von Cervellati und Sunde (2017b) weiterverfolgt. Als eine zusätzliche Wegmarke betrachten Cervellati und Sunde (2011) eine besonders stark ausgeprägte Korrelation zwischen Mortalität und Fertilität in denjenigen Ökonomien, in welchen die Lebenserwartung 50 Jahre übersteigt, was wiederum einer Sterblichkeitsratenschwelle von etwa 0,02 (oder zwei Todesfällen pro 1000 Einwohnern) entspricht. Der Vorteil dieser Gruppe von Modellen liegt in ihrer expliziten Integration des demografischen Übergangs in eine ganzheitliche Wachstumstheorie. Allerdings kritisieren Mokyr und Voth, dass in Modellen in der Lucas- und Becker-Tradition die ansteigende Nachfrage nach und Erträge aus Humankapital betont werden, obwohl wir wenig Evidenz hierfür finden [und hinzufügen können, dass] Humankapitelerträge, konventionell gemessen, wahrscheinlich vor 1870 nicht signifikant stiegen.3
Während die obige Verbindung zwischen Mortalität und Fertilität durch den Humankapitalkanal als indirekter Effekt betrachtet werden dürfte, besteht derzeit ein wachsender Konsens bezüglich eines direkten Effekts der Mortalität auf die Fertilität. In einer populären Sichtweise eines direkten Mechanismus wird beispielsweise elterliches Ersatzgeburtenverhalten angesichts hoher Kindersterblichkeit betont. Neben der wohlbekannten Theorie eines solchen Verhaltens zur Kompensation hoher Säuglingssterblichkeit stellen der physiologische Effekt früherer Empfängnis nach frühem Säuglingstod sowie der „Hortungseffekt“ als Versicherung gegen zukünftige hohe Sterblichkeit unter dem Eindruck regelmäßiger Subsistenzkrisen weitere direkte Effekte der Mortalität auf die Fertilität dar.4 Clark indessen hält einen „automatischen“, direkten Effekt auf den Fertilitätsrückgang aufgrund einer selbstadjustierenden sozialen Umwelt für den vielversprechenderen Ansatz: Fertilitätsbeschränkung in Nordwesteuropa hatte wenig mit rationaler individueller Kalkulation und viel mehr mit sozialen Bräuchen zu tun. […] Teil der Evidenz gegen bewusste Verhütungsmethoden ist das Fehlen von Fertilitätsmustern, welche unter bewusster Fertilitätskontrolle aufgefunden werden sollten.5
3Mokyr
und Voth (2010), S. 41. Kalemli-Ozcan (2002), Putterman und Weil (2010) und Angeles (2010). 5Alter und Clark (2010), S. 47. 4Vgl.
5.1 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 2 …
109
Folglich existierten direkte Effekte, welche nicht auf den bewussten elterlichen Entscheidungen beruhten. Soziale oder religiöse Sitten wie der Brauch später Vermählungen könnten z. B. in der Lage sein, die potenzielle Kinderzahl ohne bewusste elterliche Intervention zu unterdrücken, wohingegen eine Praxis der Trennung in liberalen Gesellschaften Paare auseinanderreißen und so exzessive Reproduktion behindern könnte. Den bis dato vielleicht vernünftigsten modernen Ansatz einer potenziellen direkten Mortalitäts-Fertilitäts-Kausalverbindung legt Hajnal (1965) dar: Wenn die Männer warten müssten, bis Land verfügbar wird, so würde vermutlich eine Verzögerung des Ablebens eines Landbesitzers aufgrund einer abnehmenden Sterberate dazu tendieren, das Alter bei der Vermählung zu erhöhen [und entsprechend die Fertilität zu senken]; dies ist sicherlich eine Hypothese, welche weiteres Studium wert ist.6
Da sie den wissenschaftlichen Hauptgegenstand dieses Buches bildet, wird im Folgenden versucht werden, die klassische Sichtweise zum großen präventiven Check zu verdeutlichen und aufzuzeigen, dass sein Effekt als Reaktion auf den Sterblichkeitsrückgang „ohne unsere Unterstützung“ zugenommen hat.
5.1.2 Das Gesetz der Bestandserhaltung: Das Generationenprinzip als großer präventiver Check Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als ob in jeder Form von [freier] Gesellschaft […] all die gewöhnlichen Beschränkungen früher Vermählungen, wie sie derzeit existieren, aufgehoben wären und dass eine im Vergleich zu jeder vorangegangenen Epoche beispiellos hohe Bevölkerungswachstumsrate das Resultat wäre, das innerhalb weniger Generationen zu Schwierigkeiten im Erhalt der Subsistenz führen würde, was wiederum von Malthus als das unvermeidliche Resultat der normalen Wachstumsrate der Menschheit ausgemacht wurde, sofern alle positiven sowie alle präventiven Checks entfernt würden. Da die positiven Checks – welche vereinfacht als Krieg, Pestilenz und Hungersnot zusammengefasst werden können – als nicht existent angenommen werden, mag gefragt werden, was denn die präventiven Checks seien, welche dazu auserkoren sind, in der Lage zu sein, die Wachstumsrate auf handhabbare Grenzen zu reduzieren?7
6Hajnal
(1965), S. 133. (1890).
7Wallace
110
5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
Problematischerweise scheint Malthus (1803) ungenau zwischen „den präventiven Checks“, „dem präventiven Check“ und „dem großen präventiven Check“ unterschieden zu haben. Er verwendete die ersten beiden Ausdrücke, um die „gewöhnlichen Beschränkungen“ zu definieren, welche in den meisten menschlichen Gesellschaften durch die entsprechenden kulturellen Traditionen ausgewiesen werden. Diese Traditionen umfassen explizite und implizite kulturelle Bräuche wie eine Ein-Kind-Politik, die Legitimität von Verhütung und Abtreibung oder etwa die traditionelle Institution, Vermählungen von der Voraussetzung abhängig zu machen, eine Familie ernähren zu können. Im Gegensatz hierzu bezieht sich die Darstellung des „großen präventiven Checks“, welcher bisweilen als „der präventive Check“ abgekürzt wurde, auf eine Situation, in welcher diese kulturellen Traditionen aufgegeben worden seien und in welcher den Individuen die Fortpflanzung als „natürliche und vernünftige“ Entscheidung selbst überlassen wurden.8 Wenngleich Malthus argumentierte, dass der große präventive Check entscheidend für die Vermeidung exponentiellen Bevölkerungswachstums gewesen sei, konnten scheinbar selbst viele klassische Ökonomen seiner Intuition nur schwerlich folgen, und es scheint so, als habe es in der klassischen Theorie keinen allgemeinen Konsens bezüglich des präzisen Mechanismus und der Definition des großen präventiven Checks gegeben. Obwohl Darwin (1859) ausführte, dass eine hohe Fertilität eine dominante evolutionäre Strategie sei, stellte Spencer (1874) fest, dass der Prozess der natürlichen Selektion in vielen Spezies eine große Zahl positiver und präventiver Checks erzeugt habe, um ein dauerhaftes Stadium der Überbevölkerung zu vermeiden. Im Fall der natürlichen Ökonomie erscheint es offensichtlich, dass jede Spezies, welche – sobald das verfügbare Territorium vollständig besiedelt worden war; einhergehend mit einer sehr langsam voranschreitenden Spezialisierung – Millionen von Generationen überdauert hat, über diesen Zeitraum eine relativ stabile Population aufgewiesen haben muss.9 Diese Stabilität erfordert wiederum
8Alternativ verwendete Malthus die Ausdrücke „vernunftgeleitete Beschränkung der Vermählungen“ und „moralische Beschränkung der Vermählungen“, da eine „Vermählung“ als der Geburt vorausgehend betrachtet wurde. Senior bemerkte zum Gebrauch des Begriffs „Vermählung“: „Unsere Leser sind sich natürlich dessen bewusst, dass wir mit dem Wort „Vermählung“ nicht die besondere und dauerhafte Verbindung ausdrücken möchten, welche allein in einem christlichen Land unter diesem Namen bekannt ist, sondern jegliche Übereinkunft zwischen einem Mann und einer Frau, unter Bedingungen zusammenzuleben, welche die Geburt von Nachwuchs begünstigen.“ Senior (1836), S. 143. 9Hierbei muss die Geburtenrate die Sterberate langfristig lediglich minimal überschritten haben.
5.1 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 2 …
111
ein langfristiges Gleichgewicht zwischen Geburten- und Sterberaten. Spencer vermutete daher, dass die Ausprägung der positiven Checks mit der Ausprägung der präventiven Checks zusammenhing, und schrieb: Die Proportionierung der Reproduktion auf die Mortalität ist eine Grundausstattung der Menschheit ebenso wie aller anderen Arten,10
welche er definierte als das Gesetz der Bestandserhaltung aller Rassen. Wir sehen, dass sie, wenn sie aufhören, ihm zu gehorchen, aufhören zu sein. […] Individuation und Reproduktion sind antagonistisch.11
Tatsächlich lässt sich feststellen, dass sich Fertilität und Mortalität tendenziell gegenseitig ausbalancieren. Wenn die Fertilität plötzlich ansteigt, muss eine Spezies nach und nach zahlreicher werden, bis sich die Mortalität aufgrund fehlender Ressourcen an das Niveau der Fertilität über das Wirken der positiven Checks anpasst. Falls umgekehrt die Mortalität steigt, muss die Spezies zahlenmäßig zurückgehen, bis aufgrund relativ überschüssiger Ressourcen die Fertilität auf das Niveau der Mortalität steigt, da die Spezies andernfalls aussterben würde. Zudem erscheint es nachvollziehbar, dass eine Reduktion der Fertilität den Druck auf die Subsistenzmittel entspannt und dementsprechend die Mortalitätseffekte einer Hungersnot abschwächen wird. Allerdings sind die Effekte, welche dazu führen könnten, dass sich die Fertilität an eine abnehmende Mortalität anpasst, d. h. die durch sinkende Sterblichkeit eingeleiteten präventiven Checks, weniger deutlich herausstellbar. Der Mechanismus dieser „natürlichsten“ präventiven Checks wird im Folgenden beleuchtet werden. In einer ungecheckten Ökonomie könnte jedes Individuum unbeschränkte Reproduktion praktizieren, solange es in der Lage ist, sich die notwendigen Ressourcen anzueignen. In diesem Fall wurde argumentiert, dass der regelmäßige Fertilitätsüberschuss dazu tendiere, überschüssige Individuen derselben Generation in einen Wettbewerb um Ressourcen zu drängen – eine Tendenz, welche allgemein als „intragenerationale“ Konkurrenz um Nischen bezeichnet werden kann. Wie jedoch bereits in Kapitel 2 kurz erwähnt wurde, könnte ein
10Spencer 11Spencer
(1874), § 272. (1852), § 2, § 4.
112
5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
Überschuss an Individuen und der damit einhergehende Bevölkerungsdruck nach Gleichung (3.7) alternativ ebenfalls durch ein Absinken der Sterberate erzeugt werden, was die positiven Checks bzw. die Mortalität reduziert, gleichzeitig die Lebenserwartung erhöht und somit den Bevölkerungsanteil älterer Individuen vergrößert. In diesem Fall würde, falls zwei aufeinanderfolgende Generationen zur selben Zeit existieren, eine allgemein verlängerte Lebensdauer Konflikte zwischen den alten, etablierten und den jungen, aufstrebenden Generationen entstehen lassen und entsprechend die „intergenerationale“ bzw. generationenübergreifende Konkurrenz um Nischen intensivieren. Wir werden feststellen, dass diese Form der Konkurrenz die entscheidende Ursache für das Wirken des großen präventiven Checks darstellt, indem sie die Fertilität jüngerer Kohorten unterdrückt.
5.1.3 Das Generationenprinzip in der natürlichen Ökonomie: Das Ringen um Territorium und sexuelle Selektion Um die universellen, für einen „Generationenkonflikt“ verantwortlichen Ursachen zu verstehen, wenden wir uns zunächst erneut den nichtmenschlichen Ökonomien zu. Das stärkste Ausmaß intergenerationaler Konkurrenz muss in der Pflanzenwelt verkraftet werden, in welcher der Besitz einer Nische nahezu exklusiv von der Verfügbarkeit einer konstanten Territorialgröße abhängt. Wir mögen daher zu der anfänglichen Illustration zurückkehren, nach welcher es in einem Wald, welcher vollständig von Buchen bewachsen ist, für Samen unmöglich ist, sich zu entfalten, bis ein vormals existierender Baum abgestorben ist. In diesem Fall bildet der Konflikt zwischen aufeinanderfolgenden Generationen selbst den großen präventiven Check in seiner fundamentalsten Form, den wir daher als „Generationenprinzip“ (engl. principle of generation, im Folgenden „PoG“) bezeichnen werden. Unter vielen Vogel- und Säugetierarten, bei welchen regelmäßige individuelle Konkurrenz um Territorien beobachtet wird, ist die Vermehrung auf ähnliche Weise begrenzt durch die Existenz einer Elterngeneration. In diesen Fällen tendiert ein relativ größerer Anteil ausgewachsener Individuen – welche sich bereits auf einem gegebenen Stück Land etabliert haben – dazu, die für die Fortpflanzung der aufstrebenden Generationen gewöhnlich benötigten Ressourcen und folglich die potenzielle Zahl ihres Nachwuchses zu reduzieren. Dies kann am einfachsten nachgewiesen werden durch die Tatsache, dass, wenn eine „Mortalitätskrise“ den Tod eines großen Anteils älterer, etablierter Individuen einleitet, ein Pool an Nachrückern bereitwillig zur Verfügung steht, von dem
5.1 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 2 …
113
nun bereitstehenden Territorium Besitz zu ergreifen und daraufhin ihre Zahl zu vergrößern. Darüber hinaus wird der große präventive Check bei fortgeschrittenen Spezies allerdings immens durch die Existenz sexueller Reproduktion verkompliziert. Eine wichtige biologische Erkenntnis ist, dass eine zu hohe Fertilität unter territorialen Spezies mit unterschiedlichen Geschlechtern durch einen Mechanismus unterdrückt werden kann, welchen Darwin (1871) als „sexuelle Selektion“ bezeichnete. In den Fällen, in welchen ein Geschlecht relativ überschüssig vorhanden ist (in den meisten Spezies das männliche), kann das andere Geschlecht eine gewisse Auswahl zwischen potenziellen Partnern treffen. Unter territorialen Spezies dient der Besitz einer Nische neben der bloßen Verfügbarkeit von Subsistenzmitteln auch als entscheidendes Kriterium für sexuelle Attraktivität. Da also der Besitz von Territorium eine wichtige Bedingung für Fortpflanzung ist, evolvierte das Streben nach dessen Inbesitznahme als primärer Instinkt der Individuen des überschüssigen Geschlechts. Diese Argumentation basiert auf Beobachtungen von J. S. Huxley:12 Territorium in der einen oder anderen Form ist von größter biologischer Wichtigkeit im Leben von Vögeln (und vermutlich ebenso bei anderen Spezies). Das erste Anzeichen sexueller Aktivität – der vermutlich erste Effekt der frühlingshaften Veränderung der Geschlechtsorgane – wird in den meisten Spezies angesehen als der männliche Instinkt, nicht, wie gewöhnlich angenommen wurde, weibliche Individuen aufzusuchen, sondern ein Territorium zu finden, zu besetzen und zu verteidigen. Partnerwahl in monogamen Spezies findet durch weibliche Individuen statt, welche die männlichen aufsuchen; jedoch konkurrieren sie nur um solche männlichen Individuen, welche im Besitz eines Territoriums sind.13
Basierend auf dieser Form der sexuellen Selektion und unter der Voraussetzung, dass sich etablierte Individuen bereits ein Territorium zur komplementären Verbesserung ihrer Attraktivität auf das andere Geschlecht angeeignet haben, werden nischenlose – in den meisten Fällen junge, männliche – Individuen als unattraktiv betrachtet und daher nicht für eine Paarung berücksichtigt, was die Geburtenrate der Spezies senkt. Die Auswirkung des präventiven Effekts der sexuellen Selektion wird noch stärker herausgestellt,
12Sir
Julian Sorell Huxley (1887–1975), britischer Naturalist, Biologe, erster Direktor der UNESCO, Gründungsmitglied des WWF, erster Präsident der British Humanist Association, Mitglied der Royal Society. 13Huxley (1926), S. 148.
114
5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
wenn wir unseren Fokus, Huxley folgend, auf monogame Spezies richten, unter welchen die Selektion eines Partners die Selektion anderer potenzieller Kandidaten ausschließt. Unter dieser Bedingung werden nischenlose – in den meisten Fällen junge, weibliche – Individuen im Allgemeinen nicht für die Reproduktion berücksichtigt und die Zeugung von Nachwuchs wird auf alte, etablierte Paare beschränkt, was die reproduktive Kapazität der gesamten Spezies weiter reduziert. Zusammenfassend wird der große präventive Check bei monogamen territorialen Spezies zusätzlich zum gewöhnlichen Ausmaß der intergenerationalen Konkurrenz durch den Grad der sexuellen Selektion verstärkt. Unter Umständen, welche eine niedrige Sterblichkeit gestatten, wird durch freie Partnerwahl den aufwachsenden männlichen und weiblichen Individuen die Möglichkeit zur Reproduktion verwehrt werden. Wie nachfolgend gezeigt wird, wirkt dieser große präventive Check in der menschlichen Spezies noch weitaus stärker.
5.1.4 Das Generationenprinzip in der menschlichen Ökonomie: Das Ringen um einen sozialen Rang, sexuelle Selektion und Menopause Aber wie kommt es, dass das Land, in welchem das durchschnittliche Lebensalter– nach welcher Kalkulation auch immer– höher ist als in irgendeinem anderen, genau das sein sollte, in welchem die Fertilität die geringste ist?14
Man mag in Versuchung geraten, den fertilitätsbegrenzenden, kombinierten Effekt intergenerationaler Konkurrenz und sexueller Selektion auf die menschliche Ökonomie auszuweiten und in diesem Zusammenhang Malthus’ Sichtweise einer vollständig bevölkerten Weidewirtschaft anzuführen: Wie wäre es unter diesen Umständen möglich für den jungen Mann, welcher gerade die Reife erreicht hat, das Haus des Vaters zu verlassen und sich zu vermählen, bevor eine Anstellung als Schäfer, Milchbauer o. Ä. durch Tod frei würde?15
Zudem ist – neben dem Besitz einer zur Subsistenz und Attraktivitätserzeugung erforderlichen Nische – die entscheidende Komponente, welche zu einer drastischen
14Muret
in Malthus (1826), Buch II, Kapitel V. (1826), Buch II, Kapitel V.
15Malthus
5.1 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 2 …
115
Verstärkung des präventiven Effekts in einem Regime geringer Mortalität führt, dass menschliche Fertilität, insbesondere die monogamer Ehepaare, durch das Alter begrenzt ist, was wiederum das Fertilitätspotenzial von alten – in den meisten Fällen weiblichen – Individuen senkt.16 Malthus schloss hieraus, dass ein hoher Grad intergenerationaler Konkurrenz eine aufwachsende Generation dazu zwingen würde, ihre Reproduktion derart lange hinauszuzögern, bis sie durch das Erreichen eines entsprechend hohen Alters oft vollständig verhindert würde. Die Söhne von […] Farmern werden dazu ermahnt, nicht zu heiraten, und werden es im Allgemeinen als notwendig erachten, diesen Rat zu befolgen, bis sie sich auf einem Hof oder in einem Unternehmen niedergelassen haben, welches ihnen ermöglicht, eine Familie zu versorgen. Diese Ereignisse mögen vielleicht nicht stattfinden, bis sie ein höheres Alter erreicht haben. […] Ehen würden zwischen Personen geschlossen, die bereits so alt sind, dass die meisten Frauen nicht mehr imstande wären, Kinder zu gebären.17
In der folgenden Argumentation werden wir Monogamie und ein durch das Alter begrenztes Fertilitätsintervall für die menschliche Ökonomie voraussetzen.18 Der aufmerksame Leser wird jedoch einwenden, dass die dargestellte Analogie, aufgrund welcher die natürliche territoriale Ökonomie auf die menschliche „territoriale“ Ökonomie projiziert wird, eine wichtige smithianische Charakteristik menschlicher Gemeinschaften verschleiere, namentlich die Existenz einer Sozialstruktur, entstehend aus regelmäßigem Austausch zwischen Individuen.19 Da Territorium bereits in vielen menschlichen Jäger- und Sammlergesellschaften nicht von Einzelpersonen, sondern von der Gemeinschaft besessen wurde, kann die Knappheit von Territorium nicht länger der zentrale Ausgangspunkt für intergenerationale Konflikte sein. Entsprechend muss sexuelle Selektion hier auf anderen Kriterien beruhen als auf territorialen. Es erscheint
16Dies
stellt wiederum eine Vereinfachung dar. Es muss bemerkt werden, dass die Menopause kein rein menschliches Charakteristikum ist; vgl. z. B. Ward u. a. (2009). 17Malthus (1826), Buch II, Kapitel VIII. 18So gilt es festzuhalten, dass der Übergang von der domestischen Institution Polygamie zu der der Monogamie ebenso wie der Übergang von einem Patriarchat zu einem Matriarchat sehr gewöhnliche und regulär zu beobachtende Phänomene unter menschlichen sowie animalischen Bevölkerungen darstellen. Vgl. z. B. Spencer (1874). 19Es ist augenscheinlich, dass die Existenz einer sozialen Struktur nicht allein auf die menschliche Spezies beschränkt ist.
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5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
dennoch plausibel anzunehmen, dass die Partnerwahl nach wie vor tendenziell auf solche Individuen fällt, die als am fähigsten eingeschätzt werden, Subsistenz für ihren Nachwuchs zu organisieren. Tatsächlich scheint die freie Wahl eines Individuums einer Gesellschaft regelmäßig vom sozialen Status oder, wie die klassischen Ökonomen es nannten, dem „sozialen Rang“, bestimmt zu sein, welchen ein potenzieller Partner zu repräsentieren scheint, was wiederum relativ zuverlässig durch eine entsprechende „soziale Nische“ abgebildet wird oder, in anderen Worten, durch eine Profession bzw. einen Beruf.20 Es ist somit vernünftig, den präventiven Effekt, welcher sich vom Besitz einer territorialen Nische ableiten lässt, durch den, welcher aus der Besetzung einer sozialen Nische in einer menschlichen (sozialen) Ökonomie resultiert, als Attraktivitätskriterium zu ersetzen. Mit diesem zusätzlichen sexuellen Selektionskriterium konfrontiert, muss das Streben nach Territorium aus evolutionärer Perspektive graduell durch ein Streben nach sozialem Erfolg als Trieb „von höchster biologischer Wichtigkeit“ ergänzt worden sein. Expliziter gesprochen, muss das durchschnittliche junge Individuum bei großer intergenerationaler Konkurrenz permanent danach streben, den sozialen Rang der vorherigen Generation zu erlangen, und folglich einen Instinkt für soziale Anerkennung entwickeln, welcher vermutlich zum Großteil auf der Erfahrung des elterlichen Erfolgs basiert. Malthus, Senior und McCulloch schlugen vor, dass die universelle Furcht davor, seinen sozialen Rang zu verlieren, diesen zusätzliche Instinkt widerspiegelt: Menschliche Wesen werden ohne Motiv nicht fleißig sein; und der durchaus mächtige Wunsch nach Verbesserung unserer Lage ist weitaus weniger mächtig als der Druck durch direkte Not oder die Furcht, auf einen niedrigeren [sozialen] Rang zu fallen. […] In den niedrigen Gesellschaftsschichten ist die Existenz gegenwärtiger Not, in den mittleren und oberen Klassen die Furcht vor zukünftiger Not das grundsätzliche Motiv, welches Intelligenz und Aktivität stimuliert. Der Wunsch, eine Familie in Ansehen und Komfort zu unterhalten, führt selbst unter den moderat Wohlhabenden dazu, den Frühling und Sommer ihres Lebens arbeitsamen Unternehmungen zu widmen.21
20Dieser
positive Zusammenhang zwischen Einkommen und Vermählung ist tatsächlich nichts anderes als die mikroökonomische Fundierung des Bevölkerungsprinzips und impliziert, dass sich das Paarungsverhalten zwischen menschlichen und animalischen Bevölkerungen nicht grundsätzlich voneinander unterscheidet. 21McCulloch (1863), Teil I, Kapitel VIII.
