Kriterien für ein gutes Urteil [1 ed.] 9783428513345, 9783428113347

Der Positivismus ist tot - dem würde heutzutage niemand widersprechen, soweit es um einen Gesetzespositivismus geht, der

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German Pages 172 Year 2004

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Kriterien für ein gutes Urteil [1 ed.]
 9783428513345, 9783428113347

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 219

Kriterien für ein gutes Urteil Von Anusheh Rafi

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ANUSHEH RAFI

Kriterien für ein gutes Urteil

Schriften zur Rechtstheorie Heft 219

Kriterien für ein gutes Urteil

Von Anusheh Rafi

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-11334-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Danksagung Eine wissenschaftliche Arbeit ist mit einsamen Lektürestunden ohne jegliches Gespräch nicht zu bewältigen. Da die hilfreichen Gesprächspartner im Gegensatz zu den hilfreichen Schriften nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt sind, obwohl sie die Arbeit mindestens ebenso stark beeinflusst haben, soll ihnen gleich zu Beginn der Arbeit gedankt werden. In erster Linie muss und möchte ich mich natürlich herzlich bei Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Simon bedanken, der mir als Doktorvater für Fragen stets zur Verfügung stand und mir mit seinen wertvollen Anmerkungen sehr geholfen hat. Dabei genoss ich insbesondere sein Talent dafür, mich intensiv bei meiner Arbeit zu unterstützen, ohne eigene Vorstellungen durchzusetzen. Weiterhin danke ich dem Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, welches mir durch die dreijährige Doktorantenstelle die notwendige finanzielle Unabhängigkeit zur Forschung beschaffte und meine Arbeit großzügig unterstützte, ohne sie in irgend einer Weise beeinflussen zu wollen. In diesem Rahmen möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Michael Stolleis für die Möglichkeit danken, meine Arbeit im „Stipendiatencafe“ vorstellen zu dürfen. Auch die Verwaltung des Instituts war stets hilfsbereit und zuvorkommend. Auch Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Hasso Hofmann sei für die Zweitkorrektur herzlich gedankt. Sein Gutachten ging sehr detailliert auf die Arbeit ein und gab mir wichtige Anregungen für die Überarbeitung zur Publikation. Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. LL.M Christian Kirchner für anregende Gespräche, Literaturhinweise und die Möglichkeit, meine Arbeit im Rahmen seiner Vorlesung zur Methodenlehre vorzustellen. Wichtige Hinweise bekam ich ferner von Daniel Friedrich, Anne Holthöfer und Fabian Schwarz, die sich die Arbeit machten, meine Arbeit in Auszügen bzw. sogar vollständig zu lesen und mit mir zu diskutieren. Für wertvolle Gespräche danke ich ferner Herrn Prof. Dr. Klaus Günther, Herrn Prof. Dr. Joachim Bohnert, Herrn Dr. Heinz Mohnhaupt, Peter Berggren und Lakshmi Kotsch. Auch danke ich meinem Lesekreis „Die postmodernen Freunde“, der mir durch gemeinsame Lektüre von Texten von Heidegger bis Derrida den Zugang zu postmodernen Philosophen eröffnete; also Dank an Anne Holthöfer, Thomas Rid, Holger Jahnke, Ursula Schröder und Dorit Simon.

6

Danksagung

Darüber hinaus wurde meine Arbeit von einigen fachkundigen Lesern korrekturgelesen. Für Korrekturen von Rechtschreibfehlern, grammatikalischen Ungereimtheiten und stilistischen Fehlgriffen danke ich Pari Rafi, Christiane Kux, Benjamin Görs, Nina Vollborth und Konrad Raeschke-Kessler. Die Arbeit widme ich meinen Eltern, die mit mir mehr Arbeit hatten als ich mit ihr (aber hoffentlich diese Arbeit ebenso freudig ausführten wie ich meine). Anusheh Rafi Guilani

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Kapitel Die Ausgangslage

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1. Problemdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

a) Beginn des Methodenproblems als Legitimationsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

b) Ausweitung des Methodenproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

2. Bisherige Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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a) Hierarchiebildung unter den Auslegungskanones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

b) Materiale Wertethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

c) Aus dem Recht gewonnene Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

d) Eine aus Prinzipien gewonnene Wertehierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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e) Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

aa) Wann besteht Konsens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

bb) Zwischen wem muss der Konsens bestehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

cc) Wie wird der Konsens ermittelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

dd) Kommt immer ein Konsens zustande? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

ee) Worüber muss Konsens bestehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

f) Ökonomische Theorie des Rechts (ÖTR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

3. Gebundener Dezisionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Kapitel Das Ziel des Urteils

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1. Das Urteil als Rechtsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

2. Wann ist ein Urteil gut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8

Inhaltsverzeichnis 3. Ziel des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

a) Gerechtigkeit als Ziel des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

b) Wahrheit als Ziel des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

c) Rechtssicherheit als Ziel des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

aa) Vorhersehbarkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

bb) Beständigkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

d) Schutz subjektiver Rechte / Bewährung objektiven Rechts / Rechtsfortbildung als Ziel des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

e) Effizienz als Ziel des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

f) Rechtsfrieden als Ziel des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

aa) Kritik am Rechtsfrieden als Ziel des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) Rechtsfrieden ist als Urteilsfunktion anachronistisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) Rechtsfrieden erklärt nur den Ausnahmefall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

) Rechtsfrieden ist kein isolierbarer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) Rechtsfrieden kann die Möglichkeit der Selbsthilfe nicht erklären . . . . .

62 62 67 67 68

bb) Argumente für den Rechtsfrieden als Ziel des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) Durchbrechung der Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

) Einlassungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) Vorprozessuales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ") Soziologisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) Historisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69 69 70 71 72 73 76

4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Kapitel Die Kriterien

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1. Bindung an den Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

a) Was ist der Wortlaut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

b) Inwieweit ist der Richter an den Wortlaut gebunden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

c) Warum ist der Richter nicht nur an den Gesetzeswortlaut gebunden? . . . . . . . . . . .

85

aa) Die Wahl zwischen konkurrierenden Gesetzesinterpretationen . . . . . . . . . . . . .

85

bb) Warum andere Topoi zu berücksichtigen sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) Fachsprache und Umgangssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) Generalklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86 87 89

Inhaltsverzeichnis

9

2. Bindung an Folgeerwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

a) Transitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

b) Sure-thing principle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

c) Newcombs Paradoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

3. Bindung an Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

a) Die „herrschende Meinung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Präjudizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4. Bindung an die gesellschaftlichen Moralvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) Warum „Moral“ und nicht „Gerechtigkeit“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 b) Warum „gesellschaftliche Moralvorstellungen“ und nicht „Moral“? . . . . . . . . . . . . 109 c) Warum muss das Urteil den gesellschaftlichen Moralvorstellungen nicht entsprechen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 d) 1. Problem: Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 e) 2. Problem: Messbarkeit der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5. Bindung an Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6. Bindung an die Erzählung der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Bindung an den Sachverhalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 aa) Sachverhaltskonstruktion hinsichtlich der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 bb) Sachverhaltskonstruktion hinsichtlich des gewünschten Ergebnisses . . . . . . . 119 b) Bindung an die Erzählungen der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 7. Bindung an die gesellschaftliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Die Einbeziehung der gesellschaftlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 aa) Gesetzespositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 bb) Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 b) Die langjährige Tradition der Einbeziehung von gesellschaftlichen Praktiken . . . 129 aa) Wertneutralität der gesellschaftlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 bb) Offenheit des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 8. Bindung an Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 9. Bindung an Verständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 a) Verständlichkeit des Gesetzestextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

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Inhaltsverzeichnis b) Verständlichkeit der gerichtlichen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 c) Verständlichkeit des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 d) Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 e) Verringerung des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 aa) Stilistische Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 bb) Gesellschaftliche Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

10. Bindung an die Verfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Die Verfassung als Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Die Verfassung als besonderes „Gesetz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 aa) Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 bb) Verfassung als Werteordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 c) Verfassung als Zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Einleitung In einem kleinen Dorf lebte vor langer Zeit eine Dorfgemeinschaft, die durch lang anhaltende Streitereien auseinander zu brechen drohte. Deshalb beschloss man, Justus, den Dorfältesten als Richter über jeglichen Streit einzusetzen. Justus entschied nun alle Streitfälle, die ihm vorgetragen wurden. Er konnte es jedoch nie allen Parteien recht machen. So wuchs der Unmut über Justus und man einigte sich darauf, ihm einige Regeln an die Hand zu geben, die er zu befolgen hatte. Allerdings musste man bald erkennen, dass diese Regeln nicht ausreichten, um Justus in den aufkommenden Fällen immer sagen zu können, wie er den Streit zu beenden hätte. Deshalb wurden weitere Regeln formuliert. Daraufhin stellte sich ein weiteres Problem: Ob eine Regel auf einen konkreten Fall überhaupt anwendbar war, war keineswegs immer eindeutig. Es entwickelte sich eine intensive Diskussion darüber, wie man Justus eindeutige Regeln an die Hand geben könnte. Einige schlugen vor, ihn an Werte wie „Gerechtigkeit“ und „Wahrheit“ zu binden. Andere versuchten, eindeutige Kriterien anzugeben, wie die Regeln ausgelegt bzw. wie mögliche Regelungslücken geschlossen werden müssten. Es gab erbitterte Kämpfe zwischen den Dorfbewohnern – aber eine Einigung konnte nicht erzielt werden.

Jurisprudenz ist keine l’art pour l’art. Sie dient der Praxis. Deshalb sollte sie sich auch an den Bedürfnissen der Praxis ausrichten. Wer Rechtstheorie betreibt, sollte sich darum fragen, was er erreichen möchte. Wie die Dorfbewohner im oben angeführten Beispiel ist die Rechtstheorie bisher überwiegend darum bemüht, dem Richter zu sagen, wie er ein Urteil fällen sollte. Es wird zwar erkannt, dass die modernen hermeneutischen Erkenntnisse eine gesetzespositivistische Rechtstheorie widerlegen. Allerdings wird daraus kaum die Konsequenz gezogen, eine Rechtstheorie zu entwickeln, die dem Richter eine Entscheidungsfreiheit einräumt. Vielmehr wird seine Entscheidungsfreiheit als ein notwendiges Übel hingenommen, um daraufhin darzulegen, warum der Richter trotzdem im konkreten Fall in einer bestimmten Weise entscheiden muss. Diese Entwicklung ist ebenso verständlich wie gefährlich. Verständlich ist sie, weil sie unserer Vorstellung von Demokratie besser entspricht: Das demokratisch direkt legitimierte Parlament soll die Entscheidungen treffen. Der Richter muss sich an diese Entscheidungen halten. Wenn der Richter die Möglichkeit hätte, sich über die Entscheidungen des Parlamentes hinweg zu setzen, so hätte das demokratisch direkt legitimierte Organ einen zu geringen Einfluss auf wichtige gesellschaftliche Entscheidungsprozesse. Hinzu kommt ein psychologischer Grund: Es fällt Richtern leichter, ihre Entscheidungen als eine notwendige Ableitung aus dem Gesetzestext oder aus anerkannten Rechtswertungen darzustellen, als sich einzugestehen, dass sie auch anders hätten entscheiden können – denn nur auf diese Weise müssen sie keine Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen.1 Die Gefahr liegt jedoch auf der Hand: Verant-

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Einleitung

wortung muss übernommen werden, und wenn die Verantwortlichkeit so weit verdeckt ist, dass die eigentlich Entscheidenden sich gar nicht verantwortlich fühlen, so führt das im wahrsten Sinne des Wortes zu „verantwortungslosen“ Entscheidungen. Diese Tendenz zeigt sich deutlich in dem immer wieder benutzen Wort „Entscheidungsfindung“! Dieses Wort drückt wie kein anderes die Ambivalenz der Rechtstheorie aus: Einerseits billigt man dem Richter eine Entscheidungsbefugnis zu, andererseits soll das Urteil aber auch „gefunden“ und eben nicht entschieden werden.2 In dieser Arbeit wird anders vorgegangen. Die Dorfbewohner haben Justus eingesetzt, um Streitfälle zu entscheiden. Als ihnen seine Entscheidungen nicht gefielen, versuchten sie, seine Entscheidungsfreiheit einzugrenzen und gerieten nun über die Eingrenzungsregeln in Konflikt miteinander. Da fragt man sich zu recht, warum sie Justus überhaupt eingesetzt haben. Anstatt sich darum zu bemühen, seine Entscheidungsfreiheit einzugrenzen, hätte man ebensogut akzeptieren können, dass es gerade die Aufgabe von Justus war, zu entscheiden. Es wäre deshalb sinnvoller gewesen, ihm seine Verantwortung vor Augen zu führen und ihn bei einer verantwortungsvollen Ausführung seiner Entscheidungsarbeit zu unterstützen. Genau dieser Ansatz wird hier verfolgt. Diese Arbeit ist keine Anleitung zur „Lösung“ eines konkreten Falles. Sie kann niemandem die Entscheidung abnehmen. Es soll vielmehr aufgezeigt werden, wie verantwortungsbewusst entschieden werden kann. Dabei sollte nicht der Eindruck entstehen, dass die Bedeutung anderer Ansätze in der Methodenlehre verkannt wird. Natürlich ist es in einem Rechtsstaat notwendig, eine gewisse Vorhersehbarkeit von Urteilen zu erreichen. Um ein angemessenes Maß an Vorhersehbarkeit zu gewährleisten, ist eine differenzierte Rechtsdogmatik notwendig. Rechtstheoretische Arbeiten sind von großer Bedeutung, wenn sie die Rechtsdogmatik in ihrer Entwicklung unterstützen. Allerdings darf dabei eines nicht übersehen werden: Selbst wenn ein Urteil vorhersehbar ist, bleibt es die Entscheidung des Richters, ob er das Urteil so fällen möchte, wie es alle vorhersehen. Die Rechtstheorie kann dem Richter also nicht seine Verantwortung abnehmen. Deshalb bemüht sich diese Arbeit um einen Spagat: Einerseits wird darauf hingewiesen, dass dem Richter die Entscheidung nicht abgenommen werden kann. Andererseits werden trotzdem Kriterien angegeben, an die der Richter gebunden sein sollte. Der Spagat glückt nur deshalb, weil diese Bindung an Kriterien den Richter nicht auf eine Entscheidung festlegt. Die Kriterien stellen lediglich Gesichtspunkte zusammen, die bei einem guten Urteil beachtet werden müssen. Wie 1 Diese Annahme über die Psychologie von Richtern wird gestützt durch die Untersuchungen von Schmid / Drosdeck / Koch / Drosdeck (1997), S. 7 ff.; 24 f.; und der „Geschichte“ von Simon (1998), S. 95 ff., in der von der Schwierigkeit eines Richters berichtet wird, „Wahrheit“ als etwas von ihm selbst Mitkonstruiertes zu begreifen. 2 Siehe dazu den Beginn des 2. Kapitels.

Einleitung

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sie zu gewichten sind, welche Kriterien in einem konkreten Fall ausschlaggebend sind und welche vernachlässigt werden können, bleibt eine persönliche Entscheidungsarbeit. Was diese Arbeit jedoch bietet, ist ein abstraktes Ziel, welches sowohl der Argumentation als auch der Urteilskritik eine gemeinsame Richtung gibt. Die Arbeit gliedert sich wie folgt: Im 1. Kapitel werden die gängigen Ansätze der Methodenlehre des 20. Jahrhunderts dargestellt. Dabei soll zum einen verdeutlicht werden, dass sie einerseits alle darum bemüht waren, die Entscheidungsfreiheit des Richters zu verringern und ihm damit Verantwortung abzunehmen. Zum anderen soll gezeigt werden, dass kein Ansatz es vermag, dem Richter seine Urteilsentscheidung abzunehmen. Das 2. Kapitel stellt den Beginn des eigenen Ansatzes dar. Dieser Ansatz geht im Gegensatz zu vielen Lehrbüchern zur Rechtstheorie nicht vom Gesetzestext aus. Oftmals wird der Gesetzestext als Ausgangspunkt genommen, um dann im Rahmen der interpretativen Spielräume eine Rechtstheorie als Hermeneutik zu entfalten. Dabei wird entweder die Leistungsfähigkeit der Hermeneutik überschätzt oder es werden außertextliche Kriterien unter dem Begriff „extensive teleologische Auslegung“ eingeführt, obwohl es dann meist nicht mehr um Gesetzesauslegung geht.3 Ferner wird übersehen, dass es anerkannte Rechtsentwicklungen contra legem gibt. Deshalb wird hier nicht vom Gesetzestext, sondern vom Urteil ausgegangen. Als „gut“ wird dieses Urteil dann angesehen, wenn es einer Funktion, seinem Zweck, gerecht wird. Im 2. Kapitel wird deshalb der Zweck des Urteils festgelegt. Im 3. Kapitel werden dann anhand dieses Zweckes Kriterien behandelt, die für ein gutes Urteil beachtet werden müssen. Viele rechtstheoretische Themen kommen an unterschiedlichen Stellen dieses Buches vor. Um Wiederholungen zu vermeiden, werden bereits gegebene Argumente nur nochmals aufgenommen, wenn es notwendig ist. Wer nicht an der Arbeit an sich, sondern an einem bestimmten rechtstheoretischen Thema interessiert ist, muss springen. So finden sich z. B. zum Thema „Recht und Moral“ teilweise Ansätze aus dem 20. Jahrhundert im 1. Kapitel. Unter der Fragestellung, ob „Gerechtigkeit“ die Funktion des Urteils sein kann, wird das Thema im 2. Kapitel aufgegriffen, um schließlich im 3. Kapitel als Kriterium für ein gutes Urteil (Bindung an die gesellschaftlichen Moralvorstellungen) abschließend behandelt zu werden. Um den Umfang der Arbeit zu begrenzen, ist sie auf das Zivilrecht beschränkt. Das Zivilrecht wurde gewählt, da sich die Rechtstheorie am Anfang des letzten Jahrhunderts vor allem im Zivilrecht entwickelt hat. Viele Argumente, die in dieser Arbeit aufgeführt werden, sind für alle Rechtsbereiche gültig, einige treffen hingegen nur auf das Zivilrecht zu. Mit der Begrenzung auf das Zivilrecht wird offen gelassen, ob es eine einheitliche Rechtstheorie für alle Rechtsgebiete geben kann. Die allgemeingültigen Argumente sprechen dafür, doch wird über die Übertragbarkeit der entwickelten Theorie auf andere Rechtsgebiete nicht entschieden. Gleiches gilt für die geographische Einschränkung: Es wird vom deutschen Zivilrecht aus3

Siehe zu diesem Problem den Abschnitt „Bindung an den Wortlaut“ im 3. Kapitel.

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Einleitung

gegangen, obwohl viele Argumente auch auf andere Rechtsordnungen übertragbar sind. Inwiefern die hier entwickelte Rechtstheorie in anderen Rechtsordungen (z. B. Rechtsordnungen mit Fallrechtstradition) anwendbar ist, wird nicht geklärt. Viele Beispiele – vor allem bezüglich einer Rechtsprechung contra und praeter legem – sind durch die neue Schuldrechtsreform Rechtsgeschichte geworden. Aus zwei Gründen werden sie dennoch angeführt: Zum einen werden die Beispiele durch die Gesetzesänderung nicht schlechter, sondern gewinnen eher noch an Qualität. Sie werden angeführt, um zu zeigen, dass Rechtsprechung und Rechtstheorie nicht immer vom Gesetzestext ausgehen und teilweise sogar entgegen dem Gesetzeswortlaut entscheiden. Diese nun seit hundert Jahren gängige Praxis wird sich durch die Schuldrechtsreform nicht ändern. Vielmehr zeigt die Schuldrechtsreform deutlich, dass die Rechtsprechung nicht dem Gesetz unterworfen ist, sondern auch die Möglichkeit besteht, dass der Gesetzgeber der Rechtsprechung folgt. Der zweite Grund ist, dass es noch keine gefestigte Rechtsprechung zu den Schuldrechtsänderungen gibt. Wer glaubt, das geltende Schuldrecht komme ohne eine Rechtsprechung praeter und contra legem aus, wird durch die Rechtsentwicklung widerlegt werden – eine zukünftige Rechtsentwicklung, die neue (aber nicht unbedingt bessere) Beispiele für die begrenzte Abhängigkeit der Rechtsprechung vom Gesetzeswortlaut bieten wird.

1. Kapitel

Die Ausgangslage Die Abhandlung über Kriterien für ein gutes Urteil versteht sich in erster Linie als Beitrag zur Methodenlehre. Sie soll dem Richter eine Abwägungshilfe bieten, die ihm bei der Urteilsentscheidung dienlich ist. Dabei wird zunächst dargestellt, welche Probleme sich in der Rechtsanwendung stellen (1), um daraufhin die bisherigen Lösungsansätze aufzuzeigen (2).

1. Problemdarstellung Solange man davon ausging, dass es ein lückenloses Normsystem geben könne, aus dem mit logischer Stringenz ein Tatbestand in einer bestimmten Form entschieden werden müsse, gab es für die Methodenlehre keinen Anlass, nach Kriterien für ein gutes Urteil zu suchen, denn das Urteil war lediglich am vorgegebenen Gesetzestext zu messen. Diese Auffassung, die oft als Gesetzespositivismus bezeichnet wird, hielt bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts an.1 Der Gesetzespositivismus ist in der Hinsicht reizvoll, als er den Richter von jeglicher Verantwortung für seine Entscheidungen befreit. Der Richter wird lediglich als Rechtsfindungsorgan verstanden, das „den Wortlaut des Gesetzes spricht, Wesen ohne Seelen gleichsam, die weder die Stärke noch die Strenge des Gesetzes mäßigen können.“2 Allerdings konnte sich diese Vorstellung von einer nicht vorhandenen Verantwortung des Richters für sein Urteil (im Gegensatz zu „dem Urteil“) nicht halten.

a) Beginn des Methodenproblems als Legitimationsproblem3 Mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch trat zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Gesetz in Kraft, welches von der Idee der Pandektenwissenschaft geprägt war, durch Vgl. Röhl (1995), S. 302 f. Montesquieu (1748 / 1994), S. 225. Dieses berühmt gewordene Zitat wird hier angeführt, weil mit ihm der Gesetzespositivismus charakterisiert wurde. Dass Montesquieu mit diesem Zitat tatsächlich einen Gesetzespositivismus propagieren wollte, erscheint fraglich (vgl. Ogorek (2002), 4b). 3 Wenn hier das Methodenproblem am Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches festgemacht wird, soll dies keinesfalls implizieren, dass es vorher noch keine Methodendiskus1 2

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1. Kap.: Die Ausgangslage

allgemeine Begriffe auf hohem Abstraktionsniveau ein lückenloses Rechtssystem zu normieren.4 Nun hat sich in der Rechtspraxis sehr schnell gezeigt, wie „lückenlos“ dieses System tatsächlich war. Bereits Anfang 1900 stellte Erich Jung bezüglich der analogen Anwendung von § 147 I 2 BGB auf telefonische Angebote fest: „Es wird dem Richter ein Urteil über die Angemessenheit der Norm, eine quasigesetzgeberische, eine Erwägung de lege ferenda, eine Zweckmäßigkeitsbetrachtung zugemutet.“5 Hermann Kantorowicz formuliert 1906 mit dem ihn kennzeichnenden Temperament: „Denn nicht so liegt der Sachverhalt, daß Lücken im Gesetz sich hier und da wohl vorfinden, nein, getrost darf man behaupten, daß nicht weniger Lücken als Worte da sind.“6 Das bedeutet dann aber, dass der Richter nicht allein mit Logik auskommt, sondern stets eigene Wertungen in sein Urteil mit einfließen lassen muss. Die angeblich rein logischen juristischen Argumentationsformen wie das argumentum a fortiori, argumentum e contrario und der Analogieschluss wurden von verschiedener Seite als Argumentationen entlarvt, die nicht ohne richterliche Wertungen auskommen.7 Durch das Aufzeigen der Grenzen von Logik für die juristische Subsumtion war das Methodenproblem geboren, welches auf folgenden drei Prämissen fußte: (1) Jedes Gesetz ist lückenhaft. (2) Die Lücken können nicht wertungsfrei (d. h. durch rein logische Schlüsse) geschlossen werden.8 sion gegeben hätte (vgl. Gängel / Mollnau, S. 296 f.). Populärstes (wenn auch nicht unbedingt bestes – vgl. Henne / Kretschmann (1999)) Beispiel für eine Ablehnung des Gesetzespositivismus vor dem 20. Jahrhundert bietet wohl Bülow, der bereits 1885 erkannt hat, dass sich „dem Richter noch immer ein weiter Spielraum selbständiger Rechtsbestimmung“ innerhalb der Gesetzesschranken eröffnet (S. 29). Jedoch hat die Methodendebatte mit diesem Ereignis an besonderer Bedeutung gewonnen (vgl. Coing (1980), Rdnr. 202: „Kaum war das BGB in Kraft getreten, als eine lebhafte, alle bisherigen herrschenden Meinungen infrage stellende, Diskussion über das Verhältnis von Richter und Gesetz einsetzte.“). Auch Heck knüpft an das Inkrafttreten des BGB an: „Die unrichtige Begriffsjurisprudenz, ( . . . ) die vor Inkrafttreten des BGB fast unangefochten und weit verbreitet war, hat heute kaum noch Verteidiger“ (AcP 112, 2). 4 Palandt / Heinrichs, Einleitung Rdnr. 2; damit soll lediglich gesagt sein, dass den Verfassern des BGB das Ideal eines lückenlosen Systems vorschwebte. Keineswegs soll damit gesagt sein, dass die Verfasser des BGB dieses für lückenlos hielten (vgl.: Coing (1980) Rdnr. 201). 5 Jung (1900), S. 17. 6 Kantorowicz (1906), S. 18. 7 Kantorowicz (1906), S. 23 ff.; Ehrlich (1903 / 1987), S. 20, Ehrlich (1918 / 1966), S. 223 ff. Siehe auch die modernere Darstellung bei Herberger / Simon (1980), S. 165 ff. 8 Ehrlich (1903 / 1987), S. 20; Isay (1929 / 1970), S. 150. Während die erste Prämisse auch von den Verfassern des BGB geteilt wurde, sorgte die zweite Prämisse für den entscheidenden Unterschied im methodischen Ansatz. In den Motiven (Hrsg.: Mugdan) wird zwar eingesehen: „Kein Gesetz kann in dem Sinne vollständig sein, daß es für jedes denkbare, in den Rahmen des von ihm behandelnden Rechtsstoffes fallende Verhältnis eine unmittelbar anwendende Vorschrift an die Hand gibt“ (S. 365). Allerdings wird davon ausgegangen, dass die Lückenfüllung objektiv erfolgen könne, denn ein Naturrecht wird wegen der Gefahr der

1. Problemdarstellung

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(3) Der Richter muss auch dann, wenn das Gesetz eine Lücke aufweist, ein Urteil fällen.9 Aus diesen drei Prämissen folgt, dass der Richter nicht ohne eigene Wertung zum Urteil kommt. Das Problem spitzte sich zu, als selbst die Lückenfindung bereits als Werturteil des Richters angesehen wurde (mit der Aussage, dass „etwas fehlt, dessen Vorhandensein gewünscht oder erwartet wird“10). Deshalb konnte der Richter seine Verantwortung für das Urteil nicht mehr hinter dem Gesetzestext verstecken, und es mussten Kriterien gefunden werden, nach denen die „Lücken“ zu begründen und zu schließen sind, wenn dies nicht nach richterlicher Willkür erfolgen sollte. In dem Bemühen, die Lückenfindung und Lückenfüllung nicht einer richterlichen Willkür preiszugeben, wurden „Lückenarten“ in der Literatur auseinander gehalten11 und verschiedene Kriterien diskutiert, wie diese zu füllen seien. Dabei gingen die Vorschläge von einer Orientierung an überpositiven Wertmaßstäben12 bis zum Versuch, diese Lücken durch Wertungen zu füllen, die sich systemimmanent aus den bereits entschiedenen Interessenkonflikten ergeben würden.13 Auch wenn hierbei gerade die Interessenjurisprudenz einige beachtliche Entwicklungen für die juristische Methodik ermöglichte14, konnte die Ausweitung des Methodenproblems nicht verhindert werden.

b) Ausweitung des Methodenproblems Es stellte sich bald heraus, dass auch die Interessenjurisprudenz in vielen Fällen die richterliche Eigenwertung nicht vermeiden konnte: – Bei der gesetzlichen Verwendung von unbestimmten Begriffen und Generalklauseln kann weder dem Gesetz noch den Wertungen des Gesetzgebers eine Entscheidung entnommen werden. – Es können Fragen auftreten, zu denen der Gesetzgeber noch nicht Stellung genommen hat. fehlenden Objektivität abgelehnt (es ist nämlich nur das, „was der Konstruierende für wahr hält“, S. 365). Weiter heißt es: „( . . . ) die Entscheidung darf nicht aus Momenten genommen werden, welche außerhalb des positiven Rechts liegen“ (S. 366). 9 Kantorowicz (1906), S. 18. Die Bedeutung der dritten Prämisse wird von Hofmann (1998) herausgestellt: „Mit der Durchsetzung dieses sog. Rechtsverweigerungsverbotes wird der direkte Draht, den der Absolutismus durch den voluntativen Gesetzesbegriff samt Interpretations- und Machtspruchsvorbehalt zwischen dem Zentrum der politischen Willensbildung und der Justiz gespannt hatte, wieder gekappt“ (S. 14). Zur Geschichte des Rechtsverweigerungsverbotes siehe Schumann (1968). 10 Heck (1914), S. 163 ff. 11 Guter Überblick bei Rüthers (1967 / 1991), S. 190. 12 Z. B. Ehrlich (1913 / 1989), S. 181 f.; Kantorowicz (1911), S. 265 f. 13 Heck (1914), S. 11 ff. 14 Vgl. auch die Einschätzung von Larenz (1991), S. 119. 2 Rafi

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1. Kap.: Die Ausgangslage

– Voraussetzungen, von denen der Gesetzgeber bei der Gesetzesverabschiedung ausging, fallen später weg. – Normenkollisionen entstehen, bei denen unklar ist, welcher Norm der Vorrang gebührt.15

Der bedeutendste Aspekt war allerdings die Entwicklung der modernen Hermeneutik, die vor allem durch Gadamers Werk16 in der Rechtswissenschaft Beachtung fand. Sein Begriff des „Vorverständnisses“ wurde in den verschiedensten juristischen Werken aufgegriffen17 und besagt, dass das Verständnis eines Textes abhängig ist von dem Vorverständnis des Interpreten. Mit anderen Worten kann der Interpret den Text nur entsprechend seinen Vorkenntnissen verstehen, die wiederum abhängig sind von persönlichen Erfahrungen und Kenntnissen. Damit ist allerdings jegliches Textverständnis immer das subjektive Verständnis des Interpreten. Selbst eine dem Interpreten noch so unproblematisch erscheinende Textstelle wird zu einer Entscheidung, den Text auf diese Weise verstehen zu wollen. So stellt Rupp fest: „Die Bindung des Richters an das Gesetz läßt sich nicht als mechanisch-naturalistische Bindung begreifen. Sie führt deshalb auch nicht zur „objektiven Eindeutigkeit“, sondern, wie die Erfahrung beweist, zu einer weiten Divergenzspanne subjektiver Mehrdeutigkeit.“18

Davor heißt es noch prägnanter: „Wer erwartet, daß der Geltungsanspruch des Gesetzes nach Durchlaufen dieses hochindividualisierten Mediums (d. h. der Richter) noch „Objektivität“ im Sinne überpersonaler Richtigkeit verbirgt, ist entweder naiv, Zyniker oder Phantast.“19

Ebenso sieht es F. Müller, der dem Gesetzestext jeglichen normativen Charakter abspricht und ihn lediglich als „Durchzugsgebiet für konkurrierende Interpretationen“ ansieht.20 Während Forsthoff 1959 aus der Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) bereits den Übergang vom Gesetzesstaat zum Justizstaat zu erkennen glaubte, da die Entscheidungsgewalt wegen Art. 20 III GG nicht mehr dem parlamentarischen Gesetzgeber, sondern in erster Linie dem Richter zukäme21, zeigte die moderne Hermeneutik, dass jegliche Gesetzesauslegung unabVgl. Larenz (1991), S. 120. Gadamer (1960 / 1990), S. 330 ff.: „Zwischen juristischer Hermeneutik und Rechtsdogmatik besteht mithin eine Wechselbeziehung, in der die Hermeneutik den Vorrang hat. Die Idee einer vollkommenen Rechtsdogmatik, durch die jedes Urteil ein bloßer Subsumtionsakt würde, ist unhaltbar“ (S. 335). 17 Vgl. Esser (1972a), S. 136 ff; Rottleutner (1973), S. 32 ff.; Müller (1997), Rdnr. 268 ff.; Larenz / Canaris (1995), S. 27 ff. 18 Rupp (1973), S. 1773. 19 Ebenda. 20 Müller / Christensen (1997), S. 74. 21 Forsthoff (1959), S. 44: „Darüber, wann er an das Gesetz gebunden ist, wann er unter Berufung auf das Recht von der Gesetzgebundenheit frei ist, entscheidet heute der Richter selbst. Diese Tatsache . . . macht die Bundesrepublik zum Justizstaat im prägnanten Sinne.“ 15 16

2. Bisherige Lösungsansätze

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hängig von Art. 20 III GG von dem Vorverständnis des Richters abhängig ist – das Rechtssystem also nicht durch die Gesetze, sondern durch die richterliche (und subjektiv gefärbte) Gesetzesinterpretation entsteht. Durch die Ausweitung des Methodenproblems ist es unmöglich geworden, die Verantwortung des Richters für ein Urteil zu leugnen. Dieses Problem (die Entwicklung hin zum Justizstaat) kann nun auf zwei Weisen angegangen werden: Einerseits kann versucht werden, die Methodenlehre in der Weise weiterzuentwickeln, dass die Entscheidungsmöglichkeiten des Richters auf ein erträgliches Maß eingeschränkt werden. Andererseits kann versucht werden, Kriterien anzugeben, wie der Richter mit seiner Freiheit bzw. Verantwortung umgehen sollte. Im Folgenden soll nun verallgemeinernd dargestellt werden, welche Lösungsansätze es in der heutigen Methodendiskussion gibt.

2. Bisherige Lösungsansätze a) Hierarchiebildung unter den Auslegungskanones Häufig ist der Versuch anzutreffen, durch eine Hierarchie der Auslegungskanones den Interpretationsrahmen des Richters (und damit seine Entscheidungsmöglichkeiten) einzuschränken. Mit „Auslegungskanones“ sind Interpretationsregeln gemeint, die einst von Savigny zusammengetragen wurden22 und heute in leicht veränderter Form fester Bestandteil einer jeden Methodenlehre sind. Die Bezeichnung und Anzahl der einzelnen Kanones ist in der Literatur nicht einheitlich, doch sind es im Wesentlichen die folgenden: – Wortlautauslegung / grammatische Auslegung: Hierbei wird allein der Wortlaut der Norm in Betracht gezogen. Es kommt lediglich auf die Bedeutung der Worte unabhängig von der Entstehungsgeschichte und der systematischen Stellung der Norm an.23 – Systematische Auslegung: Hierbei wird die Stellung der Norm im Gesetzeswerk zu ihrem Verständnis herangezogen. Dabei wird nach einer Interpretation gesucht, die das Gesetzeswerk kohärent erscheinen lässt.24 – Historische Auslegung: Anhand von Motiven, Parlamentsdebatten und Gesetzesentwürfen soll der ursprüngliche Wille des Gesetzgebers bei Schaffung der Norm ermittelt werden und zusammen mit der Entstehungsgeschichte (z. B. OriSavigny (1840), S. 213 f. Vgl. Larenz / Canaris (1995), S. 141 ff. 24 Vgl. Larenz / Canaris (1995), S. 145 ff. Die systematische Auslegung kann wiederum unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welches „System“ zur Interpretation herangezogen wird (nur die vorhergehende Norm, der gesamte Gesetzesabschnitt, das gesamte Gesetz oder die Gesetzesordnung). 22 23

2*

20

1. Kap.: Die Ausgangslage

entierung an historischen Gesetzeswerken) für die Normauslegung ausschlaggebend sein.25 – Teleologische Auslegung: Bei dieser Auslegung wird der Sinn und Zweck der Gesetzesnorm zu ihrem Verständnis herangezogen. Oftmals wird dabei von einer „objektiv-teleologischen“ Auslegung gesprochen, um sie von der historischen Auslegung abzugrenzen, denn mit Sinn und Zweck ist nicht der Zweck gemeint, den der historische Gesetzgeber verfolgte, sondern derjenige, der sich aus dem Gesetzeszusammenhang oder dem „Leben für sich selbst“26 ergibt.27 – Verfassungskonforme Auslegung: Wenn die übrigen Auslegungskanones zu keinem eindeutigen Ergebnis führen, ist die Norm so auszulegen, dass sie nicht gegen die Verfassung verstößt.28 Ob es sich dabei um einen eigenständigen Auslegungskanon handelt, ist umstritten29, spielt jedoch in diesem Zusammenhang keine Rolle.

Relevant ist vielmehr die Frage, ob die Auslegungskanones mehr sind als bloße Topoi, d. h. Gesichtspunkte, die bei der Gesetzesinterpretation herangezogen werden, jedoch kein zwingendes Interpretationsergebnis liefern, sondern lediglich Argumente „auffinden“30 helfen, die eine bestimmte Interpretation plausibel erscheinen lassen. Da die einzelnen Kanones nicht immer zum gleichen Interpretationsergebnis führen, hängt die Möglichkeit, zu einem zwingenden Interpretationsergebnis zu kommen, entscheidend davon ab, ob die Kanones in eine Reihenfolge 25 Vgl. Larenz / Canaris (1995), S. 149 ff. Müller (1997) unterscheidet unter Rd. 350 zwischen der historischen Auslegung, die sich nur auf frühere Normtexte beziehen soll, und der genetischen Auslegung, die anhand von Gesetzesmaterialien und anderen Quellen den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln sucht. Auf diese Unterscheidung kommt es hier nicht an. Soweit die historische Auslegung den Willen des Gesetzgebers zu ermitteln sucht, kommt sie den Vertretern einer subjektiven Auslegung entgegen. Wortlaut- und systematische Auslegung entsprechen den Vertretern einer objektiven Auslegung. Da die Auslegungskanones als zulässige Auslegungskriterien überwiegend anerkannt sind, besteht heutzutage der Unterschied zwischen Vertretern der „objektiven“ und „subjektiven“ Auslegung nur noch in der Gewichtung der einzelnen Gesichtspunkte (siehe auch Koch / Rüßmann (1982), S. 178). Einen guten Überblick über die gängigen Argumente bietet Heck, AcP 1912, S. 67 ff. 26 Vgl. Engisch (1956 / 1997), S. 96, wo er die Zwecke in innerhalb und außerhalb der Rechtssätze liegend unterteilt. Soweit es sich um innere Zwecke handelt, wird die Abgrenzung zur systematischen Auslegung schwierig. Bei äußeren Zwecken kommt es bei „extensiven Interpretationen“ zu einem Abgrenzungsproblem hinsichtlich der Analogie. 27 Vgl. Larenz / Canaris (1995), S. 153 ff. 28 Vgl. Larenz / Canaris (1995), S. 159 ff. 29 Vgl. Bydlinski (1982 / 1991), der die verfassungskonforme Auslegung als Unterpunkt der teleologischen Auslegung behandelt. Für Bettermann (1986) ist die verfassungskonforme Auslegung gar keine Norminterpretation mehr, sondern eine vorgezogene Normkontrolle: „Der verfassungskonformen Auslegung geht es nicht um das Maximum an Normtreue der Auslegung, sondern sie begnügt sich mit dem Maximum ihrer Verfassungstreue“ (S. 22). 30 Ich beziehe mich hierbei auf die Bezeichnung von Cicero (1983), der die Topik als Methode des Auffindens (ars inveniendi) definiert (S. 4 f.).

2. Bisherige Lösungsansätze

21

gebracht werden können, die es erlaubt, den Vorrang der einen vor der anderen Auslegungsregel eindeutig zu bestimmen. Larenz lässt teilweise den Eindruck entstehen, als wäre zunächst nur vom Wortsinn auszugehen. Erst wenn die Wortlautinterpretation nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führe, könnten weitere Kanones herangezogen werden, und zwar in der oben aufgeführten Reihenfolge.31 An anderer Stelle schreibt er jedoch, dass vom Auslegenden zu verlangen sei, „daß er die verschiedenen Auslegungsgesichtspunkte berücksichtigt und daß er begründet, warum er hier diesen und nicht jenen für ausschlaggebend hält.“32 Hierbei spielen wieder alle Auslegungskriterien eine Rolle. Allerdings scheint Larenz dies nur für Fälle in Betracht zu ziehen, in denen „mitunter ein gewisser Beurteilungsspielraum“ verbleibt.33 Wenn er diese jedoch als Grenzfälle beschreibt, so überschätzt er die Leistung der Auslegungskanones gewaltig. Jedenfalls irrt Larenz, wenn er annimmt, es könne unabhängig von anderen Auslegungskanones festgestellt werden, ob der Wortsinn eindeutig sei.34 Zur Veranschaulichung sei ein Beispiel von Larenz erwähnt: „Nach den §§ 987 ff. BGB hat der gutgläubige Besitzer die von ihm vor dem Eintritt der Rechtshängigkeit des Herausgabeanspruchs gezogenen Nutzen, außer „Übermaßfrüchten“, nur dann herauszugeben, wenn er den Besitz unentgeltlich erlangt hatte, und zwar nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 988, 993 I BGB). Der gutgläubige Besitzer, der den Besitz entgeltlich erlangt hat, kann also die von ihm gezogenen Nutzungen behalten. Dagegen bestimmt § 818 I BGB über den Umfang des Bereicherungsanspruchs, daß sich die Verpflichtung zur Herausgabe des Erlangten auch auf die gezogenen Nutzungen erstreckt. Hat also der gutgläubige Besitzer aufgrund eines nichtigen Kaufvertrages sowohl den Besitz, wie . . . das Eigentum an der Sache erlangt, so unterliegt er dem Bereicherungsanspruch und damit auch der Pflicht zur Herausgabe der von ihm gezogenen Nutzungen gemäß § 818 I BGB. War dagegen nicht nur der Kaufvertrag, sondern auch die Übereignung nichtig, so würde er die Nutzungen behalten können ( . . . ). Der Besitzer, der, obwohl rechtsgrundlos, immerhin zunächst das Eigentum erlangt hat, würde also hinsichtlich der Herausgabe der Nutzungen schlechter stehen als ein Besitzer, der ohne rechtlichen Grund den Besitz und nicht einmal das Eigentum erlangt hat.“35

Dieses Beispiel führt Larenz an, um die Notwendigkeit einer teleologischen Auslegung darzustellen. Wenn aber zunächst vom Wortlaut ausgegangen werden soll, kommt man zur teleologischen Auslegung erst, wenn dieser unklar ist. Ob der Wortlaut unklar ist, kann jedoch nur unter Berücksichtigung der Gesetzeswertung Larenz / Canaris (1995), S. 163 ff. Ebenda, S. 167. 33 Ebenda, S. 167. 34 Ob Larenz das wirklich so sieht, bleibt unklar. Auf Seite 163 f. scheint er klar von einer zeitlichen und normativen Rangfolge auszugehen, doch dem widerspricht der Verweis auf Friedrich Müller (S. 149). Insofern hat Larenz selbst ein gutes Beispiel für das Phänomen geschaffen, dass ein eindeutig erscheinender Wortsinn erst bei einer systematischen Betrachtung seine Eindeutigkeit verliert. 35 Larenz / Canaris (1995), S. 156. 31 32

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1. Kap.: Die Ausgangslage

und des Gesetzessystems beurteilt werden, wie dieses Beispiel deutlich macht: Der Wortlaut der §§ 987 ff. erscheint nur deshalb unklar, weil er zu Wertungswidersprüchen mit dem Bereicherungsrecht führt. Es ist demnach unmöglich, die einzelnen Auslegungskriterien voneinander zu trennen.36 Die Unmöglichkeit der Trennung wird auch von Bydlinski unterschätzt, wenn er versucht, eine Hierarchie nach dem Kriterium des geringsten Argumentationsaufwandes in die Auslegungkanones zu bringen. Hierbei geht er davon aus, dass die Wortlautauslegung den geringsten Argumentationsaufwand benötigt. Erst wenn auf dieser Stufe keine Problemlösung gewährleistet ist, soll auf eine aufwändigere Auslegungsmethode zurückgegriffen werden. Eine Problemlösung ist auf der ersten Stufe nicht erreicht, wenn entweder der Wortlaut mehrdeutig ist oder der Wortlaut zwar eindeutig ist, jedoch im Widerspruch zur Rechtsidee steht.37 Soweit er auf eine vorpositivistische Rechtsidee zurückgreift, geht er bereits über eine aus den Auslegungskanones begründbare Methode hinaus.38 Aber auch die Annahme, die Eindeutigkeit des Wortlautes könne ohne systematisches Verständnis oder historische Kenntnis festgestellt werden, ist unberechtigt. Der Wortlaut von § 433 I 1 BGB ist nur dann eindeutig, wenn „die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen“ eindeutig geregelt ist. Dies erfordert eine Kenntnis der §§ 929 ff. BGB, weshalb § 433 I 1 BGB nur im systematischen Gesetzeszusammenhang einen „eindeutigen“ Wortlaut haben kann. Das Wort „Reichsbehörden“ in § 981 I BGB kann nur mit historischem Verständnis als eindeutig bezeichnet werden. Die Auslegungsregeln lassen sich demnach gar nicht voneinander getrennt anwenden. Ein Wortsinn ist nur dann eindeutig, wenn er sich in den übrigen Gesetzestext systematisch einfügt, dem immer auch historischen Vorverständnis des Interpreten angepasst werden kann und wenn er nicht zu absurden Ergebnissen führt. Diese Probleme deuten sich bei Bydlinski am Ende seiner Ausführungen über die „Rangtheorie“ der juristischen Methoden auch an: „Deuten z. B. die sprachliche, die logisch- systematische und die historische Auslegung in unterschiedliche Richtungen, so werden auffindbare „objektiv- teleologische“ Kriterien zugunsten einer dieser Möglichkeiten den Ausschlag geben.“39

Ob die einzelnen Auslegungsregeln jedoch in unterschiedliche Richtungen weisen, kann erst dann erkannt werden, wenn sie alle erwogen werden. Dies kann jedoch nicht zu der von Bydlinski erstrebten Vereinfachung der Argumentation führen – zumindest nicht in dem Sinne, dass es ausreicht, in „einfachen“ Fällen nur eine Auslegungsregel zu beachten.

36 Vgl. auch F. Müller (1997), Rd. 359; Busse (1992), S. 24. Selbst Savigny ging davon aus, dass die Auslegungsarten „vereint wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll“ (Savigny (1840), S. 215). 37 Bydlinski (1982 / 1991), S. 561. 38 Siehe dazu unter 2. c). 39 Bydlinski (1982 / 1991), S. 565.

2. Bisherige Lösungsansätze

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Aus demselben Grunde kann auch die Auffassung von Koch und Rüßmann nicht überzeugen, dass sich staatstheoretisch folgende Reihenfolge begründen ließe: „– Soweit der Wortsinn einer gesetzlichen Vorschrift eindeutig ist, darf er nicht durch Berücksichtigung der anderen Auslegungsziele korrigiert werden. ( . . . ) – Sofern der Wortsinn unbestimmt ist, so daß insoweit über die Anwendung des Gesetzes auf bestimmte Fälle nicht entschieden werden kann, ist auf die gesetzgeberischen Zweckvorstellungen zurückzugreifen. ( . . . ) – Sofern auch durch Beachtung der gesetzgeberischen Zweckvorstellungen eine Entscheidung nicht getroffen werden kann, ist die semantische Interpretation des Gesetzes im Lichte „vernünftiger“ Zwecke zu ergänzen. ( . . . )“40

Der Wortsinn kann aber nur im Verhältnis zu den gesetzgeberischen Zweckvorstellungen als eindeutig / uneindeutig bezeichnet werden: § 275 I BGB a. F. war z. B. klar gefasst, wenn der Gesetzgeber41 den Schuldner von einer unmöglich gewordenen Leistungspflicht unter bestimmten Umständen befreien wollte. Wollte er den Schuldner jedoch von jeglicher Leistungspflicht befreien, so hat er dies durch den Zusatz „den er nicht zu vertreten hat“ nicht deutlich gemacht. Der Zusammenhang von Zweckvorstellung und Wortsinn ist auch im Alltag oft anzutreffen in der Formulierung: „Ja, wenn du es so gemeint hast, dann hast du dich nicht klar ausgedrückt!“ Wenn die Auslegungsregeln nun nicht getrennt angewandt werden können, so wäre noch an eine unterschiedliche Gewichtung der Regeln zu denken. In der Tat werden die mittels der Auslegungsregeln gewonnenen Argumente auch von Fall zu Fall unterschiedlich gewichtet. Eine solche Gewichtung ist jedoch nicht mittels der Auslegungsregeln logisch begründbar. Schon Savigny schrieb: Von den Auslegungsregeln „wird freylich bald die eine, bald die andere wichtiger seyn und sichtbarer hervortreten, so daß nur die stete Richtung der Aufmerksamkeit nach allen diesen Seiten unerläßlich ist, wenngleich in vielen einzelnen Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieser Elemente als unnütz und schwerfällig unterlassen werden kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.“42

Eine Gewichtung ist deshalb zum Scheitern verurteilt, weil jede einseitige Bevorzugung einer Auslegungsregel einer Rechtfertigung bedarf, die nicht durch die Auslegungskanones erbracht werden kann.43 Wie aber nun zu ermitteln ist, welche Koch / Rüßmann (1982), S. 182. Es sei hier einmal angenommen, es gebe „den Gesetzgeber“, obwohl das Parlament aus vielen Individuen besteht. 42 Savigny (1840), S. 215. 43 Vgl. Kriele (1967), S. 85 ff. Auch Enneccerus / Nipperdey (1959) warnen vor einer einseitigen Auslegung: „Einseitige Bevorzugung von Wortlaut und Sprachgebrauch führt zu Wortinterpretationen und Formalismus, dem Todfeinde wahrer Rechtswissenschaft, zu starke Betonung der systematischen und historischen Gründe zum Stillstand, allzu ausschließliche Berücksichtigung des Ergebnisses zu unsicherer, schwankender Rechtsprechung. Die wahre 40 41

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1. Kap.: Die Ausgangslage

Auslegungsregel wann hervorzutreten hat, lässt sich nach Savigny „nicht durch Regeln mitteilen oder erwerben.“44 Insoweit hätte Savigny wohl auch Müller zugestimmt, dass die Auslegungskanones „im formallogischen Sinne nicht systematisierbar“ sind.45 Dann sind die Auslegungskanones jedoch nur eine Hilfe, die notwendigen Gesichtspunkte bei der Gesetzesauslegung im Blick zu behalten, um gute Argumente für eine Gesetzesinterpretation zu finden. Welches Argument letztendlich Vorrang haben soll, kann mit den Auslegungskanones nicht beurteilt werden. Demnach wird der Interpretationsrahmen des Richters auch nicht durch sie eingeschränkt. Man könnte eine Einschränkung höchstens in dem Sinne annehmen, dass ein Rahmen für zulässige Argumente geschaffen wird. Allerdings ist dieser Rahmen mit den weit gefassten Auslegungskriterien zu grob, um eine Einschränkung zu gewährleisten, die den Richter auf ein bestimmtes Urteil festlegen könnte. Ferner ist auch fraglich, ob die Auslegungskanones die Argumentationsmöglichkeiten des Richters abschließen sollen. Angesichts der immer wieder diskutierten Frage, ob Rechtsentscheidungen contra legem zulässig seien und angesichts der Vielzahl von anerkannten Rechtsinstituten, die unabhängig vom Gesetzeswortlaut (allenfalls in Anlehnung an diesen) entwickelt wurden (wie beispielsweise die positive Forderungsverletzung oder die Grundsätze vom Wegfall der Geschäftsgrundlage, die erst neuerdings positiv rechtlich in §§ 280 f., 313 BGB geregelt sind), kann davon nicht ausgegangen werden.

b) Materiale Wertethik Die Auslegungskanones können den Entscheidungsspielraum des Richters nicht einschränken. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn nach anderen Wegen gesucht wurde, um die Entscheidungsmöglichkeiten des Richters einzuschränken. Ein Versuch war die Annahme einer materialen Wertordung, d. h. der Annahme, dass Werte ähnlich wie die platonischen Ideen a priori gegeben sind und in einem Rangverhältnis zueinander stehen.46 Gäbe es eine solche Wertordnung, könnte sie dem Richter einen Anhaltspunkt für die richtige Rechtsanwendung bieten.47 Sowohl Scheler als auch Hartmann müssen bei ihrer Annahme einer Wertordnung Kunst der Auslegung beruht auf einer richtigen Abwägung aller Auslegungsgesichtspunkte“ (S. 335). 44 Savigny (1840), S. 211. 45 F. Müller (1997), Rd. 95. 46 Vgl. Scheler (1916 / 1954), S. 107 ff. Zwar kann der Begriff des „Vorziehens“ zur Annahme verleiten, Scheler meine eine subjektive Präferenz, doch stellt er klar, dass „die ,Rangordnung der Werte’ selbst etwas absolut Invariables“ sei (S. 108). Bei Hartmann (1949) ist der Bezug zu Platon zu finden (S. 120). 47 Vgl. auch Welzel (1951 / 1990), der die Suche nach „bleibenden materialen Rechtsgrundsätzen nicht trivialen Inhalts“ sicher zu recht als Gegenbewegung zu einem Nachkriegsnihilismus der späten vierziger Jahre versteht und die Ethik von Hartmann dafür für besonders geeignet hält (S. 219 f.).

2. Bisherige Lösungsansätze

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letztlich davon ausgehen, dass dem Menschen diese Werte intuitiv einsehbar sind.48 Ein solcher Intuitionismus ist für die Jurisprudenz jedoch nur dann brauchbar, wenn (a) eine materiale Wertordung bestände und (b) diese tatsächlich intuitiv erfassbar wäre. Zumindest die zweite Voraussetzung ist jedoch nicht gegeben, da „verschiedene Menschen verschiedene Evidenzen erleben“ und der Intuitionismus „kein Kriterium für richtige und falsche, echte und unechte Evidenzen liefert.“49 Demnach kann die materiale Wertethik nicht für eine Einschränkung der richterlichen Entscheidungsmöglichkeiten genutzt werden.

c) Aus dem Recht gewonnene Werte Wenn Werte schon nicht a priori gegeben oder zumindest nicht a priori erkennbar sind, so liegt es nahe, Werte aus der Rechtsidee selbst zu entwickeln, an denen sich der Richter bei der Rechtsanwendung zu orientieren habe. Bisher ist es jedoch nicht gelungen, die Rechtsidee überzeugend auf einen Wert zu reduzieren. Zumeist wird sie verstanden als ein Spannungsverhältnis zwischen drei Werten, der Rechtssicherheit, der Zweckmäßigkeit und der Gerechtigkeit.50 Das Problem ist, dass keinem dieser Werte ein genereller Vorrang eingeräumt werden kann, denn wird einseitig auf die Zweckmäßigkeit abgestellt, führt dies zu einem Polizeistaat, nur der Gerechtigkeitsaspekt führt zu der Rechtsunsicherheit einer Naturrechtsordnung und die Rechtssicherheit allein zu einem Gesetzespositivismus, der jegliche Rechtsentwicklung hemmt.51 Wenn aber alle drei Werte gleichrangig sind, stellt sich die Frage, wie zwischen ihnen abgewogen werden muss, wenn sie in Konflikt zueinander geraten. Radbruchs Hinweis erscheint für eine nachvollziehbare Begründung nicht sehr vielversprechend: „Die drei Seiten der Rechtsidee sind gleichwertig, und in Fällen eines Widerstreits gibt es zwischen ihnen keine Entscheidung als die des Einzelgewissens.“52 So erstaunt es auch nicht, dass Henkel nach einer 48 Scheler (1916 / 1954), S. 110: „Es ist hiernach klar, daß die Rangordnung der Werte niemals deduziert oder abgeleitet werden kann. Welcher Wert der ,höhere’ ist, daß ist immer neu zu erfassen durch den Akt des Vorziehens und Nachsetzens. Es gibt hierfür eine intuitive ,Vorzugsevidenz’, die durch keinerlei logische Deduktion zu ersetzen ist.“ Hartmann (1949), S. 121: „Das Platonische Motiv des ,Schauens’ gerade paßt gut auf das, was die materialen Ethik ,Wertfühlen’ nennt, auf das, was sich in Akten der Stellungnahme, Billigung, Gesinnung dokumentiert. Das Wertfühlen des Menschen ist die Ankündigung des Seins der Werte im Subjekt, und zwar gerade ihrer eigentümlichen, ideenhaften Seinsweise. Die Apriorität des Wissens um sie ist keine intellektuelle, reflexive, sondern eine emotionale, intuitive.“ 49 Alexy (1983 / 1991), S. 59 f. m. w. N. Auch Alexy hält dies für das stärkste Argument gegen den Intuitionismus. 50 Vgl. Radbruch (1932), S. 73 ff.; Henkel (1977), S. 445 (stark orientiert an Radbruch); Bydlinski (1982 / 1991), S. 317; Alexy (1992), S. 29, wobei Alexy hierbei die inhaltliche Richtigkeit statt Gerechtigkeit, ordnungsgemäße Gesetztheit statt Rechtssicherheit und soziale Wirksamkeit statt Zweckmäßigkeit nennt; Dreier (1986), S. 896. 51 Vgl. Radbruch (1932), S. 77. 52 Radbruch (1932), S. 84.

