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German Pages 433 [436] Year 2012
Briefkultur
Briefkultur Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard
Herausgegeben von Jörg Schuster und Jochen Strobel
De Gruyter
ISBN 978-3-11-027656-5 e-ISBN 978-3-11-027675-6
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Briefe und Interpretationen. Über Ansätze zu einer Geschichte der Briefkultur und über die Möglichkeit kulturhistorischer Skizzen mittels Brieflektüren .............................................................. XI Martin Luther an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Albrecht von Brandenburg, 31. Oktober 1517 .............. 1 UTE MENNECKE: Von der Kunst, demutsvoll einen kühnen Brief zu schreiben........... 7 Christian Fürchtegott Gellert an Moritz Ludwig Kersten, 25. Oktober 1748 ........................................ 19 SIKANDER SINGH: „Werden Sie doch verliebt“ – Ein Brief Gellerts im Kontext der Brieflehren der empfindsamen Aufklärung............ 23 Friedrich Gottlieb Klopstock an Meta Moller, 11. April 1751 ........ 33 JOACHIM JACOB: Hergestellte Nähe. Friedrich Gottlieb Klopstock – Meta Moller ..................................... 37 Wolfgang Amadeus Mozart an seinen Vater Leopold, 4. April 1787 ............................................................................................ 47 MATHIAS MAYER: Der Brief als Inszenierung von Unmittelbarkeit. Mozart schreibt seinem Vater............................................................... 49 Ludwig Tieck an „die Weller“, 17. August 1793................................ 57 JÜRGEN JOACHIMSTHALER: Empfindsamkeitsabwehr. Zu einem verschollenen Brief Ludwig Tiecks.................................... 59
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Georg Christoph Lichtenberg an Margarete Elisabeth Lichtenberg, 30. Juli 1797 ................................. 73 ULRICH JOOST: „Arme Ohmel“, „12 Zolle lange Schelmen“ und ein „loser Upstart Gentleman“. Über einen Ehebrief Lichtenbergs und dabei etwas zu Liebeskodierungen............................................... 75 Rahel Levin an Karoline Gräfin von Schlabrendorf, 11. Oktober 1808.................................................................................... 93 FRIEDERIKE WONSCHIK: Der Frauenbrief als Ausdruck weiblicher Solidarität und Handlungsfähigkeit. Ein Brief Rahel Levins an die Gräfin von Schlabrendorf.......................................................... 95 Heinrich von Kleist und Henriette Vogel, 20. November 1811............................................................................. 111 GÜNTER BLAMBERGER: Über Nähe und Ferne: Die Todeslitanei Heinrich von Kleists und Henriette Vogels ........113 Auguste Gräfin Bernstorff-Stolberg und Johann Wolfgang von Goethe, 15./23. Oktober 1822 und 17. April 1823 ....................................... 125 JOCHEN GOLZ: Ein Dialog der Konfessionen? Zu einem Briefwechsel zwischen Auguste Gräfin BernstorffStolberg und Goethe in den Jahren 1822 und 1823 ....................... 139 Alexander von Humboldt an Karl August Varnhagen von Ense, 24. Oktober 1834 ................... 151 THOMAS RICHTER: „Tadeln Sie aber nicht, ohne mir zu helfen.“ Alexander von Humboldt und Karl August Varnhagen von Ense im Dialog............................................................................. 155
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Johann Wolfgang von Goethe an Bettine Brentano, 9. Januar 1808 / Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835) .......................................... 165 WOLFGANG BUNZEL: Die Kunst der Retusche. Ein Originalbrief von Goethe an Bettine Brentano und seine Überarbeitung in Bettine von Arnims teilfingierter Quellenedition Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835) .......................................... 169 Otto von Bismarck an Leopold von Gerlach, 28. Dezember 1851 ............................................................................. 