5.1 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 2 …
117
D. h., während der Handlungsdruck durch unmittelbare Not ein Individuum eines niedrigen Ranges dazu zwingt, lediglich irgendeine soziale Nische zu besetzen, veranlasst die Furcht, einen sozialen Rang zu verlieren, Individuen mit höherem sozialen Status dazu, diejenigen Professionen zu ergreifen, welche ihre soziale Position erhalten, um das andere Geschlecht mit Statussymbolen oder, wie Senior es nannte, „Decencies“ zu beeindrucken. Der große präventive Check ist die Furcht vor dem Verlust von Decencies oder, was nahezu dasselbe ist, die Hoffnung, sich durch einen ausgedehnten Zeitraum der Keuschheit die Mittel zum Kauf von Decencies anzueignen, welche einen höheren sozialen Rang gewähren.22
Um den Effekt des großen präventiven Checks zu illustrieren, gehen wir von einer Ökonomie mit hoher Sterblichkeit und stationärer Bevölkerung aus. Wenn wir eine Sterberate von 20 pro Tausend veranschlagen, entspräche dies langfristig einer Lebenserwartung von 50 Jahren. Nehmen wir nun einen Einwohner dieser Ökonomie im Alter von 25 Jahren, dessen Eltern – ehemals Ärzte – kürzlich im Alter von 50 Jahren verstorben sind und ihrem Kind ihre Praxis vererbt haben. Da der angehende Arzt mit der Übernahme der elterlichen sozialen Nische den damit einhergehenden sozialen Status erlangt hat, wird er nach erfolgreicher Partnerwahl nicht zögern, eine Familie zu gründen. Gehen wir nun davon aus, dass die Sterblichkeit über die nächsten 25 Jahre fällt, sodass die Sterberate auf 12,5 pro Tausend reduziert wird bzw. die Lebenserwartung auf 80 Jahre steigt. In diesem Fall wird der Nachwuchs des neuen Arztes im Alter von 25 Jahren mit einer neuen Situation konfrontiert sein. Da die Eltern sich bester Gesundheit erfreuen, entsteht intergenerationale Konkurrenz, in welcher in den meisten Fällen die etablierte Generation begünstigt wird. Aus der resultierenden unterlegenen Position den Verlust der „Decencies“, mit welchen sie aufgewachsen sind, fürchtend, werden die Nachkommen realisieren, dass sie Medizin studieren oder Erfahrungen durch zusätzliches On-the-job-Training werden sammeln müssen, um in der Lage zu sein, mit der älteren Generation konkurrieren und letztlich ihren sozialen Rang beibehalten zu können, bis schließlich entweder die elterliche Produktivität erreicht wurde oder – wie es weitaus öfter der Fall ist – die Eltern sich zur Ruhe setzen oder versterben. Während dieser Periode verlängerter Ausbildung werden sich die Nachkommen im Allgemeinen weder für einen Partner entscheiden, noch werden sie auf einen potenziellen Partner eines entsprechenden
22Senior
(1836), S. 144.
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5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
Ranges attraktiv wirken, wodurch das Zusammenfinden der Geschlechter erschwert wird. Sobald die dritte Generation das Geschäft geerbt und sich die soziale Nische gesichert hat, wird sie wiederum dazu tendieren, sich zu vermehren. Allerdings wird ein neu etabliertes Ehepaar, wenn wir annehmen, dass die Eltern im Alter von 65 Jahren in den Ruhestand gehen, sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem zu fortgeschrittenen Alter befinden, um die gewünschte Anzahl an Nachkommen hervorzubringen, sodass ihre potenzielle Fertilität entsprechend reduziert sein wird. Um das Wirken des großen präventiven Checks in der menschlichen Ökonomie zusammenzufassen, mag konstatiert werden, dass er durch sinkende Mortalität und damit einhergehend intensivierte intergenerationale Konkurrenz um Professionen ausgelöst wird, indem er junge Individuen daran hindert, die gewünschte soziale Nische zu besetzen. Der große präventive Check umfasst diejenigen Handlungen aus Furcht, einen sozialen Rang zu verlieren, welche zu einem Aufschub der Reproduktion auf einen späteren Lebenszeitpunkt führen. Es muss daher bemerkt werden, dass sein Effekt bei Weitem nicht so stark wäre, wenn die menschliche Fertilität nicht durch das Alter begrenzt wäre, und dass er weiterhin immens durch das Vorherrschen der domestischen Institutionen Monogamie und freie Partnerwahl verstärkt wird. Dass die vorangehenden Überlegungen in Hinsicht auf das vierte klassische Prinzip – das „Generationenprinzip“ – in Einklang mit Malthus’ Verständnis des großen präventiven Checks stehen, wird durch seinen fundamentalsten praktischen Ratschlag hervorgehoben: Ich habe ausdrücklich erklärt, dass es ein Rückgang der Mortalität in allen Altersklassen ist, was wir hauptsächlich beabsichtigen müssen. […] Es wird sich generell als wahr herausstellen, dass die zunehmend bessere Gesundheit eines Landes nicht nur die Sterberate, sondern auch die Geburtenrate sowie die Vermählungsrate senken wird.23
5.1.5 Direkte und indirekte Effekte der Mortalität auf die Fertilität Unserer obigen Analyse folgend, wird im Folgenden das vierte und letzte klassische Prinzip, das „Generationenprinzip“, dargestellt, durch welches das potenziell exponentielle Bevölkerungswachstum davon abgehalten wird, ein Land
23Malthus
(1826), Buch V, Kapitel I, und Malthus (1826), Buch III, Kapitel II.
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vollständig bis zu seinen Subsistenzgrenzen zu besiedeln. Auch Marshall scheint wahrgenommen zu haben, dass die Geburtenrate stark von der vorherrschenden Nischenverfügbarkeit abhing, und schrieb: Das Landleben war […] rigide in seinen Bräuchen; junge Menschen empfanden es als schwierig, sich zu etablieren, bis irgendein anderes Ehepaar aus der Umgebung verstorben war und in ihrer Gemeinde eine neue Verfügbarkeit ermöglichte. […] Wann immer daher Pest oder Hungersnot die Population ausdünnte, gab es immer viele, welche darauf warteten, sich zu vermählen und den freien Platz zu füllen.24
Es lässt sich also festhalten, dass jedes Individuum in seiner frühen Lebensphase der Wahl zwischen Reproduktion und dem Erhalt seines sozialen Ranges gegenübersteht. Auch McCullochs Studien ergaben, dass eine Fortpflanzung in den meisten Fällen nicht stattfindet, bis ein gewisser sozialer Status erreicht wurde.25 Allerdings kann ein höherer sozialer Status nach einem allgemeinen Anstieg der Lebenserwartung (bzw. einem Mortalitätsrückgang) und bei gleichzeitiger Existenz einer Elterngeneration erst zu einem späteren Lebenszeitpunkt erreicht werden, was dazu führt, dass die Reproduktion auf diesen späteren Zeitpunkt verlagert wird, zu welchem das individuelle durchschnittliche biologische Fertilitätsintervall oftmals überschritten ist. Nichtsdestotrotz erfordert eine präzisere Formulierung der klassischen Bevölkerungstheorie, das Generationenprinzip quantitativ zu analysieren, um klar zwischen den einzelnen Effekten der Mortalität auf die Fertilität unterscheiden zu können. Denn wie wir sehen werden, existieren auf der einen Seite Mortalitätseffekte, welche direkt auf die Fertilität einwirken, insbesondere ein „Vererbungseffekt“ und ein „Säuglingssterblichkeitseffekt“, während auf der anderen Seite Mortalität indirekt über Einkommen bzw. Produktivität wirkt und damit den Effekt des Bevölkerungsprinzips abschwächt. Letztere indirekte Auswirkungen werden in diesem Buch als „Durchschnittseinkommenseffekt“ und „Selektionseffekt“ bezeichnet. Um diese Effekte zu illustrieren, sind in Abbildung 5.2 die stilisierten Bevölkerungsstrukturen für die Jahre 1830 und 2010 dargestellt. Der Einfachheit halber wird eine stationäre und stabile Bevölkerung angenommen, d. h., die Geburtenrate stimmt mit der Sterberate überein und die relative Altersverteilung bleibt konstant über die Zeit. Die resultierende Zylinderform (anstelle der oft verwendeten Pyramiden- oder Pilzformen) impliziert, dass jedes Individuum
24Marshall 25Vgl.
(1890), Buch IV, Kapitel IV. z. B. McCulloch (1863).
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Kohortengröße, Index
Kohortengröße, Index
zum Zeitpunkt seiner durchschnittlichen Lebenserwartung verstirbt.26 Die durchschnittliche Lebenserwartung kann somit durch die invertierte Sterberate errechnet werden, welche im Jahr 1830 bei etwa 2 % und im Jahr 2010 bei etwa 1,25 % lag (jeweils unter Ausschluss der Säuglingssterblichkeit, auf welche wir anschließend zurückkommen werden). Beginnend mit der stilisierten Bevölkerungsstruktur für das Jahr 1830 ist in der linken Grafik dargestellt, dass Individuen damals im Durchschnitt 50 Jahre lebten, wobei sie sich in den ersten 15 Jahren in „Ausbildung“ befanden. Das Fertilitätsintervall wird als konstant für das Alter von 15 bis 45 Jahren angenommen. Dementsprechend waren 86 % der arbeitenden Bevölkerung im Jahr 1830 fruchtbar, wohingegen im Jahr 2010, bei einer Lebenserwartung von etwa 80 Jahren, lediglich 42 % der arbeitenden Individuen in der Lage waren, sich fortzupflanzen. Demnach verteilte sich das positive BIP-pro-Kopf-Wachstum in der letzteren Situation zunehmend auf unfruchtbare Individuen hohen Alters, bei denen physisch keine Möglichkeit bestand, Nachkommen zu zeugen und ihr zusätzliches Einkommen in Kinder zu investieren. Es ist offensichtlich, dass, wenn Wohlstand hauptsächlich auf eine unfruchtbare Bevölkerung verteilt wird, Malthus’ Verweis, dass „Bevölkerung unvermeidbar wächst, wenn die Subsistenzmittel wachsen“, nicht mehr anwendbar ist. Dieser Rückgang gesamtgesellschaftlicher Fertilität ist der erste Effekt, welcher den Ausbruch aus dem Elendszyklus erklären kann – der Durchschnittseinkommenseffekt.
Alter
Alter
Abbildung 5.2 Stilisierte britische Bevölkerungsstruktur im Jahr 1830 (links) und im Jahr 2010 (rechts). Dargestellt sind arbeitende Kohorten (blau schattiert), Kohorten in Ausbildung (blau-orange schattiert), Fertilitätsintervalle (rote Linien), durchschnittliches Erbschaftsalter (schwarze Linien) sowie durchschnittliches standardisiertes Einkommen (grüne Linie). (Quellen: Burnette (2006), U.S. Census Bureau (2011) für Einkommensstatistiken 2010) 26Weitere Effekte früher Sterblichkeit (z. B. Kindersterblichkeit) werden hier analog zur Säuglingssterblichkeit betrachtet.
5.1 Die klassische Bevölkerungstheorie Teil 2 …
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Des Weiteren kann beobachtet werden, dass sich der Lebensabschnitt, in welchem ein Durchschnittsindividuum sein maximales Einkommen verdiente (grüne Linie), von einem jungen Alter von 20 bis 35 Jahren im Jahr 1830 auf ein hohes Alter von 45 bis 60 Jahren im Jahr 2010 verschoben hat. Da argumentiert wurde, dass die individuelle Partnerwahl zu einem hohen Grad positiv durch den sozialen Status eines Individuums beeinflusst wird, und da der soziale Status eines Individuums recht verlässlich durch sein relatives Einkommensniveau reflektiert wird, kann logischerweise ein Verschieben des Zeitpunkts der Partnerwahl auf ein höheres Alter im Jahr 2010 abgeleitet werden, welche eine zunehmend verspätete Fertilitätsentscheidung bewirkte (Selektionseffekt). Darüber hinaus wird die Geburtenrate direkt durch die Sterberate derjenigen Individuen beeinflusst, welche über wirtschaftlichen Wohlstand verfügen. Mit dem Tod dieser Individuen fällt ihr Eigentum für gewöhnlich an die nachfolgende Generation. Da das Alter einer Frau zum Zeitpunkt der Geburt ihres ersten Kindes im Jahr 1830 bei etwa 25 Jahren lag und sich über die vergangenen 200 Jahre nicht drastisch verändert hat und da ihr Ehemann aktuell – ähnlich wie 1830 – im Durchschnitt lediglich drei Jahre älter ist, wird das Erbe relativ universell etwa 25 bis 30 Jahre vor dem Tod der Nachkommen an diese weitergereicht.27 Folglich betrug das durchschnittliche Alter eines Erben im Jahr 1830 ungefähr 20 bis 25 Jahre und im Jahr 2010 etwa 50 bis 55 (siehe schwarzen Balken). Weil ein frühes Erbe den Individuen ehemals erlaubte, das elterliche Kapital – oftmals in der Form eines Geschäfts – zu übernehmen und zu nutzen, tendierte es dazu, das Einkommen und den sozialen Status des Erben stark zu erhöhen, wodurch „frühe Vermählungen“ und damit einhergehend die altbekannte malthusianische Umwandlung von Wohlstand in Nachkommen gefördert wurden. Allerdings wurde dieser Übertragungsweg der Umwandlung geerbten Wohlstands in eine größere Anzahl an Nachwuchs bis 2010 zunehmend abgeschwächt, da die Nachkommen zum Zeitpunkt der Vererbung mittlerweile mit einer höheren Wahrscheinlichkeit bereits ein unfruchtbares Alter erreicht haben werden (Vererbungseffekt). Der oben beschriebene Einfluss durch das Ableben eines alten Individuums auf die Fertilität wird komplementiert durch die Reduktion früher Sterbefälle von Individuen sehr niedrigen Alters, welche eine weitere wohlbekannte, direkte Ursache für niedrige Geburtenraten ist und damit den Generationenkonflikt auf alle Altersgruppen ausdehnt. In einer breiteren Definition des Generationenkonflikts
27Vgl.
wiederum Hajnal (1965) oder Clark (2007) für historische Vermählungsmuster.
122
5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
schließt dieser Geburtenersatzverhalten mit ein. Die Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit im Verlauf des epidemiologischen Übergangs scheint Eltern dazu veranlasst zu haben, die Idee ehemals notwendiger Ersatzgeburten nach und nach aufzugeben.28 Dieser Säuglingssterblichkeitseffekt löste graduell den Druck von den Individuen, sich früh zu vermählen, und verzögerte damit zusätzlich die Fortpflanzung. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird die Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit in diesem Buch nicht explizit analysiert und modelliert werden, da die Effekte der damit verbundenen Aufgabe von Ersatzgeburten allgemein bekannt sind und mit dem oben dargestellten Effekt des Generationenprinzips übereinzustimmen scheinen. Um die Auswirkungen dieser vier Mortalitätseffekte auf die Fertilität zusammenzufassen, muss in unserer mathematischen Darstellung berücksichtigt werden, dass die Geburtenrate positiv durch die Sterberate beeinflusst wird. Die Auswirkung des Generationenprinzips wird durch ∂d∂bt−xt > 0 modelliert, erneut verzögert um den kumulativen Lag von Schwangerschaft und Fertilitätsentscheidung. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass eine Reduktion der Sterberate unter einen kritischen Schwellenwert – im menschlichen Fall ca. 2 % – tendenziell einer weitaus stärkeren Reduktion der Geburtenrate vorausgeht. Die solcherart festgelegte menschliche „Take-off“-Lebenserwartung von etwa 50 Jahren kann als Startwert eines Generationenkonflikts interpretiert werden, sofern sie als das doppelte Alter einer Durchschnittsfrau bei der Geburt ihres ersten Kindes, welches sich im Alter wiederum erfolgreich fortpflanzen wird, definiert ist. Soziale Bräuche zur Erhöhung oder Senkung der Fertilität werden für gewöhnlich implizit und mit nahezu sofortiger Wirkung an diesen Generationenkonflikt angepasst.
5.2 Ein exogener Mortalitätstrend Wenn nun tatsächlich die sinkende Sterblichkeit der entscheidende Auslöser für den Fertilitätsrückgang gewesen ist, so führt dies im nächsten Schritt zu der Frage nach der Ursache des Sterblichkeitsrückgangs. Wie für den repräsentativen Fall der britischen Daten über die Jahre 1660–2010 in Abbildung 5.3 illustriert ist, scheint die Sterberate einem recht stetigen negativen Trend mit anfänglich hoher
28Vgl.
z. B. Haines (1998).
5.2 Ein exogener Mortalitätstrend
123
und über den Zeitverlauf abklingender Volatilität zu folgen. Wie bereits erwähnt wurde, beobachten wir dieses allgemeine Muster einer abnehmenden Sterberate in Form eines epidemiologischen Übergangs in jeder sich entwickelnden Ökonomie.29 Daher werde ich als Nächstes kurz die mutmaßlichen Determinanten dieses Sterblichkeitsrückgangs beschreiben, d. h. die Gründe für den epidemiologischen Übergang. Index
Moderne Medizin: Keimtheorie, Reduzierung der Säuglingssterblichkeit
Pest und Pocken
Pestrückgang
Pockenimpfung
Sterberate Zeit
Abbildung 5.3 Links: Epidemiologischer Übergang in Britannien: Sterberate (rot) 1660–2016. Rechts: Stilisierter Fakt epidemiologischer Übergang. (Quellen: Wrigley und Schofield (1981) für 1660–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010)
Die Forschung hat zwei für den Sterblichkeitsrückgang in Britannien verantwortliche Hauptfaktoren ausgemacht: das Verschwinden der Pest und die erfolgreich Bekämpfung der Pocken.30 Obwohl es schwierig ist, zuverlässige britische Statistiken zu einzelnen Epidemien ausfindig zu machen, sind die starken positiven Ausschläge in der frühen Periode (linke Grafik Abbildung 5.3) mit hoher Wahrscheinlichkeit überregionalen Pestausbrüchen geschuldet, da keine andere Ursache eine vergleichbar hohe Opferzahl forderte und da Listen von Pestepidemien in anderen europäischen Staaten ein ähnliches Muster aufweisen.31 Mit dem Ende dieser Epidemien verschwinden die hohen Ausschläge,
29Vgl.
z. B. McKeown (2009). Cipolla (1971) zur Pest; vgl. Davenport u. a. (2011) zu den Pocken. 31„Niemand würde bestreiten, dass das Verschwinden der Pest im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert die Europäer von ihrem tödlichsten Feind befreite und somit die Bevölkerungsentwicklung begünstigte.“ Langer (1963), S. 4. 30Vgl.
124
5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
wenngleich die Sterberate zwischen 1745 und 1800 bis zum Jahr der Einführung der Pockenimpfung im Jahr 1798 auf einem relativ konstanten Niveau verharrt:32 Die großen Schwankungen der Bevölkerung und der Reallöhne in Europa zwischen dem 11. und dem 19. Jahrhundert wurden primär durch externe Schocks ausgelöst, wie durch die Pestepidemien, welche Europa von Asien aus zwischen 1240 und 1720 erreichten. […] Nach 1720 ging die Sterblichkeit zurück, da zunächst die Pest besiegt wurde und danach die Pocken, Letztere durch Impfung. […] Daraufhin expandierten die Bevölkerungen in ganz Europa rapide. […] Impfkampagnen reduzierten die Pockenfälle nach 1800 drastisch.33
Letztere ermöglichten ein Absinken des Niveaus der Sterberate bis etwa 1830, woraufhin wiederum 50 Jahre relativer Konstanz folgten. Modernere medizinische Ansätze wurden erst nach 1875 entwickelt und ermöglichten einen weiteren Rückgang von Infektionskrankheiten (Cholera, Typhus u. a.) sowie eine drastische Reduktion der Säuglingssterblichkeit, welche im Wesentlichen bis 1920 in Britannien als abgeschlossen galt.34 Demnach scheint der Sterblichkeitsrückgang in Britannien bis zum Jahr 1875 ausschließlich dem Verschwinden der Pest- und der Pockenepidemien geschuldet gewesen zu sein – daher die Bezeichnung „epidemiologischer Übergang“. Während die Pockenimpfung auf einen „glücklichen medizinischen Zufall“ zurückzuführen sein mag, wurde die Ursache für das Ende der Pestepidemien bislang noch nicht vollständig ergründet.35 Naturgemäß tendierten Ökonomen dazu, den Sterblichkeitsrückgang Verbesserungen im Lebensstandard in Form verbesserter Nahrungsbedingungen zuzuschreiben, welche angeblich die Resistenz gegenüber den besagten Infektionskrankheiten erhöhte. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so müsste
32„Danach
zeigt sich die europäische Seuchengeschichte – und indirekt auch ihre Bevölkerungsgeschichte – in einem ganz anderen Licht. Die spätere demografische Revolution wäre unmöglich gewesen in einem menschlichen Milieu, das zehn- bis fünfzehnmal in jedem Jahrhundert von einem Gegenschlag der Pest heimgesucht worden wäre.“ Cipolla (1971), S. 62. 33Alter und Clark (2010), S. 42, S. 56. 34Vgl. z. B. Hays (2005) zu einer allgemeinen Übersicht über die Geschichte der Epidemien. 35Die erste geplante Durchführung einer Pockenimpfung wird meist Edward Jenners Methode der Einimpfung von Kuhpocken zugeschrieben.
5.2 Ein exogener Mortalitätstrend
125
der demografische Übergang als eine Konsequenz des BIP-pro-Kopf-Anstiegs modelliert werden, was den demografischen Ansatz dieses Buches unterminieren würde. Wenn wir allerdings erneut Livi-Baccis Urteil folgen, nähren andere, indirekte Überlegungen ebenfalls Zweifel an der Ernährungshypothese. Zum einen sanken die Reallöhne in Europa allgemein während des 18. Jahrhunderts und bis in die ersten Dekaden des 19. […] Ein anderer Indikator ist die Variation der durchschnittlichen Körpergröße, welche in derselben Periode in England, im habsburgischen Reich und in Schweden gesunken zu sein scheint. Körpergröße reagiert sehr sensibel auf Veränderungen im Ernährungsniveau, und ihr Absinken oder ihre Stagnation ist sicherlich kein Zeichen von verbesserter Ernährung.36
Stattdessen bemerkte Clark: Eine große Bandbreite an Erklärungen wurde für das Verschwinden der Pest geliefert, darunter Mutationen des Virus, Wettbewerb unter Rattenspezies oder neue Baumaterialien.37
Des Weiteren muss die konventionelle Sichtweise vieler Historiker, dass („technologische“) Fortschritte in der Medizin aufgrund verstärkter Hygieneoder Quarantänemaßnahmen den epidemiologischen Übergang ausgelöst hätten, ebenfalls verworfen werden: Um diese Frage [des Sterblichkeitsrückgangs] zu beantworten, müssen wir unser Augenmerk wiederum auf die Evidenz des 19. Jahrhunderts legen, als ein Sterblichkeitsrückgang aufgrund der Reduktion der Todesfälle durch Infektionskrankheiten ermöglicht wurde – nahezu vollkommen unabhängig von spezifischer Therapie. (Die einzige medizinische Prozedur, welche als substanzieller Beitrag vor dem 20. Jahrhundert akzeptiert werden kann, war die Impfung, und ihr Einfluss war limitiert auf eine einzelne Krankheit.) Wie zuvor gezeigt, lagen Griffith und andere, welche sich mit dieser Materie auseinandersetzten, vollkommen falsch, wenn sie dem Zuwachs von Krankenhäusern und anderen medizinischen Institutionen eine große Bedeutung beimaßen.38
36Livi-Bacci
(2012), S. 72. und Clark (2010), S. 57. 38McKeown (1965), S. 301. 37Alter
126
5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
Da also Wohlstandseffekt und „technologischer Fortschritt“ für den epidemiologischen Übergang nur eine geringe Rolle gespielt haben dürften, werden in dieser vorläufigen, einfachen Version eines klassischen Wachstumsmodells die (nichtsdestotrotz gegenwärtig vermutlich existierenden) positiven Effekte einer höheren Produktivität auf die Sterblichkeit vernachlässigt.39 Um nicht allzu ausschweifend über die Natur des Rückgangs der Sterberate zu philosophieren und um sich nicht in einer unübersichtlich langen Kausalitätskette zu verlieren, wird das Verschwinden der Infektionskrankheiten in diesem Buch als eine „exogene“ Ursache für den epidemiologischen Übergang betrachtet, unbeeinflusst von wirtschaftlicher Entwicklung und Fertilität. Wir werden daher die dritte Gleichung unseres klassischen Systems lediglich um die Einführung eines negativen Trends h ergänzen:
dt = α5 dt−1 − h.