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1. Kap.: Die Ausgangslage

ausführlichen Darstellung der möglichen Spannungsfälle zwischen Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit zu dem Schluss kommt, dass deren Spannungen und Widersprüche nicht aus sich selbst heraus behoben werden können.53 Um ein Prinzip zu finden, nach dem zwischen den drei Aspekten der Rechtsidee abgewogen werden kann, verlässt er nach seinen eigenen Worten den rechtlichen Bereich.54 Wie Bydlinski die Wertung zwischen den einzelnen Aspekten der Rechtsidee vornehmen möchte, bleibt unklar. Zwar erkennt er die Polarität zwischen den drei Aspekten an (und zitiert dabei sogar Henkel), doch bleibt er eine Antwort darauf schuldig, nach welchen Kriterien er die widersprüchlichen Tendenzen in ein „angemessenes Verhältnis“ bringen möchte.55 Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass eine vorpositivistische Rechtsidee aus den genannten drei Aspekten besteht, müßte ein Kriterium gefunden werden, nach dem diese drei Aspekte zu gewichten sind, um die richterlichen Entscheidungsmöglichkeiten einzugrenzen.

d) Eine aus Prinzipien gewonnene Wertehierarchie Dworkin meint, bei der Eingrenzung des richterlichen Entscheidungsspielraumes auf „außerrechtliche“ Kriterien verzichten zu können. Dies freilich nur unter der Voraussetzung, dass die „außerrechtlichen“ Kriterien in das Recht integriert werden. Dworkin geht davon aus, es gebe zu jedem Fall eine richtige Entscheidung. Um in jedem Fall eine richtige Entscheidung zu gewährleisten, muss das Recht lückenlos sein. Die Lückenlosigkeit des Rechts glaubt Dworkin durch die Einführung von Prinzipien zu erreichen, welche im Gegensatz zu Regeln nicht auf einen Fall entweder anwendbar oder unanwendbar sind, sondern Gesichtspunkte darstellen, die entsprechend ihrer Bedeutung im einzelnen Fall berücksichtigt werden müssen.56 Wie diese Prinzipien zu gewichten sind, ergibt sich nach Dworkin aus einer Interpretation des Rechts nach dem Prinzip der Integrität, d. h. der Forderung, dass der Staat nach einer einzigen kohärenten Prinzipienordnung handelt.57 Diese Prinzipienordnung ist eine Ordnung, die alle vorhandenen Rechtsregeln und Henkel (1977), S. 457. Henkel (1977), S. 457 f.: „Daraus ergibt sich, daß die dem Rechtsgedanken immanenten, in der Rechtsidee enthaltenen Ziele, Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit, Rechtssicherheit, so ungemein wichtig sie auch für alle Rechtsgestaltung sind, nicht die letzten Ziele des Rechts sein können. Es muß darüber hinaus noch eine letzte Zweck- und Wertidee geben, welche oberhalb des rechtlichen Bereichs liegt, nämlich im Ziel oder Zweck des Soziallebens und der Sozialordnung überhaupt.“ 55 Bydlinski (1982 / 1991), S. 321. 56 Dworkin (1978 / 1990), S. 58 f., 61 f. Vgl. auch Alexy (1985), S. 15 f. 57 Dworkin (1986), S. 166: „Integrity becomes a political ideal when we make the same demand of the state or community taken to be a moral agent, when we insist that the state act on a single, coherent set of principles even when its citizens are devided about what the right principles of justice and fairness really are.“ 53 54

2. Bisherige Lösungsansätze

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Präjudizien am besten zu rechtfertigen vermag.58 Eine solche Ordnung festzustellen, sei mit menschlichen Fähigkeiten zwar nicht zu bewerkstelligen, doch ein Richter als Halbgott (Herkules) könne eine solche Ordnung finden und die einzig richtige Falllösung ermitteln.59 In den Analysen von Dworkins Rechtstheorie wird häufig getrennt zwischen der rights thesis und der right answer thesis: Während die rights thesis besagt, dass Gerichtsentscheidungen existierende politische Rechte durchsetzen60, der Richter also keine Rechte schafft, sondern bereits existierende findet, geht die right answer thesis über „das Dogma der Geschlossenheit des Rechts hinaus, wenn dieses bedeutet, dass auf jede rechtliche Frage auch eine rechtliche Antwort möglich sein muss. Denn sie behauptet nicht nur die Möglichkeit einer rechtlichen Antwort, sondern einer allein richtigen Antwort.“61 Betrachtet man hingegen die normative Begründung der rights thesis,62 so ist die right answer thesis lediglich eine konsequente Weiterführung der Urteilslegitimation: Nach Dworkin ist die rights thesis eine erforderliche Annahme, um Zwangsgewalt (coercive forces) demokratisch zu rechtfertigen, denn nur wenn das Recht in sich geschlossen ist, könne sich der Bürger als Autor des Rechts (nach dem Kantischen Ideal der Selbstgesetzgebung) verstehen.63 Das Prinzip der Selbstgesetzgebung bezieht seine moralische Legitimation aus dem Grundsatz des volenti non fit injuria.64 Dieser Grundsatz wäre jedoch verletzt, wenn das Recht einem Richter die Möglichkeit belassen würde, zwischen zwei unterschiedlichen Urteilen frei (= willkürlich) zu entscheiden, denn in diesem Fall würde dieses Urteil auf der Entscheidung (und damit dem Willen) des Richters beruhen und nicht mehr auf dem durch die Gesetze vermittelten Willen des Klägers und Beklagten. Andererseits wäre das Recht ohne die right answer thesis inDworkin (1978 / 1990), S. 122. Ebenda, S. 182 ff, 213; Dworkin (1986), S. 245. 60 Bittner (1988), S. 119. 61 Bittner (1988), S. 215. 62 Die deskriptive Begründung besteht darin, dass Dworkin meint, Richter würden stets in principles und nicht in policies argumentieren, d. h. sie gingen davon aus, dass sie keine Rechte erfänden, sondern nur im Rechtssystem auffänden (also keine gesetzgeberische Funktion übernähmen) (Dworkin (1978 / 1990), S. 173). Ist diese These als Beschreibung der richterlichen Praxis gemeint, so muss sie die Formulierung von Richtern ignorieren, die sich teilweise auf policies berufen (z. B. Home Office v. Dorset Yacht: „It will be apparent that I agree with Lord Denning M. R. that what we are concerned with in that appeal ‘is . . . at bottom a matter of public policy which we, as judges, must resolve.’“ (2All ER 294, zitiert nach Weir, S. 92). Tatsächlich hält Dworkin die Formulierung der Richter für unbeachtlich (Dworkin (1978 / 1990), S. 151 f.), wodurch er den deskriptiven Aspekt seiner rights thesis soweit gegen Kritik immunisiert, dass sie kaum noch falsifizierbar ist (vgl. auch Bittner, S. 199). Damit wird sie jedoch auch wissenschaftlich uninteressant. 63 Dworkin (1986), S. 189: „Kant and Rousseau based their conceptions of freedom on this ideal of self legislation. The ideal needs integrity, however, for a citizen cannot treat himself as the author of a collection of laws that are inconsistent in principle, nor can he see that collection as sponsored by any Rousseauian general will.“ 64 Vgl. Kersting (1994), S. 205. 58 59

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1. Kap.: Die Ausgangslage

sofern lückenhaft, als es dem Richter zwar für jeden Fall die Möglichkeit von verschiedenen rechtlichen Lösungen bereitstellen würde, ihm aber keine Kriterien bieten könnte, nach denen eine der Lösungen vom Richter als vorzugswürdig zu betrachten wäre. Insofern ist es auch müßig, Dworkins Argumentation nach beiden Thesen zu trennen. Wie aber begründet Dworkin seine Thesen? Leider bleiben seine Thesen lediglich Behauptungen, die postuliert, aber nicht begründet werden.65 Sie beruhen auf der Annahme, dass diese Thesen rechtliche Urteile am besten legitimieren. Insofern unterläuft ihm jedoch ein umgekehrter naturalistischer Fehlschluss: Weil rechtliche Urteile demokratisch legitimiert sein sollen, sind sie es. Dworkins Glaube, es gebe zu jedem rechtlichen Problem exakt eine richtige Entscheidung, beruht auf einer Verbindung von Recht und Moral und der Ablehnung des moralischen Skeptizismus66: So wie Romane nach einem ästhetischen Maßstab interpretiert werden sollten, würde das Recht nach einem moralischen Maßstab interpretiert werden.67 Dabei soll es jeweils nur eine Interpretation geben, die einem literarischen Werk den höchsten ästhetischen Wert bzw. einem Rechtssystem68 die höchste moralische Legitimation zuspricht.69 Dass es wirklich nur eine richtige Interpretation gibt, kann von Dworkin natürlich nicht bewiesen werden, denn es erfordert ja übermenschliche Kräfte, diese Interpretation zu finden. Kann man sie zumindest falsifizieren? Am Ende seines Aufsatzes „Is There Really No Right Answer in Hard Cases?“ bestimmt er Kriterien für eine Falsifikation: „It (the argument that I am wrong (A.R.)) must challenge my assumption that in a complex and comprehensive legal system it is antecedently unlikely that two theories will differ sufficiently to demand different answers in some case and yet provide equally good fit with the relevant legal materials. It must provide and defend some idea of scepticism, or of indeterminacy in moral theory, which makes it plausible to suppose that neither of such theories can be preferred to the other on grounds of political morality.“70 65 Siehe Dworkin (1978 / 1990), S. 150 f.; Dworkin (1985), S. 145; Dworkin (1986), S. 191 f.; vgl. auch die Einschätzung von Bittner (1988), S. 216 f. 66 Vgl. Dworkin (1986), S. 261 f.; Bittner (1988), S. 215 f. 67 Vgl. Strolz (1991), S. 113. Diese griffige Formulierung verkürzt die Theorie von Dworkin etwas, da das Recht nicht ausschließlich nach moralischen Gesichtspunkten, sondern auch nach dem Kriterium interpretiert werden soll, ob die Interpretation sich in das durch Präjudizien geschaffene System integrieren lässt (criteria of fit, Dworkin (1986), S. 250 f.). Dieser Aspekt kann hier jedoch unbeachtet bleiben, da er sich in erster Linie auf das Fallrechtssystem bezieht. Will man diesen Aspekt auf unser Rechtssystem übertragen, so würde verlangt werden, dass ein Urteil zunächst den Gesetzen entsprechen soll. Sollte es dann noch Unklarheiten geben, müsse die Moral herangezogen werden. Nun geht es aber in der Methodendiskussion hauptsächlich um die Frage, wann ein Urteil den Gesetzen entspricht – also um die Frage, die Dworkin nach moralischen Aspekten beantworten möchte. 68 In dem Systembegriff ist bereits das Kriterium der Kohärenz (der Integrierbarkeit der Entscheidung in das System) enthalten. 69 Dworkin (1986), S. 83 f. 70 Dworkin (1985), S. 145.

2. Bisherige Lösungsansätze

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Es gibt mehrere Arbeiten, in denen aufgezeigt wird, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um Werturteile zu rationalisieren. Kutschera zeigt beispielsweise anschaulich, welche Fülle von Informationen notwendig ist, um selbst triviale Entscheidungen treffen zu können.71 Selbst wenn individuelle bzw. gesellschaftliche Präferenzen festgestellt und metrisiert werden könnten, bliebe ein dezisionistischer Rest hinsichtlich der subjektiven Wahrscheinlichkeiten.72 Auch andere Arbeiten kommen zu dem klaren Ergebnis, dass ein Werturteil immer dezisionistische Elemente beinhaltet.73 Aber selbst wenn Dworkin sich von diesen Ergebnissen unbeeindruckt zeigt und behauptet, dass diese Ergebnisse nur darstellten, wie schwer das Auffinden der einen richtigen Antwort sei und dass deswegen ein Herkules von Nöten sei, um sie zu ermitteln, so stellt sich doch die Frage nach dem Nutzen seiner Theorie. Wenn er meint, eine einzig richtige Antwort sei notwendig, um dem Urteil Legitimation zu verleihen, so spricht er allen Urteilen die Legitimation ab, die nicht von einem Herkules verfasst wurden. Solange Richter nicht die Fähigkeiten von Herkules haben bzw. Herkules nicht Richter ist, kann Dworkin die Legitimation richterlicher Urteile nicht mit der right answer thesis begründen.74

e) Konsens Alle bisherigen Ansätze in der Methodenlehre konnten den Richter nicht von der Übernahme eigener Verantwortung für das Urteil befreien: Zwar ist der Richter Kutschera (1973), S. 104. Ebenda, S. 124. 73 Hubmann (1956) kommt zu dem Schluss: „Die aufgezählten Grundsätze der Interessenabwägung und Konfliktlösung ergeben natürlich keine schematische oder rein vernunftmäßige Vorausberechenbarkeit der Entscheidung“ (S. 133). Alexy (1985) kommt bei der Analyse von Dworkin zu dem Ergebnis: „Als unmöglich erwies sich eine Prinzipientheorie, die in jedem Fall genau eine richtige Entscheidung festlegt, und zwar nicht allein wegen der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens, die ein Dworkinscher Herkules . . . überwinden könnte, sondern auch aus im weiteren Sinne logischen Gründen“ (S. 28). Allerdings geht Alexy in diesem Aufsatz davon aus, dass Rationalität diskursiv erreicht werden könne (S. 29). Hart (1961 / 1994) stellt fest: „Only if for all such cases there was always to be found in the existing law some unique set of higher-order principles assigning relative weights or priorities to such competing lower-order principles, would the moment of judicial law-making not merely deferred but eliminated“ (S. 275). Letztendlich finden sich bei Dworkin selbst Passagen, welche die Richtigkeit seiner Annahme einer einzig richtigen Lösung unwahrscheinlich werden lassen: „Wenn Prinzipen sich schneiden, muß derjenige, der den Konflikt auflösen muß, das relative Gewicht der beiden Prinzipien berücksichtigen. Natürlich kann es sich dabei nicht um eine exakte Messung handeln, und das Urteil, daß ein bestimmtes Prinzip oder eine bestimmte Zielsetzung wichtiger ist als ein anderes, wird oft kontrovers sein.“ (Dworkin (1978 / 1990), S. 62). 74 Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt ist sein Versuch, rechtliche Interpretation auf moralische Begründungen zu stützen. Da die Frage der Trennung von Recht und Moral im Rahmen des Möglichen bei der Ablehnung der Schaffung von Gerechtigkeit als Prozeßziel ausführlich behandeln wird, kann die Diskussion hier ausgespart und nach unten verwiesen werden [2. Kapitel 3. a)]; siehe auch 3. und 4. Kapitel. 71 72

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1. Kap.: Die Ausgangslage

nicht für den Gesetzestext verantwortlich, doch kann das Urteil nicht allein aus dem Gesetzestext gewonnen werden, denn Textverständnis erfordert immer auch Textinterpretation. Werden für diese Textinterpretation die Auslegungskanones herangezogen, so führen die einzelnen Interpretationsregeln häufig zu widersprüchlichen Ergebnissen, so dass die Auslegungskanones dem Richter nur dann eine Urteilslegitimation bieten könnten, wenn es möglich wäre, die Interpretationsregeln nach einer logisch oder gesetzlich legitimierten Regel in ein Vorrangsverhältnis zu bringen. Dies ist jedoch schon deshalb nicht möglich, weil sich die Interpretationsregeln gegenseitig ergänzen und die separate Anwendung einer einzigen Interpretationsregel nicht möglich ist. Da weder eine materiale Werteordnung die richterliche Entscheidung zu rechtfertigen vermag noch aus der Rechtsidee selbst eine Werteordnung entwickelt werden kann, wird versucht, das Urteil mit dem in der Ethik anerkannten Grundsatz „volenti non fit injuria“ zu rechtfertigen. Der Versuch Dworkins, die demokratietheoretische Legitimation der Gesetze auf Urteile zu erstrecken, indem er annimmt, die Abwägung von Prinzipien führe vor dem Hintergrund der „gegebenen“ Moralvorstellungen zu einem stets eindeutigen Ergebnis, konnte nicht überzeugen. Wenn der Richter jedoch zu dem Gesetzestext noch weitere Prämissen hinzuziehen muss, um zu einer Entscheidung zu gelangen, könnte er diese hinzugezogenen Prämissen mit einem Konsens legitimieren, denn wo Konsens besteht, kann niemandem Unrecht geschehen (volenti non fit injuria). Hieran knüpfen sich folgende Fragen: Wann besteht Konsens? Zwischen wem muss der Konsens bestehen? Wie wird der Konsens ermittelt? Kommt immer ein Konsens zustande? Worüber muss Konsens bestehen? aa) Wann besteht Konsens? Aus dem Vertragsrecht ist bekannt, dass Konsens dann besteht, wenn übereinstimmende Willenserklärungen vorliegen. Es ist jedoch darüber hinaus bekannt, dass eine Willenserklärung nur dann Rechtskraft entfaltet, wenn der Erklärende fähig war, einen eigenen Willen zu bilden, denn wie die Bezeichnung „Willenserklärung“ schon verdeutlicht, hat die Erklärung Rechtsgeltung, „weil sie auf dem Willen beruht.“75 Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn der Erklärende zu jung für eine eigene Willensbildung ist (§§ 104 ff. BGB) oder zur Abgabe der Willenserklärung durch Täuschung, Drohung oder Ausnutzung einer Zwangslage verleitet wurde (§§ 12376, 138 BGB). Dementsprechend kann auch nicht von einem Medicus (1993), Rdnr. 122. Der spitzfindige Dogmatiker mag im Falle des § 123 BGB einwenden, dass die Willenserklärung trotz Drohung oder arglistiger Täuschung sehr wohl Rechtskraft entfaltet, solange sie nicht angefochten ist. Das ist zweifellos richtig, doch kommt es hier darauf an, dass § 123 BGB die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit schützen soll – d. h. es wird angenommen, dass die Erklärung im Falle des § 123 BGB nicht frei gegeben wurde (Palandt / Heinrichs § 123 Rdnr. 1). 75 76

2. Bisherige Lösungsansätze

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Konsens gesprochen werden, wenn die Zustimmung der anderen Diskussionsteilnehmer durch Drohung oder Informationsvorenthaltung, Demagogie oder Autoritätshörigkeit erreicht wird. Deshalb wurde von einigen Autoren der Versuch unternommen, Kriterien aufzustellen, die erfüllt werden müssten, um ein im Diskussionsprozess erlangtes Ergebnis einen Konsens nennen zu können.77 Diese Regeln sind inhaltlich noch unbestimmt und sollen lediglich den Prozess bestimmen, welcher den Konsens herbeiführen soll. Werden diese Regeln eingehalten, so könne dem erlangten Konsens Legitimation zugesprochen werden, da er dem Willen der Beteiligten entspreche78, wobei zu beachten ist, dass hierbei nicht irgendein Wille gemeint ist: Es geht nicht um das Finden eines Kompromisses, dem zugestimmt wird, weil er dem nicht durchsetzbaren eigenen Willen noch am ehesten entspricht, sondern um das Finden der wahren gemeinsamen Interessen – also den gemeinsamen Willen.79 Problematisch hierbei ist, dass einige der Diskursvoraussetzungen80 idealistischer Natur sind und nur annäherungsweise erfüllt werden können.81 Insofern können die Diskursregeln nur eine Normkritik bilden, indem die Entstehungsweise der Norm an den Diskursbedingungen gemessen wird – sie können allerdings kein eindeutiges Ergebnis gewährleisten.82 Deshalb ist ein erreichter Konsens auch nur eine Annäherung an die Verwirklichung des volenti non fit injuria. Habermas geht zwar davon aus, dass die prozessualen Regeln im Gerichtsverfahren sich den idealen Diskursvoraussetzungen annähern, da sie Unbeteiligten eine rationale Überprüfung der Entscheidung anhand von Verfahrensregeln ermöglichen83, Siehe etwa den ausführlichen Katalog bei Alexy (1983 / 1991), S. 361 ff. Siehe Alexy (1993), S. 14 ff., der die Regel aufstellt, dass eine Norm nur dann Zustimmung findet, „wenn die Konsequenz ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen von allen aufgrund von Argumenten akzeptiert werden kann“ (S. 16). 79 Habermas (1983), S. 82 f.; Alexy (1983 / 1991) S. 404 ff. Alexy unterscheidet hierbei zwischen Willens- und Urteilsbildung: „Es ist möglich und vielleicht nicht einmal selten, daß jemand zwar urteilt, daß ein bestimmter Interessenausgleich gerecht wäre, aber dennoch nicht bereit ist, gemäß dieser Einsicht zu handeln, also seinen Willen an seinem Urteil über das, was gerecht ist, zu orientieren“ (S. 407). Diese Unterscheidung bedeutet jedoch nicht, dass die aufgestellten Diskussionsregeln nicht mehr am Willen der Diskussionsteilnehmer orientiert sind. Vielmehr muss in der Kantianischen Tradition zwischen einem nur den Eigennutzen berücksichtigenden egoistischen Willen (triebbestimmter heteronomer Wille) und einem auch den Gemeinnutzen berücksichtigenden vernünftigen und universalisierbaren Willen (vernuftsbestimmter autonomer Wille) unterschieden werden. In diesem zweiten (idealistischen) Sinne bauen Habermas und Alexy ebenfalls auf dem Grundsatz des volenti non fit injuria auf. 80 Unter Diskurs wird hier eine Diskussion verstanden, die sich an den Voraussetzungen für eine Konsensfindung orientiert. 81 Habermas (1973), S. 257 f. 82 Alexy (1983 / 1991), S. 159. 83 Habermas (1986), S. 565: „Die juristischen Verfahren nähern sich aber den Forderungen vollständiger Verfahrensrationalität an, weil sie mit institutionellen, also unabhängigen Kriterien verknüpft sind, anhand deren sich aus der Perspektive eines Unbeteiligten feststellen läßt, ob eine Entscheidung regelgerecht zustande gekommen ist oder nicht.“ 77 78

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1. Kap.: Die Ausgangslage

doch trifft dies im Bereich der Methodenlehre nur begrenzt zu: gerichtliche Verfahrensregeln bestehen in der Form von Beweislast- und Beweiserhebungsregelungen, Gerichtszuständigkeiten, Vernehmungsmöglichkeiten von Zeugen, etc. Alle diese Regelungen betreffen jedoch „nur“ die Konstruktion des Tatbestandes. Das Methodenproblem, so wie es überwiegend behandelt wurde, beschäftigt sich jedoch nicht mit der Frage nach der Tatbestandskonstruktion, sondern mit der Frage, wie ein bereits konstruierter Tatbestand rechtlich gewürdigt werden soll. Dabei werden überwiegend Auslegungsregeln diskutiert, die dem Richter die Semantik des Gesetzeswortlautes erläutern sollen. Gerade in diesem Fall gibt es jedoch keine vorgegebenen Regeln und kann es auch keine Regeln geben, denn eine Norm, die festlegt, wie etwas ausgelegt werden soll, muss selbst ausgelegt werden. Es mag also zutreffen, dass „die Gerichtsverfahrensordnungen auf der Seite der Rechtsanwendung die Fallibilität und Entscheidungsungewissheit kompensieren, die sich daraus ergeben, dass die anspruchsvollen Kommunikationsvoraussetzungen rationaler Diskurse nur annäherungsweise erfüllt werden können“84, doch gilt dies nur für die Konstruktion des Tatbestandes (wobei hierbei der Anteil des Gesetzes an der Konstruktion ausgeklammert wird85). Eine Entscheidung über die Interpretation des Gesetzes ist nicht durch Verfahrensordnungen der rationalen Überprüfung durch Unbeteiligte zugänglich. Wenn aber im Gerichtsverfahren die idealen Diskursbedingungen der Herrschaftsfreiheit, der unbegrenzten Zeit, etc. nicht zu verwirklichen sind, ist es ausgeschlossen, dass die richterliche Interpretation des Gesetzes ein Prozessergebnis ist, welches den Namen „Konsens“ verdient.

bb) Zwischen wem muss der Konsens bestehen? Des Weiteren ist unklar, zwischen wem der Konsens zu bestehen hat. Da die Diskurstheorie ursprünglich der Rechtfertigung von moralischen Normen dienen sollte86, ging sie von einem universellen Konsens aus. Für die Legitimation von Gerichtsurteilen wäre dies jedoch eine unnötige Forderung, denn Gerichtsurteile richten sich von Natur aus nicht an ein universelles Auditorium.87 Davon ausgehend, dass das Auditorium als Adressat einer Rede nur dann überzeugt88 werden kann, wenn der Redner von denjenigen Grundannahmen ausgeht, die das AuditoriHabermas (1992 / 1998), S. 287. Zur Konstruktion des Sachverhaltes hinsichtlich der Normen siehe 3. Kapitel 6. a) aa). 86 Siehe Habermas (1983). 87 Den Begriff des universellen Auditorium habe ich Perelman / Olbrechts-Tyteca (1988 / 1992) entnommen. 88 Der Begriff „überzeugen“ wird hier untechnisch und nicht im Sinne Perelmans benutzt. Perelman und Olbrechts-Tyteca unterscheiden die Begriffe „überzeugen“ und „überreden“, indem sie „überreden“ nur für Argumentationen vor einem partikulären Auditorium verwenden: „Nous nous proposons d’appeler persuasive une argumentation qui ne prétend valoir que pour un auditoire particulier et d’appeler convaincante celle qui est censée obtenir l’adhésion de tout être de raison.“ (Perelman / Olbrechts-Tyteca (1988 / 1992), S. 36). 84 85

2. Bisherige Lösungsansätze

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um teilt, hat Perelman für Reden, die Allgemeingültigkeit beanspruchen, das universelle Auditorium eingeführt.89 Ein Gerichtsurteil ist jedoch von Natur aus nicht auf ein universelles Auditorium bezogen, weshalb sich der Konsens auch nicht auf Menschen beziehen muss, die außerhalb des entsprechenden Rechtssystems leben. Würde jedoch vom Richter auch nur erwartet, dass er von den Grundannahmen ausgeht, die von der gesamten Rechtsgemeinschaft als Auditorium geteilt werden, so könnte er in einer pluralistischen Demokratie auf nur wenigen Grundannahmen aufbauen und müsste folglich eine lange und komplizierte Urteilsbegründung liefern – wenn eine solche Begründung überhaupt aus den spärlichen Grundannahmen stringent zu gewinnen wäre. Allerdings ist es auch nicht notwendig für den Richter, diejenigen zu überzeugen, die von dem Urteil überhaupt nicht betroffen sind. Damit stellt sich die Frage, wer eigentlich vom Urteil betroffen ist, d. h. wen der Richter mit seiner Urteilsbegründung überzeugen soll. Sicherlich die Streitparteien, doch sind wegen der präjudiziellen Wirkung des Urteils auch andere Menschen betroffen. Ein Mieter in einer Plattenbausiedlung wird sicher nicht von der Auslegung von § 923 BGB tangiert, doch man muss schon suchen, um solche Beispiele zu finden. Wenn eine Konsenstheorie auf Gerichtsurteile angewandt werden soll, so steht sie vor dem Problem, das betreffende Auditorium zu ermitteln. Eine Möglichkeit, dass Auditorium einzugrenzen, wurde von Carl Schmitt vorgeschlagen: Der Konsens sollte aus der richterlichen Perspektive bestimmt, d. h. auf eine Praxis zurückgegriffen werden, die von der Fachwelt akzeptiert und durchgeführt wird: „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte. ,Ein anderer Richter’ bedeutet hier den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen.“90

Abgesehen von den Problemen der Konsensermittlung91 kann diese Einschränkung des Auditoriums jedoch nicht mehr mit dem Grundsatz des volenti non fit injuria legitimiert werden, wie es ursprünglich gedacht war, denn die Prozessparteien wären vom Auditorium ausgeschlossen, obwohl sie offensichtlich auch Adressaten des Urteils sind – und dementsprechend könnte ihrem Willen sehr wohl unrecht geschehen. cc) Wie wird der Konsens ermittelt? Darüber hinaus ist fraglich, wie der Konsens überhaupt ermittelt werden soll. Statistiken und Volksbefragungen sind zu kostspielig und zeitaufwändig. Außerdem ist dann nicht gewährleistet, dass der Antwort des Befragten eine kommunikative Auseinandersetzung mit dem Thema vorausging. In diesen Fällen hängt dann 89 90 91

3 Rafi

Perelman / Olbrechts-Tyteca (1988 / 1992), S. 40 ff. Dies war die Antwort von Schmitt (1912 / 1969), S. 71 ff. Siehe dazu unten 2. e) cc).

34

1. Kap.: Die Ausgangslage

viel von der Formulierung der Frage ab, die den Befragten präsentiert wird.92 Nimmt der Richter die Konsensfähigkeit seines Urteils aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung an, so ist dies zwar eine realistische Lösung, doch kann sie die Legitimationsfrage nicht befriedigend beantworten, denn es ist nicht klar, warum die Lebenserfahrung des Richters höher zu bewerten ist, als die der unterlegenen Partei. Oftmals begnügt man sich deshalb mit einem hypothetischen Konsens – also mit der Unterstellung, die Entscheidung sei konsensfähig, da sie im Interesse aller Betroffenen liege und die Betroffenen dies auch einsehen könnten, wenn sie das entsprechende Problem rational erörterten. Eine solche Unterstellung ist jedoch abgesehen von wenigen Ausnahmen93 nicht mit der Diskurstheorie vereinbar, denn entweder es wurde rational diskutiert – dann braucht der Konsens nicht unterstellt zu werden –, oder es wurde nicht rational diskutiert – dann kann der Konsens nicht unterstellt werden94, denn die Diskursregeln geben nur den formalen Rahmen zum Erhalt eines Konsenses vor und können nicht unabhängig von den in der rational geführten Kommunikation ermittelten normativen Überzeugungen der Betroffenen zu einem Ergebnis führen.95

dd) Kommt immer ein Konsens zustande? Letztendlich kann ein Konsens auch nur dann eine Legitimation bieten, wenn er zustande kommt. Dies ist aber gerade im Gerichtsverfahren fraglich, vor dem sich beide Parteien oft gut überlegt haben, ob notwendig ist, die zeitlichen, finanziellen und psychologischen Opfer zu bringen, die ein Gerichtsverfahren immer erfordert. Wenn es eine Basis für ein gemeinsames Interesse gibt, kommt es meist nicht zu einem Gerichtsprozess, der einen Konflikt entscheidet, sondern zu einer außergerichtlichen Einigung (eventuell im Rahmen einer Mediation), die den Konflikt löst. Ein Diskurs kann einen Konsens auch nicht garantieren. Dies hat nach Alexy drei Gründe: „Diskursregeln enthalten erstens keine Feststellung hinsichtlich der Ausgangspunkte der Prozedur. Ausgangspunkte sind die jeweils vorhandenen normativen Überzeugungen der Diskursteilnehmer. Zweitens legen die Diskursregeln nicht alle Argumentationsschritte fest. Drittens ist eine Reihe von Diskursregeln nur approximativ erfüllbar. Die DiskursSiehe Kriele (1967), S. 111 f.; Plous (1993), S. 51 ff. Denkbare Ausnahmen sind Voraussetzungen, die für einen Diskurs vorliegen müssen, wie z. B. ein Recht auf das Äußern der eigenen Meinung. 94 Das wird mittlerweile auch von Habermas selbst so gesehen: „Entweder reicht der normative Gehalt der pragmatischen Voraussetzungen rationaler Diskurse nicht hin, um die Fallibilität eines unter annähernd idealen Bedingungen diskursiv erzielten Konsenses auszuschließen; oder die idealen Bedingungen rationaler Behauptbarkeit, die dafür hinreichend sind, büßen die verhaltensorientierende Kraft einer regulativen Idee ein, weil sie von sprachund handlungsfähigen Subjekten – wie wir sie kennen – auch nicht annäherungsweise erfüllt werden können“ (Habermas (1999), S. 51). 95 Alexy (1993), S. 25. 92 93

2. Bisherige Lösungsansätze

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theorie ist insofern eine nicht entscheidungsdefinite Theorie. Das gilt jedenfalls für reale, und in einem gewissen Maße wahrscheinlich auch für ideale Diskurse.“96

ee) Worüber muss Konsens bestehen? Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Frage, wie konkret der Konsens formuliert werden sollte. Je stärker eine Norm von der konkreten Situation abstrahiert wird, umso eher ist sie konsensfähig. Klaus Günther unterschied deshalb Begründungsund Anwendungsdiskurse. Begründungsdiskurse begründen die Gültigkeit einer Norm, wohingegen Anwendungsdiskurse klären, ob die Normsemantik den konkreten Fall umfasst oder andere Normen in der Situation Vorrang haben.97 So sollte einem starren Regeldenken vorgebeugt werden. Ein Konsens über die Gültigkeit einer (notwendigerweise abstrakten) Norm sagt noch nichts darüber aus, ob sie in einer konkreten Situation auch angewandt werden sollte. Dies kann nur in der konkreten Situation geklärt werden. Diese Differenzierung ist jedoch aus zwei Gründen problematisch. Erstens kann zwischen beiden Diskursarten nicht scharf getrennt werden: Wenn ein Richter die Anwendung einer Norm auf eine konkrete Situation ablehnt, wird er diese Ablehnung begründen müssen. Dadurch gerät er aber in einen Begründungsdiskurs, der vom konkreten Fall wiederum abstrahiert. Um ein Beispiel von Günther selbst aufzugreifen: Die Norm „Versprechen soll man halten“ sei in einem Begründungsdiskurs als Konsens festgehalten. Wenn nun X seinem Nachbarn verspricht, zu dessen Party zu kommen und am Abend der Party der beste Freund von X in schwerer Not ist und der Hilfe von X bedarf, wäre es unangemessen, auf dem gegebenen Versprechen zu beharren. Vielmehr könnte man sagen: „Versprechen müssen zwar grundsätzlich gehalten werden, doch in dieser konkreten Situation sieht die Lage anders aus.“ Will man jetzt begründen, warum die Lage anders aussieht, muss man jedoch von der konkreten Situation abstrahieren, denn jede Begründung erwähnt nur die relevanten Gesichtspunkte der Situation. Eine Begründung wäre beispielsweise: „Man soll Versprechen halten, aber man sollte auch Freunden in Not helfen. Wenn das Versprechen nicht dazu führt, dass der Versprechensempfänger bei Nichteinhalten des Versprechens in arge Bedrängnis gerät und der gute Freund in schwerer Not ist, so geht die Hilfe für den Freund vor.“ Damit ist aber eine neue Regel kreiert, die wiederum Gültigkeit beansprucht. Sie ist vielleicht konkreter als die erste Norm, aber auch eine Abstraktion von der konkreten Situation (es kommt beispielsweise nicht auf das Aussehen von X, den Namen des Freundes in Not, den Wochentag der Party, etc. an). Zweitens ist mit der Unterscheidung zwischen Begründung und Anwendung noch nicht viel gewonnen. Sie besagt lediglich, dass ein Konsens im Begründungsdiskurs noch nichts darüber aussagt, ob die vereinbarte Norm auch in der konkre96 97

3*

Alexy (1993), S. 25. Günther (1988), S. 295 (zur Normsemantik), S. 298 (zur Normenkollision).

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1. Kap.: Die Ausgangslage

ten Situation Anwendung findet. Dass über die konkrete Normanwendung ein Konsens erzielt werden kann, ist sehr fraglich. Klaus Günther beschreibt selbst die Notwendigkeit, bei der Situationsbeschreibung „die jeweilige Lebensform, ihre kulturelle Semantik, gesellschaftliche Institutionen und Sozialisiationen“ berücksichtigen und in der konkreten Handlungssituation zusammensetzen zu müssen.98 Dass bei so komplexen Anforderungen ein Konsens zustande kommt ist unwahrscheinlich und kann sicherlich nicht durch einen Rückgriff auf Dworkin plausibilisiert werden.99 f) Ökonomische Theorie des Rechts (ÖTR) Indem die ÖTR von gewissen Grundannahmen des individuellen Entscheidungsverhaltens ausgeht, kann sie eher einen hypothetischen Konsens ermitteln als die Diskurstheorie. Da es viele verschiedene Richtungen der ÖTR gibt und hier nicht auf die einzelnen Richtungen eingegangen werden kann, sollte noch einmal verdeutlicht werden, in welchem Rahmen die Ergebnisse der ÖTR betrachten werden: Es geht weder um Ratschläge de lege ferenda, da sich diese an den Gesetzgeber richten, noch um eine ökonomische Rechtfertigung der Institution „Gericht“, denn diese Arbeit setzt die Existenz einer Institution mit der Kompetenz zum Entscheiden von rechtlichen Konflikten voraus. Allerdings wurde bereits festgestellt, dass der Gesetzeswortlaut allein nicht ausreicht, um Kriterien zu ermitteln, ob diese Kompetenz gut ausgeübt wurde oder nicht. Bisher wurde nach Kriterien gesucht, die dezisionistische Elemente im Urteil des Richters vermeiden, indem sie entweder durch Auslegungsregeln, durch rechtsimmanente und außerrechtliche Werte und Prinzipien oder durch Konsens das Urteil des Richters festlegen. Deshalb interessieren hier die Ansätze der ÖTR, die den Richter bei der Urteilsentscheidung festlegen. Weitgehend Einigkeit besteht darin, dass der Richter den Gesetzeswortlaut nicht ignorieren darf, um nach ökonomischen Effizienzkriterien die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt durch Zuweisung von Rechten und damit verbundenen Allokationsverschiebungen zu steigern.100 Die aus den USA stammende und unter anderem von Posner vertretene Theorie (die als ökonomische Analyse des Rechts bezeichnet wird101) kann schon deshalb nicht überzeugen, weil sie eine richterliche Entscheidung allein an ihrer Effizienz (d. h. an der „menschlichen Befriedigung gemessen am zusammengefaßten Willen der Verbraucher, für Güter und Dienstleistungen zu zahlen“102) misst und dadurch den Gesetzgeber ignoriert.103 Günther (1988), S. 96. Zu Dworkin siehe den vorangehenden Abschnitt. Günther (1988) geht auf S. 345 ff. auf Dworkin ein. 100 Eidenmüller (1995 / 1998), S. 460 ff. 101 Zur terminologischen Unterscheidung zwischen ÖTR und ÖAR siehe Kirchner (1997), S. 1 f. 98 99

2. Bisherige Lösungsansätze

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Im Gegensatz zu dieser Ökonomischen Analyse des Rechts tritt die ÖTR in zweifacher Weise bescheidener auf: Einerseits reduziert sie ihre Methode nicht mehr lediglich auf eine Effizienzsteigerung, d. h. auf die Steigerung materieller Bedürfnisse, sondern weitet ihre Methode auf eine Vorteils- / Nachteils-Kalkulation aus, die „ausnahmslos alles erfaßt, was die Akteure selbst als Vorteil und Nachteil ansehen.“104 Durch diese Ausweitung der Methode können nun auch Werte berücksichtigt werden, die nicht rein materieller Natur sind. Andererseits berücksichtigt die ÖTR den Gesetzeswortlaut: Erst wenn die Auslegungskanones nicht ausreichen, um zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen, soll die ÖTR dem Richter den Weg zu einer legitimen Entscheidung weisen.105 Der Weg zu dieser legitimen Entscheidung sei hier kurz angedeutet: Das Problem der Diskursethik, nicht auf einen hypothetischen Konsens abstellen zu können, weil die Diskursregeln nicht unabhängig von den individuellen Ausgangsinteressen zu einem Ergebnis führen106, versucht die ÖTR zu lösen, indem sie den Individuen ein eigennutzorientiertes und beschränkt rationales Verhalten unterstellt.107 Dieses Verhalten führe zunächst dazu, dass ein gemeinsamer Konsens zur Errichtung von Institutionen wie Legislative und Judikative zustande komme. Wollte die Gesellschaft jede Entscheidung im Konsens treffen, so wären die Entscheidungsfindungskosten (zeitliche Verhandlungskosten, Verwaltungskosten, Informationsbeschaffungskosten etc.) exorbitant hoch. Sobald vom Konsens zugunsten von Mehrheitsentscheiden abgewichen würde, würden die Entscheidungsfindungskosten sinken. Dafür stiegen jedoch die Willkürkosten, d. h. die Kosten, die dadurch entstehen, dass man sich gegen seinen Willen einer Entscheidung beugen muss. Um die Entscheidungsfindungskosten nicht zu groß werden zu lassen, würde das Erfordernis für eine bindende Entscheidung einerseits vom Konsens auf einen bloßen Mehrheitsentscheid reduziert und andererseits auf eine kleinere Personengruppe delegiert. Je weiter die Delegationskette sich von den Betroffenen entfernt, umso höher wären deren Willkürkosten.108 Da die Richter nicht vom Volk gewählt 102 Posner (1977), S. 86. Zu beachten ist allerdings, dass Posner für das Fallrecht geschrieben hat, in dem der richterlichen Rechtsgestaltung rechtstheoretisch weit mehr Spielräume eröffnet sind als im Gesetzesrecht. 103 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der ökonomischen Analyse des Rechts bietet Eidenmüller (1995 / 1998). Zur Kritik an Posner (bezüglich der ersten Auflage) siehe auch Polinsky (1974). Siehe auch Kapitel 2, 3e. 104 Handbuch der Wirtschaftsethik II / Homann, S. 332. 105 Handbuch der Wirschaftsethik II / Kirchner, S. 170. 106 Es gibt allerdings Ausnahmen: Regeln, die als Diskursvoraussetzungen angesehen werden müssen (siehe Habermas (1973), S. 255 f.). 107 Handbuch der Wirtschaftsethik II / Kirchner, S. 133; Buchanan / Tullock (1962 / 2001), S. 17 ff. 108 Ausführlich wird dies dargestellt in Buchanan / Tullock (1962 / 2001), S. 43 ff. Siehe auch R. Eschenburg (1977), S. 163 ff. R. Eschenburg nennt die Willkürkosten „externe Kosten“. Der Begriff „Willkürkosten“ trifft den Charakter dieser Kosten jedoch besser, da es sich um Kosten handelt, die dadurch entstehen, dass man sein Vetorecht zur Reduzierung der Ent-

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1. Kap.: Die Ausgangslage

werden, sei deshalb primär das Parlament dafür verantwortlich, Entscheidungen zu treffen. Dem Richter komme dann die Aufgabe zu, diese Entscheidungen auf den konkreten Fall anzuwenden. Wenn nun die Auslegungskanones mehrere Interpretationen zulassen, muss der Richter nach irgendwelchen Gesichtspunkten einer der möglichen Interpretationen den Vorzug gewähren. Dies sei jene Interpretation, die den Zweck des Gesetzgebers am besten erreicht. Dabei ist mit „Gesetzgeber“ nicht der historische Gesetzgeber gemeint, da dieser die veränderten Rahmenbedingungen nicht berücksichtigen konnte. Ein objektivierter Wille eines hypothetischen Gesetzgebers („Wie hätte der Gesetzgeber entschieden, wenn er die veränderten Umstände zum Zeitpunkt der Gesetzesverabschiedung gekannt hätte?“) führe zu einem fiktiven Gesetzgeber, der den Legitimationszusammenhang nicht herstellen könne.109 Deshalb müsse der Richter als Quasi-Gesetzgeber folgenorientiert denken und sich fragen, welche Konsequenzen die einzelnen Interpretationsvarianten, die nach der Interpretation des Gesetzestextes gemäß den Auslegungsregeln noch möglich bleiben, in ihrer verallgemeinerten Form für die Normadressaten haben: „Unter Zugrundelegung dieser verallgemeinerten Folgen ist dann die Entscheidung zu treffen, welche der möglichen Interpretationsvarianten zum Zuge kommen soll. An dieser Stelle sind dann sehr wohl Argumentationen möglich, die fragen, ob der historische Gesetzgeber angesichts der veränderten Rahmenbedingungen und des veränderten Wissensstandes diese Wahlentscheidung billigen könnte. Eben diese Argumentation entspricht dann dem Ansatz der objektiv teleologischen Interpretationsmethode. Konsensethisch ist dies die Frage nach der Zustimmungsfähigkeit der Lösung aus der Sicht der Normadressaten.“110

Für die hier interessierende Fragestellung, ob der Richter bei der Urteilsentscheidung dezisionistisch vorgehen müsse oder die Urteilsentscheidung durch objektive Kriterien als Urteilsfindung legitimieren könne, braucht an dieser Stelle nur festgestellt zu werden, dass die ÖTR dezisionistische Elemente nicht vermeiden kann. Dies hat mehrere Gründe: – Zum einen wird nicht immer deutlich zwischen Folgeerwägungen (darunter werden hier sowohl Folgeabschätzungen als auch Folgebewertungen verstanden111) und teleologischer Auslegung unterschieden.112 Dadurch wird unklar, ob Folgeerwägungen dazu herangezogen werden, den Gesetzestext besser zu verstehen, oder ob sie dazu herangezogen werden, um eine Rechtsfortbildung praeter oder contra legem zu legitimieren. Dies führt wiederum dazu, dass einerseits Folgeerwägungen und Gesetzesinterpretation teilweise unzulässig voneinander getrennt werden. Schäfer / Ott wollen beispielsweise Folgeerwägungen nur zulassen, wenn „die Bindung an Recht und Gesetz nicht zu einer eindeutigen Lösung scheidungsfindungskosten aufgibt, so dass die Entscheidung unabhängig von der eigenen Meinung gefällt werden kann und folglich von der Willkür anderer abhängt. 109 Handbuch der Wirtschaftsethik II / Kirchner, S. 169 ff. 110 Ebenda, S. 172. 111 Zu dieser Unterscheidung siehe Deckert (2001), S. 180. 112 Dies zeigt sich an der oben zitierten Passage. Siehe auch Deckert (2001), S. 179.

2. Bisherige Lösungsansätze

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führt.“113 Dabei wird übersehen, dass bereits bei der Gesetzesauslegung im Rahmen der teleologischen Interpretation Folgeerwägungen zu berücksichtigen sind.114 In die Gesetzesauslegung fließen immer auch Folgeerwägungen mit ein. Andererseits können Folgeerwägungen aber auch dazu führen, einen eindeutig gefassten Gesetzestext zu verwerfen, weil er zu absurden Folgen führen würde. In diesem Fall werden Folgeerwägungen nicht als Auslegungshilfe herangezogen. Sie dienen vielmehr der Rechtfertigung einer Entscheidung contra legem. So wäre es verwunderlich, wenn ein Richter auf der Erfüllung einer unmöglichen Leistung bestanden hätte, nur weil der Schuldner die Unmöglichkeit zu vertreten hat. (Deshalb wurde § 275 I BGB a. F. auch nie in dieser Form angewandt!115) – Folgeerwägungen sind ferner nicht eindeutig prognostizierbar. Deckert zeigt deutlich die Probleme, die sich bei einer Folgenabschätzung stellen, und beschränkt ihren möglichen „Ausweg aus dem Dilemma“ auf Hoffnungen interdisziplinärer Zusammenarbeit. 116 – Konsenstheoretische Legitimationsmodelle müssen deutlich machen, ob sie auf den Konsens des hypothetischen Gesetzgebers oder der hypothetischen Akteure (des hypothetischen Volkes) abstellen wollen. Beim hypothetischen Gesetzgeber stellt sich das Problem, dass nicht allen Gesetzen ein eindeutiger Zweck zu entnehmen ist (was oftmals schon daran liegt, dass das Gesetz unverträgliche Zwecke in einem Kompromiss verbindet) und es deshalb nicht möglich ist, sinnvoll darüber zu spekulieren, was der hypothetische Gesetzgeber getan hätte. Wird von hypothetischen Akteuren ausgegangen, so stellt sich die große Schwierigkeit, ihre Präferenzen zu ermitteln. Wenn versucht wird, deontologische Sichtweisen in einen konsequentalistischen Ansatz zu integrieren, müssen den inteSchäfer / Ott (1986 / 2000), S. 16. Eine Übersicht über die vielschichtigen Gesichtspunkte, die sich bei der Anwendung von § 138 I BGB auf Bürgschaften stellen, bietet Medicus (1999), S. 833 ff. Daran kann man erkennen, dass Folgeerwägungen einen wichtigen Gesichtspunkt bei der Auslegung einer Norm bieten können. Sie sind der Auslegung jedoch nicht generell nachgestellt. Dass sich Folgeerwägungen und Auslegung nicht grundsätzlich voneinander trennen lassen, zeigt Lübbe-Wolff (1981) an einem strafrechtlichen Beispiel: „Wer in § 78c StGB liest, die Verjährung einer Straftat werde unterbrochen ,durch die erste Vernehmung des Beschuldigten’. versteht automatisch und normalerweise ohne überhaupt auf einen anderen Gedanken zu kommen, daß damit die erste Vernehmung derjenigen Sache gemeint ist, um deren Verjährung es geht (und nicht etwa die erste Vernehmung, der der Beschuldigte überhaupt ausgesetzt war). Das läßt sich nicht mit dem Wortlaut der Passage erklären, sondern nur damit, daß beim Verstehen Antizipation eine Rolle spielt, die normalerweise ( . . . ) auf einen im Urteil des Interpreten vernünftigen Sinn gerichtet ist. Für Rechtstexte heißt das: Auf einen Sinn, der eine angemessene Zuordnung von Folge und Voraussetzungen ergibt.“ (S. 125 f.). Dieser Sinn für die angemessene Zuordnung von Folgen und Voraussetzungen sei letztlich gleichzusetzen mit dem Begriff des „Vorverständnisses“ (S. 126). 115 Zur Unterscheidung zwischen Folgeerwägungen und teleologischer Auslegung wird ausführlich im 3. Kapitel unter 1 c bb eingegangen. 116 Deckert (2001), S. 177 f. Zitat von Seite 184. 113 114

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1. Kap.: Die Ausgangslage

grierten Werten bestimmte Zahlen zugeordnet werden: Es muss beispielsweise geklärt werden, welchen Preis die hypothetischen Akteure für einen spezifischen Schutz der Menschenwürde zu zahlen bereit sind.117 Eine solche Berechnung ist stark abhängig von der Formulierung der Frage und der konkreten Situation und deshalb schwer durchzuführen.118 – Eng damit verbunden ist die Notwendigkeit, von konstanten Präferenzen auszugehen, um Folgen vorhersehen zu können.119 Abgesehen davon, dass sich die Präferenzen schnell ändern können120, sind oftmals auch widersprüchliche Wünsche vorhanden. Es ist beispielsweise möglich, dass jemand sowohl eine Steuerentlastung möchte als auch mehr soziale Absicherung vom Staat erwartet. Will man seine Präferenz ermitteln, so muss er sie selbst kennen. Das setzt voraus, dass er in beiden Wünschen einen Widerspruch erkennt, denn ansonsten würde er sie gar nicht gegeneinander abwägen. (Die Frage, ob man lieber fernsieht oder lieber etwas isst, stellt man sich nur, wenn man nicht beim Fernsehen essen möchte – ansonsten wird man gar nicht über eine Präferenz nachdenken.) In vielen Fällen werden deshalb gar keine Präferenzen zu ermitteln sein, weil sich die Akteure keine Gedanken über eine Präferenzordnung gemacht haben.121

Diese Aspekte zeigen, dass auch die ÖTR den Richter nicht von seiner Entscheidungsverantwortung befreien kann: Es bleibt zunächst eine Entscheidung, wie der Gesetzestext ausgelegt wird und inwiefern Folgeerwägungen auch entgegen dem Gesetzeswortlaut Beachtung finden können. Ferner sind Folgeabschätzungen oft nicht eindeutig zu treffen, so dass auch hier Entscheidungen über die überzeugendste Prognose erforderlich sind. Darüber hinaus müssen die Folgen bewertet werden, was voraussetzt, dass den in die Entscheidung einfließenden Werten Zahlen zugeordnet werden oder diese Werte doch zumindest in eine Ordinalskala gebracht werden können. Dies ist jedoch nicht immer möglich.122 Das liegt mitunter daran, dass die Präferenzen der Akteure oft nicht vorhanden oder objektiv bestimmbar sind, so dass ebenfalls darüber entschieden werden muss, welche Präferenzen die Akteure voraussichtlich haben und wie diese Präferenzen zu bewerten sind.123 Kirchner (2001), S. 36 f. Siehe dazu das Kapitel „The effects of question wording and framing“ in: Plous (1993), S. 64 ff. 119 Siehe Kirchner (2001), S. 38. 120 Wären Präferenzen konstant, könnte der Einfluss von Werbung auf die Konsumenten nicht erklärt werden. Siehe dazu auch Eidenmüller (1995 / 1998), S. 339 f. 121 Plous (1993), S. 67 f. berichtet von einer amerikanischen Umfrage von 1982, bei der 58% eine weitere Aufrüstung mit Nuklearraketen befürworteten, um eine nukleare Übermacht der Sowjetunion zu vermeiden. Einige Minuten später wünschten 56% der Befragten eine Abrüstung von Nuklearraketen, um die Gefahr eines Atomkrieges zu reduzieren. Es stimmten insgesamt 27% für und gegen eine weitere Aufrüstung, was Plous damit erklärt, dass sowohl Frieden gewünscht als auch eine Übermacht der Sowjetunion befürchtet wurde. 122 Zum klassifikatorischen und komparativen Wertbegriff siehe Kutschera (1973), S. 85 ff. 123 Ausführlicher wird dazu im 3. Kapitel 2. eingegangen. 117 118

3. Gebundener Dezisionismus

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3. Gebundener Dezisionismus Die bisher erörterten Ansätze in der juristischen Methodik waren alle darum bemüht, die Entscheidungsmöglichkeiten des Richters einzuschränken. Dies darf nicht der einzige Weg sein, denn solange dezisionistische Elemente in der richterlichen Entscheidung enthalten bleiben, muss der Richter die Verantwortung für sein Urteil tragen. Es wird hier deshalb ein anderer Weg eingeschlagen: Es wird in dieser Arbeit nicht versucht, den Entscheidungsspielraum des Richters einzuengen, sondern ihm Kriterien an die Hand zu geben, die es ihm ermöglichen, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Es wird von der Frage ausgegangen, was eigentlich ein gutes Urteil ist, um sich von dem die Rechtsmethodik dominierenden Paradigma der Gesetzesbindung zu lösen und den Blick für weitere Gesichtspunkte in der juristischen Argumentation zu weiten. Damit soll keine „undemokratische“ Rechtsdogmatik entwickelt werden, die Art. 1 I, III; 20 III und 97 I GG ignoriert.124 Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass Gesetzesbindung immer Gesetzesinterpretation und Gesetzesinterpretation immer Wertung des Interpreten bedeutet. Versucht man nun, Kriterien für diese Wertung allein aus dem Gesetzestext zu gewinnen, verkürzt man die Argumentationsaspekte des Richters in einer Weise, die der eigentlichen juristischen Methode nicht gerecht wird. Jede Rechtsdogmatik, die allein vom Gesetzestext ausgeht, hat Schwierigkeiten, die Bedeutung von Präjudizien, Folgeerwägungen, Gerechtigkeitserwägungen und anderen Kriterien zu erklären, die in der Rechtspraxis eine Rolle spielen. Der Gesetzestext ist ein überragend wichtiger, aber nicht der einzige Aspekt in der Entscheidung des Richters. Dies sei kurz erläutert an der Rechtsprechung zur Gewährung von immateriellem Schadensersatz bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: Während der BGH in einer Entscheidung von 1958125 immateriellen Schadensersatz gewährte, ohne § 253 BGB überhaupt zu erwähnen, ging der BGH im Jahre 1961126 ausführlich auf § 253 BGB ein. Dabei ist interessant, dass der BGH keineswegs argumentiert hat, dass § 253 BGB bei „richtiger“ Interpretation der Gewährung von immateriellem Schadensersatz nicht entgegenstehe, wenn das allgemeine Persönlichkeitsrecht betroffen ist. Der BGH argumentierte vielmehr, dass § 253 BGB zu einer Zeit verabschiedet wurde, als der menschlichen Persönlichkeit noch nicht die Bedeutung zukam, wie dies unter dem Grundgesetz der Fall ist. Daraus wird dann allerdings nicht die Konsequenz gezogen, dass § 253 verfassungswidrig sei, weil er der Verfassungswertung nicht entspreche. § 253 wird in Fällen der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einfach nicht angewandt – obwohl der BGH vorher festgestellt hat, dass § 253 eigentlich einschlägig wäre, da es sich um immateriellen Schadensersatz handeln würde, für den keine gesetzliche Grundlage bestände. Als sich das Bundesverfassungsgericht mit dieser 124 In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Busse (1992), S. 18 ff. erwähnenswert, dass das Postulat der Gesetzesbindung vordemokratischer Natur sei. 125 BGH NJW 1958, S. 827 ff. (Urt. v. 14. 2. 1958). 126 BGH NJW 1961, S. 2059 ff. (Urt. v. 19. 9. 1961).

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1. Kap.: Die Ausgangslage

Problematik beschäftigte, bestätigte es die Rechtsprechung des BGH und charakterisierte die richterliche Tätigkeit folgendermaßen: „Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft.“127

Diese Urteile zeigen, dass der Richter nicht allein vom geschriebenen Gesetz ausgeht, sondern in Ausnahmefällen sogar vom Gesetz abweichen soll. Diese Ausnahmefälle sind sicher selten128, doch sie machen deutlich, dass jede Gesetzesanwendung eine Wertentscheidung des Richters ist, denn sie beinhaltet folgendes Werturteil: Dies ist ein Fall, der keine Abweichung vom Gesetz erfordert! Damit wird der Gesetzestext jedoch zu einem bloßen Topos in der juristischen Argumentation. Das topische Denken wurde in jüngerer Vergangenheit vor allem von Viehweg in der juristischen Argumentation entdeckt.129 Dabei handelt es sich um Gesichtspunkte („Örter“), die zur Lösung eines Problems herangezogen werden sollten. Solche Gesichtspunkte sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern stehen in einem geschichtlich entstandenen Kontext der Problemerörterung. Deshalb ist eine an Topoi orientierte Entscheidung gebunden: Sie ist gebunden an vorhandene Argumentationsmuster, indem sie auf für juristische Probleme übliche Gesichtspunkte zurückgreift. Es reicht jedoch nicht aus, lediglich Gesichtspunkte zu benennen, die in der Argumentation eine Rolle spielen sollen. Dem Richter muss auch ein Maßstab an die Hand gegeben werden, nach dem er die Gesichtspunkte bewerten kann. Viehweg selbst nennt hier die Gerechtigkeit.130 Allerdings wird dieser Maßstab eher postuliert als begründet. Im folgenden Kapitel soll anhand der Funktion eines Urteils ein solcher Maßstab herausgearbeitet werden, an dem dann der Richter die Gesichtspunkte für die Urteilsbegründung orientieren kann.

127 128 129 130

BVerfGE 34, 269, 287. Weitere Ausnahmen finden sich bei E. Koch (1996). Viehweg (1953 / 1974). Siehe Viehweg (1953 / 1974), S. 92; S. 96.

2. Kapitel

Das Ziel des Urteils Die Suche nach Kriterien für ein gutes Urteil erfordert eine klare Vorstellung vom Ziel1 des Urteils. Deshalb wird in diesem Kapitel erläutert, was ein Urteil (1.) und wann dieses als gut zu bezeichnen ist (2. und 3.). Im nächsten Kapitel werden dann die Kriterien aufgestellt.

1. Das Urteil als Rechtsentscheidung Wenn in dieser Arbeit vom Urteil die Rede ist, so ist das zivilprozessuale Endurteil im Sinne von § 300 ZPO gemeint. Diese Eingrenzung auf das Rechtgebiet und die Entscheidungsform ist nicht zwingend, sondern lediglich eine Vorsichtsmaßnahme. Es soll nicht unterstellt werden, dass für Beschlüsse, Verfügungen oder Vergleiche, strafrechtliche oder verwaltungsgerichtliche Urteile andere Kriterien aufgestellt werden müssen. Es soll aber auch nicht angenommen werden, dass die Kriterien für ein gutes zivilprozessuales Endurteil ungeprüft auf andere Entscheidungsformen oder Rechtsbereiche übertragen werden können. Demnach dient die Eingrenzung der Argumentationsentlastung und der inhaltlichen Einschränkung des bereits umfangreichen Themas. Der zivilrechtliche Bereich wurde gewählt, weil dieser das traditionsreichste Gebiet ist und die meisten Ansätze zur Methodenlehre vom Zivilrecht ausgehen (ganz eindeutig z. B. bei der Interessenjurisprudenz). Beim Endurteil trifft den Betroffenen die judikative Autorität am deutlichsten, weshalb sie auch am problematischsten und interessantesten ist. Eine Eingrenzung in dieser Form ist keineswegs notwendig, erfolgte aber auch nicht willkürlich. Ein weiterer Aspekt soll hier hervorgehoben werden: Urteile sind Rechtsentscheidungen. Dem wird in der Literatur zwar nicht widersprochen2, doch wird oft verkannt, welche Konsequenzen es hat, ein Urteil für eine Entscheidung zu halten. Eine Entscheidung wird getroffen, aber nicht gefunden; d. h. man „findet“ kein vorhandenes Ergebnis (denn nur das bereits Vorhandene kann gefunden werden), sondern schafft eines herbei. So wie man sich nicht dafür entscheidet, dass 2 + 2 =

1 Die Begriffe „Ziel“, „Zweck“ und „Funktion“ werden hier synonym gebraucht. Das Ziel des Urteils ist sein Zweck und seine Funktion: Es drückt immer aus, was mit dem Urteil erreicht werden soll. 2 Siehe Zöller / Vollkommer, Vor § 300 Rdnr. 1; BLAH / Hartmann, Übers § 300 Rdnr. 1.

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

4 ist, sondern die Lösung findet (berechnet), kann eine Entscheidung nicht berechnet, sondern nur getroffen (eben entschieden) werden: „Wenn von einer Entscheidung gesprochen wird, denkt man normalerweise an einen Wahlakt, dem eine gewisse Willkür eigen ist. Was bereits voll determiniert ist, kann nicht mehr entschieden werden. Zur Entscheidung gehört daher auch ein Mindestmaß an Unvorhersehbarkeit, fast möchte ich sagen: an Irrationalität.“3

In der Literatur wird teilweise von Entscheidungen gesprochen, die zu finden seien.4 Dabei handelt es sich um eine sprachliche Ungenauigkeit. Entweder geht man wie Dworkin davon aus, richtige Urteile könnten gefunden werden, oder man sieht in jedem Urteil eine Entscheidung, die dann zwangsläufig nicht frei von Dezision ist und nicht richtig oder falsch, sondern nur besser oder schlechter ausfallen kann. Aus den im 1. Kapitel erwähnten Gründen wird hier der zweite Weg eingeschlagen. Daraus folgt bereits, dass von den Kriterien für ein gutes Urteil nicht erwartet werden kann, sie würden den Richter in seiner Urteilsentscheidung festlegen. Wie trotzdem eine Bewertung des richterlichen Urteils möglich ist, wird sich zeigen. Es ist eine Antwort auf die Frage, die Luhmann in dem bereits zitierten Aufsatz über die Paradoxie des Entscheidens aufwirft: „Die klassische Vorstellung, gute Entscheidungen seien richtige Entscheidungen und richtige Entscheidungen seien durch rationale Abwägung von Zwecken und Mitteln zu erreichen, befindet sich in voller Auflösung. Aber wodurch wird sie ersetzt?“5

2. Wann ist ein Urteil gut? Das Attribut „gut“ kann sowohl intrinsisch als eigener Wert verstanden als auch nicht- intrinsisch als Mittel zum Erreichen eines Wertes angesehen werden.6 Wäre ein Gerichtsurteil bereits intrinsisch gut, dann wäre es bedingungslos gut, d. h. die Existenz des Urteiles würde ausreichen, um es als „gut“ zu bezeichnen. Einen solch extremen Dezisionismus vertrat nicht einmal Carl Schmitt, der die Güte eines Urteils zumindest noch davon abhängig machte, ob ein anderer Richter ebenso entschieden hätte.7 Ist das Urteil aber nicht schon selbst ein Wert, dient es als MitLuhmann (1993), S. 287. Prütting schreibt in Lüke / Prütting, dass das Urteil sowohl eine Entscheidung sei (S. 62) als auch ein „rechtsfindender Akt“ (S. 63). Hartmann meint, dass die Bedeutung des Urteils darin liege, Recht zu finden (BLAH Übers § 300 Rdnr. 2), obwohl er vorher das Urteil als Entscheidung bezeichnet hat (ebenda, Rdnr. 1). Häufig wird gar von einer „Entscheidungsfindung“ gesprochen (z. B. Paulus (1996), Rdnr. 302). 5 Luhmann (1993), S. 288. 6 Olson (1967), S. 367. Diese Unterscheidung findet sich bereits bei Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Buch, 5. Kapitel. 7 Schmitt (1912 / 1969), S. 71: „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte.“ Auch später vertrat Schmitt keinen extremen Dezisionismus. Zu Schmitt siehe ausführlicher 2. Kapitel 3. f) aa) ). 3 4

2. Wann ist ein Urteil gut?

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tel zum Erreichen eines anderen Wertes. Ein gutes Urteil ist dann ein Urteil, welches geeignet ist, diesen Wert zu erreichen. Das Attribut „gut“ kann deshalb auch nicht unabhängig vom grammatischen Subjekt „Urteil“ bestimmt werden. Es ist für sich genommen inhaltlich unbestimmt und erfährt erst durch das Subjekt, auf das es sich bezieht, eine Bestimmung.8 Aus diesem Grund ist es auch möglich, von einem „guten Dieb“ zu sprechen9 oder einen technisch fehlerhaften Flugzeugflügel für einen schlechten Flugzeugflügel aber ein gutes Kunstobjekt zu halten.10 Gut ist das Subjekt also dann, wenn es Kriterien erfüllt, die das Subjekt als geeignet erscheinen lassen. Daran schließt sich die Frage: „Geeignet wofür?“ Als Flugzeugflügel mag ein in einer bestimmten Weise geformtes Metall ungeeignet sein, aber es eignet sich vielleicht hervorragend als Kunstobjekt. Um dies beurteilen zu können, muss man wissen, welcher Zweck dem Gegenstand zukommt. Soll das Metall als Flugzeugflügel verwendet werden, hat es den Zweck, eine hohe Auftriebskraft bei geringem Luftwiderstand zu erzeugen. Als Kunstobjekt hat es einen ganz anderen Zweck (der schwieriger zu bestimmen ist und darin liegen könnte, beim Betrachter ungewohnte Konnotationen zu erzeugen11). Da ein Urteil nicht schon intrinsisch gut ist, kann das Attribut „gut“ nur bestimmt werden, indem der Zweck (die Funktion) des Urteils ermittelt wird. In diesem Sinne ist das „Urteil“ ein „Funktionswort“12, denn es hat die Funktion, einem noch zu bestimmenden Wert zu dienen. Erst wenn die Funktion des Urteils geklärt ist, kann herausgefunden werden, welche Kriterien es erfüllen muss, um gut zu sein: „Wenn es sich bei A um einen Funktionsausdruck handelt und wenn wir herausgefunden haben, welchem Zweck A dienen soll, können wir daraus Kriterien ableiten, die A zu einem guten A machen . . . Sobald man also umfassend erklärt hat, wozu ein A taugen soll, ist ein gutes A einfach ein solches, das zu diesem Zweck geeignet ist.“13

Gegen einen solchen Ansatz, ein Urteil dann als „gut“ zu bezeichnen, wenn es seiner Funktion (seinem Zweck) gerecht wird, können zwei Einwände erhoben werden: a) In einem konditional programmierten Rechtssystem ist keine Zweckorientierung möglich. b) Wenn dem Urteil mehrere Funktionen zukommen, muss ein Abwägungskriterium gefunden werden, um die verschiedenen Funktionen in ein Verhältnis setzen zu können. Wird dem Urteil jedoch nur eine einzige Funktion zugesprochen, muss diese angesichts der unterschiedlichen Fallkonstellationen so vage ausfallen, dass aus ihr keine Kriterien abgeleitet werden können. Zu a): Es ist zweifellos richtig, dass der Gesetzestext hauptsächlich konditional programmiert ist, was die Funktion hat, den Entscheidenden von der Verantwor8 Zum attributiven Charakter von „gut“ siehe auch die prägnante Darstellung bei Williams (1972 / 1986), S. 48 ff. 9 Aristoteles, Metaphysik, 1021b. 10 Williams (1972 / 1986), S. 52. 11 Siehe Eco (1972 / 1994), S. 145 ff. (S. 159). 12 Zum Begriff des Funktionswortes (functional word) siehe Hare (1952 / 1995), S. 100. 13 Mackie (1977 / 1995), S. 64 f.