183 HANS-CHRISTOF KRAUS: Emanzipation eines „diplomatischen Säuglings“ – ein Brief Otto von Bismarcks an Leopold von Gerlach................ 187 Johannes Köster an seine Frau und seine Kinder, 24. April 1859....................................................................................... 199 WOLFGANG HELBICH: Ein Auswandererbrief von Millionen ............................................... 203 Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen, 14. und 31. Januar 1902..................................................................................... 213 ROBERT MATTHIAS ERDBEER: Herzblatt Haeckel. Wissenschaft als Grenzdiskurs der Gattung Liebesbrief...................................................................... 217 Rainer Maria Rilke an Magda von Hattingberg, 4. Februar 1914 .................................................................................... 231 JÖRG SCHUSTER: Im Schutzraum der Schrift – ein Brief Rainer Maria Rilkes an Magda von Hattingberg ............................. 233 Else Lasker-Schüler an Franz Marc, 9. (?) Januar 1916 ................. 243 CLAUDIA NATTERER: „Alles Leben wird Tapete“ – Else Lasker-Schülers letzter Brief an Franz Marc ................................................................ 247
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Franz Kafka an Milena Jesenská, Ende März 1922 ........................ 257 PHILIPP THEISOHN: Schreiben vor Dämonen. Franz Kafka an Milena Jesenská........................................................ 259 Nathan Wolf an seine Frau Auguste, 23. Mai 1941 ....................... 269 ANNE OVERLACK: „… dass mir das Schicksal auch noch die Trennung von Euch auferlegt, das ist fast mehr als ein Mensch zu ertragen vermag…“ – Nathan Wolf an seine Frau Auguste................................................. 275 Horst Rocholl an Gisela Rocholl, 9. September 1942.................... 283 JENS EBERT: Feldpostbrief von Dr. Horst Rocholl, geschrieben am 9. September 1942 vor Stalingrad ......................... 285 Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 21. Juli 1944 ............... 297 CHRISTIAN GREMMELS und FLORIAN SCHMITZ: Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge. Brief aus dem Wehrmachtuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel .......................... 299 Thomas Mann: Brief nach Deutschland. [Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe]. Thomas Mann an Walter von Molo, 2.–9. September 1945 ......... 309 JOCHEN STROBEL: Ein J’accuse – an alle! Thomas Manns Offener Brief an Walter von Molo....................... 317 Ingeborg Bachmann und Paul Celan, 28./29. Oktober und 31. Oktober/1. November 1957 ................. 333 SIBYLLE SCHÖNBORN: Nous deux encore? – Zu zwei Briefen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan aus dem Herbst 1957 ......... 351
Inhalt
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Hannah Arendt an Martin Heidegger, 20. März 1971.................... 363 ANTONIA GRUNENBERG: „Der Weg, den Du mir zeigtest, ist länger und schwerer als ich dachte.“ Ein Brief Hannah Arendts an Martin Heidegger............................................................................ 367 Thomas Bernhard an Siegfried Unseld, 18. Oktober 1972 ........... 377 OLAF KRAMER: Der Übertreibungskünstler als Geschäftsmann – ein Brief Thomas Bernhards an Siegfried Unseld........................... 381 Zwei Familienbriefe über die deutsch-deutsche Grenze hinweg, 16. Juli und 7. November 1980........................................... 395 INA DIETZSCH: Grenzen überschreiben? Ein deutsch-deutscher Gemeinschaftsbriefwechsel................................................................ 401