5.3 Simulation der direkten Mortalitätseffekte auf die Fertilität Wie dieses Kapitel bis hierher verdeutlicht haben sollte, liefert der große präventive Check, das Generationenprinzip, in der klassischen Theorie den Missing Link zwischen dem Stagnationsregime und dem Entwicklungsregime und war nach Malthus ursächlich für den Ausbruch aus der Bevölkerungsfalle. Ich werde nun erneut die stilisierten Fakten des Ausbruchs aus der Stagnation simulieren. Erstens wurde bereits zusätzlich zur vorangehenden Simulation ein negativer Trend in die Sterblichkeitsgleichung eingeführt. Zweitens wird die Sterberate folgendermaßen in die „Bevölkerungsgleichung“ integriert, um die direkten Effekte „Vererbung“ und „Säuglingssterblichkeit“ auf die Fertilität zu modellieren: In einem vollständig bevölkerten Territorium, in welchem eine stabile Bevölkerung nicht in der Lage ist, ihre Arbeitsteilung zu verbessern, gilt gY = 0. Da das langfristige Bevölkerungswachstum ebenfalls null ist, gilt gN = b − d = 0 und damit b = d bzw. dargestellt in Wachstumsraten: bt ln ≈ gdt ⇔ ln bt ≈ ln bt−1 + gdt . bt−1
39Wir
kehren in Anhang A kurz zu diesem Punkt zurück.
5.3 Simulation der direkten Mortalitätseffekte auf die Fertilität
127
Mit der Annahme, dass die Geburtenrate positiv (wiederum unter Einbeziehung einer verzögerten Fertilitätsentscheidung) auf Änderungen der Sterberate gdt−1 reagiert, fügen wir diesen Effekt des Generationenprinzips zum in der Bevölkerungsgleichung dargestellten Bevölkerungsprinzip hinzu. Anders ausgedrückt, wird die in Kapitel 4 simulierte Wachstumsrate eines exogenen Trends in der Geburtenrate durch die Wachstumsrate eines exogenen Trends der Sterberate wie folgt ausgetauscht:40
gyt = α1 bt−15 − α2 bt + ǫgy15 bt = α3 bt−1 + α6 dt−1 − α6 dt−2 + α4 gyt−1 . dt = α5 dt−1 − h
(5.1)
Tabelle 5.1 Kalibrierung des Systems (5.1) α1
α2
α3
α4
α5
Siehe Tabelle 3.1
α6
α0
b0
α0 · 1/dt−1
0, 40
Siehe Tabelle 3.1
d0
gy0
ǫgy15
h 0, 0005
Die für die nachfolgende Simulation verwendete Kalibrierung ist in Tabelle 5.1 abgebildet. Hieraus wird ersichtlich, dass der Koeffizient α6 mit der Sterberate fluktuiert und aufgrund des hierin enthaltenen Trends als „variabel über die Zeit“ betrachtet werden könnte. Zum Zweck einer besseren Illustration wird die logarithmierte Geburtenrate weiterhin durch die absolute Geburtenrate ersetzt. Wie wir in Abbildung 5.4 sehen können, bleiben Geburtenrate und Produktivität im Vergleich zur vorherigen Simulation in Kapitel 4 unverändert, da der lineare exogene Trend in der Geburtenrate exakt durch eine exogen sinkende Sterberate ausgetauscht wurde. Nun spiegelt also auch die Simulation der Sterberate den stilisierten Fakt des demografischen Übergangs korrekt wider. Allerdings scheint die Bevölkerung nun im Vergleich mit unseren realen Zeitreihen ein wenig zu schnell zu wachsen (siehe linke Grafik Abbildung 5.5).
40Die
Bevölkerungsgleichung kann abgeleitet werden, indem wir gdt für glt substituieren: α0 glt−1 = α0 gdt−1 = α0
dt−1 − dt−2 α0 = (dt−1 − dt−2 ) = α6 (dt−1 − dt−2 ). dt−1 dt−1
128
5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
Abbildung 5.4 Eine Simulation eines exogenen Mortalitätsrückgangs in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP-pro-Kopf-Wachstumsrate (hellgrün))
Abbildung 5.5 Eine Simulation eines exogenen Mortalitätsrückgangs in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange) und Produktivität (grün))
5.4 Simulation der indirekten Mortalitätseffekte auf die Fertilität Des Weiteren wurde argumentiert, dass sich Änderungen der Mortalität aufgrund des „Durchschnittseinkommenseffekts“ und des „Selektionseffekts“ auch indirekt über die Einkommen positiv auf die Fertilität auswirken würden. In meiner Darstellung werden diese beiden Effekte über eine Abschwächung des
129
5.4 Simulation der indirekten Mortalitätseffekte auf die Fertilität
evölkerungsprinzips modelliert. Wenn das Bevölkerungsprinzip die GeburtenB rate für Jahrhunderte auf hohem Niveau hielt und damit für die Stagnation verantwortlich gewesen ist, muss sein Effekt während des 19. und 20. Jahrhunderts durch den Effekt irgendeines anderen Prinzips ausbalanciert oder unterdrückt worden sein. Analog zur Modellierung der direkten Effekte wird daher nun der Koeffizient α4 als von der Sterberate abhängig modelliert und mag somit ebenfalls als „zeitvariant“ betrachtet werden. Allerdings wird in diesem Fall angenommen, dass der Koeffizient sinkt, solange die Sterberate fällt. Insgesamt ergibt sich somit durch die Einführung des exogenen Trends der Sterberate „über den Zeitverlauf“ ein Anstieg des Effekts des Generationenprinzips sowie eine Abschwächung des Effekts des Bevölkerungsprinzips. PoLD
PoDR
gyt = α1 bt−15 −α2 bt +gy15
(5.2)
PoG
PoP bt = α3 bt−1 + α6 dt−1 − α6 dt−2 + α4 gyt−1 dt = α5 dt−1 − h
Tabelle 5.2 Kalibrierung des Systems (5.2) α1
α2
α3
Siehe Tabelle 5.1
α5
α6
α4
b0
50 · dt−1
Siehe Tabelle 5.1
d0
gy0
ǫgy15
h
Mit Ausnahme des Koeffizienten α4 ändert sich an der Kalibrierung des vorherigen Gleichungssystems nichts (siehe Tabelle 5.2). Die Simulation des vollständigen Mechanismus ist in den Abbildungen 5.6 und 5.7 dargestellt. Zuallererst stimmt die allgemeine Tendenz aller sechs Zeitreihen mit den beobachteten stilisierten Fakten zur wirtschaftlichen Entwicklung überein: Geburtenrate und Sterberate nehmen kontinuierlich ab, Produktion und Bevölkerung weisen einen parallelen Anstieg sowie daran anschließend eine Divergenz auf und das zunehmende Produktivitätswachstum führt zu einem exponentiellen Anstieg der Produktivität. Wir werden zudem im nächsten Kapitel beobachten, dass die simulierte Abnahme der Volatilität des Produktivitätswachstums ebenfalls im Einklang mit den empirischen Daten steht. Somit scheint unsere Simulation der direkten und indirekten Effekte des großen präventiven Checks „Generationenprinzip“ empirisch plausibel zu sein und den Ausbruch aus der malthusianischen Falle abbilden zu können. Dass die vier klassischen ökonomischen Prinzipien in realen Ökonomien tatsächlich maßgeblich für
130
5 Klassische Wachstumstheorie und Entwicklung
wirtschaftliche Entwicklung sind, wird in den ökonometrischen Darstellungen von Anhang A und Anhang B empirisch evaluiert werden. Eine Übersicht der theoretischen Errungenschaften aus Teil II dieses Buches ist in Abbildung 5.8 dargestellt.
Abbildung 5.6 Eine erweiterte Simulation eines exogenen Mortalitätsrückgangs in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP-pro-Kopf-Wachstumsrate (hellgrün))
Abbildung 5.7 Eine erweiterte Simulation eines exogenen Mortalitätsrückgangs in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange) und Produktivität (grün))
5.4 Simulation der indirekten Mortalitätseffekte auf die Fertilität
Abbildung 5.8 Theoretische Herleitungen aus Teil II
131
Teil III Die Vereinigung der Epochen der Stagnation und der Entwicklung
6
Eine klassische, ganzheitliche Wachstumstheorie
Kein Plan für sozialen Fortschritt kann vollständig sein, solange er nicht beides umfasst – die Produktion des Wohlstands zu erhöhen und die Bevölkerung von einem proportionalen Anwachsen abzuhalten.1
6.1 Das Stagnationsregime und das Entwicklungsregime: Die stilisierten Fakten zusammengefasst In diesem Kapitel werden das Regime der Stagnation und das Regime der wirtschaftlichen Entwicklung in einem einzigen Wachstumsmodell zusammengefasst. Ausgehend von der deskriptiven und theoretischen Analyse wirtschaftlicher und demografischer Variablen in den Kapiteln 2 bis 5 wird die nachfolgende Zusammenstellung stilisierter Fakten als durch die britischen Daten, dargestellt in Abbildung 4.1 und 6.1, ausreichend belegt und als repräsentativ für ein universelles und globales Entwicklungsmuster erachtet: 1. Der Elendszyklus: Während der Epoche der Stagnation wachsen Bevölkerung und Produktion proportional zueinander (siehe Kapitel 2 und 3). 2. Der Rückgang des Bevölkerungswachstums: Während des Ausbruchs aus dem Elendszyklus schwächt sich das Bevölkerungswachstum ab und sinkt unter
1Senior
(1836), S. 146.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5_6
135
136
6 Eine klassische, ganzheitliche Wachstumstheorie
das Produktionswachstum ab. Dieser Rückgang ist vollständig einer fallenden Geburtenrate geschuldet (Kapitel 4). 3. Das Kreuz des Wohlstands: Während des Ausbruchs besteht eine negative Korrelation zwischen Geburtenrate und Produktivität. Es existiert keine Ökonomie, in welcher die Produktivität nachhaltig anstieg und die nicht zugleich von einem Fertilitätsrückgang begleitet wurde (Kapitel 4). 4. Der demografische Übergang: Während des Übergangs zur Entwicklung liegt ein positiver Zusammenhang zwischen Sterberaten und Geburtenraten vor. Es existiert keine Ökonomie, in welcher der Rückgang der Geburtenrate dem Absinken der Sterberate vorausging (Kapitel 5). 5. Der epidemiologische Übergang: Der Sterblichkeitsrückgang beginnt während der Epoche der Stagnation und erzeugt einen Anstieg der Lebenserwartung von etwa 50 auf etwa 80 Jahre (unter Ausschluss der Säuglingssterblichkeit). Index Stagnationsregime
Entwicklungsregime
BIP pro Kopf
Zeit
Abbildung 6.1 Links: „Übergang zur Entwicklung“ in Britannien: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot) und BIP pro Kopf (grün) 1802–2007. Rechts: Stilisierter Fakt „Übergang zur Entwicklung“. (Quellen: BIP pro Kopf: Clark (2009) für 1800–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010, Geburten- und Sterberaten: Wrigley und Schofield (1981) für 1800–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010)
Es lässt sich schlussfolgern, dass die drei Wachstumsvariablen Geburtenrate, Sterberate und Produktivitätswachstum dem in Abbildung 6.1 dargestellten, universellen Entwicklungsmuster gehorchen. Ein Rückgang der Sterberate zieht kategorisch einen Rückgang der Geburtenrate nach sich, welcher einen Rückgang des Bevölkerungswachstums produziert, und geht einher mit einem simultanen Anstieg des Produktivitätswachstums. Anhang C umfasst wiederum zahlreiche nationale Beispiele in Übereinstimmung mit diesen stilisierten Fakten.
6.2 Simulation der klassischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie
137
Die nachfolgenden kausalen Beziehungen werden als die essenziellen Bausteine einer ganzheitlichen Wachstumstheorie erachtet: Erstens bewirkt ein unbeschränktes Bevölkerungswachstum (basierend auf einer hohen Geburtenrate) wirtschaftliche Pro-Kopf-Stagnation. Zweitens bildet der Rückgang des Bevölkerungswachstums (basierend auf einer sinkenden Geburtenrate) den wichtigsten Auslöser des Ausbruchs aus der Stagnation. Drittens wird der Fertilitätsrückgang durch den Sterblichkeitsrückgang ausgelöst. Viertens wird somit der Prozess wirtschaftlicher Entwicklung letztlich durch den epidemiologischen Übergang exogen angestoßen und nicht durch „technologischen Fortschritt“ eingeleitet.
6.2 Simulation der klassischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie Senior (1836) beabsichtigte mit seiner Abhandlung „An Outline of the Science of Political Economy“, die gesammelten ökonomischen Prinzipien oder, in anderen Worten, die vorherrschende Mainstreamtheorie seiner Zeit zusammenzufassen. Ihm zufolge bestand unter klassischen Ökonomen ein allgemeiner Konsens in Bezug auf vier elementare Prinzipien.2 Die Definitionen der in diesem Buch beschriebenen Prinzipien basieren auf Seniors Klassifikation und wurden als das Prinzip der abnehmenden Erträge (PoDR), das Prinzip der Arbeitsteilung (PoLD),
2„[Vorausgesetzt,]
dass jeder Mensch wünscht, zusätzlichen Wohlstand mit so wenig Aufwand wie möglich zu erhalten: 1. dass, mit konstanter Fähigkeit zum Betreiben von Landwirtschaft, jede zusätzliche Arbeit, welche auf diesem Land innerhalb eines gegebenen Bezirks angewandt wird, im Allgemeinen einen weniger als proportionalen Ertrag produziert oder, in anderen Worten, dass, obwohl mit jedem Anstieg der bestellten Arbeit der Gesamtertrag erhöht wird, der Anstieg des Gesamtertrags nicht proportional zum Anstieg der Arbeit ist; [PoDR] 2. dass die produktive Kraft der Arbeit und die der anderen Instrumente, welche Wohlstand produzieren, indefinit erhöht werden können, indem ihre Produkte als Mittel weiterer Produktion verwendet werden; [PoLD] 3. dass die Bevölkerung der Welt oder, in anderen Worten, die Anzahl der Personen, welche sie bewohnen, nur durch moralisches und physisches Übel begrenzt wird [PoP] 4. oder durch die Furcht vor einem Mangel an denjenigen Wohlstandsgütern, welche das Führen des Lebensstils der Individuen in jeder einzelnen Klasse von Einwohnern erfordert.“ [PoG] Senior (1836), S. 139.
138
6 Eine klassische, ganzheitliche Wachstumstheorie
das Bevölkerungsprinzip (PoP) und das Generationenprinzip (PoG) bezeichnet. Diese vier Prinzipien wurden einerseits auf der Basis einer Produktionstheorie und andererseits auf der Basis einer Bevölkerungstheorie zu einem endogenen Wachstumsmodell zusammengefasst. Die Produktionstheorie wurde über die erste Gleichung des Systems (6.1) modelliert und weist die Effekte der Geburtenrate auf das Produktivitätswachstum über das PoLD und das PoDR aus. Die Bevölkerungstheorie wurde über die zweite Gleichung des Systems modelliert, bildet die Effekte von sowohl Produktivitätswachstum als auch der Sterberate auf die Geburtenrate ab und repräsentiert damit das PoP bzw. das PoG. Die letzte Gleichung des Systems kann als Bindeglied zwischen einem frühen Stagnationsregime und einem späten Entwicklungsregime betrachtet werden und ist für die Erzeugung einer ganzheitlichen Wachstumstheorie verantwortlich. Somit können wir die Theorie, welche durch dieses System generiert wird, als „klassische, ganzheitliche Wachstumstheorie“ bezeichnen (Tabelle 6.1). PoLD
PoDR
gyt = α1 bt−15 −α2 bt + ǫgy15
(6.1)
PoG
PoP bt = α3 bt−1 + α6 dt−1 − α6 dt−2 + α4 gyt−1 dt = α5 dt−1 − hI
mit I = 0 for t = 1, . . . , 250 und I = 1 für t = 251, . . . , 350. Tabelle 6.1 Kalibrierung des Systems (6.1) α1
α2
α3
α4
α5
α6
b0
d0
gy0
ǫgy15
h
1
1
1
50 · dt−1
1
0, 40 · 1/dt−1
0, 035
0, 020
0, 000
0, 025
0, 0005
Für die Kalibrierung werden die Koeffizienten und Startwerte aus dem vorangegangenen Abschnitt verwendet, und die dritte Gleichung wird um eine Indikatorfunktion ergänzt. Die Ergebnisse der Simulation sind in Abbildung 6.2 illustriert. Die ersten 250 Perioden der Simulation entsprechen der Evolution des Stagnationsregimes nach einem Schock in gy15. Der zweite Teil der Simulation über die letzten 100 Perioden bildet das Entwicklungsregime ab, welches durch ein Absinken der Sterberate ausgelöst wird. Dieses Absinken bewirkt entscheidend den fortschreitenden Wirkungsgrad des Generationenprinzips entsprechend der zweiten Gleichung von (6.1). Aufgrund der direkten Mortalitätseffekte fällt die Geburtenrate daran anschließend sogar überproportional zur Sterberate. Die Abschwächung der kurzfristigen Konvertierung von Produktivität
6.2 Simulation der klassischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie
139
in Geburten aufgrund des PoP ist den indirekten Mortalitätseffekten geschuldet. Wirtschaftsentwicklung wird durch die Tatsache ausgelöst, dass die Größe der Geburtenkohorten über den Zeitverlauf absinkt. Wäre der Wert von α2 bt größer als der von α1 bt−15, so würde der negative Effekt des PoDR aufgrund einer stetig anwachsenden Bevölkerung den positiven langfristigen Effekt des PoLD überwiegen (Abbildung 6.3).
Abbildung 6.2 Eine Simulation der klassischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), Produktivitätswachstumsrate (hellgrün))
Abbildung 6.3 Eine Simulation der klassischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie in Niveauvariablen (Produktion (blau), Bevölkerung (orange), Produktivität (grün))
140
6 Eine klassische, ganzheitliche Wachstumstheorie
Solange jedoch gilt, dass α1 bt−15 > α2 bt ist, d. h., solange die Geburtenrate über den Verlauf einer Generation sinkt (wenngleich die Bevölkerung wächst) – wie in Abbildung 6.2 ab Periode 250 dargestellt –, verringert sich per Definition auch das Verhältnis zwischen unproduktiven und produktiven Individuen. In diesem Fall überlagern die Gewinne aus Arbeitsteilung die Verluste aus abnehmenden Erträgen. Da sie vollständig mit den stilisierten historischen Fakten übereinstimmt, liefert die Simulation unserer mathematischen Darstellung eine Bestätigung der vermuteten Stagnations- und Entwicklungsregime einer klassischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie. Im Anhang wird dieses Gleichungssystem empirisch bestätigt werden. Zu diesem Zweck werde ich in Anhang A die durch die Bevölkerungstheorie abgebildeten, kurzfristigen Beziehungen (α4 und α6) über eine Vektorautoregression des gesamten Systems (6.1) schätzen. Danach werde ich in Anhang B die langfristige Beziehung zwischen Produktion und Geburtenrate (α1 und α2) unter Verwendung einfacher OLS-Regressionen der ersten Gleichung von System (6.1) auswerten.