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

tung für die Folgen seiner Entscheidung zu entlasten.14 Allerdings wurde bereits im 1. Kapitel festgestellt, dass es eine Illusion ist, bei der Auslegung von Gesetzestexten das „Wenn“ zu bestimmen, ohne das „Dann“ im Blick zu haben. Das „Vorverständnis“ über die Folgen der Entscheidung bestimmt die Entscheidung mit, weshalb eine Entlastung von der Verantwortung für die Folgen der Entscheidung auch nicht möglich ist: „Auch im Konditionalprogramm haben Zwecke eine wesentliche Funktion, und zwar selbst dann, wenn das Programm formal im Sinne der ,zu bewirkenden Wirkung‘ eindeutig konzipiert ist. Ob nämlich die Wirkungen des Programms voll einkalkuliert waren und welche der einzelnen Wirkungen im Programm nicht oder unrichtig vorgestellt waren, darüber hat der Rechtsanwender im Sinne der Interpretation der Programmzwecksetzung ein verantwortliches Urteil.“15

Zu beachten ist weiterhin, dass nur der Gesetzestext hauptsächlich konditional programmiert ist. Da aber die Entscheidung nicht allein auf dem Gesetzestext beruht (vgl. 1. Kapitel), kann keine Rede davon sein, dass das Rechtssystem nur konditional programmiert sei. Es ist vielmehr notwendig für den Richter, sich an einem Zweck orientieren zu können, der es ihm ermöglicht, die einzelnen Entscheidungsgesichtspunkte gegeneinander abzuwägen. Letztendlich hat Luhmann selbst festgestellt, dass Zweck- und Konditionalprogrammierung sich nicht ausschließen, sondern „wechselseitig ergänzen und entlasten können.“16 Eine Orientierung des Richters an der Funktion des Urteils steht demnach nicht im Widerspruch zum Rechtssystem. Zu b): Da unterschiedliche Funktionen eines Urteils wieder in ein Rangverhältnis zueinander gebracht werden müssten, welches nur durch eine Orientierung an einer höheren Funktion (einem höheren Zweck) möglich ist, wird in dieser Arbeit eine einzige Funktion für das Urteil gesucht. Diese muss angesichts der sachlichen und zeitlichen Flexibilität, die sie aufweisen muss, um den gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden, notwendig vage gefasst werden: „Je allgemeiner und vieldeutiger ein Zweck gewählt ist, desto mehr sachlich verschiedene Wirkungen vermag er zu decken. Im Rahmen von vage vorgestellten Allgemeinzwecken sind daher auch erhebliche Schwerpunktverlagerungen möglich, die bei präziserer Zweckkonzeption als Zweckänderung ausgewiesen werden müßten. Je wichtiger es wird, ein System zu erhalten, je mehr investiert ist, je unrationeller eine Entwicklung über Konkurs und Neugründung wird, desto elastischer müssen die Systemzwecke formuliert werden, sei es, daß sie unbestimmt, sei es, daß sie änderungsfähig institutionalisiert werden.“17

14 15 16 17

Siehe Luhmann (1969 / 1997), S. 130 ff. Esser (1972a), S. 148. Seine Kritik an Luhmann befindet sich ebenda auf S. 145 ff. Luhmann (1968 / 1999), S. 247. Luhmann (1968 / 1999), S. 212, FN 57.

2. Wann ist ein Urteil gut?

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Deshalb stellt sich zu Recht die Frage, ob ein so vages Ziel überhaupt hinreichend bestimmt ist, um dem Richter eine Orientierung vermitteln zu können. Dies ist ein wichtiger Punkt. Diese Frage wird in zwei Schritten beantwortet: Zunächst wird noch einmal verdeutlicht werden, was das Ziel der Arbeit ist (bzw. welches Ziel nicht verfolgt wird), um daraufhin zu erörtern, ob dieses Ziel auch erreicht werden kann. Die Arbeit soll dem Richter eine Entscheidungshilfe bieten. Das bedeutet weder, dass sie ihm die Entscheidung abnehmen, noch, dass sie die Urteilsentscheidung von jeglicher Dezision befreien möchte. Ein solcher Anspruch wird in dieser Arbeit nicht verfolgt – nicht weil er grundsätzlich abzulehnen wäre, sondern weil er aus den im 1. Kapitel dargestellten Gründen unerreichbar erscheint. Die Funktion des Urteils soll deshalb nicht dazu dienen, den Richter festzulegen.18 Eine solche Methodenlehre ist meist zu unflexibel, um dem Richter bei der konkreten Fallentscheidung helfen zu können. Dies musste auch Esser in seiner Studie über die richterliche Rechtsfindung feststellen: „Insgesamt ergab sich, daß unsere akademische Methodenlehre dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle bedeutet. Die Praxis – und das gilt für die Tatsacheninstanzen noch deutlicher – geht nicht von doktrinären „Methoden“ der Rechtsfindung aus, sondern benutzt sie nur, um die nach ihrem Rechts- und Sachverständnis angemessene Entscheidung lege artis zu begründen. Den gleichen Dienst kann aber die Berufung auf Präjudizien, eine ständige Rechtsprechung oder andere anerkannte Autoritätsquellen liefern.“19

Es bleibt allerdings die Frage bestehen, ob ein vager Zweck dem Richter genügend Orientierung bieten kann, um ihm bei der Entscheidung helfen zu können.20 Dieses Problem macht es erforderlich, die Funktion des Urteils so konkret wie möglich herauszuarbeiten. Allerdings ist die Kenntnis des Entscheidungszweckes nicht nur eine Hilfe, sondern eine unbedingte Voraussetzung für die Entscheidungsbegründung. Eine Begründung muss immer ein Ziel haben, ansonsten kann sie nicht ihr Überzeugungspotenzial ausschöpfen. Wenn man beispielsweise jemanden bittet, ein bestimmtes Buch anzupreisen, so kann er dies nur dann effektiv tun, wenn er weiß, mit welchem Ziel er es anpreisen soll. Soll er das Buch verkaufen, werden der Verkaufspreis, die Einzigartigkeit und der objektive Marktwert eine wichtige Argumentationsgrundlage sein. Ist es hingegen sein Ziel, jemanden zur Lektüre des Buches zu bewegen, ist eventuell die leichte Lesbarkeit und die Bedeutung des Inhalts ausschlaggebend. Natürlich können Argumente bei beiden Zielen eine Rolle spielen (z. B. ein Hinweis auf schöne Bilder), aber nicht jedes Argument kann bei jedem Ziel angeführt werden. Zum Teil können sich Argumen18 Insofern greift auch nicht die Kritik von v. Hippel (1952), S. 431 ff., die Suche nach einem Zweck führe in den dogmatischen Positivismus des 19. Jahrhunderts, denn aus dem Zweck soll das Urteil ja nicht abgeleitet werden. Der Zweck soll dem Richter lediglich eine Orientierung bieten und hat in dieser Hinsicht seine Berechtigung (vgl. auch Gaul (1968), S. 35). 19 Esser (1972a), S. 7. 20 Siehe v. Hippel (1952), S. 431 f.

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

te umkehren (ein geringer Umfang mag eher zum Lesen animieren, doch ein großer Umfang besser den Verkaufspreis rechtfertigen) oder in eine andere Richtung weisen (die Einzigartigkeit kann sowohl den objektiven Marktwert steigern als auch die anderweitige Kenntnisnahme des Inhalts erschweren). Für eine gute Begründung ist es demnach ausschlaggebend, zu welchem Zweck die Begründung erfolgt.21 Erst mit Kenntnis des Zweckes lässt sich sinnvoll darüber streiten, ob die einzelnen Argumente angebracht sind oder nicht, überzeugen können oder zu weit hergeholt erscheinen. Als Argumentationsziel ist die Funktion des Urteils deshalb eine Hilfe, auf die der Richter nicht verzichten kann, wenn er zu einem guten Urteil kommen möchte. Gaul hat ferner gezeigt, dass in der Rechtsprechung bereits häufig mit der Funktion des Zivilprozesses argumentiert wurde.22 Allerdings stellte er fest, dass diese Funktion ganz unterschiedlich gefasst wurde – je nach Argumentationsbedarf. Dies zeigt umso deutlicher, wie wichtig es ist, eine Urteilsfunktion festzulegen, um eine rationale Argumentation zu gewährleisten. Ein gutes Urteil ist demnach ein Urteil, welches seiner Funktion gerecht wird. Darum ist es unerlässlich, die Funktion des Urteils zu bestimmen.

3. Ziel des Urteils In der Literatur wird kaum über das Ziel bzw. die Funktion eines Urteils geschrieben. Dagegen ist eine Fülle an Ausführungen über die Funktion von Recht, die Funktion des Richters und die Funktion des Zivilprozesses vorhanden. Diese Ausführungen können teilweise bei der Suche nach der Funktion des Urteils dienlich sein, denn das Urteil ist ein Akt der Rechtsprechung, welches vom Richter als Abschluss eines Prozesses ausgesprochen wird. Allerdings können die Funktionen nicht problemlos übertragen werden: Richter sprechen nicht nur Urteile aus, und ein Zivilprozess muss nicht durch Urteil beendet werden, weshalb es auch denkbar ist, dass der Prozess noch eigene, vom Urteil unabhängige Funktionen erfüllt. Am schwierigsten ist die Frage nach der Funktion des Rechts, da diese eng mit dem Rechtsbegriff verbunden ist und nicht unabhängig von ihm beantwortet werden kann. Die ursprüngliche Idee, die Funktionen von Recht, Richter und Zivilprozess getrennt zu erörtern, um dann aus den gewonnen Erkenntnissen die Funktion des Urteils zu entwickeln, wurde verworfen. Ein solches Unterfangen wäre zu aufwändig für die geringen Erkenntnisse, die aus den Ergebnissen zu ziehen wären. Erst durch die Funktion des Urteils lässt sich nämlich klären, ob bestimmte Autoritätsquellen noch unter den Begriff „Recht“ fallen sollten oder nicht. Auch kann die 21 Siehe Gottwald (1980), S. 3: „Entscheidend geprägt wird sie (die Argumentation, A.R.) aber neben den Adressaten (Parteien, Fachjuristen, Öffentlichkeit) von dem Zweck und von dem jeweiligen Sachgebiet, in dem argumentiert wird.“ 22 Gaul (1968), S. 35 f.

3. Ziel des Urteils

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Rolle des Richters bei der Urteilsentscheidung über die Funktion des Urteils bestimmt werden, ohne gleich die gesamte richterliche Tätigkeit zu untersuchen. Deshalb werden sämtliche Funktionen, die dem Recht, dem Richter oder dem Zivilprozess zugeschrieben werden und auf das Urteil übertragbar sind, einzeln in Erwägung gezogen, um festzustellen, welche von ihnen am überzeugendsten dem Urteil zugesprochen werden sollte. Es wird hier bewusst die Formulierung „zugesprochen werden“ gewählt, weil das Urteil keine Funktion „hat“, die ihm nicht gegeben wird. Es geht deshalb in diesem Kapitel auch nicht darum, das „Wesen“ des Urteils zu erforschen, um seine „wahre“ (im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit) Funktion zu finden. Ziel ist es vielmehr, dem Urteil die Funktion zuzusprechen, die sich argumentativ am besten stützen lässt. Als Funktion des Urteils kommen nun folgende in der Rechtstheorie diskutierten Möglichkeiten in Betracht: Gerechtigkeit, Wahrheit, Rechtssicherheit, Schutz subjektiver Rechte, Bewährung objektiven Rechts, Rechtsfortbildung, Effizienz und Rechtsfrieden. a) Gerechtigkeit als Ziel des Urteils Gemäß § 38 I DRiG schwört der Richter, nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen. Das ist zumindest ein Indiz dafür, dass das Schaffen von Gerechtigkeit das Ziel eines jeden Urteils ist. Um feststellen zu können, ob die Funktion des Urteils darin besteht, Gerechtigkeit zu schaffen, muss bestimmt werden, was unter Gerechtigkeit zu verstehen ist. Um angesichts der vorhandenen Definitionsversuche nicht den Überblick zu verlieren,23 ist es ratsam, mit Perelman den formellen und den materiellen Aspekt der Gerechtigkeit zu unterscheiden.24 Formell lässt sich feststellen, dass Gerechtigkeitsvorstellungen immer auf einem Gleichbehandlungsprinzip beruhen: „Die formale oder abstrakte Gerechtigkeit läßt sich demnach definieren als ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden müssen.“25

Die unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen unterscheiden sich nun bei der materiellen oder konkreten Beantwortung der Fragen, wann zwei Wesen derselben Wesenskategorie angehören und wie diese dann behandelt werden sollen. Dabei ist selbstverständlich, dass kein Mensch mit einem anderen Menschen und kein Fall mit einem anderen Fall identisch ist. Unterschiede gibt es immer; sei es, dass der eine Mensch größer ist als der andere, der eine Fall sich früher ereignete als ein zweiter etc. Die Frage ist dann nur, welche Unterschiede eine Ungleichbe23 Einen guten Überblick über die verschiedenen Definitionsversuche findet man in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 3, Sp. 330 – 338 und bei Kelsen (1953). 24 Perelman (1945). 25 Ebenda, S. 28.

4 Rafi

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

handlung rechtfertigen können. Eine einfache Antwort darauf wäre, dass die Kriterien, auf die es für eine Ungleichbehandlung ankommt bzw. nicht ankommen darf, im Gesetz definiert sind: So kommt es beim Eigentumserwerb vom Nichtberechtigten darauf an, ob die Sache dem Eigentümer abhanden gekommen ist und ob der Erwerber bei Erhalt der Sache gutgläubig war (§§ 932 ff. BGB). Nicht ankommen darf es dagegen auf das Geschlecht oder den Glauben des Erwerbers (Art. 3 III GG).26 Wenn die Kriterien für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung aus dem Gesetz entnommen werden, so ist Gerechtigkeit nichts anderes, als jedem das zu geben, was ihm das Gesetz zuteilt.27 Definiert man Gerechtigkeit als „alles Gesetzliche“28, so wäre die Funktion des Urteils eine nach den Gesetzen ordnungsgemäß getroffene Entscheidung. Nun wurde aber bereits festgestellt, dass die Gesetze alleine nicht ausreichen, um eine Entscheidung treffen zu können. Gerade deshalb sollte ja die Funktion des Urteils ermittelt werden. Wäre Gerechtigkeit also mit Gesetzlichkeit gleichzusetzen, würden wir hier in einen argumentativen Zirkel geraten. Aber in der juristischen Literatur ist mit Gerechtigkeit auch keine „Gesetzlichkeit“ gemeint. Der Begriff „Gerechtigkeit“ dient vielmehr dazu, sich von einem Gesetzespositivismus abzugrenzen, der den Rechtsbegriff strikt von moralischen Aspekten trennt.29 Die Gerechtigkeit soll dem Gesetz gerade gegenübergestellt werden. Dann müssen allerdings andere Kriterien gefunden werden, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Hier stellt sich jedoch genau das Problem: Solange keine Kriterien gefunden werden, die „alle rational denkenden Wesen“ (wer auch immer sich dahinter verbirgt und was auch immer unter „Rationalität“ verstanden wird) als Rechtfertigungsgrund anerkennen, ist eine Orientierung an der Gerechtigkeit nicht möglich. Mehr noch: Es spricht vieles dafür, dass das Zivilrecht gerade deswegen notwendig ist, weil in der Gesellschaft unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen existieren.30 Eine pluralistische Gesellschaft muss den Gesellschaftsmitgliedern zubilligen, eigene Kategorien für die Beurteilung von Gleichheit und Ungleichheit zu haben.31 Damit ist nicht gesagt, dass

26 Absolut gilt Art. 3 III GG allerdings nicht, denn natürlich kann bei einer Schauspielerausschreibung ein männlicher Bewerber für eine weibliche Rolle gerade wegen seines Geschlechts oder ein Moslem als Bewerber für die Erteilung von christlichem Religionsunterricht gerade wegen seines Glaubens abgelehnt werden. Die Grenzen der Anwendung von Art. 3 III GG sind noch nicht befriedigend geklärt (Vgl. etwa die in ihrer Abstraktheit kaum anwendbare Formel in BVerfGE 92, 91 / 109: „Fehlt es an zwingenden Gründen für eine Ungleichbehandlung, läßt sich diese nur noch im Wege einer Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht legitimieren.“). 27 Perelman (1945), S. 38. 28 Aristoteles, Nikomachische Ethik V, 3, 1129b 21 ff. 29 BVerfGE 23, 98, 106: „Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, daß ein ,Verfassungsgeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist‘.“ 30 Siehe Kelsen (1934), S. 15; Pawlowski (1967), S. 374 ff. 31 Siehe Perelman (1945), S. 39.

3. Ziel des Urteils

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die individuellen Kategorien nicht die rechtlichen Kategorien beeinflussen können (und vice versa)32, es bedeutet aber, dass den Gesellschaftsmitgliedern eine eigene moralische Kompetenz – ein Gewissen – zuerkannt wird. Würde das Urteil nun immer mit dem Anspruch gefällt, Gerechtigkeit zu schaffen, träte es mit dem Anspruch auf, die Anliegen der Streitparteien moralisch zu bewerten. In einem solchen Fall würde sich die judikative Gewalt eine moralische Kompetenz anmaßen, die dem Grundgedanken einer pluralistischen Demokratie entgegensteht: Pluralistische Demokratie bedeutet, dass Individuen ihre unterschiedlichen Interessen und Ideologien33 auf argumentativem Wege durchzusetzen versuchen, indem sie für ihre Interessen eine Mehrheit gewinnen. Es bedeutet gerade nicht, dass staatliche Organe den Individuen das „moralisch richtige“ Interesse anerziehen, denn dann würden die staatlichen Organe dem Pluralismus zugunsten einer staatlichen Ideologie offensiv entgegenwirken.34 Um einer pluralistischen Gesellschaft gerecht zu werden, muss ein Zivilrechtsurteil immer ein Rechtsurteil bleiben und darf nicht zu einem Moralurteil werden. Insoweit ist an einer Trennung von Recht und Moral in dem Sinne festzuhalten, dass ein Rechtsurteil keinen Rückschluß auf die persönlichen Moralvorstellungen des Urteilenden erlaubt. Die Diskussion zur Trennung von Recht und Moral ist leider sehr unergiebig, da den „Gegnern“ häufig Prämissen unterstellt werden, die sie nicht vertreten.35 Befürworter der positivistischen Trennungsthese unterstellen den Befürwortern der Verbindungsthese, sie hielten eine Norm nur dann für legal, wenn sie moralisch richtig sei.36 Tatsächlich wird von Befürwortern der Verbindungsthese diese aber sehr viel bescheidener formuliert: „Der Begriff des Rechts ist so zu definieren, daß er moralische Elemente enthält.“37

Bei einer solch schwachen Verbindung von Recht und Moral kann es aber nicht die Funktion des Urteils sein, Gerechtigkeit zu schaffen. Richtig ist, dass das GePerelman (1965), S. 130. Der Begriff „Ideologie“ soll hier wertneutral in dem Sinne verstanden werden, dass eine Ideologie durch die notwendige Informationsselektion und Informationsanpassung an Vorerfahrungen zustande kommt. Siehe zu den verschiedenen Ideologiebegriffen Boudon (1986), S. 76 f. 34 BVerfGE 20, 56, 99: „In einer Demokratie muß sich diese Willensbildung aber vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin, vollziehen. Die Staatsorgane werden durch den Prozeß der politischen Willensbildung des Volkes, der in die Wahlen einmündet, erst hervorgebracht (Art. 20 II GG). Das bedeutet, daß es den Staatsorganen grundsätzlich verwehrt ist, sich in bezug auf den Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes zu betätigen, daß dieser Prozeß also grundsätzlich ,staatsfrei‘ bleiben muß.“ 35 Vgl. auch die Einschätzung von Alexy (1990), S. 14: „Eine Erklärung für die Ergebnislosigkeit dieses Streites dürfte sein, daß seine Teilnehmer oft nicht erkennen, daß die These, die sie verteidigen, eine andere ist als die, die sie angreifen, so daß sie aneinander vorbeireden.“ 36 Hoerster (1990), S. 32. 37 Alexy (1990), S. 9. 32 33

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

setz auslegungsbedürftig ist und ein Rechtsurteil deshalb auch immer ein Werturteil darstellt. Insoweit wird ein strenger Gesetzespositivismus zu Recht von den Kritikern der Trennungsthese abgelehnt. Fehlerhaft ist es jedoch, daraus den Schluss zu ziehen, dass Moralvorstellungen für eine Rechtsentscheidung deshalb ausschlaggebend seien38: Solange keine außerrechtlichen Kriterien angegeben werden, nach denen die formale Gerechtigkeit materiell nutzbar gemacht werden kann, bleibt eine Orientierung des Urteils an „der Gerechtigkeit“ eine Orientierung des Urteils an der Gerechtigkeitsvorstellung des entscheidenden Richters. Außerdem ist es nicht zwingend, dass ein Werturteil immer moralisch sein muss. Ein Werturteil kann auch eine rechtliche Bewertung darstellen, indem es sich auf im Recht festgelegte Wertungen stützt. Es kann ferner Wertungen aus Präjudizien heranziehen und nach Gesichtspunkten der Rechtssicherheit entscheiden. Letztendlich wollen die Gegner der Trennungsthese erreichen, dass ein Richter, der eine Entscheidung aufgrund von Gesetzen zu treffen hat, die selbst bei einer sehr gutwilligen Gesetzesauslegung in einem extremen Maße gegen „die Gerechtigkeit“ verstoßen, diese nicht anwenden muss.39 Dazu sind drei Punkte hervorzuheben: Erstens wird damit zugegeben, dass es zumindest möglich ist, das positive Recht von den eigenen Moralvorstellungen zu trennen, denn ansonsten könnte der Richter keine Diskrepanz zwischen positivrechtlichen und moralischen Kriterien empfinden.40 Zweitens bleibt unklar, was mit „Gerechtigkeit“ gemeint ist. Eine ontologische Begründung ist nicht in Sicht, so dass eher von den Moralvorstellungen in der Gesellschaft auszugehen ist. Diese werden sich jedoch in einer pluralistischen Demokratie weder vereinheitlichen lassen, noch ist es erstrebenswert, sie zu vereinheitlichen (s. o.). Eine Einigung ist nur vereinzelt im negativen Sinne möglich: Es ist leichter sich darauf zu einigen, was ungerecht ist (d. h., auf welche Kriterien es bei der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung nicht ankommen darf), als Kriterien aufzustellen, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen.41 Drittens ist es etwas ganz anderes, ob sich ein Urteil an „der“ Gerechtigkeit als zu erstrebendem Ziel ausrichtet, oder ob ein Urteil nicht in besonderem Maße gegen die allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen verstoßen darf. Im zweiten Fall ist die Gerechtigkeit nämlich nur ein Negativkriterium, welches besagt, dass eine Entscheidung nicht in besonderem Maße als ungerecht empfunden werden darf. Dann ist das Schaffen von Gerechtigkeit aber nicht die Funktion des Urteils. Inwieweit Moralvorstellungen der Gesellschaft für das Urteil eine Rolle spielen, kann erst geklärt werden, wenn die Funktion des Urteils festgestellt wurde.

38 39 40 41

Diese Schlußfolgerung zieht beispielsweise Dworkin (2000), S. 156. So zumindest Radbruch (1946), S. 107. Siehe auch die Kritik von Hart (1961 / 1994) an Dworkin, S. 271. Siehe Hofmann (2000), S. 72 ff.

3. Ziel des Urteils

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b) Wahrheit als Ziel des Urteils Wenn schon nicht das Schaffen von Gerechtigkeit die Funktion des Urteils ist, so müsste es zumindest das Finden oder Herstellen von Wahrheit sein, wenn die Eidesformel des Richters ihren Sinn erfüllen soll. Dabei stellt sich sogleich die Frage, was mit „Wahrheit“ gemeint ist. Kommentierungen des § 38 I DRiG lassen sich auf keine philosophische Diskussion über den Wahrheitsbegriff ein. Bereits 1920 hat Bendix kritisiert, dass „erstaunlicher Weise gar nicht die Frage aufgeworfen wird, was es denn für eine Bewandtnis mit dieser materiellen Wahrheit und Objektivität habe, ( . . . )“42 und sich die Kritik eingefahren, dass er durch diese „rein akademischen Zweifel“ den „Aufklärungswillen“ des „prozessualen Wahrheitsforschers“ (gemeint ist wohl der Richter!) lähmen würde.43 Erkenntnistheoretische Bedenken könnten ausgeklammert werden, da es „grundsätzlich möglich ist, die Wahrheit zu erfassen.“44 Da es unklar ist, wie die Wahrheit erfasst werden soll, wenn nicht einmal erwähnt wird, von welchem Wahrheitsbegriff auszugehen ist, sollen die erkenntnistheoretischen Bedenken hier nicht ausgeklammert werden. Der Wahrheitbegriff in § 38 I DRiG ist nicht erläutert. Es kann jedoch aus richterlichen Aussagen über das Beweisrecht auf den in der Rechtsprechung angenommenen Wahrheitsbegriff geschlossen werden, da das Beweisrecht der „Wahrheitsfindung“ dient. „Gegenstand des Beweises sind nur Tatsachen, nämlich konkrete, nach Zeit und Raum bestimmte, der Vergangenheit oder Gegenwart angehörige Geschehnisse oder Zustände der Außenwelt und des menschlichen Seelenlebens.“45

Der Begriff „Außenwelt“ zeigt, dass von einer Korrespondenztheorie ausgegangen wird, denn der Richter soll es anscheinend schaffen, mit Hilfe der Beweismittel einen Sachverhalt zu „finden“, der mit der Außenwelt übereinstimmt (korrespondiert).46 Allein der Begriff „Wahrheitsfindung“ impliziert bereits eine Korrespondenztheorie der Wahrheit, denn dialogische Wahrheitstheorien gehen von einer Wahrheitskonstruktion aus.47 Bendix (1920), S. 268. Döhring (1964), S. 6. 44 Ebenda. 45 BGH DRiZ 1974, S. 27 (Urteil vom 18. 10. 1973). 46 Zum gleichen Ergebnis kommt P. Roth (1997), der allerdings meint, der grundsätzlich realistische Wahrheitsbegriff der ZPO werde von „dialogischen Elementen ergänzt und bestimmt“ (S. 8), wobei Roth einen dialogischen Wahrheitsbegriff so versteht, dass wahr ist, was konsensfähig ist (S. 7). Dabei übersieht er jedoch, dass ein dialogischer Wahrheitsbegriff nicht schon dann vorliegt, wenn im Prozess ein Dialog zwischen den Parteien vorgesehen ist (S. 8 ff.). Wenn eine „Wahrheit dialogisch zu erforschen ist“ (S. 10), liegt ein realistischer Wahrheitsbegriff zugrunde, denn es gibt außerhalb des Dialoges „etwas“ zu erforschen, auf das sich der Dialog bezieht. Nur wenn die Wahrheit dialogisch festgelegt bzw. konstruiert wird, ist das wahr, was konsensfähig ist. 47 Puntel (1978), S. 164 ff. Zur Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit siehe Rorty (1989 / 1992), S. 49: „Da die Wahrheit eine Eigenschaft von Sätzen ist, da die Existenz 42 43

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

Wenn nun die „Wahrheitsfindung“ der Zweck des Urteils wäre, stände es schlecht um unser Rechtssystem. Zunächst einmal würde sich die Funktion des Urteils darauf beschränken, den Sachverhalt festzustellen, denn die Rechtsfolge ist eine normative Aussage, der keine Realität korrespondieren kann. Aber es ist auch schon bedenklich anzunehmen, dass das Urteil den „wahren“ Sachverhalt aufzudecken habe. Bereits 1922 stellte Vaihinger fest, in welch großem Ausmaß Juristen mit Fiktionen arbeiten, d. h. mit Annahmen, die im Gegensatz zu Unterstellungen (präsumptio) nicht nur grundsätzlich angenommen werden, sondern sogar angenommen werden, obwohl das Gegenteil bekannt ist.48 Wäre eine Wahrheitsfindung die Urteilsfunktion, so könnte auch nicht erklärt werden, warum das Beweisrecht der Zivilprozessordnung Zeugnisverweigerungsrechte (§§ 383 f. ZPO) oder Beschränkungen des Urkundenbeweises (§ 422 ZPO) kennt.49 Dass die Wahrheitsfindung kein Selbstzweck ist, kann auch aus dem Umstand gesehen werden, dass bei Geständnis (§ 288 I ZPO), Nichtbestreiten (§ 138 III ZPO) oder Säumnis des Beklagten (§ 331 I 1 ZPO) die richterliche Wahrheitsprüfung ausgeschlossen ist.50 Darüber hinaus spricht die Absage des Bundesgerichtshofes an eine allgemeine Auskunftspflicht gegen die Wahrheitsfindung als Urteilsziel.51 Abgesehen davon hat der Richter aber auch gar keine Chance, einen Sachverhalt zu „finden“, der sich, so wie er ihn der Urteilsbegründung zugrunde legt, in der Außenwelt zugetragen hat. Von Geburt an ist der Mensch dabei, sich seine Welt zu konstruieren. Piaget hat diesen Prozess beschrieben als eine ständige Wechselwirkung von konservativer Assimilation, die Informationen in vorhandene Schemata einordnet, und neu orientierender Akkomodation, die vorhandene Schemata erweitert oder neue Schemata schafft, um mit den neuen Informationen besser umgehen zu können.52 Diese Wechselwirkung von äußerlicher Information und innerer Informationsverarbeitung nennt Varela Kopplungen und zeigt an anschaulichen Beispielen, dass „Kognition eine Geschichte von Kopplungen ist, die eine Welt hervorbringt.“53 Es kommen aber noch weitere Probleme hinzu: – Die Informationen, die verarbeitet werden, stellen bereits eine Reduktion dar, die durch einen subjektiven Filter Informationen herausfiltert, welche das Subjekt der Aufmerksamkeit für unwürdig erachtet.54 von Sätzen abhängig von Vokabularen ist und da Vokabulare von Menschen gemacht werden, gilt dasselbe für Wahrheiten.“ 48 Zur Unterscheidung zwischen präsumptio und Fiktion siehe Vaihinger (1922), S. 258. Weitere Beispiele für juristische Fiktionen finden sich auf S. 46 f.; 70 f. 49 Stein / Jonas / Leipold, § 284 Rdnr. 56; siehe auch Kodek (1987), S. 101. 50 Stein / Jonas / Leipold, § 284 Rdnr. 3. 51 Siehe BGH NJW 1990, S. 3151. 52 Piaget (1950 / 1998), S. 337 ff. 53 Varela (1986), S. 58 ff. 54 Vester (1978 / 1996), S. 84 ff.

3. Ziel des Urteils

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– Sinneseindrücke werden durch den Kontext, in dem sie wahrgenommen werden, verfälscht.55 – Der Wunsch, mit anderen Menschen Wahrnehmungen zu teilen, kann zu einer veränderten Sinneswahrnehmung führen, die durch Konformitätsdruck zustande kommt.56

Deshalb kann nicht erwartet werden, dass der Richter aus den Zeugenaussagen verschiedener Subjekte den „tatsächlich stattgefundenen Sachverhalt“ herausfinden wird. Aber die Probleme gehen noch weiter, denn nicht nur die Zeugen sind Menschen, sondern auch der Richter. Jeder Richter hat sich durch seine Erfahrung ein eigenes Weltbild angeeignet, und dieses Weltbild ist nun der Hintergrund, vor dem er zwischen wahr und falsch unterscheidet.57 Die Argumente der Zeugen werden nun innerhalb eines vom Weltbild des Richters geprägten Systems geprüft, und das, was vor dem Hintergrund dieses Systems wahrscheinlich erscheint, wird dann zum Sachverhalt.58 Dabei konstruiert dieses Wahrscheinlichkeitssystem den Sachverhalt in vielerlei Hinsicht: Der Richter filtert Informationen heraus, die ihm als unwichtig erscheinen und fragt nur bei bestimmten Punkten nach, die er für relevant hält (in Bezug auf die Subsumierbarkeit bzw. Beweisbarkeit). Dass es sich hierbei nicht bloß um psychologische Spitzfindigkeiten handelt, zeigt eine 1988 – 89 durchgeführte Studie des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, bei der verschiedenen Richtern ein Arzthaftungsfall zur Verhandlung vorgelegt wurde.59 Auch wenn der geringe Umfang der Studie kein repräsentatives Bild erlaubt, konnte zumindest festgestellt werden, dass der Sachverhalt nicht durch die Aktenlage und die in einem Karteikastensystem vorgefertigten Antworten der Gutachter, Zeugen, Klägerin etc. festgelegt ist, sondern durch den Richter mitgestaltet (mitkonstruiert) wird und völlig entgegengesetzte Urteile ermöglicht.60 Die Wahrheitsermittlung ist nach alledem nicht die Funktion des Urteils und der Richtereid erscheint in seiner Formulierung nicht sehr geglückt.61

c) Rechtssicherheit als Ziel des Urteils Als Funktion des Urteils könnte ferner die Rechtssicherheit angesehen werden. Dabei kommen zwei Varianten in Betracht: Einerseits (aa) könnte unter RechtsPlous (1993), S. 38 ff. Asch (1955), S. 451 ff.; Plous (1993), S. 200 ff. 57 Wittgenstein (1949 – 51 / 1997), Nr. 94. 58 Ebenda, Nr. 105 f., 144, 335. 59 Zum genauen Verfahrensablauf siehe Schmid / Drosdeck / Koch / Schmid (1997), S. 80 ff., S. 115 ff. 60 Schmid / Drosdeck / Koch / Schmid (1997), S. 159 ff. 61 Amüsant zu lesen ist die Polemik von P. Schäfer (1975), S. 215 f. 55 56

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

sicherheit verstanden werden, dass es berechenbar ist, wie ein Gericht entscheiden wird. Rechtssicherheit würde dann Vorhersehbarkeit des Rechts bedeuten. Andererseits (bb) könnte unter Rechtssicherheit verstanden werden, dass man sich eines Rechtstitels sicher sein kann. Rechtssicherheit würde dann Beständigkeit des Rechts bedeuten. aa) Vorhersehbarkeit des Rechts Dass Urteile nur zu einem gewissen Grad vorhersehbar sein können, wurde im ersten Kapitel bereits angedeutet. Allerdings beschränkte sich das erste Kapitel auf die Deduzierbarkeit des Urteils aus dem Gesetzestext. Es wäre denkbar, dass Gerichte Präjudizien schaffen, die das Recht vorhersehbarer machen, als dies allein durch den Gesetzestext möglich ist. Zweifelsohne ist das auch der Fall, wenn höchstrichterliche Urteile Begriffe definieren oder das Recht fortbilden. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass jedes Urteil ebenfalls ausgelegt werden muss und sich damit ähnliche Auslegungsprobleme stellen, die bereits bei der Gesetzesinterpretation auftraten. Außerdem sind Fälle nie identisch, was schon daran liegt, dass verschiedene Richter aus den gleichen Beweismitteln verschiedene Sachverhalte konstruieren.62 Deshalb wird es notwendig, verschiedene Fälle als gleich anzusehen, da sie in allen „relevanten“ Punkten identisch sind – oder aber sie als ungleich anzusehen, da sie in einigen oder allen Punkten vom Präjudiz abweichen. Diese Distinktion ist natürlich eine Wertentscheidung des Richters, der festlegt, welche Punkte „relevant“ sind. Daher ist Rechtssicherheit im Sinne einer Vorhersehbarkeit des Rechts nicht zu erreichen. Allerdings wäre denkbar, dass diese Funktion ein anzustrebendes Ideal darstellt. Bei dieser Annahme gerät man aber erneut in Schwierigkeiten: Es ist unklar, warum das Gericht nicht selbst tätig werden kann, um unabhängig von einer Klage strittige Rechtsfragen zu klären. Es bleibt auch unklar, warum Präjudizien im deutschen Recht keine unteren Gerichte binden. Letztendlich wäre es nur konsequent, Urteile ohne Differenzierung immer gleich zu entscheiden, um eine optimale Vorhersehbarkeit zu garantieren (z. B.: „Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.“). In einem solchen Fall würde niemand mehr das Rechtssystem beanspruchen, was nur bedeuten kann, dass sich die Funktion des Urteils nicht in seiner Vorhersehbarkeit erschöpft.63

Siehe unter 3. b). Das übersieht Schmitt (1912 / 1969), wenn er davon ausgeht, dass eine richterliche Entscheidung schon dann richtig ist, wenn „ein anderer Richter ebenso entschieden hätte“ (S. 71). 62 63

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bb) Beständigkeit des Rechts Rechtsbeständigkeit ist sicher von großer Bedeutung, denn ein Rechtstitel ist nur dann von Nutzen, „wenn die obsiegende Partei sicher sein kann, daß es bei der in dem Urteil ausgesprochenen Rechtsfolge bewendet, und daß sie nicht befürchten muß, in einem späteren Verfahren werde alles wieder umgestoßen. Daraus folgt, daß die gerichtliche Entscheidung von einem gewissen Zeitpunkt an unumstößlich sein muß. Sie erwächst in Rechtskraft.“64

Allerdings sieht auch Grunsky die Rechtskraft nicht als die Funktion des Urteils, sondern nur als ein wichtiges Mittel, um diese Funktion zu erfüllen (für Grunsky ist das die Durchsetzung subjektiver Rechte). Ganz auf die Rechtskraft setzt Goldschmidt, der diese als „Gerichtskraft“ vom materiellen Recht löst und somit zu einer doppelten Rechtsordnung kommt: dem materiellen Recht als erster Rechtsordnung und der gerichtlichen Interpretation des materiellen Rechts als zweiter Rechtsordnung.65 Wäre aber nur die Rechtsbeständigkeit als Rechtskraft Urteilsfunktion, so ließen sich alle Einschränkungen dieser Rechtsbeständigkeit nicht erklären. Es wäre unerklärlich, warum unter bestimmten Umständen eine Restitutionsklage möglich sein soll (§ 580 ZPO) bzw. überhaupt Berufungs- und Revisionsmöglichkeiten vorgesehen sind. Auch bliebe schleierhaft, weshalb eine Klageabweisung „als zur Zeit unbegründet“ möglich sein soll.66 Schließlich wäre es auch schwer nachzuvollziehen, wieso die Rechtsprechung seit nun fast einem Jahrhundert geneigt ist, über § 580 ZPO hinaus auch gemäß § 826 BGB ein Wiederaufnahmerecht zu konstruieren.67 Diese Argumentation ist sicher nicht logisch zwingend, denn es kann eingewandt werden, die Rechtsprechung sei falsch, die Gesetze seien schlecht und als Funktion des Urteils bleibe einzig die Rechtskraft. Man muss jedoch nicht gleich Hegelianer sein, wenn man davon ausgeht, dass langjährige Rechtstraditionen nicht gänzlich verfehlt, sondern zumindest teilweise vernünftig sind. Wenn eine angenommene Urteilsfunktion wichtige Rechtsinstitutionen in keiner Weise erklären kann, ist dies ein wichtiges Argument gegen diese mögliche Funktion.

Grunsky (1974), S. 483. Goldschmidt (1925), S. 211 ff. S. 213: „Auch die Rechtskraft ist – wenigstens heute – eine Rechtsfolge; das Recht selbst legt dem Urteil die Wirkung bei, daß, was der Richter für Recht erkennt, als Recht gilt ( . . . ). Indessen, indem das Recht so verfährt, macht es aus der Not eine Tugend. Es legalisiert die Macht, welche, sobald die auf das Pflichtmotiv gestellte Macht des Rechts versagt hat, aus dem Recht, ,so wie sie es versteht‘, eine zweite – konkrete – Ordnung schafft, die neben die Rechtsordnung ( . . . ) tritt und ihr im Konfliktfall nach dem soziologischen Machtprinzip vorgeht.“ 66 Zur Problematik siehe Kappel (1999). 67 RGZ 61, 359, 365 (Urteil vom 14. 10. 1905); BGH NJW 1951, 759 (21. 6. 1951); BGHZ 101, 380 (24. 9. 1987); BGH NJW 99, 1257 (9. 2. 1999); grundsätzlich zustimmend: Grunsky (1974), S. 497. 64 65

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

d) Schutz subjektiver Rechte / Bewährung objektiven Rechts / Rechtsfortbildung als Ziel des Urteils Es wurde viel darüber gestritten, ob der Zivilprozess der Durchsetzung subjektiver Rechte diene oder der Bewährung objektiven Rechts. Bezogen auf die Urteilsfunktion stellt sich also die Frage, ob das Urteil dazu dienen soll, dem Kläger seinen Anspruch gegen den Beklagten zu gewähren (wenn er einen solchen Anspruch hat), oder ob es für die gesamte Rechtsgemeinschaft verbindlich feststellt, was „Recht“ ist und dafür sorgt, dass Recht dem Unrecht nicht zu weichen habe. Mit dem Argument, dass die Rechtsordnung für den einzelnen Bürger da sei und nicht der Kläger als „Prozessstandschafter des objektiven Rechts“ auftrete, wurde zugunsten des Schutzes subjektiver Rechte argumentiert.68 Hinzu kommt, dass eine Überbewertung der Rechtsordnung als solcher dazu führen kann, ideologieabhängige öffentliche Interessen auf Kosten von subjektiven Freiheiten durchzusetzen.69 Dagegen wurde eingewandt, dass es Verfahren und Rechtsnormen gäbe, die lediglich einem objektiven Interesse dienten: So kann / muss der Richter einen Vertrag selbst dann für sittenwidrig erklären, wenn beide Parteien von der Gültigkeit des Vertrages ausgehen. Ferner kann er bei einer Scheidungsklage von Amts wegen über das Parteivorbringen hinaus ermitteln (§ 616 I, II ZPO).70 Auch könnten Präklusion und Säumnis nicht erklärt werden.71 Deshalb könnte man annehmen, der Prozess habe eine Doppelfunktion: Er schütze hauptsächlich die subjektiven Rechte, diene aber teilweise nur der Bewährung objektiven Rechts.72 Bei dieser Diskussion wird eines übersehen: In beiden Fällen geht man davon aus, es gebe ein Recht, welches vor der Urteilsentscheidung bereits feststeht. Hätte das Urteil die Funktion, subjektive Rechte zu schützen, so müsste es vor der Urteilsentscheidung bereits subjektive Rechte geben. Ebenso müsste das Recht „objektiv“ feststellbar sein, wenn das Urteil diesem Recht lediglich entsprechen soll, damit es sich bewährt. Nun wurde zu Beginn dieses Kapitels angenommen, dass das Urteil eine Entscheidung sei – d. h. eine Entscheidung des Richters. Es mag Fälle geben, in denen der Gesetzeswortlaut so gut auf den konkreten Fall passt oder eine so gefestigte Rechtsprechung besteht, dass kein Rechtskundiger ernsthaft daran zweifelt, wie die Entscheidung ausfallen wird. Fällt sie aber anders aus (sei es, weil der Richter das Gesetz anders interpretiert, sei es, weil er meint, den Gesetzestext in diesem Fall nicht anwenden zu dürfen / können), so ist auch kein subGrunsky (1974), S. 5. Spickhoff (1999), S. 19. 70 Thiere (1980), S. 17 f. mit weiteren Beispielen. 71 Spickhoff (1999), S. 18. Dieses Argument ist m. E. nicht zwingend, denn ähnlich wie bei der Verjährung ist es denkbar, daß der Kläger sein Recht durch eigenes Verschulden verliert oder verschlechtert (Präklusion), bzw. durch das Verschulden des Beklagten Rechte erlangt (Säumnis). Es ist lediglich ein Argument gegen eine strikte Trennung von materiellem Recht und Prozessrecht. 72 Thiere (1980), S. 367 ff.; Jauernig (1971), S. 332. 68 69

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jektives Recht gegeben. In diesem Sinne ist es auch konsequent, wenn F. Müller dem Gesetzestext Normativität abspricht73, denn erst das Urteil kann ein „Sollen“ einfordern. Wegen dieser „Unbestimmtheit des Rechts“ vor dem Urteil lehnt auch Pawlowski es ab, den Zweck des Urteils in der Durchsetzung subjektiver Rechte zu sehen.74 Nun könnte daraus die Schlussfolgerung gezogen werden, die Funktion des Urteils bestände darin, das noch unbestimmte Recht zu konkretisieren. Urteilsfunktion wäre dann die Rechtsfortbildung. Interessanterweise zieht Pawlowski diesen Schluss nicht. Rechtsfortbildung sei Aufgabe der Parteien, nicht die des Gerichts.75 Bestände die Funktion des Urteils lediglich in der Rechtsfortbildung, so ließe sich nicht erklären, warum das Gericht nur auf Antrag tätig wird und warum es an die Klageanträge gebunden ist. Auch könnte die Existenz des einstweiligen Rechtsschutzes nicht plausibel gemacht werden. Rechtsfortbildung kommt deshalb als Urteilsfunktion ebenfalls nicht in Betracht.

e) Effizienz als Ziel des Urteils „Einen eigenständigen Effizienzbegriff hat die Rechtswissenschaft nicht entwickelt.“76 Schon dieser Umstand lässt Skepsis aufkommen, ob ein Urteil die Funktion haben kann, effizient zu sein. Dabei stellt sich auch gleich die Frage, was unter Effizienz überhaupt zu verstehen ist. „Effizienz“, verstanden als Synonym von „Wirtschaftlichkeit“, wäre ziellos in dem Sinne, dass sie sich auf vollkommen beliebige Ziele beziehen könnte. „Effizienz“ als Ziel an sich gesehen, führt zum Effizienzbegriff der Wohlfahrtsökonomik.77 Ähnlich wie der Utilitarismus ist auch die Wohlfahrtsökonomik darum bemüht, es möglichst vielen Menschen möglichst gut gehen zu lassen. Anders als der Utilitarismus geht die Wohlfahrtsökonomik jedoch nicht von der Möglichkeit eines interpersonellen Nutzenvergleiches aus: Die Freude und das Leid des einen Menschen lässt sich ebenso wenig mit der Freude oder dem Leid eines anderen Menschen vergleichen wie der Nutzen von Geld. Einen obdachlosen Bettler werden 100 A mehr erfreuen als einen Millionär, obwohl es sich um den gleichen Geldwert handelt.78 Aus diesem Grund arbeitet die Wohlfahrtsökonomik nicht mehr mit einem interpersonellen Nutzenvergleich. Stattdessen wird auf die Zustimmung aller, d. h. auf Konsens abgestellt. Ausgegangen wird zunächst davon, dass ein Zustand effizienter ist, Siehe F. Müller (1997), Rdnr. 224 ff. Pawlowski (1967), S. 363 ff. 75 Ebenda, S. 369 (FN 103). 76 Eidenmüller (1995 / 1998), S. 55. 77 Eidenmüller (1995 / 1998), S. 55 f. 78 Zum interpersonellen Nutzenvergleich beim Utilitarismus siehe Hottinger (1999), S. 67 f. Zum Problem des interpersonellen Nutzenvergleiches und der Wohlfahrtsökonomik siehe Eidenmüller (1995 / 1998), S. 42 ff.; Schäfer / Ott (1986 / 2000), S. 38 ff. 73 74

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

wenn es mindestens einer Person besser geht, ohne dass irgendeine andere Person einen Nachteil erleidet (Pareto-Effizienz). Da diese Pareto-Effizienz jedoch jeder Person die Möglichkeit einräumt, eine Veränderung zu blockieren, indem sie angibt, sich dabei benachteiligt zu fühlen, wird ein Schritt weiter gegangen: Es soll ausreichen, wenn der neue Zustand jemanden so stark bevorteilt, dass er die Nachteile der anderen Personen ausgleichen könnte, um ihn als effizienter zu bezeichnen (Kaldor-Hicks-Effizienz).79 Es handelt sich dabei nur um die Möglichkeit einer Kompensation, so dass Gesichtspunkte der Verteilungsgerechtigkeit in der Kaldor-Hicks-Effizienz nicht berücksichtigt sind. Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Gesellschaftsmitglieder bei gesellschaftlichen Veränderungen gemäß dem Kaldor-Hicks-Kriterium in den Genuss von Vorteilen kommen werden und dadurch geringere Nachteile ausgleichen können, kann es zu starken sozialen Ungleichheiten kommen.80 Auch Coase stellt in seinem Aufsatz über das Problem der sozialen Kosten heraus, dass sein Theorem keineswegs besagt, wer ein Recht habe oder haben sollte. Es besagt vielmehr nur, bei wem dieses Recht nach Verhandlungen verbleiben wird, wenn es keine Transaktionskosten gibt. Ob derjenige, der das Recht am effektivsten verwenden kann, dieses Recht von vornherein haben sollte oder ob er es jemandem abkaufen muss, wird nicht vom Coase-Theorem entschieden.81 Das Coase-Theorem besagt nur, dass z. B. A das Recht erlangen wird, ein persönliches Bild von B zu vermarkten, wenn ihm dieses Bild mehr wert ist als B und keine Transaktionskosten vorliegen.82 Entweder gibt ihm die Rechtsordnung dieses Recht und er kann das Bild einfach verwerten, oder B hat dieses Recht – dann wird A dem B dieses Recht abkaufen. Vom Gesichtspunkt der Allokationseffizienz aus sind beide Alternativen gleichwertig, doch es mag ungerecht erscheinen, wenn B in der ersten Alternative keine Ausgleichszahlung erhält. Deshalb wird von den Vertretern der ökonomischen Theorie des Rechts auch meistens darauf hingewiesen, dass neben dem Effizienzkriterium auch die Verteilungsgerechtigkeit beachtet werden sollte.83 Dann kann Effizienz aber nicht die Funktion des Urteils sein. Es sollen noch

79 Ausführlich werden diese Kriterien besprochen in: von Böventer / Illing (1995), S. 255 ff. Schäfer / Ott (1986 / 2000) gehen neben einer Darstellung auch ausführlich auf die Probleme dieser Kriterien ein. 80 So auch Schäfer / Ott (1986 / 2000), S. 36. 81 Coase (1960), S. 148: „Aber man sollte sich daran erinnern, daß die unmittelbar von den Gerichten zu beantwortende Frage nicht heißt, was von wem getan werden sollte, sondern vielmehr, wer ein Recht hat, etwas zu tun oder nicht. Es ist immer möglich, durch Markttransaktionen die anfängliche rechtliche Festlegung von Rechtspositionen abzuändern. Natürlich, falls die Transaktionskosten kostenlos sind, werden solche Änderungen immer dann vorgenommen, wenn dies zu einer Produktionswertsteigerung führt.“ 82 Dabei soll nicht unterstellt werden, dass das Coase-Theorem in dieser allgemeinen Formulierung zutreffend sei. Zur Kritik am Coase-Theorem siehe Eidenmüller (1995), S. 97 ff. 83 Siehe z. B. Schäfer / Ott (1986 / 2000), S. 7. Rawls (1971 / 1994) trennt deshalb in seiner Theorie der Gerechtigkeit bei den Institutionen zwischen einer Allokationsabteilung und einer Umverteilungs- und einer Verteilungsabteilung (S. 309 ff.).

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drei weitere Gründe dafür angeführt werden, warum Effizienz nicht die Funktion des Urteils sein kann: Einerseits kann eine Orientierung an Effizienz mit der Privatsphäre einzelner Gesellschaftsmitglieder kollidieren. Dies ist der Fall bei „einmischenden Präferenzen“: Wenn viele Gesellschaftsmitglieder es z. B. präferieren, ein anderes Gesellschaftsmitglied nicht mehr zu sehen, könnte es allein aus Effizienzgesichtspunkten richtig sein, dieses Gesellschaftsmitglied auszuweisen oder umzubringen – es kommt nur auf die Intensität der Aversion gegen diese Person an. Deshalb schreibt Schäfer: „Wenn das Zivilrecht auch überwiegend als Effizienzrecht akzeptiert werden kann, so hat es dennoch auch die Aufgabe, persönliche Rechte zu schützen, selbst wenn deren Ausübung den gesellschaftlichen Reichtum mindert . . . Das Zivilrecht übernimmt dabei eine wichtige Rolle beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht, dem Schutz der Privat- und Intimsphäre beim Verbot von Diskriminierung. Es ist kein reines Effizienzrecht und sollte es auch nicht sein.“84

Darüber hinaus wäre eine reine Orientierung am Effizienzkriterium nicht mit einer parlamentarischen Demokratie vereinbar, denn der Richter würde bei einer reinen Orientierung an Effizienz nicht mehr den Gesetzeswortlaut beachten. So weit möchten die Vertreter der ökonomischen Theorie des Rechts aber auch nicht gehen. Sie verstehen die Orientierung an Effizienz eher als eine Gesetzesfortbildung praeter legem und stellen immer wieder heraus, dass sich diese Orientierung nur innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen darf.85 Dann tritt aber auch der Gesetzeswortlaut zur Konkurrenz einer Orientierung an Effizienz, wenn eine eindeutige Gesetzesaussage ökonomisch ineffizient erscheint. Letztendlich ist das Effizienzkriterium selbst innerhalb der Ökonomik umstritten, denn das klare Effizienzkriterium der Neoklassik orientiert sich an einer idealisierten Welt ohne Transaktionskosten und Informationsdefizite der Akteure. Will man hingegen von realistischeren Annahmen ausgehen und diese Aspekte in den Effizienzbegriff integrieren, so wird der Begriff „Effizienz“ selbst unklar: „Ökonomen sprechen oft von ,Effizienz‘, aber eine Folge unseres Vordringens in das Gebiet der Neuen Institutionenökonomik ist die, daß wir inzwischen kein allgemeines und logisch einwandfreies Effizienzkriterium mehr haben.“86 Unabhängig davon, dass der Effizienzbegriff sogar unter Ökonomen umstritten ist, gibt es Aspekte, die für das Rechtssystem (und damit für die richterliche Entscheidung) von Bedeutung sind und nicht notwendiger Weise vom Effizienzbegriff erfasst werden: Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit, die Privatsphäre und der GeSchäfer (1989), S. 15 ff., S. 19. Siehe z. B. C. Ott (1989), S. 31; H.-B. Schäfer (1989), S. 19; zur Rechtsprechung siehe die Zitate bei Eidenmüller (1995 / 1998), S. 460. Auch Coase (1960), S. 162, weist auf die Bedeutung der Gesetzgebung hin. 86 Richter / Furubotn (1996), S. 488 ff. Zitat von Seite 505. 84 85

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

setzeswortlaut. Ob es auf Effizienz ankommen soll, wenn Effizienz in Konkurrenz zu diesen Aspekten tritt, muss also erst vom Richter entschieden werden. Deshalb kann Effizienz nicht als Funktion des Urteils angesehen werden.87 f) Rechtsfrieden als Ziel des Urteils Übrig bleibt die Gewährung von Rechtsfrieden als Funktion des Urteils. Rechtsfrieden wird meist als ein Zustand erklärt, der dem Hobbesschen Naturzustand entgegengesetzt wird – d. h. einem Zustand, in dem die physische Gewalt in Form der Selbsthilfe durch staatlich gesetztes Recht und ein staatliches Gewaltmonopol zurückgedrängt wird.88 Ein gutes Urteil wäre dann ein Urteil, welches in der Lage ist, „Faustrecht“ aus der Gesellschaft zu verdrängen. Zunächst ist auf die Kritik am Rechtsfrieden als Urteilsfunktion einzugehen, um dem Begriff „Rechtsfrieden“ anhand dieser Kritik deutlichere Konturen zu verleihen (aa). Daraufhin soll mit einigen Argumenten für den Rechtsfrieden überprüft werden, ob dieser als Urteilsfunktion überzeugen kann (bb). aa) Kritik am Rechtsfrieden als Ziel des Urteils Es gibt zwei Hauptkritikpunkte: Einerseits sei Rechtsfrieden lediglich die historische Urteilsfunktion und könne nicht auf das moderne Rechtssystem übertragen werden ( ) und andererseits diene der Rechtsfrieden nur dazu, „unrichtige“ Urteile – also „pathologische Ausnahmen“ – zu erklären, nicht aber den „Normalfall“ ( ). ) Rechtsfrieden ist als Urteilsfunktion anachronistisch Die erste Kritik wird bei Gaul folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Sicher kann man sagen, daß der Prozeß außer der Rechtsbewährung auch die Wahrung des Rechtsfriedens verfolgt. Das läßt sich schon historisch aus dem Verbot der Selbsthilfe herleiten. Aber es war zweifellos die primitivere Entwicklungsstufe, in der zunächst einmal um des Rechtsfriedens willen die Selbsthilfe durch die staatliche Gerichtsbarkeit er87 Siehe auch die Einschätzung von Assmann (1989), S. 47: „Die Entscheidung über die Anwendung oder Nichtanwendung der Theorie hat damit etwas dezisionistisches; das Prädikat ,Gesellschaftstheorie des Rechts‘ scheint sie zu Unrecht zu beanspruchen.“ 88 Larenz (1979), S. 34; Scholz (1984), S. 9. Die von Willke (1992 / 1996) geforderte Ausdehnung des Gewaltbegriffes (z. B. Gewalt durch Folgen der Armut, Unterernährung, Umweltverschmutzung S. 243) ist hier nicht erforderlich, weil nur das Zivilrecht in Betracht gezogen wird. Sollte Umweltverschmutzung im Rahmen des Zivilrechts eine Rolle spielen (z. B. im Rahmen von §§ 823 I, 906 f., 1004 BGB), so geht es auch hier nicht darum, die Umwelt zu schützen (dies wird durch öffentlich-rechtliche Bestimmungen erreicht, vgl. § 1 BImSchG), sondern den betroffenen Parteien die Möglichkeit zu gewähren, ihre Differenzen vor Gericht auszutragen. Es soll vermieden werden, dass die Nachbarn zur Selbsthilfe greifen, wenn sie z. B. Lärm oder Gestank von nebenan nicht mehr ertragen können.