Briefe und Interpretationen. Über Ansätze zu einer Geschichte der Briefkultur und über die Möglichkeit kulturhistorischer Skizzen mittels Brieflektüren1 I. Forschungsfeld ‚Brief‘ Die Briefforschung hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine erfreuliche Konjunktur erlebt. Im Mittelpunkt des Interesses standen dabei zum einen bestimmte Epochen – insbesondere die als Blütezeit des Genres geltende Spanne von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum frühen 19. Jahrhundert2 – oder einzelne Autorinnen und Autoren wie Christian Fürchtegott Gellert, Georg Christoph Lichtenberg, Rahel Varnhagen, Annette von Droste-Hülshoff oder Eduard Mörike.3 Aufmerksamkeit erweckten in den letzten Jahren aber zunehmend auch systematische ______________ 1 2
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Für ihre Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage danken wir herzlich Herrn Samuel Reiter und Frau Aline Seidel, Marburg, sowie Frau Carolin Bruns, Osnabrück. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt/M. 1989; Elke Clauss: Liebeskunst. Untersuchungen zum Liebesbrief im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1993; Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1995; Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien u. a. 2000; Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830. Mit einem Beitrag von Edith Anna Kunz. Göttingen 2001; Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003. Vgl. Claudia Kaiser: „Geschmack“ als Basis der Verständigung. Christian Fürchtegott Gellerts Brieftheorie. Frankfurt/M. u. a. 1993; Rafael Arto-Haumacher: Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der Anfang einer neuen Briefkultur. Wiesbaden 1995; Ulrich Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber. Göttingen 1990; Jutta Juliane Laschke: Wir sind eigentlich, wie wir sein möchten, und nicht so wie wir sind. Zum dialogischen Charakter von Frauenbriefen Anfang des 19. Jahrhunderts, gezeigt an den Briefen von Rahel Varnhagen und Fanny Mendelssohn. Frankfurt/M. u. a. 1988; Barbara Breysach: „Die Persönlichkeit ist uns nur geliehen“. Zu Briefwechseln Rahel Levin Varnhagens. Würzburg 1989; Barbara Hahn: „Antworten Sie mir!“ Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel. Frankfurt/M., Basel 1990; Margaretmary Daley: Women of Letters. A Study of Self and Genre in the Personal Writing of Caroline Schlegel-Schelling, Rahel Levin Varnhagen, and Bettina von Arnim. Columbia, SC, 1998; Luisa Callejón Callejón: Briefliche Momentbilder. Lektüren zur Korrespondenz zwischen Rahel Levin Varnhagen und Pauline Wiesel. Berlin 2002; Walter Gödden: Die andere Annette. Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin. Paderborn u. a. 1991; Heike Spies: Literatur in den Briefen DrosteHülshoffs. Frankfurt/M. u. a. 2010; Kristin Rheinwald: Eduard Mörikes Briefe. Werkstatt der Poesie. Stuttgart, Weimar 1994.
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Aspekte der ‚Briefkultur‘. Nicht zuletzt aufgrund eines gesteigerten Interesses an aktuellen, mit dem Brief konkurrierenden Kommunikationsformen wie Telefon, E-Mail oder SMS wandte sich die Forschung besonders der Frage nach der Materialität und Medialität von Briefen zu.4 Auch das Problem der Autorschaft oder des mittels Briefen vorbereiteten eigenen Nachruhms sowie das Genre ‚Liebesbrief‘ rückten ins Blickfeld.5 Diese Ansätze führten jedoch, anders als im Fall literarischer Gattungen wie Roman, Lyrik oder Drama, bislang nicht zum Versuch, die gewonnenen Einzelergebnisse im Rahmen einer umfassenden gattungsgeschichtlichen Darstellung ,von den Anfängen bis zur Gegenwart‘ zusammenzuführen6 – und das ist vermutlich auch gut so. Eine umfassende Geschichte des deutschen Briefes, wie sie Georg Steinhausen 1889/91 vorlegte, erscheint heute als ein unmögliches und nicht einmal erstrebenswertes Projekt.7 Ist das methodologische Problembewusstsein gegenüber dem Konstruktionscharakter literaturgeschichtlicher Erzählungen generell gestiegen, so kommt im Fall des Briefs die Schwierigkeit hinzu, dass es sich nicht um eine Textsorte handelt, die allein den Regeln des literarischen Felds folgen würde. Literaturgeschichtliche Periodisierungen sind auf den Brief als Medium der Alltagskommunikation nur bedingt anwendbar, hier ist – insbesondere im Blick auf die bislang wenig untersuchte Briefkultur seit ______________ 4 5