7
Spekulationen über ein zukünftiges Stagnationsregime
7.1 Die aktuelle Entwicklung Um Aussagen über die potenzielle zukünftige Wirtschaftsentwicklung treffen zu können, führen wir den Ansatz gedanklich fort, dass ein Entwicklungsregime in jeder Ökonomie auf ein Stagnationsregime genau dann folgt, solange die Mortalität sinkt. In der linken Grafik von Abbildung 7.1 wird der Zeithorizont von Abbildung 6.1 durch Hinzufügen der letzten Jahre der aktuellen britischen Situation erweitert. Es ist erstens erwähnenswert, dass die Sterberate bereits in den 1920er-Jahren ein nachhaltig niedriges Niveau von etwa 0,125 erreicht hat und seither nur sehr leicht gefallen ist. Zweitens passte sich die Geburtenrate während der 1970er-Jahre grob an das konstant niedrige Niveau der Sterberate an und scheint sich, wenngleich leicht darüber liegend, ebenfalls stabilisiert zu haben. Zur besseren Visualisierung wurde der demografische Übergang von einer stark positiv gecheckten hin zu einer stark präventiv gecheckten Ökonomie in der rechten Grafik von Abbildung 7.1 stilisiert. Drittens verlangsamte sich das reale britische BIP-pro-Kopf-Wachstum zuletzt und stagniert nahezu seit dem Jahr 2007. Auch aktuellere Prognosen für die Jahre nach 2016 bestätigen diese Stagnation. Wenn wir diese Entwicklung auf die zukünftigen Dekaden projizieren, könnte ein zusätzlicher stilisierter Fakt vermutet werden, dessen Evaluation bislang noch nicht vorgenommen werden kann, namentlich die Rückkehr zu „säkularer Stagnation“, welche durch das letzte Regime „später Stagnation“ in der rechten Grafik von Abbildung 7.1 illustriert ist. Diese Idee einer neuen Stagnationsepoche wird untermauert, wenn wir unsere Simulation unter der Annahme einer konstanten Sterberate um weitere 100 Perioden ausdehnen (siehe Abbildung 7.2 und 7.3). Wir sollten hierbei allerdings stets berücksichtigen, dass in unserer Simulation lediglich ein einmaliger „Arbeitsteilungslag“ © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5_7
141
142
7 Spekulationen über ein zukünftiges Stagnationsregime
von 15 Jahren verwendet wird, wohingegen unsere Schätzungen (siehe Anhang B) eine Verzögerung der Verteilung der Vorteile aus der Arbeitsteilung von ungefähr 65 Jahren empirisch stützen. Der nächste Abschnitt wird eine kurze Übersicht über die Effekte liefern, welche der große präventive Check „Generationenprinzip“ unserer Simulation nach auf das zukünftige Bevölkerungswachstum und das zukünftige Produktionswachstum haben wird. Index Stagnationsregime
Entwicklungsregime
Stagnationsregime
BIP pro Kopf
Zeit
Abbildung 7.1 Links: „Rückkehr zur Stagnation“ in Britannien: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot) und BIP pro Kopf (grün) 1802–2016. Rechts: Stilisierter Fakt „Rückkehr zur Stagnation“. (Quellen: BIP pro Kopf: Clark (2009) für 1800–1871; Mitchell (2013) für 1871–2010 Geburten- und Sterberaten: Wrigley und Schofield (1981) für 1800–1871; Mitchell (2013) für 1871–2010)
Abbildung 7.2 Simulation konstanter zukünftiger Mortalität in Wachstumsraten (Geburtenrate (blau), Sterberate (rot) und Produktivitätswachstumsrate (hellgrün))
7.2 Prognose
Abbildung 7.3 Simulation konstanter zukünftiger Mortalität (Produktion (blau), Bevölkerung (orange), Produktivität (grün))
143
in
Niveauvariablen
7.2 Prognose In Kapitel 5 haben wir die vereinfachende Annahme getroffen, dass die Sterberate nicht endogen beeinflusst werden kann. Wie wir jedoch gesehen haben, hängt sie vermutlich vom Faktor „Zufall“ ab und mag dementsprechend jederzeit zu- oder abnehmen, z. B. durch eine potenzielle zukünftige Ausbreitung neuartiger Epidemien oder durch neue Entdeckungen, welche die Lebenserwartung erhöhen. Wenn wir von der vermutlich realistischsten Annahme konstanter zukünftiger Mortalität ausgehen, wird für das klassische, ganzheitliche Wachstumsmodell der nachfolgende Mechanismus vorgeschlagen. In der derzeit in vielen Ökonomien vorherrschenden Situation niedriger Mortalität, in welcher der große präventive Check außergewöhnlich stark operiert, hält das Generationenprinzip die Geburtenrate ebenfalls auf einem konstant niedrigen Niveau. Hier müssen wir schlussfolgern, dass eine Ökonomie etwa 65 Jahre, nachdem sich die Geburtenrate auf einem niedrigeren Niveau stabilisiert hat, in ein neues Stagnationsregime eintreten wird, in welchem sich die Produktivität auf einem höheren Niveau als zuvor konsolidiert. Allerdings bleibt bislang anhand der Datenlage unklar, ob sich die Geburtenrate knapp über, unter oder auf demselben Niveau wie die Sterberate stabilisieren wird, was je nachdem eine positive, eine negative oder eine Bevölkerungswachstumsrate nahe null bewirken würde. Wir wollen uns daher nun kurz diese drei Szenarien sowie deren Auswirkungen genauer vor Augen halten. Mithilfe der Produktionstheorie können wir dann die Frage beantworten, inwieweit diese Veränderung
144
7 Spekulationen über ein zukünftiges Stagnationsregime
des Bevölkerungswachstums die zukünftige Entwicklung von Produktion und Produktivität einer solchen Ökonomie beeinflussen wird.1 Nehmen wir erstens an, die Geburtenrate fiele dauerhaft unter die Sterberate. In diesem Fall wäre die Kohortengröße einer Nachfolgegeneration sogar kleiner als die Kohortengröße der Vorfahren. Da junge Individuen in diesem Fall weder mit der Drohung, aus existierenden Nischen verdrängt zu werden, noch – aufgrund einer abnehmenden Gesamtbevölkerung – mit potenziellen Skaleneffekten aus Arbeitsteilung konfrontiert wären, würden die existierenden Nischen letztlich von (vielen) Vorfahren an (wenige) Nachfahren weitergereicht, ohne dass dabei Interessenkonflikte erzeugt würden. McCulloch ging sogar einen Schritt weiter, indem er vermutete, dass in einer Ökonomie, in welcher Bevölkerungsdruck und (intra- sowie intergenerationaler) Wettbewerb eliminiert würden, die entsprechenden „Motive, welche Intelligenz und Aktivität stimulieren“, ebenfalls verschwinden würden. Denn mit der garantierten Sicherung von sozialen Nischen und Fortpflanzung würde allgemein jede produktive Arbeit mit Ausnahme dessen, was zum Erhalt der elterlichen Profession erforderlich ist, nutzlos. Wenn es tatsächlich möglich wäre, diesen Stimulus, welcher vom [Bevölkerungs-] Prinzip ausgeht, plötzlich zu beseitigen, so wäre das Leben nichts als eine trostlose Existenz und die Welt nichts als eine unkultivierte Einöde. Jede Anstrengung, auf welche unsere Zivilisation zurückgeführt werden kann, basiert direkt oder indirekt auf ihren Effekten; entweder auf dem tatsächlichen Wunsch nach einer Familie oder auf der erdrückenden Verpflichtung, für eine zu sorgen, oder auf der Notwendigkeit, mit den Anstrengungen zu konkurrieren, welche das Wirken dieser Motive bei anderen Menschen hervorruft.2
Demzufolge würde sich das BIP pro Kopf in diesem Szenario langfristig kaum verändern, während die Gesamtproduktion in einer solchen Ökonomie aufgrund einer schrumpfenden Bevölkerung sogar abnehmen würde. 1Der
Leser sei hier wiederum daran erinnert, dass nach dem Produktionsmodell die Größe der Bevölkerung ihre Produktivität nicht beeinflusst. Unabhängig davon, ob die Bevölkerungsgröße eine Milliarde, zehn Milliarden oder 20 Milliarden betrüge, bliebe die Produktivität langfristig unverändert, da sie nur auf Änderungen des Bevölkerungswachstums reagiert. Man mag auch allgemeiner mit Hardin (1968) argumentieren, dass abnehmende Erträge einige (öffentliche) Güter innerhalb einer größeren Bevölkerung aufgrund ihrer Seltenheit verteuern würden und dass dieser Verlust durch ein erhöhtes Angebot anderer (privater) Güter, welche aufgrund einer zunehmenden Arbeitsteilung und damit einhergehender Spezialisierung günstiger produziert werden könnten, kompensiert werden würde. 2McCulloch (1863), Teil I, Kapitel VIII.
7.2 Prognose
145
Nichtsdestotrotz lehrt uns das Bevölkerungsprinzip, dass die Geburtenrate innerhalb einer Ökonomie langfristig nicht unter die Sterberate fallen wird. Da jedes verstorbene Individuum durchschnittlich eine vakante soziale Nische zurücklässt, wird diese tendenziell von einem Individuum einer nachrückenden Kohorte besetzt werden und diesem wiederum Subsistenzmittel für seinen Nachwuchs liefern. Da wir folglich eine konstante Tendenz jeder Bevölkerung beobachten, sich zumindest selbst zu reproduzieren, wird die Bevölkerung mit hoher Wahrscheinlichkeit langfristig nicht schrumpfen, und wir verwerfen das erste Szenario, in welchem die Geburtenrate unter die Sterberate fällt, als unplausibel. Wenn wir zweitens annehmen, dass die Geburtenrate langfristig auf demselben Niveau wie die Sterberate verharren wird, so liegt das tatsächliche zukünftige Bevölkerungswachstum bei null. Da eine stagnierende Bevölkerung offensichtlich weder von zunehmender Arbeitsteilung profitieren, noch unter abnehmenden Erträgen leiden wird, muss erwartet werden, dass Produktion und Produktivität in dieser Situation langfristig gleichermaßen stagnieren werden. Zuletzt ziehen wir die Möglichkeit in Betracht, dass die Geburtenrate langfristig über der Sterberate liegen wird, d. h., dass das Bevölkerungsprinzip das Generationenprinzip leicht überlagert. Auf der einen Seite würde dieses Szenario, wie in den beiden anderen Fällen, zur – insgesamt vielleicht desillusionierenden – Erkenntnis führen, dass die Produktivität langfristig konstant bleiben wird (und dies mag in einem neuen Stagnationsregime durchaus für ein weiteres Millennium der Fall sein). Auf der anderen Seite mag uns die Erkenntnis, dass Bevölkerungsdruck Innovationen auslöst, unsere Hoffnung auf kontinuierlichen „technologischen Fortschritt“ erhalten. In diesem Szenario treibt der dem Effekt des Generationenprinzips überlegene Effekt des Bevölkerungsprinzips wiederum eine wachsende Bevölkerung in einen Wettbewerb, welcher Arbeitsteilung und Spezialisierung letztendlich unvermeidbar macht. Obwohl das Bevölkerungsprinzip zunächst von vielen Ökonomen als Quelle von Not und Elend wahrgenommen worden war, wurde sein Einfluss als Treiber gesamtwirtschaftlichen Wachstums vermutlich am besten durch das finale Lob McCullochs zusammengefasst: Das [Bevölkerungs-]Prinzip, wie von Malthus [1789] erklärt, […] schien ein unüberwindliches Hindernis für jede permanente Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen darzustellen und die große Mehrheit der menschlichen Rasse zu einem Leben in Armut zu verdammen. Jedoch haben daran anschließende Untersuchungen ergeben, dass die Schlussfolgerungen, welche […] aus dem Prinzip gezogen wurden […], von unseren weitläufigeren Erfahrungen widerlegt werden; dass der zu schnelle Anstieg der Bevölkerung nahezu immer unterdrückt
146
7 Spekulationen über ein zukünftiges Stagnationsregime
wird durch den Einfluss von Prinzipien, welche dieser Anstieg bewirkt; dass eine sehr große Verbesserung der [Lebens-]Bedingungen der Menschen in den meisten Ländern stattgefunden hat […] und dass wir diesem Prinzip, welches dem Fortschritt bei Weitem nicht abträglich ist, tatsächlich den größten Teil unseres Komforts und unserer Vergnüglichkeiten verdanken sowie den kontinuierlichen Fortschritt von Kunst und Industrie. […] Dass die Tendenz zum Bevölkerungswachstum nicht inkonsistent mit einer Verbesserung der Gesellschaft ist, ist eine Tatsache, über welche es keinen Disput geben kann.3
Denn unabhängig davon, ob Spezialisierung und Innovation durch „Not“ oder „die Furcht, einen sozialen Rang zu verlieren“ ausgelöst werden, sind sie das regelmäßige Resultat einer Situation, in welcher die aktuelle Kohorte die vorherige Kohorte in ihrer Zahl übersteigt und über die Erzeugung von intragenerationalem Wettbewerb eine überschüssige Zahl junger Individuen dazu gedrängt wird, neue Nischen zu bilden. Abschließend mögen wir in diesem optimistischen Szenario hoffen, dass, wenn zusätzlich, trotz Bevölkerungswachstums, die durchschnittliche Anzahl „überschüssiger“ Nachkommen ausreichend klein ist, um stetig durch neue Formen der Spezialisierung (die durch die gestiegene Bevölkerungs-/Marktgröße nachgefragt sein werden) absorbiert zu werden, eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die hieraus resultierenden neuen Professionen eines Tages sterblichkeitsreduzierende Innovationen entstehen lassen und somit weitere Wirtschaftsentwicklung ermöglichen werden.
3McCulloch
(1863), Vorwort.
8
Schluss: Implikationen für die Wirtschaftswissenschaften
8.1 Rekapitulation Das Ziel dieses Buches bestand darin, eine ganzheitliche ökonomische Wachstumstheorie zu modellieren, welche die stilisierte Entwicklung des BIP pro Kopf langfristig, d. h. über die gesamte Menschheitsgeschichte, in einem einzigen kohärenten Modellrahmen erklären kann. Im einleitenden Kapitel wurde die historische Entwicklung des BIP pro Kopf dargelegt und die zwei prominentesten ganzheitlichen Wachstumsmodelle wurden vorgestellt. Während Kremer in seinem älteren Modell einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess postuliert, wird in den neueren Modellen von Galor und anderen Autoren davon ausgegangen, dass der wirtschaftliche Wachstumsprozess in zwei Epochen unterteilt werden kann – eine Epoche wirtschaftlicher Stagnation und eine Epoche wirtschaftlicher Entwicklung. In Kapitel 2 untersuchte ich die britische Ökonomie bis etwa 1800 n. Chr. im Hinblick auf die empirische Evidenz für eine Epoche der Stagnation bzw. einer graduellen Entwicklung. Da sein ganzheitliches Modell im Wesentlichen auf einem Stagnationsmechanismus basiert, welcher bereits vom klassischen Ökonomen T. R. Malthus im Jahr 1798 formuliert worden war, verwendete Galor für theoretische Untersuchungen den Ausdruck „malthusianische Falle“. In Kapitel 3 wurde dieser Mechanismus auf Malthus’ (sowie anderer klassischer Autoren) ursprüngliche Darstellung zurückgeführt, in welcher von drei universellen theoretischen Prinzipien Gebrauch gemacht wurde. Hierauf aufbauend wurde ein mathematisches Modell der „klassischen malthusianischen Falle“ erstellt; dieses wurde simuliert und seine Plausibilität illustriert.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5_8
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8 Schluss: Implikationen für die Wirtschaftswissenschaften
In Kapitel 4 wurden die stilisierten Fakten der (zweiten) Epoche wirtschaftlicher Entwicklung analysiert und das in Kapitel 3 erstellte klassische Modell wurde genutzt, um den Entwicklungsprozess darzustellen. Hier wurde ebenfalls gezeigt, dass die weitaus meisten derzeit populären Ansätze den „Ausbruch aus der malthusianischen Falle“ nicht erklären können. Als vielversprechende Alternative wurde in Kapital 5 stattdessen ein viertes klassisches Prinzip herangezogen, mit dessen Hilfe der Übergang von Stagnation zu Entwicklung nachvollziehbar dargelegt werden kann. In Kapitel 6 wurden die malthusianische Falle sowie der Ausbruch aus der malthusianischen Falle zur Bildung einer ganzheitlichen Wachstumstheorie in ein und demselben Modell simuliert und illustriert. Kapitel 7 schloss mit einer Spekulation über das zukünftige Wirtschaftswachstum und die zukünftige Wirtschaftsentwicklung, indem die Erkenntnisse der erarbeiteten klassischen, ganzheitlichen Wachstumstheorie auf die Zukunft projiziert wurden. Des Weiteren werden in Anhang A und Anhang B die vier Prinzipien, auf welchen die klassische, ganzheitliche Wachstumstheorie beruht, unter Verwendung von OLS-Schätzungen empirisch untermauert.
8.2 Zusammenfassung der Haupterkenntnisse In diesem Abschnitt wird eine Übersicht über die wichtigsten Erkenntnisse dieses Buches zusammenfassend aufgelistet. Zuerst wurde in Kapitel 2 die starke Evidenz für die Existenz eines Stagnationsregimes in Britannien bis etwa 1800 n. Chr. hervorgehoben, das auf nationaler Ebene ein Einzelfällen bis heute Bestand hat. Zweitens arbeiteten wir heraus, dass der stilisierte Fakt eines Elendszyklus zwischen Bevölkerung und Produktion mithilfe einer klassischen Produktionstheorie und einer klassischen Bevölkerungstheorie erklärt werden kann, bestehend aus dem Prinzip der Arbeitsteilung, dem Prinzip der abnehmenden Erträge und dem Bevölkerungsprinzip, welche im Zusammenspiel einen endogenen demografischen Wachstumsmechanismus bilden – die malthusianische Falle. Da dieser Mechanismus in der Wirtschaftstheorie noch nicht universell akzeptiert ist, dienten Kapitel 2 und 3 im Wesentlichen dazu, seine Bedeutung herauszustellen. Der beste Beweis für die Existenz einer malthusianischen Falle wird durch die erwiesene Beobachtung der darwinschen Theorie der Evolution durch natürliche Selektion erbracht. Drittens wurde in Kapitel 4 verdeutlicht, dass ein Rückgang des Bevölkerungswachstums für den Ausbruch aus der Stagnation verantwortlich gewesen sein muss. Dieser Ausbruch wurde nicht durch die oft zitierte industrielle Revolution als Agent des „technologischen Fortschritts“ angestoßen. Stattdessen wurde
8.2 Zusammenfassung der Haupterkenntnisse
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er durch einen Fertilitätsrückgang bewirkt, welcher nach Malthus auf dem großen präventiven Check beruhte. Viertens – und dies sollte als die vermutlich relevanteste Erkenntnis dieses Buches herausgestellt werden – kann der große präventive Check, das Generationenprinzip, als viertes universelles Prinzip den Fertilitätsrückgang über abnehmende Mortalität erklären. Demnach wurde der Fertilitätsrückgang nicht durch wirtschaftliche Entwicklung verursacht, wie oftmals unzulässigerweise behauptet wird. Fünftens erkannten wir die Evidenz für eine Exogenität des Mortalitätsrückgangs – ebenfalls unabhängig von wirtschaftlicher Entwicklung. Als ein Resultat wurde mit der Simulation dieser erweiterten klassischen Wachstumstheorie gezeigt, dass das Modell tatsächlich die drei kombinierten stilisierten Fakten „Kreuz des Wohlstands“ (sinkende Fertilität und steigende Produktivität), „demografischer Übergang“ (sinkende Mortalität und sinkende Fertilität) und „epidemiologischer Übergang“ (sinkende Mortalität aufgrund nachlassender Intensität von Infektionskrankheiten) über eine simple Kausalkette abbilden kann: Sinkende Mortalität bewirkt einen Fertilitätsrückgang, welcher einen Produktivitätsanstieg ermöglicht. Der Narrativ der Haupterkenntnis dieses Buches, des großen präventiven Checks „Generationenprinzip“, lautet wie folgt: Da die positiven Bevölkerungschecks (Hungersnöte, Epidemien, Kriege usw.) mit dem Rückgang der Mortalität als nicht existent angenommen wurden, stellte sich die Frage, wie Malthus’ „deutliche und mächtige“ präventive Checks darzustellen seien, von welchen behauptet wurde, dass sie die Bevölkerungswachstumsrate auf handhabbare Grenzen reduzieren könnten. Zu diesem Zweck wurde zunächst festgestellt, dass abnehmende Sterblichkeit eine zunehmende Lebenserwartung impliziert. Da die durchschnittliche Lebenszeit eines Elternteils also mit dem Sterblichkeitsrückgang ansteigt, erhöht sich ebenfalls seine durchschnittliche Lebensarbeitsdauer. Eigentumsrechte, Vererbung, Erfahrung und Reputation dienen den älteren Kohorten hierbei zur Absicherung ihrer wirtschaftlichen Nischen gegen aufkommende Wettbewerber aus jüngeren Kohorten. Da nur eine begrenzte Zahl an Nischen verfügbar ist, muss ein großer Teil der jungen Generation notwendigerweise dem Rat folgen, von der Gründung einer Familie abzusehen, bis er in einem Beruf etabliert ist, welcher es ihm ermöglicht, eine Familie zu ernähren, ohne den Verlust seines sozialen Ranges fürchten zu müssen. Dieser Generationenkonflikt führt zu verzögerten Vermählungen und sinkender Fertilität. Dementsprechend wurde argumentiert, dass zur Forcierung wirtschaftlicher Entwicklung hauptsächlich ein Absenken der Mortalität beabsichtigt werden muss. Sechstens wurde gezeigt, dass die erarbeitete klassische Wachstumstheorie imstande ist, ein Stagnationsregime und ein Entwicklungsregime in ein und
150
8 Schluss: Implikationen für die Wirtschaftswissenschaften
d emselben ganzheitlichen Wachstumsmodell darzustellen. Siebtens wurde es als notwendig erachtet, die Effekte der vier Prinzipien separat zu evaluieren. Auf der einen Seite wird die Evidenz für das Bevölkerungsprinzip und das Generationenprinzip in Anhang A unter Verwendung von etwa 4.500 Beobachtungen jährlicher, länderspezifischer Datensätze herausgearbeitet. Eine Vektorautoregression ermöglicht es uns zu schlussfolgern, dass ein nahezu universeller, positiver, kurzfristiger Effekt des BIP-pro-Kopf-Wachstums auf die Geburtenraten sowie ein gleicher Effekt der Sterberaten auf die Geburtenraten mit einer Verzögerung von vier Jahren existiert. Auf der anderen Seite wird die Evidenz für die gemeinsame Existenz des Prinzips der abnehmenden Erträge und des Prinzips der Arbeitsteilung in Anhang B ergründet, indem zur Messung des durchschnittlichen, langfristigen Effektes einer Änderung der Geburtenraten auf das BIP-pro-KopfWachstum gemeinsame OLS-Schätzungen für 104 Länder durchgeführt werden. Die Resultate lassen darauf schließen, dass ein 1%iger Rückgang der Geburtenrate zu einem 2%igen Anstieg des BIP pro Kopf, verteilt über die nachfolgenden 65 Jahre, führt. Die Robustheit dieser beiden Prinzipien wurde ebenfalls auf Landesebene bestätigt. Achtens wurde im Rahmen einer Zukunftsprognose des klassischen, ganzheitlichen Wachstumsmodells eine erneute Epoche wirtschaftlicher Stagnation des BIP pro Kopf vorausgesagt, solange die Sterblichkeit auf konstantem Niveau verharrt. Da zudem erwartet wird, dass die Geburtenrate über dem Niveau der Sterberate verbleibt, wurde vermutet, dass diese neuerliche Stagnation – wie im Fall der frühen Stagnation – mit Bevölkerungswachstum und „technologischem Fortschritt“ einhergeht.
8.3 Konsequenzen für die Geschichte des ökonomischen Denkens Malthus wies darauf hin, dass jede Bevölkerung eine inhärente Tendenz zum Wachstum besitze, dass sie wachsen würde, wann immer die Subsistenzmittel anstiegen, und dass sie sogar dazu tendieren würde, schneller zu wachsen als die Subsistenzmittel. Seit Darwins Arbeiten wissen wir, dass diese Tendenz zu einem Wettbewerb führte, welcher fundamental für das Entstehen unterschiedlicher Spezies gewesen ist. Darüber hinaus erkannten die klassischen Ökonomen – in den meisten Fällen zudem sehr versierte Historiker –, dass die Lehre vom Wettbewerb die Grundlage für die smithianische Arbeitsteilung und folglich für die gesamte Wirtschaftswachstumstheorie bildete. Wenn ich also beabsichtige, in die Fußstapfen der klassischen Ökonomen zu treten, muss ich
8.4 Konsequenzen für die Wirtschaftsgeschichte
151
grundlegend anerkennen, dass die allgemeine Tendenz eines Wettbewerbs das Resultat eines universell wirkenden Bevölkerungsprinzips ist und dass in der klassischen Wirtschaftswachstumstheorie nichts einen Sinn ergibt, wenn es nicht im Licht der Bevölkerungstheorie betrachtet wird. Trotz ihrer fundierten theoretischen und empirischen Logik gibt es nach wie vor Skeptiker, von denen einige die klassische Bevölkerungstheorie überraschend fehlerhaft interpretiert haben. Obgleich sich diese Autoren regelmäßig auf Malthus (1798) als berufen, scheint es so, als hätten weder die Kritiker noch die Mehrheit der Befürworter der klassischen Bevölkerungstheorie Malthus’ spätere Publikationen (1803–1826) zum Bevölkerungsprinzip konsultiert. Andernfalls hätten sie zu der Erkenntnis gelangen müssen, dass seine Theorie nicht nur einen Mechanismus für ein stilisiertes, historisches Stagnationsregime liefert, sondern gleichzeitig auch einen Mechanismus, durch welchen diese Stagnation abgewendet werden kann – eine Vorhersage, welche in allen entwickelten Ländern bereits Realität geworden ist.1 Malthus’ wichtigster Beitrag bestand darin, dargelegt zu haben, wie eine zu hohe Fertilität gesenkt werden kann, namentlich durch abnehmende Mortalität. Keynes’ berühmte Einschätzung mag die Bedeutung der Bevölkerungstheorie untermauern: Wenn doch nur Malthus, anstelle von Ricardo, die Grundlage gewesen wäre, auf welcher sich die Wirtschaftstheorie im 19. Jahrhundert entwickelte, was für ein weiserer und reicherer Ort wäre die Welt heute! Wir müssen durch den verhüllenden Schleier unserer fehlgeleiteten Ausbildung sehen, um mühsam wiederzuentdecken, was niemals hätte aufhören dürfen, offensichtlich zu sein.2
Folglich sollten wir nun das Kapitel der 200-jährigen Verbannung der Bevölkerungstheorie aus der ökonomischen Lehre schließen.