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setzt wurde. Seitdem haben sich zahllose Generationen bemüht, den Prozeß auf seine eigentliche Aufgabe als Rechtsschutzeinrichtung hin aufzubauen. Wer also im Prozeß nur eine Einrichtung zur Friedenswahrung sieht, der mutet dem Prozeß nicht mehr zu, als was letztlich auch ein administrativer Machtspruch vermöchte.“89

Übertragen auf das Urteil bedeutet dies, dass Rechtsfrieden als Urteilsfunktion reinen Dezisionismus propagieren würde: Es geht ja „nur“ darum, das Faustrecht zu vermeiden, weshalb es ausreiche, wenn irgendein Urteil festlegt, wie der Streit zu behandeln sei. Dabei geht Gaul anscheinend davon aus, dass sich die historischen Anforderungen an die Zurückdrängung des Faustrechts nicht mit dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerung wandeln können. Der Zusammenhang zwischen Dezision und Rechtsfrieden ist nicht von der Hand zu weisen, denn in Zeiten der Unruhe und des Bürgerkrieges – also in Zeiten, in denen die physische Gewalt alltäglich ist – wird gerne nach einem starken Staat gerufen, der Gewalt monopolisiert und mit seinem Machtspruch der privaten und unkontrollierbaren Gewaltausübung ein Ende bereitet.90 So definiert Hobbes den Staat auch als „eine Person, deren Handlungen eine große Menge Menschenkraft der gegenseitigen Verträge eines jeden mit einem jeden als ihre eigenen ansehen, auf daß diese nach ihrem Gutdünken die Macht aller zum Frieden und zur gemeinschaftlichen Verteidigung anwende.“91

In dieser Definition steckt jedoch mehr als reine Dezision: Es wird bereits bei Hobbes die Rückkoppelung des Staates an die Bevölkerung deutlich92, denn der Leviathan erhält seine Macht aus den gegenseitigen Verträgen!93 Deshalb kann der Gaul (1968), S. 59. Dies wird auch von Shklar (1990 / 1997), S. 116 so gesehen, wobei sie hervorhebt, dass die individuelle Rache oder „ungezügelte Gerechtigkeit“ einem Ungerechtigkeitsgefühl entspringt, dass in keinem Staat gänzlich verschwinden wird. 91 Hobbes (1651 / 1995), S. 155 f. 92 Dies lässt sich auch aus dem von Hobbes entworfenen Titelkupfer zum „Leviathan“ entnehmen: „Hier sind die Bürger gewissermaßen in den Leib der Herrschaft hineingewandert. Sie bilden buchstäblich selbst die Hoheitsgewalt, die ohne sie als deren Bausteine nicht aufragen würde über dem Land“ (Hofmann (1997), S. 35). 93 Es wäre deshalb zu kurz gegriffen, wollte man die „gegenseitigen Verträge“ als Unterwerfungsakte verstehen, mit denen sich die Menschen der Willkür eines Ungeheuers aussetzen. Da sie den Leviathan selbst wollten – da sie selbst den Leib des Ungeheuers bilden –, bleibt ihr Wille im Staat aufgehoben (im Hegelianischen Sinne von „bewahrt“, „aufgelöst“ und „erhöht“). Hofmann (1974) trifft diesen Umstand, wenn er von „absorptiver Repräsentation“ spricht (S. 391). Er zeigt (1993) deutlich die strukturellen Parallelen zwischen Kants homo noumenon und Hobbes Leviathan auf: Wer dem Leviathan bzw. dem homo noumenon gehorcht, folgt nur sich selbst, denn er tut das, was ihm die (seine) Vernunft gebietet (S. 30). Kersting (1994) verdeutlicht die Parallelen zwischen Hobbes und Rousseau: „Rex est populus – die demokratische Fabel von der Identität der Herrschenden mit den Beherrschten schimmert bereits hier durch; die begrifflichen Requisiten stehen bereit. Rousseau musste sie nur umstellen und dann den Weg von der identitären Repräsentation zur repräsentationsabweisenden Identität zu gehen: populus est rex“ (S. 93). Über diese Parallelen wird die Verbindung von Hobbes zur individuellen Anerkennungstheorie deutlich (siehe Hofmann (1993), S. 30). 89 90

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

Staat seinen Machtanspruch nicht mit bloßer Gewalt durchsetzen. Er kann seinen Machtanspruch nur als Autoritätsanspruch realisieren.94 Während ein Herrschaftsanspruch mit bloßer Gewalt durchsetzbar sein kann, ist ein Machtanspruch, der auf Autorität aufbaut, von der Anerkennung der Machtunterworfenen (die in diesem Sinne eben nicht unterworfen sind) abhängig.95 Ein Urteil kann deshalb nicht als rein dezisionistischer Machtanspruch Rechtsfrieden gewährleisten, sondern ist abhängig von der Anerkennung seiner Autorität.96 Dabei ist Anerkennung nicht im Sinne von „Zustimmung“, sondern im Sinne von „Akzeptanz“ gemeint: Es ist nicht Konsens, aber zumindest Hinnehmbarkeit erforderlich.97 Würde das Urteil nicht anerkannt, müsste der Staat dieses immer mit physischen Gewaltmitteln durchsetzen – eine solche ständige Gewaltanwendung wäre jedoch weder vom Staat zu leisten, noch wäre dies im Sinne des Rechtsfriedens, der sich gerade durch eine Zurückdrängung physischer Gewalt auszeichnet. Asch schrieb bereits 1955: „Did obedience to rules depend only on fear, there would not be enough policemen to 94 In diesem Sinne verbinden auch Sofky / Paris (1991 / 1994) Autorität mit Rechtsfrieden: „Indem die Autorität Ordnung garantiert, zähmt und bändigt sie Konflikte. Die Herrschaft der Autorität ist die Befriedigung der Gruppe.“ (S. 40). Meyer (1999) erwähnt die Bedeutung der Autorität für die Akzeptanz der Entscheidung als Ausweg aus dem Münchhausen-Trilemma: „L’ethos s’appelle l’ethos parce qu’il faut disposer des qualités nécessaire pour exercer une telle autorité. Et par autorité, il faut entendre ce qui clôt la mise en question. Cela va de l’expertise à traiter de certaines questions au droit d’exercer certaines fonctions de jugement, qui confère ainsi une autorité institutionnelle (c’est la compétence au sense juridique . . . ) à répondre. On peut, un peu comme l’enfant avec ses ,pourquoi‘, demander raison de chaque propos, et cela indéfiniment. L’ethos est ce qui, de l’orateur, fait qu’on le croit, qu’on se fie à son jugement, qu’on accepte ce qu’il dit et qu’on ne remet pas en cause les réponses“ (S. 303 f.). 95 Sofsky / Paris (1991 / 1994), S. 9 ff. Dabei soll nicht verkannt werden, dass die Möglichkeit, physische Gewalt anzuwenden, die Macht stützen kann. Sofsky / Paris (1991 / 1994) weisen selbst darauf hin, dass der Unterlegene dazu neigt, der Herrschaft Autorität zu geben. Auf diese Weise vermeidet er das Gefühl, beherrscht zu werden (S. 41). Diese Verbindung darf aber nicht dazu verführen, physische Gewalt mit Macht gleichzusetzen. Zum Zusammenhang von Gewalt und Macht siehe auch Luhmann (1975 / 1988), S. 62 ff. 96 Die Abhängigkeit des Machtinhabers vom Machtunterworfenen zeigt sich auch in Königs Analyse gruppendynamischer Machtprozesse (1996 / 1998, insbesondere S. 38 ff.). Siehe auch Watzlawick / Beavin / Jackson (1967 / 1996), S. 68 ff.: „Es ist nicht etwa so, daß ein Partner dem anderen eine komplementäre Beziehung aufzwingt; vielmehr verhalten sich beide in einer Weise, die das bestimmte Verhalten des anderen voraussetzt, es gleichzeitig aber auch bedingt“ (S. 70). 97 Zum Begriff der Akzeptanz siehe Würtenberger (2001), S. 201 f.: „Akzeptanz umfasst die Spannbreite des Bewertens von Gerichtsentscheidungen von richtig, vertretbar bis unzutreffend, aber noch anerkennungswürdig. Damit umgreift Akzeptanz sowohl die Bereiche des Konsenses oder gar der Identifikation mit Gerichtsentscheidungen, aber auch Bereiche des Dissenses. Eine Gerichtsentscheidung findet auch dann noch Akzeptanz, wenn sie zwar für nicht ,richtig‘, aber doch als eine (noch) anerkennungswürdige und (noch) vertretbare Regelung angesehen wird, man selbst aber im Prinzip für eine andere Entscheidung votiert hätte. An Akzeptanz fehlt es, wenn die Entscheidung als falsch und nicht hinnehmbar erachtet wird.“ Zum Zusammenhang von Akzeptanz und Rechtsfrieden siehe Würtenberger (1998), Rdnr. 9.

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compel and watch us at every step.“98 In diesem Sinne ist auch Hannah Arendt zu verstehen: „Wo Befehlen nicht mehr gehorcht wird, sind Gewaltmittel zwecklos.“99 Deshalb führt Rechtsfrieden als Urteilsfunktion nicht zu reiner Dezision. Das Urteil muss zumindest zu einem gewissen Grad anerkannt werden, um Rechtsfrieden gewährleisten zu können. Das übersieht Schmitt, wenn er dem Satz „auctoritas non veritas facit legem“ entnimmt, dass die Entscheidung einem „normativen Nichts“ entspringe.100 Der Entscheidende ist auf die Anerkennung seiner Entscheidungsautorität angewiesen.101 Diese Anerkennung bezieht sich nicht unbedingt auf die Entscheidung selbst. Da der Richter unabhängig von seiner Person und der konkreten Entscheidung bereits als Richter Amtsautorität genießt, muss er seine Autorität nicht allein durch Charisma oder eine gut begründete Entscheidung beweisen. Vielmehr garantiert ihm seine Amtsautorität, dass auch eine schlechte Entscheidung nicht zum sofortigen Autoritätsverlust führt.102 Es ist jedoch falsch anzunehmen, es sei deshalb gleichgültig, wie entschieden werde: Um die Entscheidungsautorität zu behalten, muss der Entscheidende die Wirkung seiner Entscheidung auf die Adressaten berücksichtigen. Er ist deshalb nicht völlig frei in seiner Entscheidung, denn das Ansehen des Amtes leidet bei schlechten Amtsinhabern und jede schlechte Entscheidung vermindert die Amtsautorität der Richter103: „Die Autorität des Amtes ist gleichsam ein Vorschußkredit an den Amtsinhaber. Er muß sie mit Zins und Zinseszinsen zurückzahlen, um mit seiner persönlichen Autorität die Amtsautorität wirksam zu machen.“104

In bürgerkriegsähnlichen Zuständen oder in autoritätshörigen Gesellschaften mag der Grad der Autoritätshörigkeit höher sein als in einer Wohlstandsgesellschaft mit rechtsstaatlicher Tradition – entscheidend ist, dass er sich wandeln kann. Asch (1955), S. 352. In diesem Sinne auch Herzog (1984), S. 128 f. Arendt (1970), S. 50. Geschichtlich veranschaulicht T. Eschenburg (1965) die im mittelalterlichen Kampf zwischen weltlicher und kirchlicher Macht bestehende gegenseitige Abhängigkeit von (meist staatlicher) potestas und (meist kirchlicher) auctoritas (insbesondere S. 52 und 92 f.). 100 Schmitt (1934 / 1993), S. 23 f.; (1922 / 1996), S. 37 f. 101 Deshalb stellt Lamprecht (1992) bei seiner Arbeit über die Bedeutung der Publikation von abweichenden Meinungen für die deutsche Rechtskultur völlig richtig auf die entscheidende Frage ab, ob die Autorität des Richterspruches gewahrt bleibe, wenn sich Richter gegenseitig widersprechen (S. 38 ff.). Sein Ergebnis war, dass die Veröffentlichung von „dissenting oppinions“ dem Rechtsfrieden in zweifacher Weise dienen: Einerseits kann ein Urteil als „einstimmig ergangen“ bezeichnet werden und damit die Autorität des Richterspruches in problematischen Fällen erhöhen, in denen „herkömmliche Urteile den Rechtsfrieden kaum herstellen könnten“ (S. 290 f.). Andererseits kann die Veröffentlichung der abweichenden Meinung integrative Funktion haben: „Sie fördert den Rechtsfrieden, die unterlegene Partei und ihre Anhänger müssen ihre Ansichten nicht für gänzlich absurd halten, wenn sie von einigen Richtern geteilt werden“ (S. 292). Auch Lamprecht verbindet also die Autorität des Richterspruches mit dem Rechtsfrieden. 102 Zu den unterschiedlichen Autoritätstypen siehe Sofsky / Paris (1991 / 1994), S. 42 ff. 103 Zum Zusammenhang von Person und Amt siehe Sofsky / Paris (1991 / 1994), S. 46 ff. 104 T. Eschenburg (1965), S. 178. 98 99

5 Rafi

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

Um auf das Argument von Gaul zurückzukommen: Es mag zutreffen, dass historisch gesehen der Rechtsfrieden durch einen dezisionistischen Machtspruch des Fürsten gewährleistet werden konnte.105 Damit ist aber nicht gesagt, dass dies für alle Gesellschaften gilt: Denkbar sind Gesellschaften, in denen das Urteil nur akzeptiert wird, wenn die Streitparteien das Gefühl haben, auf den Prozessverlauf und die Urteilsentscheidung Einfluss gehabt zu haben bzw. wenn eine Urteilsbegründung vorhanden ist und erkennen lässt, dass der Richter die Argumente der Streitparteien zur Kenntnis genommen hat.106 Da Rechtsfrieden nur gewährt werden kann, wenn das Urteil als Entscheidungsautorität anerkannt wird, können die Kriterien, die zum Rechtsfrieden führen, nicht abgekoppelt vom gesellschaftlichen Rechtsbewusstsein definiert werden.107 Dadurch wird der Rechtsfrieden in unterschiedlichen Gesellschaften nur mit unterschiedlichen Mitteln gewährleistet wer105 Das ist keineswegs sicher, denn selbst bei „klassischen“ Vertretern des Dezisionismus finden sich Aspekte der Anerkennung. Neben Hobbes (s. o.) sei hier noch Machiavelli (1513 / 1995) erwähnt, der dem Fürsten rät, „alles zu vermeiden, was ihn verhaßt und verächtlich machen kann ( . . . )“ (S. 141). Carl Schmitt (1922 / 1996) scheint in der Politischen Theologie einen ungebundenen Dezisionismus zu vertreten („Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus dem Nichts geboren“, (S. 37 f.).) Allerdings entwickelt er diesen Dezisionismus aus der Feststellung, dass der unrichtigen und fehlerhaften Entscheidung Rechtsverbindlichkeit zukäme (S. 37). Demnach muss es auch 1922 für Schmitt Kriterien geben, an denen die Fehlerhaftigkeit der Entscheidung beurteilt werden kann. Später schreckt er ausdrücklich vor einer gänzlich freien Entscheidung zurück und sucht nach „überpersönlichem“ Halt (1934 / 1993), S. 12. Er sieht (1954) auch deutlich die Abhängigkeit des Mächtigen (Entscheidenden) von den Machtunterworfenen: „Nur dadurch, daß sich Menschen finden, die einem anderen Menschen gehorchen, verschaffen sie diesem Macht. Gehorchen sie ihm nicht mehr, dann hört die Macht von selber auf“, S. 14. Der frühe Schmitt hat bereits in „Gesetz und Urteil“ (1912 / 1969) eine Verbindung zu den Wertanschauungen des „Volkes“ gesucht: „Die Wertanschauungen des Volkes haben den mittelbaren (aber deshalb nicht weniger bedeutungsvollen) Einfluß: insofern sie allgemein in der Praxis wirksam sind, sind sie ein Moment, das die Annahme begründet, die Entscheidung wäre allgemein so ausgefallen“ (S. 81 f.). S. 79.: „In keinem Punkte der Entscheidung aber darf der Richter einem absolut freien Ermessen, seiner partikularen Subjektivität, seiner persönlichen Überzeugung als solcher folgen; ( . . . )“ (siehe auch Hofmann (1964 / 1995), S. 37 ff., S. 181 ff.). 106 Willke (1992 / 1996), S. 221 ff. führt aus, dass der moderne Staat sich nicht in der Aufgabe erschöpfen kann, Gewalt zu monopolisieren. Er müsse auch eine Infrastruktur der Macht bilden: „Der Aufbau einer machtbasierten Infrastruktur ist politiktheoretisch und demokratietheoretisch zentral, weil politische Demokratie die paradoxe Anforderung stellt, einerseits aus Gründen der Kollektivgutproblematik eine kollektiv verbindliche Entscheidungsgewalt und insofern in der Tat eine Monopolisierung der Kontrolle legitimer physischer Gewaltsamkeit einzurichten, andererseits diese Gewalt an die Zustimmung und Kooperation der Bürger zu knüpfen“, S. 238. Übertragen auf den Zivilprozess könnte in diesem Sinne behauptet werden, es gehe im modernen Staat nicht allein um eine Entscheidung, sondern auch um die mögliche Einflussnahme auf die Entscheidung während des Prozesses. 107 Vgl. auch Perelman (1965), S. 145 f.: „Aber das Ansehen der Autorität wird sich auf Dauer nur erhalten, wenn die Macht in einer Weise ausgeübt wird, die sich nicht zu sehr von den Erwartungen des Volkes entfernt. Übergeht die Autorität in unzulässiger Weise die Wünsche des Volkes, so riskiert sie, auf zunehmend offenkundiger werdende Ablehnung zu stoßen, die schließlich darin endet, daß die Regierung in der Folge verlorener Wahlen, durch einen Staatsstreich oder durch eine Revolution gestürzt wird.“

3. Ziel des Urteils

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den können.108 Wenn Gaul keinen dezisionistischen Machtspruch akzeptieren möchte, so bedeutet dies deshalb nicht, dass Rechtsfrieden nur als Urteilsfunktion für „primitivere Entwicklungsstufen“ angenommen werden kann, sondern dass in unserer Gesellschaft die Anerkennung des Urteils noch auf anderen Kriterien beruhen muss. Seine Kritik ist folglich nicht zutreffend. ) Rechtsfrieden erklärt nur den Ausnahmefall Ein zweiter Kritikpunkt ist, dass Rechtsfrieden nur deshalb als Urteilsfunktion angesehen werde, weil er „aus einem pathologischen, einem sowohl theoretisch wie praktischen Ausnahmefall etwas für den bestimmungsgemäßen Prozesszweck herzuleiten sucht.“109 Diese Kritik richtet sich vor allem gegen Schönke, wird diesem jedoch nicht gerecht. Richtig ist, dass Schönke den Zweck des Rechtsfriedens aus dem Umstand ableitet, dass sachlich unrichtige Urteile rechtskräftig werden: „Die Möglichkeit, daß auch ein sachlich unrichtiges Urteil rechtskräftig werden kann, zeigt, daß der Prozeß neben der Bewährung des Rechts als weiteren, selbständigen Zweck die Wahrung des Rechtsfriedens verfolgt.“110 Diese Argumentation besagt jedoch nur, dass nicht die „Bewährung des Rechts“ (wobei vermutlich davon ausgegangen wird, es gäbe vor dem Prozess bestehende Rechte, die sich im Prozess bewähren könnten) als einziges Prozessziel angesehen werden kann, da ansonsten nicht erklärbar wäre, warum unrichtige Urteile rechtskräftig werden können. Da der Rechtsfrieden auch eine Rechtskraft erfordert, kann er diesen Umstand erklären. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, der Rechtsfrieden könne nur diesen Umstand erklären. Rechtsfrieden als Zweck kann diese „pathologischen Ausnahmefälle“ vielmehr neben den „Normalfällen“ erklären und die Ausnahmen in den Zweck integrieren. So gesehen kann der Rechtsfrieden die verschiedenen Rechtsinstitutionen besser erklären als die „Bewährung des Rechts“ als Prozesszweck. Auch dieser Kritik Gauls kann deshalb nicht zugestimmt werden.

) Rechtsfrieden ist kein isolierbarer Zweck Der Vollständigkeit halber sei hier noch die Kritik von Grunsky erwähnt, der die Meinung vertritt, Rechtsfrieden sei kein selbstständiger isolierbarer Zweck, son108 Zum gleichen Ergebnis kommt auch de Jouvenel (1972 / 1998), der den Gehorsam als Grundvoraussetzung der Macht ansieht: „Tout repose sur l’obéissance. Et connaître les causes de l’obéissance, c’est connaître la nature du Pouvoir“ (S. 44). Er kommt ferner zu dem Schluss, dass Gewohnheit nicht als Grundlage für Gehorsam ausreicht. Macht müsse diskutiert werden, um sich zu erhalten: „L’habitude ici ne peut servir, il faut une explication. ( . . . ) c’est en effet aux époques où le Pouvoir tend à grandir, qu’on discute sa nature et les principes ( . . . )“ (S. 52). Insofern kann die Entwicklung zur pluralistischen Demokratie auch als eine Entwicklung zum Machterhalt gesehen werden. 109 Gaul (1968), S. 58. 110 Schönke (1949), S. 216.

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

dern ergebe sich aus dem Zweck, subjektive Rechte durchzusetzen.111 Wie bereits festgestellt, ist es aber fehlerhaft, von subjektiven Rechten auszugehen, die schon vor dem Urteil existieren und durch den Richter nur „gefunden“ werden müssen. Abgesehen davon wird diese These von Grunsky auch nicht weiter begründet. Vielmehr ließe sich seine Argumentation umdrehen: Um Rechtsfrieden zu gewährleisten, muss ein gewisses Vertrauen in die Rechtsordnung bestehen – ein Vertrauen, dass bei einer bestimmten Ausgangslage eine Klage vom Gericht als begründet anerkannt wird. Gäbe es ein solches Vertrauen nicht, würde das Rechtssystem nicht mehr in Anspruch genommen und die Selbsthilfe nicht vermieden. Nennt man ein solches berechtigtes Vertrauen nun „subjektives Recht“, so ergibt sich aus dem Rechtsfrieden der Zweck, subjektive Rechte durchzusetzen (mit der Schlussfolgerung, die Durchsetzung subjektiver Rechte sei kein isolierbarer Zweck). ) Rechtsfrieden kann die Möglichkeit der Selbsthilfe nicht erklären Ein denkbarer Kritikpunkt ist weiterhin, dass im Recht selbst vorgesehen ist, unter bestimmten Umständen zur Selbsthilfe zu greifen (z. B. §§ 227 – 229, 859, 904 BGB). Es erscheint deshalb fraglich, ob der Rechtsfrieden das Vorhandensein dieser Normen erklären kann, wenn er doch gerade die Selbsthilfe vermeiden möchte. Allerdings gibt es eine überzeugende Erklärung für die begrenzte Erlaubnis der Selbsthilfe: Selbsthilfe ist nur für Fälle gedacht, in denen staatliche Hilfe zu spät käme. Wäre es dem in einer Notwehr- oder Notstandslage Befindlichen versagt, zur Selbsthilfe zu greifen, hätte dies in den meisten Fällen die Konsequenz, dass in dann rechtswidriger Weise zur Selbsthilfe gegriffen würde – schließlich ist die Abwehr der konkreten Gefahr wichtiger als eine eventuelle zukünftige Verurteilung. Dementsprechend würde aber ein Urteil, das dem Verteidiger kein Notwehrrecht zuerkennt, von diesem als extrem ungerecht empfunden werden. Schließlich hat er nichts anderes getan, als eine Gefahr abzuwenden, die der ihn verurteilende Staat selbst abgewendet hätte, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Werden nun aber auf dieser Grundlage mehrere von der Bevölkerung als extrem ungerecht empfundene Urteile gefällt, so würde dies der Autorität des Rechtswesens schaden, die doch notwendig ist, um Rechtsfrieden zu gewährleisten. Schünemann kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, indem er das staatliche Gewaltmonopol als Komplementärbegriff zum Selbsthilferecht auffasst: „Darf der staatliche Rechtsschutz mit innerem Grund hier wie dort die Selbsthilfe also nur zurückdrängen, wenn er deren Platz auch tatsächlich auszufüllen vermag, so beginnt ein legitimes Betätigungsfeld des privaten Rechtsschutzes auch im modernen Gemeinwesen jedenfalls dort, wo die staatliche Rechtsschutzorganisation an die zeitlichen Grenzen ihrer Wirksamkeit stößt. Der Respekt vor dieser Forderung liegt dabei durchaus im Interesse der Rechts- bzw. Friedensordnung selber. Denn das Friedensgebot behält nur so lange auch soziale Geltung, wie die Rechtsgenossen von der praktischen Wirksamkeit der staatlichen Rechtsschutzaktivitäten überzeugt werden können.“112 111

Grunsky (1974), S. 3 f.

3. Ziel des Urteils

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In diesem Sinne ist das beschränkte Selbsthilferecht kein Widerspruch zur generellen Urteilsfunktion, Selbsthilfe in Form von physischer Gewalt aus der Gesellschaft zu verdrängen. Deshalb kann Kohler auch ohne Widerspruch behaupten: „Zwei Einrichtungen sind es, die auf solche Weise aus dem Friedensbedürfnis hervorgegangen sind. Einmal der Besitz in Verbindung mit der Einrichtung der Notwehr zum Schutz der Person und ihren Interessen und zweitens das Mittel zur Verwirklichung des Rechts und zur Schlichtung von Streitigkeiten, nämlich der Rechtsgang (Zivilprozeß).“113

bb) Argumente für den Rechtsfrieden als Ziel des Urteils Nachdem die ersten Bedenken am Rechtsfrieden als Urteilszweck ausgeräumt sind, muss nun geklärt werden, ob nicht nur nichts dagegen, sondern auch einiges dafür spricht, ihn als Zweck des Zivilurteils anzusehen. ) Rechtskraft Dass der Rechtsfrieden die Rechtskraft eines „sachlich unrichtigen Urteils“114 begründen kann, wurde bereits erwähnt. Dabei ist Vorsicht geboten bei dem Begriff des „unrichtigen Urteils“, denn „unrichtig“ darf nicht mit „unrechtmäßig“ gleichgesetzt werden. Gaul ist zuzustimmen, wenn er hervorhebt, dass „solange die Rechtskraft besteht, die Frage nach der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit des Urteils mit rechtlicher Relevanz überhaupt nicht mehr gestellt werden kann, es sei denn, man erhöbe den selten begründeten Vorwurf der Nichtigkeit des Urteilsspruches.“115 Seine Schlussfolgerung, dass deshalb das „unrichtige Urteil“ nicht den Prozesszweck erklären könnte, ist jedoch in zweifacher Hinsicht fehlerhaft: Der erste Fehler wurde bereits oben erwähnt. Rechtsfrieden kann eben nicht „nur“ sondern „auch“ die Rechtskraft des unrichtigen Urteils erklären. Zweitens macht es sich Gaul zu einfach, wenn er „unrichtig“ und „unrechtmäßig“ gleichsetzt und seine berechtigte Kritik an der Annahme „unrechtmäßiger“ Urteile auf „unrichtige“ Urteile überträgt. Natürlich ist es denkbar, dass ein Urteil aus Gründen entschieden wird, die sich später als fehlerhaft herausstellen. Damit ist nicht gleich das Urteil unrechtmäßig – zumal der Richter an fehlerhaften Sachverhaltsannahmen ganz unschuldig sein kann (z. B. bei Versäumnisurteilen). Wenn der obsiegende Kläger nun aber aus dem Urteil vollstrecken möchte und sich der Beklagte dagegen wehrt, indem er dem Gericht die Fehlerhaftigkeit seiner Sachverhaltsannahmen nachweist, so kann ihn dieser nachträgliche Beweis nicht vor der Vollstreckung durch das rechtskräftige Urteil schützen. Dieses Urteil kann man nun mit Schönke als 112 113 114 115

Schünemann (1985), S. 9. Kohler (1908), S. 42. Schönke (1949), S. 216. Gaul (1968), S. 61.

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

sachlich unrichtig bezeichnen, wenn selbst der entscheidende Richter bei Kenntnis dieser Beweismittel des Beklagten die Klage abgewiesen hätte. Dass der Kläger auf Grundlage eines solchen Urteils vollstrecken darf, ist nicht unproblematisch. Gauls eigene Erklärung deutet auf den Rechtsfrieden hin: „Freilich kann nicht zweifelhaft sein, daß gegen die Vollstreckung des unrichtigen Urteils ein Widerstands- oder Notwehrrecht ausgeschlossen sein muß. Es wäre ein Widerspruch in unserer Rechtsordnung, wollte man den Parteien zunächst die Selbsthilfe verbieten und sie auf den Rechtsweg verweisen, um ihnen nach Erschöpfung des Rechtswegs gegen die Vollstreckung des so ergangenen Urteils ein Widerstandsrecht zu gestatten. Das hieße, durch die Hintertür die Selbsthilfe wieder einzuführen.“116

Es ist eine Stärke des Rechtsfriedens als Funktion des Urteils, dass er die Rechtskraft erklären kann. ) Durchbrechung der Rechtskraft Rechtsfrieden darf jedoch nicht mit Rechtskraft gleichgesetzt werden. Es ist teilweise zu lesen, dass der Rechtsfrieden nicht die einzige Funktion des Urteils sein könne, da ansonsten nicht erklärlich wäre, warum Revisionsmöglichkeiten oder eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegeben sind. Diese Argumentation beruht jedoch auf einer falschen Vorstellung vom Rechtsfrieden. In seiner Arbeit über die zivilprozessuale Revision kommt Kornicker beispielsweise zu dem Schluss, dass die Revision im Spannungsverhältnis zwischen Rechtsfrieden und Rechtsverwirklichung stehe, wobei er unter Rechtsfrieden die Rechtskraft und unter Rechtsverwirklichung das materielle Recht versteht.117 Dass es fehlerhaft ist, den Rechtsfrieden einseitig als Rechtskraft zu verstehen, zeigt seine eigene Argumentation gegen den Rechtsfrieden: „Würde man im Konfliktfall dem Rechtsfrieden den uneingeschränkten Vorrang einräumen, müsste man jede in Rechtskraft erwachsene Entscheidung als absolut verbindlich behandeln. Dies gälte ohne Ausnahme auch für alle unrichtigen Urteile. Gegen eine entsprechende Extremlösung spricht aber der Einwand, dass sie in bestimmten Fällen gravierender Urteilsmängel zu einem unerträglichen Verstoß gegen die Gerechtigkeit führen müsste. Die absolute Verbindlichkeit eines solchen Fehlurteils wäre für den betroffenen Privaten unzumutbar. Zudem würde es auch die Autorität des Staates in Frage stellen, wenn an gewissen unrichtigen Entscheidungen unter allen Umständen festzuhalten wäre. Hieraus ergibt sich, dass ein uneingeschränkter Vorrang des Rechtsfriedens gegenüber der Rechtsverwirklichung nicht in Frage kommt.“118

Seine Schlussfolgerung ist fehlerhaft, weil die Prämisse, der Rechtsfrieden führe dazu, jede in Rechtskraft erwachsene Entscheidung als ausnahmslos verbindlich anzusehen, falsch ist. Er stellt ganz richtig fest, daß ein „unerträglicher Verstoß 116 117 118

Gaul (1968), S. 61. Kornicker (1995). Ebenda, S. 9.

3. Ziel des Urteils

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gegen die Gerechtigkeit“ für den Betroffenen unzumutbar wäre und die Autorität des Staates in Frage stellen würde. Dabei scheint Kornicker davon auszugehen, dass Rechtsfrieden von der Anerkennung staatlicher Autorität unabhängig sei. Dies ist aber nicht Fall, wie bereits dargelegt wurde.119 Vielmehr beweist seine Argumentation, dass Revisionsmöglichkeiten und Wiederaufnahmemöglichkeiten des Verfahrens notwendig sind, um Rechtsfrieden zu ermöglichen. Mit der gleichen Argumentation begründet Stuth auch die Rechtspraxis, eine Klage aus § 826 BGB gegen erschlichene rechtskräftige Urteile zuzulassen.120 Rechtsfrieden völlig abgelöst von den gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen zu verstehen, ist fehlerhaft, da Rechtsfrieden nur gewährleistet werden kann, wenn die Urteile grundsätzlich angenommen werden und nicht stets mit Gewalt durchgesetzt werden müssen. Darauf wird im dritten Kapitel noch näher eingegangen.121 Hier soll derjenigen, der an der notwendigen Verbindung122 zwischen Moralvorstellungen und Rechtsfrieden zweifelt, lediglich an die Geschichte von Hans Kohlhase in der Kleistschen Erzählung „Michael Kohlhaas“ erinnert werden.

) Einlassungszwang Nicht zufällig begründet Degenkolb bereits 1877 den Einlassungszwang mit der Rechtsfriedensfunktion. Unter Einlassungzwang versteht Degenkolb „die rechtliche Gebundenheit, auf angestellte Klage hin, zum Zustandekommen, zur Entwicklung des Prozesses mitzuwirken durch eigene Erklärung oder durch die eines Vertreters.“123 Dabei steht es zwar dem Einzelnen frei, am Prozess mitzuwirken, doch wird das Schweigen als „gewollter Nichtwiderspruch“124 interpretiert, mit der Folge, dass prozessuale Rechtsvorteile versäumt werden, auf die der Beklagte ein Recht hat.125 Diese Pflicht des Beklagten, am Prozess mitzuwirken, auch wenn der Kläger offensichtlich unterliegen wird, weil seine Klage unberechtigt ist, kann der Rechtsfrieden gut erklären: „Verlangt der Kläger die Fortsetzung des Verfahrens, weil sie seinem Interesse entspreche, so könnte an sich der Verklagte mit gleichem Recht die Einstellung des Verfahrens verweigern. ( . . . ) Ja, noch mehr: vom Standpunkte des Einzelinteresses aus müsste das des Verklagten als das überwiegende erscheinen, nicht nur, weil der Verklagte sich vertheidigt, der Gegner angreift, sondern auch deshalb, weil selbst die im Urteil zu erzielende Abwehr des Klageangriffes nicht mehr die Wunden zu heilen vermag, welche der Process durch seine bloße Existenz dem Verklagten schlägt. ( . . . ) Zur Lösung des Confliktes gelangt 2. Kapitel 3. f) aa) ). Siehe Stuth (1935), S. 38. Er begeht jedoch ebenfalls den Fehler, Rechtsfrieden mit Rechtskraft gleichzusetzen (S. 6). 121 Kapitel 3, Abschnitt 4. 122 Wie diese Verbindung genau aussieht, wird im dritten Kapitel erörtert. 123 Degenkolb (1877 / 1969), S. 16. 124 Ebenda, S. 19. 125 Ebenda, S. 22. 119 120

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils man – wie längst erkannt ist, – nur durch die Anerkennung der Coincidenz des klägerischen Interesses am Process mit einem die Interessen am einzelnen behaupteten Recht an Werth überragenden Interesse. Dies Interesse ist zunächst ein Interesse der Gemeinschaft. Recht und Frieden der Gemeinschaft hängen am Process. ( . . . ) Friede und Recht, als Gesammteinrichtung und als Gesammtinteresse betrachtet, sind nur gewahrt, sofern das Recht in seiner Existenz nicht lediglich bemessen wird nach der individuellen Anschauung des einzelnen Subjektes und in seiner Realisierung nicht dahin gegeben wird den rohen Einzelkräften widerstrebender Parteien.“126 „Der Grund des Klagezwanges ist nunmehr bezeichnet. Er ruht in der Nothwendigkeit, die Rechtsordnung als Friedensordnung zu gestalten: also in Gründen, welche über das Einzelinteresse der Partei hinausgehen. Er ruht nicht in dem Einzelrecht schlechthin, sondern in der Logik der Institution.“127

) Vorprozessuales Recht Wenn der Staat Selbsthilfe unterbinden möchte, muss er die Bürger in irgendeiner Form kompensieren, d. h. sie irgendwie in ihren Bedürfnissen unterstützen, die sie ansonsten mit Selbsthilfe befriedigt hätten.128 Soll der Einzelne dazu bewogen werden, sein vermeintliches Recht nicht mit Gewalt einzufordern, muss ihm die Möglichkeit gegeben werden, den Staat aufzufordern, ihn zu seinem Recht kommen zu lassen. So schreibt auch Rimmelspacher: „Mit der Sicherung und Durchsetzung subjektiver Rechte, der Abwehr solcher Angriffe, die nicht auf subjektive Rechte gestützt werden, erreicht der Zivilprozeß sein ideales Ziel der Rechtsfriedenswahrung.“129

Ganz so einfach ist es leider nicht, denn wie bereits mehrfach erörtert gibt es diese eindeutigen subjektiven Rechte nicht. Der Richter setzt nicht bestehende Rechte durch, sondern entscheidet einen Konflikt, indem er Rechte zu- oder abspricht. Zunächst einmal kann dem Bürger also nur ein Recht eingeräumt werden, als Kläger aufzutreten, d. h. seinem Anliegen vor einer Entscheidungsinstanz Gehör zu verschaffen. Dies kann als ein „Justizgewährungsanspruch“ bezeichnet werden.130 Allerdings wäre ein solcher „Justizgewährungsanspruch“ nicht ausreichend, denn der Bürger möchte als Kläger auch etwas erreichen. Daraus kann nicht geschlussfolgert werden, dass immer im Sinne des Klägers entschieden werden müsste. Es bedeutet aber, dass nicht allein ein Justizsystem ausreicht, um Selbsthilfe zu vermeiden. Dieses System muss auch fähig sein, Vertrauen zu schaffen – Vertrauen in die Möglichkeit, bei gewissen Anliegen und einer bestimmten Beweislage eine günstige Entscheidung zu erlangen. Insofern geht das von Rimmelspacher angeführte subjektive Recht in dem auf, was Goldschmidt „Rechtslage“ 126 127 128 129 130

Ebenda, S. 28 f. Ebenda, S. 31. Siehe dazu auch das historische Argument [2. Kapitel 3. f) bb) †Š. Rimmelspacher (1966), S. 23. Ausführlich dazu Baur (1954), S. 396 ff. m. w. N.; Grunsky (1974), S. 2.

3. Ziel des Urteils

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nennt: „. . .den Inbegriff der prozessualen Aussichten, Möglichkeiten, Lasten und Befreiung von Lasten einer Partei.“131 Aber selbst von einer objektiv vorgegebenen Rechtslage kann nicht ausgegangen werden. Es gibt nur vorprozessuale Vorstellungen der Parteien und ihren beratenden Anwälten über die Rechtslage – Vorstellungen, die sich während des Verfahrens ändern und bestätigen können. Deshalb besteht das vorprozessuale Recht nur darin, dass sich das Gericht mit dem Anliegen befasst und dabei die Kriterien beachtet, die zur Beurteilung einer Rechtslage nötig sind. Welche Kriterien zu beachten sind, wird im nächsten Kapitel erörtert. Hier bleibt nur festzuhalten, dass der Rechtsfrieden erklären kann, warum über die Existenz von vorprozessualen Rechten (meist unter dem problematischen Begriff „Rechtsschutzanspruch“132) diskutiert wurde. ") Soziologisches Argument Rechtsfrieden wurde als ein Zustand beschrieben, in dem die physische Gewalt gesellschaftlich zurückgedrängt wird. Es wird keinesfalls angenommen, dass ein Urteil gewaltfrei zustande kommt und sich die Konfliktparteien stets friedlich einigen. Dies wäre eine zwar schöne, aber utopische Annahme. Ein Mediator vermag einen Konflikt zu lösen – der Richter wird ihn nur entscheiden können. Deshalb kann auch Pawlowskis Aussage, dass das rechtliche Verfahren ein Verfahren der friedlichen Einigung sei133, nicht überzeugen. Eine Einigung der Parteien ist sicherlich erstrebenswert, doch kann nicht erwartet werden, dass am Ende auch die unterlegene Partei stets von der „Richtigkeit“ des Urteils überzeugt ist.134 Für den Rechtsfrieden reicht es vielmehr aus, dass sie das Urteil respektiert. Die idealistische Forderung Pawlowskis nach einer Einigung der Streitparteien scheint ihren Ursprung in einem negativ konnotierten Autoritätsverständnis zu haben: Auch in einer Demokratie ist der Richter eine Autorität und steht nicht als „Vermittler“ zwischen den Parteien, um mit ihnen gemeinsam „das Richtige (das Recht) zu erkennen.“135 Er entscheidet über die Rechtslage, er definiert das Gesetz, er sitzt am längeren Hebel. Diesen Aspekt darf man nicht verkennen. Zwar ist der Richter nicht frei von den Parteianträgen und den angebotenen Argumenten, doch kann daraus noch nicht geschlossen werden, dass er mit den Streitparteien in einen herrschaftsfreien (gewaltfreien) Diskurs eintritt, um eine gemeinsame Einigung zu erzielen. Es sind vielmehr zwei Transformationen, die bei der Urteilsentscheidung 131 Goldschmidt (1925 / 1962), S. 259. Historisch interessant aber heute überholt ist der Streit zum Rechtsschutzanspruch zwischen Bülow und Wach (nachzuvollziehen an der Kritik von Wach an Bülow: Wach (1904), S. 1 ff.). Zu diesem Streit siehe Goldschmidt (1925 / 1962), S. 260 f. 132 Zum Rechtsschutzanspruch siehe Wach (1904), S. 1 ff. und Grunsky (1974), S. 3 Anmerkung 5 m. w. N. 133 Pawlowski (1967), S. 389. 134 Siehe auch Luhmann (1969 / 1997), S. 111 f. 135 Pawlowski (1967), S. 384.

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils

vorgenommen werden, um Rechtsfrieden zu erreichen: Einerseits wird ein rechtlicher Konflikt entschieden, d. h. der ursprüngliche persönliche oder auch moralische Konflikt wird zu einem rechtlichen (1) und andererseits wird physische Gewalt in sprachliche Gewalt transformiert (2). (1) Indem die Parteien sich auf den Prozeß einlassen und ihn durch Anträge und Argumentationen gestalten, bestätigen sie die Autorität des Rechtssystems.136 Diese Bestätigung verpflichtet sie zwar nicht, sich vom Urteil überzeugen zu lassen, doch sie müssen das Urteil zumindest akzeptieren: „Eine Rebellion gegen die Entscheidung hat dann kaum noch Sinn und jedenfalls keine Chancen mehr. Selbst die Möglichkeit, wegen eines moralischen Unrechts öffentlich zu leiden, ist verbraucht. Die Entscheidung wird, ohne daß es auf innere Bereitschaft noch ankäme, als verbindlich akzeptiert.“137

F. Müller spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verstrickung in ein Rollenspiel“: „Geordnetes Verfahren, fair trial rechtfertigt Entscheidungen vor allem gegenüber dem Betroffenen. Es eröffnet insgesamt die Chance, daß diese für sie eigentlich nicht Akzeptables, das autoritativ über sie verhängt wird, im Ergebnis doch hinnehmen. Diesem Ziel dient die hierauf und nicht etwa auf reale inhaltliche Mitbestimmung des Entscheidungsvorganges abzielende ,Verstrickung in ein Rollenspiel‘, die den Betroffenen für den Fall des Nicht-Akzeptierens einer formellen Entscheidung zusätzlich isoliert und negativ abstempelt.“138

Hierbei wird Folgendes deutlich: Ein persönlicher Konflikt, der so festgefahren ist, dass jede der Parteien ein Entgegenkommen als persönliche Niederlage empfände, kann durch das Zivilverfahren in einen rechtlichen Prozess transformiert werden. Das Urteil ist dann ein rechtliches Urteil, welches einer Prozesspartei sagt, dass sie rechtlich unterliegt. Diese rechtliche Niederlage ist leichter zu akzeptieren als eine persönliche oder moralische Niederlage, denn sie ist weder „verwerflich“ (wie bei einem moralischen Vorwurf), noch in der Person des Unterlegenen verankert (wie bei einer persönlichen Niederlage). Vielmehr kann der Unterlegene die Niederlage am Richter, am schlechten Anwalt oder am ungerechten Rechtssystem festmachen und sie somit leichter ertragen. Daraus können bereits zwei bemerkenswerte Konsequenzen gezogen werden: Erstens ist eine Trennung von Recht und Moral für den Rechtsfrieden notwendig, da die Niederlage als rechtliche und nicht als moralische Niederlage erlebt werden muss, um akzeptabel zu bleiben.139 Luhmann (1969 / 1997), S. 114 ff. (Zitat auf S. 117). Ebenda, S. 117. 138 F. Müller (1976), S. 84. 139 Die rechtliche Niederlage wird dann eher als Unglück als als Ungerechtigkeit verstanden. Eine solche Transformation von Ungerechtigkeit zu Unglück wird von Shklar (1990 / 1997) an einem alltäglichen Beispiel dargestellt (S. 59 ff.): Ein Kunde bekommt zu wenig Wechselgeld gezahlt (2,50 $) und wird vom Kassierer aus dem Laden geworfen, als er sich beschwert. Daraufhin beschwert er sich bei der Geschäftsführerin und wird ebenfalls 136 137

3. Ziel des Urteils

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Zweitens ist eine absolute Klarheit über den Prozessausgang nicht immer erstrebenswert (selbst wenn sie möglich wäre), denn wenn bereits klar wäre, wer im Prozess obsiegen wird, würde sich niemand mehr auf einen Prozess einlassen, wenn er von seiner Niederlage überzeugt wäre. Dann könnte der persönliche Konflikt jedoch nicht in einen rechtlichen transformiert werden. Dies meint auch Luhmann, wenn er davon spricht, dass die Spannung des Verfahrensausganges bis zur Urteilsverkündung wachgehalten werden muss.140 (2) Es wäre naiv, anzunehmen, der Rechtsfrieden komme ohne Gewalt aus. Es ist die physische Gewalt, die durch ihn vermieden werden soll. Dies wird allerdings nicht dadurch erreicht, dass völlig auf Gewalt verzichtet wird. Der ursprüngliche Konflikt der Streitparteien bleibt bestehen. Allerdings wird die physische Gewalt als Mittel zur Konfliktentscheidung vermieden, indem der Konflikt in einen rechtlichen und damit sprachlichen Konflikt transformiert wird. F. Müller beschreibt diese Transformation folgendermaßen: „Das Recht kultiviert den Konflikt, indem es den drohenden körperlichen Zwang suspendiert, die Beteiligten zum Reden zwingt und vor die Entscheidung ein Verfahren und sprachliche Anschlußzwänge setzt. Es faltet die Brachialität des ursprünglichen Konflikts in die Sprache.“141

Dieses Falten beschreibt die Transformation von physischer (oder potentiell physischer) Gewalt in Sprachgewalt. Es wird nicht mehr mit Händen gerungen, sondern mit Sprache: Der Kampf um die Oberhand weicht dem Kampf um die erwünschte Interpretation.142 Das Urteil als Konfliktentscheidung ist ebenfalls ein Gewaltakt: Der Richter legt Hand an den Gesetzestext.143 Wie bereits im ersten Kapitel erwähnt wurde und im dritten Kapitel erneut aufgegriffen wird, ist der Gesetzestext vieldeutig. Jede Anwendung des Gesetzestextes auf den konkreten Fall ist deshalb eine richterliche Entscheidung, die er gewaltsam gegen konkurrierende Interpretationen durchsetzt: „Der Richter lauscht und liest nicht. Sondern der Richter schreibt und spricht. Zu meinen, der Rechtsarbeiter stelle lediglich interpretativ eine Bedeutung fest, die der Gesetzestext schon irgendwie bei sich ,hat‘; oder zu meinen, der Richter erkenne nur, was ,hinter‘ den Worten des Gesetzes steckt und zwischen seinen Zeilen ,verborgen‘ ist, heißt, nicht nur die Semantik der Rechtserzeugung auf den Kopf zu stellen. Sondern es heißt vor allem, die Gewalt zu verkennen, die praktisch darin liegt, daß der Rechtsarbeiter durch die Festlegung des Textes auf eine Bedeutung bilateral ineins den Text auf einen Ausdruck verlegt, abgewiesen. Das Gericht weist ihn letztendlich ab, weil es nicht für Summen unter 5 $ tätig wird. Sie schließt dieses Beispiel mit den Worten: „Am Anfang stand eine Ungerechtigkeit, die sich am Schluß als ein Unglück herausstellte“ (S. 61). Ebenda folgert sie weiter: „Uns liegt nicht so viel an Gerechtigkeit, wie wir behaupten, und in Wahrheit bevorzugen wir Frieden und eine vielgestaltige Gesellschaft, selbst wenn sie ungerecht sein sollte.“ 140 Luhmann (1969 / 1997), S. 116 f. 141 Müller / Christensen (1997), S. 78. 142 Ebenda, S. 77. 143 Ebenda, S. 81. Siehe auch Somek / Forgó (1996), S. 135 ff.

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils einen Ausdruck von Recht. Jeder Hauch einer versöhnlichen Ontologie der reinen Bedeutung verflüchtigt sich in der rauhen Luft semantischer Praxis.“144

Fish geht sogar so weit, die Logik letztendlich auch nur als eine Überzeugungsgewalt anzusehen, die bereits auf einem bestimmten Glauben aufbaut: „. . . the reasons for which we do something or refrain from doing something are reasons only by virtue of the preconceptions and predispositions we already have.“145

Eine gewaltfreie Jurisprudenz hält er für Träumerei: „A mechanism is proposed with the claim that it will keep force . . . at bay; and in each instance force turns out to be the content of the mechanism designed to control it. No matter how many layers of rules, plain cases, cores of settled meanings, precedents one puts in place, the bottom line remains the ascendancy of one person – or of one set of interests aggressively pursued – over another, and the dream of general rules ,judicially applied‘ remains just that, a dream.“146

Beide beschriebenen Transformationen werden damit erklärt, daß sie das Ziel haben, Rechtsfrieden zu schaffen. Das Urteil soll den Konflikt als rechtlichen Konflikt auf sprachlicher Ebene beenden, um zu vermeiden, dass er als persönlicher Konflikt auf physischer Ebene entschieden wird. ) Historisches Argument In der Vergangenheit wurden dem Recht und dem Zivilprozess oft die Funktion zugeschrieben, Selbsthilfe zu vermeiden, die leicht in Fehde und Blutrache ausarten konnte und dadurch die Gesellschaft schwächte. Brunner legt in seiner Abhandlung „Land und Herrschaft“ dar, inwieweit die Fehde ursächlich war für Verwüstungen und den wirtschaftlichen Ruin insbesondere von Bauern.147 Dies sieht er als Motivation für ein Fehdeverbot an. Ausführlich zeigt er, dass dieses Fehdeverbot nur möglich ist, wenn es einen Rechtsweg gibt, der in der Lage ist, die Fehde zu ersetzen.148 Das Zurückdrängen der physischen Gewaltanwendung durch einen Rechtsweg – einen Prozessweg – sieht Brunner als den markanten Unterschied zwischen mittelalterlichem und modernem Staat an: „Die Feindschaft, die Gewaltanwendung, gehört zu den charakteristischen Zügen des mittelalterlichen Staates, während der moderne Staat das Monopol legitimer Gewaltanwendung für sich beansprucht, Fehde und Widerstand nicht kennt. Ja, wir dürfen geradezu sagen: Das, was den mittelalterlichen Staat vom modernen Staat am stärksten scheidet, ist das Fehlen der Selbsthilfe. Fehde ist seit Absolutismus und Aufklärung zum ,Faustrecht‘ geworden.“149

144 145 146 147 148

Ebenda, S. 81 f. Fish (1987), S. 518 f. Ebenda, S. 516. Brunner (1959), S. 101 ff. Ebenda, S. 34 f.

3. Ziel des Urteils

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Bereits bei Callistratus (2.-3. Jahrhundert n. Chr.) wird das richterliche Urteil als eine gewünschte Alternative zur Selbsthilfe beschrieben, die Gewalt vermeiden soll: „Wenn Gläubiger gegen ihre Schuldner vorgehen wollen, dann müssen sie das, wovon sie meinen, es werde ihnen geschuldet, durch den Richter zurückverlangen. Andernfalls, wenn sie in den Besitz des Schuldners eindringen, ohne hierzu ermächtigt zu sein, entschied der göttliche Marc Aurel, daß sie keinen Anspruch auf die Forderung mehr haben. Das Urteil lautet dann wie folgt: „Es ist sehr ratsam, daß du, wenn du irgendwelche Forderungen zu haben glaubst, von den Gerichten Gebrauch machst. Unterdessen darf dein Gegner auf seinem Besitz verbleiben; du bist Kläger.“ Und während Marcian behauptete: „Ich habe keine Gewalt angewandt“, erklärt der Kaiser: „Glaubst du, daß nur dann Gewalt vorliege, wenn Menschen verwundet werden? Gewalt liegt schon vor, wenn jemand seine vermeintliche Forderung anders als durch einen Richter geltend macht. Ich glaube nicht, daß es zu deinem besonnenen, würdigen und rücksichtsvollen Wesen paßt, irgend etwas wider das Recht zu tun. Also: von wem man mir beweisen kann, daß er eine Sache des Schuldners, die ihm nicht von diesem selbst übergeben worden ist, ohne Mitwirkung eines Richters eigenmächtig in Besitz hält und daß er sich in dieser Angelegenheit selber Recht gesprochen hat, der büßt seinen Anspruch aus dem Darlehen ein.“150

Marsilius von Padua sieht (ebenso wie später Hobbes, allerdings mit anderen Konsequenzen) die Friedenswahrung als die zentrale Aufgabe des Staates an: Weil bei miteinander eng zusammenlebenden Menschen Streitigkeiten auftreten, muss es Rechtsregeln geben, die diese Streitigkeiten regeln, Wächter, die über diese Regeln wachen, und einen Staat, der die Regelbrecher bestrafen kann. „Staat“ wird bei Marsilius von Padua als ein Zusammenschluss von Menschen zum befriedigenden Dasein verstanden.151 Luhmann zeigt auf, dass die Gewalt in primitiven Gesellschaften notwendig war, um Recht (verstanden als zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen) zu symbolisieren (bzw. das Recht nicht zu verlieren), und wie es durch die Entlastung der physischen Gewalt von dieser Symbolisierungsfunktion aufgrund der Positivierung des Rechts möglich wurde, die physische Gewalt aus der Gesellschaft zu drängen: Das Recht zeigt sich nicht mehr im Kampf, sondern in der Entscheidung.152 Ebenso hält Elias die Monopolisierung der physischen Gewalt beim Staat für einen wichtigen Schritt im Prozess der Zivilisation, da die Gewalt dadurch Regelungen unterworfen und berechenbarer wird: „Die Bedrohung, die der Mensch für den Menschen darstellt, ist durch die Bildung von Gewaltmonopolen einer strengeren Regelung unterworfen und wird berechenbarer. Der Alltag wird freier von Wendungen, die schockartig hereinbrechen. Die Gewalttat ist kaserniert; und aus ihren Speichern, aus den Kasernen, bricht sie nur noch im äußersten Falle, 149 Brunner (1959), S. 108. Gute Zusammenfassungen mit weiteren Literaturangaben bieten Rimmelspacher (1966), S. 19 ff. und Dilcher (1996), S. 203 ff. 150 Callistratus, V: D. 48, 7,7. Übersetzung nach Fuhrmann / Liebs (1988), S. 151. 151 Marsilius von Padua (1324 / 1985), 1. Teil, Kapitel IV §§ 4, 5 (S. 18 f.). 152 Luhmann (1980 / 1987), S. 106 ff. m. w. N.

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2. Kap.: Das Ziel des Urteils in Kriegszeiten und in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs, unmittelbar in das Leben des Einzelnen ein. Gewöhnlich ist sie als Monopol bestimmter Spezialistengruppen aus dem Leben der anderen ausgeschaltet; und diese Spezialisten, die ganze Monopolorganisation der Gewalttat, steht jetzt nur noch am Rande des gesellschaftlichen Alltags Wache als eine Kontrollorganisation für das Verhalten des Einzelnen.“153

4. Zusammenfassung Ein Urteil ist dann gut, wenn es seiner Funktion gerecht wird. Soll dem zivilprozessualen Urteil eine einzige Funktion zugeschrieben werden, so kommen alle in der Literatur diskutierten Möglichkeiten in Schwierigkeiten. Nur der Rechtsfrieden kann möglichen Bedenken standhalten und den Schwierigkeiten der übrigen in Betracht kommenden Funktionen entgehen. Darüber hinaus gibt es einige Argumente dafür, Rechtsfrieden als Zweck des Urteils anzunehmen. Das bedeutet nicht, dass die anderen diskutierten und abgelehnten Funktionen für ein gutes Urteil keine Rolle spielen. Es ist vielmehr möglich, dass sie als Kriterien dienen, die für ein gutes Urteil beachtet werden müssen. Das ist keineswegs ein Widerspruch. Vielmehr ist anzunehmen, dass die in der Rechtstheorie diskutierten Funktionen nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern ihre Berechtigung und Bedeutung in der Rechtstheorie haben. Wenn man sie mit Hilfe des Rechtsfriedens als Kriterien für ein gutes Urteil wieder in die Rechtstheorie integrieren kann – also zeigen kann, dass Aspekte wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Rechtssicherheit, Effizienz etc. in einer bestimmten Form dem Rechtsfrieden dienen –, dann spricht das umso mehr für den Rechtsfrieden als Urteilszweck. Der Rechtsfrieden kann dann nämlich erklären, warum andere Urteilszwecke überhaupt erwogen werden konnten.

153 Elias (1969 / 1991), Band 2, S. 325. Siehe auch die kurze und übersichtliche Darstellung bei Merten (1984), S. 35 ff. Tammelo (1982), S. 681 ff. möchte dem „Frieden als Rechtswert“ angesichts moderner Entwicklungen von Massenvernichtungswaffen eine gesteigerte Aufmerksamkeit zukommen lassen.

3. Kapitel

Die Kriterien Nachdem mit der Urteilsfunktion das Ziel festgelegt wurde, auf welches die Urteilsentscheidung gerichtet sein muss, sollen nun Kriterien aufgelistet werden, die berücksichtigt werden müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Diese Kriterien „binden“ den Richter in dem Sinne, dass er sie zu beachten hat. Sie legen den Richter freilich nicht auf das „eine richtige“ Urteil fest, sondern dienen ihm als Topoi: Als „Örter“, an denen Argumente gesucht werden können.1 Sie dienen der Urteilsentscheidung also in dem Sinne, dass sie für die Entscheidung relevante Gesichtspunkte aufweisen. Welche Gesichtspunkte im konkreten Fall ausschlaggebend sind, welche vernachlässigt werden können und zwischen welchen Gesichtspunkten eine Abwägung vorgenommen werden muss, kann nicht situations- oder kulturunabhängig, also nicht objektiv festgelegt werden. Dies ist eine Folge der Funktion des Urteils, denn der Rechtsfrieden ist nur gewährleistet, wenn die Autorität des Gerichts von der Gesellschaft akzeptiert wird, was es wiederum unmöglich macht, ein gutes Urteil völlig unabhängig von den gesellschaftlichen Erwartungen fällen zu können. Jede Urteilskritik muss das Urteil daraufhin überprüfen, ob es nach Meinung der Kritiker seiner Funktion gerecht wird oder nicht. Hier soll nur erläutert werden, warum bestimmte Kriterien, die in der juristischen Diskussion immer wieder eine Rolle spielen, für die Urteilsentscheidung überhaupt relevant sind, d. h. warum sie dem Rechtsfrieden dienen.

1. Bindung an den Wortlaut Bevor geklärt wird, aus welchem Grund und in welcher Weise der Wortlaut des Gesetzes einen wichtigen Topos für die Urteilsentscheidung darstellt (b und c), muss zunächst festgestellt werden, was unter „Wortlaut“ zu verstehen ist (a).

a) Was ist der Wortlaut? Mit „Wortlaut“ ist „Gesetz“ im Sinne von Art. 20 III GG gemeint. „Bindung an den Wortlaut“ besagt deshalb, dass der Richter die Worte des Gesetzestextes zu 1

Aristoteles, Topik 108b, 109a ff.