8.4 Konsequenzen für die Wirtschaftsgeschichte Auch Wirtschaftshistoriker sollten sich bewusst machen, dass die malthusianischen Effekte seit jeher existieren und bis zum heutigen Tag wirken; dass die industrielle Revolution und „technologischer Fortschritt“ nicht allein
1„[W]as
für ein entmutigendes Beispiel ist Malthus. Es zeigt, über welch langen Zeitraum die schlichteste Sache verdreht und missverstanden werden kann.“ Darwin (1860). 2Keynes (1933), S. 120.
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8 Schluss: Implikationen für die Wirtschaftswissenschaften
in der Lage gewesen sind, die durchschnittliche wirtschaftliche Produktivität zu steigern, wenngleich sie den wirtschaftlichen Gesamtertrag erhöhten; dass, als Konsequenz der Wachstumstendenz einer Gesellschaft, die menschliche Geschichte und Evolution stets wie folgt mit einer Bevölkerungsexpansion einhergingen: Sofern die Umweltbedingungen einen starken Anstieg erlaubten, konnten wir tendenziell Spezialisierung, Urbanisierung und den Aufstieg von Kulturen beobachten. Stießen diese Kulturen allerdings an ihre natürlichen Grenzen und waren daher nicht mehr imstande zu expandieren, tendierte das Generationenprinzip dazu, den Anstieg zu regulieren, was oft in neuerlicher Stagnation endete. Stagnation erwies sich jedoch historisch betrachtet regelmäßig als Gefahr, solange naheliegende Zivilisationen zur selben Zeit weiterhin zahlenmäßig expandierten.
8.5 Konsequenzen für die Wirtschaftswachstumstheorie Bislang versuchten Wachstumstheoretiker, mithilfe der ganzheitlichen Wachstumstheorie eine theoretische Darstellung eines historischen Stagnationsregimes und eines Entwicklungsregimes sowie deren Beziehung zueinander zu erarbeiten. Mit der Rückführung der ganzheitlichen Wachstumstheorie auf ihren klassischen Vorgänger wurden in diesem Buch vier klassische, elementare Prinzipien derart modelliert, dass sie die relevanten Interaktionen zwischen demografischen und ökonomischen Variablen abbilden können. Während das Prinzip abnehmender Erträge und das Prinzip der Arbeitsteilung gewöhnlich in der einen oder anderen Form in der Wachstumstheorie anerkannt sind, blieb die Existenz des Bevölkerungsprinzips umstritten. Darüber hinaus wurde der große präventive Check, das Generationenprinzip, in den allermeisten aktuellen Evaluationen des malthusianischen Modells ignoriert. Diese vier universellen Prinzipien sollten als allgegenwärtig wirkende „Gesetzmäßigkeiten“ akzeptiert werden. Die Universalität des Bevölkerungsprinzips muss im Besonderen betont werden, da es so scheint, als sei sein Effekt in der Vergangenheit regelmäßig missinterpretiert worden. Eine ganzheitliche demografische Wachstumstheorie sollte systematisch in eine Produktionstheorie und in eine Bevölkerungstheorie eingeteilt werden. Die hier angeführte klassische Produktionstheorie stimmt in vielen Punkten mit dem neoklassischen Solow-Modell überein – einem der bekanntesten und vermutlich am häufigsten verwendeten Modelle der Wirtschaftstheorie. Allerdings sei
8.5 Konsequenzen für die Wirtschaftswachstumstheorie
153
Wachstumsökonomen dazu geraten, sich zu vergegenwärtigen, dass das einfache Solow-Modell alleine auf den beiden klassischen Prinzipien der abnehmenden Erträge und der Arbeitsteilung basiert, welche die klassische Produktionstheorie unter den Annahmen konstanter Skalenerträge und der Bevölkerung als Quelle allen Wohlstands erschöpfend definieren. Die auf der Steady-State-Gleichung dieser Produktionstheorie basierenden Schlussfolgerungen lassen sich sehr einfach zusammenfassen: Eine Veränderung der Bevölkerungsgröße beeinflusst die Produktion langfristig proportional, während die Veränderung des Bevölkerungswachstums eine negative Reaktion auf die Produktion pro Kopf bewirkt. Schließlich wird Wachstumsökonomen geraten, das Solow-Modell ohne „technologischen Fortschritt“ zur Modellierung langfristiger Entwicklung zu verwenden. Während in der Produktionstheorie gewöhnlich eine Exogenität des Bevölkerungswachstums angenommen wird, erfordert eine Endogenisierung zudem das Wissen um die Determinanten des Bevölkerungswachstums oder, in anderen Worten, eine Bevölkerungstheorie. In diesem Buch wurde die Sichtweise gestützt, dass der Referenzpunkt für ganzheitliche Untersuchungen zuallererst der Zustand einer malthusianischen Falle sein sollte, in welchem das Bevölkerungswachstum stets das Wirtschaftswachstum übersteigt. Da die Bevölkerung fraglos das Potenzial besitzt, schneller als das BIP zu wachsen, können wir dann als Nächstes fragen, welche Faktoren die Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums in der Realität bestimmen. Hierzu muss klargestellt werden, dass zwischen dem klassischen Bevölkerungsprinzip und der malthusianischen Falle zu differenzieren ist. Die malthusianische Falle bewirkt einen Zustand stagnierender Produktivität aufgrund exzessiven Bevölkerungswachstums. Da die malthusianische Falle ein testbarer Fakt ist, wurde seine Existenz – wie von Malthus dargestellt – zunächst vernünftigerweise verifiziert und später gleichermaßen vernünftigerweise falsifiziert. Im Gegensatz hierzu ist das Bevölkerungsprinzip die unbestreitbare Tendenz aller lebenden Wesen danach, ihre Zahl zu erhöhen, wann immer die Subsistenzmittel zunehmen. Zweitens ist es unabdingbar, den großen präventiven Check „Generationenprinzip“ zu modellieren, welcher den Ausbruch aus der malthusianischen Falle erklären kann. Wenngleich das Generationenprinzip in diesem Buch ausführlich betrachtet wurde, wurde es nicht erschöpfend definiert, mit Ausnahme der Aussage, dass es durch abnehmende Sterblichkeit ausgelöst wird. Eine eingehendere Analyse des Prinzips, bei welchem trotz aller hier erbrachter Arbeit noch viel Klärungsbedarf besteht, erfordert möglicherweise eine mikroökonomische Herangehensweise.
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8 Schluss: Implikationen für die Wirtschaftswissenschaften
In Bezug auf die Kombination aus Bevölkerungstheorie und Produktionstheorie kann gefolgert werden, dass, wenn das Bevölkerungsprinzip uneingeschränkt operiert, es rapides Bevölkerungswachstum, starken Wettbewerb um Ressourcen und zwangsläufig Not und Innovationen erzeugt.3 Falls der Bevölkerungsdruck hingegen vollständig präventiv unterdrückt würde, so würde das Fehlen von Wettbewerb die Zahl der Innovationen auf ein Minimum reduzieren. Da diese zwei Extreme eines ungecheckten und eines vollständig gecheckten Bevölkerungswachstums offensichtlich sind, folgt hieraus, dass irgendein mittlerer Übergangspunkt existieren muss, in welchem sich die zwei Prinzipien zu einem derart moderaten Grad ausbalancieren, dass sie einerseits einen langsamen Bevölkerungsanstieg ermöglichen und andererseits zur selben Zeit eine gleichermaßen moderate Entwicklung von Innovationen fördern, sodass ein wie auch immer gearteter „Fortschritt“ optimiert werden kann.
8.6 Konsequenzen für die Entwicklungsökonomie Zum Auslösen des Übergangs zu wirtschaftlicher Entwicklung empfiehlt die klassische, ganzheitliche Wachstumstheorie eine Reduzierung der Sterblichkeit oder, was nahezu dasselbe ist, einen Anstieg der Lebenserwartung. Die demografische Struktur, welche aus einer solchen Veränderung hervorgeht, neigt sehr viel weniger zu Überbevölkerung, da in diesem Fall ein größerer Teil einer älteren Bevölkerung – insbesondere der Anteil mit einem hohen sozialen Status – unfruchtbar ist. Ohne das Generationenprinzip wäre die Bevölkerung der Erde sicherlich nicht auf weniger als zehn Milliarden Einwohner beschränkt geblieben. Wir können für eine große Anzahl an Ländern zeigen, dass ein epidemiologischer Übergang tatsächlich einem Geburtenrückgang vorausgegangen war, welcher in einigen Teilen der Welt noch nicht vollendet ist, und dass Einkommen zunächst niedrig waren und erst mit dem Beginn des Geburtenrückgangs stark anstiegen. Demnach liefert eine Veränderung der Bevölkerungswachstumsrate (in diesem Modellrahmen gemessen in Form der
3„Die
zweckgerichtete Anpassung der Geburtenrate an das Angebot materieller Möglichkeiten des Wohlergehens ist eine unverzichtbare Bedingung menschlichen Lebens und Handelns, der Zivilisation und jeglicher Verbesserung von Wohlstand und Wohlfahrt. […] Soziale Kooperation ist unmöglich, wenn die Menschen ihren natürlichen Impulsen der Vermehrung freien Lauf lassen.“ Mises (1949).
8.7 Konsequenzen für die „Naturphilosophie“
155
Veränderung der Geburtenrate) die beste Vorhersage für wirtschaftliche Entwicklung. Als praktisches Resultat besagt die angeführte Wachstumstheorie zudem, dass der Anstieg des BIP pro Kopf über die vergangenen 200 Jahre hauptsächlich dem epidemiologischen Übergang geschuldet war. Wenngleich in diesem Buch politische Interventionen nicht explizit berücksichtigt wurden, werden wir kurz überlegen, inwieweit die Handlungen einer Regierung den Entwicklungsprozess beschleunigen oder verlangsamen können. Erstens liegt, als eine Folge des Generationenprinzips, die praktikabelste und vermutlich in zweifacher Hinsicht humanste Weise, den Bevölkerungsdruck zu begrenzen, in der Reduzierung derjenigen Sterblichkeit, welche größtenteils – wie derzeit in den Subsahara-Regionen – durch Epidemien auf einem hohen Niveau gehalten wird. Eine solche Reduzierung der Mortalität wird sicherlich den Bevölkerungsdruck der nachkommenden Generation für einige Zeit verstärken und dementsprechend die Armut erhöhen. Es wurde jedoch bislang kein Fall beobachtet, in welchem abnehmende Fertilität und zunehmende Produktivität nicht zunächst von einer solchen Übergangsperiode begleitet wurden. Zweitens liefert die klassische, ganzheitliche Wachstumstheorie eine Erklärung, durch die das „demografisch-ökonomische Paradoxon“ aufgelöst werden kann. Bezüglich politischer Empfehlungen ist es wichtig zu realisieren, dass eine derart suggerierte, negative Kausalbeziehung zwischen Lebensstandard und Fertilität nicht existiert. Im Gegenteil, Entwicklungshilfe in Form von Wohlstand würde das Bevölkerungsproblem sogar nicht unerheblich verstärken, da wir empirisch einen robust signifikanten, positiven Effekt der Lebensstandardzunahme auf die Fertilität beobachten können. Grob gesprochen ist „Entwicklung nicht die beste Verhütung“, sondern „Verhütung ist die beste Entwicklung“.
8.7 Konsequenzen für die „Naturphilosophie“ In diesem Buch habe ich die theoretischen Mechanismen dargestellt, über welche wirtschaftliche Entwicklung verläuft. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass ein Anstieg der Lebenserwartung (ceteris paribus und unter der Voraussetzung, dass zwei produktive Generationen zur selben Zeit existieren) die Geschwindigkeit der Zeugung von Nachwuchs entscheidend verzögert und somit die Fertilität senkt. Wir werden die Existenz des Bevölkerungsprinzips und des Generationenprinzips in jedem geeigneten Experiment bei jedweder Spezies nachweisen können. Sollten wir dennoch die offensichtlichen Auswirkungen von Säuglingssterblichkeit, sexueller Selektion, Vererbung und Unfruchtbarkeit infrage stellen oder sogar ignorieren wollen, so müssten wir irgendeine andere
156
8 Schluss: Implikationen für die Wirtschaftswissenschaften
Antwort auf die Tatsache finden, weshalb eine niedrigere Sterblichkeit die Fertilität senkt. Da sich die Gesundheitslage über die vergangenen zwei Jahrhunderte nahezu universelle beträchtlich verbessert hat und damit die durchschnittliche Lebenserwartung eines Individuums in vielen Ökonomien verdoppelt werden konnte, wurde erst kürzlich die individuelle „Aufklärung“ in die Liste der potenziell wichtigen Antriebsfaktoren wirtschaftlicher Entwicklung aufgenommen. Anstelle jedoch Rationalität, Voraussicht oder Vernunft von Individuen zu betonen, impliziert die in diesem Buch allgegenwärtige materialistische Denkweise, dass, wenngleich menschliche Individuen unzweifelhaft ein höheres Potenzial für abstraktes Denken als andere Lebewesen besitzen, sie in der Praxis nicht aus freiem Willen über die Höhe ihres Nachwuchses entscheiden, sondern auf existierende Umweltbedingungen reagieren. Diese Denkweise ermöglichte es den klassischen Ökonomen – obgleich auf Kosten eines sehr hohen Abstraktionsniveaus –, die menschliche Ökonomie auf dieselbe einfache und effektive Weise wie die jeder anderen Spezies zu modellieren, indem lediglich die Variablen Geburtenrate, Sterberate und Produktivität als bestimmend für die Entwicklung des langfristigen Verhältnisses zwischen Produktion und Bevölkerung betrachtet werden müssen. Da Bevölkerung die einzige Variable darstellt, welche eine inhärente Wachstumstendenz aufweist, bewirkt ihre Zunahme tendenziell eine Zunahme der Arbeitsteilung und erzeugt damit das, was allgemein als technischer und institutioneller „Fortschritt“ wahrgenommen wird. Ob eine zusätzliche Person positiv zur durchschnittlichen wirtschaftlichen Produktivität beiträgt, scheint – wenngleich kurzfristig durch die Art der Erziehung und durch zeitgenössische ökonomische Umstände beeinflusst – von einem evolutionären Prozess des „trial and error“ abzuhängen. Es ist jedoch nicht vorstellbar, dass ein solcher Prozess dauerhaft ohne kontinuierlichen Bevölkerungsdruck stattfindet. Dementsprechend mag die Menschheitsgeschichte weder als eine Geschichte einer stetigen Verbesserung individueller Aufklärung noch als eine Geschichte „technologischen Fortschritts“ bzw. politischen oder institutionellen „Fortschritts“ betrachtet werden. Die Menschheitsgeschichte ist im Wesentlichen eine Geschichte des Bevölkerungswachstums, und das Bevölkerungsprinzip bleibt die große dunkle Wolke über der Aufklärungsbewegung. Die in diesem Buch dargestellte demografische Interpretation der Geschichte mag zunächst schwerlich zu erfassen sein, jedoch, um mit den Worten von Darwin zu schließen, erwarte ich in keiner Weise, die erfahrenen [Ökonomen] zu überzeugen, deren Gedanken mit einer Vielzahl an Fakten ausgestattet sind, betrachtet über lange Jahre von einem Standpunkt, welcher meinem direkt entgegensteht. Es ist so einfach,
8.7 Konsequenzen für die „Naturphilosophie“
157
unsere Ignoranz hinter solchen Ausdrücken wie [„Technologie“, „Institutionen“, „Aufklärung“] usw. zu verstecken und zu denken, dass wir eine Erklärung liefern, wenn wir nur Fakten wiedergeben. Jeder mit einer Neigung, unerklärten Schwierigkeiten mehr Gewicht beizumessen als der Erklärung einer bestimmten Anzahl an Fakten, wird die Theorie sicherlich zurückweisen. […] Aber ich sehe mit Zuversicht auf die Zukunft, auf junge und aufstrebende [Ökonomen], welchen es möglich sein wird, beide Seiten der Frage unvoreingenommen zu betrachten.4
4Darwin
(1859), Schlusswort.
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
A.1
Methodik
A.1.1 Daten Beim Versuch, die vier klassischen Prinzipien empirisch zu verifizieren, sieht sich der Statistiker den Problemen einer schwierigen vorindustriellen Datenlage sowie der Endogenität zwischen demografischen und ökonomischen Variablen gegenüber. Hinsichtlich der Datenlage sind quantitative Studien seit Wrigleys und Schofields (1981) Rekonstruktion vorindustrieller britischer Zeitreihen von Geburtenrate und Sterberate in der Lage, Evidenz für falsifizierbare Hypothesen zu liefern, wohingegen die Qualität von Clarks (2008) Daten zum vorindustriellen BIP-pro-Kopf nach wie vor debattiert wird. Um die Universalität der Prinzipien zu belegen, werden nicht nur die britischen Daten, sondern auch internationale Vergleiche herangezogen. Hierzu bieten Mitchells „International Historical Statistics“ vermutlich die längsten und umfassendsten offiziellen nationalen Zeitreihen demografischer Raten und des BIP-pro-Kopf.1 Von diesem historischen Datensatz, welcher für dieses Buch zur Eliminierung offensichtlicher Tippfehler von mir korrigiert wurde, wird in diesem und im nächsten Anhang ebenfalls ausgiebig Gebrauch gemacht.
1Da
die Bevölkerung einen international relativ immobilen Produktionsfaktor darstellt, wird erwartet, dass Schätzungen auf Länderebene signifikante Resultate liefern.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5
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Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
A.1.2 Vektorautoregression Im Umgang mit dem Endogenitätsproblem betrachte ich die Zeitreihenanalyse als das geeignetste Werkzeug. Lee (1981) war der erste Wirtschaftshistoriker, welcher die Beziehung zwischen demografischen und ökonomischen Variablen unter Verwendung von „distributed lag regressions“ auf Wrigleys und Schofields Datensatz anwendete. Eckstein u. a. (1986) waren die Ersten, welche zum Testen der Hypothesen eine Vektorautoregression (VAR) nutzten. Die Nutzung eines VAR-Modells ermöglicht die Lösung des Endogenitätsproblems, indem in einem solchen Modell alle Variablen als endogen betrachtet werden.2 Nicolini (2007) verfeinerte Lees Ansatz unter Verwendung eines VAR-Modells und illustrierte Impuls-Antwort-Funktionen, welche es erlaubten, qualitative Beziehungen zwischen den drei Variablen auszuwerten. Allerdings muss ein derartiges VAR-Modell sehr sorgfältig konstruiert werden, da seine Aussagen stets auf Basis der zugrunde liegenden Theorie modellabhängig sind. Aufbauend auf dem VAR-Modell nutzten Herzer u. a. (2012) die komplexere Methode eines Vektor-Fehlerkorrektur-Modells (VEC-Modells), um mögliche Kointegrationsbeziehungen zwischen den Variablen modellieren zu können, wohingegen Rathke und Sarferaz (2014) zeitabhängige Koeffizienten in die Analyse einführten. In diesem Buch beabsichtige ich, Nicolinis traditionellen VAR-Ansatz weiterzuführen, da dieser Ansatz lediglich die Kenntnis einfacher OLS-Schätzungen erfordert und vermutlich die transparenteste der oben genannten Schätzungen darstellt. Die Idee des VAR-Ansatzes besteht darin, die relevanten Koeffizienten einer OLS-Schätzung heutiger Werte an verzögerten Werten der Variablen zu errechnen und die erhaltenen Koeffizienten zu verwenden, um den durchschnittlichen Einfluss eines Schocks in einer der Variablen auf die anderen Variablen über den Zeitverlauf zu projizieren. Es wird erwartet (und gezeigt werden), dass die resultierenden Impuls-Antwort-Funktionen mit den in Kapitel 3 bis 5 formulierten klassischen Prinzipien übereinstimmen. Zuvor müssen jedoch im weiteren Verlauf dieses Abschnittes einige zusätzliche Annahmen getroffen werden, um unser lineares Gleichungssystem in eine VAR-Repräsentation überführen zu können. Um die fraglichen Prinzipien zu evaluieren, lässt sich das System unseres ganzheitlichen Wachstumsmodells (6.1) anfänglich in Matrixnotation wie folgt formulieren:
2Vgl.
z. B. Lee und Anderson (2002) sowie Crafts und Mills (2009).
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
161
gyt 0 0 0 gyt−1 0 0 0 gyt−2 bt = α4 α3 α6 bt−1 + 0 0 −α6 bt−2 dt 0 0 α5 dt−1 0 0 0 dt−2 gyt−15 gyt 0 α1 0 0 −α2 0 0 + 0 0 0 bt−15 + 0 0 0 bt + 0 . dt−15 dt 0 0 0 0 0 0 −h Während die Schätzungen von Lee, Nicolini, Herzer u. a. sowie von Rathke und Sarferaz auf der Verwendung von ökonomischen Niveauvariablen wie Reallöhnen oder BIP pro Kopf basieren, werden diese in diesem Fall selbstredend durch die Wachstumsrate des realen BIP pro Kopf ersetzt, da – wie bereits in den theoretischen Teilen dieses Buches rechtfertigend angeführt wurden – der Großteil der Beziehungen zwischen den Variablen unseres Systems nur dann linear ist, wenn Wachstumsraten verwendet werden. Aufgrund der tatsächlichen („wahren“) linearen Beziehungen der Variablen zueinander kann also erwartet werden, dass der VAR-Ansatz konsistente Resultate liefert. Da Wachstumsraten darüber hinaus dieselbe international gültige Maßeinheit ausweisen, können die Prinzipien zudem über Ländergrenzen hinweg simultan geschätzt werden. Zuletzt werden Wachstumsraten auch deswegen bevorzugt, da sie doch im Gegensatz zu Niveauvariablen mit hoher Wahrscheinlichkeit stationär sind, was wiederum zur Vermeidung von verzerrten Autoregressionen erforderlich ist, sofern Kointegration nicht explizit berücksichtigt wird.
A.1.3 Stationarität der Variablen Eine OLS-Schätzung über den Zeitverlauf verlangt, dass wenigstens eine der Zeitreihen stationär ist, da eine Schätzung integrierter oder Trendvariablen mit hoher Sicherheit verzerrte Resultate liefern würde. Tests zur Integrationsordnung sowie Tests zur Lagordnung werden repräsentativ auf der Grundlage des britischen Datensatzes durchgeführt, da diese Daten die längsten verfügbaren nationalen Zeitreihen (von 1541 bis 2010) darstellen. Die Daten sind in Abbildung A.1 dargestellt.3
3Das
BIP-pro-Kopf-Wachstum wurde zur vereinfachten Darstellung mit dem Faktor 0,1 multipliziert.
162
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
Abbildung A.1 Britannien: Zeitreihen von Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP-proKopf-Wachstumsrate (hellgrün) 1541–2010. (Quellen: BIP-pro-Kopf-Wachstum: Clark (2009) für 1541–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010, Geburten- und Sterberaten: Wrigley und Schofield (1981) für 1541–1871, Mitchell (2013) für 1871–2010)
Im Fall der Wachstumsrate des BIP pro Kopf scheinen die Resultate eines Augmented Dickey-Fuller-Tests eindeutig auf Stationarität hinzuweisen (siehe Tabelle A.1), während bei der Anwendung desselben Tests auf die Sterberate und insbesondere auf die Geburtenrate die Nullhypothese der Nichtstationarität bei einem 1 %igen Signifikanzniveau nicht in jedem Fall verworfen wird. Tatsächlich führte das beobachtete langfristige Muster von Geburten- und Sterberate zu einer Debatte bezüglich ihrer Integrationsordnung. Auf der einen Seite können die demografischen Raten als stationäre Variablen gehandelt werden, da sie erstens in (Bevölkerungs-)Wachstumsraten ausgedrückt werden und zweitens per Definition im Intervall [0,1] liegen. Drittens fällt es schwer zu glauben, dass beide Raten, obgleich sie eine hohe Persistenz ausweisen, jemals einen fixen Maximalwert (z. B. 10 %) langfristig überschritten haben oder dass sie unter einen minimalen Wert, z. B. 0,1 %, gefallen sind. Dementsprechend können sie in der Realität keinem Random Walk und keinem Trend folgen, sodass 0 < α1 , α3 < 1 gelten sollte. Auf der anderen Seite mag man die Stationarität beider Variablen infrage stellen, zumal wir eine Evidenz für eine Stationarität des natürlichen Bevölkerungswachstums auf einem 1 %-Signifikanzlevel finden. Da das natürliche Bevölkerungswachstum per
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
163
Definition eine lineare Kombination von Geburtenrate und Sterberate darstellt, besteht ein starker Hinweis auf eine systematische Kointegration zwischen den demografischen Raten.4 Wie jedoch Fanchon und Wendel feststellten, können VAR-Modelle mit Daten stationärer und nichtstationärer Variablen geschätzt werden, sofern die nichtstationären Daten auch kointegriert sind, da aktuelle theoretische Arbeiten beweisen, dass die Schätzung mit solchen Daten konsistente Parameterschätzer liefert.5
Zudem kann uns nach Sims (1980), wenn wir eher an den qualitativen Beziehungen zwischen Variablen mittels Schätzung von Impuls-Antwort-Funktionen zum Auffangen der dynamischen Reaktionen und weniger an Punktschätzern interessiert sind, die Schätzung eines VAR-Modells mit nichtstationären Variablen wichtige Erkenntnisse zur Natur der Beziehungen liefern. Daher stellt die Integrationsordnung der demografischen Raten in Bezug auf die Konsistenz der Schätzung eines VARModells kein Problem dar.
Tabelle A.1 Augmented Dickey-Fuller Tests für die relevanten Variablen (# Beob. = 468) Modell
1 %-
Teststatistik
Teststat.
Teststat.
Teststatistik
Krit. Wert
BIP-proKopf-W.
Geburtenrate
Sterberate
Bev.wachstum
2 Lags, keine Konst.
−2,580
−16,737***
−1,235
−1,451
−3,747***
2 Lags, Konstante
−3,443
−17,460***
−0,941
−3,539***
−6,303***
2 Lags, linearer −3,981 Trend
−17,620***
−1,682
−5,925***
−6,304***
*** signifikant auf einem 1 %-Niveau.
4Die
Verwendung einer VEC-Modell-Spezifikation ähnlich der von Herzer u. a. (2012), welche explizit die Kointegration von Sterbe- und Geburtenraten berücksichtigt, sowie die Schätzung eines restringierten, strukturellen VAR-Modells führen zu keinen stark abweichenden Resultaten. 5Fanchon und Wendel (1992).
164
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
A.1.4 Lagordnung In der vorangegangenen Simulation wurden die Vorteile aus der Arbeitsteilung stark vereinfacht. Es existieren mindestens zwei Probleme, welche ihre Messung in empirischen Analysen verkomplizieren. Erstens, da wir nationale Daten verwenden, ohne internationale Arbeitsteilung zu berücksichtigen, können die Effekte ausländischen Bevölkerungswachstums auf die inländische Produktion nicht mithilfe der o. a. Regression erfasst werden, d. h., Kapitalzu- und -abflüsse werden ignoriert. Weil externe Handelsschocks verdächtigt werden, einen nicht unerheblichen Teil der starken Fluktuationen des BIP pro Kopf (siehe Abbildung 7.1) zu verursachen, sollten diese Effekte nicht unterschätzt werden. Zweitens ist der Zeitpunkt des Eintritts eines durchschnittlichen Individuums in den Arbeitsmarkt bislang nicht hinreichend genau bestimmt worden, und somit sind dies noch viel weniger die resultierenden Vorteile, welche vermutlich über die darauffolgende Lebenszeit verteilt sind. Es muss angenommen werden, dass ein VAR-Modell zu „kostspielig“ in Bezug auf die Parameteranzahl ist, um den Effekt des PoLD in geeigneter Weise zu schätzen, weshalb der 15. Lag aus der Schätzung entfernt und das PoLD in Anhang B separat betrachtet wird. Der Ausschluss des 15. Lags erhöht somit die Anzahl der Beobachtungen um ein Erhebliches, was sich insbesondere bei der Verwendung kleiner Datensätze als vorteilhaft erweisen wird. Dennoch ist es ratsam, einen dritten Lag heranzuziehen, durch welchen optional zusätzliche Interaktionen des PoLD erfasst und in den Residuen gespeichert werden können. Der Gebrauch eines VAR(3)-Modells wird durch eine Reihe von Lag-Auswahl-Tests auf der Basis der britischen Daten gestützt, da das „sparsamste“ Modell nach dem Schwarz-Bayesian-Informationskriterium drei Lags besitzen sollte (siehe Tabelle A.2). Bezüglich einer verzögerten Fertilitätsentscheidung in den Effekten von PoG und PoP erscheint ein Lag von drei Jahren ebenfalls als plausibel, wohingegen jeder zusätzliche Lag unnötigerweise die Anzahl der Schätzparameter erhöhen würde. Der Austausch des 15. durch den dritten Lag liefert
gyt gyt−1 gyt−2 gyt−3 gyt bt = φ1 bt−1 + φ2 bt−2 + φ3 bt−3 + φ0 bt , dt dt−1 dt−2 dt−3 dt wobei angenommen wurde, dass der in der Simulation verwendete Trend h in der Schätzung durch die Koeffizienten in φ1 aufgefangen wird.
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
165
Tabelle A.2 Lagselektionskriterien für den britischen Datensatz (# Beob. = 459) Lag 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
LL −4664,97
−3622,06
−3564,38
−3533,78
−3506,32 −3496,7
−3486,65
−3474,39
−3460,36
−3442,45 −3429,8
LR
df
p
FPE
AIC
HQIC
SBIC
136775
20,340
20,350
20,367
2085,8
9
0,000
1511,80
15,835
15,877
15,943
115,36
9
0,000
1222,85
15,623
15,697
15,812
61,203
9
0,000
1113,02
15,528
15,635
15,798*
54,917
9
0,000
1027,03
15,448
15,586*
15,799
19,242
9
0,023
1024,30
15,445
15,615
15,877
20,103
9
0,017
1019,67
15,441
15,643
15,954
24,521
9
0,004
1005,37
15,427
15,660
16,020
28,052
9
0,001
983,691
15,405
15,670
16,079
35,812
9
0,000
946,374
15,366
15,663
16,122
25,315*
9
0,003
931,563*
15,345*
15,679
16,187
A.1.5 Ordnung der Variablen Die Schätzung des obigen unbeschränkten VAR-Gleichungssystems wird durch den Einbezug simultan wirkender Effekte verkompliziert, welcher für die Messung des PoDR und anderer möglicher simultaner Effekte erforderlich ist. Um die Interaktionen zwischen jährlichen demografischen und ökonomischen Variablen zu analysieren, schlug Nicolini (2007) eine rekursive VAR-Struktur auf der Basis von Theil (1971) vor, welche sich in Vektorform darstellen lässt als s A0 Yt = j=1 Aj Yt−j + ut ,
wobei der Vektor Yt die „derzeitigen“ Werte der endogenen Variablen zum Zeitpunkt t umfasst, von denen jede von ihrer eigenen verzögerten Variablen sowie von den derzeitigen und verzögerten Werten der anderen Variablen abhängt. Aj bezeichnet die Koeffizientenmatrizen der verzögerten Werte. Die Komponenten des Residuums ut sind annahmegemäß unkorreliert, d. h. „frei“ von denjenigen simultanen Effekten, welche bereits in der Koeffizientenmatrix A0 eingeschlossen sind („orthogonalisierte Residuen“). Die Multiplikation beider Seiten mit A−1 0 liefert die konventionelle VAR-Form −1 ′ I wenn t = τ s Yt = j=1 A0 Aj Yt−j + A−1 , 0 ut mit E ut uτ = sonst 0 welche auch dargestellt werden kann als
166
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
wobei konsistente Schätzer von und den φjs durch einfache OLS-Schätzungen jeder einzelnen Gleichung erhalten werden können. Des Weiteren ist es allerdings notwendig, A−1 0 zu schätzen, um die simultane Reaktion der Variablen auf orthogonalisierte Schocks einzufangen. Da dies allerdings die Schätzung einer zusätzlichen Parameterzahl erfordert, ist das System nicht vollständig identifizierbar. Eine Bedingung zur ausreichenden Reduktion der Anzahl der Parameter besteht in der Beschränkung des −1 VAR-Modells durch die Verwendung einer Choleski-Zerlegung = A−1 0 A0 ′ −1 unter der Annahme einer unteren Dreiecksmatrix A0 . Die Multiplikation der Residuen mit einer unteren Dreiecksmatrix erlaubt, dass – mit einer spezifischen Ordnung der Variablen innerhalb des Vektors Yt – jede Variable auf einen Schock jeder anderen Variablen einer höheren Ordnung innerhalb der laufenden Periode reagieren kann, wohingegen sie vollständig unempfänglich für Schocks in Variablen einer niedrigeren Ordnung sind. Jährliche demografische Variablen scheinen in diesem Zusammenhang nahezu ideal in diesen Bezugsrahmen zu passen, da wir deutlich zwischen gleichzeitigen und verzögerten Effekten unterscheiden können. In den vorangehenden Kapiteln wurde argumentiert, dass die Geburt selten im Jahr der Fertilitätsentscheidung stattfindet, insbesondere aufgrund eines Schwangerschaftslags. Da dieser natürliche Lag dafür sorgt, dass die Geburtenrate tendenziell nicht im selben Jahr von Sterberate und BIP pro Kopf beeinflusst werden kann, ist die Geburtenrate der einzig plausible Kandidat für die erste Variable des Vektors Yt. Des Weiteren wird die Sterberate als zweite Variable platziert, um die Möglichkeit eines sofortigen Effekts der Sterblichkeit auf das BIP pro Kopf über PoDR und PoLD in Betracht zu ziehen, von welchen bislang angenommen wurde, dass sie lediglich durch Veränderungen der Geburtenrate verursacht werden. Zuletzt wird vorausgesetzt, dass eine Änderung des BIP pro Kopf keine Veränderungen in der Sterberate im selben Jahr bewirkt, während der Einschluss eines verzögerten negativen Effekts die Möglichkeit einer Endogenisierung der Sterblichkeit offenhält. Diese Annahmen führen zu der Schätzung des folgenden Systems: bt bt−1 bt−2 bt−3 β1 0 0 ubt dt = φ1 dt−1 + φ2 dt−2 + φ3 dt−3 + β2 β3 0 udt . gyt gyt−1 gyt−2 gyt−3 ug y t β 4 β5 β6 (A.1)
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
167
A.1.6 Impuls-Antwort-Analyse Um die Evidenz für das klassische Wachstumsmodell eruieren zu können, sollten die dargestellten theoretischen Beziehungen annähernd durch die Impuls-Antwort-Funktionen des obigen beschränkten VAR(3)-Modells (A.1) abgebildet werden können. Zu diesem Zweck werden neun orthogonalisierte Impuls-Antwort-Funktionen berechnet, indem die Fehlerterme jeder der drei Gleichungen um den Betrag einer Standardabweichung geschockt werden. Dieser initiale Schock beeinflusst mit sofortiger Wirkung die zugewiesenen Variablen unterer Ordnung und breitet sich daran anschließend über das komplette System aus. Da potenzielle Geburten als Reaktion auf Schocks in Sterberate und BIP-pro-Kopf-Wachstum aufgrund verzögerter Fertilitätsentscheidungen sowie aufgrund des Schwangerschaftslags vermutlich über eine Anzahl von Folgejahren verteilt realisiert werden, dürfen wir erwarten, dass akkumulierte, orthogonalisierte Impuls-Antwort-Funktionen stärkere und signifikantere Effekte ausweisen. Da diese Verzögerung allerdings in der Regel nach drei bis vier Jahren abgeschlossen sein sollte, erscheint ein Zeitraum von über fünf Jahren als unvernünftig, sodass uns die Berücksichtigung eines längeren Zeithorizonts voraussichtlich keine zusätzlichen Informationen liefern kann. Um die Signifikanz der Effekte zu testen, werden 200 Bootstrap-Replikationen zur Generierung von 95 %-Konfidenzintervallen verwendet. Wenn die Betrachtungen aus Kapitel 3 bis 5 korrekt sind, sollten die kausalen Beziehungen, welche durch die infolge eines Schocks der entsprechenden Variablen geschätzten akkumulierten, orthogonalisierten Impuls-Antwort-Funktionen (coirfs) suggeriert werden, die folgenden qualitativen Merkmale aufweisen:
coirfb hohe Persistenz(+) kurzfristig(+)1 kurzfristig(+)2 hohe Persistenz(+) (x) (x) coirfd = niedrige Persistenz(+) coirfgy simultan(−)3 , langfristig(+)4 (x) schockb × schockd . schockgy
Es wird erwartet, dass (+)1 den positiven Durchschnittseffekt des PoG und (+)2 den positiven Durchschnittseffekt des PoP erfassen können. Zudem wird angenommen, dass (−)3 den negativen Effekt des PoDR abbildet. Diese Beziehung existiert per Definition, sodass dieser Effekt jederzeit beobachtet
168
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
werden kann, solange er nicht durch den Einfluss externer Faktoren oder des PoLD neutralisiert wird. Wie erwähnt, wird (+)4 nicht ausreichend erfasst werden können, um den positiven Effekt des PoLD abzubilden, und dessen Anwesenheit stellt sogar eine Bedrohung für eine klare Identifikation des PoDR dar. Folglich kann, da sowohl PoDR als auch PoLD innerhalb des VAR(3)-Rahmens nicht eindeutig identifizierbar sind, ihre Existenz in diesem Modell weder verifiziert noch falsifiziert werden. Daher wird sich die nachfolgende Untersuchung auf die Auswertung der Hypothesen des PoG und des PoP konzentrieren – die klassische Bevölkerungstheorie. Die Existenz des PoLD und des PoDR wird in Anhang B gemeinsam unter Anwendung einer OLS-Schätzung der Produktionstheorie in Form von Gleichung (3.6) getestet werden. Des Weiteren wird erwartet, dass für die Variablen Geburten- und Sterberate eine hohe Persistenz ausgewiesen werden wird und für das BIP-pro-Kopf-Wachstum eine sehr viel niedrigere. Die verbliebenen drei mit (x) markierten Impuls-Antwort-Funktionen werden ebenfalls geschätzt, um mögliche weitere Effekte einzufangen, um die das klassische Modell ex post erweitert werden könnte. Die resultierenden Impulsantworten sollten mit Umsicht interpretiert werden, da sich die Effekte des PoG und des PoP über den Zeitverlauf ändern, wohingegen diese Schätzung lediglich durchschnittliche Effekte über den gesamten betrachteten Zeitraum liefern kann.
A.2 Schätzresultate A.2.1 Schätzung der Simulation Als sehr nützlichen Ausgangspunkt werden wir zunächst eine VAR(3)-Schätzung der obigen Simulation, veranschaulicht in Abbildung 6.2, vornehmen, d. h. des Gleichungssystems (6.1) mit der entsprechenden Kalibrierung.6 Die sich aus dieser Schätzung ergebenden coirfs sollten Referenzwerte liefern, mit welchen die anschließend geschätzten, realen Daten verglichen werden können.
6Zur
Schaffung von künstlicher Variation in der Sterberate wurde die rechte Seite der Diff erenzengleichung (A.1) um einen jährlichen Fehlerterm erweitert.
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
169
Abbildung A.2 Coirf-Matrix, basierend auf einem VAR(3)-Modell: Simulation des klassischen Wachstumsmodells
Der universelle Durchschnittseffekt des PoG ist in der oberen mittleren Grafik von Abbildung A.2 gut erkennbar. Ähnlich stark wird der Durchschnittseffekt des PoP in der oberen rechten Grafik herausgestellt. Beide Effekte sind statistisch signifikant, das PoG bewegt sich auf einem 5 %-Niveau und das PoP auf einem 1 %-Niveau. Wie bereits zuvor erwähnt, können die positiven verzögerten Effekte des PoLD der Geburtenrate auf das BIP pro Kopf nach einer Generation nicht in der Grafik links unten erfasst werden, solange wir lediglich eine maximale Laglänge von drei Jahren verwenden. Stattdessen wird der simultane alljährliche Effekt des PoDR in derselben Grafik als außerordentlich signifikant ausgewiesen, da er in unserer Simulation nicht durch einen regelmäßig wirkenden Effekt des PoLD verzerrt wird.
170
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
A.2.2 Britannien 1541–2010 Die auf der Grundlage der britischen Daten errechneten coirfs sind in Abbildung A.3 dargestellt. Der Effekt des PoP stimmt im Wesentlichen mit dem des simulierten Modells überein. Die Reaktion der Geburtenrate auf einen Schock im BIP-pro-Kopf-Wachstum ist bereits nach einer Periode positiv und signifikant auf einem 1 %-Niveau, was auf eine schnelle Anpassung der Fertilität hindeutet, und nimmt über die nachfolgenden Perioden weiter zu. Bezüglich des PoG verursacht die Sterberate zunächst keinen positiven Schock über die erste Periode. Dennoch wird der Effekt nach vier Jahren positiv-signifikant auf einem 5 %-Niveau, was uns Evidenz für eine positive Kausalbeziehung liefert und auf eine verzögerte Fertilitätsentscheidung hinweist.7
Abbildung A.3 Coirf-Matrix, basierend auf einem VAR(3)-Modell: Britannien 1541–2010
7In
der Simulation aus Kapitel 3 wurde eine Verzögerung von einem Jahr verwendet. Diese Annahme kann allerdings recht unkompliziert auf einen Fertilitätslag von bis zu vier Jahren ausgedehnt werden.
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
171
A.2.3 Gestapeltes Modell mit internationalen Daten 1815–2010 Mitchells „International Historical Statistics“ liefern uns für 94 Länder Daten zu den demografischen Raten sowie zum BIP pro Kopf. Von diesen weisen 55 simultane Daten zu den drei besagten Variablen über mindestens drei Folgejahre auf. Da allerdings zu diesen 55 Ökonomien durchschnittlich lediglich 70 Beobachtungen existieren, müssen wir davon ausgehen, dass länderspezifische Impulsantworten keine ausreichend verlässliche Evidenz zum klassischen Modell beisteuern können. Falls die 55 Ökonomien allerdings gemeinsam getestet werden könnten, so würde sich die Zahl der Beobachtungen auf 3.911 erhöhen. Daher werden die individuellen, länderspezifischen Datensätze in einem Sample gestapelt, wobei zwischen jedem Untersample drei „missing values“ eingefügt werden, sodass die letzte Beobachtung der vorhergehenden nicht mit der ersten Beobachtung der darauffolgenden Ökonomie in Verbindung gebracht wird.
Abbildung A.4 Coirf-Matrix, basierend auf einem VAR(3)-Modell: 55 Ökonomien 1815–2010
172
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
Die Resultate der in Abbildung A.4 dargestellten coirfs stimmen mit denen aus Abbildung A.3 recht gut überein. Da allerdings das gestapelte Sample nur Beobachtungen zwischen den Jahren 1815 und 2010 einschließt, während das britische Sample den Zeitraum 1541–2010 umfasst, muss angenommen werden, dass Ersteres überwiegend Informationen zum Entwicklungsregime enthält. Daher ist es nicht überraschend, dass der Effekt des PoG hier im Vergleich zur britischen Darstellung besonders stark ausgeprägt ist, wohingegen der des PoP geringer ausfällt, was wiederum auf zeitabhängige Effekte hinweist. Allerdings erscheint es wie auch im britischen Sample rätselhaft, warum die Fertilitätsentscheidung im Fall des PoG, verglichen mit dem PoP, um ein zusätzliches Jahr verzögert zu sein scheint. Des Weiteren scheint die höhere Persistenz der Variablen BIP-pro-Kopf-Wachstum (Grafik unten rechts) mit der stilisierten Darstellung übereinzustimmen, nach der ihr Mittelwert während des Stagnationsregimes nahe null lag und danach während des Entwicklungsregimes nachhaltig anstieg. In jedem Fall liefern die beiden oben dargestellten Analysen historischer britischer Daten sowie aktuellerer internationaler Daten qualitative und quantitative (die Impuls-Antwort-Funktionen unterscheiden sich kaum in ihrer Größenordnung) Evidenz für ein allgegenwärtiges Kausalmuster zwischen Geburtenraten, Sterberaten und BIP-pro-Kopf-Wachstum und untermauern die Universalität des PoG und des PoP.
A.3 Robustheitschecks Nachfolgend wird die Robustheit der obigen Schätzungen mithilfe alternativer Daten, logarithmierter Variablen, alternativer Variablenordnungen, länderspezifischer Schätzungen und der Hypothese zeitabhängiger Variablen überprüft.
A.3.1 Alternativer britischer Datensatz Da Clarks aggregierter makroökonomischer Datensatz für Britannien von vielen Wirtschaftshistorikern bislang noch nicht endgültig akzeptiert wurde, werde ich ebenfalls die coirfs des BIP-pro-Kopf-Datensatzes von Broadberry u. a. schätzen. Die sich hieraus ergebende Coirf-Matrix ist in Abbildung A.5 dargestellt und weist ein sehr ähnliches Muster wie die auf Clarks Datensatz basierende Matrix auf: Die Effekte des PoG und des PoP werden nach vier Perioden als signifikant ausgewiesen. Obgleich also der Datensatz von Broadberry u. a. keine Stagnation
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
173
während des 17. und 18. Jahrhunderts suggeriert, stützt er dennoch ebenso die Beobachtbarkeit der klassischen (malthusianischen) Bevölkerungstheorie.
Abbildung A.5 Coirf-Matrix, basierend auf einem VAR(3)-Modell: Britannien 1541–2010
A.3.2 Logarithmierte Geburtenrate Des Weiteren wurde hinsichtlich der Produktionstheorie argumentiert, dass – anstelle der in unseren Simulationen verwendeten linearen Beziehung – eine exponentielle Beziehung zwischen Geburtenrate und BIP-pro-Kopf-Wachstum besteht. Diese Eigenschaft können wir testen, indem wir den Niveauwert der Geburtenrate in unseren Datensätzen durch eine logarithmierte Geburtenrate ersetzen und das VAR(3)-Modell erneut schätzen. Wie in Abbildung A.6 gezeigt wird, verändert diese erneute Schätzung die obigen Resultate kaum, da insbesondere die Effekte von PoG und PoP auch unter Verwendung logarithmierter Geburtenraten hier sehr gut (wenn nicht sogar besser, da realistischer) abgelesen werden können.
174
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
→ ln
0.05 0.04
0.04
0.03
0.03
0.02
0.02
0.01
0.01 0
0 -0.01
0.08
→ ln
0.05
0
1
2
→ ln
3
4
5
0
-0.01
0.08
0.06
0.06
0.04
0.04
0.02
0.02
0
0
-0.02
-0.02
1
2
3
4
5
→ ln
Abbildung A.6 Coirfs der Effekte des PoG (links) und des PoP (rechts), basierend auf einem VAR(3)-Modell, unter Verwendung von logarithmierten Geburtenraten. Obere Reihe: gestapelter Datensatz der 55 Ökonomien, untere Reihe: britischer Datensatz
A.3.3 Alternative Ordnung der Variablen Weiterhin wird der Einfluss einer alternativen Variablenordnung auf die Effekte von PoG und PoP ausgewertet. Die sich ergebenden coirfs sind wiederum in Abbildung A.7 bis Abbildung A.11 dargestellt. Wenn wir zunächst die Ordnung der drei Variablen derart arrangieren, dass die Geburtenrate weiterhin über der Sterberate liegt, d. h. b gy gy oder b , d d bleiben die coirfs der entsprechenden Autoregressionen relativ unverändert (siehe Abbildung A.7 und Abbildung A.8). Es spielt also keine große Rolle, ob es dem BIP-pro-Kopf-Wachstum gestattet ist, die Geburtenrate im selben Jahr
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
175
zu beeinflussen, da die statistische Korrelation (der simultane Effekt) beider Variablen recht gering ist. Wenn wir allerdings von der Möglichkeit Gebrauch machen, dass die Sterberate die Geburtenrate simultan beeinflussen darf, wie in den aus unterschiedlichen Ordnungen resultierenden Grafiken zu d gy d d , b und gy b b gy illustriert ist (siehe Abbildung A.9 bis Abbildung A.11), kann der Effekt des PoG nicht länger identifiziert werden. Obwohl der Effekt des PoP nach wie vor ausgewiesen wird, überwiegt die starke negative (simultane) Korrelation zwischen Geburten- und Sterberate den Effekt des PoG. So können wir schlussfolgern, dass die ursprüngliche Variablenordnung mit Geburtenrate als erster und Sterberate als zweiter Variablen nicht nur gültig, sondern auch essenziell für die Messung des PoG ist.