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3. Kap.: Die Kriterien

beachten hat. Dabei wird teilweise unterstellt, der Gesetzestext enthalte eine eindeutige Aussage, was aber nicht zutrifft. Bei den Worten des Gesetzestextes handelt es sich um Zeichen. Wie Saussure erkannte, ist ein Zeichen jedoch nicht allein der Signifikant (d. h. das Lautbild, die Buchstabenfolge). Zum Zeichen wird der Signifikant erst, wenn er auf ein Signifikat (d. h. eine Vorstellung von etwas) verweist. So wird das Wort „Baum“ nur deshalb zum Zeichen, weil es im Rezipienten eine bestimmte Vorstellung (z. B. das Bild einer Eiche oder einer Tanne) zu erzeugen vermag. „Wx*ßUb“ vermag hingegen keine Vorstellungen zu erzeugen, weshalb es nicht als Zeichen angesehen werden kann. (Dabei wäre es jedoch falsch zu meinen, „Wx*ßUb“ könne nicht durch Konvention mit einer Vorstellung verbunden und dadurch zum Zeichen gemacht werden. Letztendlich wurde „Wx*ßUb“ hier bereits als Zeichen verwandt – als Zeichen für ein „Nichtzeichen“!) Ein Zeichen ist demnach die Verbindung von Signifikant und Signifikat.2 Diese Verbindung muss im Rahmen der Kommunikation jedoch aufgehoben werden, denn nicht das Zeichen als Ganzes, sondern nur der Signifikant kann kommuniziert werden. Die Vorstellung des Senders (das Signifikat) bleibt bei diesem und muss vom Empfänger neu hinzugedacht werden, um den kommunizierten Signifikanten zum Zeichen zu machen. Saussure beging nun einen ähnlichen Fehler wie die Gesetzespositivisten: Er glaubte an die Unveränderlichkeit des Zeichens während des Kommunikationsprozesses, d. h. an eine vollkommene Kommunizierbarkeit. Nur so ist es erklärbar, dass er den Vorgang beim Empfänger für einen passiven Vorgang hielt: Die Wahrnehmung des Signifikanten und die Verbindung mit einem Signifikaten sei passiv.3 Dies ist aber nicht der Fall: Wenn jemand „Baum“ sagt, mag er an einen Laubbaum gedacht haben. Der Empfänger hingegen kann an eine Tanne denken. Die vom Signifikanten hervorgerufene Vorstellung kann sogar völlig konträr sein: Jemand mag mit „Baum“ einen kleinen Bonsai verbinden, den er gerade liebevoll pflegt, wohingegen ein anderer mit „Baum“ an einen Stammbaum denkt, auf dem er gerade seine Familiengeschichte vervollständigt. Wenn das Zeichen die Verbindung von Signifikant und Signifikat ist, der Signifikat sich jedoch im Kommunikationsprozess verändert (ein Vorgang,

Saussure (1915 / 1967), S. 78 f. Saussure (1915 / 1967), S. 15. Die Vorstellung, zwischenmenschliche Kommunikation wie Naturgesetze betrachten zu können (Wenn der Sender „X“ sagt, folgt daraus, dass der Empfänger zwingend „Y“ denkt.), verdeutlicht, wie stark der linguistische Strukturalismus Saussures vom Positivismus im Sinne Comptes beeinflusst wurde. Zu diesem Zusammenhang siehe Glück (2000), S. 326. Zur Orientierung des Positivismus an Naturgesetzen siehe Compte (1844 / 1994): „Mit einem Wort, die grundlegende Revolution, die das Mannesalter unseres Geistes charakterisiert, besteht im Wesentlichen darin, überall anstelle der unerreichbaren Bestimmung der eigentlichen Ursachen die einfache Erforschung von Gesetzen, d. h. der konstanten Beziehungen zu setzen, die zwischen den beobachteten Phänomenen bestehen. Ob es sich nun um die geringsten oder die höchsten Wirkungen, um Stoß und Schwerkraft oder um Denken und Sittlichkeit handelt, wahrhaft erkennen können wir hier nur die verschiedenen wechselseitigen Verbindungen, die ihrem Ablauf eigentümlich sind, ohne jemals das Geheimnis ihrer Erzeugung zu ergründen“ (S. 16 f.). 2 3

1. Bindung an den Wortlaut

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den Derrida als Iteration4 und Eco als Abdrift5 bezeichnet), so ist auch das Zeichen vergänglich – es löst sich auf.6 Saussure hat übersehen, dass die Rezeption des Zeichens (d. h. das Erkennen des Signifikanten als Zeichen) ein aktiver Vorgang ist. Es ist ein Vorgang, der ein „Vorverständnis“7 des Empfängers voraussetzt bzw. einem „Bereich C“8 unterworfen ist. Es wäre aber falsch, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Gesetzestext keine konkrete Aussage treffen könne. Eine so radikale Position könnte nicht erklären, weshalb Kommunikation überhaupt möglich ist. Sie wird auch nicht vertreten: Eco wehrt sich explizit gegen eine unbegrenzte Interpretationsmöglichkeit und selbst Derrida erkennt die Bedeutung des Zeichens in bestimmten Grenzen an, da ansonsten gar keine Übersetzung möglich wäre.9 Rorty, der mit seiner Kritik an Ecos Unterscheidung zwischen Textinterpretation und Textgebrauch die Möglichkeit ablehnt, unterschiedliche Interpretationen nach „Textnähe“ zu bewerten, kommt dieser radikalen Position allerdings nahe.10 Seine Feststellung, dass wir „Texte stets vermittelt durch andere Texte, Menschen, Obsessionen, Informationen, etc.“11 lesen, trifft zu, doch folgt daraus nicht die Notwendigkeit, jeder Interpretation gleiche Textnähe zuschreiben zu müssen: In einer „Interpretationsgemeinschaft“12 ähnelt sich das Vorverständnis der Interpreten aufgrund von gemeinsamen kulturellen Erfahrungen und gemeinsamer Sozialisation. Letztendlich ist es auch ein bedeutendes Ziel der juristischen Ausbildung, ein gemeinsames „juristisches“ Vorverständnis zu schaffen, welches eine gewisse Kontinuität der Rechtspraxis garantiert.13 Damit wird aber auch deutlich, was eine Bindung an den Wortlaut bedeutet: Es bedeutet, dass der Wortlaut entsprechend dem in der juristischen Ausbildung gebildeten Vorverständnis interpretiert wird. Natürlich können unterschiedliche Interpretationen möglich sein. Um mit dem Wortlaut argumentieren zu können (ohne Derrida (1971 / 1999), S. 333 ff. Eco (1990 / 1992), S. 429. 6 Derrida (1986 / 1999), S. 146. 7 Gadamer (1960 / 1990), S. 299 f. 8 Eco (1990 / 1992), S. 291 ff. Mit dem „Bereich C“ bezeichnet Eco den „Bereich möglicher Wahlen und vermuteter Indetermination“ (S. 292), der bei einer Kommunikation zwischen A und B vorliegt. 9 Derrida (1986 / 1999), S. 143. 10 Rorty (1992 / 1994), S. 99 ff. 11 Ebenda, S. 116. 12 Der Begriff ist Fish (1980) entnommen. Er wird eingeleitet auf den Seiten 305 – 321, wobei dort noch von „institutional community“ (S. 321) gesprochen wird. „Interpretive communities“ werden sie auf S. 322 genannt. 13 Vgl. allgemein hierzu Lyotard (1979 / 1986), S. 79: „Die Wahrheit der Aussage und die Kompetenz des Aussagenden sind also von der Billigung durch die Gemeinschaft der an Kompetenz Gleichen unterworfen. Man muß also Gleiche ausbilden.“ Auf die juristische Ausbildung bezogen siehe Drosdeck (1989), S. 117 f.; Somek / Foró (1996), S. 192. 4 5

6 Rafi

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3. Kap.: Die Kriterien

sich lächerlich zu machen)14, muss diese Interpretation sich am Vorverständnis anderer Juristen orientieren und ist deshalb in ihren assoziativen Möglichkeiten begrenzt. Natürlich kann auch das Vorverständnis von juristischen Laien bei der Interpretation von Begriffen Beachtung finden, die keine juristischen Fachtermini sind. Allerdings bedarf es bereits eines juristischen Vorverständnisses, um festzulegen, ob ein Begriff fachlich oder umgangssprachlich zu interpretieren ist, denn der Rechtsprechung ist es möglich, sich durch eigene Begriffsfestlegungen von der Umgangssprache zu emanzipieren bzw. die Umgangssprache zu modifizieren.15

b) Inwieweit ist der Richter an den Wortlaut gebunden? Dass die Rechtsprechung an den Wortlaut gebunden ist, folgt aus dem gesellschaftlichen Demokratieverständnis. Da der Bundestag als direkt gewähltes Gesetzgebungsorgan eine weitaus höhere demokratische Legitimation genießt, als dies bei der Rechtsprechung der Fall ist, wäre das Demokratieprinzip verletzt, wenn die Richter vom Bundestag verabschiedete Gesetze ignorierten. In einer demokratisch denkenden Gesellschaft würden Richter ihre Autorität verlieren, wenn sie ihr Urteil nur nach außergesetzlichen Kriterien entschieden und nicht einmal darum bemüht wären, ihre Entscheidung mit dem Gesetz zu begründen.16 Eine wichtige Quelle der richterlichen Autorität ist das Gesetz, weshalb der Rechtsfrieden gefährdet wäre, wenn Richter diese Autoritätsquelle außer Acht ließen. Nun wurde aber bereits unter a) festgestellt, dass eine Bindung an das Gesetz den Richter keineswegs festlegt, weil das Gesetz als Zeichen vielfach interpretierbar ist. Wenn aber verschiedene Interpretationen möglich sind, stellt sich die Frage, wie der Richter dann an das Gesetz gebunden werden soll. F. Müller nennt als Antwort den Begriff der „Wortlautgrenze“: Der Wortlaut legt den Richter zwar nicht fest, bildet jedoch eine Grenze der noch möglichen Verständnisvarianten des Normtextes.17 Von einer solchen Grenze in der juristischen Argumentation auszugehen, hält Herbert für verfehlt, der in seiner Auseinandersetzung mit der PhiEinen Fall von lächerlicher Interpretation schildert Klein (1992), S. 287. Der Gebrauch des Begriffes „Fachsprache“ soll nicht suggerieren, dass dieser klar von einer „Umgangssprache“ abgegrenzt werden kann. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil jede Fachsprache auf der Umgangssprache aufbaut (siehe Fluck (1980 / 1991), S. 193 und S. 175). 16 Siehe auch Christensen (1989), S. 297 f. Er geht allerdings zu weit, wenn er behauptet: „Ein Richter als apokrypher Gesetzgeber, der seine Entscheidung nicht an die vom Gesetzgeber formulierten Normtexte in methodisch nachvollziehbarer und verallgemeinerungsfähiger Weise rückbindet, zerstört neben der stabilisierenden Funktion der Rechtsordnung auch die rechtsstaatliche Legitimität“ (S. 298). Wie die Beispiele im ersten Kapitel zu § 275 BGB a. F. und § 253 BGB zeigen, kann eine nicht auf den Normtext rückführbare Entscheidung die stabilisierende Funktion der Rechtsordnung zerstören, muss dies aber nicht zwingend tun! 17 F. Müller (1976), S. 78. 14 15

1. Bindung an den Wortlaut

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losophie Wittgensteins zu folgendem Ergebnis für die juristische Methodik kommt: „Die Quintessenz der angestellten methodenkritischen Erwägungen ist, daß semantische Argumente in den strittigen Fällen der Rechtsanwendung weder als Auslegungsmittel noch, was wichtiger ist, als Begrenzungskriterium herangezogen werden dürfen.“18

Es wird nicht ganz deutlich, was Herbert genau unter dem Begriff „Semantik“ versteht. Da er von Wittgensteins Sprachphilosophie ausgeht, wird für ihn die Semantik vermutlich in der Pragmatik aufgehen: Da Bedeutungen nur durch den Wortgebrauch ermittelt werden können, kann die Bedeutung von Worten bzw. Texten nicht unabhängig vom Benutzer und der konkreten Situation der Begriffsanwendung verstanden werden.19 Insofern erscheint auch eine Trennung zwischen Semantik und Pragmatik nur aus analytischen Gesichtspunkten sinnvoll, denn die Beziehung zwischen Zeichen und Designat lässt sich nicht unabhängig vom Interpreten analysieren.20 Allerdings muss nicht jeder diesen Umstand verkennen, der mit dem Wortlaut des Gesetzes argumentiert. Das Plädoyer Herberts gegen „semantische Argumente“ ist in zweierlei Hinsicht verfehlt: Einerseits kann sehr wohl über die Bedeutung von Worten gestritten werden. Natürlich handelt es sich dann nicht um einen Streit über eine „statische“ oder dem Wort immanente Bedeutung, sondern um einen Streit über den korrekten Gebrauch des Wortes. Es ist ebenfalls klar, dass sich sowohl durch den Streit als auch durch das richterliche Urteil die Bedeutung des Wortes wandelt, weil es in einem neuen Kontext gebraucht wird. Allerdings ist es für die Argumentation in der Urteilsbegründung wichtig, ob das Gericht sich auf einen allgemeinen Sprachgebrauch berufen kann, ob die Rechtsprechung das Wort bereits ausgelegt hat oder ob das Gericht sich für einen neuen Sprachgebrauch entscheidet. Wenn der Richter meint, einen neuen Sprachgebrauch einführen zu müssen, hat es keinen Sinn, als Anwalt auf den Duden zu verweisen. Hält der Richter hingegen den „allgemeinen“ Sprachgebrauch (sofern es ihn gibt) für ausschlaggebend, mag der Duden dem Anwalt ein wichtiges Argument bieten. Andererseits hat der Wortlaut auch dann eine wichtige Grenzfunktion, wenn man von einem pragmatischen Sprachverständnis ausgeht. Herbert ist insoweit zuzustimmen, dass der Wortlaut in Streitfällen meist schwer zu bestimmen ist und deshalb pragmatische Aspekte zur Wortlautbestimmung hinzugezogen werden müssen. Dies ist allerdings trivial, wenn man ohnehin davon ausgeht, dass Textbedeutungen nur pragmatisch verstanden werden können, weil Signifikanten erst durch ihre Benutzung Bedeutung erlangen und zum Zeichen werden. Will man bei einem solchen Verständnis von Pragmatik überhaupt noch von Semantik sprechen, kann man sich Semantik nur als „geronnene Pragmatik“ vorstellen. Diese MetaHerbert (1995), S. 256. Vgl. auch Grewendorf / Hamm (1987 / 1989), S. 378; Wittgenstein (1945), Nr. 43; Teuwsen (1988), S. 38 ff. 20 Die Unterscheidung stammt von Morris (1938), S. 23 f. 18 19

6*

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3. Kap.: Die Kriterien

pher soll verdeutlichen, dass unter einer semantischen Wortbedeutung nur eine Bedeutung verstanden werden kann, die durch ständige Verbindung dieser Bedeutung (Signifikat) so fest mit dem Signifikanten verbunden ist, dass sie durch die bloße Wahrnehmung des Signifikanten unabhängig von der Situation und dem Benutzer des Signifikanten mit diesem assoziiert wird.21 Um ein Beispiel von Herbert aufzugreifen: Wenn jemand „Fahrzeug“ sagt, so ist unabhängig von der konkreten Situation klar, dass PKW dazugehören und Eichhörnchen nicht. Um zu entscheiden, ob Skateboards oder Fahrräder auch als Fahrzeuge anzusehen sind, mag eine pragmatische Konkretisierung erforderlich sein. Dabei ist zu beachten, dass nicht Gegenstände unter Begriffe sondern Begriffe unter Oberbegriffe subsumiert werden: Es geht nicht um das Skateboard oder das Eichhörnchen als Referent (= als real existierenden Gegenstand)22, sondern um die Begriffe „Skateboard“ und „Eichhörnchen“ als kulturelle Einheiten.23 Deshalb ist es möglich, dass ein Signifikant, der einst eindeutige (d. h. kontextunabhängige) Denotationen hervorzurufen imstande war, diese Eigenschaft mit Veränderung der Kultur verliert bzw. mit neuen Denotationen verbunden wird oder kontextspezifische Denotationen so fest mit ihm verbunden werden, dass sie kontextunabhängig werden. Aus diesem Grund ist auch Busses Kritik am Begriff der „Wortlautgrenze“ abzulehnen. Er hat zwar recht, wenn er hervorhebt, dass eine feste „objektive“ Grenze nicht gegeben ist, da das Signifikat erst vom einzelnen Subjekt in unterschiedlicher Weise konstituiert wird.24 Daraus kann aber nicht die Wertlosigkeit des Begriffes „Wortlautgrenze“ geschlussfolgert werden, denn dieser Begriff impliziert keineswegs diachronische Starrheit, sondern geht lediglich von einer synchronischen und deshalb historisch wandelbaren Grenze aus. Diese Grenze braucht zu keinem Zeitpunkt eindeutig bestimmbar zu sein. Es reicht aus, wenn bestimmte Interpretationen ausgeschlossen werden können (so wie „Eichhörnchen“ nach unserem heutigen Sprachverständnis nicht unter den Oberbegriff „Fahrzeug“ fällt). Auf Herbert zurückkommend ist Folgendes festzustellen: Fehlerhaft ist es, wenn er der Wortlautgrenze keine Bedeutung beimisst, weil Streitfälle nicht semantisch, sondern nur pragmatisch entschieden werden könnten: Es bedarf keiner pragmatischen Überlegung, um festzustellen, dass der Wortlaut „Die Liste muss mindestens zwei Namen umfassen“ ausschließt, dass die Liste auch nur einen Namen enthalten kann.25 Dies kann mit unserem heutigen Sprachverständnis kontextunabhängig ausgeschlossen werden. In ihrer Funktion, bestimmte Interpretationen als unstreitig auszuschließen, bestimmt die Wortlautgrenze eine Grenze des möglichen Streites. 21 Bei Eco (1976 / 1991), S. 153 f. sind dies die kontextunabhängigen Denotationen D1 und D2. Andere Konnotationen und Denotationen können zwar ebenfalls vom Signifikanten hervorgerufen werden, doch bedarf es dafür einer pragmatischen Konkretisierung. 22 Vgl. Eco (1976 / 1991), der von einem „Referentenfehler“ spricht (S. 88 ff.). 23 Vgl. Eco (1976 / 1991), S. 220 f. 24 Busse (1992), S. 33 f. 25 Der Fall ist geschildert bei Klein (1992), S. 285 ff.

1. Bindung an den Wortlaut

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Diese Grenze ist bei literarischen Interpretationen sicher sehr weit, da rhetorische Figuren wie metaphorische Sprache und Ironie in Betracht gezogen werden müssen – bei Gesetzestexten ist die Interpretationsmöglichkeit in dieser Hinsicht begrenzter und die Wortlautgrenze deshalb etwas enger.26 Damit ist nicht gesagt, dass Urteile, die Eichhörnchen als Fahrzeuge oder Listen mit einem Namen als Listen mit mindestens zwei Namen ansehen, schlechte Urteile sind. Es können gute Urteile sein und sie können den allgemeinen Sprachgebrauch verändern, so dass zukünftig Eichhörnchen tatsächlich als Fahrzeuge angesehen werden. Dieses Urteil muss die Subsumtion von „Eichhörnchen“ unter „Fahrzeuge“ aber anders begründen als durch den Wortlaut. Es erschiene lächerlich, wenn jemand nach unserem heutigen Sprachverständnis behaupten wollte, dass Eichhörnchen von einem Spielplatz verschwinden müssten, weil dort Fahrzeuge verboten seien. Er müsste schon andere Kriterien als den Wortlaut heranziehen, um seiner Entscheidung Autorität zu verleihen. Der Wortlaut kann (synchronisch betrachtet) nicht alles legitimieren – er ist nur begrenzt zur Legitimation eines Urteils verwendbar!

c) Warum ist der Richter nicht nur an den Gesetzeswortlaut gebunden? Offen geblieben ist noch, wie der Richter zwischen konkurrierenden Gesetzesinterpretationen wählen kann (aa) und weshalb der Gesetzeswortlaut nicht den einzigen Topos für ein gutes Urteil darstellt (bb).

aa) Die Wahl zwischen konkurrierenden Gesetzesinterpretationen Die Auslegungskanones stellen die bekanntesten Gesichtspunkte zusammen, die bei der Gesetzesinterpretation beachtet werden sollten. Man kann sie als „Untertopoi“ des Topos „Gesetzestext“ ansehen. Sie stellen im juristischen Diskurs anerkannte Argumentationsmöglichkeiten zusammen. Die Gewichtung der Argumente muss nach dem Kriterium des Rechtsfriedens erfolgen. Der Rechtsfrieden stellt insoweit eine Gewichtungsregel im Sinne von Alexy dar.27 Welches Argument in der konkreten Situation dem Rechtsfrieden eher dient, kann natürlich nicht formal logisch ermittelt werden. Es bleibt eine Entscheidung des Richters. Allerdings bietet der Rechtsfrieden dem Richter ein Argumentationsziel, welches für die Argumentationsstrategie erforderlich ist.

26 Szczodrowski (1998) stellt zwar fest, dass Metaphorik auch in der Rechtssprache vorhanden ist, doch beschränkt sie sich hierbei nicht auf den Gesetzestext, sondern bezieht z. B. Plädoyers mit ein. 27 Alexy (1978 / 1991), S. 306.

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3. Kap.: Die Kriterien

bb) Warum andere Topoi zu berücksichtigen sind Um zu verstehen, warum das Gesetz nicht den einzigen Topos in der juristischen Argumentation darstellt, soll auf einen weit verbreiteten Fehler in der juristischen Methodenlehre hingewiesen werden: Die Auslegungskanones sind Auslegungskanones, d. h. sie liefern Argumente, die dazu dienen, andere von einer bestimmten Auslegung des Gesetzes zu überzeugen.28 Nun ist bereits deutlich geworden, dass es gewisse Grenzen der Gesetzesauslegung gibt: Der Wortlaut bildet eine semantische Grenze der überzeugenden Interpretierbarkeit – eine Grenze, die als „geronnene Pragmatik“ zwar historisch gesehen kontingent ist und zukünftig veränderbar bleibt, aber trotzdem gegenwärtig existiert. Alle Argumente, die zur Auslegung des Gesetzes herangezogen werden, müssen sich deshalb innerhalb dieser Grenze bewegen und das Ziel haben, den Gesetzeswortlaut zu interpretieren. Es ist deshalb bereits fehlerhaft, eine „Wortlautauslegung“ anderen Auslegungsargumenten gegenüberzustellen, denn jede Auslegung ist darauf gerichtet, den Wortlaut zu interpretieren. Ein „Wortlautargument“ ist letztlich ein Argument gegen Interpretationen, die über gegenwärtig semantisch mögliche Interpretationen hinausgehen. Es dient dazu, bestimmte Interpretationen auszuschließen. Alle anderen Auslegungskanones sind pragmatische Argumente, die dazu dienen, aus den semantisch möglichen (und konkurrierenden) Interpretationen eine davon als die überzeugendste Interpretation auszuwählen. Deshalb fallen Folgeerwägungen beispielsweise nicht per se unter eine teleologische Auslegung: Folgen sind bei der Gesetzesauslegung nur insoweit interessant, als sie plausibel machen können, warum eine semantisch mögliche Gesetzesinterpretation einer anderen semantisch möglichen Gesetzesinterpretation vorzuziehen ist (weil der Zweck der Norm nur bei einer der Interpretationen erreicht würde). Insoweit reduziert das teleologische Argument die Vielfalt möglicher semantischer Interpretationen. Eine teleologische Extension kann es deshalb nicht in Form der Gesetzesauslegung geben, denn es handelt sich hierbei um Folgeerwägungen bzw. Zweckerwägungen, die nicht herangezogen werden, um den Gesetzestext zu verstehen, sondern um ein Ignorieren des Gesetzestextes zu legitimieren.29 So stellte der BGH beispielsweise fest, dass seine Entscheidung einer „rein wörtlichen Auslegung“ entgegenstehe30, um seine Entscheidung dann mit einem „Normzweck“ zu begründen, der nicht aus der Norm, sondern aus wirtschaftlichen Erwägungen des Opferinteresses abgeleitet wurde. Dabei soll die Entscheidung nicht kritisiert werden.31 Allerdings kann dieses Vorgehen nicht mehr 28 Bei Savigny (1840), S. 209 wird als Auslegung noch jedes Mittel bezeichnet, welches dem Zweck dient, den anzuerkennenden Inhalt des Gesetzes zu ermitteln. Dabei geht er von einem dem Gesetze immanenten Inhalt aus, was angesichts der neueren sprachphilosophischen Erkenntnisse nicht haltbar ist. Es wird aber deutlich, dass es auch Savigny nur um die Gesetzesinterpretation ging. 29 Koch / Rüßmann (1982) lehnen jegliche Folgeberücksichtigung ab, welche die „gebotene Gesetzesbindung überspielt.“ Deshalb können sie nicht mehr sinnvoll zwischen teleologischer Auslegung und Folgenberücksichtigung trennen (S. 232 f.). 30 BGHZ 32, 246, 248.

1. Bindung an den Wortlaut

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als Gesetzesauslegung bezeichnet werden und ist darum auch kein Beispiel einer teleologischen Auslegung.32 Larenz vermeidet es bezeichnender Weise, von einer Auslegung zu sprechen und bezeichnet die teleologische Extension als eine der Analogie sehr nahe stehende, aber trotzdem gesetzesimmanente Rechtsfortbildung.33 Dabei ist jedoch unklar, wie er die teleologische Extension eigentlich einordnet: Entweder ist sie gesetzesimmanent – dann bildet sie das Recht nicht fort – oder sie stellt eine Rechtsfortbildung dar – dann geht sie über das Gesetz hinaus und ist diesem nicht mehr immanent. Der BGH schließt seine Argumentation auch nicht mit den Worten: „§ 844 II BGB ist folgendermaßen auszulegen . . .“, sondern mit: „Da das gewonnene Ergebnis dem richtig verstandenen Zweck des § 844 II BGB gerecht wird und überdies der Billigkeit entspricht, erweist sich die Revision ( . . . ) als unbegründet.“34

Wenn im Verlauf der Arbeit außer dem Gesetzestext noch weitere Kriterien für ein gutes Urteil aufgeführt werden, so sind dies keineswegs neue Kriterien – es sind lediglich Kriterien, die von der Methodenlehre häufig fälschlicherweise in die Auslegungskanones integriert wurden und damit das Vorurteil nährten, Juristerei sei Wortklauberei. Es werden im Folgenden noch zwei Aspekte hervorgehoben, die erkennen lassen, weshalb der Gesetzeswortlaut nicht als einziger Topos ausreicht, um ein gutes Urteil zu fällen. ) Fachsprache und Umgangssprache Ein Aspekt betrifft die Unterscheidung zwischen Fachsprache und Laiensprache: Die Diskrepanz zwischen beiden Sprachen kann dazu führen, dass unterschiedliche semantische Möglichkeiten der Gesetzesauslegung vorhanden sind.35 Um die Grenzen der Auslegungsmöglichkeiten zu ermitteln, bedarf es somit einer Vorentscheidung, ob ein Begriff als fachsprachlich oder umgangssprachlich anzusehen ist.36 In dem von Neumann geschilderten Beispiel, dass Nachbarn davon sprechen, Zur Kritik siehe Herzberg (1990), S. 2526 f. Zur Kritik der Bezeichnung objektiv-teleologischer Argumentation als „Auslegung“ siehe auch Deckert (1995), S. 47. 33 Larenz / Canaris (1995), S. 216. 34 BGHZ 32, 246, 250. Zur eingeschränkten Bedeutung des Wortlautes bei Rechtsentscheidungen siehe auch Gottwald (1980), S. 6. 35 Zur (nicht unproblematischen) Begriffsbestimmung von „Fachsprache“ siehe Paroussis (1995), S. 59 ff. 36 Diese Diskrepanz zwischen fach- und umgangssprachlicher Auslegung wird von Paroussis (1995), S. 67, gut auf den Punkt gebracht: „Oft besteht jedoch die Übereinstimmung der Ausdrücke der juristischen Sprache mit denen der Alltagssprache nur der Form nach, da sie andere semantische Anwendungsregeln voraussetzt. Betrifft die Untersuchung der Beziehungen der Rechtssprache zur Umgangssprache hauptsächlich die Frage nach dem Adres31 32

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3. Kap.: Die Kriterien

sich Eier zu leihen, obwohl natürlich rechtlich gesehen ein Darlehen vereinbart wurde (es werden nicht die verbrauchten Eier, sondern gleichwertige andere zurückgegeben)37, ist diese Diskrepanz unproblematisch, denn nicht die Vorstellungen über die Wirkung des Vertrages unterscheiden sich, sondern lediglich die Bezeichnungen. Zu einem Problem wird es nur, wenn sich auch die Wirkungen unterscheiden. Viele Begriffe sind ausschließlich einer Sprache zuzuordnen: Rein umgangssprachliche Begriffe kommen in Rechtstexten gar nicht vor (sonst wären sie nicht mehr rein umgangssprachlich) und es gibt technische Begriffe (wie z. B. „Hypothek“), bei denen jeder Laie einräumen würde, dass er sich getäuscht habe, wenn seine Vorstellung von der eines Juristen abweichen sollte. Problematisch wird es bei Begriffen, bei denen sich auch juristische Laien eine Auslegungskompetenz zusprechen (z. B. „vertreten müssen“, „Treu und Glauben“, „gute Sitten“). Am Beispiel des Begriffes „Arglist“ erklärt Busse, wie es zu einer Diskrepanz zwischen Rechts- und Umgangssprache kommen kann: „Es geht den Richtern mit ihrer ,Auslegung‘ zu arglistig also nicht um eine ,sprachliche‘, semantische Entscheidung im engeren Sinne, sondern darum, anhand des Normtextes, welcher innerhalb der jeweiligen Algorithmen eine Art ,Zentralknoten‘ darstellt, eine Vorentscheidung darüber zu fällen, welche Richtung die Algorithmen bei vergleichbaren Fallgestaltungen nehmen sollen. Als ,semantische‘ Entscheidung, d. h. als Interpretation im geläufigen Sinne, wäre die gefällte Entscheidung zu ,arglistig‘ kaum noch verständlich zu machen; wohl jedoch als Richtungsweisung für juristische Entscheidungsschritte.“38

Aus dieser Beobachtung lässt sich schließen, dass die Entwicklung einer Fachsprache dann problematisch wird, wenn sie sich von einer gefestigten Semantik in der Umgangssprache zu weit entfernt. Sie wird deshalb problematisch, weil sie als „Interpretation im geläufigen Sinne ( . . . ) kaum noch verständlich zu machen“ ist. Eine solche Fachsprache kann dann ihre Überzeugungskraft nicht mehr aus dem Gesetzestext gewinnen, sondern muss andere Kriterien (wie z. B. Folgeerwägungen) mit heranziehen. Natürlich kann sich eine Fachsprache etablieren – dann kann eine fachspezifische Semantik ohne weiteren Begründungsaufwand auf den Wortlaut verweisen. Die Fachsprache wird sich aber nur dann festigen, wenn sie umgangssprachlichen Vorstellungen nicht allzu sehr widerspricht. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die fachsprachliche Textinterpretation an Autorität verliert. Um ein letztes Mal auf das Beispiel von Klein zurückzukommen: Ein „muss“ in „Die Liste muss mindestens zwei Namen umfassen“ kann nicht vom Gericht als „kann“ gelesen werden, ohne dass es an Autorität verliert.39 In solchen Fällen müssen andere Argumente herangezogen werden, um die Wahl mit einer Liste durchzuführen, auf der nur ein Kandidat genannt ist. Unsere gegenwärtige Sprachpraxis lässt saten des Rechtstextes und wird folglich vom Kriterium der Verständlichkeit der Rechtssprache in diesem Bereich zum Maßstab gehoben, bezieht sich die Feststellung der Wissenschaftlichkeit der Rechtssprache auf das Kriterium des Maßes an Präzision.“ 37 Neumann (1992), S. 110. 38 Busse (1992), S. 272. 39 Klein (1992), S. 287.

1. Bindung an den Wortlaut

89

es nicht zu, eine Liste mit einem Namen als ausreichend zu erachten, wenn mindestens zwei Namen gefordert werden. ) Generalklauseln Ein zweiter Aspekt ist der Umgang mit Generalklauseln. Schon der Begriff „Generalklausel“ wird teilweise kritisiert, weil er nichts bezeichne, was sich von anderen Normen unterscheide: Jeder Normtext müsse interpretiert bzw. konkretisiert werden. Bei Generalklauseln müsse die Konkretisierung lediglich von vageren Begriffen ausgehen.40 Zu diesem Ergebnis kam auch Garstka, der ebenfalls keine strukturellen Unterschiede zwischen Generalklauseln und anderen Normen feststellen konnte und deshalb Generalklauseln als in besonderem Maße allgemeine Rechtssätze bezeichnete.41 Wieacker bringt dies mit folgenden Worten auf den Punkt: „Enthält die Normanwendung in der richterlichen Entscheidung als Wahlvollzug neben dem kognitiven logischen Urteilsakt auch volitive Elemente, so ist insoweit jede Entscheidung schon ein punktuelles Element der Rechtsneubildung, gleichsam – auch auf unserem Kontinent – law in making; und sie ist es um so mehr, je unbestimmter die Vorschrift des Gesetzgebers war; d. h. sie ist es ganz besonders bei Generalklauseln.“42

In der rechtstheoretischen Diskussion werden verschiedene Funktionen der Generalklausel unterschieden, die zwar bezüglich der gesetzgeberischen Intention auseinander gehalten werden können, aus der Sicht des Richters jedoch alle miteinander zusammenhängen. Der Gesetzgeber bedient sich abstrakter Formulierungen, wenn es zu kompliziert wäre, die zu regelnde Materie in Einzelfälle aufzugliedern, wenn er eine Einzelfallentscheidung für angemessener hält, wenn er das Gesetz flexibel gestalten möchte, wenn er eine Entscheidung nicht treffen will oder nicht zu treffen vermag und sie deshalb offen lässt. Der Richter muss nun bei der Anwendung von Generalklauseln in besonderem Maße43 Recht neu bilden. Insoweit kann man von einer Delegationsfunktion bzw. einer rechtspolitischen Funktion der Generalklausel sprechen.44 Wenn der Richter nun Recht neu bildet, kann Müller (1997), S. 224 ff. (insbesondere Rdnr. 317, 319). Garstka (1976), S. 114 f. Die vollständige Definition lautet bei ihm: „Unter Generalklauseln sollten daher Rechtssätze verstanden werden, die im Verhältnis zum normativen Kontext sehr allgemeine und / oder sehr unbestimmte Begriffe enthalten, auf sehr allgemeine Tatbestände bezug nehmen oder sehr abstrakt sind“ (S. 115). 42 Wieacker (1956), S. 15. 43 Dass Generalklauseln sich nicht substanziell von anderen Normen unterscheiden, sondern nur Begriffe enthalten, die in unserer Sprachpraxis einen höheren Abstraktionswert haben bzw. vage Denotationen, dürfte inzwischen deutlich geworden sein. Die Floskel „in besonderem Maße“ wird daher im Folgenden weggelassen. Dennoch sollte nicht aus dem Blickfeld geraten, dass die folgenden Ausführungen „zu einem geringeren Maße“ auch für alle anderen Normen gelten. 44 Garstka (1976), S. 120 f. 40 41

90

3. Kap.: Die Kriterien

er diese Neubildung nicht mehr mit dem Gesetzestext legitimieren. Er muss auf andere Kriterien zurückgreifen. In diesem Zusammenhang wird von einer „Fensterfunktion“ der Generalklauseln gesprochen.45 Die anderen Kriterien, auf die verwiesen wird, sind hauptsächlich Moralvorstellungen, die es dem Richter ermöglichen, in besonderen Fällen vom Gesetzeswortlaut abzuweichen (exceptio doli 46) bzw. das Gesetz und die Rechtsprechung den gesellschaftlich veränderten Moralvorstellungen anzupassen (Entwicklungsfunktion47). Da aus der Sicht des Richters diese Funktionen zusammenhängen, muss hier nicht differenziert werden. Wichtig ist lediglich, dass Generalklauseln verdeutlichen, wie notwendig es ist, auch andere Kriterien als den Gesetzestext bei der Urteilsentscheidung zu beachten. Hier werden die Grenzen einer bloßen Orientierung am Gesetzeswortlaut besonders deutlich. Anhand der Generalklauseln lässt sich klar erkennen, dass die Gesetzesinterpretation selbst bereits von außergesetzlichen Kriterien abhängig ist. Natürlich ist es möglich, diese Kriterien als im Gesetz enthalten anzusehen: Generalklauseln integrieren diese Kriterien in das Gesetz. Allerdings wird dabei der Blick dafür verschlossen, was eine Bindung an den Gesetzestext bedeutet, denn der Richter begründet sein Urteil nicht mit Generalklauseln, sondern mit Kriterien, zu deren Berücksichtigung er sich aufgrund der Generalklauseln für berechtigt hält. Wer glaubt, das Recht allein mit rechtlichen Wertungen konkretisieren zu können, versucht sich am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Rechtliche Werte (wie z. B. Verfassungswerte) sind oftmals selbst nicht konkreter als eine Generalklausel und bedürfen einer dogmatischen Konkretisierung, die sich nicht selbst wiederum auf das Gesetz berufen kann. Deshalb ist Pawlowski auch nicht zuzustimmen, wenn er davon ausgeht, Gesetze ohne „außerrechtliche“ Kriterien konkretisieren zu können48 (besser wäre es, von „außergesetzlichen Kriterien“ oder in der Terminologie von Busse von „außertextlichen Faktoren“49 zu sprechen, denn inwieweit Kriterien rechtlich oder außerrechtlich sind, hängt vom zugrundeliegenden Rechtsbegriff ab). Pawlowski begeht dabei den gleichen Fehler wie die strukturierende Rechtslehre:50 Er integriert außergesetzliche Kriterien bei der Interpretation von Rechtsbegriffen in das Gesetz, um dann behaupten zu können, die Entscheidung beruhe allein auf dem Gesetz.51 Es ist letztlich das Bedürfnis nach demokratischer Legitimität, welches dazu verführt, allein den Gesetzestext für maßgeblich zu halten. Dabei verschließt man sich aber den Blick für den eigentlichen Vorgang der Entscheidung. Fikentscher hat 45 Fikentscher (1977), S. 308; ausführlich Teubner (1971), S. 65 ff., der zwischen einer Rezeptions- und einer Transformationsfunktion von Generalklauseln differenziert. 46 Garstka (1976), S. 117 f.; Wieaker (1956), S. 26 ff. 47 Bydlinski (1982 / 1991), S. 584, der den Begriff bei Deutsch (1963), S. 385, S. 389 fand. 48 Pawlowski (1999), S. 100 f. (Rdnr. 188). 49 Busse (1992), S. 271. 50 Zur strukturierenden Rechtslehre siehe Müller (1997), Rdnr. 298 ff. 51 Zur Kritik an der strukturierenden Rechtslehre siehe auch Somek (1996), S. 61 f.; Goebel (2001), S. 133.

2. Bindung an Folgeerwägungen

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ganz zu Recht festgestellt, dass „der kontinentale Jurist nun einmal auf das Gesetz blickt wie das Kaninchen auf die Schlange.“52 Dieses eingeengte Blickfeld ist aber nicht nur hinsichtlich des Konkretisierungsvorganges falsch, es liefert insbesondere keine Erklärung dafür, wie es zu Entscheidungen contra legem kommen kann. Dass solche Entscheidungen53 jedoch im juristischen Diskurs Anerkennung finden, verdeutlicht den Stellenwert außergesetzlicher Topoi. Darüber hinaus wird ersichtlich, dass der Rechtsfrieden nicht allein durch die Rückführbarkeit der Entscheidung auf den Gesetzestext gewährt werden kann. Ein Richter, der kompromisslos am Gesetzestext hängt, ohne den Besonderheiten des konkreten Falles gerecht zu werden, schadet dem Rechtsfrieden ebenso wie ein Richter, der den Gesetzestext ignoriert. Der Gesetzgeber kann unmöglich alles regeln, so dass eine Arbeitsteilung zwischen Legislative und Judikative erforderlich ist. Entscheidungen werden eben nicht nur im Parlament getroffen, sondern auch im Gericht. Diese Erkenntnis ist zwar banal, wird aber häufig verkannt, da man nur parlamentarische Entscheidungen für demokratisch legitimiert hält. In dieser Hinsicht sollte man diese notwendige Arbeitsteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung aber nicht als undemokratisch kritisieren, da bei ihr „dem Gesetzgeber kein Unrecht geschieht, da er es immer in der Hand hat, eine Entwicklung des Richterrechts, die ihm nicht paßt, durch einen Gesetzgebungsakt zu korrigieren.“54

2. Bindung an Folgeerwägungen Dass Folgeerwägungen in der juristischen Argumentation eine Rolle spielen, wird nirgends bestritten.55 Selbst Luhmann als viel zitierter Kritiker von Folgeerwägungen wendet sich nicht generell gegen sie, sondern nur dagegen, ausschließlich Folgeerwägungen zu berücksichtigen.56 Folgeerwägungen sind von Bedeutung, weil die Akzeptanz des Urteils davon abhängen kann, ob der Richter die Folgen seiner Entscheidung im Entscheidungsprozess berücksichtigt hat. Daraus folgt natürlich nicht, dass deshalb nur noch Folgen berücksichtigt werden sollten. Schließlich sind durch den Gesetzeswortlaut bereits bestimmte Entscheidungen getroffen und es müssen schon offensichtlich negative Folgen voraussehbar sein, um die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung zu ignorieren. Unbestritten ist sicher der Grundsatz impossibilium nulla est obligatio : Etwas Unmögliches kann (z. B. auch entgegen dem Wortlaut des § 275 I BGB a. F.) nicht Fikentscher (1977), S. 303. Für Beispiele siehe 1. Kapitel. 54 Herzog (1990), S. 8. 55 Einen Überblick über die Diskussion vermittelt die Aufsatzsammlung „Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe“ (Hrsg.: Teubner 1995). Darin finden sich auch zahlreiche Nachweise von Folgeerwägungen in der Rechtsprechung. Beispiele für eine folgenorientierte Rechtsprechung bietet auch Coles (1991), S. 170 ff. 56 Luhmann (1974), S. 29 f. 52 53

92

3. Kap.: Die Kriterien

verlangt werden. Würde im Urteil etwas vom Beklagten verlangt, was diesem unmöglich ist, so könnte er dem Urteil nicht Folge leisten. Die Konsequenz wäre, dass das Gericht an Autorität verlöre, denn es müsste entweder hinnehmen, dass aus dem Urteil keine Konsequenzen folgten, oder bei entsprechendem Drängen des Klägers auf die Durchführung des Unmöglichen pochen und sich damit lächerlich machen.57 Wegen ihrer unterschiedlichen Bedeutung in der juristischen Begründung erscheint es zweckmäßig, mit Lübbe-Wolff zwischen Entscheidungs- und Adaptionsfolgen zu trennen: Beides sind zunächst einmal Realfolgen.58 Entscheidungsfolgen sind die Folgen, die sich direkt aus der Anwendung der Rechtsnorm ergeben, die durch die Entscheidung gesetzt wird. Adaptionsfolgen sind demgegenüber Folgen, die sich dadurch ergeben, dass sich die Gesellschaftsmitglieder in ihrer Lebensplanung auf die Rechtsnorm einstellen – sich ihr also anpassen.59 Während eine Berücksichtigung von Rechtsfolgen nicht bestritten wird, gibt es Skepsis sowohl hinsichtlich der Berücksichtigung von mittelbaren Entscheidungsfolgen als auch von Adaptionsfolgen. Da die Berücksichtigung von Adaptionsfolgen die weitestgehende Folgenberücksichtigung beinhaltet, werden im Folgenden primär Adaptionsfolgen besprochen. Ähnlich der im anglo-amerikanischen Rechtskreis geführten Diskussion zur Zulässigkeit von policy-Erwägungen (im Gegensatz zu principles)60 wird auch bei der Berücksichtigung von Adaptionsfolgen eine gefährliche Vermischung von Recht und Politik befürchtet. Ein social engineering sei Aufgabe des demokratisch legitimierten Parlaments, welches über Spezialisten verfügt, die mögliche Adaptionsfolgen besser vorhersehen können als ein Richter, dessen demokratische Legitimation zudem geringer ist.61 Deshalb wendet sich Luhmann auch vehement gegen eine ausschließliche62 Orientierung an Adaptionsfolgen: Adaptionsfolgen seien schwer zu überschauen und die Zukunft viel zu unsicher, als dass eine Orientierung an ihnen für den Richter möglich wäre, ohne willkürlich Nebeneffekte auszublenden oder den Wirkungskreis zeitlich wie räumlich zu be57 Zum Verhältnis von Empirie und Ethik siehe auch Engels (1993), S. 122 ff.: Da jedes Sollen ein Können impliziert, muss die Empirie der Ethik die Handlungsspielräume aufweisen, d. h. den Umfang des Könnens, auf dessen Grundlage dann ein deontologisches System entstehen kann. 58 Der Begriff „Realfolge“ wird als Gegensatz zur „Rechtsfolge“ verwendet (Lübbe-Wolff (1981), S. 25). Die Berücksichtigung von Rechtsfolgen als Nachsatz einer Implikation (deren Vordersatz ein Tatbestand ist), ist so unproblematisch, dass Hassemer ihn ganz aus dem Folgenkonzept ausschließen will (Hassemer (1982), S. 512). 59 Lübbe-Wolff (1981), S. 139 f. 60 Siehe Dworkin (1978 / 1990), S. 145 ff. 61 Bei dieser Kritik kann es sich nur um eine Kritik am Umfang der Vermischung von Recht und Politik halten, denn eine völlige Entpolitisierung des Rechts ist nicht möglich (siehe Grimm (1995), S. 99 f.). 62 Luhmann lehnt eine Berücksichtigung von Adaptionsfolgen nicht grundsätzlich ab. Es geht ihm nur darum sich gegen eine Rechtsdogmatik zu wenden, die ausschließlich Folgeerwägungen gelten lassen wolle (Luhmann (1974) S. 29 f.).

2. Bindung an Folgeerwägungen

93

grenzen.63 Pointiert bemerkt er, dass oft „das Eintreffen des Gegenteils wahrscheinlicher (ist), als des Erwarteten oder Gewünschten.“64 Allerdings erkennt Luhmann eine Berücksichtigung von Adaptionsfolgen als „Signalfunktion für Ausnahmen“65 an: „Die Orientierung an Folgen erscheint sinnvoll als Korrektiv eines im Rechtssystem hochgetriebenen Abstraktionszwanges.“66 Zur Zeit gibt es in der Rechtstheorie die Tendenz, sich an der Ökonomik zu orientieren, um Adaptionsfolgen besser vorhersagen zu können.67 Hierbei wird von einem rational denkenden, an seinem Eigeninteresse orientierten und unter Knappheit seinen Nutzen maximierenden Menschen ausgegangen. Dieser homo oeconomicus wird als heuristisches Modell dem empirischen Menschen kontrafaktisch gegenübergestellt. Er soll dazu dienen, gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären bzw. vorhersagbar zu machen, nicht jedoch die tatsächliche individuelle Motivation für bestimmte Handlungen beschreiben.68 Dabei wird davon ausgegangen, dass der Markt von selbst dafür sorgt, dass Güter zu demjenigen gelangen, der sie am meisten schätzt. Staatliches (richterliches) Eingreifen wird nur bei Marktversagen notwendig. Dieses liegt vor, wenn eine Dilemmastruktur besteht, d. h. eine Situation, in der die individuelle Rationalität der Akteure diese zu einer Handlung zwingt, die alle Beteiligten schlechter stellt als eine „nicht-rationale“ Handlung. Als Beispiel stelle man sich vor, es gäbe einen lautlosen Rasenmäher, welcher jedoch deutlich teurer ist als die üblichen. Ferner gäbe es die Nachbarn A und B, denen beiden an Ruhe gelegen ist, wenn sie sich im Garten ihrer Lektüre widmen. Allerdings zahlen sie ungern mehr für ihren Rasenmäher. Am besten wäre es, wenn sie den billigen lauten Rasenmäher kaufen könnten und der andere den lautlosen kaufen würde, weil sie auf diese Weise Geld gespart hätten und trotzdem in den Genuss der Ruhe kämen. Am ärgerlichsten wäre es, wenn sie mehr Geld für einen lautlosen Rasenmäher ausgeben würden und dennoch den nachbarlichen Lärm zu ertragen hätten, weil der andere den üblichen lauten Rasenmäher verwendet. Angenommen die Ruhe beim Lesen im Garten wäre ihnen 5 Nutzeneinheiten und das Geldsparen 1 Nutzeneinheit wert. Daraus ergäbe sich dann folgende Tabelle, der die Nutzeneinheiten von A und B in der Abhängigkeit ihrer Handlungsalternativen (Kauf des lautlosen bzw. lauten Rasenmähers) zu entnehmen sind (die erste Zahl bezieht sich auf A): Luhmann (1974), S. 35 ff. Ebenda, S. 35. Siehe auch Dörner (1989), der anschaulich aufzeigt, wie sehr Fehleinschätzungen bei zukunftsorientiertem Entscheiden mit der menschlichen Psyche verbunden sind (allerdings mit der optimistischen Einschätzung, dass ein zukunftsorientiertes Entscheiden, welches zum gewünschten Ergebnis führt, erlernbar sei (S. 309)). 65 Luhmann (1974), S. 34. 66 Ebenda, S. 49. 67 Siehe z. B. Schäfer / Ott (1986 / 2000); Kirchner (1997). Zu den folgenden Ausführungen siehe Homann / Suchanek (2000), insbesondere S. 22 ff., S. 90 ff., S. 395 ff. m. w. N. 68 Ebenso wenig geht es darum, die Handlung moralisch zu bewerten. Siehe zu diesem Punkt Buchanan, in: Buchanan / Tullock (1962 / 2001), S. 309 f. 63 64

94

3. Kap.: Die Kriterien lautlos (B)

laut (B)

lautlos (A)

5/5

0/6

laut (A)

6/0

1/1

Hier wird deutlich, dass A unabhängig von der Entscheidung von B besser den lauten Rasenmäher kauft, denn er gewinnt dabei jeweils eine Nutzeneinheit (entweder Ruhe + Geld sparen oder zumindest Geld sparen). Da sich für B die Situation genauso darstellt, werden beide nach den Voraussetzungen der Ökonomik im vierten Quadranten enden, der dem ersten Quadranten um jeweils vier Nutzeneinheiten pareto-inferior ist. Diese Folge behauptet die Ökonomik vorhersagen zu können. Sind ihre Argumente auch teilweise sehr überzeugend, so kann sie das Eintreten bestimmter Adaptionsfolgen in einigen Fällen nur plausibel machen, nicht jedoch wirklich vorhersagen. Um plausibel zu bleiben, müssen aus Sicht der Ökonomik auch ästhetische und moralische Gefühle bei der Bestimmung von Nutzeneinheiten berücksichtigt werden.69 Auf das Beispiel zurückkommend wäre es möglich, davon auszugehen, dass es A und B jeweils zwei Nutzeneinheiten wert ist, mit ihrem Nachbarn gut auszukommen. In diesem Fall wäre das Dilemma nicht gegeben, denn für beide wäre der Kauf des lautlosen Rasenmähers unabhängig vom Verhalten des anderen besser, was zu der pareto-optimalen Lösung führte, dass sich beide einen lautlosen Rasenmäher besorgten. Ob den Akteuren der nachbarschaftliche Frieden so viel wert ist, entscheidet also darüber, wie sich A und B beim Kauf entscheiden werden. Anders ausgedrückt: Die Ökonomik hält sowohl für den Fall, dass A und B den geräuschvollen Rasenmäher kaufen, als auch für den gegenteiligen Fall eine Erklärung bereit. (Wenn nur A den lautlosen Rasenmäher kauft, so ist eben nur ihm die gute Beziehung zum Nachbarn wichtig.) Insofern ist diese Methode nicht falsifizierbar, weil man sich immer darauf berufen kann, die Präferenzen der Akteure falsch bestimmt zu haben, wenn von der Ökonomik nicht vorhergesehene Folgen eintreffen. Da jedoch sowohl der eine Fall als auch das Gegenteil vorhergesagt werden kann, verschiebt sich die Unsicherheit über Adaptionsfolgen in die Ökonomik selbst – genauer: in die Bestimmung der Präferenzen der Akteure. Dabei kann diese Unsicherheit auch nicht dadurch beseitigt werden, dass aus den Handlungen der Akteure auf deren Präferenzen geschlossen wird. Die Vermutung liegt nahe, dass beispielsweise P den Orangensaft gekauft hat, weil er ihn gegenüber Apfelsaft präferiert und man deshalb aus seinem Verhalten schließen kann: P präferiert Orangensaft zumindest schwach gegenüber Apfelsaft (P: O  A). Leider ist dies nicht so einfach. Vielleicht hat P übersehen, dass Apfelsaft vorhanden war. Seine Handlung wäre dann nur Ausdruck seiner Präfe69 Ansonsten würden alle Menschen unzulässiger Weise als Kaufleute angesehen werden (Brodbeck (1998), S. 231): „Niemand zieht 10 Tonnen Eiscreme 9 Tonnen deshalb vor, weil er dies essen möchte. Die Ökonomie verlegt ins Subjekt als Bedürfnis, was nur einem ganz spezifischen Handlungstypus eigentümlich ist (dem Kaufmann).“

2. Bindung an Folgeerwägungen

95

renz unter den von ihm wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten. Dass ist natürlich immer der Fall. Daran zeigt sich aber, dass Präferenzen nur dann an der Handlung abgelesen werden können, wenn zugleich bekannt ist, wie der Akteur seine Handlungsmöglichkeiten einschätzt bzw. wie er die gegebene Entscheidungssituation interpretiert: „Möglichkeiten der Berechnung setzen ein gegebenes Entscheidungsfeld voraus, denn nur so können Bewertungen überhaupt metrisiert werden. Die analytische Wissenschaftstheorie schwimmt hier im Fahrwasser der Ökonomie, wenn sie von Situationen ausgeht, die wie folgt strukturiert sind: ,Eine Person möge in einer bestimmten Situation zwischen m Handlungen oder Aktionen A1, . . . , Am wählen können.‘ Die so erfassten ,sämtlichen Möglichkeiten‘ sind niemals Möglichkeiten im Sinne des lebendigen Bezugs in einer Situation. In der Trennung von Person und objektiven Möglichkeiten ist verkannt, was Möglichkeiten in Situationen überhaupt sind: Es sind keine möglichen Zustände in einem starren logischen Raum, wie in der Mechanik, es sind Interpretationen.“70

Diese Interpretationen lassen sich aber nicht aus der Handlung ableiten.71 Vielmehr lassen sich durch die entsprechenden Interpretationen auch Handlungen erklären („rationalisieren“), die auf den ersten Anschein hin z. B. Gesetzen der Transitivität oder dem sure-thing principle widersprechen. Dies soll an drei Beispielen verdeutlicht werden72: a) Transitivität Broome entwarf folgendes Beispiel: „George prefers visiting Rome to mountaineering in the Alps, and he prefers staying at home to visiting Rome. However, if he were to have a choice between staying at home and mountaineering in the Alps, he would choose to go mountaineering.“73

In diesem Beispiel scheint George das Gesetz der Transitivität zu verletzen, denn wenn er lieber nach Rom fährt (a) als bergsteigen zu gehen (b) und lieber zu Hause bleibt (c) als nach Rom zu fahren (a), müsste er es auch bevorzugen, zu Hause zu bleiben (c) anstatt bergsteigen zu gehen (b): Wenn c > a und a > b, so müsste nach dem Gesetz der Transitivität c > b folgen. Seine Präferenzen scheinen demnach irrational zu sein. Broome erklärt die Präferenzordnung von George jedoch folgendermaßen: Für George macht es einen Unterschied, ob er einfach nur zu Hause bleibt oder ob er zu Hause bleibt und die Möglichkeit ausschlägt, bergsteigen zu gehen. Am liebsten bliebe er einfach zu Hause. Sollte ihm jemand die Möglichkeit anbieten, bergsteigen zu gehen, würde er lieber ablehnen, weil er bereits Rom besichtigen werde. Ist ihm diese „Ausrede“ jedoch nicht gegeben, ginge 70 71 72 73

Brodbeck (1998), S. 12. Siehe zum Zusammenhang von Handlung und Präferenz auch Sen (1977), S. 83 ff. Einen guten Überblick gibt Schmidt (1995), S. 97 ff. Broome (1991), S. 76.

96

3. Kap.: Die Kriterien

er in diesem Fall lieber bergsteigen als zu Hause zu bleiben, weil er befürchtete, ansonsten als Feigling zu gelten. Das „Zu-Hause-Bleiben“ wird von George je nach Situation unterschiedlich bewertet (interpretiert), wodurch aus den drei gegebenen Möglichkeiten vier Möglichkeiten in folgender Präferenzordnung werden: c1) Zu Hause bleiben, a) Nach Rom fahren, b) Bergsteigen gehen, c2) Zu Hause bleiben und ein Angebot zum Bergsteigen ausgeschlagen zu haben. Auf diese Weise bleibt durch Interpretation die Transitivität gewahrt und Georges Entscheidungsverhalten erscheint rational.74

b) Sure-thing principle Die 50%-tige Wahrscheinlichkeit (0,5p), 1000 A zu erhalten, ist mathematisch gesehen 500 A wert. Trotzdem ziehen es die meisten Menschen in den Untersuchungen von Allais vor, 400 A mit 100%-tiger Wahrscheinlichkeit (1p) zu erhalten.75 Diese Entscheidung ist leicht zu „rationalisieren“: Der Sicherheit des Gelderhaltes wird eben auch ein Wert zugemessen. Schwieriger wird es bei dem folgenden Beispiel: Es werden zwei Wahlmöglichkeiten gegeben. Erstens: 100 Mio. A zu 1p oder 500 Mio. A zu 0,1p und 100 Mio. A zu 0,89p. Zweitens: 100 Mio. A zu 0,11p oder 500 Mio. A zu 0,1p. Die meisten Menschen wählen im ersten Fall die erste und im zweiten Fall die zweite Alternative und verletzen damit anscheinend das sure-thing principle, welches besagt, dass es die Entscheidung nicht beeinflussen dürfte, wenn ein für beide Alternativen identischer Teil wegfällt.76 Dies wird deutlich, wenn man die Entscheidungssituation in einer Tabelle darstellt:77 p = 0,01 (Möglichkeit A)

p = 0,1 (Möglichkeit B)

p = 0,89 (Möglichkeit C)

F

100 Mio. A

100 Mio. A

100 Mio. A

G

0A

500 Mio. A

100 Mio. A

F’

100 Mio. A

100 Mio. A

0A

G’

0A

500 Mio. A

0A

F / G und F’ / G‘ stellen die beiden Entscheidungsalternativen dar. A, B und C sind die Folgen, die sich mit der Wahrscheinlichkeit p aus der jeweiligen Entscheidung ergeben. Dem sure-thing principle zufolge dürfte es keinen Unterschied machen, ob man zu 0,89p 100 Mio. A erhält oder nicht. Möglichkeiten A und B sind 74 75 76 77

Broome (1991), S. 76 ff. Allais (1990), S. 130. Siehe Allais (1990), S. 131 ff. Diese Tabelle ist bei Schmidt (1995), S. 101, dargestellt.

2. Bindung an Folgeerwägungen

97

bei F / G und F’ / G‘ identisch und Möglichkeit C dürfte die Entscheidung zwischen F und G bzw. F‘ und G‘ nicht beeinflussen. Sie tut es aber doch, denn viele Menschen, die F wählen, entscheiden sich nicht für F’, sondern für G’. Broome hingegen „rettet“ das sure-thing principle, indem er zwischen den grau markierten Feldern G und G‘ bei Möglichkeit A unterscheidet: Bei G / A sei die Enttäuschung groß, denn der sichere Erhalt von 100 Mio. A bei F ist nun verloren. Bei G’ / A hingegen entsteht keine Enttäuschung, da es sowieso keine großen Aussichten darauf gab, reich zu werden. Deshalb seien die Möglichkeiten G / A und G’ / A nicht identisch.78 Wie beim Transitivitätsproblem werden zunächst identisch erscheinende Möglichkeiten interpretativ unterschieden.

c) Newcombs Paradoxie Unter dem Titel „Newcombs Paradoxie“ verbirgt sich folgende Frage: Angenommen man hätte die Wahl, von zwei Kisten (A und B) entweder beide oder nur B zu öffnen. Ein Prophet prophezeit mit großer Treffsicherheit das zukünftige Entscheidungsverhalten. Wenn er prophezeit, dass man nur den Kasten B öffnen werde, wird er eine Million Euro darin deponieren. Sollte er prophezeien, dass man beide Kästen öffnet, wird er den Kasten B leer lassen. Kasten A wird 1000 A enthalten – egal wie man sich entscheidet. Wie sollte man sich entscheiden?79 Interessant an dieser Frage ist, dass es zwei „rationale“ Antworten gibt, die sich widersprechen. Die erste Antwort lautet: Der Prophet sagt mit hoher Treffsicherheit voraus. Egal, wie man sich entscheidet – der Prophet wird es mit großer Wahrscheinlichkeit vorhergesehen haben. Deshalb sollte man sich nur für Kasten B entscheiden (1 Million > 1000 für alle p > 0,001). Die zweite Antwort lautet: Unabhängig davon, was der Prophet vorrausgesagt hat, erhält man 1000 A mehr, wenn man beide Kästen nimmt. Das Geld wurde bereits deponiert, und wenn man Kasten A zusätzlich wählt, erhält man entweder 1000 A oder 1001000 A. Es widerstreiten zwei Prinzipien, die beide als rational angesehen werden: Expected Utility Principle („Among those actions available to a person, he should perform an action with maximal expected utility.“80 – 1. Argument) und Dominance Principle („If there is a partition of states of the world such that relative to it, action A weakly dominates action B, then A should be performed rather than B.“81 – 2. Argument). Auch hier wird es zu einer Frage der Interpretation, welcher „Rationalität“ man folgt.82 Broome (1991), S. 89. Gute Besprechungen dieses Paradoxons finden sich bei Nozick (1990), S. 207 ff. und Sainsbury (1988 / 2001), S. 83 ff. 80 Nozick (1990), S. 210. 81 Ebenda, S. 211. 82 Sainsbury (1988 / 2001) ist allerdings der Überzeugung, das Paradoxon aufgelöst zu haben und favorisiert in diesem Fall das Dominanzprinzip (S. 100 f.). 78 79

7 Rafi

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3. Kap.: Die Kriterien

An diesen Beispielen wird deutlich, dass alle möglichen Handlungen (Entscheidungen) durch eine entsprechende Interpretation „rationalisiert“ werden können bzw. eine Handlung ohne Interpretation nichts über die Rationalität des Entscheidenden bzw. dessen Präferenzordnung aussagt.83 Wenn ökonomische Methoden auch für viele Fälle ein überzeugendes Argumentationskonstrukt bieten, kann die Unsicherheit über die Definition von Rationalität und über die Bestimmung von den Präferenzen der Akteure nicht beseitigt werden. Jedes konditionale Argument („Wenn die Präferenzen der Akteure so sind, dann werden sich diese Folgen ergeben.“) setzt voraus, dass das Vorderglied bestimmt werden kann. Dies ist aber nicht der Fall. Es wird von Befürwortern der Folgenorientierung selbst auch nicht behauptet, dem Richter jegliche Entscheidung abnehmen und alle Unsicherheiten beseitigen zu können. Schon weil eine Folgenorientierung davon abhängig ist, dass die Folgen als wünschenswert bzw. unerwünscht klassifiziert werden, kann sie dem Richter nicht seine Entscheidung abnehmen. Eine Folgenorientierung dient nur der Entscheidungstransparenz.84 Ihre Funktion wird darauf begrenzt, eine rationale Methode der Entscheidung zu bieten, wenn nach der Gesetzesinterpretation noch semantische Spielräume bestehen.85 Dabei wird übersehen, dass Folgen nicht nur in semantischen Spielräumen von Bedeutung sind: Sie können auch Entscheidungen contra legem rechtfertigen.86 Eine Anwendung ökonomischer Methoden ist zur Steigerung der Entscheidungstransparenz zu befürworten. Sie darf allerdings nicht dazu führen, dass Objektivität suggeriert wird, wenn lediglich Präferenzannahmen und Folgenbewertungen getroffen wurden. Abschließend kann allgemein festgestellt werden: a) Je deutlicher der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen hat, umso eher werden die Folgen dieser Entscheidung vom Richter akzeptiert werden müssen. Bedient sich der Gesetzgeber jedoch sehr allgemeiner Formulierungen, so werden Folgeerwägungen bei der Entscheidung des konkreten Falles notwendig.87

83 Siehe hierzu auch 1. Kapitel unter 2. f). Sen (1977), S. 93 führt zur Präferenzordnung aus: „Die traditionelle Theorie ist zu wenig strukturiert. Einer Person wird eine Präferenzordnung zugestanden, und je nach Bedarf soll sie ihre Interessen widerspiegeln, ihr Wohl ausmachen, ihre Vorstellung von dem, was getan werden soll, zusammenfassen und ihre Wahlentscheidung sowie ihr tatsächliches Verhalten beschreiben. Kann eine einzige Präferenzordnung dies alles leisten?“ Mérö (1996 / 2000) zeigt die Relativität des Rationalitätsbegriffes in der Spieltheorie auf: „Wir können für jeden konkreten Begriff von Rationalität eine Zahlenmatrix (also ein Spiel) finden, so daß der gegebene Rationalitätsbegriff für beide Spieler zu einem vollständigen Mißerfolg führt.“ (S. 73 ff., Zitat von S. 96). 84 Koch / Rüßmann (1982), S. 230; Wälde (1979), S. 38, 70, 76, 79, 90. 85 Wälde (1979), S. 59; Deckert (1995), S. 233; Kirchner (1997), S. 16 f. 86 Dazu siehe 1. Kapitel. In diese Richtung geht auch Garrn (1986), S. 123.

3. Bindung an Dogmatik

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b) Je klarer die Folgen einer Urteilsentscheidung vorhersehbar sind, desto eher muss der Richter sie in Betracht ziehen, denn sie werden ihm bzw. dem Urteil dann eher zugerechnet als dem Gesetzgeber oder unglücklichen Umständen. In dem Maße, in dem die Rechtstheorie und auch andere Wissenschaften es schaffen, Folgen kalkulierbar zu machen, muss sich auch der Richter damit befassen, denn sein Urteil verliert an Autorität, wenn er die offensichtlichen Folgen seiner Entscheidung nicht in Betracht zieht – und sei es nur durch den Hinweis darauf, dass er sich trotz der negativen Folgen im Sinne des Rechtsfriedens an den ihm eindeutig erscheinenden Wortlaut des Gesetzgebers gebunden fühlt.