0.001
→
0.001
0.0005
0.0005
0
0
-0.0005
-0.0005
-0.001
-0.001
0.002
→
0.002
0.001
0.001
0
0
-0.001
-0.001
-0.002
-0.002
→
→
Abbildung A.7 Coirfs der Effekte des PoG (links) und des PoP (rechts), basierend auf einem VAR(3)-Modell unter Verwendung einer alternativen Variablenordnung. Obere Reihe: gestapelter Datensatz der 55 Ökonomien, untere Reihe: britischer Datensatz. ′ Variablenordnung bgy d
176
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
0.001
→
0.001
0.0005
0.0005
0
0
-0.0005
-0.0005
-0.001
-0.001
→
0.002
→
0.002
0.001
0.001
0
0
-0.001
-0.001
-0.002
-0.002
→
′ Abbildung A.8 Variablenordnung gy bd
0.001
→
0.001
0.0005
0.0005
0
0
-0.0005
-0.0005
-0.001
-0.001
0.002
→
0.002
0.001
0.001
0
0
-0.001
-0.001
-0.002
-0.002
′ Abbildung A.9 Variablenordnung gy db
→
→
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
0.001
→
0.001
0.0005
0.0005
0
0
-0.0005
-0.0005
-0.001
-0.001
→
0.002
→
0.002
0.001
0.001
0
0
-0.001
-0.001
-0.002
-0.002
→
′ Abbildung A.10 Variablenordnung dbgy
0.001
→
0.001
0.0005
0.0005
0
0
-0.0005
-0.0005
-0.001
-0.001
0.002
→
0.002
0.001
0.001
0
0
-0.001
-0.001
-0.002
-0.002
′ Abbildung A.11 Variablenordnung dgy b
→
→
177
178
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
A.3.4 Länderspezifische Schätzungen Als vierter Punkt wird die Robustheit des PoG und des PoP auf Länderebene überprüft. Da die Anzahl der Parameter des obigen VAR(3)-Modells unter Einschluss einer Vektorkonstante 36 beträgt, erscheint es unvernünftig, Ökonomien mit einer geringen Anzahl an Beobachtungen von Geburtenrate, Sterberate und BIP-pro-Kopf-Wachstum zu evaluieren. Aus diesem Grund werden lediglich diejenigen länderspezifischen Zeitreihen empirisch ausgewertet, welche mindestens 70 Beobachtungen zu den drei Variablen aufweisen. Die für die Analyse verbliebenen 20 Länder, einschließlich Britanniens, sind in Tabelle A.3 gelistet. Bezüglich unserer Schätzprozedur dürfen wir davon ausgehen, dass die resultierenden coirfs natürlicherweise aufgrund einer geringeren Stichprobengröße eine geringere Signifikanz ausweisen werden. Die entsprechenden Koeffizientenschätzer des PoG sowie des PoP nach vier Jahren sind zusammen mit den britischen Vergleichswerten in Tabelle A.3 dargestellt.
Tabelle A.3 Kumulierte, orthogonalisierte Impulsantworten von b in %, vier Perioden nach einem Schock in d bzw. gy in Höhe einer entsprechenden Standardabweichung. Alle Ökonomien mit über 70 Beobachtungen sind ausgewiesen Staat
Bevölkerungsprinzip
Generationenprinzip
gy → b(4)
d → b(4)
Argentinien
0,039
0,018
Australien
0,035
0,115***
0,097
0,064
Chile Dänemark
#Beob.
97 133 99
−0,027
0,075***
179
0,148***
0,089***
122
Finnland
0,051
0,172***
147
Frankreich
0,076***
0,059***
182
Italien
0,057
0,035
102
Japan
0,005
0,066*
109
Kanada
0,052
0,039
100
Deutschland
(Fortsetzung)
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
179
Tabelle A.3 (Fortsetzung)
Staat
Bevölkerungsprinzip
Generationenprinzip
gy → b(4)
d → b(4)
#Beob.
Neuseeland
0,013
0,024
76
Niederlande
0,015
0,067**
91
Norwegen
0,008
0,077***
128
Österreich
0,018
0,077**
75
Rumänien
0,034
0,043
79
Schweden
0,053
0,108***
146
Schweiz
0,017
0,047**
78
Spanien
0,074**
0,003
91
Ungarn
0,161***
0,038
72
GB Broadberry et al.
0,092***
0,060***
467
GB Clark
0,146***
0,060**
467
*** signifikant auf einem 1 %-Niveau, ** auf einem 5 %-Niveau, * auf einem 10 %-Niveau.
Erstaunlicherweise weist, mit Ausnahme Dänemarks, trotz der geringen Stichprobengröße jede der 20 Ökonomien einen positiven Koeffizienten in Bezug auf das PoG wie auch für das PoP auf. Des Weiteren sind 17 dieser 40 Koeffizienten (unter Ausschluss der britischen Daten von Broadberry u. a.) signifikant. Diese Resultate suggerieren, dass selbst vergleichsweise kleine Stichproben in der Lage sind, Evidenz für die beiden Prinzipien zu produzieren, und untermauern damit unsere Schlussfolgerungen aus der VAR(3)-Schätzung der gestapelten Daten. Die länderspezifische Stabilität beider Effekte wird im Zuge einer detaillierteren Darstellung der nationalen coirfs mit Fünf-Jahres-Zeithorizont ebenfalls stark gestützt (Abbildung A.12 und Abbildung A.13).
180
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
Abbildung A.12 21 Samples: Messung des PoG: coirfs der Geburtenrate nach einem Sterberatenschock in Höhe einer Standardabweichung
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
181
Abbildung A.13 21 Samples: Messung des PoP: coirfs der Geburtenrate nach einem BIP-pro-Kopf-Wachstumsschock in Höhe einer Standardabweichung
182
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
A.3.5 Zeitabhängige Effekte Des Weiteren wurden über unser klassisches Bevölkerungsmodell zeitabhängige Effekte des PoG und des PoP modelliert, wonach der Effekt des PoG über den Zeitverlauf an Stärke zunimmt, während sich der des PoP während des Übergangs zum Entwicklungsregime abschwächt. Die Auswirkungen der jeweiligen Effekte auf die Geburtenrate sollten demnach zunehmend auf eine abnehmende Sterberate reagieren. Hierzu bietet es sich nach Nicolini (2007) an, die Veränderungen zu messen, indem die (britischen) Zeitreihen in eine frühe Periode der Stagnation und hoher Fertilität sowie eine späte Periode der Entwicklung und sinkender bzw. niedriger Fertilität aufgesplittet und die sich ergebenden coirfs miteinander verglichen werden. Da in den stilisierten Fakten entsprechend der Zeitpunkt des Beginns der wirtschaftlichen Entwicklung mit dem des Beginns des Fertilitätsrückgangs übereinstimmt, wurde das Jahr 1815 als Schnittjahr gewählt. Es weist den maximalen Wert sowie einen Strukturbruch in den Geburtenraten aus. Zumal allerdings in der ersten und zweiten Stichprobe hierdurch nur 271 bzw. 192 Beobachtungen genutzt werden können, können wir die Ergebnisse lediglich als indikative Evidenz deuten (wie auch die Auswertung zu Dänemark gezeigt hat).
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
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Abbildung A.14 Britannien: Evolution von PoG, PoP, PoDR und „positiven Checks“. Obere Reihe: 1541–1815. Untere Reihe: 1815–2010
184
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
Abbildung A.14 illustriert die Evolution des PoG (erste Zeile) bzw. des PoP (zweite Zeile). In der linken Spalte sind die coirfs für die Zeitspanne 1541–1815 dargestellt; die rechte Spalte weist die Impulsantworten für die Periode 1815–2010 aus. Erstens wächst der Effekt, welcher mit dem PoG assoziiert wird, in Stärke und Signifikanz über den Zeitverlauf und suggeriert damit, wie in der Theorie vorhergesagt, einen zunehmenden direkten Mortalitätseffekt. Zweitens schwächt sich der Einfluss des PoP über den Zeitverlauf rapide ab. Während im frühen Sample auf eine starke positive Konversion des BIP-pro-Kopf-Wachstums in eine höhere Geburtenrate verwiesen werden kann, scheint dieser Effekt in der späten Periode vollständig zu verschwinden. Dieser abnehmende Einkommenseffekt bestätigt das zunehmende Wirken indirekter Mortalitätseffekte. Da es allerdings unplausibel erscheint zu argumentieren, dass der Effekt des PoP nach 1815 vollständig verschwunden ist, müssen wir annehmen, dass die niedrigen Werte der coirfs Verzerrungen – resultierend aus der geringen Stichprobengröße – geschuldet sind. Zuletzt belegt die recht unveränderte Auswirkung der Geburtenrate auf das BIPpro-Kopf-Wachstum (dritte Zeile) die Robustheit dieser Schätzmethode.
A.4 Eine kritische Anmerkung zur vorherrschenden kliometrischen Erfassung von präventiven Checks Nachdem wir die Evidenz für die Existenz der kurzfristigen Mechanismen der klassischen Wachstumstheorie herausgearbeitet haben, interpretieren wir nun abschließend kurz eine weitere coirf, welche in der vorherrschenden empirischen Literatur regelmäßige Verwendung gefunden hat. Der wichtige zu beachtende Effekt ergibt sich aus der statistisch signifikanten, negativen, verzögerten Reaktion der Sterberate auf Änderungen im BIP-pro-Kopf-Wachstum, wie sie in den entsprechenden mittleren, rechten coirfs in den Abbildung A.3 und A.4 illustriert sind. Bislang wurde angenommen, dass der epidemiologische Übergang exogen durch ein Absinken der Sterberate ausgelöst wird. Allerdings scheint das BIP-pro-Kopf-Wachstum die Mortalität in Form einer kurzfristigen Beziehung bereits vor dem epidemiologischen Übergang positiv beeinflusst zu haben, da dieser Effekt bereits im frühen britischen Sample vorherrschte (siehe Abbildung A.14, vierte Zeile, linke Grafik), jedoch im späteren Sample stark nachließ (siehe Abbildung A.14, vierte Zeile, rechte Grafik). Viele Autoren (Nicolini 2007; Crafts und Mills 2009; Pfister und Fertig 2010; Fernihough 2012; Herzer u. a. 2012; Moller und Sharp 2014; Rathke und Sarferaz 2014; Edvinsson 2017) argumentieren daher für den Einschluss komplementärer „malthusianischer“ Effekte in das Modell in dem Sinne, dass eine höhere
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
185
Produktivität nicht nur die Fertilität erhöhe, sondern auch gleichzeitig auf eine niedrigere Mortalität hinarbeite. Diese Autoren betrachten den statistisch signifikanten, positiven Effekt des BIP-pro-Kopf-Wachstums auf die Geburtenrate – in diesem Buch synonym mit dem Effekt des PoP – als Evidenz von „präventiven Checks“ im Allgemeinen, welche nicht mit dem großen präventiven Check PoG in diesem Buch zu verwechseln sind. Demnach sei die Beobachtung, dass ein höheres Einkommen durchschnittlich die Geburten erhöhe, ein Zeichen dafür, dass die Reproduktion vor dieser Erhöhung durch ein präventives Fertilitätsverhalten unterdrückt worden sei. Gleichermaßen halten die Autoren die scheinbar negative Kausalbeziehung des BIP-pro-Kopf zur Sterberate für ein Anzeichen der Existenz universeller „positiver Checks“. Ihre Idee dahinter liegt in der Annahme begründet, dass, wann immer der Lebensstandard unter ein Subsistenzniveau fiele, die positiven Checks die Sterberate als ein Resultat außergewöhnlich starken Wettbewerbs aller Individuen um die verbliebenen Ressourcen kurzfristig erhöhen würden. Dieser Effekt verdient Beachtung und könnte zur Simulation hinzugefügt werden, um den Stagnationsmechanismus um einen zusätzliche Auswirkung Kanal des Bevölkerungswachstums zu erweitern. In diesem Buch wurde die Modellierung des Effektes der konventionellen positiven Checks aus zwei Gründen verworfen: Erstens liefert der Effekt keinerlei Erklärungskraft für den Wachstumsmechanismus, da die positiven Checks regelmäßig verschwinden, sobald das BIP pro Kopf nachhaltig über das Subsistenzniveau steigt. Zur Modellierung und Evaluation des Entwicklungsregimes wird es als ausreichend erachtet, sich auf den kontinuierlichen Rückgang der Fertilität als den essenziellen Bestimmungsfaktor des Bevölkerungswachstumsrückgangs und damit als Auslöser des Ausbruchs aus der Stagnation zu konzentrieren. Zweitens – und das ist der entscheidende Punkt – weicht die derzeitige, konventionelle kliometrische Interpretation präventiver und positiver Checks von Malthus’ eigener Definition ab, welche besagte: Der präventive Check wird möglicherweise am besten durch die Höhe des Verhältnisses der jährlichen Geburten zur gesamten Bevölkerung gemessen werden.8
D. h., dass die Messung über das Niveau der Geburtenrate erfolgt und dass die positiven Bevölkerungschecks […] jeden Grund einschließen […], welcher in irgendeinem Grad dazu beiträgt, die natürliche Lebensdauer zu verkürzen,9
8Malthus 9Ibid.,
(1826), Buch II, Kapitel XI. Buch I, Kapitel II.
186
Anhang A: Empirische Erfassung der klassischen Bevölkerungstheorie
welche am besten durch das Niveau der Sterberate gemessen wird. Folglich dürfen die präventiven Checks nicht als Kausalbeziehung des BIP pro Kopf zur Fertilität bestimmt werden, welche bereits für den Effekt des PoP reserviert ist. Stattdessen mag sehr allgemein geschlussfolgert werden, dass eine niedrige Geburtenrate (unabhängig vom Einkommensniveau) ein Zeichen für das Wirken von präventiven Checks ist, während eine hohe Sterberate das Wirken von positiven Checks offenbart. Dies impliziert zudem eine wichtige malthusianische Erkenntnis, auf die bereits hingewiesen wurde – dass das Stagnationsregime durch hohe Sterblichkeit (positive Checks) gekennzeichnet ist und das Entwicklungsregime durch niedrige Fertilität (präventive Checks).
A.5 Abschließende Bemerkungen zur Empirie der Bevölkerungstheorie Da die Konstruktion eines Modells, welches lediglich mit den stilisierten historischen Fakten der Stagnation und der Entwicklung übereinstimmt, nicht zwangsläufig mit der Realität übereinstimmen muss, wurden die zwei bevölkerungstheoretischen Effekte der klassischen Prinzipien in diesem Kapitel ganzheitlich empirisch ausgewertet, um den naheliegenden Eindruck eines „Reverse Engineering“ in unseren Simulationen zu vermeiden. Hierzu wurde eine einfache VAR-Schätzung unter Einschluss von orthogonalisierten, kumulativen Impuls-Antwort-Funktionen herangezogen. Die Schätzung basierte auf zwei historischen Stichproben mit etwa 4.500 Beobachtungen jährlicher nationaler Daten zu Geburtenrate, Sterberate und BIP-pro-Kopf-Wachstum. In beiden Fällen ergaben die Impulsantworten eine starke Evidenz für die angeführten Effekte. Weitere Robustheitschecks unter Einbezug länderspezifischer Effekte und zeitabhängiger Koeffizienten stimmten im Wesentlichen mit der klassischen Theorie überein. Trotz der empirischen Verifizierung des PoG und des PoP liegt ein wichtiger Mangel dieses Kapitels in der Nichtberücksichtigung der zu beobachtenden Effekte des PoDR und des PoLD. Bis diese gemessen sein werden, kann nicht behauptet werden, dass das klassische, ganzheitliche Wachstumsmodell vollständig von der Empirie bestätigt werde. Daher werden wir uns in Anhang B näher mit der ersten Gleichung von System (6.1) auseinandersetzen.
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
In Abschnitt A.1 wurde dargelegt, dass ein VAR(3)-Modell nicht in der Lage ist, die empirischen Effekte des PoLD abzubilden, da dieses Prinzip über einen längeren Zeithorizont als über die veranschlagten drei Jahre wirkt. In unserer Simulation wurde hierzu angenommen, dass eine höhere Geburtenrate dazu führt, dass die entsprechende Kohorte das BIP pro Kopf mit einmaliger Wirkung zu einem festgelegten Zeitpunkt erhöht, und zwar genau 15 Jahre nach ihrer Geburt. Wenn wir hingegen den Gesamteffekt des PoLD in der Realität messen wollen, so müssen wir die folgenden zwei Schwierigkeiten berücksichtigen: Erstens tendiert jedes Individuum dazu, seine Produktion nicht lediglich im Eintrittsjahr in sein Arbeitsleben, sondern – aufgrund daran anschließender Humankapitalakkumulation und physischer Kapitalakkumulation – auch über seine komplette Lebensspanne verteilt zu erzeugen. Der positive Effekt von Bevölkerungswachstum auf das BIP-pro-Kopf wird also über die Lebensspannen der neugeborenen Individuen verteilt sein, weshalb die Analyse dieses Effekts möglicherweise sogar den Gebrauch von bis zu 100 Lags für empirische Untersuchungen erfordert, was aufgrund der enormen Menge an Parametern für ein VAR-Modell eine sehr große Anzahl an Beobachtungen nötig machte. Zweitens wirkt gleichzeitig das PoDR kontinuierlich auf eine Abschwächung des BIP-pro-Kopf-Anstiegs hin. Folglich sind die Effekte dieser zwei Prinzipien – der positive sowie der negative Effekt von Bevölkerungswachstum auf das B IP-pro-Kopf-Wachstum – in allen unseren verwendeten Datensätzen zu jedem Zeitpunkt miteinander verwoben und tendieren dazu, sich gegenseitig zu neutralisieren und damit die Nachweisbarkeit der separaten Effekte zu verschleiern und damit zu erschweren. Während statisch abnehmende Erträge prinzipiell in der coirf unserer Simulation gemessen
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5
187
188
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
werden konnten (siehe Grafiken links unten in den Abbildungen A.2–A.4 zum Zeitpunkt null), können die Effekte der Arbeitsteilung mit dieser Methode nicht nachgewiesen werden. Aufgrund dieses Unvermögens des VAR-Ansatzes, die veranschlagten langfristigen Beziehungen zu schätzen, werden wir im Folgenden einen neoklassischen Wachstumsregressionsansatz verfolgen, um die Produktionstheorie über die gemeinsame Messung des PoLD und des PoDR zu evaluieren.
B.1 Methodik Bei der folgenden empirischen Analyse werde ich mich auf die Schätzung der in Kapitel 3 hergeleiteten Gleichung (3.6),
yt∗ = ∗ yt−j
bt−j bt
γ 1−γ
,
konzentrieren und wie folgt vorgehen: Zunächst werde ich die vermutete Zeitspanne für den Übergang zwischen zwei Steady States (j) theoretisch begründen. Um die Evidenz für einen kausalen Effekt der Geburtenrate auf das BIP-pro-Kopf-Wachstum zu eruieren, werde ich den verbliebenen Parameter γ γ über eine Schätzung des Koeffizienten 1−γ ermitteln. Aufgrund der universellen Annahme konstanter Skalenerträge wird erwartet, dass der geschätzte Wert des Parameters γ innerhalb des Intervalls (0; 1) liegt. Analog zu γ schätzen Cobb und Douglas (1928) die Produktionselastizität des Kapitals des (ursprünglichen) Arbeitsmodells auf den Wert α ≈ 0, 25. Mankiws u. a. (1992) Schätzungen ergeben einen Parameterwert von α ≈ 0, 33, weshalb bei den meisten konventionellen Kalibrierungen angenommen wird, dass die Produktionselastizität des Kapitals innerhalb des Intervalls (0, 25; 0, 33) liegt. Wenn wir allerdings die Variable Humankapital von der Variablen Arbeit abziehen und sie zu der Variablen (physisches) Kapital hinzufügen, während wir die verbliebene „unqualifizierte Arbeit“ durch die Variable Bevölkerung ersetzen, so steigt der Schätzer von Mankiw u. a. auf α ≡ γ ≈ 0, 66. Ein solcher Schätzer würde einen γ sehr viel größeren Exponenten 1−γ und somit eine stärkere Hebelwirkung von Veränderungen der Geburtenrate auf das BIP pro Kopf suggerieren. Sollten die nachfolgenden Schätzungen diese Vermutung bestätigen, so müsste geschlussfolgert werden, dass das Bevölkerungswachstum einen weitaus größeren Effekt auf die Wirtschaftsentwicklung ausübt, als gemeinhin von neoklassischen Ökonomen angenommen wurde.
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
189
Sobald ein konsistenter Parameterwert für γ geschätzt worden ist, lässt sich die theoretisch vermutete Zeitspanne für j bestätigen oder verwerfen. Zur Schätzung von Gleichung (3.6) werde ich die gewöhnliche, bivariate OLS-Methode verwenden. Aufgrund der Tatsache, dass der OLS-Schätzer den besten unverzerrten Schätzer linearer Beziehungen darstellt (BLUE), wird Gleichung (3.6) durch Logarithmieren beider Brüche linearisiert:
ln
yt∗ ∗ yt−j
= β ln
bt bt−j
mit β = −
γ < 0. 1−γ
(B.1)
Das approximative BIP-pro-Kopf-Wachstum stellt die erklärte Variable dar, und die invertierte approximative Wachstumsrate der Geburtenrate entspricht der erklärenden Variablen (siehe Gleichung B.1).10 Eine OLS-Schätzung ist in diesem Fall auch theoretisch ein gültiger Ansatz, da die Variable Geburtenrate als einzige (unabhängige) Quelle aller Produktion und somit des BIP pro Kopf ausgemacht wurde. Dies impliziert, dass der Einbezug zusätzlicher Konstanten, Variablen oder fixer Effekte zur Kontrolle unbeobachteter Effekte nicht notwendig ist. Zur Findung eines Wertes für j muss bemerkt werden, dass eine ideale Bestimmung von β nur unter der Bedingung eines direkten Vergleichs zweier ∗ realisierter Steady States yt∗ und yt−j möglich ist. Da nach einem Schock in der Geburtenrate der Übergang von einem alten Steady State zu einem neuen in der Realität eine nicht geringe Anzahl an Jahren in Anspruch nimmt, müssen wir diese Übergangsperiode mit einer geeigneten Zeitspanne j modellieren. Wenngleich erwartet wird, dass die Geburtenrate die Produktivität mit sofortiger Wirkung durch bt negativ beeinflusst, so wird der positive Effekt der Arbeitsteilung erst mit einer Verzögerung der Lebensarbeitsdauer durch bt−j vollständig realisiert. Hinsichtlich der Dauer dieser Verzögerung wurde festgestellt, dass die Produktivität einer neugeborenen Kohorte erst dann zunimmt, wenn sie die Fähigkeit unqualifizierter Arbeit mit einem Alterslag von einer „Generation“ von φ Jahren erlernt hat, wobei es plausibel erscheint, hierfür einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren anzunehmen. Des Weiteren wurde angenommen, dass allgemeine Kapitalakkumulation über die „Verbesserung der Fähigkeiten“ (H) und „die Erfindung einer großen Zahl an Maschinen“ (K) über das komplette Arbeitsleben einer Kohorte hinweg stattfindet, d. h., es wird ein weiterer maximaler Betrag von
10Vgl.
Mankiw u. a. (1992) zu einer alternativen Methodologie.
190
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
ψ ≈ 50 Jahren hinzuaddiert.11 Da somit die obigen kombinierten Vorteile aus der Arbeitsteilung wahrscheinlich nach etwa j = φ + ψ Jahren vollständig erwirtschaftet sein werden, nehmen wir für den Übergangszeitraum zwischen den Steady States eine maximale Akkumulationszeitspanne von j ≈ 65 Jahren an. Indizierte Geburtenrate und BIP pro Kopf
Zeit
Abbildung B.1 llustration zweier hypothetischer Zeitreihen von Geburtenrate (blau) und BIP pro Kopf (grün), welche für eine ideale Schätzung von Gleichung (B.1) erforderlich wären
Dies bedeutet, dass eine OLS-Schätzung genau dann ideale Resultate liefert, wenn wir Zeitreihen des BIP pro Kopf und der Geburtenrate über einen Zeitraum von 2j ≈ 130 Jahren verwenden, in welchem die Geburtenrate in den ersten j Jahren unverändert ist, dann abrupt auf ein anderes Niveau fällt (sog. „Treatment“) und danach wiederum auf einem neuen Niveau für weitere j ≈ 65 Jahre verharrt, wie in Abbildung B.1 dargestellt. Als Reaktion auf diese Veränderung der Geburtenrate wird vorhergesagt, dass das BIP pro Kopf über die letzten j ≈ 65 Jahre hinweg durchgängig wächst („Treatment-Effekt“). Da dieser „reine“ Fall in der Realität jedoch nicht beobachtet werden kann, müssen wir uns nachfolgend mit Annäherungen zufrieden geben.
11Vgl.
Becker und Murphy (1992) oder Liso u. a. (2001) zu einem erweiterten Lagmodell.
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
B.2
191
Schätzung von γ und j
B.2.1 Schätzung des Parameters γ Um zuerst eine Idee von der globalen empirischen Beziehung zwischen Geburtenrate und BIP pro Kopf zu erhalten, sind in Abbildung B.2 die aggregierten Daten der Weltbank dargestellt. Hier beobachten wir einen relativ kontinuierlichen Abfall der Geburtenrate ebenso wie einen parallelen Anstieg des BIP pro Kopf über die Periode 1960–2014. Die zugehörige Berechnung des aggregierten Parameters liefert β g = -2, 0 (siehe Spalte 1 von Tabelle B.1). Wir schlussfolgern, dass eine Reduzierung der Geburtenrate um 1% durchschnittlich mit einem Anstieg des BIP pro Kopf um etwa 2% einhergeht. Wenn wir daran anschließend die länderspezifischen Daten separat betrachten, wird deutlich, dass die Geburtenrate während der Periode 1960–2014 in allen 104 Staaten mit verfügbaren Daten gesunken ist (siehe Abbildung B.2 und Tabelle B.3 zur Liste der untersuchten Staaten). Anhand der aufgestellten Theorie vermuten wir, dass mindestens bis zum Jahr 2014 in jedem dieser Länder ein Anstieg des BIP pro Kopf stattgefunden hat. Wir werden daher das Jahr 2014 als Referenzjahr für den zweiten Steady State yt∗ verwenden.
Abbildung B.2 Global aggregierte Daten: Geburtenrate (blau) und indiziertes BIP pro Kopf (grün) 1960–2014. (Quelle: Weltbank (2018))
192
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
Abbildung B.3 Streudiagramm von 104 Ländern zum Vergleich von (negativen) Wachstumsraten der Geburtenrate (x-Achse) und Wachstumsraten des BIP pro Kopf (y-Achse) zwischen 1960 und 2014. (Quelle: Weltbank (2018))
Um länderspezifische Evidenz für die erwartete negative Beziehung zu ermitteln, plotten wir die abhängige Variable (Produktivitätswachstum) zusammen mit der unabhängigen Variablen (invertiertes Wachstum der Geburtenrate) über den gesamten Zeitraum von 55 Jahren für alle 104 Länder (siehe Abbildung B.2) und schätzen den OLS-Steigungskoeffizienten von Gleichung (B.2): yi,2014 bi,2014 ln = β ln fü r i = Land 1, . . . , Land 104. (B.2) yi,1960 bi,1960 Die Ergebnisse sind in Spalte 2 von Tabelle B.1 dargestellt. Das R2 in Höhe von 0, 70 weist darauf hin, dass der größere Teil der Variation im BIP pro Kopf durch Schwankungen in der Geburtenrate erklärt werden kann. Die Höhe des Regressionskoeffizienten ist ein wenig geringer als die des aggregierten Koeffizienten in Spalte 1, was sicherlich zumindest zum Teil der Tatsache geschuldet ist, dass der OLS-Ansatz Staaten nicht nach ihrer Bevölkerungsgröße gewichtet.12 Nichtsdestotrotz erkennen wir, da der Koeffizient hochsignifikant
12Würden
beispielsweise China und Indien mit ihrer Bevölkerungsgröße gewichtet, so stiege die absolute Größe des Koeffizienten.
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
193
ist, Evidenz dafür, dass der wahre Parameter β über die beobachtete Zeitspanne 1960–2014 annähernd im Intervall [-2, 02;-1, 56] liegt. Da unserer Theorie zufolge allerdings behauptet wird, dass eine Veränderung der Geburtenrate das BIP pro Kopf über die nachfolgenden j ≈ 65 Jahre beeinflusst, könnte bei der Kalkulation aufgrund eines Zeithorizonts von lediglich 55 Jahren die Größe des aggregierten Koeffizienten unterschätzt werden. Um die Zeitspanne für j auf 65 Jahre auszudehnen, wenden wir uns erneut den Daten von Mitchell (2013) zu und schätzen den entsprechenden Koeffizienten gemeinsam für alle 34 Länder, welche Daten für das BIP pro Kopf und die Geburtenrate für die Jahre 1949 sowie 2014 aufweisen (Spalte 3). Die Höhe dieses „langfristigen“ Koeffizienten sowie ein größeres resultierendes R2 scheinen unsere Erwartungen bezüglich des Zeithorizonts zu bestätigen.
Tabelle B.1 Berechnete und geschätzte Koeffizienten ln bi,2014 ln bi,2014 bi,t bi,t ln
yi,2014 yi,t
ln
bi,2014 bi,t
ln
bi,2014 bi,t
(1)
(2)
(3)
(4)
−2, 02
−1, 56***
−2, 19***
−2, 16***
(0, 100)
(0, 134)
(0, 178)
0, 70
0, 79
0, 94
1949
1901
R2 t
1960
1960
#Beob.
1a
104a
34
b
10b
*** signifikant auf einem 1 %-Niveau. Standardabweichungen in Klammern. (Quellen: a = Weltbank (2018), b = Mitchell (2013)).
B.2.2 Schätzung des Parameters j Um die einleitende Vermutung zu stützen, dass der wahre Parameter j tatsächlich bei etwa 65 Jahren liegt, ergänzen wir die Daten der Weltbank um die von Mitchell und analysieren die Evolution des Koeffizienten β für zunehmende Zeitspannen j. Wie in Abbildung B.4 gezeigt wird, bleibt der Koeffizient für alle j -Werte signifikant. Wie erwartet, tendiert der Koeffizient dazu, mit zunehmender
194
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
Zeitspanne j zu wachsen, bis er sich nach 60 bis 65 Jahren bei einem Wert von etwa -2, 0 einpendelt. Danach bleibt der Koeffizient für j > 60 auf einem relativ konstanten Durchschnittswert von -2, 0 innerhalb eines schrumpfenden 95 %-Konfidenzintervalls [-3, 00;-1, 50].13 Auf der einen Seite bestätigen diese Beobachtungen den vorhergesagten entscheidenden Einfluss der Geburtenrate auf das BIP pro Kopf. Da das berechnete R2 über den Zeitverlauf relativ kontinuierlich zunimmt und für die längste vorhandene Zeitspanne j = 112 einen Wert von 0, 94 ausweist (Spalte 4 von Tabelle B.1), scheint es so, als könnten die Veränderungen der Geburtenrate über 90% des nachfolgenden BIP-pro-Kopf-Wachstums erklären. Des Weiteren liefern die Berechnungen Evidenz für die Idee, dass der vollständige Effekt von Veränderungen der Geburtenrate bereits nach ca. 65 Jahren erreicht wird. Wenn wir also die durchschnittliche Höhe des Koeffizienten für j > 60 als Benchmark verwenden, so können wir schließen, dass ein 1%iger Rückgang der Geburtenrate durchschnittlich einen 2%igen Anstieg des BIP-pro-Kopf-Wachstums über die nachfolgenden 65 Jahre verteilt bewirkt. Diese Werte implizieren, dass eine Reduzierung der Geburtenrate von 4% auf 1% tendenziell die Pro-Kopf-Produktion um den Faktor 16 erhöht.14 Schließlich kann infolge dieser Berechnungen geschlussfolgert werden, dass die β Produktionselastizität des breiten Kapitals γ = 1+β in dem 95 %-Konfidenzintervall [0, 6; 0, 7] liegt, was mit den Schätzresultaten von Mankiw u. a. (1992) übereinstimmt.
13Relative
Konstanz wird hier definiert als das Ausweisen eines linearen Trends mit Steigungsparameter < |0, 002| über den entsprechenden Zeitverlauf. 14Die Möglichkeit umgekehrter Kausalität wird kurz in Abschnitt B.4 diskutiert.
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
195
Abbildung B.4 Größe des OLS-Schätzers β (blau) mit 95 %-Konfidenzintervallen (grau) und R2 (gelb) mit zunehmender Zeitspanne j
B.3
Robustheit der Resultate auf Länderebene
Um die Robustheit des obigen Ansatzes herauszustellen, werden wie im Fall der Bevölkerungstheorie länderspezifische Resultate herangezogen. In Tabelle B.2 werden die nationalen Parameterwerte γi für alle 34 Staaten mit Daten für 1949 und 2014 ausgewiesen. Wie erwartet, liegen alle Parameterwerte zwischen null und eins. Mit Ausnahme von vier lateinamerikanischen Ökonomien liegen die Werte der berechneten Parameter zwischen 0, 50 und 0, 86. Dieser Spielraum für unbeobachtete Einflüsse im Gegensatz zum geschätzten Intervall [0, 6; 0, 7] erscheint vernünftig, da in unserem nationalen Bevölkerungsansatz internationale Arbeitsteilung und damit verbundene internationale Kapitalbewegungen nicht berücksichtigt werden. Der nationale Durchschnittsparameter γi von genau 0, 66 kann daher derart interpretiert werden, dass der Abzug von Kapital aus einem Land in ein anderes den Kapitalwachstumsprozess im zweiten Land beschleunigt und dass sich die internationale Kapitalakkumulation aufgrund von Kapitalmobilität langfristig global neutralisiert. Wenn beispielsweise der
196
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
Effekt der Geburtenrate auf das BIP-pro-Kopf-Wachstum mit einem Wert > 0, 8 ausgewiesen wird, dann könnte der entsprechende Wachstumsprozess durch zusätzliche ausländische Kapitalzuflüsse positiv beeinflusst worden sein, da hierdurch der durch das PoLD suggerierte Prozess der „Erfindung von Maschinen“ beschleunigt worden sein könnte. Im Gegenzug dürfte der Kapitalabfluss aus lateinamerikanischen Ökonomien die Wachstumsrate ihrer nationalen Kapitalakkumulation, welche gewöhnlich durch nationale Arbeitsteilung entsteht, verzögert haben. Tabelle B.2 Berechnete Parameterwerte γi für diejenigen 34 Ökonomien, welche Daten für die Jahre 1949 und 2014 ausweisen, zur Messung der kombinierten Effekte von PoLD und PoDR Staat
γi
Staat
γi
Staat
γi
Argentinien
0,38
Griechenland
0,72
Panama
0,80
Australien
0,80
Honduras
0,30
Philippinen
0,81
Österreich
0,84
Indien
0,80
Portugal
0,59
Belgien
0,76
Irland
0,86
Spanien
0,66
Kanada
0,64
Israel
0,88
Sri Lanka
0,68
Chile
0,53
Italien
0,66
Schweden
0,75
Kolumbien
0,55
Jamaika
0,70
Schweiz
0,62
Zypern
0,82
Japan
0,62
GB
0,75
Dänemark
0,70
Mexiko
0,53
Uruguay
0,70
Ägypten
0,84
Niederlande
0,69
Venezuela
0,22
El Salvador
0,35
Norwegen
0,75
Panama
0,80
Finnland
0,63
Neuseeland
0,50
Philippinen
0,81
Argentinien
0,38
Griechenland
0,72
Portugal
0,59
Australien
0,8
Honduras
0,30
Spanien
0,66
Österreich
0,84
Indien
0,80
Sri Lanka
0,68
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
197
Tabelle B.3 Liste der 104 untersuchten Staaten. 34 Staaten mit langfristigen Daten sind mit * markiert Algerien
El Salvador*
Japan*
Nepal
Simbabwe
Ägypten*
Elfenbeinküste
Jordanien
Neuseeland*
Singapur
Äquator. Guinea
Finnland*
Kamerun
Nicaragua
Spanien*
Argentinien*
Frankreich
Kanada*
Niederlande*
Sri Lanka*
Äthiopien
Gabun
Kenia
Niger
Südafrika
Australien*
Gambia
Kolumbien*
Nigeria
Syr. Arab. Rep.
Bangladesch
Ghana
Kongo, Dem. Rep.
Norwegen*
Tansania
Belgien*
Griechenland*
Kongo, Republik Österreich*
Thailand
Benin
Guatemala
Korea, Republik Pakistan
Togo
Bolivien
Guinea
Lesotho
Panama*
Trinidad/Tobago
Botswana
Guinea-Bissau
Madagaskar
Paraguay
Tschad
Brasilien
Haiti
Malawi
Peru
Tunesien
Burkina Faso
Honduras*
Malaysia
Philippinen*
Türkei
Burundi
Hong Kong
Mali
Portugal*
Uganda
Chile*
Indien*
Marokko
Ruanda
Uruguay*
China
Indonesien
Mauretanien
Rumänien
Venezuela*
Costa Rica
Iran, Islam. Rep. Mauritius
Sambia
Verein. Kgr.*
Dänemark*
Irland*
Mexiko*
Schweden*
Verein. Staaten
Deutschland
Israel*
Mosambik
Schweiz*
Zentralafr. Rep.
Dominik. Rep.
Italien*
Myanmar
Senegal
Zypern*
Ecuador
Jamaika*
Namibia
Sierra Leone
B.4
Eine populäre Kritik: Umgekehrte Kausalität
Wie bereits in Abschnitt 4.4 diskutiert wurde, veranlasste die beobachtete Korrelation zwischen Geburtenrate und BIP pro Kopf offenbar große akademische Kreise zu dem Glauben, dass zunehmende Produktivität allgemein dazu führe, die Fertilität von Individuen zu senken, da eine Regressionsschätzung der (invertierten) Gleichung
198
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
ln
bt bt−j
= α ln
yt yt−j
naturgemäß einen signifikanten Koeffizienten α = β1 erzeugt. Da diese Sichtweise weiterhin sehr populär zu sein scheint, werden diese Kreise mit hoher Wahrscheinlichkeit auch an dem vorliegenden Buch kritisieren, dass der beobachtete negative Effekt der Fertilität auf die Produktivität lediglich eine weitere Illustration einer statistischen Korrelation darstellt, welche von mir fälschlicherweise für eine kausale Beziehung gehalten wurde.15 Neben den grundlegenden theoretischen Betrachtungen aus Kapitel 3 und 4 muss diese Hypothese des „demografisch-ökonomischen Paradoxons“ jedoch aus dem nachfolgenden Grund empirisch ebenfalls verworfen werden. Zunächst kann ein sofortiger Effekt von yt auf bt aufgrund einer Fertilitätsentscheidung und des Schwangerschaftslags nicht existieren. Da wir jedoch davon ausgegangen sind, dass die Geburtenrate einen verzögerten Effekt auf das BIP pro Kopf ausübt, liegt es nahe, einen verzögerten Effekt (l) des BIP pro Kopf auf die Geburtenrate in der Form bt yt−l ln = α ln bt−j yt−l−j zu testen. Ohne eine Schätzung bemühen zu müssen, beobachten wir in den entwickelten Ökonomien seit den 1970er-Jahren eine stagnierende Geburtenrate, obwohl das BIP pro Kopf in diesen Ländern kontinuierlich über das 20. Jahrhundert hinweg zugenommen hat.16 Wenn das BIP pro Kopf tatsächlich einen negativen Einfluss auf die Geburtenrate ausübte, müssten wir stattdessen weiterhin eine sinkende Geburtenrate nach 1970 beobachten, was offensichtlich nicht der Fall ist.17 Davon abgesehen wurde im vorigen Kapitel gezeigt, dass die coirfs unserer VAR(3)-Schätzungen überwältigende Evidenz für die Existenz des gegenteiligen Effekts stützen (siehe insbesondere Abbildung A.13) – namentlich eines positiven Einflusses der Produktivität auf die Geburtenrate.
15Vgl.
z. B. Becker (1981). Fußnote 228 für die hier verwendete empirische Definition von Konstanz. Die längste Zeitreihe mit konstanter Geburtenrate wird in den britischen Daten ausgewiesen (40 Jahre). 17Weitere Argumente zur empirischen Falsifizierung der Becker-Hypothese sind in Galor (2011) aufgeführt. 16Siehe
Anhang B: Empirische Erfassung der klassischen Produktionstheorie
199
B.5 Abschließende Bemerkungen zur Empirie der Produktionstheorie Die obigen Ergebnisse untermauern die Gültigkeit des verwendeten Solow-Modells ohne „technologischen Fortschritt“ und liefern starke Evidenz für das simultane Wirken der in Gleichung (3.6) modellierten klassischen Prinzipien der Arbeitsteilung und der abnehmenden Erträge. Wenn ein starker, negativer, sofortiger Effekt (PoDR) und ein gleichermaßen starker, positiver, verzögerter Effekt (PoLD) des Bevölkerungswachstums auf das BIP pro Kopf über die anschließenden Perioden existieren, so wird sich eine Veränderung der Bevölkerungswachstumsrate augenscheinlich negativ auf das BIP-pro-Kopf-Wachstum auswirken, was durch die Daten, wie nachfolgend beschrieben, bestätigt wurde. Die Schätzungen jährlicher Daten von 104 Ländern über eine Periode von 55 Jahren, von 34 Ländern über eine Periode von 65 Jahren und von zehn Ländern über eine Periode von 114 Jahren implizieren, dass eine Reduktion der Geburtenrate von 4% auf 1% – wie sie oft in entwickelten Ländern beobachtet wurde – die Produktion pro Kopf um den Faktor 16 erhöht. Wenn dieses Resultat korrekt ist, kann der historisch beobachtete Rückgang der Fertilität den Großteil des nachhaltigen historischen Anstiegs der Produktion pro Kopf erklären. Des Weiteren lassen unsere Schätzungen vermuten, dass die globale Produktionselastizität des breiten Kapitals im Intervall [0, 60; 0, 75] liegt, was wiederum eine Produktionselastizität der Bevölkerung in einem Intervall [0, 25; 0, 40] suggeriert, welche in konventionellen Modellen meist irrtümlicherweise im Bereich [0, 66; 0, 75] verortet wurde. Obgleich sie auf einem alternativen Ansatz beruhen, stimmen die Resultate im Wesentlichen mit denen von Mankiw u. a. (1992) und Ashraf u. a. (2013) überein und liefern damit unterstützende Evidenz für das (neo-/)klassische Wachstumsmodell. Für dieses wurde die Idee bestätigt, dass Y (K, H, N) = K 1/3 H 1/3 N 1/3eine annähernd geeignete Form der aggregierten Produktionsfunktion darstellt. Hierauf aufbauend mag zukünftige Forschung sich damit auseinandersetzen, γ alternativ über das Produktionserschöpfungstheorem zu berechnen, um den relativen Einkommensanteil der Bevölkerung zu bestimmen. Zu diesem Zweck könnten wir durchschnittliche Löhne für unqualifizierte Arbeit oder Mindestlöhne, hochgerechnet auf die gesamte Bevölkerung (welche die Bezeichnung „geografische Löhne“ oder „Bevölkerungslöhne“ verdienten), verwenden und ihren Anteil (1 − γ ) am gesamten BIP berechnen. Dieser Anteil sollte im Intervall [0, 25; 0, 40] liegen. Zweitens mag dieses Modell, in welchem der relativ simple
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Produktivitätsansatz nach Cobbs und Douglas’ „method of attack“ empirisch verfolgt wurde, um einen vierten, konstanten Produktionsfaktor Land ergänzt werden, welcher nicht der Akkumulation und Abschreibung unterliegt. Dies könnte implizieren, dass selbst die Bevölkerungsdichte für die Geschwindigkeit der ökonomischen Entwicklung relevant ist und dass das Bevölkerungswachstum langfristig dynamisch abnehmende Erträge aufweist. Drittens könnte sich die zukünftige Forschung auf eine variierende nationale Sparquote fokussieren, da die Akkumulation von physischem Kapital und Humankapital eines Landes stark durch ausländische Investitionen gefördert werden kann. Diese externen Anpassungen hin zu einer effizienten internationalen Arbeitsteilung könnten die verbliebenen unerklärten Variationen in unseren Regressionen erklären. Zusammengefasst wiesen die empirischen Auswertungen der Anhänge A und B einen signifikant positiven, kurzfristigen Effekt von Änderungen des BIPpro-Kopf-Wachstums auf die Variable Geburtenrate, einen signifikant positiven, kurzfristigen Effekt der Sterberate auf die Geburtenrate und einen signifikant negativen, langfristigen Effekt der Geburtenrate auf das B IP-pro-Kopf-Wachstum aus. Alle diese Resultate weisen auf die Richtigkeit der vier Prinzipien der klassischen Wirtschaftstheorie hin und stützen damit die Gültigkeit des klassischen, ganzheitlichen Wachstumsmodells, welches in der Lage ist, die stilisierten Fakten eines Übergangs von einem Regime der Stagnation mit hohen Sterbe- und Geburtenraten zu einem Entwicklungsregime mit abnehmenden Sterbe- und Geburtenraten abzubilden.
Anhang C
Abbildung C.1 20 ausgewählte Staaten: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP pro Kopf (grün). Das BIP pro Kopf wurde auf das Jahr 2010 = 0,05 indiziert. X- und y-Achse schneiden sich bei null Länder: arg – den. (Quelle: Mitchell (2013))
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lüger, Klassische ganzheitliche Wachstumstheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31805-5
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Anhang C
Abbildung C.2 20 ausgewählte Staaten: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP pro Kopf (grün). Das BIP-pro-Kopf wurde auf das Jahr 2010 = 0,05 indiziert. X- und y-Achse schneiden sich bei null Länder: fin – jap. (Quelle: Mitchell (2013))
Anhang C
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Abbildung C.3 20 ausgewählte Staaten: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP pro Kopf (grün). Das BIP-pro-Kopf wurde auf das Jahr 2010 = 0,05 indiziert. X- und y-Achse schneiden sich bei null Länder: net – swe. (Quelle: Mitchell (2013))
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Anhang C
Abbildung C.4 20 ausgewählte Staaten: Geburtenrate (blau), Sterberate (rot), BIP pro Kopf (grün). Das BIP-pro-Kopf wurde auf das Jahr 2010 = 0,05 indiziert. X- und y-Achse schneiden sich bei null Länder: swi – ukc. (Quelle: Mitchell (2013))
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