3. Bindung an Dogmatik Der Begriff „Dogmatik“ wird in der Rechtstheorie sehr unterschiedlich verwendet.88 Eine Extremposition ist, Dogmatik als starres, umfassendes und in sich geschlossenes Begriffssystem anzusehen. Der Gegensatz besteht in einer flexiblen Dogmatik, die lediglich juristische Argumentationsmöglichkeiten strukturiert. Während beispielsweise Wolf die Dogmatik als ein widerspruchsfreies und starres System beschreibt89, plädiert Simitis für eine „offene Dogmatik“, die sich im Spannungsverhältnis von Stabilität und Flexibilität befindet90, also keinem starren System. Luhmanns Position kommt der von Simitis sehr nahe, denn er sieht die Dogmatik in der doppelten Funktion einer Erweiterung von Möglichkeiten und einer Reduzierung von Komplexität.91 Meyer-Cording hingegen meint, Dogmatik 87 Zur Notwendigkeit der Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Richter siehe auch Noll (1973), S. 53, 111. Dass der Gesetzgeber nie alles regeln kann und damit dem Richter zwangsläufig auch Regelungsfunktion zugestehen muss, stellt er auf Seite 280 treffend dar: „Noch keine Regelung hat bisher Judikatur und Kommentare überflüssig zu machen vermocht, und die Kommentare zu ausführlicheren Regelungen sind nicht weniger umfangreich als die Kommentare zu knapperen Regelungen. Dies sollte zu denken geben.“ Grimm (1995) weist auf die Gefahr hin, dass durch Finalprogrammierung im Gegensatz zur Konditionalprogrammierung weitere politische Entscheidungslast auf die Rechtsprechung zukommt (S. 102 f.). Coles (1991) glaubt, dass eine solche Übertragung der Entscheidungslast auf die Rechtsprechung den Rechtsfrieden gefährden kann: „Sollen Unabhängigkeit und Neutralität des Richters gewahrt bleiben, so muß dennoch Wert darauf gelegt werden, Interessengegensätze, die auf völlig konträren Auffassungen basieren und auch im folgenorientierten Entscheidungsprozeß einer annehmbaren Lösung nicht näher gebracht werden können, im Gesetzgebungsverfahren zu entscheiden. Bleibt der Gesetzgeber in derartigen Fragen unentschlossen, so werden diese Interessenkonflikte im richterlichen Beratungszimmer ausgetragen, was zu Angriffen der unterliegenden Interessengruppe auf das jeweils gefällte Urteil führt und letztlich den Richter vor schwerwiegende Implementationsprobleme stellt“ (S. 98 f.). Dadurch wird klar, dass Rechtsfrieden nicht nur durch die Rechtsprechung zustande kommen kann. Es ist auch ein Mindestmaß an Gesetzgebungsgeschick des Parlaments erforderlich. 88 Zu dieser Einschätzung kam auch Alexy (1978 / 1991), S. 307. 89 Zitiert nach Kötz (1972), S. 172. 90 Simitis (1972), S. 142. 91 Luhmann (1974), S. 16, S. 28.

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3. Kap.: Die Kriterien

sei negativ konnotiert und müsse als ein „Denkzwang“ beschrieben werden.92 Wieacker wiederum möchte Dogmatik positiv verstehen: Sie sei nicht autoritär, sondern diene der Vermeidung von Willkür.93 Esser beschreibt das dogmatische Denken als eine „wertneutrale Begriffsarbeit“94, was wiederum von Larenz kritisiert wird: Dogmatik arbeite verstärkt mit „Typen“ anstelle von subsumtionsfähigen Rechtsbegriffen, weshalb Wertungen nicht nur vordogmatischer Natur seien, sondern auch im dogmatischen Diskurs vorgenommen werden müssten.95 Die Gegenüberstellung von Ansichten über den Dogmatikbegriff ließe sich fortsetzen. Dass der Begriff so unterschiedlich verstanden wird, ist keine Neuheit. Herberger hat in seiner Arbeit über Dogmatik die Metamorphosen des Begriffs veranschaulicht: Während Dogmatik bei Hippocrates zunächst als eine Vermittlung zwischen Theorie und Praxis verstanden wurde (als eine auf praktischer Erfahrung beruhende, aber nicht ohne theoretisches Nachdenken zu gewinnende Aussage)96, wird der Begriff von Platon und Aristoteles um die Sprecherperspektive erweitert: Das Dogma bezeichnet dort Meinungen – also das, was jemandem als wahr dünkt.97 Dabei wird das Dogma wertneutral verstanden. Es kann sowohl schädliche als auch nützliche Meinungen geben.98 Diese Neutralität behält der Begriff jedoch nicht bei. Die theologische Trennung zwischen menschlichen (auf techne beruhenden) und göttlichen (auf Offenbarung beruhenden) Dogmen schafft die Grundlage für den später entstehenden Häresieverdacht bezüglich juristischer (menschlicher) Dogmen.99 Auch durch den im 16. Jahrhundert aufkommenden Skeptizismus bekam der Dogmatikbegriff eine negative Konnotation, denn Argumente auf Autoritäten zu stützen wurde als Unfähigkeit zu eigener Reflexion angesehen.100 Weitere Bedeutungsambivalenzen entstanden dadurch, dass „dogmatisch“ als Gegenbegriff zu „historisch“ verstanden wurde und sich seine Bedeutung mit den Bedeutungsveränderungen von „historisch“ änderte.101 Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass der Begriff „Dogmatik“ ebenso wie der Begriff „Regel“ sowohl deskriptiv als auch präskriptiv verstanden werden kann: Das Dogma ist wie die Regel einerseits die Beschreibung von Erfahrung, wird andererseits aber auch als Vorschrift verstanden (beobachtbare Regelmäßigkeit und normative Regel).102

Zitiert nach Kötz (1972), S. 172. Zitiert nach Kötz (1972), S. 173. 94 Esser (1972), S. 103. 95 Larenz / Canaris (1995), S. 47 f. 96 Herberger (1981), S. 6 ff. 97 Ebenda, S. 19 ff. 98 Dies wird deutlich bei Platon, Minos 314b – 315a, wo man auch die Gleichsetzung von äüãìá und äüîá sehen kann. Siehe auch Herberger (1981), S. 25. 99 Herberger (1981), S. 123 ff., S. 270 ff. 100 Ebenda, S. 273 ff. 101 Ebenda, S. 348 ff. 102 Ebenda, S. 67 ff. 92 93

3. Bindung an Dogmatik

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Angesichts dieser historisch reichhaltigen Konnotationen kann es hier keine verbindliche Klärung des Begriffs gehen. Vielmehr kommt es auf eine Begriffsbestimmung an, die im Rahmen dieser Arbeit zweckmäßig ist. Da bietet es sich an, von der ursprünglichen Bedeutung des altgriechischen Wortes „äüãìá“ auszugehen. Seine Bedeutung reicht von „Meinung“ über „Beschluss“ bis hin zu „Lehr- und Glaubenssatz“. Man könnte also als Dogmatik diejenigen Sätze bezeichnen, die „Meinungen“ darstellen und geglaubt werden. Dabei zeigt schon der Begriff „Meinung“, dass es hier keinesfalls um zwingende Schlussfolgerungen geht. Vielmehr sind dogmatische Sätze Aussagen, die gerade nicht zwingend sind. Sie könnten auch anders lauten.103 Bedeutung erlangen sie dadurch, dass sie „geglaubt“ werden. Wird etwas geglaubt, wird es nicht weiter hinterfragt. Dies klingt zunächst wie ein Denkverbot und kann erklären, warum „Dogmatik“ von vielen Menschen negativ konnotiert wird. Dabei wird dieses Denkverbot jedoch nicht von der Dogmatik geschaffen, sondern vielmehr umgekehrt: Die Dogmatik entsteht aus dem Denkverbot, wenn man unter Denkverbot das Verbot versteht, ewig über ein Problem nachzudenken. Da eine praktische Tätigkeit wie die Jurisprudenz zu einer Entscheidung kommen muss, ist es ihr unmöglich, alle Probleme zu durchdenken (abgesehen davon, dass selbst unbegrenzte Zeit nicht dazu führen würde, das Problem letztbegründend – und damit unabhängig von jeglichem Dogma – zu lösen104). Insofern ist es notwendig, bei der Entscheidungsbegründung auf Sätze zurückgreifen zu können, die nicht weiter begründet werden müssen.105 In dieser Hinsicht erfüllen dogmatische Sätze eine ähnliche Funktion wie Vorurteile: Auch Vorurteile strukturieren unser Leben, indem sie es uns erlauben, induktiv eine Erfahrung auf andere Situationen zu übertragen. Interessanterweise teilt der Begriff „Vorurteil“ auch die negative Konnotation von „Dogmatik“, obwohl ein Vorurteil keineswegs ausschließlich die Abwertung von anderen Personengruppen impliziert. So betont Hiebsch auch die entscheidungserleichternde Funktion des Vorurteils, die wertneutral ist.106 Upmeyer fasst die positiven und negativen Aspekte von Vorurteilen folgendermaßen zusammen: „Der Vorteil der Benutzung einer Klassifikation für eine Person besteht darin, daß man nicht alle ihre Merkmale selbst auskundschaften muß. Sobald die Person anhand eines (im Extremfall) einzigen Merkmals klassifiziert wurde, kann man ihr alle weiteren mit der Klasse verbundenen Merkmale zuordnen. Das erleichtert die Orientierung ungemein, kann aber zu Fehleinschätzungen führen.“107 103 Siehe auch Wieacker (1970), S. 320 f., der aus diesem Grund ein System mathematischer Lehrsätze nicht „Dogmatik“ nennen würde. 104 Siehe Albert (1968 / 1969), S. 11 ff. 105 Solche Sätze, die einen nicht weiter begründeten (und in diesem Sinne willkürlichen) Abbruch der Argumentationskette gewährleisten, werden auch bei Albert (1968 / 1969) als Dogmen bezeichnet (zuerst auf S. 14). Die Bedeutung von Dogmen kennzeichnet nach Albert (1978) auch die strukturelle Ähnlichkeit von Jurisprudenz und Theologie als „zwei normative Wissenschaften dogmatischen Charakters“ (S. 65 ff.). Dies ist sicherlich auch dann zutreffend, wenn der Begriff „Dogmatik“ nicht von der Theologie, sondern von der Medizin übernommen sein sollte (so die These von Herberger (1981)). 106 Hiebsch (1986), S. 262.

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3. Kap.: Die Kriterien

Dabei wird deutlich, dass der negative Aspekt (mögliche Fehleinschätzungen) untrennbar mit dem positiven Aspekt (Orientierungserleichterung) verbunden ist; mit anderen Worten: Wer sich orientieren möchte, muss mögliche Fehleinschätzungen in Kauf nehmen. Die notwendige Verbindung der positiven und negativen Aspekte des Vorurteils hat Gadamer bereits an dessen etymologischem Ursprung, dem praeiudicium, dargestellt: „An sich heißt Vorurteil ein Urteil, das vor der endgültigen Prüfung aller sachlich bestimmenden Momente gefällt wird. Im Verfahren der Rechtssprechung hieß ein Vorurteil eine rechtliche Vorentscheidung vor der Fällung des eigentlichen Endurteils. Für den im Rechtsstreit Stehenden bedeutete das Ergehen eines solchen Vorurteils gegen ihn freilich eine Beeinträchtigung seiner Chancen. So heißt préjudice wie praeiudicium auch einfach Beeinträchtigung, Nachteil, Schaden. Doch ist diese Negativität nur eine konsekutive. Es ist gerade die positive Gültigkeit, der präjudizielle Wert der Vorentscheidung, – ebenso wie der eines jeden Präzedensfalles –, auf dem die negative Konsequenz beruht.“108

Die Etymologie109 führt wieder zurück zur Jurisprudenz: Juristen benötigen Vorurteile, um sich bei der Rechtsentscheidung orientieren zu können. Um einen Fall entscheiden zu können, müssen sie auf Sätze zurückgreifen, die sie nicht weiter begründen. Dieser Begründungsabbruch kann durch die Autorität der diesen Satz vertretenen Juristen oder auch durch Tradition berechtigt sein.110 Dabei ergibt sich für die Anwendung solcher Sätze der bereits beschriebene ambivalente Effekt, dass sie einerseits die Entscheidung erleichtern und andererseits dem Einzelfall Gewalt antun. Dies ist der Fall, weil diese Sätze Merkmale hervorheben, die sie vom EinUpmeyer (1985), S. 62. Gadamer (1960 / 1990), S. 275. 109 Oft wird als praeiudicium nur eine Feststellungsklage für bestimmte Fragestellungen verstanden (z. B. ob jemand frei geboren oder Sohn eines anderen ist). Diese Vorfragen wurden dann verbindlich festgestellt und erleichterten den „eigentlichen“ Prozess („eigentlich“ deshalb, weil bei dem praeiudicium eben noch keine Verurteilung zu einer Handlung oder Unterlassung erfolgte) (Kaser (1966), S. 266 ff.; May (1904), S. 633; Wegner (1925), S. 133 f.). Bei Quintilian findet sich aber ein viel weiterer Begriff des praeiudiciums: Er umfasst alle bereits getroffenen Gerichtsentscheidungen und trifft demnach unseren Begriff des „Präjudizes“ besser. Diese in der Rhetorik übliche Verwendung des Wortes wird von Hackl (1976) nicht mit „Beweismittel“ übersetzt. Trotzdem erkennt er als Funktion des praeiudiciums an, Beweislasten zu verschieben (S. 20 f.). Quintilian stellt in seiner Ausbildung des Redners die argumentative Bedeutung der praeiudicia heraus, die er aus der Autorität des Richters und der Ähnlichkeit des entschiedenen mit dem zu entscheidenden Fall herleitet (Quintilian, V. Buch, 2. Kapitel). Außerdem bedeutet praeiudicium noch „Schaden“, „Nachteil“, was daher stammt, dass das praeiudicium für eine Partei immer einen Nachteil darstellte. Natürlich war dieser Nachteil immer ein Vorteil für die andere Partei, so dass es nicht wundert, wenn praeiudicium auch „Vorteil“ oder „Privileg“ bedeuten konnte (Hackl (1976), S. 22). Weitere Nachweise und eine übersichtliche Zusammenstellung der Bedeutungen finden sich bei Hackl (1976), S. 17 ff. 110 Zum Zusammenhang von Vorurteil und Autorität (bzw. Tradition, die Gadamer als „namenlos gewordene Autorität“ bezeichnet) siehe Gadamer (1960 / 1990), S. 285. Dort findet sich auch eine Verbindung zur begründungsentlastenden Funktion von Vorurteilen: „Eben das ist es vielmehr, was wir Tradition nennen: ohne Begründung zu gelten.“ 107 108

3. Bindung an Dogmatik

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zelfall abstrahieren. Diese Abstraktion ermöglicht einerseits Orientierung und Gleichbehandlung, ignoriert in ihrer Gleichbehandlung aber auch die Unterschiedlichkeit der Einzelfälle bezüglich weiterer Merkmale. Deshalb wird im Folgenden Dogmatik als ein System institutionell akzeptierter Vorurteile verstanden. Dadurch wird die Funktion dogmatischer Sätze deutlich: Genau wie Vorurteile erlauben sie, Entscheidungen durch Orientierung zu treffen. In den Worten Hassemers heißt es: „Sie (die Rechtsdogmatik, A. R.) macht Probleme dadurch entscheidbar, daß sie den Kreis möglicher Entscheidungsalternativen verringert, Probleme bezeichnet und systematisiert, Relevanzen bestimmt, Begründungsmuster zur Verfügung stellt. Erst mit den Mitteln der Rechtsdogmatik kann der Richter das Gesetz konsistent handhaben, kann er Differenzierungen wahrnehmen und Fälle klassifizieren.“111

Bei diesem Dogmatikverständnis ist auch die strikte und kaum durchzuhaltende Trennung zwischen dogmatischen und undogmatischen Sätzen zweitrangig. Je weniger begründungsbedürftig ein Satz ist, umso dogmatischer ist er, wobei die Begründungsbedürftigkeit vom juristischen Diskurs abhängt. Während die culpa in contrahendo nicht mehr hergeleitet werden musste, um einen schuldrechtlichen Schadensersatzanspruch aus einer vorvertraglichen Pflichtverletzung herzuleiten (jetzt positiv rechtlich geregelt in § 311 II, III BGB), erfordern aktuelle Streitfälle einen hohen Begründungsaufwand. Deshalb muss ein Vorurteil auch zu einem gewissen Grad institutionell anerkannt sein, um Bestandteil der juristischen Dogmatik zu werden. a) Die „herrschende Meinung“ Dogmatik verstanden als institutionell akzeptierte Vorurteile verdeutlicht auch die Bedeutung der herrschenden Meinung (h. M.) für die Dogmatik: Je „herrschender“ die Meinung, umso weniger muss sie begründet werden. Drosdeck fasst ihre Bedeutung folgendermaßen zusammen: „Die h. M. garantiert als durch Konsens legitimiertes Entscheidungsprogramm zunächst Rechtssicherheit, da sie als reproduzierbarer Satz die Gleichbehandlung ähnlicher Sachverhalte gewährleistet. Ein Abweichen von der h. M. ist deshalb nur durch die Übernahme der Argumentationslast möglich, unter Angabe der Gründe, die ein Abweichen für sinnvoll erscheinen lassen. Daraus läßt sich entwickeln, daß Entscheidungen sich immer an der h. M. zu orientieren haben und durch sie kontrolliert werden, da sie durch ihre präsumtive Verbindlichkeit den juristischen Diskurs strukturiert; sowohl eine ablehnende als auch die zustimmende Auffassung müssen ihren Ausgangspunkt in der h. M. nehmen. Durch die Eigenschaft als Strukturelement kann die h. M. entlastend wirken: Begründungen können in dem Umfang reduziert werden, in dem zu Rechtsfragen eine h. M. besteht. Eine juristische Diskussion kann auf neue Fragen beschränkt werden.“112

Trotz dieser Bedeutung kritisiert Drosdeck eine Argumentation, die sich auf die h. M. beruft, denn wer sich auf die h. M. berufe, versuche meist, die eigentlichen 111 112

Hassemer (1976 / 1994), S. 264. Drosdeck (1989), S. 95.

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3. Kap.: Die Kriterien

Entscheidungsprämissen zu verheimlichen und ein Begründungsdefizit zu verbergen.113 Ein solcher Einsatz der h. M. in der Argumentation ist in der Tat falsch, da er nicht überzeugen kann und der Autorität des Gerichts schadet. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die h. M. durchaus sinnvoll eingesetzt werden kann. Wenn Drosdeck schreibt: „Der Hinweis auf Zeitdruck und den Entscheidungsnotstand der Gerichte dispensiert nur dann von der argumentativen Begründungslast durch den surrogierenden Verweis auf die h. M., wenn dieses argumentative Defizit bewußt in Kauf genommen wird“114,

so wird letztendlich auch von ihm das Argument, die h. M. entscheide eine Frage auf die gleiche Weise, nicht als Argument per se abgelehnt. Dies wäre auch aus zwei Gründen problematisch: Der erste Grund ergibt sich bereits aus der Funktion der h. M.: Wenn die h. M. den Richter in seinem Begründungsaufwand dadurch entlasten soll, dass sie ihm deutlich macht, welche Sätze weniger begründungsbedürftig sind und ihm dadurch die Entscheidung erleichtert und eine Entscheidungsvorhersehbarkeit und -gleichförmigkeit gewährleistet, so ist es auch ein anerkennenswertes Argument, durch Verweis auf die h. M. die Argumentationslast zu verschieben. Der zweite Grund liegt darin, dass jede Argumentation auf gewissen Grundprämissen aufbauen muss. Je grundlegender diese Prinzipien sind, desto schwieriger sind sie zu begründen. Hinzu kommt, dass sie auch kaum noch als Prinzipien wahrgenommen werden, weil sie selbstverständlich erscheinen.115 Wenn jemand beispielsweise die Prinzipien der Logik anzweifeln wollte, würde er als verrückt angesehen, da er etwas in Frage stellt, was von der h. M. (oder bei Foucault dem gesellschaftlichen Diskurs) als selbstverständlich angesehen wird.116 Je mehr Menschen ein Prinzip in Frage stellen, desto mehr wird die Selbstverständlichkeit dieses Prinzips schwinden und desto eher muss es begründet werden. Da aber jede Argumentation von Selbstverständlichkeiten ausgehen muss und diese dadurch selbstverständlich werden, dass sie von „Allen oder den Meisten oder den Experten (Fachautoritäten) als selbstverständlich angesehen werden, und auch von den Experten wieder entweder Allen oder den Meisten oder den Bekanntesten und Angesehensten“117, kann eine Argumentation nicht ohne h. M. auskommen. Natür113 Drosdeck (1989), S. 121 (Verbergen von Entscheidungsprämissen) und S. 125 (Verbergen des Begründungsdefizites). 114 Ebenda, S. 125. 115 Dies verdeutlicht Russell (1912 / 1970) am Beispiel der Induktion (S. 54 ff.) und weiteren Prinzipien (S. 63 ff.) wie z. B. „Was immer von einem wahren Satz impliziert wird, ist wahr“ (S. 64). In den Worten von Wittgenstein (1945) heißt es: „Die wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, daß ihm dies einmal aufgefallen ist. – Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf“ (§ 129). 116 Foucault (1972 / 2000), S. 11 ff. 117 Frei nach Aristoteles, Topik 100b.

3. Bindung an Dogmatik

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lich kann man ein Argument kritisieren, wenn die h. M. unreflektiert übernommen wird, obwohl eine beachtliche Mindermeinung vorhanden ist und der Satz der h. M. deshalb nicht so selbstverständlich ist, dass er ohne weitere Prüfung übernommen werden könnte. Es ist ebenso schändlich, ungeprüft von einer angeblich h. M. zu sprechen, ohne sich dessen zu vergewissern. Wer jedoch die h. M. an sich abschaffen möchte, kämpft gegen seinen eigenen Schatten, denn jedes Denken baut auf Grundprinzipien auf, die uns selbstverständlich erscheinen, weil sie allgemein anerkannt sind. b) Präjudizien Fallen unter die Dogmatik alle institutionell akzeptierten Vorurteile, so gehören auch Präjudizien dazu. Dies wird häufig anders gesehen: Dogmatik wird den Präjudizien aus den verschiedensten Gründen gegenübergestellt, obwohl dann im gleichen Atemzug die Ähnlichkeit ihrer Bedeutung herausgestellt wird. Drosdeck beispielsweise unterscheidet Präjudizien und h. M. deshalb, weil Präjudizien durch den vor ihrer Anwendung notwendigen Fallvergleich immer kritisch überprüft würden, was bei der h. M. nicht der Fall sei. Ferner können Präjudizien in Entscheidungssammlungen nachgelesen werden, die h. M. sei demgegenüber schwerer zugänglich.118 Alexy unterscheidet Präjudizien von Dogmatik wegen ihrer illokutionären Kraft.119 Diese Unterscheidungen sind zutreffend, doch ist die Bedeutung von Präjudizien mit der von (anderen) dogmatischen Sätzen so eng verflochten, dass es sinnvoll erscheint, Präjudizien unter Dogmatik zu fassen. Seifert unterscheidet letztlich nur nach Autoriät: „Wird eine rhetorische Formel der Rechtsprechung ohne inhaltliche Änderung von der Dogmatik übernommen, so wechselt lediglich die in Anspruch genommene Autorität.“120

Dabei ist fraglich, welchen Nutzen diese triviale Feststellung bietet. Jedenfalls kann Seiferts vorher getroffene Feststellung nicht überzeugen, dass nur Präjudizien den Richter eindeutig festlegen könnten.121 Dogmatische Sätze (im Sinne von Seifert) können sehr konkret gefasst werden und die höchstrichterlichen Verwendungsregeln für Präjudizien vieldeutig interpretierbar sein. Dass die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Lage ist, andere Gerichte festzulegen, liegt nicht an einem strukturellen Unterschied, sondern an der Akzeptanz der Autorität höchstrichterlicher Rechtsprechung durch untere Gerichte.122 Auch Drosdeck und Alexy sehen trotz ihrer Unterscheidungen zwischen Präjudizien und Dogmatik

Drosdeck (1989), S. 119. Alexy (1978 / 1991), S. 337 f. 120 Seifert (1996), S. 200. 121 Seifert (1996), S. 192. 122 Zu der Autorität von höchstrichterlicher Rechtsprechung siehe die soziologischen Aspekte bei Simon (1975), S. 21 ff. m. w. N. 118 119

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3. Kap.: Die Kriterien

einen engen Zusammenhang: Obwohl eigentlich der illokutionäre Unterschied von Urteilen und h. M. dargestellt werden sollte, zeigt Drosdeck auch die Zugehörigkeit von Präjudizien zur Dogmatik auf: „Urteile, insbesondere höchstrichterliche, können jedoch zusätzlich den maßgeblichen Wert der Institution, von der sie produziert werden, für ihre argumentative Autorität verbuchen. Die Gerichte prägen dogmatische Sätze mit dem Stempel der entscheidenden Instanz, wodurch die Dogmatik faktisch wird. Durch diesen praktischen Vollzug unterscheidet sich das Präjudiz in Form eines dogmatischen Satzes von der allein wissenschaftlich produzierten Dogmatik, die immer nur rechtswissenschaftlicher Vorschlag bleibt und deshalb für den juristischen Diskurs, der in Hinblick auf Entscheidungen verläuft, eine vergleichsweise geringere argumentative Autorität beanspruchen kann.“123

Alexy wiederum stellt vor seiner Unterscheidung von präjudizieller und dogmatischer Argumentation fest, dass „einerseits zahlreiche dogmatische Sätze zugleich in Präjudizien enthalten sind und daß andererseits die Ergebnisse der Rechtsprechung von der Dogmatik, die ja beansprucht, Dogmatik des geltenden Rechts zu sein, übernommen werden.“124

Die Abneigung, Präjudizien als Dogmatik zu bezeichnen, resultiert möglicherweise auch aus dem Bedürfnis, nicht jedes Urteil als dogmatischen Satz zu betrachten. Natürlich ist es bei Präjudizien wie bei der h. M.: Je niedriger die Gerichtsinstanz war und je seltener ein entsprechendes Urteil getroffen wurde, desto weniger Gewicht hat das Präjudiz und desto begründungsbedürftiger ist das ihm zugrundeliegende Prinzip.125 Wo allerdings eine gefestigte höchstinstanzliche Rechtsprechung besteht (wie etwa zur Durchbrechung der Rechtskraft gemäß § 826 BGB), hat das Präjudiz dieselbe begründungsentlastende und orientierungsgewährende Funktion wie andere von der h. M. anerkannte dogmatische Prinzipien.126 Ob dem Präjudiz zu folgen ist, bleibt ebenso wie bei anderen dogmatischen Sätzen eine Entscheidung: „Richtigerweise ist nämlich zu sehen, daß, wo immer die Frage einer Bindung an Präjudizien auftritt, darüber in jedem Einzelfall gesondert mit Gründen und Gegengründen zu sprechen ist, wobei sich in manchen Fällen ergeben wird, daß die Gründe, die für eine Bindung sprechen, überwiegen, während in anderen Fällen eine Abweichung von den jeweiligen Präjudizien die stärkeren Gründe für sich haben kann. Zutreffend ist allerdings, daß die Gebote der Einheitlichkeit und Kontinuität der Rechtsprechung als Gründe, die generell für eine Orientierung an Präjudizien sprechen, in jedem Fall gewichtige Gründe sind.“127 Drosdeck (1989), S. 92 f. Alexy (1978 / 1991), S. 337. 125 Siehe auch Seifert (1996), der die Plausibilität von Argumenten mit der Bestätigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung verbindet (S. 188 f.). 126 Siehe auch Kriele (1967 / 1976), der eine gute Zusammenfassung über die Funktion der Präjudizien bietet (S. 259 ff.), aber letztlich als wichtigste Gesichtspunkte die Entlastung (Begründungsentlastung) und Kontinuität (Orientierung) herausstellt (S. 262 ff.). 127 Garrn (1986), S. 100. 123 124

4. Bindung an die gesellschaftlichen Moralvorstellungen

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Gleiches gilt auch für andere dogmatische Sätze und macht deutlich, dass ein gutes Urteil nicht allein von Dogmatik abhängen kann. Dogmatik, verstanden als die Gesamtheit institutionell anerkannter Vorurteile, kann auch erklären, warum Dogmatik nicht allein als ein „Denkverbot“ verstanden werden kann, sondern auch einen größeren Entscheidungsspielraum zu schaffen vermag128: Die durch Vorurteile ermöglichte Orientierungsfähigkeit und ökonomischere Datenverarbeitung129 vergrößert auch die Handlungsspielräume. Ebenso erlaubt die Dogmatik einen freieren Umgang mit Texten: Ihre Funktion besteht nicht „in der Fesselung des Geistes, sondern gerade umgekehrt in der Steigerung der Freiheiten im Umgang mit Erfahrung und Texten.“130 Dies ist allerdings überspitzt: Natürlich fesselt die Dogmatik den Geist, wenn sie ihm durch Vorurteile Denkschemata oktroyiert, doch ist es ebenfalls richtig, dass diese Fesselung zu einer Orientierungsmöglichkeit führt, die einen lockeren Umgang mit den Texten ermöglicht – denn die Sicherheit kommt dann aus den Schemata. Will man bei der von Luhmann gewählten Metapher der Fesselung bleiben, ließe sich diese als eine Selbstfesselung des Bergsteigers interpretieren, der seine Bewegungsmöglichkeiten durch das Einhaken an Seilen einschränkt, aber dadurch erst die Sicherheit für den weiteren Aufstieg gewinnt (wobei der „Aufstieg“ keinen Fortschrittsgedanken implizieren soll). Neben dieser unverzichtbaren Orientierungshilfe ist die Dogmatik auch eine wichtige Entscheidungshilfe für den Richter, indem sie ihm eine Autoritätsquelle bietet, auf die er neben dem Gesetzestext zurückgreifen kann.

4. Bindung an die gesellschaftlichen Moralvorstellungen Im vorangegangenen Abschnitt über Dogmatik wurde bereits erwähnt, dass Vorurteile dem Einzelfall Gewalt antun, da sie in ihrer Abstraktion vom Einzelfall diesem in seiner Individualität nicht gerecht werden können. Dies gilt für jedes regelhafte Denken: Da kein Einzelfall mit einem anderen vollkommen identisch ist, muss jede Regel vom Einzelfall abstrahieren, um als Regel in anderen Einzelfällen anwendbar zu sein. Der Umstand, dass dabei dem Einzelfall Gewalt angetan wird, führte in der Rechtstheorie immer wieder zu dem Versuch, Gerechtigkeitserwägungen oder Moralvorstellungen in die Rechtstheorie zu integrieren – sei es in Form von Naturrecht, der Auslegung von Verfassungsprinzipien oder der Interpretation von Generalklauseln. Im Namen der Gerechtigkeit sollen Regeln entweder flexibel interpretierbar sein oder es soll von diesen abgewichen werden können. Um dem Einzelfall „gerecht“ zu werden, muss man das Dogma übergehen dürfen:

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So die These von Simitis (1972), S. 142, und Luhmann (1974), S. 16. Siehe Upmeyer (1985), S. 62. Luhmann (1974), S. 16.

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3. Kap.: Die Kriterien

„Jeder Fall ist anders, jede Entscheidung ist verschieden und bedarf einer vollkommen einzigartigen Deutung, die für keine bestehende, eingetragene, codierte Regel vollkommen einstehen kann und darf.“131

Dabei soll nicht der Eindruck erweckt werden, Gerechtigkeit und Regeln (Rechtssicherheit) stünden einander als sich ausschließende Aspekte gegenüber. Die im Namen der Gerechtigkeit erfolgte Abweichung von einer Regel muss selbst wieder begründet werden. Diese Begründung hebt einzelne Aspekte der konkreten Situation heraus, abstrahiert deshalb notwendig vom Einzelfall und dient zukünftigen Fällen als Präjudiz. Deshalb werden ehemalige Regelabweichungen (wie beispielsweise die Durchbrechung der Rechtskraft gemäß § 826 BGB) zu zukünftigen Regeln. Insoweit hätte die Gerechtigkeit eine innovative Funktion: Sie würde das Recht neu begründen, differenzieren und umgestalten.132 Andererseits geht auch jeder Anwendung einer bereits bestehenden Regel die Entscheidung voraus, die Regel auf diesen Fall anzuwenden. Es muss vor der Regelanwendung sowohl entschieden werden, ob die Regel auf den Einzelfall überhaupt Anwendung finden kann (d. h. ob die Regel auch für diesen Einzelfall konzipiert ist), als auch, ob die Regelanwendung in dem konkreten Fall „billig“ wäre oder ausgesetzt werden sollte. Insofern geht der dem Einzelfall Gewalt antuenden Regelanwendung die Entscheidung voraus, die Regel auf diesen Einzelfall anzuwenden. In dieser Entscheidung ist jedoch die Berücksichtigung des Einzelfalles in seiner Einzigartigkeit impliziert.133 Nun wurde bereits im zweiten Kapitel festgestellt, dass keinesfalls geklärt ist, ob es ein intersubjektiv verbindliches Verständnis von „Gerechtigkeit“ geben kann. Selbst wenn es dies geben sollte, ist es noch nicht allgemein akzeptiert. Letztendlich ist es nicht Aufgabe der Justiz, in einem pluralistischen Staat auf der Ebene des Zivilrechts Gerechtigkeitsvorstellungen zu vermitteln.134 Deshalb wird der Gerechtigkeitsbegriff teilweise an die gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen gebunden. Luhmann definiert Gerechtigkeit beispielsweise nicht mehr mit Absolutheitsanspruch (in seiner Terminologie heißt es „Perfektionsbegriff“135), sondern als „adäquate Komplexität eines Rechtssystems“136, wobei die Adäquatheit sys131 Derrida (1990 / 1991), S. 48. Das ist genau der Gedanke, der sich hinter dem in der christlichen Moraltheologie gebrauchten Begriff der „Epikie“ bzw. „åðéåkåßá“ verbirgt. Zum Begiff der Epikie siehe Virt (1983): „Operative Handlungsnormen gelten nicht universal (allgemeingültig), sondern nur generell (im allgemeinen). Sie sind daher korrekturoffen und korrekturbedürftig; Verbesserung des Gesetzes aus genau den genannten Gründen hat bereits Aristoteles als Wesen der Epikie bezeichnet“ (S. 260). 132 Siehe auch Derrida (1990 / 1991), S. 56. 133 Ebenda, S. 49. Dies setzt natürlich voraus, dass sich der Richter seiner Verantwortung bewusst ist und sich nicht wegen einer angeblichen Pflicht zur Regelanwendung als Subsumtionsmaschine versteht (siehe auch ebenda S. 48). 134 Siehe dazu 2. Kapitel 3. a). 135 Luhmann (1973), S. 134 ff. 136 Ebenda, S. 142.

4. Bindung an die gesellschaftlichen Moralvorstellungen

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temspezifisch und damit relativ ist.137 Ein gutes Urteil ist deshalb auch unabhängig davon gut, ob es „objektiven“, „apriorischen“ oder „intersubjektiv verbindlichen“ Werten entspricht. Es ist allerdings in der Weise an die gesellschaftlichen Moralvorstellungen gebunden, dass es ihnen nicht extrem entgegenstehen darf.138 Um den Rechtsfrieden zu wahren, darf ein gutes Urteil den gesellschaftlichen Moralvorstellungen nicht eklatant widersprechen. Dies soll im Folgenden erläutert werden. a) Warum „Moral“ und nicht „Gerechtigkeit“? Gerechtigkeit und Moral werden in so unterschiedlichen Weisen gebraucht, dass es schwierig ist, sie voneinander abzugrenzen. Teilweise wird Gerechtigkeit als eine Tugend angesehen, die regelt, wie man sich gegenüber anderen Menschen verhalten sollte. Sie wäre dann ein Unterpunkt der Moral, wenn die Moral die Antwort darauf gibt, was man tun soll. Da sich das Recht mit dem Verhalten gegenüber anderen Menschen beschäftigt, wäre verständlich, warum in der Rechtstheorie meist mit Gerechtigkeit und nicht mit Moral argumentiert wird. Die Etymologie von Gerechtigkeit spricht auch für deren Verbindung mit dem Recht: „äéêáéïóýíç“ bedeutet sowohl Rechtmäßigkeit als auch Gerechtigkeit, und die Verwandtschaft von iustitia (Gerechtigkeit) mit ius (Recht) ist nicht zu übersehen. Allerdings wird Gerechtigkeit in der Rechtstheorie als moralischer Aspekt gesehen, denn wer Gerechtigkeit in den Rechtsbegriff integriert, wendet sich gegen eine strikte Trennung von Recht und Moral. Die Begrifflichkeit ist also nicht ganz einheitlich. Es wird aus folgendem Grund von gesellschaftlichen Moralvorstellungen und nicht von Gerechtigkeitsvorstellungen geredet: „Gerechtigkeit“ wird meist mit kulturunabhängiger Gültigkeit konnotiert. „Moral“ hingegen knüpft schon etymologisch an mos, moris, also an „Sitte“, „Brauch“ und „Gewohnheit“ an. Darum kann „Moral“ auch deutlicher den Zusammenhang zur Gesellschaft herstellen, denn es geht um die Gewohnheiten der Gesellschaft.

b) Warum „gesellschaftliche Moralvorstellungen“ und nicht „Moral“? Dass umstritten ist, ob es überhaupt eine kulturunabhängige Moral gibt, wurde bereits ausgeführt.139 Selbst wenn es eine geben sollte, so ist sie der Menschheit Ebenda, S. 144 f. Würtenberger (2001), S. 203, betont ebenfalls die Notwendigkeit der Rückbindung der gerichtlichen Entscheidung an die allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen, um die Akzeptanz des Urteiles zu erreichen. 139 Siehe 2. Kapitel 3. a). Wittgenstein (1930 / 1989) argumentiert in seinem Vortrag über Ethik gegen die Existenz einer kulturunabhängigen Moral: Ebenso, wie es keine Straße gibt, die man unabhängig vom Ziel zu gehen verpflichtet ist, gebe es auch keinen Sachverhalt, der 137 138

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3. Kap.: Die Kriterien

noch nicht mit konsenserzeugender Argumentationsstringenz dargelegt worden. Doch abgesehen davon ist es das Ziel eines guten Urteils, Rechtsfrieden zu gewähren. Dies bedeutet aber, dass es nicht darauf ankommen kann, wie die Menschen ein Urteil auffassen sollen, sondern wie sie es tatsächlich auffassen. Wenn sich die Gesellschaft über ein Urteil aufregt und dem Rechtssystem die Autorität abspricht, weil das Urteil ihrem Moralempfinden deutlich widerspricht, so ist der Rechtsfrieden auch dann gefährdet, wenn dieses Urteil eigentlich moralisch war (gemessen an einer kulturunabhängigen Moral) und nur vom „gemeinen Pöbel“ wegen seiner „verblendeten Moralvorstellung“ missverstanden wurde. Es kommt nicht darauf an, was einer apriorischen oder göttlichen Moralvorstellung entspricht, sondern was in der Gesellschaft als moralisch verwerflich angesehen wird. Die Anbindung der Moral an gesellschaftliche Vorstellungen hat Tradition und ist eine Folge der vergeblichen Suche nach apriorisch gültigen Moralgrundsätzen. Schon Hume bestimmte die Moral durch Gefühle wie Zustimmung oder Ablehnung, weil er die Moral nicht allein durch den Verstand zu bestimmen vermochte.140 Damit ist noch nicht gesagt, dass Moral kulturabhängig sein muss. White plädierte noch 1981 für eine Ethik, die von Gefühlen der Verpflichtung ausgeht, glaubt aber trotzdem, dass es sich um objektive Eigenschaften handelt: „Ich denke, daß beides, ,verpflichtend‘ und ,weiß‘, objektive oder reale Eigenschaften ausdrückt, und ich erkläre die Unterschiedlichkeit moralischer Meinungsbildung, indem ich betone, daß es schwierig ist, in der Anwendung von Prädikaten wie „verpflichtend“ übereinzustimmen.“141

Das bedeutet, dass eine Moralphilosophie, die auf Gefühlen aufbaut, nicht zwingend einen moralischen Relativismus impliziert. Allerdings eröffnet sie die Möglichkeit, die Entwicklung und Entstehung moralischer Gefühle zu betrachten und somit von einem apriorischen Moralverständnis zu einem Moralverständnis zu kommen, welches sich in Abhängigkeit vom empirischen Menschen versteht. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass wichtige Anstöße zum Moralverständnis aus der Psychologie kamen und kommen.142 Obgleich in vielen psychologischen und soziologischen Studien Schlussfolgerungen von kulturunabhängiger Allgemeingültigkeit getroffen werden, sind sie alle empirisch angelegt und binnotwendigerweise herbeizuführen sei (S. 13 f.). Die Suche nach Absolutheit sei zwar anerkennenswert, jedoch unwissenschaftlich (S. 19). 140 Hume (1777 / 1996), S. 218 f. 141 White (1981 / 1987), S. 119. 142 Montada (1993), Piaget (1932 / 1990), Kohlberg (1984). Während Piaget noch vom „Billigkeitsgefühl“ redet (z. B. S. 374), lehnt Kohlberg eine gefühlstheoretische Interpretation des moralischen Urteils ab, „da sie die wichtige Rolle der Prinzipien und des Durchdenkens und Erörterns von Prinzipien im Moralurteil verkennt“ (S. 333). Allerdings erkennt er die Bedeutung von Gefühlen für die Moralentwicklung an (S. 334). Wenn er letztlich nur kognitive Prozesse als Moralurteil bezeichnet, kann man Gefühle im Sinne von Weinrich-Haste (1986) als Affekte verstehen, die einen kognitiven Prozess im Rahmen der Affektverarbeitung auslösen.

4. Bindung an die gesellschaftlichen Moralvorstellungen

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den insofern die Moral an die gesellschaftlichen Vorstellungen.143 So schreibt Montada: „Was sonst könnte Indikator für die wirksame Existenz einer moralischen Norm sein? Ich schlage moralische Gefühle vor.“144

Es ist also einerseits nicht unüblich, Moral über die menschlichen (und damit auch gesellschaftlichen) Gefühle der Neigung, Abneigung, Verpflichtung und Empörung zu bestimmen. Andererseits sind es auch nur die gesellschaftlichen Moralvorstellungen und nicht eine apriorische aber unerkannte Moral, die für die am Rechtsfrieden orientierte Urteilsbegründung von Bedeutung sind. Luhmann spricht ganz plastisch von einem „gesellschaftlichen Druck“, der eine Komplexitätssteigerung im Rechtssystem fordert, weil es sich die Gesellschaft leisten kann, die Einzelfälle differenzierter zu betrachten als das Rechtssystem, welches jede Differenzierung zur Regel für kommende Fälle machen muss. Wenn der Druck zu groß wird, müssen Regeln übergangen und neue Regeln für das Übergehen der alten Regeln festgelegt werden. Dadurch wird das Rechtssystem komplexer und der gesellschaftliche Druck geringer.145 Dass ein solcher gesellschaftlicher Druck besteht, die Gesellschaft also erwartet, dass ein Urteil ihren Moralvorstellungen nicht gänzlich entgegensteht, ist m. E. evident. Einerseits ist dies ersichtlich an der immer wieder aufkommenden Beschäftigung mit moralischen Aspekten in der Rechtstheorie. Andererseits zeigt es sich auch in gesellschaftlichen Reaktionen auf unmoralisch empfundene Urteile. So kommt auch Simon in seiner Analyse der gesellschaftlichen Reaktion auf das „Behindertenurteil“146 zu dem Schluss, eine Trennung von Recht und Ethik sei von der Gesellschaft nicht erwünscht!147

c) Warum muss das Urteil den gesellschaftlichen Moralvorstellungen nicht entsprechen? Ein gutes Urteil muss gesellschaftliche Moralvorstellungen nur insoweit berücksichtigen, als es ihnen nicht eklatant widerspricht. Es orientiert sich an den gesellschaftlichen Moralvorstellungen also nur im negativen Sinne. Dies hängt damit zusammen, dass lediglich Gefühle der Empörung den Rechtsfrieden gefährden. Keineswegs ist es erforderlich, dass den Moralvorstellungen vollkommen entsprochen wird. Bereits im zweiten Kapitel wurde festgestellt, dass es dem Menschen leichter fällt, Ungerechtigkeiten zu bestimmen. Was tatsächlich gerecht ist, darüber gehen die Meinungen eher auseinander.148 Montada bemerkt ebenfalls, dass mora143 144 145 146 147 148

Piaget (1932 / 1990), S. 469 f.; Kohlberg (1984), S. 346. Montada (1993), S. 261. Luhmann (1973), S. 145 f. LG Frankfurt, NJW 1980, S. 1169 (Urteil vom 25. 2. 1980). Simon (1983), S. 15. Hofmann (2000), S. 72 ff.

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3. Kap.: Die Kriterien

lische Gefühle der Empörung und Schuld häufiger auftreten als Gefühle der Befriedigung: „In Fällen, in denen die Übereinstimmung sozusagen selbstverständlich ist, ist nicht mit Befriedigung oder Bewunderung zu rechnen. Der Schiedsrichter im Sport, der seine Pflicht tut und den Wettkampf korrekt leitet, Regelverstöße ahndet, gibt keinen Anlaß für Gefühle, und dasselbe gilt für normales pflichtgemäßes Handeln des Subjektes.“149

Konsequenterweise behandelt er dann auch nur Gefühle der Schuld und Empörung. Weinrich-Haste versucht zu zeigen, dass Affekte durch einen kognitiven Prozess in moralische Urteile umgeformt werden. Ihre Beispiele schildern alle Affekte der Empörung, also Empfindungen der Ungerechtigkeit oder moralischen Verwerflichkeit.150 Es ist demnach so, dass nur das Gefühl der Empörung den Rechtfrieden zu gefährden vermag. Es ist sogar wahrscheinlich, dass in der Gesellschaft gar keine konkreten Vorstellungen darüber bestehen, was moralisch ist. Nur das Gefühl der moralischen Verwerflichkeit kann gesellschaftlich konkreter bestimmt werden.

d) 1. Problem: Minderheitenschutz Wenn man gesellschaftliche Moralvorstellungen für ein gutes Urteil berücksichtigen muss, begegnet man zwei Problemen: Einerseits muss man sich fragen, wie der Richter die gesellschaftlichen Moralvorstellungen ermitteln soll, und andererseits, ob ihre Berücksichtigung mit einem Minderheitenschutz vereinbar ist. Zunächst wird das letztgenannte Problem behandelt. Wer von gesellschaftlichen Moralvorstellungen redet, verallgemeinert: Es ist nicht damit gemeint, dass alle Gesellschaftsmitglieder diese Moralvorstellungen teilen, sondern dass sie beim überwiegenden Teil der Gesellschaft vorhanden sind. Dabei stellt sich die Frage, ob es mit dem Minderheitenschutz vereinbar ist, wenn sich der Richter an der Mehrheit orientiert. Um das Problem in der richtigen Perspektive zu sehen, wird zuvor auf drei Aspekte hingewiesen, die das Ausmaß der Orientierung des Richters an der Mehrheit deutlich machen: Erstens handelt es sich bei der Bindung des Richters an gesellschaftliche Moralvorstellungen nur um ein Kriterium unter vielen. Wenn der Gesetzestext z. B. eine Gruppe von Menschen eindeutig schützt, so kann der Richter mit diesem Gesetzestext dem Urteil möglicherweise eine Legitimation verschaffen, die einer moralischen Empörung standhält. (Die Empörung träfe dann die Fraktionen der Regierungsparteien oder, im Falle eines grundrechtlichen Schutzes, die eine Grundgesetzänderung verhindernde Opposition.) Zweitens werden ausschließlich Gefühle berücksichtigt. Gefühlen kann jedoch nicht eine bestimmte moralische Norm entnommen werden. Vielmehr bleibt offen, aus welchem Grund die Gefühle vorhanden sind. Montada 149 150

Montada (1993), S. 262. Weinrich-Haste (1986), S. 377 ff.

4. Bindung an die gesellschaftlichen Moralvorstellungen

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erklärt dies am Beispiel der Empörung über einen Schiedsrichter, der ein Foulspiel nicht ahndet: „Verschiedene Hypothesen über die relevante moralische Regel des Zuschauers sind möglich, z. B. die folgenden: (1) Ein Schiedsrichter hat die Pflicht, jede Verletzung der Spielregeln unparteilich zu ahnden. (2) Der Schiedsrichter hat die Pflicht, „meine“ Mannschaft nicht zu benachteiligen. (3) Der Schiedsrichter hat die Pflicht, einen Spieler zu bestrafen, der wiederholt foul gespielt hat. (4) Der Schiedsrichter hat die Pflicht, keine der beiden Mannschaften zu benachteiligen und keine Mannschaft zu bevorteilen.“151

Deshalb bleibt dem Richter die Möglichkeit, aus verschiedenen Urteilsentscheidungen eine zu wählen, welche die Minderheiten schützt und trotzdem keine Empörung hervorruft. Die Moralvorstellungen der Gesellschaft mögen ihn zwar daran hindern, ein bestimmtes Urteil zu treffen. Sie legen ihn jedoch nicht auf ein Urteil fest. Drittens werden die Moralvorstellungen nur in der Form berücksichtigt, dass die Urteilsentscheidung ihnen nicht eklatant widersprechen darf. In den meisten Fällen wird die Berücksichtigung anderer Kriterien (wie z. B. des Gesetzeswortlauts oder Folgeerwägungen) ohnehin nicht zu einem Urteil führen, welches den Moralvorstellungen der Gesellschaft stark entgegensteht. Dem Richter bleibt also selbst bei Berücksichtigung der gesellschaftlichen Moralvorstellungen ein großer Entscheidungsspielraum. Diese Einschränkungen sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass gesellschaftliche Moralvorstellungen mit einem umfassenden Minderheitenschutz kollidieren können. So lässt sich beispielsweise vorstellen, dass eine Minderheit so klein ist, dass sie nie in Betracht ziehen könnte, bei einem sie offensichtlich benachteiligenden Urteil zu physischer Gewalt zu greifen. Wenn diese Minderheit nun von der Mehrheit so missachtet wird, dass die Mehrheit dem Gericht die Autorität abspräche, soweit dieses einen Vertreter der Minderheit begünstigt, so wäre es im Interesse des Rechtsfriedens notwendig, den Vertreter der Minderheit zu benachteiligen. Nehmen wir beispielsweise an, Herr Min wird von Herrn Mehr so sehr geschlagen, dass Herr Min drei Tage im Krankenhaus verbringen muss. Herr Min klagt nun vor Gericht auf Erstattung der Krankenhauskosten. Auf Nachfrage des Richters, warum Herr Mehr denn auf Herrn Min eingeschlagen habe, antwortet dieser nur, dass Herr Min doch gar kein Mensch sei, weil er einer bestimmten Gruppe angehöre, die als Minderheit verachtet wird. Der Richter weiß nun: Herr Min müsste die Abweisung seiner Klage hinnehmen. Er hätte keine Möglichkeiten, seinen Anspruch mit Gewalt durchzusetzen. Herr Mehr hingegen würde das Geld niemals zahlen, sondern mit seinen Freunden gegen das Gerichtsurteil vorgehen. Sollte ein Vollstreckungsbeamter das Geld tatsächlich eintreiben wollen, so hätte er genug Kontakte zur Polizei, um den Vollstreckungsbeamten ungestraft niederzuschlagen. Es wäre sogar kaum realistisch, überhaupt einen Beamten zu finden, der gegen Herrn Mehr vorgehen würde. Die Gesellschaft würde sich vielmehr darüber empören, dass ein Gericht einem Vertreter der Minderheit Recht gibt, und 151

8 Rafi

Montada (1993), S. 269 ff., Zitat von Seite 270.

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3. Kap.: Die Kriterien

dem Gericht die Autorität absprechen. Müsste der Richter die Klage des Herrn Min im Sinne des Rechtsfriedens nicht abweisen? Bevor diese Frage beantwortet wird, soll auf ihre hypothetische Natur hingewiesen werden: Normalerweise wird die offensichtliche Entrechtung von Minderheiten nie die physische Gewalt aus der Gesellschaft drängen können. Die Zeit des Nationalsozialismus kann wahrhaftig nicht als eine Zeit des blühenden Rechtsfriedens angesehen werden.152 Auch in dem hier gebildeten Beispiel ist es zweifelhaft, ob Rechtsfrieden durch Klageabweisung erreicht werden kann, denn eine Klageabweisung käme einer Berechtigung des Herrn Mehr gleich, beliebige Vertreter der Minderheit zu schlagen. Wenn die Frage nun beantwortet wird, soll dieser Aspekt zunächst beiseite gelassen werden. Die Antwort auf die Frage heißt: Ja, der Richter müsste die Klage des Herrn Min abweisen. Dies wäre ein „gutes“ Urteil, weil es im Sinne des Rechtsfriedens getroffen würde. Durch diesen Fall wird deutlich, was hier unter einem guten Urteil verstanden wird: Es geht um ein gutes juristisches Urteil – nicht um ein moralisches Urteil. Der Richter ist kein Revolutionär – er dient dem Rechtssystem. Wenn das Rechtssystem keinen Minderheitenschutz gewährt, so mag es als ein moralisch schlechtes Rechtssystem angesehen werden. Ein Richter, der dieses Rechtssystem unterstützt, mag als moralisch schlechter Mensch angesehen werden. Dies impliziert aber nicht, dass er auch ein fachlich schlechter Jurist ist. Minderheitenschutz ist nur dann durchsetzbar, wenn die Gesellschaft seine Bedeutung erkennt. Hätte sich das geschilderte Beispiel in unserem Rechtssystem abgespielt, hätte der Richter wahrscheinlich der Klage des Herrn Min stattgeben können. Er hätte sich auf § 823 I BGB stützen und in der Urteilsbegründung ausführen können, dass er sich gemäß Art. 2 II, Art. 1 III GG verpflichtet sieht, Herrn Min den Schadensersatz zuzusprechen. Wegen des eindeutigen Wortlauts hätte sich die Empörung der Gesellschaft wohl eher gegen das Parlament als gegen das Gericht gewendet. Wurde der Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Minderheitsvertreter jedoch bereits vom Parlament eingeschränkt, so muss der Richter die Klage als guter Jurist abweisen. Wenn er dennoch nicht dazu bereit ist, die Gesetze für falsch hält und den Zorn der Gesellschaft auf sich zu ziehen gewillt ist, wenn er seine Stellung und eventuell sein Leben riskiert und Herrn Min den Schadensersatz zuspricht, so würde ich ihn hoch achten. Diese Achtung bezöge sich jedoch auf seinen Mut, auf seinen Einsatz für Unterdrückte, auf seine Menschlichkeit. Ich würde ihn nicht für seine juristischen Fähigkeiten bewundern, denn dieses Urteil wäre allein von seinem Gewissen und unabhängig vom Rechtssystem geschrieben.153 Damit soll 152 Siehe z. B. Majer (1987), die aus den Morden und Folterungen von SA, SS und Gestapo und der Einrichtung von Konzentrationslagern folgert, dass der Nationalsozialismus „ganz offiziell Gewalt als das wichtigste Mittel des Staates auf seine Fahnen geschrieben hatte“ (S. 85, m. w. N.). 153 Radbruch (1932) hat das in seiner Rechtsphilosophie ähnlich gesehen (S. 84 f.). Wer diese Parallele sieht, sollte jedoch zwei wesentliche Unterschiede beachten: Erstens ist bei Radbruch die Unterscheidung zwischen Recht und Moral eine andere als hier, denn Rad-

4. Bindung an die gesellschaftlichen Moralvorstellungen

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nicht gesagt sein, dass der Richter sein Gewissen ausschalten sollte, sondern dass Situationen denkbar sind, in denen ein guter Jurist „unmenschliche“ Urteile fällt, d. h. in denen die Attribute „juristisch gut“ und „menschlich gut“ auseinanderfallen. Ob ein guter Jurist als ein guter Mensch angesehen werden kann, entscheidet nicht er, sondern das Rechtssystem, dem er dient.154 Allerdings wurde ein oben angekündigter Aspekt bisher beiseite gelassen: Herr Mehr wird nach der Klageabweisung voraussichtlich ungehemmt auf Vertreter der Minderheit einschlagen. Insofern hat das Urteil dann die physische Gewalt nicht aus der Gesellschaft gedrängt, sondern verstärkt. Allerdings wäre dem Rechtsfrieden auch nicht durch Klagestattgabe gedient. Wie sollte der Richter entscheiden? Natürlich so, dass möglichst wenig physische Gewalt ausbricht und die Autorität des Gerichts gewahrt bleibt. Dies wäre in diesem Fall wahrscheinlich eine Klageabweisung. Allerdings mag es vorkommen, dass physische Gewalt in erheblichem Maße ausbricht, unabhängig davon, wie der Richter entscheidet. In diesem Fall wäre es dem Richter eben nicht mehr möglich, ein gutes Urteil zu fällen. Das Rechtssystem wäre von den sozialen Spannungen überfordert.

e) 2. Problem: Messbarkeit der Moral Ferner stellt sich das Problem, wie der Richter die gesellschaftlichen Moralvorstellungen herausfinden soll. Dabei bieten sich ihm zwei Möglichkeiten: Entweder lässt er eine soziologische Studie über die gesellschaftlichen Moralvorstellugen anfertigen, oder er nimmt seine persönlichen Vorstellung von den gesellschaftlichen Moralvorstellungen als Maßstab. Soziologische Studien kosten Zeit und Geld. Sie können deshalb nur in sehr wichtigen Fällen angefertigt werden. Dies wird besonders dann erforderlich, wenn sich die gesellschaftliche Moralvorstellung bezüglich eines Themas im Wandel bebruchs Begriff der Gerechtigkeit („objektive Gerechtigkeit“, siehe S. 35.) ist unabhängig von den gesellschaftlichen Moralvorstellungen. Der die Rechtssicherheit beachtende Richter ist außerdem nur an den Gesetzeswortlaut gebunden. Er steht also bei Radbruch im Konfliktfall zwischen der seinem eigenen Gewissen zugänglichen objektiven Gerechtigkeit und dem dieser Gerechtigkeit widersprechendem Gesetzestext. Der hier geschilderte Konfliktfall ist eher hypothetischer Natur (s. o.). Zweitens trennt Radbruch nicht zwischen einer externen und einer internen Betrachtung des Rechtssystems. Wenn Radbruch schreibt „( . . . ) wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt; ( . . . )“ (S. 85), so scheint sich diese „Verehrung“ auf den ganzen Menschen (unabhängig vom Rechtssystem) und nicht auf die juristischen Fähigkeiten des Richters zu beziehen. Hier wurde jedoch deutlich gemacht, dass ein gutes Urteil nur vom internen Standpunkt aus gut ist. Extern betrachtet ist Rechtsfrieden in seiner machtstabilisierenden Funktion nur erstrebenswert, wenn die Macht erhalten bleiben sollte. Dass ist jedoch keine juristische Frage mehr. 154 Was hier unter „menschlich“ verstanden wird, sind meine persönlichen, aber natürlich auch kulturell geprägten Moralvorstellungen. 8*

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3. Kap.: Die Kriterien

findet und der Richter deshalb nicht überzeugend von seinen Empfindungen auf die anderer schließen kann. Ein gutes Beispiel ist das Urteil über den Widerruf einer Gaststättenerlaubnis, weil sie der Prostitution Vorschub leistet.155 Zur Klärung der Frage, ob Prostitution generell „unsittlich“ sei (darauf bezog sich der Widerrufsbescheid), wurde zunächst herausgestellt, dass dies nur im Rückbezug auf die Gesellschaft ermittelt werden könne: „Abzuheben ist dabei nicht auf das Empfinden von kleinen Minderheiten. Andererseits ist nicht erforderlich – und praktisch auch so gut wie ausgeschlossen –, dass die Wertvorstellung von sämtlichen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft getragen wird. Maßgeblich ist vielmehr die vorherrschende sozialethische Überzeugung.“156

Daraufhin wird festgestellt, dass die Ermittlung der gesellschaftlichen Moralvorstellungen empirisch erfolgen müsse, um anschließend eine gesellschaftliche Akzeptanz von Prostitution anhand der gängigen Behördenpraxis, Pressereaktionen auf die Verhandlung, Gesetzesinitiativen des Bundestages, Umfragen und demoskopischen Erhebungen zu belegen.157 Nimmt der Richter seine eigenen Vorstellungen über die gesellschaftlichen Moralvorstellungen als Maßstab (die nicht unbedingt mit seinen persönlichen Moralvorstellungen identisch sein müssen), so muss er sich über deren Verallgemeinerbarkeit im Klaren sein. Deshalb forderten schon die Freirechtler einen charismatischen Richter, der „das Leben kennt.“158 Natürlich verbarg sich bei den Freirechtlern hinter dieser Forderung die Hoffnung, ohne eine präzise juristische Methodik auszukommen. In diesem Sinne mag auch die Polemik Simons zutreffend sein: „Denn die mangels eines präzisen wissenschaftlichen Instrumentariums nur unzulänglich erfaßten ,Entscheidungskräfte‘ konnten nicht anders als durch den Rekurs auf eine erträumte ,Richterpersönlichkeit‘ legitimiert und gemeistert werden.“159

Allerdings konnte hier gezeigt werden, warum diese Forderung der Freirechtler einige Berechtigung hat: Ein Richter muss die Gesellschaft gut einschätzen können, um ein gutes Urteil zu fällen.

VG Berlin, NJW 2001, S. 983 ff. (Urteil vom 1. 12. 2000). VG Berlin, NJW 2001, S. 986. 157 Ebenda, S. 987 ff. 158 Fuchs (1907), S. 91: „Ein guter Richter ( . . . ) wird der, der möglichst rasch und energisch dazu übergeht, mit offenen Augen ( . . . ) das Leben zu betrachten und sich sachliche Kenntnisse zu erwerben.“; Ehrlich (1906 / 1987), S. 10 f.; Isay (1929 / 1970), S. 116: „Nur dann kann das Rechtsleben eines Volkes gesund bleiben, wenn das Rechtsgefühl seiner Richter sich mit dem Rechtsgefühl der Mehrheit des Volkes deckt. Und wehe dem Volke, dessen Richterstand in seinem Rechtsgefühl sich von demjenigen der großen Mehrheit des Volkes entfernen würde.“ 159 Simon (1975), S. 71. 155 156

5. Bindung an Zeit

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5. Bindung an Zeit Das Rechtssystem würde kaum beansprucht, wenn es nie zu einem Urteil käme. Wer ein rechtliches Anliegen hat, möchte dieses möglichst schnell erledigen, und wer damit rechnen muss, schon bei unkomplizierten Klagen Jahrzehnte auf eine Entscheidung zu warten, wird sich überlegen, ob er sein Anliegen überhaupt auf dem Rechtsweg verfolgen sollte. Deshalb wird oft gefordert, ein Rechtsverfahren müsse möglichst schnell ablaufen. Jede Beschleunigung des Prozesses sei gut, solange sie nicht die Qualität der Entscheidung beeinträchtige. Eine Mindestdauer des Prozesses sei nur deshalb notwendig, um den Parteien ihr verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf Gehör zuzubilligen und eine „gerechte“ Entscheidung zu ermöglichen. Deshalb wird die Verfahrensdauer als ein Kompromiss zwischen zwei anzustrebenden, aber nicht gleichzeitig erreichbaren Zielen angesehen: „Schnelligkeit“ versus „Gründlichkeit“160, „Quantität“ versus „Qualität“161, „schleunige Entscheidung“ versus „gerechte Entscheidung.“162 Bei der Forderung nach einem schnelleren Verfahren wird allerdings meist ein wichtiger Aspekt verkannt: Um eine Prozessniederlage besser verkraften zu können als eine persönliche Demütigung, muss der persönliche Konflikt in einen rechtlichen Konflikt transformiert werden.163 Diese Transformation braucht Zeit: Die Konfliktparteien müssen in ein rechtliches Rollenspiel geraten, und ihre persönlichen Streitpunkte müssen in Klageschriften und Anträgen kanalisiert werden. Deshalb kann ein gutes Urteil auch nicht getroffen werden, ohne Zeit zu beanspruchen.164 Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass ein Urteil möglichst lange auf sich warten lassen sollte. Das Spannungsverhältnis besteht – allerdings nicht zwischen Schnelligkeit und Gründlichkeit, sondern zwischen Ungeduld der Konfliktparteien (vor allem des Klägers) und Notwendigkeit der Transformation eines persönlichen Konfliktes in einen rechtlichen Konflikt. Die Verfahrensdauer wird oft unter dem Stichwort der „Verfahrensökonomie“ behandelt, wozu auch die Frage der Verfahrenskosten gehört.165 Dieser Aspekt wurde hier ausgespart, weil die Literatur zu Prozesskosten sich eher mit Fragen der Verfahrensreform und der Gesetzesänderung befasst als mit Fragen nach einer guten richterlichen Urteilsentscheidung. Dabei soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Verfahrenskosten für den Rechtsfrieden von zentraler Bedeutung sind, denn sie bestimmen das wirtschaftliche Risiko des Verfahrens. Ist das Risiko zu Rauter (1987), S. 355. Rudolph (1983), S. 152. 162 BGHZ 86, S. 218 ff. (Zitat von S. 224, Urteil vom 12. 1. 1983). 163 Dies wurde bereits im 2. Kapitel 3. f) bb) ") ausgeführt. 164 Dies kann an Seiberts (2001) Aussage gesehen werden, dass der „Verfahrenssieger“ nicht verstehen könne, warum sein „eindeutiges“ Recht so lange ermittelt werden musste und deshalb trotz Verfahrensgewinn unzufrieden sei (S. 8). Die Zeit verhindert eben einen strahlenden Sieger und macht dadurch die Niederlage erträglicher. 165 Siehe beispielsweise Smid (1989), S. 86 ff. 160 161

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3. Kap.: Die Kriterien

groß, wird es zu keinem Verfahren kommen, ist es zu klein, gibt es für den potentiellen Beklagten keine Motivation, ein Verfahren zu vermeiden (dem potentiellen Kläger also beispielsweise schon vor dem Urteil das Geld zurückzuzahlen). 166 In dem Maße, in dem bewusst wird, dass der Gesetzestext keineswegs Rechtssicherheit garantieren kann, dass Verfahrensablauf und Verfahrensausgang keineswegs vorhergesehen werden können, dass der Unterlegene nicht vorhersehen konnte, dass er unterliegen würde – in diesem Maße werden auch unflexible Kostenverteilungen als ungerecht empfunden. Aus diesem Grund erwägt Pawlowski „Billigkeitsregeln“, die es dem Richter ermöglichen, die Prozesskosten im Einzelfall zu erlassen oder auch der obsiegenden Partei teilweise aufzubürden.167 Solche „Billigkeitsregeln“ würden die Frage nach der Prozesskostenverteilung zu einem wichtigen Aspekt eines guten Urteils machen.

6. Bindung an die Erzählung168 der Parteien Wie bereits im 2. Kapitel gesehen169, ist es nicht Zweck des Urteils, die „Wahrheit“ zu ermitteln. Ein bedeutender Einwand war, dass „Wahrheit“ im Sinne der Korrespondenztheorie nicht ermittelbar ist, weil der Mensch die auf ihn einströmenden Informationen nicht passiv aufnimmt, sondern sie durch Selektion, Klassifikation, Ergänzung und Veränderung (Assimilation) zu einer ihm in sein Weltbild passenden Wahrnehmung konstruiert. Allerdings kann der Richter einen Sachverhalt auch nicht frei erfinden. Er ist gebunden – jedoch nicht an einen gegebenen Sachverhalt, wie angenommen werden könnte (a), sondern an die Erzählungen der Parteien (b).

Pawlowski (1975), S. 198. Siehe dazu Pawlowski (1975), S. 198 f. 168 Es mag verwundern, dass von „Erzählung“ gesprochen wird, da üblicherweise die Darstellung der Parteien als „Parteivortrag“, „Einlassung“, „Bericht“ etc. bezeichnet wird. „Erzählung“ konnotiert das Erzählen von Geschichten, und diese Konnotation ist hier erforderlich, um auf folgenden Umstand hinzuweisen: Jede Kultur hat Geschichten, Mythen, Narrative bzw. Denkweisen, die bestimmte Handlungsfolgen als wahrscheinlicher erscheinen lassen als andere. Deshalb ist das, was der Richter als „überzeugend“ ansieht, abhängig von tief liegenden kulturellen Vorstellungen über eine gute Erzählung [siehe dazu bb)]. Dabei ist diese Überzeugung zu trennen von dem Begriff der „Schlüssigkeit“: Während sich die Frage, ob eine Erzählung „schlüssig“ ist, damit befasst, ob der einseitige als zutreffend angenommene Parteivortrag die gewünschte Rechtsfolge rechtfertigt, befasst sich dieses Kapitel mit der Frage, wie die unterschiedlichen Parteivorträge und Zeugenaussagen vom Richter zu einem Tatbestand konstruiert werden. 169 2. Kapitel 3. b). 166 167

6. Bindung an die Erzählung der Parteien

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a) Bindung an den Sachverhalt? Das Urteil bezieht sich immer auf einen „ermittelten“ Sachverhalt. Allerdings wird dieser gerade nicht als bereits bestehender Sachverhalt ermittelt, sondern vom Richter konstruiert. Deshalb ist es auch nicht der „Sachverhalt“, der ihn bindet, denn der Sachverhalt entsteht erst während des Verfahrens durch richterliche Konstruktion und liegt demnach vor der Urteilsentscheidung nicht vor; er entsteht erst mit dem Urteil.170 Diese richterliche Konstruktion des Sachverhaltes wird in zweierlei Hinsicht vorgenommen: Hinsichtlich der Normen (aa) und hinsichtlich des gewünschten Ergebnisses (bb).

aa) Sachverhaltskonstruktion hinsichtlich der Normen Die Abhängigkeit der Sachverhaltskonstruktion hinsichtlich der Rechtsnormen ist bereits von Engisch dargestellt worden: „Für den Obersatz ist es wesentlich, was auf den konkreten Fall bezug hat, am konkreten Fall ist wesentlich, was auf den Obersatz bezug hat. Sieht man aber näher zu, so handelt es sich nur um eine ständige Wechselwirkung, ein Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt, nicht dagegen um einen fehlerhaften Zirkel.“171

Der konkrete Fall wird also nicht in seiner Komplexität wahrgenommen, sondern nur bezüglich der Aspekte, die für den potentiellen Obersatz wesentlich sind. Dies kann auch erklären, warum Juristen kaum auf Verträge sui generis „stoßen“, obwohl es bei Verträgen keinen Typenzwang gibt (§ 311 I BGB, § 305 BGB a. F.). Es fällt leichter, die Rechtslage zu beurteilen, wenn man sich in bekannten Gebieten aufhält. Deshalb ist es angenehmer, die komplexe Weise der Vertragsabschlüsse (dies gilt vor allem für Verträge, die von juristischen Laien mündlich abgeschlossen werden können) in die Kategorien „Kauf“, „Miete“, „Leihe“, „Auftrag“ etc. zu abstrahieren. Selbst „gemischte Verträge“ werden nach diesen Kategorien bemessen.172 bb) Sachverhaltskonstruktion hinsichtlich des gewünschten Ergebnisses Aber es wird nicht nur der dem Richter vorgetragene Fall auf die für den Obersatz wesentlich erscheinenden Aspekte verkürzt. Auch hinsichtlich des Ergebnisses 170 An dieser Stelle sei noch einmal auf die Studie von Schmid / Drosdeck / Koch (1997) hingewiesen. Eine gute Darstellung der Sachverhaltskonstruktion findet sich auch bei Soeffner (1983), S. 87 ff. 171 Engisch (1943), S. 14 f. 172 Dieser Punkt wird ausführlich dargestellt von Jeand’Heur (1989), S. 88 ff. m. w. N. Siehe auch Busse (1992), S. 267 f.; Busse (1993), S. 217.

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3. Kap.: Die Kriterien

wird der Sachverhalt konstruiert: Über Fiktionen wird ein Sachverhalt „unterstellt“, der ein dem Richter vertretbar erscheinendes Ergebnis ermöglicht. Dass im Recht mit Fiktionen gearbeitet wird, ist bekannt.173 Zur Veranschaulichung wird ein vom Oberlandesgericht Köln entschiedener Fall dargestellt:174 Die Kläger kauften zwei Eintrittskarten für eine Filmpreisverleihung zu je 2.950 DM. Die Beklagte versprach, die Karten rechtzeitig in das von den Klägern gebuchte Hotel zu schicken. Die Kläger flogen zum Preisverleihungsort, doch die Karten wurden nicht geliefert. Es war der Beklagten unmöglich, den Klägern die Karten zu besorgen, da Karten neuerdings nur noch an Clubmitglieder vergeben wurden. Die Richter gingen von anfänglichem Unvermögen aus und mussten bei der analogen Anwendung des § 325 BGB a. F. feststellen, dass die Flug- und Hotelkosten bei Schadensersatz wegen Nichterfüllung nicht ersetzt werden konnten. Deshalb stellten sie eine Rentabilitätsvermutung an, die den Parteiwillen dahingehend interpretiert, „daß ein ideeller Vorteil, den die eine Partei der anderen zu verschaffen verspricht, das vermögenswerte Äquivalent der im Vertrauen auf die Vertragserfüllung getätigten Aufwendungen bilden soll.“ Dieser immaterielle Schaden sei auch nicht durch § 253 BGB begrenzt, da letzterer abbedungen werde könne und dies bei richtiger Vertragsauslegung auch hier der Fall sei. Ferner würde „eine Kürzung des Ersatzanspruches auf ein ,vernünftiges‘ Maß der Rentabilitätsvermutung zuwiderlaufen, die es gerade ermöglichen soll, das zu entschädigende Erfüllungsinteresse nicht nach objektiven Kriterien zu bemessen, sondern nach den vom Gläubiger selbst als sinnvoll und lohnend eingeschätzten Aufwendungen.“ Die Konsequenz war, daß die Beklagte – ihrem Vertragswillen entsprechend – für eine Flugreise 1. Klasse und die Übernachtung in einem Luxushotel aufkommen musste.

Hier wird eine Rentabilitätsvermutung angestellt, die deutlich ergebnisorientiert ist. Das Urteil soll deshalb nicht kritisiert werden. Es soll nur hervorgehoben werden, dass diese Rentabilitätsvermutung eine Fiktion ist – sie wird vom Richter konstruiert, um einen das gewünschte Ergebnis ermöglichenden Sachverhalt zu formulieren. Nach alldem ist klar geworden, dass der Richter nicht an einen „bestehenden“ Sachverhalt gebunden ist.

b) Bindung an die Erzählungen der Parteien Bei der Konstruktion des Sachverhaltes ist der Richter allerdings nicht völlig frei. Er ist an die Erzählungen der Parteien und die Beweismittel gebunden. Diese Bindung ist jedoch nicht mit einer Bindung an „Wahrheit“ (im Sinne der Korrespondenztheorie) zu vergleichen, denn das, was die Parteien vorbringen, sind nur ihre Wahrnehmungen der Geschehnisse (bzw. sogar bewusste Verfremdungen des 173 Auf das Werk von Vaihinger (1922) wurde bereits hingewiesen. Ausführlich behandelt das Thema Isay (1929 / 1970), S. 350 ff. m. w. N. Modernere Betrachtungen zu dem Thema Fiktionen und Recht finden sich in den von Seibert (1990) herausgegebenen Aufsätzen. 174 OLG Köln, NJW-RR 1994, S. 678.

6. Bindung an die Erzählung der Parteien

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Wahrgenommenen aus Opportunität), nicht jedoch die Geschehnisse selbst.175 Mit „Geschehnissen“ sind die Ereignisse gemeint, wie sie sich unabhängig von menschlicher Wahrnehmung zugetragen haben176, oder vorsichtiger formuliert: Ereignisse, die die Grundlage für die tatsächliche Wahrnehmung bilden.177 Das Wahrgenommene ist dann jedoch nicht das Geschehen selbst, sondern eine durch das Geschehen motivierte Erzählung. Da nicht das Geschehen selbst ermittelt werden kann, muss sich der Richter an die Wahrnehmungen der Parteien halten. Dies erklärt auch die Bedeutung von Art. 103 I GG, der das Gericht verpflichtet, „die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen.“178 Die Bedeutung von Art. 103 I GG wäre jedoch nicht richtig erfasst, wollte man an diesem Punkt stehen bleiben. Es geht nicht in erster Linie darum, dem Richter Geschichten zu erzählen. Es geht darum, die Prozessbeteiligten in ein Rollenspiel zu verwickeln.179 Dies kann allerdings nur erreicht werden, indem die Prozessbeteiligten das (berechtigte) Gefühl bekommen, mit ihrer Rollenannahme (als Kläger, Beklagter, Antragsteller etc.) einen Einfluss auf das Urteil zu haben. Deshalb ist es erforderlich, dass der Richter die Argumente der Parteien in seine Überlegungen aufnimmt. Darüber hinaus muss er ihnen schon während des Prozesses deutlich machen, welche Gesichtspunkte er für die Urteilsentscheidung für relevant hält, um den Streitparteien die Gelegenheit zu geben, zu den relevanten Punkten ihre Ansicht darzustellen.180 Sicherlich wird die unterlegene Partei die Relevanz und die Gewichtung ihrer Argumente anders beurteilen als der Richter, doch sie muss im Urteil erkennen können, dass ihre Argumente verstanden181 und Siehe G. Roth (1997), S. 248 ff. (insbesondere S. 266 ff.). In der Terminologie von G. Roth (1997) wäre das die Realität im Gegensatz zu der vom Gehirn konstruierten Wirklichkeit (S. 324 f.). 177 Nach dieser Formulierung ist das Geschehen nicht notwendigerweise unabhängig vom Menschen existent, sondern in wechselseitiger Abhängigkeit von ihm. In der Terminologie Heideggers (1957 / 1999) wäre dies das Ge-Stell zwischen Mensch und Sein: „Der Name für die Versammlung des Herausforderns, das Mensch und Sein einander so zu-stellt, daß sie sich wechselweise stellen, lautet: das Ge-Stell“ (S. 23). 178 BVerfG NJW 1994, S. 2279 (Beschluss vom 25. 2. 1994). 179 Siehe 2. Kapitel. Würtenberger (2001), S. 203 f., stellt ebenfalls fest, dass die Bedeutung des rechtlichen Gehörs sich nicht in einem „Anhören“ erschöpft, sondern einen Dialog über Rechts- und Tatfragen erfordert, um eine Akzeptanz des Urteils zu erreichen (und damit dem Rechtsfrieden zu dienen). 180 Diese Aspekte werden unter dem Stichwort „Rechtsgespräch“ dargestellt bei Laumen (1984), S. 87, S. 251 f. Siehe auch Zeuner (1965), S. 1028 f. 181 Wie Wellmer (1995), S. 144 ff. betont, bedeutet „verstehen“ eben nicht, dass die Position des Interpreten in der Position des Interpretierten aufgeht (immanente Interpretation). Ebenso wenig kann jedoch von einem „Verständnis“ gesprochen werden, wenn der Interpret seine Position nicht verlässt und den Interpretierten nur nach seinem Vorverständnis beurteilt (externe Interpretation). Er schreibt deshalb auf S. 148: „Wenn das richtig ist, dann wäre Verstehen im Sinne des angemessenen Verstehens der jeweils richtige Ausgleich der Spannung zwischen bloß immanentem und bloß externem Verstehen. ( . . . ) ,Ausgleich‘ meint: Horizontverschmelzung, wie Gadamer zu recht betont.“ Der Richter versteht die Parteien dann, wenn er ihren Horizont wahrnimmt ohne seinen vollkommen zu verlassen. Er muss „die 175 176

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3. Kap.: Die Kriterien

berücksichtigt wurden. Ansonsten wird sie sich nicht gehört, sondern überhört fühlen und ihre Rollenübernahme für überflüssig halten.182 Damit wäre jedoch die Bereitschaft zur Rollenübernahme gestört und folglich auch die Möglichkeit, einen persönlichen Konflikt in einen rechtlichen umzuwandeln. Aus dem gleichen Grund muss den Prozessparteien auch gestattet werden, Beweismittel einzubringen, um ihrer Erzählung Glaubwürdigkeit zu verleihen: Wenn der Staat die physische Gewalt monopolisiert und Selbsthilfe verbietet, muss er den Prozessparteien einen weiten Spielraum zur Darstellung ihrer Erzählung bieten.183 Ansonsten würden sie sich kaum auf das Rollenspiel einlassen. Diese Bindung, sich Erzählungen anzuhören und die Argumente zur Kenntnis zu nehmen, erscheint schwach, denn es steht dem Richter frei, wie er die Argumente gewichtet und welche er überhaupt für rechtlich relevant hält.184 In der Tat ist er auch sehr frei.185 Allerdings ist diese Freiheit nicht unbegrenzt: Schon § 286 I 2 ZPO zwingt den Richter zu einer Begründung, wodurch vermieden wird, dass er ausschließlich nach einem unreflektierten Empfinden urteilt (dass unreflektiertes Empfinden eine erfolgreiche Suche nach anderen Gründen für die Entscheidung motiviert, kann freilich nicht vermieden werden). Auch § 286 II ZPO schränkt den Richter weiter ein, indem er ihn an gesetzliche Beweisregeln bindet. Hinzu kommt nach h. M. eine Bindung an Denkgesetze (Logik), Erfahrungssätze (sofern sie als zwingend angesehen werden – wie z. B. die Einmaligkeit des Fingerabdrucks) und Naturgesetze (z. B. Schwerkraft).186 Außerdem betrifft der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nur die Gewichtung der vorgebrachten Beweismittel, nicht jedoch die Grundlage für diese Würdigung. Deshalb sind beispielsweise Beweisverwertungsverbote, an die der Richter ebenfalls gebunden ist, kein Widerspruch zu § 286 I 1 ZPO.187 Die Freiheit des Richters in der Würdigung der Argumente soll offenbar nicht grenzenlos gewährt werden.188

Grenzen der eigenen sprachlichen Lebensform übersteigen“ (Goebel (2001), S. 145), ohne jedoch diese Lebensform aufzugeben. 182 Die Bedeutung der Anhörung für die Demokratie wird von Shklar (1990 / 1997), S. 49 hervorgehoben. 183 Walter (1979), S. 301 ff.; S. 306 ff. 184 Es ist nicht zu bestreiten, dass der Richter durch die Formulierung des Sachverhaltes den Erzählungen der Parteien Gewalt antut, weil er durch die Neuformulierung (z. B. andere Begriffsverwendung oder Auslassen von bestimmten Einzelheiten) eine neue Geschichte erzählt. Barthes (1966) spricht beispielsweise jedem Detail einer Erzählung eine Funktion zu (S. 109). Dem Erzähler ist alles wichtig, was er erzählt. Der Richter wird aber nur das übernehmen, was er für rechtlich relevant hält. 185 Siehe beispielsweise Mü-Kom ZPO / Prütting, § 286 Rdnr. 13: „Diese Freiheit geht soweit, daß das Gericht auch ohne jede Beweisaufnahme von Tatsachenbehauptungen überzeugt sein kann oder daß der Richter einer Parteibehauptung mehr Glauben schenken darf als einem Zeugen.“ 186 Mü-Kom ZPO / Prütting, § 286 Rdnr. 14; Zöller / Greger, § 286 Rdnr. 2 ff. 187 Walter (1979), S. 295. 188 Walter (1979), S. 2.

6. Bindung an die Erzählung der Parteien

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Übertragen auf die Bindung des Richters an die Erzählung der Parteien macht dies deutlich, dass eine Bindung zwar vorhanden, aber nicht absolut ist. Absolut kann sie schon deshalb nicht sein, weil dem Richter im Normalfall verschiedene (sich widersprechende) Parteierzählungen präsentiert werden. Aber es gibt noch einen tieferen Grund: Wäre der Richter dazu verpflichtet, alle vorgebrachten Argumente als rechtlich relevant zu akzeptieren und ebenso zu werten wie die Parteien, wäre er im (persönlichen) Streit der Prozessparteien gefangen, anstatt sie in ein (rechtliches) Rollenspiel zu verwickeln und den persönlichen Konflikt in einen rechtlichen umzuwandeln. Diese Umwandlung ist aber für die Akzeptanz des Urteils notwendig. In der Art, wie diese Umwandlung stattfindet, ist der Richter frei. Wenn es keine Urteilsregeln gibt, so muss trotzdem entschieden werden – notfalls auf Kosten einer Partei.189 Diese Regellosigkeit bzw. Freiheit des Richters ist auch notwendig für den Rechtsfrieden, denn ohne diese Freiheit wäre der Prozessausgang schon im Vorhinein abzusehen. In diesem Fall würde käme es kaum zum Prozess, denn die erkennbar unterlegene Partei ließe es nicht dazu kommen.190 Damit wäre aber auch die Möglichkeit vergeben, einen persönlichen Konflikt in einen rechtlichen Konflikt umzuwandeln. Zwar kann ein persönlicher Konflikt auch ohne Prozess zu einem rechtlichen werden („Ich habe zwar (moralisch gesehen) Recht, doch habe ich keine Chance, das vor Gericht durchzubringen!“), doch wird sich die unterlegene Partei dann nicht als Opfer eines ungerechten Prozesses begreifen, sondern als Opfer eines ungerechten Systems. Hat man hingegen eine Chance, sein Anliegen juristisch durchzusetzen, so wird man sich auf den Prozess einlassen und damit den Konflikt entschärfen: einerseits schon durch die Zeit, die der Prozess beansprucht (der Konflikt ist dann nicht mehr so aktuell) und andererseits durch den Umstand, dass man seine Çhance“ hatte (die Niederlage war dann nicht systembedingt, sondern ist dem schlechten Anwalt, dem parteiischen Richter, der skrupellosen Verhandlungsmethode des gegnerischen Anwaltes etc. zuzuschreiben). Natürlich muss eine gewisse Vorhersehbarkeit gewährleistet sein: Man muss wissen können, wie man sich vor Gericht verteidigen kann, welche Argumente ernst genommen und welche Geschichten geglaubt werden. Diese Vorhersehbarkeit kommt dadurch zustande, dass der Richter nicht allein an die Erzählungen der Parteien gebunden ist. Er bindet sich selbst (meist unbewusst aber immer zwingend) an seine Erfahrung bzw. sein Vorverständnis. So wie wir alle ein Gefühl dafür haben, was eine Geschichte ist191 und wie sich eine Geschichte entwickeln kann, so besteht auch 189 Lyotard (1983 / 1989) schreibt deshalb auch, dass bei der Entscheidung eines Widerstreits als Rechtsstreit ein Unrecht zugefügt werde: „Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu ( . . . )“ (S. 9). 190 Siehe auch Somek / Forgó (1996): „Derartige ,Entgleisungen‘ des Richters (oder des Angeklagten) sind im gerichtlichen Alltag selten, weil das System selbst, das eine Ansammlung von Instabilitäten darstellt (was gestern Recht war ändert sich potentiell schon heute) und diese zu seinem Funktionieren sogar benötigt (denn andernfalls nähme es niemand mehr in Anspruch), konventional außerordentlich gut stabilisiert ist“ (S. 237).

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3. Kap.: Die Kriterien

das juristisch-methodische Wissen „in Kenntnis und Gefühl für die Anschließbarkeit von Sätzen.“192 Dies lässt sich gut an der Fortsetzung von Zahlenreihen verdeutlichen: Auf 2, 4, 6 folgt vermutlich 8. Das verrät uns unser mathematisches „Gespür“. Wir sind die Zahlenfolge der geraden Zahlen gewohnt und meinen, sie erkannt zu haben. Auf 2, 4, 6 kann jedoch alles Mögliche folgen. Zum Beispiel könnte eine Reihe lauten: 2, 4, 6, 12, 14, 16, 22, 24 – und wir würden nun eine 26 vermuten und uns nicht daran stören, dass auf 6 nicht 8 folgte. Deshalb sagt Wittgenstein über die Fortsetzung von Zahlenfolgen auch: „Richtiger, als zu sagen, es sei an jedem Punkt eine Intuition nötig, wäre beinahe, zu sagen: es sei an jedem Punkt eine neue Entscheidung nötig.“193

Daran kann die Freiheit des Richters gut dargestellt werden: Auf 2, 4, 6 muss nicht 8 folgen. Ebenso gut kann 12 oder eine andere Zahl angenommen werden. Allerdings ist dies nicht richtig formuliert, denn es scheint nicht „ebenso gut“ zu sein! Dass auf 2, 4, 6 eine 8 folgt, erscheint plausibler, als dass eine 12 folgt. Um eine 12 folgen zu lassen, ist ein höherer Begründungsaufwand (eine längere Zahlenreihe) erforderlich. Aber es gibt keine zwingende Regel, die festlegt, wieviel Begründungsaufwand erforderlich ist, um die Reihe 2, 4, 6, 12 zu rechtfertigen. Wann eine Erzählung im juristischen Sinne „plausibel“ ist, ist sicher eine Entscheidung des Richters (freie Beweiswürdigung, § 286 I 1 ZPO). Sie ist aber für den Kenner des juristischen Diskurses selten überraschend: „Da nach jedem Satz jeweils ein nächster Satz und nach jeder Zahl die nächste folgt, dürfte das juristisch- methodische Wissen in Kenntnis und Gefühl für die Anschließbarkeit von Sätzen bestehen.“194

Soll die Erzählung einen unkonventionellen Fortgang haben, so ist der Begründungsaufwand entsprechend höher. Man kann deshalb sagen: „Beweisanträge richten sich gegen die Annahme von Wahrscheinlichem.“ 195 Zu wissen, was wahrscheinlich oder plausibel ist, welche Erzählungsfortsetzungen zulässig sind, welche Satzanschlüsse erwartet werden – das alles kann nicht in starren Regeln dargestellt werden. Trotzdem gibt es ein gewisses Verständnis dafür, was möglich ist und was nicht. Sicherlich gehören dazu die häufig zitierten Denk-, Erfahrungsund Naturgesetze. Allerdings geht dieses Verständnis weiter und wächst mit der juristischen Erfahrung bzw. juristischen Sozialisation.196 Will man die individuelle 191 Dass wir bestimmte Erwartungen an Erzählungen haben und schon Kinder ein Gespür dafür entwickeln, wann eine Geschichte „rund“ ist, wird anschaulich vom britischen Improvisationslehrer Johnstone (1979 / 1981) dargestellt (S. 111 ff.). 192 Seibert (1996), S. 34. 193 Wittgenstein (1945), Nr. 186. 194 Seibert (1996), S. 35. Ein Beispiel für mögliche und nicht mögliche Satzanschlüsse gibt er auf S. 34 f. 195 Seibert (1996), S. 70. 196 Barthes (1969) bezeichnet solche gemeinsamen Denkweisen als Wiederholungen, Regeln und kulturelle Codes (S. 145).

7. Bindung an die gesellschaftliche Praxis

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Fähigkeit des Erspürens von möglichen Erzählungen herausstellen, kann man diese nicht in Regeln zu fassende Kenntnis als „Judiz“ bezeichnen.197 Möchte man hingegen auf gesellschaftliche Machtstrukturen hinweisen, die bestimmte Erzählungen begünstigen bzw. ausschließen, kann man es als Diskurs oder allgemeiner als Dispositiv bezeichnen.198 Die Konzeption des Dispositivs ist sehr vage, so dass Seibert auch nur resignierend feststellt: „Weshalb Dispositive die Richtung eines Diskurses prägen und inwiefern die Akteure an der Produktion des Dispositivs mitwirken, ist auf theoretischem Niveau schwierig oder (noch) gar nicht zu beschreiben.“199

Im Rahmen dieser Arbeit muss dieser Begriff nicht vertieft werden. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Bindung des Richters an die Erzählungen der Parteien stärker ist, als dies der Grundsatz freier Beweiswürdigung vermuten lässt: Ein gutes Urteil erfordert die Fähigkeit des Richters, die Satzfolge so weiterzuführen, dass sie plausibel erscheint. Dafür benötigt er selbst ein Gespür dafür, was plausibel ist und was nicht.200 Er hat dabei sicher einen weiten Spielraum, doch ist dieser enger, als er durch Denk-, Erfahrungs- und Naturgesetze eingegrenzt werden könnte. 7. Bindung an die gesellschaftliche Praxis Wie bereits erwähnt wurde, kann ein gutes Urteil nicht unabhängig von der Gesellschaft gefällt werden. Es ist darauf gerichtet, dem Rechtsfrieden zu dienen und kann dies nur erreichen, wenn den Gerichten Autorität gegeben wird. Diese Autorität würden die Gerichte jedoch verlieren, wenn sie sich ohne Begründung weit von der gesellschaftlichen Praxis entfernten. Wenn sich Menschen an eine gesellschaftliche Praxis gewöhnt haben, so ist in dieser Gewohnheit auch das Vertrauen auf den Bestand der Praxis enthalten. Natürlich kann durch andere Kriterien (wie z. B. den Gesetzeswortlaut eines neu erlassenen Gesetzes) auch entgegen der gesellschaftlichen Praxis entschieden werden. Ein gutes Urteil muss die gesellschaftliche Praxis (sofern vorhanden) jedoch berücksichtigen. Wenn man mit Durkheim auch Moralpraktiken als eine gesellschaftliche Praxis versteht und sich diese Moralvorstellungen in einer Praxis äußern, kann der Abschnitt über die Bindung an gesellschaftliche Moralvorstellungen als ein Unterpunkt der Bindung an die gesellschaftliche Praxis verstanden werden: „Wenn eine Verhaltensweise in einer Gruppe Gewohnheitssache geworden ist, so löst alles, was davon abweicht, eine Bewegung der Ablehnung aus, die der Bewegung sehr ähn197 Seibert (1996) bezeichnet das Judiz als eine in der Regel unbewusste Argumentationsbeziehung zwischen topischem Wissen und Sachverhaltswissen (S. 35). 198 Der Begriff stammt von Foucault (1977 / 1978), S. 119 ff. Auf S. 123 wird das Dispositiv als ein umfassenderer Begriff als der Diskurs beschrieben. 199 Seibert (1996), S. 81. 200 Barthes (1966), S. 129 spricht von einer Beherrschung der Diskursregeln.

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3. Kap.: Die Kriterien

lich ist, die die eigentlich moralischen Fehler auslösen. Sie nehmen in gewisser Weise an dem besonderen Respekt teil, der den Moralpraktiken eigen ist. Wenn auch nicht alle Kollektivgewohnheiten moralisch sind, so sind doch alle Moralpraktiken Kollektivgewohnheiten.“201

Die Relevanz der gesellschaftlichen Praxis für die Rechtswissenschaft wird nicht bestritten. Sie zeigt sich einerseits darin, dass selbst Theorien, die auf den ersten Blick die gesellschaftliche Praxis nicht einbeziehen, doch nicht gänzlich ohne sie auskommen (a). Dies gilt sowohl für den Rechtspositivismus (aa) als auch für die Systemtheorie (bb). Andererseits haben gesellschaftliche Praktiken in der Rechtswissenschaft schon immer eine Rolle gespielt (b).

a) Die Einbeziehung der gesellschaftlichen Praxis Selbst Theorien, von denen man es nicht erwartet, kommen nicht ohne einen Rückbezug auf die gesellschaftliche Praxis aus.

aa) Gesetzespositivismus Der gesetzespositivistische Versuch, den Rechtsbegriff formal zu definieren und von materiellen Inhalten zu „reinigen“202, kann zu der Fehleinschätzung verleiten, der Gesetzespositivismus betrachte die Rechtsordnung als ein von der Gesellschaft abgeschlossenes System von Rechtssätzen.203 Diese Einschätzung ist deshalb nicht zutreffend, weil sich bei Vertretern des Gesetzespositivismus stets ein Rückbezug 201 Durkheim (1903 / 1999), S. 82. Die unter 4. d) behandelten Ausführungen zum Problem des Minderheitenschutzes lassen sich auf die Orientierung an der gesellschaftlichen Praxis übertragen. 202 Zur „Reinigung“ der Rechtswissenschaft siehe Kelsen (1934 / 1994), S. 1 ff. Er schreibt explizit auf S. 2: „Recht ist ein gesellschaftliches Phänomen, Gesellschaft aber ein von Natur aus völlig verschiedener Gegenstand, weil ein völlig verschiedener Zusammenhang der Elemente.“ 203 So formuliert von Klenner (1988), S. 365. Er spricht zwar von „Rechtspositivismus“, doch wird er ihn nicht in dem weiten Sinn von W. Ott (1976), S. 19 ff.; S. 102 ff. verstehen, sondern den Gesetzespositivismus (im Sinne von W. Ott (1976), S. 41 ff.) gemeint haben. W. Ott (1976) stellte selbst fest, dass unter Rechtspositivismus oftmals nur der Gesetzespositivismus verstanden wird (S. 100). Dass der psychologische und soziologische Positivismus einen Gesellschaftsbezug herstellt, ist offenkundig: „( . . . ) der psychologische Positivist (erblickt die Positivität des Rechts, A. R.) in gewissen psychischen Zuständen wie ,Sollenserlebnis‘, ,Anerkennung‘, ,opinio necessitatis‘ und der soziologische Positivist in gewissen äußeren Verhaltensweisen, nämlich in der tatsächlichen Befolgung des Rechts durch die Rechtsgenossen oder in dessen Anwendung durch einen bestimmten Rechtsstab“ (Ott (1976), S. 21.). Ehrlich (1913 / 1989) – als Vertreter des soziologischen Positivismus – fasst sein Werk folgendermaßen zusammen: „Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst“ (S. 11).

7. Bindung an die gesellschaftliche Praxis

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auf die Gesellschaft findet. Dieser Rückbezug wird bei Bergbohm nicht explizit erwähnt und dadurch verschleiert, dass Bergbohm hervorhebt, wie unbeachtlich die persönliche Meinung über eine Rechtsnorm für deren Gültigkeit sei.204 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass es ihm lediglich auf eine Trennung zwischen Rechtsform und Rechtsinhalt ankommt.205 Wenn ein Rückbezug auf die gesellschaftliche Praxis in irgendeiner Form für die Gültigkeit von Rechtsnormen gefordert werden sollte (z. B. dass jede Rechtsnorm ein Mindestmaß an Akzeptanz haben muss), so bliebe dieses Kriterium rein formal im Sinne von Bergbohm, weil es jeglichen Norminhalt zulässt.206 In der Tat finden sich bei Bergbohm Formulierungen, die einen Rückbezug auf die Gesellschaft andeuten. Einmal deutet er in einer Polemik über das Naturrecht an, Recht auf physische und psychische Tatsächlichkeiten stützen zu wollen.207 An einer anderen Stelle erklärt er, dass der Stoff, der eine Gesamtdarstellung der Rechtswissenschaft ermöglichen soll, „das sorgfältig bearbeitete reiche, lebendige Recht der Wirklichkeit“ sei.208 Bergbohm sagt selbst explizit, dass er die Lehren Savignys und Puchtas (also Lehren mit einem starken Bezug zur gesellschaftlichen Praxis) nicht vollständig verlassen möchte.209 Zwar reduziert er mit seinem „geschichtlichen Prinzip“ die Geschichtlichkeit der historischen Rechtsschule auf einen formalen Vorgang der Rechtserzeugung, doch verbirgt sich hinter diesem Prozess stets auch eine „kompetente rechtsbildende Macht“.210 Wie bereits ausgeführt211 ist diese Macht von der Akzeptanz der Gesellschaft abhängig. Dieser Zusammenhang ist bei Bergbohm bereits angelegt, wird bei Kelsen jedoch noch deutlicher. Bei Kelsen wird das „geschichtliche Prinzip“ von Bergbohm auf die Grundnorm reduziert. Die Grundnorm als hypothetische Grundlage und eine Rechtsordnung fundierende Norm ist selbst nicht positiv gesetzt, sondern der nur geschichtlich erklärbare Grund für die Anerkennung der auf der Grundnorm basierenden Rechtsordnung als Sollensordnung.212 Deshalb versucht Kelsen die Bedeutung der Bergbohm (1892), S. 145. Siehe hierzu Bergbohm (1892), S. 543 ff. 206 Die Gefahr eines Verlustes jeglicher Ordnung würde sich auch deshalb nicht einstellen, da nicht eine Einzelperson, sondern die gesellschaftliche Praxis maßgeblich wäre: „Wenn es zulässig sein soll, dass Einer das ihm verwerflich erscheinende Recht an irgendeinem Punkte durch das seiner Idee entstammende bessere Recht ersetze, ist, da allen Anderen eine ähnliche Auslese und Verbesserung offen steht, die ganze positive Rechtsordnung verloren. Was solche Konsequenzen hat, kann selbst kein Ordnungsbegriff, das ideelle Recht unmöglich in irgendeinem noch so weiten Sinne ein Recht sein“ (ebenda, S. 407). 207 Ebenda, S. 400: „Wenn jedes Recht nicht in reinen Thatsächlichkeiten, physischen und psychischen, seine grundlegende Stütze findet, so muss man vielleicht auch weiter nach demjenigen Recht forschen, auf welchem das Naturrecht seinerseits ruht u.s.w. Der Atlas trägt den Himmel, die Erde den Atlas – muss die Erde auch wieder getragen sein?“ 208 Ebenda, S. 101. 209 Ebenda, S. 538. 210 Bergbohm (1892), S. 549. 211 Siehe 2. Kapitel 3. f) aa) ). 204 205

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3. Kap.: Die Kriterien

Grundnorm im Falle einer Revolution zu verdeutlichen: Die erfolgreiche Revolution bringt die Menschen dazu, sich nach einer neuen Ordnung auszurichten – sie setzt eine neue Grundnorm voraus.213 An dieser Stelle wird die Bedeutung der gesellschaftlichen Praxis deutlich, denn eine erfolgreiche Revolution setzt eine veränderte gesellschaftliche Praxis voraus – die Macht ist also von der Gesellschaft in gewisser Weise abhängig. Kelsen schreibt: „( . . . ) Darum muß eine normative Ordnung der Wirklichkeit gegenüber, die aufhört, ihr bis zu einem gewissen Grade zu entsprechen, ihre Geltung verlieren. Die Geltung einer das Verhalten bestimmter Menschen regelnden Rechtsordnung steht somit zu der Tatsache, daß das reale Verhalten dieser Menschen der Rechtsordnung entspricht – zu ihrer Wirksamkeit, wie man auch zu sagen pflegt –, in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis.“214

Hart stellt ebenfalls fest, dass eine gewisse Normbeachtung erforderlich ist, um von einer Normgeltung sprechen zu können: „From the inefficacy of a particular rule, which may or may not count against its validity, we must distinguish a general disregard of the rules of the system. This may be so complete in character and so protracted that we should say, in the case of a new system, that it had never established itself as the legal system of a given group, or, in the case of a onceestablished system, that it had ceased to be the legal system of the group.“215

Soweit eine gesetzespositivistische Position heutzutage noch vertreten wird, wird in ihr das Rechtssystem nicht völlig unabhängig von der gesellschaftlichen Praxis entwickelt. Auch wäre eine solche Position nicht haltbar, denn nur ein Gesetzespositivismus, der das Rechtssystem allein als ein in sich widerspruchsfreies, vollständiges und entscheidungsdefinites System versteht, käme ohne einen Rückbezug auf die Gesellschaft aus. Allerdings könnte er dann nicht erklären, aus welchem Grunde diesem System (rechtliche) Verbindlichkeit zugesprochen werden muss – also was der Geltungsgrund dieses Systems im Gegensatz zu alternativ denkbaren Systemen ist.216

bb) Systemtheorie Wenn in der Systemtheorie das Recht als ein autopoietisches System gesehen und von „operativer Geschlossenheit“ gesprochen wird, könnte der Eindruck entstehen, das Recht sei von der gesellschaftlichen Praxis unabhängig. Dies ist jedoch nicht der Fall.217 Gesellschaftliche Praktiken werden vielmehr vom Rechtssystem als eine Irritation oder Perturbation218 wahrgenommen und in systemeigene Struk212 213 214 215 216 217

Kelsen (1934 / 1994), S. 66 f. Kelsen (1934 / 1994), S. 67 f. Kelsen (1934 / 1994), S. 69. Hart (1961 / 1994), S. 103. Dieser Punkt wird von Ophüls (1968), S. 1748, 1750 f. herausgearbeitet. Teubner (1989), S. 47 wehrt sich explizit gegen diesen Eindruck.

7. Bindung an die gesellschaftliche Praxis

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turen übersetzt.219 So wie jeder Mensch aus den auf ihn einströmenden Informationen selektiert und diese an vorhandene Schemata anpasst220, werden Informationen aus der Umwelt vom System ebenfalls selektiert und in systemeigene Strukturen übersetzt. Dieser Vorgang wird als „strukturelle Koppelung“ bezeichnet. Mit diesem Begriff wollen Varela und Maturana eine Brücke schlagen zwischen einem Repräsentatismus, der die Umwelt als objektiv erkennbar ansieht, und einem Solipsismus, der das System für autistisch hält.221 Gesellschaftliche Praktiken können demnach nicht direkt auf das Rechtssystem einwirken, werden jedoch vom Rechtssystem auch nicht ignoriert. Das Rechtssystem nimmt die gesellschaftlichen Praktiken vielmehr wahr und reagiert auf sie nach systemeigenen Verarbeitungsmöglichkeiten.222 Auch Systemtheoretiker nehmen demnach Bezug auf die gesellschaftliche Praxis.

b) Die langjährige Tradition der Einbeziehung von gesellschaftlichen Praktiken Die Bindung an die gesellschaftliche Praxis hat Tradition, allerdings weniger unter dem Begriff der gesellschaftlichen Praxis als unter dem des Gewohnheitsrechts. Dabei hat es gegenüber dem Gewohnheitsrecht zwei Vorteile, von gesellschaftlicher Praxis zu reden: „Gesellschaftliche Praxis“ impliziert nicht ihre Erhaltungswürdigkeit (aa) und lässt es offen, ob sie als eigene Rechtsquelle anzusehen ist oder nicht (bb).

aa) Wertneutralität der gesellschaftlichen Praxis Ob das Urteil der gesellschaftlichen Praxis folgen sollte oder nicht, bleibt offen (bzw. eine Entscheidung des Richters im Einzelfall). Es kommt auf die Bedeutung 218 Teubner (1995), S. 197 kritisiert den Begriff der Perturbation und möchte ihn durch das „produktive Missverständnis“ ersetzen. 219 Siehe Luhmann (1993 / 1995), S. 443: „Auch Irritation ist eine Wahrnehmungsform des Systems, und zwar eine Wahrnehmungsform ohne Umweltkorrelat. Die Umwelt selbst ist nicht irritiert, und nur ein Beobachter kann formulieren, daß ,die Umwelt das System irritiert‘. Das System selbst registriert die Irritation – zum Beispiel in der Form des Problems, wer im Streitfall recht hat – nur am Bildschirm der eigenen Strukturen.“ 220 Siehe zu diesem Punkt auch die Ausführungen aus dem 2. Kapitel 3. b). 221 Maturana / Varela (1984 / 1987), S. 146 ff., S. 259. 222 Teubner (1989), S. 107. Teubner (1995) spricht explizit von einer strukturellen Koppelung rechtlicher und gesellschaftlicher Diskurse, die über Bindungsinstitutionen „das Recht gegenüber der Gesellschaft ,responsiv‘ machen“ (S. 211 f.). Willke (1992 / 1996) beschreibt das Rechtssystem als ein gesellschaftliches Teilsystem, welches über seine Identität als Teilsystem reflektieren und auch auf andere gesellschaftliche Teilsysteme (und das gesamte Gesellschaftssystem) einwirken bzw. sich seiner Wirkung auf seine Umwelt bewusst werden müsse (S. 72 ff., S. 197 ff.).

9 Rafi

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3. Kap.: Die Kriterien

der Praxis an und natürlich darauf, ob sie anderen Kriterien (wie z. B. dem Wortlaut des Gesetzes oder Folgeerwägungen) widerspricht. Die gesellschaftliche Praxis muss nur beachtet, nicht jedoch zwingend befolgt werden. Anders beim Gewohnheitsrecht: Die Qualifikation als „Recht“ impliziert, dass diese Gewohnheit dem Recht gemäß, also (juristisch) richtig ist. Deshalb muss das Gewohnheitsrecht im Gegensatz zur gesellschaftlichen Praxis als etwas Positives und Erhaltenswertes angesehen werden. Es ist nicht mehr eine Entscheidung des Richters, ob er dem Gewohnheitsrecht folgt, weil dem Gewohnheitsrecht zu folgen ist. Da aber nicht jede gesellschaftliche Gewohnheit erhaltenswert ist, dürfen die nicht erhaltenswerten Gewohnheiten nicht mehr vom Begriff „Gewohnheitsrecht“ umfasst sein.223 Diese begriffliche Aussonderung nicht erhaltenswerter Gewohnheiten ist aber unabhängig vom konkreten Fall nicht möglich. Es wird stattdessen mit vagen Begriffen operiert, die das Gewohnheitsrecht selbst zu einem äußerst vagen und problematischen Begriff machen. Puchta widmet im zweiten Teil seiner Abhandlung über das Gewohnheitsrecht mehrere Abschnitte der Ausschließung von Gewohnheiten aus dem Begriff „Gewohnheitsrecht“: „Die Existenz einer gemeinsamen Volksüberzeugung und damit eines Gewohnheitsrechts soll aus der Übung eines Satzes nachgewiesen werden. Nun kann, wie auch sonst diese Übung beschaffen und wie sehr sie übrigens geeignet sein möge, jene Existenz wahrscheinlich zu machen, doch ein Umstand eintreten, welcher die Annahme eines ihr zu Grunde liegenden Rechtssatzes von vorn herein ausschließt.“224

Seine Ausschlusskriterien, wie etwa ein Widerspruch der Gewohnheit zu „höheren Rechtsprinzipien“, „guten Sitten“, „göttlichen Gesetzen“225, sind äußerst vage. Isay unterscheidet zwischen der faktischen und der qualifizierten Übung. Letztere sei dadurch qualifiziert, dass sie auf dem Rechtsgefühl beruhe. Wie allerdings das Rechtsgefühl zu verstehen ist, bleibt unklar.226 Es soll jedenfalls nicht mit dem Gefühl, durch diese Übung bereits zu einer Rechtsnorm verpflichtet zu sein, gleichgesetzt werden. Dieses Gefühl ist in die Diskussion um das Gewohnheitsrecht als opinio necessitatis eingegangen227 und wird von Mokre als eine Implikation zwingenden Charakters beschrieben: So wie man impliziert, dass 1537 durch 2 teilbar ist, wenn man behauptet, diese Zahl sei durch 4 teilbar (weil man weiß, dass alle Zahlen, die durch 4 teilbar sind, auch durch 2 teilbar sein müssen), so 223 Hart (1961 / 1994), S. 44 f. macht am Beispiel des Hutabnehmens vor einer Dame deutlich, dass es auch „erhaltenswerte“ Gewohnheiten gibt, die deshalb noch nicht als Recht angesehen werden (recognized as law). Genau genommen müsste deshalb zwischen rechtlich relevanten und rechtlich irrelevanten Gewohnheiten unterschieden werden. Auf diese terminologische Genauigkeit wird hier verzichtet, da sie für die folgenden Ausführungen nicht von Bedeutung ist und das Problem deshalb unnötig verkompliziert. 224 Puchta (1837 / 1965), S. 49. 225 Puchta (1837 / 1965), S. 61. 226 Isay (1929 / 1970), S. 236 f. Zur vagen Bestimmung des Begriffes „Rechtsgefühl“ siehe auch S. 57 ff., S. 120. 227 Ebenda, S. 236; siehe auch Ehrlich (1913 / 1989), S. 147.

7. Bindung an die gesellschaftliche Praxis

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wird bei bestimmten Gewohnheiten ein Rechtssatz impliziert. Das Argument, 1537 sei nicht durch 2 teilbar, weshalb die Aussage auch nicht zutreffe, dass diese Zahl durch 4 teilbar sei, überzeugt. Ebenso soll auch das Argument überzeugen, dass ein bestimmter Rechtssatz nicht abgelehnt werden kann, weil eine bestimmte Gewohnheit existiert.228 Dabei bleibt jedoch offen, wie unerwünschte Gewohnheiten aus dem Begriff des Gewohnheitsrechts ausgeschlossen werden sollen. Mokre scheint dies dadurch erreichen zu wollen, dass er für die opinio necessitatis lediglich das Bewusstsein einer rechtlichen Bindung unterstreicht.229 Schon weil in § 293 S. 1 ZPO das Gewohnheitsrecht genannt ist, musste die Rechtsprechung diesen Begriff definieren. Das Reichsgericht schreibt: „Rechtsbildend ist eine Gewohnheit nur, wenn sie sich durch lange dauernde Übung äußerlich betätigt und wenn sie auf der ernstlichen, gemeinsamen Überzeugung beruht, daß damit Recht geübt werde.“230

Ähnlich heißt es beim Bundesverfassungsgericht, Gewohnheitsrecht sei Recht, das „durch längere tatsächliche Übung entstanden ist, die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine sein muß und von den Rechtsgenossen als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird.“231 Alle diese Begriffe (wie z. B. „Rechtsgefühl“, „ernstliche, gemeinsame Überzeugung“, „als verbindliche Rechtsnorm von Rechtsgenossen anerkannt“) verklären mehr, als dass sie erklären. Dieses Problem wird vermieden, wenn man von der gesellschaftlichen Praxis ausgeht, da rechtlich unerwünschte Gewohnheiten nicht aus dem Begriff definitorisch ausgeschlossen werden müssen.

bb) Offenheit des Rechtsbegriffs „Gewohnheitsrecht“ ist dem Begriff nach bereits Recht. Inwieweit man eine gesellschaftliche Gewohnheit als Recht oder Rechtsquelle akzeptiert, hängt vom zu Grunde gelegten Rechtsbegriff ab. Wird eine (auf dem Rechtsgefühl beruhende) gesellschaftliche Gewohnheit als Rechtsquelle angenommen, gerät man jedoch in rechtstheoretische Probleme. So müsste beispielsweise geklärt werden, wie lange und wie intensiv eine Gewohnheit bestehen muss, um zu Recht zu werden. Ferner ist nicht klar, ob sie erst zu Recht wird, wenn sie vom Richter festgestellt und akzeptiert wurde (dann wäre es eventuell eine Form von Richterrecht232), oder schon vorher Recht ist (dann wäre eine von der Rechtsprechung „fälschlicherweiMokre (1932), S. 165 ff. Ebenda, S. 167. 230 RGZ 75, 40, 41 (Urteil vom 16. 12. 1910). 231 BVerfGE 22, 114, 121 (Urteil vom 28. 6. 1967). 232 „Eventuell“ deshalb, weil man mit Müller (1986) noch immer nach der Legitimation differenzieren könnte: Nur das Gewohnheitsrecht legitimiere sich über die gemeinsame Überzeugung der am Rechtsleben Beteiligten. Dies gelte nicht für das Richterrecht (S. 113). 228 229

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3. Kap.: Die Kriterien

se“ nicht als Gewohnheitsrecht akzeptierte gesellschaftliche Praxis ein nicht durchsetzbares bzw. staatlich nicht anerkanntes Gewohnheitsrecht). Auch diese Probleme werden vermieden, wenn man von gesellschaftlicher Praxis anstatt von Gewohnheitsrecht spricht. Die Konzeption „Gewohnheitsrecht“ wurde wegen der Unklarheit des Begriffs und ihres Charakters als Rechtsquelle massiv kritisiert. Während Coing den Begriff „Gewohnheitsrecht“ für überkommen hält, ihm aber immerhin noch rechtsgeschichtliche Bedeutung beimisst233, sieht Weber in ihm einen wenig brauchbaren Begriff.234 Nörr bezeichnet die ganze Lehre vom Gewohnheitsrecht als unbefriedigend, weil sie in die bereits angedeuteten Probleme (und noch einige mehr) gerät.235 Deshalb kann auch nicht verwundern, wenn dem Gewohnheitsrecht generell die Existenz abgesprochen wird.236 Es ist notwendig, sich von dem Begriff „Gewohnheitsrecht“ zu verabschieden. Da der Begriff „Gewohnheitsrecht“ normativ aufgeladen ist, ist die Diskussion über den Stellenwert der Gewohnheit in eine Sackgasse geraten. Wird eine Gewohnheit als „Recht“ bezeichnet, ist es notwendig, zwischen rechtlich irrelevanten und rechtlich relevanten Gewohnheiten zu differenzieren. Das kann nicht unabhängig von anderen Kriterien gelingen. Es ist vielmehr erforderlich, die gesellschaftliche Praxis generell als rechtlich relevant anzusehen. Ob die gesellschaftliche Praxis urteilsbestimmend wird, ist eine andere Frage. Dies kann nur in Abwägung mit den anderen Kriterien festgelegt werden und bleibt eine Entscheidung. Eine gesellschaftliche Gewohnheit ist aber als Kriterium für ein gutes Urteil stets zu beachten. Die Diskussion um das Gewohnheitsrecht verdeutlicht jedoch, dass die gesellschaftliche Praxis schon immer eine Rolle in der Rechtstheorie gespielt hat.

8. Bindung an Logik Da hier von Logik als einem Topos für ein gutes Urteil die Rede ist, ist bereits klar, dass es sich nicht um einen Begriff von Logik handeln kann, der die gesamte juristische Argumentation bezeichnet.237 Hier wird Logik im engeren Sinne als die „Lehre von der Folgerichtigkeit“238, d. h. der formalen Logik ausgegangen.239 Bindung an Logik heißt dann lediglich, dass die Urteilsbegründung keine formal logischen Fehler aufweisen darf. Dabei ist ein Fehler weder dann gegeben, wenn der Richter von falschen Prämissen ausgeht, noch, wenn er nicht alle Prämissen auf233 234 235 236 237 238 239

Coing (1976), S. 130. Weber (1922 / 1980), S. 187. Nörr (1969), S. 353 f. So bereits von Riß (1911), S. 486. Von einem solchen Begriff geht beispielsweise Perelman (1976 / 1979) aus (S. 134 ff.). Klug (1951 / 1982), S. 1. Zum Begriff der formalen Logik siehe Ratschow (1998), S. 16 ff.

8. Bindung an Logik

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führt, die zur logischen Ableitbarkeit der Konklusion notwendig wären. Der erste Fall hat gar nichts mit Logik zu tun, da sich die formale Logik nicht um die materielle Richtigkeit der Prämissen kümmert. Der zweite Fall ist nur ein Beispiel enthymematischer Argumentation, die nicht fehlerhaft ist, solange die weggelassenen Prämissen offensichtlich sind und durch ihre Ergänzung die Konklusion logisch ableitbar ist. Deshalb läuft die Bindung an Logik auf die Widerspruchsfreiheit des Urteils hinaus.240 Dazu gehört auch die Forderung, sich nicht fälschlicherweise auf logischen Zwang zu berufen, denn auch die unzutreffende Behauptung, dass etwas logisch aus dem Vorhergesagten folge, widerspricht logischen Gesetzen.241 Warum die Widerspruchsfreiheit für ein gutes Urteil erforderlich ist, hängt wiederum mit der Autorität des Richters zusammen: Da logisches Denken in unserer Gesellschaft als ein hohes Gut angesehen wird und Widersprüchlichkeit als ein Zeichen für Denkfehler, verlöre der Richter (bzw. das Rechtssystem) an Achtung und Autorität, wenn das Urteil Widersprüche enthielte.242 Letztendlich ist der Grund für die Bindung an Logik dem Grund für die Bindung an Dogmatik ähnlich, denn auch das logische Denken ist ein Vorurteil – nur dass dieses nicht institutionell begrenzt ist, sondern weltweit als Denkschema akzeptiert, gelehrt und antrainiert wird: „Die Priorität von Gesetzen . . . läßt viele Abstufungen zu. Mutmaßungen über Geschichte und Wirtschaft werden bereitwilliger abgeändert werden als physikalische Gesetze, und diese bereitwilliger als Gesetze der Mathematik oder Logik. . . . Mathematik oder Logik, zentrale Teile unseres Begriffsnetzes, genießen gewöhnlich solchen Schutz, da wir beständig solche Veränderungen bevorzugen, die das System am wenigsten stören; darin liegt vielleicht die ,Notwendigkeit‘, die man der Mathematik und Logik zuschreibt.“243

An Paradoxien lässt sich gut erkennen, dass sich die heutigen logischen Gesetze erst entwickeln mussten und veränderbar sind. Außerdem zeigen sie, wie schwer erträglich dem Menschen der logische Widerspruch ist, denn sein Reiz entspringt gerade diesem Moment der Unhaltbarkeit.244 Dabei ist es oft eine logische Intuition, die zu diesen Paradoxien führt: Es erscheint ein Schluss als zwingend, obwohl 240 Wie Perelman (1976 / 1979) herausstellt, ist dies natürlich keine spezifisch juristische Forderung. 241 Ein Beispiel für eine unzutreffende Berufung auf Logik wird von Simon (1982), S. 64 ff. analysiert. Er erklärt die fälschliche Bezugnahme auf logische Gesetze psychologisch als „Abwehrstrategie gegen unangenehme Fragen“ (S. 66). Das klingt nach einer bewussten Abwehr. Es ist jedoch zu befürchten, dass die Abwehr unbewusst ist und eine Angst vor der Verantwortung für die Entscheidung zeigt. Dies wäre eine Untersuchung wert. 242 Hier wird von einer Verbindlichkeit logischer Gesetze ausgegangen, die sich im Laufe der Zeit intersubjektiv entwickelt hat. Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht wichtig, ob die Verbindlichkeit eventuell ontologisch gegeben sein könnte, denn das Ziel des guten Urteils ist es nicht, eine objektiv vorhandene Wahrheit zu finden, sondern den Rechtsfrieden zu sichern. Zur Verbindlichkeit logischer Gesetze siehe Neumann (1994), S. 312 ff.; Toulmin (1958 / 1999), S. 3 ff. 243 Quine (1964 / 1993), S. 20. 244 Sainsbury (1988 / 2001), S. 11; Quine (1964 / 1993), S. 21 f.

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3. Kap.: Die Kriterien

sein Gegenteil ebenfalls als zwingend empfunden wird.245 Ein solcher Widerspruch kann im Urteil nicht bestehen bleiben. Wenn beispielsweise ein Rhetoriklehrer im Vertrag festlegt, dass der Schüler das Honorar nur zu zahlen braucht, wenn er seinen ersten Prozess vor Gericht gewinnt, der Schüler daraufhin nie vor Gericht tätig wird und der Rhetoriklehrer ihn vor Gericht auf Zahlung seines Honorars verklagt, so erhält man das schöne Paradoxon von Protagoras246: Gewinnt der Schüler den Prozess, so muss er laut Vertrag zahlen und laut Urteil nicht zahlen. Verliert er den Prozess, so muss er laut Urteil zahlen, ist aber vertraglich von der Zahlung befreit. So ein Widerspruch ist untragbar (es wäre unklar, ob nun gezahlt werden muss oder nicht) und müsste vom Richter aufgelöst werden. Dies kann dieser dadurch erreichen, dass er den Vertrag folgendermaßen auslegt: Der Schüler muss nur zahlen, wenn er den ersten Prozess als Anwalt gewinnt. Hier tritt er aber als Beklagter auf, weshalb sich der Vertrag in diesem Fall nicht auf den Prozessausgang bezieht. Eine andere Möglichkeit wäre, einen Vertrag für nichtig zu erklären, der auf einen den Vertrag betreffenden Prozessausgang Bezug nimmt. Jedenfalls könnte der Richter den Widerspruch nicht als gegeben akzeptieren. Ebenso können auch andere Widersprüche (d. h. Widersprüche, die nicht auf einem Paradoxon beruhen) nicht akzeptiert werden. Ein weiteres Beispiel für die intuitive Kraft der Logik ist das Jörgensensche Dilemma: Es ist nur ein Dilemma, weil Jörgensen den Schluss „Love your neighbour“ für intuitiv zwingend hält, wenn die Prämissen „Love your neighbour as yourself“ und „Love yourself“ lauten. Obwohl sich die klassische Logik nur mit Sätzen beschäftigt, die wahr oder falsch sein können, scheint die Schlussfolgerung aus einem imperativen und einem indikativen Satz bzw. zwei imperativen Sätzen ebenfalls logisch zwingend zu sein (obwohl imperative Sätze nicht wahr oder falsch sind).247 Damit dürfte die Bindung an Logik deutlich geworden sein: Die überragende Überzeugungskraft, die von logischen Gesetzen ausgeht, fordert ein widerspruchsfreies Urteil, weil es ansonsten durch Hervorhebung des Widerspruchs widerlegt werden könnte und seine autoritative Kraft verlöre.248 Weiter geht die Bindung an 245 Zur Rolle einer logischen Intuition bei Paradoxien siehe beispielsweise Sainsbury (1988 / 2001), S. 147 ff. Zur logischen Intuition allgemein Weinberger (1970 / 1989), S. 27. 246 Nacherzählt in Sainsbury (1988 / 2001), S. 214. 247 Jörgensen (1937 / 1938), S. 290: „. . .and yet the conclusion seems just as inescapable as the conclusion in any syllogism containing sentences in the indicative mood only.“ Dieses Dilemma hat sicherlich mit zu der Entwicklung der deontischen Logik beigetragen. Zum Jörgensendilemma siehe Holländer (1993). Zur deontischen Logik siehe Conte / Hilpinen / von Wright (1977). 248 Deshalb ist der Verstoß gegen „Denkgesetze“ auch ein Revisionsgrund (siehe Grave / Mühle (1975)). Ein Beispiel für einen gravierenden Fehler bezüglich bedingter Wahrscheinlichkeitsrechnung findet sich bei Koch / Rüßmann (1982), S. 317. Koch / Rüßmann zeigen ausführlich die Bedeutung von Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung für die Sachverhaltskonstruktion auf (S. 277 ff.).

9. Bindung an Verständlichkeit

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Logik allerdings nicht, denn Logik kann keine Entscheidungsarbeit ersetzen. Dies wird besonders deutlich an Versuchen, im computertechnischen Bereich eine Automatisierung von Entscheidungen zu erreichen. In der Rechtsinformatik wird immer wieder festgestellt, dass Computerprogramme die Entscheidungsarbeit durch Strukturvorgaben zwar unterstützen können (wie z. B. bei JUDITH), sie jedoch nicht ersetzen.249 Weder die Auslegung des Gesetzestextes noch die Berücksichtigung von gesellschaftlichen Moralvorstellungen und gesellschaftlichen Praktiken lassen sich programmieren. Selbst wenn es ein Programm geben sollte, was akzeptable Urteile zustande brächte, so wäre immer noch ein Mensch (Richter) erforderlich, der darüber zu entscheiden hätte, was ein akzeptables Urteil ist. Sollte es einmal inakzeptabel ausfallen, so wäre es kaum erträglich, ihm Geltung nur aus dem Grund zuzusprechen, weil das Programm so „entschieden“ habe. Logik mag die Struktur des Arguments verdeutlichen – die Argumentation kann sie nicht ersetzen.250

9. Bindung an Verständlichkeit Ein Urteil muss verstanden werden, wenn der Richter seine Autorität wahren möchte. Jaspersen stellt in ihrer Arbeit über die mangelnde Verständlichkeit des Rechts für den Laien eine imposante Reihe von Verfassungsprinzipien zusammen, die eine Verständlichkeit des Urteils und Gerichtsverfahrens fordern: Öffentlichkeitsprinzip (die zum Verfahren zugelassene Öffentlichkeit muss dem Verfahren auch folgen können), Anspruch auf ein faires Verfahren (Parteien müssen ihre Verfahrensrechte verstehen, um sie wahrnehmen zu können), Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz (auch die nicht mit dem Rechtssystem vertrauten Bürger müssen ihre Rechte wahrnehmen können), Art. 1 GG i. V. m. Art. 2 GG (der Staat muss dafür sorgen, dass seine Bürger mündig sind / bleiben und die Unverständlichkeit des Rechtssystems sie nicht abhängig von Anwälten macht).251 Deshalb fordert sie auch konsequent, die Fiktion aufzugeben, dass Ur249 Zu JUDITH siehe Bund (1991), S. 279 f. Zur Unmöglichkeit der Automatisierung von Entscheidungen siehe Schneider (1994), S. 516, S. 532 ff. Etwas optimistischer klingt Haman (1998): „Insbesondere erweist es sich aus heutiger Sicht als illusorisch, eine ,Automatisierung‘ des Rechts in seiner Gänze auf sämtliche in Betracht kommende Lebenssituationen zu erreichen.“ (S. 10). 250 Siehe auch Toulmin (1958 / 1999), S. 152 ff; Herberger / Simon (1980), S. 17. Lyotard / Thébaud (1979), S. 149 ff. besprechen ein schönes Beispiel dafür, wie bedeutsam unsere Vorstellungen von „akzeptabel / inakzeptabel“ bzw. „wahrscheinlich / unwahrscheinlich“ sind: Wenn ein schwacher Mensch vor Gericht behauptet, es sei evident, dass der Angeklagte ihn geschlagen hat, weil dieser viel kräftiger sei als er, so kann der Angeklagte behaupten, dass genau dieser Umstand seine Tat unwahrscheinlich mache. Schließlich wusste er bereits im Vorfeld, dass er wegen seiner Stärke schnell verdächtigt und verurteilt werden würde. Diesem Risiko hätte er sich deshalb nie ausgesetzt. Welches Argument überzeugender ist, hängt damit zusammen, welche Geschichte in unserem Kulturkreis als wahrscheinlicher eingestuft wird. Ein Computer wird diese Entscheidung kaum treffen können. 251 Jaspersen (1998), S. 9 ff; ebenso Bonin (1983), S. 64 ff.

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3. Kap.: Die Kriterien

teile dem Bürger verständlich seien. Ein Rechtsstaat könne nur funktionieren, wenn er akzeptiert wird und Akzeptanz könne nur durch Verständlichkeit erreicht werden.252 Zunächst werden die drei Bereiche angesprochen, in denen das Thema „Verständlichkeit des Rechtssystems“ eine Rolle spielt (a-c), um dann das Problem der verständlichen Urteilsbegründung genauer zu erörtern (d) und Möglichkeiten der Problemverringerung zu besprechen (e).

a) Verständlichkeit des Gesetzestextes Die Gesetzestexte verständlich zu gestalten, ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers. Da es hier um ein Kriterium für ein gutes Urteil geht, wird dieser Problembereich ausgespart und lediglich auf das Heft 118 der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (Juni 2000) verwiesen, in dem dieses Thema unter dem Titel „Sprache des Rechts“ von mehreren Autoren behandelt wird. Ferner widmen sich teilweise auch die Beiträge des Rechtshistorischen Journals 20 (2001) auf den Seiten 481 – 729 diesem Thema.

b) Verständlichkeit der gerichtlichen Kommunikation Auch die gerichtliche Kommunikation ist streng genommen noch nicht als Kriterium für ein gutes Urteil zu verstehen, da durch sie das Urteil nur vorbereitet wird. Mit gerichtlicher Kommunikation ist hier sämtlicher Schriftverkehr zwischen dem Gericht und den Prozessparteien (bzw. ihren Vertretern) sowie die mündlichen Verhandlungen und Gespräche, die dem Urteil vorangehen, gemeint. Ein gutes Urteil bedarf jedoch auch der Vorbereitung, so dass ein gutes Urteil eine gelungene Kommunikation zwischen Prozessparteien und Richter erfordert. In dieser Arbeit wurde der Zusammenhang von Rechtsfrieden und einer gelungenen Kommunikation zwischen Richter und Prozessparteien bereits unter dem Abschnitt „Bindung an die Erzählung der Parteien“253 besprochen: Die Sachverhaltskonstruktion des Richters muss sich an den Erzählungen der Parteien orientieren. Die Prozessparteien können aber nicht frei „drauflosreden“, sondern sind dem Ritual der Prozessordnung unterworfen. Ihre Erzählungen müssen – ebenso wie die Fragen des Richters – protokollfähig artikuliert werden. Die Prozessparteien finden sich oftmals in einer für sie ungewohnten Gesprächssituation wieder. Sie können kaum abschätzen, wann sie welchen Aspekt ihres Anliegens in welcher Form anbringen dürfen. Ihre Sprachwelt unterscheidet sich oft deutlich von der des Richters.254 Protokol252 253 254

Jaspersen (1998), S. 19 f. 3. Kapitel 6. b). Zum Problem der unterschiedlichen Sprachwelten siehe die folgenden Abschnitte.

9. Bindung an Verständlichkeit

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lierungszwang und häufige Nachfragen des Richters führen darüber hinaus zu einer Zerstückelung der Erzählung und einer Verunsicherung des Erzählers: Die ungewohnte Art der Fragestellung verunsichert Laien und stört eine Kommunikation, die wegen des Rechtsstreites zwischen den Prozessparteien meist ohnehin gestört ist.255 Solche Verunsicherung (Jaspersen bezeichnet sie überspitzt als Kafka-Syndrom256) führt in der Tat zu Kommunikationsproblemen, da die Prozessparteien zunächst damit beschäftigt sind, sich an die ihnen ungewohnten Kommunikationsund Beziehungsverhältnisse anzupassen. Wenn ihnen in dieser Orientierungsphase bereits inhaltliche Stellungnahmen abverlangt werden, so wird sich die ungeklärte Beziehungsebene inhaltlich störend auswirken.257 Machtstrukturen und bestimmte Prozessrituale sind unverzichtbar, schon allein um die Autorität des Gerichts zu wahren.258 Allerdings sind sicher Verbesserungsmöglichkeiten gegeben – beispielsweise eine Kommunikationsverbesserung durch eine Einführung der Prozessparteien in den Ablauf des Verfahrens und das Frageritual.259 Auf diese Weise hätten die Prozessparteien auch Gelegenheit, sich zunächst einmal zu orientieren, bevor sie in die Arbeitsphase übergehen.

c) Verständlichkeit des Urteils Ein gutes Urteil erfordert eine gute Begründung der Entscheidung. Die Begründung ist aber nur dann gut, wenn sie zumindest nachvollziehbar (im besten Fall überzeugend) ist, denn nur so kann sie den Rechtsfrieden wahren. Sie kann aber nur dann nachvollzogen werden, wenn sie verständlich ist. Es kommt dabei nicht nur auf den Inhalt der Begründung an, sondern auch auf die Form, in der sie verfasst ist, d. h. den Stil der Formulierung. Die Frage nach dem „juristischen“ Stil wird in der juristischen Ausbildung oft unterschätzt. Dabei wurde schon in der antiken Rhetorik immer wieder darauf hingewiesen, dass sich Inhalt und Ausdruck, Gedanke und Gewand nicht trennen lassen: Wie man etwas sagt, bestimmt auch 255 Diese Probleme werden dargestellt bei Jaspersen (1998), S. 186 ff. und Soeffner (1983), S. 85 ff. 256 Jaspersen (1998), S. 195. 257 Zur Unterscheidung zwischen Beziehungs- und Inhaltsebene der Kommunikation siehe Watzlawick / Beavin / Jackson (1967 / 1996), S. 79 ff. Zur Orientierungsphase als Idealtypus im Phasenmodell der Gruppendynamik siehe statt vieler Wellhöfer (2001), S. 10 f. 258 In diesem Sinne auch Jaspersen (1998), S. 198. 259 Soeffner (1983), S. 94 f. Siehe auch Jaspersen (1998), S. 196 ff. Dass Richter vor einem die Parteien informierenden und beratenden Rechtsgespräch zurückschrecken, führt Laumen (1984), S. 8 ff. auf die Angst zurück, Fehler zu machen oder als befangen zu gelten: „Es lässt sich vielmehr ohne weiteres nachvollziehen, wenn viele Richter zwischen der Skylla einer Verletzung ihrer Pflicht zur rechtlichen Erörterung des Streitfalles und der Charybdis einer Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit den Weg des geringsten Widerstandes wählen und zu einer restriktiven Anwendung und Auslegung solcher Vorschriften neigen, die ein Rechtsgespräch ermöglichen oder sogar zu ihm verpflichten“ (S. 13 f.).

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3. Kap.: Die Kriterien

immer, was man sagt, und das, was man sagen möchte, muss immer schon in einer bestimmten Form gedacht werden.260 Die Frage, auf welche Weise ein Gedanke formuliert bzw. ein Argument vorgetragen werden sollte, wurde in der Antike deshalb auch nicht auf Stilfiguren reduziert: Die elocutio beinhaltete neben ornatus (Redeschmuck) z. B. auch die sprachliche Richtigkeit und Deutlichkeit (latinitas, perspicuitas) und pragmatische Aspekte wie die Angemessenheit der Rede (äußeres aptum).261 Dieser antike Ansatz ist von Bedeutung, denn leider kann kein Richter davon ausgehen, dass seine Begründung verständlich ist, weil er sie selbst versteht. „Verständlichkeit“ ist keine Eigenschaft eines Textes – „Verständlichkeit“ bezieht sich immer auf das Vorwissen, die Sozialisation bzw. die Sprachwelt des Rezipienten. Wer wissen möchte, ob ein Text verständlich ist, muss sich immer fragen: Verständlich für wen? Die juristischen Fachtermini sind dabei nicht das einzige Problem:262 „Den Juristen trennen ( . . . ) nicht nur die Worte, sondern auch und vor allem seine Denkformen und Strukturen – seine Denk- und ,Seh‘-weisen – vom juristisch nicht gebildeten Volk.“263

Es gibt in unserer Gesellschaft eben keine einheitliche Denkweise – ein Umstand, der für eine pluralistische Demokratie ebenso bereichernd wie schwierig ist, denn er erschwert auch die Verständigung. Seibert beschreibt den Weg von einer „gepflegten Semantik“ zur Pragmatik: Da es keine gemeinsamen großen Erzählungen (Mythen, Gottesglaube etc.) der Gesellschaft mehr gebe, müsse die Hoffnung auf eine gemeinsame Semantik aufgegeben werden. Die Zersplitterung der Wahrheit in Teilwahrheiten führe zu einer Pragmatik, die Worte nur im sozialen Kontext begreifen könne.264 Daraus kann man entweder resigniert schließen: „Das Urteil . . . muss sich als Akt der Urteilskraft lösen von regelhaften Verständigungen, die nicht leitend sein können, weil auch alltäglich keine Übereinstimmung im Sinne einer regelhaften, gesellschaftsverbindenden Sprechweise existiert. Es ist im Augenblick der Verkündung notwendig unverständlich.“265

oder aber die Forderung an den Richter herauslesen, sich auf den Empfänger einzustellen.266 260 Zur antiken Rhetorik siehe Cicero, De oratore, 2, 56; Quintilian VIII, Vorrede, 21 – 30. Neu wird dieser Gedanke bei Dölle (1949), S. 12 ff. formuliert. 261 Fuhrmann (1995), S. 114 ff.; Ueding / Steinbrink (1994), S. 213 ff. 262 Dies macht Fluck (1980 / 1991), S. 198 ff. deutlich. 263 Wassermann (1983), S. 61 f. 264 Seibert (1992), S. 349 ff. 265 Seibert (2001), S. 13. 266 So z. B. Christensen (2001), S. 501: „Aber die Vorgaben des Rechtsstaates zwingen ihn (den Richter, A. R.), die Entscheidung in der Sprache der Parteien verständlich zu machen, indem er ihre Einwände in der Begründung verarbeitet.“

9. Bindung an Verständlichkeit

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Diese Forderung wurde von Perelman auch an den Redner erhoben: Ein Redner, der überzeugen möchte, muss sich auf sein Auditorium einstellen („L’orateur, s’il veut agir efficacement par son discours, doit s’adapter à son auditoire.“267). Ebenso muss ein Richter sich im Klaren darüber sein, wen er mit dem Urteil erreichen möchte268 (z. B. die Prozessparteien, ihre Anwälte oder die Richter des Berufungsgerichtes).269 Die Bedeutung der elocutio für die Rechtstheorie ist bereits in vielen Bereichen erkannt worden. Dies wird kurz an zwei Beispielen gezeigt: (1) Die Diskussion, ob Urteile in Versen abgefasst werden können, ist eine Frage des aptum und kommt auf den Rezipienten an. Wenn die Betroffenen den Eindruck erhalten könnten, „über ihr gerichtlich geltend gemachtes oder verteidigtes Recht werde lediglich mit Spott und Vorurteilen entschieden“270, so ist diese Urteilsform nicht angemessen. Wenn aber beispielsweise die Prozessparteien reimen (z. B. die Mahnung gereimt war), könnten sie ein gereimtes Urteil als Beleg für das Humorverständnis und Einfühlungsvermögen des Richters ansehen.271 Der Stil des Urteils kann also sowohl dem Verständnis abträglich sein als auch das Verständnis fördern. Was passend ist, kommt auf das Auditorium an. (2) Die Arbeiten von Sobota haben gezeigt, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes in den Urteilsbegründungen Stilfiguren einsetzt.272 Dabei ist die Abgrenzung zwischen Stilfigur und Argument273 bzw. zwischen Logos, Ethos und Pathos274 sicher problematisch, doch kann ihre Methode zumindest eine Tendenz angeben, an welchen Stellen Stilfiguren gehäuft eingesetzt werden.275 Ihre Arbeiten zeigen, dass Stilfiguren gerade an problematischen Punkten auftreten. Stilfiguren seien kein bloßer Redeschmuck,

267 Perelman (1977 / 1997), S. 35. Siehe auch Perelman / Olbrechts-Tyteca (1988 / 1992), S. 22 ff. 268 Siehe dazu auch den folgenden Abschnitt d). 269 Wassermann (1990), S. 70. Ein gutes Beispiel für eine gestörte Kommunikation zwischen Gericht und Beklagtem ist bei Ogorek / Simon (1985 / 1991), S. 219 f. aufgeführt. 270 So schreibt Putzo (1987), S. 1426 zu Recht über das Bierkutscher Urteil des Amtsgerichts Köln (Urteil vom 12. 10. 1984, abgedruckt in NJW 1986, S. 1266), welches allerdings nicht in Versform abgefasst war, sondern einen „ironisch-satirischen“ Ton hatte. 271 Diesen Fall (und viele weitere) schildert Beaumont (1990), S. 1969 f. 272 Vor Sobota wurden Bundesverfassungsgerichtsurteile schon von Schreckenberger (1978), S. 141 auf rhetorische Aspekte untersucht. 273 Sobota (1992), S. 232. 274 Sobota (1996), S. 120 ff.: „Unter dem Begriff Logos wird erfasst, wie intensiv sich ein Autor auf Argumente stützt“ (S. 120). „Unter dem Begriff Ethos fragt die Rhetorik nach der Haltung des Redners: Wie bezieht er sich auf die Sitten, die Institutionen und prägenden Wertvorstellungen seines Umfeldes?“ (S. 121). „Das Pathos eines Urteils wurde durch Bestimmung der rhetorischen Figuren, also der nicht-argumentativen Stilmittel erfasst“ (S. 121). Zu den Begriffen „logos“, „ethos“ und „pathos“ siehe auch Meyer (1999), S. 289 ff. 275 Der Problematik ist sich Sobota (1992) bewusst. Da es keine exakte Definition der Stilfiguren gebe, sei ihre Methode notwendigerweise ungenau, da keine Methode exakter sein könne, als ihr Gegenstand (S. 232 f.).

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3. Kap.: Die Kriterien

sondern ein Mittel, um auch an Punkten zu überzeugen, die sich argumentativ schlechter stützen lassen. Der juristische Stil könne deshalb nicht auf sie verzichten: „Solange sich die Grundmuster, nach denen der Mensch seine Wirklichkeit herstellt, nicht wesentlich ändern, wird der ,irrationale‘, rein sprachkünstlerische Aspekt der Jurisprudenz das Rechtsleben bestimmen – gleichgültig, ob dies von der Rechtstheorie akzeptiert wird oder nicht. Eine ,methodenehrliche‘ Rechtsreflexion sollte diese Seite des Rechts in ihr Weltbild aufnehmen.“276

d) Das Problem Ein Urteil ist einerseits eine Einzelentscheidung bezogen auf den Streit zwischen Kläger und Beklagtem. Andererseits ist es aber auch die Anwendung eines Rechtssystems, dessen Interpretation und Weiterbildung. Das Urteil ist also auch richtungsweisend für weitere Entscheidungen. Wenn der Richter das Urteil verfasst, hat er deshalb verschiedene Rezipienten zu beachten: Streitparteien, Anwälte, Presse, Richter etc. Dies macht es dem Richter unmöglich, eine Urteilsbegründung zu formulieren, die allen potentiellen Empfängern gerecht wird. Für die Prozessparteien – meist juristische Laien – müsste beispielsweise auf Fachbegriffe verzichtet werden, die jedoch häufig existieren, um eine genauere Beschreibung der Rechtslage zu ermöglichen. Deshalb schreibt Wassermann z. B.: „Die Aufgabe, die Entscheidung sowohl juristisch korrekt als auch für den Bürger verständlich zu machen, ähnelt oft genug der Quadratur des Kreises.“277

Jaspersen hält es für eine Fiktion, dass eine Verständlichkeit des Urteils für Fach- und Laienwelt erreichbar sei.278 Paul bringt das Problem folgendermaßen auf den Punkt: „Die Kompromißformel lautet: soviel Rechtssicherheit wie nötig, soviel Verständlichkeit wie möglich. Das rechte Maß lehrt der Einzelfall, eine ideale Lösung gibt es nicht.“279

Fluck nennt die Situation der Rechtssprache paradox, da sie allgemeinverständlich sein müsse, also als Fachsprache ständig den Bezug zur Gemeinsprache zu gewährleisten habe.280 Konflikte zwischen verschiedenen Verständlichkeitsvorstellungen lassen sich leicht denken. Da Menschen unterschiedliche Sprachkenntnisse haben, unterschiedlich sozialisiert sind und auch im Vorwissen differieren, wird es immer Verständigungsschwierigkeiten geben – nicht nur zwischen Juristen und Rechtslaien. Allerdings werden sich Juristen untereinander besser verstehen, da 276 277 278 279 280

Sobota (1992), S. 237. Siehe auch Sobota (1996), S. 131 ff. Wassermann (1983), S. 60. Jaspersen (1998), S. 141. Paul (1983), S. 118. Fluck (1980 / 1991), S. 41.

9. Bindung an Verständlichkeit

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sich ihr Vorwissen und ihre Sozialisation ähneln. Es kann also nicht darum gehen, das Verständigungsproblem zu lösen, sondern nur darum, es zu verringern.

e) Verringerung des Problems Da das Urteil sowohl juristisch einwandfrei als auch dem juristischen Laien verständlich sein soll, liegt es nahe, das Urteil juristisch einwandfrei zu verfassen, es den Prozessparteien jedoch in für sie einfachen Worten zu erläutern. Dies setzt natürlich die Fähigkeit des Richters voraus, sich in die Sprachwelt der Prozessparteien einzudenken – eine nicht immer einfache Aufgabe.281 Ferner setzt es voraus, dass die Prozessparteien bei der Urteilsverkündung anwesend sind – ein Umstand, der heutzutage keineswegs selbstverständlich ist, und mit an der Schwierigkeit liegen könnte, der juristischen Fachsprache zu folgen.282 Deshalb soll hier auf zwei weitere Möglichkeiten hingewiesen werden, Urteile verständlicher zu machen.

aa) Stilistische Möglichkeiten Da über Stil und Verständlichkeit gestritten werden kann, lassen sich kaum allgemeingültige Regeln aufstellen wie: kurze Sätze, nur aktive Formulierungen, keine Substantivierungen etc.283 Daraus kann natürlich nicht geschlossen werden, dass keine Verbesserungsmöglichkeiten gegeben wären. Fachbegriffe sollten beispielsweise sparsam eingesetzt werden284 – vor allem sollten sich Richter davor hüten, ihre Entscheidungsunsicherheit hinter einer pompösen Prestigesprache zu verstecken.285 Letztlich gibt es auch abschreckende Formulierungsbeispiele, bei denen ein breiter Konsens darüber besteht, dass eine bessere Formulierung (bei gleicher Genauigkeit) möglich ist. Beispielsweise wird niemand bestreiten, dass 281 Goebel (2001), S. 128 f., S. 140 ff. betont die Schwierigkeit, sich auf die Lebensform (bzw. Sprachwelt) des Anderen einzustellen, hält diese Aufgabe jedoch nicht für gänzlich unmöglich. Diese Aufgabe sei zumindest als ein Aufruf zu verstehen: „Das Gebot unparteilicher Normanwendung muß innerhalb des Rechtssystems zumindest als ein Aufruf (als eine Einstellung, als eine innere Haltung oder als das Bewusstsein von Differenz) zur Erweiterung der Grenzen und der Rigidität der eigenen Lebensform durch ein ,Vermögen der Übergänge‘ begriffen werden, als Aufruf zur ,Dezentralisierung des eigenen Selbst- und Weltverständnisses‘, als Aufruf zur Übersteigerung von Lebensformen, ( . . . )“ (S. 141). 282 Siehe auch Laumen (1984), S. 98: „Vor allem ist aber zu bedenken, dass vielen Rechtssuchenden die Gerichtsatmosphäre nur deshalb fremd erscheint, weil die Art und Weise der Verhandlung vielfach wenig einladend ist. Unübersichtliche Formen, fehlendes Eingehen auf die Belange und das Niveau der Rechtssuchenden sowie die mangelnde Verständlichkeit der Sprache sind es doch gerade, die den Bürger vor der Teilnahme an seinem Verfahren abhalten.“ 283 Zu dem Problem siehe Jaspersen (1998), S. 181; Grewendorf (2000), S. 102. 284 Wassermann (1990), S. 69. 285 Jaspersen (1998), S. 181.

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3. Kap.: Die Kriterien

„Somit hat Huber das Schwein gestohlen.“ verständlicher ist als „Hiernach war die Begangenschaft des Diebstahls seitens des Angeklagten zu 1. von seiten des Gerichts als für festgestellt zu erachten.“286 Statt vieler Detailregeln sollte der Richter einfach bedenken, dass sein Urteil dem juristischen Laien ein gewisses Hintergrundwissen vermitteln muss, um verständlich zu sein. In der Studie von Dietrich und Kühn über die Verständlichkeit von juristischen Texten (am Beispiel von Erläuterungen und besonderen Bedingungen bei Haftpflichtversicherungen) stellen sie zusammenfassend fest: „Ein juristischer Text ist einem nicht-juristischen Leser in dem Maße verständlich, wie er das für seine Interpretation erforderliche, dem Nicht-Juristen nicht zu Gebote stehende Hintergrundwissen zusätzlich vermittelt. Mit der Sprache kommt auch der Nicht-Jurist zurecht, wenn man ihm Zeit läßt.“287

bb) Gesellschaftliche Möglichkeiten Es wurde bereits erwähnt, dass die Möglichkeiten, ein gutes Urteil zu fällen, nicht allein in der Hand des Richters liegen. Dies gilt auch für die Verständlichkeit von Urteilen, selbst wenn dies selten so gesehen wird: „Die These von der Bringschuld der Institutionen bedeutet auch, daß wir lieber von der Bürgerfremdheit des Rechts als von der Rechtsfremdheit des Bürgers sprechen.“288

Fluck stellt fest, dass nicht allein die Fachleute vermitteln müssen, sondern auch das Bildungsniveau der Allgemeinheit erhöht werden muss.289 Demokratie bedeutet eben, dass es auch in der Verantwortung der Bürger liegt, sich zu informieren. Aber nicht nur der Bürger als Prozesspartei ist außer dem Richter für eine gelingende Kommunikation verantwortlich. Den Anwälten kommt eine zentrale Vermittlerrolle zu, sofern sie am Prozess beteiligt sind. Ferner ist auch der Gesetzgeber gefragt, denn „Gesetzesbegriffe sind die fachsprachliche Basis für rechtssprachliche Varianten. Wenn der Bürger nicht versteht, was Justiz und Verwaltung ihm schreiben, so liegt die Wurzel des Übels in der Gesetzgebung. Hier ist der Hebel anzusetzen.“290 Schließlich müssen alle, die die öffentliche Meinung maßgeblich beeinflussen (vor allem Journalisten und Politiker), die Kommunikation zwischen Richter und 286 Beispiel aus Reiners (1943 / 1961), S. 202. Auch die Eisenbahndefinition des Reichsgerichts gehört zu den Formulierungen, die allgemein als missglückt angesehen werden (RGZ 1, 252 – Urteil vom 17. 3. 1879). 287 Dietrich / Kühn (2000), S. 89. Eine Grenze bildet natürlich die Arbeitsökonomie: Nicht jedem kann alles erklärt werden (Wassermann (1990), S. 71). An dieser Stelle tritt möglicherweise das Kriterium „Verständlichkeit“ in ein Spannungsverhältnis zum Kriterium „Zeit“. 288 Ermert (1983), S. 13. 289 Fluck (1980 / 1991), S. 44. 290 So jedenfalls die plausibel scheinende Hypothese von Paul (1983), S. 127.

10. Bindung an die Verfassung?

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Bevölkerung unterstützen. Dies setzt voraus, dass sie der Versuchung widerstehen, Urteilsbegründungen bewusst zu verkürzen, um sie medienwirksam kritisieren zu können. Urteilskritik ist in der Demokratie notwendig, aber sie ist gefährlich, wenn sie gar nicht darum bemüht ist, die Urteilsgründe zu verstehen.291

10. Bindung an die Verfassung? Da wir im Dezimalsystem denken, hätte es eine gewisse Ästhetik, genau zehn Kriterien zu präsentieren. Allerdings ist die Verfassung kein weiteres Kriterium, weshalb die Überschrift auch mit einem Fragezeichen versehen wurde. Das Fragezeichen soll nicht suggerieren, dass es keine Bindung an die Verfassung gäbe. Vielmehr ist die Verfassungsbindung bereits unter den genannten Kriterien berücksichtigt worden. Da in der Rechtstheorie je nach dem Verfassungsverständnis des jeweiligen Autors sehr unterschiedliche Vorstellungen über den rechtstheoretischen Stellenwert der Verfassung vorhanden sind, wird abschließend aufgezeigt, dass diese Vorstellungen in den bereits genannten Kriterien integriert sind. Der hauptsächlich begriffliche Streit um die Bedeutung der Verfassung bedurfte in dieser Arbeit ebenso wenig einer Klärung wie die ebenfalls unergiebige Frage nach dem „richtigen“ Rechtsbegriff. a) Die Verfassung als Gesetz Zunächst kann die Verfassung als Gesetz angesehen werden. In diesem Fall ist der Richter an den Wortlaut der Verfassung gebunden, wie es unter „Bindung an den Wortlaut“ dargestellt wurde.292 Dass die Verfassung im Gegensatz zum „einfachen“ Gesetz nur mit einer qualifizierten Mehrheit geändert werden kann, erhöht zwar ihre demokratische Legitimität, jedoch kann allein daraus kein qualitativer 291 Beispiele finden sich bei Lamprecht (1995), S. 54 ff.; Simon (1983), S. 4 ff. Würtenberger (2001), S. 205 f. betont ebenfalls die Notwendigkeit einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Medien und Rechtsprechung für die Akzeptanz von Gerichtsurteilen. 292 Historisch mag die Verfassung eine Bedeutung gehabt haben, die sie von einfachen Gesetzen abhob. Ob dies heutzutage noch der Fall ist, kann bezweifelt werden. Siehe hierzu Stolleis (1990 / 2001), S. 18: „Vielleicht ist es wirklich so: Die alten Zeiten des ,Dritten Standes‘ sind längst erfüllt und zum Besitz aller Menschen geworden, die früheren politischen Kämpfe sind nur noch Erinnerungen, die Verfassung ist nicht mehr die ,heilige Urkunde‘ des politischen Konsenses, sondern nur noch ein speziell qualifiziertes Gesetz, aus dem der Bürger seine Ansprüche ableiten und mit dem er seine Freiheit sichern kann. Wenn diese Beobachtung richtig ist, dann könnte wirklich jene Epoche zu Ende gehen, in der die ,Verfassung‘ den zentralen Punkt des staatlichen Lebens darstellte. Diese Prognose könnte vielleicht den Verfassungsrechtler beunruhigen; für den Historiker ist es ein normaler Vorgang von ,rise and decline‘. Die Idee der Verfassung ist aus bestimmten historischen Gründen geboren worden und hatte ihre Konjunktur vor allem im 19. Jahrhundert. Ebenso könnte sie aus historischen Gründen wieder an Kurs verlieren und in den Hintergrund treten, jedenfalls solange ruhige und freiheitliche Verhältnisse herrschen.“

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3. Kap.: Die Kriterien

Unterschied zum einfachen Gesetz gesehen werden, denn auch solche Gesetze können mit einer qualifizierten Mehrheit verabschiedet werden.293 Auch dass die Verfassung im Gegensatz zum Gesetz besonders abstrakt sei, ist lediglich tendenziell zutreffend, wenn beispielsweise Artikel 16a GG mit § 242 BGB verglichen wird. Dreier ist deshalb zuzustimmen, wenn er schreibt: „Gewiß weist das Verfassungsgesetz gegenüber anderen Gesetzen Besonderheiten auf. Sie liegen in seiner Eigenart als Grundgesetz politisch-staatlicher Ordnung und äußern sich formal vor allem in seiner erschwerten Abänderbarkeit. Inhaltlich manifestieren sie sich in einer hohen Ideologieanfälligkeit zentraler Gehalte des Verfassungsrechts. Das gilt besonders für die verfassungsrechtlichen Generalklauseln der Grundrechts- und der sog. Staatszielbestimmungen. ( . . . ) Doch insoweit ist der Unterschied zu anderen Gesetzen nur graduell und nicht prinzipiell. Denn auch diese enthalten Generalklauseln, deren Interpretation oder Konkretisierung vor ähnliche Probleme stellt. Die Besonderheiten des Verfassungsgesetzes ändern somit nicht Grundsätzliches am Charakter der Verfassungsinterpretation als Gesetzesinterpretation.“294

b) Die Verfassung als besonderes „Gesetz“ Die besondere Bedeutung der Verfassung veranlasst einige Autoren, sie vom Gesetzesbegriff zu unterscheiden. Schon Aristoteles hat in der Politik zwischen Verfassung und Gesetz getrennt.295 Diese schon in der Antike vollzogene Unterscheidung mag mit dafür verantwortlich sein, dass der Verfassung ein überragender Wert gegenüber dem einfachen Gesetz zugebilligt wird.296 Jedenfalls werden zwei Aspekte angeführt, die der Verfassung einen anderen Stellenwert als dem einfachen Gesetz geben: Einerseits sei die Verfassung so abstrakt, dass sie anders interpretiert werden müsse als das einfache Gesetz (aa). Andererseits komme der Verfassung eine so grundlegende Bedeutung zu, dass sie auf das gesamte Rechtsgebiet ausstrahle (bb).

293 Jellinek (1922 / 1960), S. 533 f. sieht in der erhöhten formellen Rechtskraft die einzige Unterscheidungsmöglichkeit zu einfachen Gesetzen. 294 Dreier (1976), S. 106 f. 295 Aristoteles, Politik, 1289a, 16 ff.: „Die Verfassung ist jene Ordnung für Staaten, die sich auf die Magistraturen bezieht, die Art ihrer Verteilung regelt und bestimmt, welches der herrschende Faktor im Staat und welches das Ziel der jeweiligen politischen Gemeinschaft ist; die Gesetze aber sind es, die, gesondert von jenen Verfassungsbestimmungen, die Norm abgeben, nach der die Regierenden regieren und den Übertretern wehren sollen.“ 296 So die These von Jellinek (1922 / 1960), S. 506, wobei im von ihm angeführten Aristoteles-Zitat (vgl. vorangehende Fußnote) nicht zwischen der Verfassung als empirischer Machtverteilung und Verfassung als Wertvorgabe unterschieden wird, denn die Verfassung gibt nach Aristoteles einerseits den herrschenden Faktor im Staat an und andererseits bietet sie eine Zielbestimmung der politischen Gemeinschaft.

10. Bindung an die Verfassung?

145

aa) Verfassungsinterpretation Böckenförde meint, die Verfassung müsse anders interpretiert werden, als das einfache Gesetz, da letzteres überwiegend konditional, die Verfassung jedoch final konzipiert sei.297 Die Verfassung diene als Rahmenordnung und würde als solche nur die politischen Entscheidungsvorgänge ordnen und Grundsatzentscheidungen treffen.298 Ähnlich sieht es Grimm, wenn er schreibt: „Von anderen Rechtsnormen unterscheidet sich das Verfassungsrecht nächst dem Rang vor allem durch den Gegenstand. Es bezieht sich konstituierend und regulierend auf die oberste Gewalt. Deswegen erschöpft es sich aber nicht etwa im Staatsrecht oder gar in der Staatsorganisation. Seine Normen sind gewöhnlich nicht nur formeller, sondern auch inhaltlicher Natur. Gerade darin übersteigt die Verfassung das Staatsrecht. Indem der Staat nämlich seine Aufgaben in bezug auf die Gesellschaft erfüllt, bilden die an ihn adressierten Strukturbestimmungen, Zielvorgaben und Tätigkeitsschranken zugleich Grundprinzipien der Sozialordnung. Als solche sind sie freilich lapidarer und konkretisierungsbedürftiger als normales Gesetzesrecht Überdies fällt Verfassungsrecht aufgrund seiner Entstehung auch fragmentarischer und kompromißhafter aus als einfaches Recht.“299

Friedrich Müller hält wegen der fundamentalen Regelungsbereiche der Verfassung eine eigene Methodik des Verfassungsrechts für erforderlich.300 Hesse beschreibt die Verfassungsinterpretation zwar zunächst als einen bei jedem Textverständnis erforderlichen hermeneutischen Vorgang, stellt jedoch einige für die Verfassung spezifische Prinzipien der Interpretation auf.301 Eine gewisse Sonderstellung nimmt Luhmann ein, wenn er die Verfassung als strukturelle Kopplung zwischen Rechtssystem und politischem System ansieht. Zwar bliebe nach dieser Vorstellung die Verfassung ein (oberstes) Gesetz302, doch würde es dem politischen System deutlich mehr Möglichkeiten eröffnen, auf das Rechtssystem zur Durchsetzung ihrer Ziele Einfluss zu nehmen.303 Seitdem das Begriffspaar „verfassungsmäßig / verfassungswidrig“ neben „rechtmäßig / rechtswidrig“ benutzt wird, müsse zwischen Gesetz und Verfassung getrennt werden, denn nur Gesetze könnten verfassungswidrig sein.304

Böckenförde (1976), S. 57 ff. Ebenda, S. 58, 86 f. 299 Grimm (1989), S. 15. 300 Müller (1997), Rdnr. 291. 301 Hesse (1984), Rdnr. 49 ff. Zu den von ihm aufgeführten Prinzipien zählt beispielsweise das Prinzip der praktischen Konkordanz (Rdnr. 71). 302 Luhmann (1993 / 1995), S. 478. Siehe auch S. 473 f.: „Mit gutem Recht behandelt das Rechtssystem die Verfassung als ein geltendes Gesetz, das auszulegen und anzuwenden ist.“ 303 Ebenda, S. 471. 304 Ebenda, S. 475. 297 298

10 Rafi

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3. Kap.: Die Kriterien

bb) Verfassung als Werteordnung Ein weiterer Unterschied der Verfassung zum einfachen Gesetz wird darin gesehen, dass die Verfassung eine objektive Werteordnung bilde, die auf alle Rechtsgebiete Einfluss nehme: „Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Werteordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt. Dieses Wertsystem ( . . . ) muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse.“305

Alexy sieht die zentrale Rolle der Grundrechte als Teil der Verfassung in ihrer formellen und materiellen Fundamentalität, womit gemeint ist, dass die Verfassung einerseits an der Spitze des Stufenbaus der Rechtsordnung steht (formelle Fundamentalität) und andererseits materielle Vorgaben enthält, die den Inhalt aller einfachgesetzlichen Rechtsnormen mitbestimmen.306 Inwieweit es berechtigt ist, der Verfassung einen qualitativ anderen Stellenwert einzuräumen als anderen Gesetzen, braucht hier nicht entschieden zu werden. Sowohl die Autoren, die eine eigene Verfassungsinterpretation entwickeln als auch diejenigen, die die Verfassung als Werteordnung betrachten, gehen über den Wortlaut der Verfassung hinaus, wenn sie ihr eine Sonderstellung im Rechtssystem zubilligen. Sowohl die Begründung der Sonderstellung als auch deren konkrete Ausgestaltung kann nicht mit dem Gesetzeswortlaut begründet werden. Sie stellt in Bezug auf die Bedeutung der Verfassung ein Vorurteil dar, welches dem Richter die Entscheidungsarbeit erleichtert, wenn es institutionell anerkannt ist. Ein Richter braucht heutzutage z. B. nicht mehr eine „Drittwirkung“ von Grundrechten herzuleiten. Dadurch wird jedoch auch deutlich, dass alle anerkannten („vertretbaren“) Ansichten über die Sonderstellung der Verfassung Teil der juristischen Dogmatik sind. Sie sind als institutionell anerkannte Vorurteile bereits im Abschnitt „Bindung an Dogmatik“ enthalten.307 BVerfGE 7, 198, 205. Alexy (1985 / 1994), S. 473 ff. Zur formellen Fundamentalität siehe auch Kelsen (1934 / 1994), S. 73 ff. Alexy tut Kelsen jedoch Unrecht, wenn er meint, sein dynamisches Prinzip sei rein formell (Alexy (1985 / 1994), S. 473), denn Kelsen räumt der Verfassung auch die Möglichkeit ein, materiellrechtlich auf die Gesetze Einfluss zu nehmen: „Das Recht regelt seine Erzeugung; und zwar in der Weise, daß die eine Rechtsnorm das Verfahren, in dem eine andere Rechtsnorm erzeugt wird, und – in verschiedenem Grade – auch den Inhalt der zu erzeugenden Norm regelt“ (S. 74). „Das Verhältnis zwischen einer höheren und einer niederen Stufe der Rechtsordnung, wie zwischen Verfassung und Gesetz oder Gesetz und richterlichem Urteil, ist eine Relation der Bestimmung oder Bindung: die Norm höherer Stufe regelt – wie bereits dargestellt – den Akt, durch den die Norm tieferer Stufe erzeugt wird ( . . . ); sie bestimmt dabei nicht nur das Verfahren, in dem die niedere Norm erzeugt wird, sondern eventuell auch den Inhalt der zu erzeugenden Norm“ (S. 90 f.). 307 Pawlowski (1999), Rdnr. 756 ff., 849 ff., 888 ff. bespricht die Bedeutung von Verfassungswerten ebenfalls im Abschnitt „Theorie der juristischen Dogmatik“, wobei sein Dogma305 306

10. Bindung an die Verfassung?

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c) Verfassung als Zustand Letztendlich kann die Verfassung auch empirisch verstanden werden. Es ginge dann nicht mehr um die Frage, welche Verfassung ein Staat hat, sondern in welcher Verfassung er ist. Carl Schmitt trennt deshalb scharf zwischen „Verfassung“ und „Verfassungsgesetz“. Die Verfassung mache Form und Art einer bereits bestehenden politischen Einheit bewusst und führe kraft des bereits existierenden politischen Willens zur Abfassung eines auf der Verfassung beruhenden Verfassungsgesetzes.308 Diese „normlose“ Verfassungsauffassung kritisiert Hermann Heller als ebenso wenig überzeugend, wie die „machtlose“ Verfassung von Hans Kelsen: „Dieser machtlosen, nur logisch, nicht rechtlich geltenden Norm stellt C. Schmitt die normlose, überhaupt nicht geltende Macht entgegen. ( . . . ) Jede Theorie, die ausgeht von der Alternative Recht oder Macht, Norm oder Wille, Objektivität oder Subjektivität verkennt den dialektischen Bau der staatlichen Wirklichkeit und ist bereits in ihrem Ansatzpunkte verfehlt.“309

Ob seine Interpretation von Kelsens Rechtslehre zutrifft, ist fraglich, denn der von C. Schmitt beschriebene politische Wille scheint bei Kelsen mit der Grundnorm gemeint zu sein. Entscheidend ist jedoch, dass auch Heller die Verfassung zumindest teilweise als eine empirische Machtverteilung und politische Situation begreift, deren Festlegung (und damit auch Normativierung) dann die Verfassung ausmacht.310 Auch bei Smend findet sich ein empirisches Element im Verfassungsbegriff, wenn er die Verfassung als „integrierende Wirklichkeit“ beschriebt: „Es ist kein Zufall, sondern wohlbegründet, daß die Neubegründung der politischen Lebensform, der Integration eines Volkes mit demselben Wort bezeichnet wird, wie die Konstituierung einer Versammlung.“311

Alle Versuche, den Verfassungsbegriff wirklichkeitsbezogen zu definieren, sind von dem Bemühen geprägt, über die Verfassung einen Rückbezug zur Gesellschaft herzustellen. Dieser notwendige Rückbezug wurde in dieser Arbeit bereits in den Abschnitten „Bindung an die gesellschaftliche Praxis“ und „Bindung an die gesellschaftlichen Moralvorstellungen“ geschaffen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Verfassung keinen eigenen Topos in der juristischen Argumentation bildet. Je nach Verfassungsverständnis wird die Verfassung entweder als Gesetz, als Orientierung oder als Zustand angesehen. Auf diese Weise wird die Verfassung mal in ihrem Wortlaut, mal als Grundlage für tikbegriff enger ist als der in dieser Arbeit vertretene (was wiederum bereits dadurch ersichtlich wird, dass er Präjudizien nicht in den Dogmatikbegriff integriert (vgl. Rdnr. 933 ff.)). 308 Schmitt (1927 / 1993), S. 20 ff. 309 Heller (1963), S. 277. 310 Heller (1963), S. 278 f. 311 Smend (1928), S. 192. 10*

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3. Kap.: Die Kriterien

die Entwicklung neuer Dogmen und mal als Bindeglied zwischen „normativem“ Recht und „empirischer“ gesellschaftlicher Praxis verstanden. Alle drei Aspekte sind bereits in den bisher erörterten Kriterien enthalten, so dass die Verfassung nicht als eigener zehnter Topos aufgeführt werden muss.

Schlussbetrachtungen In dieser Arbeit wurden neun Kriterien für ein gutes Urteil entwickelt, die im Falle ihrer Unvereinbarkeit im Sinne des Rechtsfriedens gegeneinander abgewogen werden sollen. Dabei ist die Bedeutung des jeweiligen Kriteriums von der konkreten Entscheidungssituation abhängig und die Interpretation der Situation eine Entscheidung des Richters. Diese Arbeit war nicht darum bemüht, dem Richter die Entscheidung zu erleichtern, sondern darum, ihm Maßstäbe an die Hand zu geben, die ihm eine verantwortungsvolle Entscheidung ermöglichen. Erst vor dem Hintergrund solcher Maßstäbe wird eine Urteilskritik sinnvoll, denn eine Beurteilung der Entscheidung ist nur mit gemeinsamen Maßstäben des Entscheidenden und der Beurteilenden wertvoll. Ansonsten wird lediglich aneinander vorbeigeredet. Gemeinsame Maßstäbe ermöglichen jedoch nicht nur eine sinnvolle Urteilskritik. Sie machen auch Gerichtsentscheidungen vorhersehbarer, denn es wird nicht mehr um das Ziel des Urteils gestritten, sondern „nur noch“ um das Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Dieses Mittel ist die Abwägung der angegebenen Kriterien im Sinne des Rechtsfriedens – und die Abwägung ist neben der Interpretation der Kriterien das dezisionistische Element des Urteils. Gerichtsentscheidungen bleiben durch die von den Kriterien begrenzten Argumentationsmöglichkeiten daher in vielen Fällen vorhersehbar. Dieser Umstand kann in Anlehnung an die moderne Chaosforschung veranschaulicht werden1, wenn das Rechtssystem als ein nicht determiniertes (bzw. determinierbares) – also chaotisches – System betrachtet wird: „. . . eine Rechtsordnung, die sich absolut determinieren ließe, wäre eine ineffektive und immobilisierte Ordnung. Unordnung führt zu einer neuen Ordnung und zu neuen Systematisierungen des Rechts. Genau so wie die externen Irritationen, vermögen es auch interne Unordnungsgründe, wie Antinomien, Ambivalenzen, Lücken usw. dem System neue Impulse und Reaktionspotenziale zu liefern.“2

Dabei macht Paroussis deutlich, dass Chaos und Ordnung nicht als sich ausschließende Gegensätze verstanden werden dürfen, sondern Ordnung im Chaos vorhanden ist.3 Man kann über eine komplexe Zahl nicht ohne Versuch wissen, ob sie zur Mandelbrotmenge gehört oder nicht.4 Ebenso wenig kann man im Vorfeld 1 2 3

Siehe z. B. Struck (1993) und Paroussis (2001) m. w. N. Paroussis (2001), S. 571 f. Paroussis (2001), S. 563 ff.

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Schlussbetrachtungen

wissen, wer vor Gericht Recht bekommt. Da sich bestimmte Strukturen in der Mandelbrotmenge wiederholen, ist es jedoch möglich, für bestimmte Punkte relativ sichere Hypothesen darüber abzugeben, ob sie zur Menge gehören oder nicht.5 Ebenso lassen sich für bestimmte Fälle sichere Hypothesen darüber aufstellen, wie der Prozess entschieden wird. Nicht nur die Chaostheorie kann verdeutlichen, wie die paradox anmutende Beschreibung der guten richterlichen Tätigkeit als gebunden dezisionistisch zu verstehen ist. Im 3. Kapitel 6. b) wurde bereits die Fortsetzung einer Zahlenreihe als ein Beispiel für gebundenen Dezisionismus erwähnt: Die Zahlenreihe kann mit jeder beliebigen Zahl fortgeführt werden, doch die durch die vorangehenden Zahlen gebildete Struktur lässt bestimmte Zahlen als die wahrscheinlichere Fortführung erscheinen. Das Beispiel der Zahlenreihe kann die individuelle Entscheidung des Richters als gebundene verdeutlichen. Betrachtet man das Rechtssystem als Ganzes, bietet sich eine Analogie zur Linguistik an: Eine konkrete Sprache (langue) stellt ein synchronisch festgelegtes System von Begriffen und grammatischen Regeln dar, während das Sprechen (parole) der einzelnen Mitglieder der Sprachgemeinschaft nur diachronisch beschrieben werden kann und sich der Festlegung entzieht.6 Je nach Betrachtungsweise ist es nun möglich, vom synchronischen Standpunkt aus die Möglichkeit gegenseitiger Verständigung zu erläutern und vom diachronischen Standpunkt aus die sprachlichen Veränderungen zu verdeutlichen. Beide Standpunkte sind für sich genommen jedoch unbefriedigend, denn synchronisch gesehen kann keine sprachliche Veränderung und diachronisch gesehen keine Verständigung dargestellt werden. Erst wenn die sprachliche Veränderung durch einen individuellen Sprechakt vor dem Hintergrund eines bestehenden Sprachsystems gesehen wird, auf den sich der Sprechakt bezieht, kann die Sprache befriedigend erläutert werden. Ebenso ist jedes richterliche Urteil diachronisch gesehen reine Dezision. Ein gutes Urteil muss jedoch die (synchronisch) bestehende „rechtliche“7 Situation angemessen würdigen. Die angemessene Würdigung besteht darin, die bestehenden Kriterien für ein gutes Urteil synchronisch in Betracht zu ziehen, um dann in einer Abwägung hinsichtlich des Rechtsfriedens zu einer Entscheidung zu gelangen, die das Rechtssystem (diachronisch) verändert. Was Flusser als den Widerspruch der menschlichen Bedingungen überhaupt bezeichnet, 4 Gleick (1988), S. 226: „The only way to see what kind of shape goes with a particular equation is by trial and error, . . .“. Die Mandelbrotmenge ist die Menge aller komplexen Zahlen, für die gilt, dass sie bei einer iterierten Anwendung der Funktion zn‡1 ! z2n ‡ c nicht gegen Unendlich streben (ebenda, S. 227). 5 Die Strukturähnlichkeiten in der Mandelbrotmenge sind an den Bildern in Gleick (1988) gut zu erkennen. Die Bilder sind eine graphische Darstellung der komplexen Zahlen auf einer Gaußschen Ebene. 6 Zur Unterscheidung zwischen langue und parole siehe Saussure (1915 / 1967) S. 17. 7 Unter „rechtlich“ werden hier alle genannten neun Kriterien gefasst. Es ging in der Arbeit nicht darum, einen eigenständigen Rechtsbegriff zu entwickeln. Sollen jedoch „Rechtsprechung“ und „Recht“ aufeinander bezogen sein, so wäre es nur konsequent, den Rechtsbegriff mit den neun Kriterien zu definieren.

Schlussbetrachtungen

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nämlich zugleich in der Welt zu sein und ihr entgegen zu stehen8, führt auch zum Oxymoron des gebundenen Dezisionismus: Der Richter ist als Richter Teil des Rechtssystems, betrachtet dieses bei der Entscheidung jedoch als etwas ihm Entgegenstehendes. Deshalb ist der Richter gebunden und frei zugleich: Als Teil des Systems kann er dieses dezisionistisch mit jedem Urteil verändern. Indem er sich am System orientiert und es insoweit als etwas ihm Entgegenstehendes betrachtet, bindet ihn das System jedoch auch an bestimmte Strukturen. So wird eine Rechtstheorie denkbar, die den Richter bei Anerkennung aller seiner Entscheidungsgewalt bindet und sich nicht anmaßt, ihm die Entscheidung abzunehmen.

8

Flusser (1996 / 2003), S. 33.

Literaturverzeichnis* Albert, Hans: Traktat über kritische Vernunft, 2. Auflage, Tübingen 1968 / 1969. – Traktat über rationale Praxis, Tübingen 1978. Alexy, Robert: Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, in: ARSP Beiheft 25 (1985), S. 13 – 29. – Zur Kritik des Rechtspositivismus, in: ARSP Beiheft 37 (Hrsg.: Ralf Dreier), Stuttgart 1990, S. 9 – 26. – Theorie der juristischen Argumentation, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1978 / 1991. – Theorie der Grundrechte, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1985 / 1994. – Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg / München 1992. – Eine diskurstheoretische Konzeption der praktischen Vernunft, in: ARSP Beiheft 51 (1993), S. 11 – 29. Allais, Maurice: Criticism of the postulates and axioms of the American School, in: Rationality in action (Hrsg.: Paul K. Moser), Cambridge 1990, S. 113 – 139. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, 13. Auflage, München 1970 / 1998. Aristoteles: Topik, in: Philosophische Schriften 2, Hamburg 1995. – Nikomachische Ethik, in: Philosophische Schriften 3, Hamburg 1995. – Politik, in: Philosophische Schriften 4, Hamburg 1995. – Metaphysik, in: Philosophische Schriften 5, Hamburg 1995. Asch, Solomon Eliot: Social Psychology, New York 1955. Assmann, Heinz-Dieter: Kommentar, in: Allokationsordnung in der Rechtsprechung, Beiträge zum Travemünder Symposium zur ökonomischen Analyse des Zivilrechts (23. – 26. 3. 1988, Hrsg.: Claus Ott / Hans-Bernd Schäfer), Heidelberg 1989, S. 45 – 49. Austin, John L.: How to do things with words, Oxford 1975. Barthes, Roland: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (1966), in: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, S. 102 – 143. – Die Handlungsfolgen (1969), in: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, S. 144 – 155. Baumbach, Adolf / Lauterbach, Wolfgang / Albers, Jan / Hartmann, Peter: Zivilprozeßordnung, 58. Auflage, München 2000 (zit.: BLAH / Bearbeiter).

* Sind zwei Jahreszahlen angegeben, so bezieht sich die erste auf die Erstausgabe und die zweite auf die hier zitierte Publikation.

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Anhang Folgende Paragraphen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch wurden in der vor der Schuldrechtsreform 2002 bestehenden Fassung in der Arbeit erwähnt: § 275 I BGB: Der Schuldner wird von der Verpflichtung zur Leistung frei, soweit die Leistung infolge eines nach der Entstehung des Schuldverhältnisses eintretenden Umstandes, den er nicht zu vertreten hat, unmöglich wird. § 305 BGB: Zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ist ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich, soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. § 325 I 1 BGB: Wird die aus einem gegenseitigen Vertrage dem einen Teil obliegende Leistung infolge eines Umstandes, den er nicht zu vertreten hat, unmöglich, so kann der andere Teil Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen oder von dem Vertrage zurücktreten.

Sachwortverzeichnis Abdrift: 81 Adaptionsfolgen: 92 – 94 Akzeptanz: 64, 91, 105, 109, 116, 121, 123, 127, 136, 143 Analogie: 16, 20, 87, 106, 125, 132, 133, 135, 147, 149 Anerkennung: 63 – 67, 71, 72, 91, 126, 127 Argumentation: 13, 16, 22, 24, 32, 34, 38, 41, 42, 43, 47, 48, 81, 83, 85, 87, 91, 98, 99, 101, 103, 104, 106, 125, 132, 133, 135, 147, 149 Auslegung: 18 – 24, 30, 37 – 39, 46, 83, 95 – 98, 135 – subjektive versus objektive: 20 – historische: 19 – grammatikalische siehe Wortlautauslegung – teleologische: 13, 20, 38, 86 – 87 – verfassungskonforme: 20 – Wortlautauslegung: 18 Autorität: 43, 47, 48, 64 – 66, 68, 69, 71, 73, 74, 80, 82, 85, 88, 92, 99, 100, 102, 104, 105, 106, 110, 113, 114, 115, 125, 133, 134, 135, 137

Epikie: 108 exeptio doli: 90

Begriffsjurisprudenz: 12 Billigkeit: 111, 118

Hermeneutik: 13, 18 Herrschaft: 32, 63, 64, 73 herrschende Meinung: 103 – 105 homo oeconomicus: 93

Chaostheorie: 149, 150 Computer: 135 Dezisionismus: 41, 43, 44, 63, 66, 150, 151 Dilemmastruktur: 93, 94 Diskurstheorie: 32, 34, 37, 104, 125 Dispositiv: 125 Dogmatik: 12, 18, 41, 92, 99 – 107, 133, 146 Effizienz: 36, 37, 59 – 62 Einlassungszwang: 71 Entscheidung: 10 – 14, 43 – 44

Faustrecht: 62 – 63, 76 Fiktion: 54, 120, 140 Folgeerwägungen: 38 – 40, 86, 91 – 99 Freirechtslehre: 116 gebundener Dezisionismus: 41, 151 Gefangenendilemma siehe Dilemmastruktur Generalklauseln: 89 – 90, 107, 144 Gerechtigkeit: 25, 26, 49 – 53, 60, 63, 71, 74, 75, 107 – 109, 115 gesellschaftliche Praxis siehe Praxis Gesetzesbindung: 41, 86 Gesetzeslücke: 15 – 17 Gesetzespositivismus siehe Positivismus Gewalt: 27, 62 – 69, 71, 72, 73 – 78, 102, 107, 108, 113 – 115, 122, 145 Gewohnheitsrecht: 129 – 132 Grundrechte: 144, 146 gut: 13, 44 – 48, 78, 114 – 115

Ideologie: 51, 58, 144 Institution: 31, 36, 37, 46, 60, 61, 64, 67, 72, 81, 103, 105, 106, 129, 133, 139, 146 Interessenjurisprudenz: 17, 43 Interpretation siehe Auslegung Intuition: 25, 124, 133, 134 Iteration: 81 Judiz: 125

Sachwortverzeichnis Kommunikation: 32, 34, 80 – 81, 136 – 137, 139, 142 Konditionalprogramm: 46, 99, 143 Konsens: 29 – 39, 53, 59, 64, 99, 110 Logik: 16, 72, 76, 104, 122, 132 – 135 Lücke siehe Gesetzeslücke Macht: 17, 57, 63 – 67, 115, 125, 127, 128, 137, 144, 147 materiale Wertethik: 24 – 25 Minderheitenschutz: 112 – 115 Moral: 13, 26 – 30, 32, 50 – 52, 71, 74, 90, 94, 107 – 116, 123, 125, 126, 135, 147 Nationalsozialismus: 114 Naturrecht: 16, 25, 107, 127 Newcombs Paradoxie: 97 ökonomische Analyse des Rechts: 36 ökonomische Theorie des Rechts: 36 – 40 opinio necessitatis: 126, 130 – 131 Paradoxien: 44, 97, 133 – 134 Positivismus: 15, 16, 25, 47, 50, 52, 80, 126 – 128 Präjudizien: 27, 47, 52, 56, 105 – 106, 147 Praxis, gesellschaftliche: 125 – 132 Prinzipien: 26 – 29, 104 – 107, 110, 130, 135, 145 Prozessökonomie siehe Zeit Rationalität: 29, 31 – 32, 34, 37, 42, 44, 48, 51, 93, 95 – 98 Rechtsbegriff: 48, 50, 90, 109, 126, 131, 143, 150 Rechtsfolgen: 54, 57, 92 Rechtsfortbildung: 38, 58 – 59, 87 Rechtsfrieden: 62 – 78, 79, 82, 85, 91, 99, 109 – 111, 113 – 115, 117, 121, 123, 12, 133, 137, 149 – 150 Rechtsgefühl: 115, 116, 130 – 131

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Rechtskraft: 30, 57, 67, 69 – 71, 140 Rechtssicherheit: 25 – 26, 52, 55 – 57, 103, 108, 115, 118 Rechtsverweigerungsverbot 17 Regel: 11 – 12, 19, 21, 22 – 24, 26, 30, 31, 32, 34 – 38, 77, 85, 99, 100, 105, 107 – 108, 111 – 112, 118, 123, 124 – 125, 138, 141 Rhetorik: 102, 137 – 139 Sachverhaltskonstruktion siehe Tatbestandskonstruktion Selbsthilfe: 62 – 63, 68 – 70, 72, 76 – 77, 122 Signifikant / Signifikat: 80, 84 Sprache: 75, 82, 85, 86 – 89, 138, 140 – 142, 150 Stil: 137 – 141 strukturelle Kopplung: 129, 145 strukturierende Rechtslehre: 90 subjektive Auslegung siehe Auslegung Sure-thing principle: 96 – 97 Systemtheorie: 128 – 129 Tatbestandskonstruktion: 32, 119 – 125 teleologische Auslegung siehe Auslegung Topik: 20, 42, 79, 125 Transitivität: 95 – 96 Verfassung: 20, 41, 50, 107, 117, 135, 143 – 148 Verständlichkeit: 135 – 143 Vorverständnis: 18 – 20, 39, 46, 81 – 82, 121, 123 Wahrheit: 12, 49, 53 – 55, 81, 118, 120, 133 Wertordnung: 24 Wortlautgrenze: 82 – 85 Zeit: 92, 101, 104, 115, 117 – 118, 123, 142 Zweckprogramm siehe Konditionalprogramm