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Vgl. vor allem Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter GoetheMuseum. Frankfurt/M., Basel 2008. Vgl. Jochen Strobel (Hg.): Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006; Detlev Schöttker (Hg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München 2008; Renate Stauf u.a. (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2008. Auch die Monographie von Reinhard M.G. Nickisch (Brief. Stuttgart 1991), die in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss, demonstriert die hier angesprochene Problematik, handelt es sich bei ihr doch um ein nützliches Hilfsmittel zur Orientierung in mehr als fünf Jahrhunderten Briefgeschichte, das aber zumindest partiell kaum mehr als ein niveauvolles name-dropping bietet. Vgl. Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Berlin 1889/91. Allerdings steht Steinhausen mit seinem – freilich national und völkerpsychologisch ausgerichteten – Versuch, die Briefgeschichte erstmals als nichttrivialen Einzelstrang einer allgemeinen Kulturgeschichte zu sehen, am Anfang einer sich zunächst in Gestalt von Anthologien, seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend auch in Forschungsbeiträgen manifestierenden Suchbewegung, die, ausgehend von einer ‚kleinen‘ Form, auf eine historiographische Beschreibung zunächst der Kultur des Briefs, darüber hinaus aber zudem auf eine Engführung von Brieflektüre und Kulturgeschichtsschreibung abzielt. Zu einer wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung Steinhausens vgl. Lars Deile: Kulturgeschichte als Kulturkritik. Nachfragen bei Georg Steinhausen. München 2008.
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der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts8 – von anderen Kontinuitätslinien auszugehen als im Bereich etwa der literarischen Avantgarden. Fragen der Periodisierung oder des Zusammenspiels der Entwicklung literarischer und alltagskommunikativer Formen sind bislang kaum befriedigend diskutiert worden. Sie verlangen nach einer interdisziplinären Herangehensweise sowie nach unterschiedlichen methodischen Zugriffen, mittels derer dem Brief als kommunikativem Phänomen im Spannungsfeld zwischen dokumentarischem Charakter und inszenatorisch-fiktionalem Potential beizukommen ist. Damit ist ein weites Feld für eine innovative Auseinandersetzung mit dem Problemfeld ‚Briefkultur‘ umrissen. Scheinen herkömmliche Periodisierungen und ‚große‘ historiographische Erzählungen im Fall dieses ‚kleinen‘ Genres fragwürdig und haben Kanonisierungsprozesse hier nur sehr bedingt stattgefunden, so hat die Konsequenz zunächst zu lauten: Hin zum Material, hin zu den Texten in ihrem jeweiligen kulturgeschichtlichen Kontext!
II. Ansätze zu einer Geschichte der Briefkultur – und: Brieflektüren als kulturhistorische Momentaufnahmen Die Ausrichtung des vorliegenden Bandes ist damit bereits skizziert. Er widmet sich einer Fragestellung, die für die Beschäftigung mit der Briefkultur grundlegend ist, bislang jedoch, wiederum anders als im Fall der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit anderen Gattungen, weitgehend ignoriert wurde: Wie eigentlich interpretiert man einen Brief? Dem gestiegenen Interesse an der ‚Briefkultur‘ trägt der Band Rechnung, indem er auf diese Frage Antworten zu geben versucht – nicht in Form einer theoretischen ‚Einführung in die Briefanalyse‘, sondern durch Einzelinterpretationen, die, sowohl was den ausgewählten Text als auch was den methodischen Zugriff betrifft, exemplarischen Charakter haben. Damit wird eine Lücke zwischen – häufig populären, teilweise kommen______________ 8
Vgl. Rainer Baasner (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999; Anne Overlack: Was geschieht im Brief? Strukturen der Briefkommunikation bei Else Lasker-Schüler und Hugo von Hofmannsthal. Tübingen 1993 sowie Jörg Schuster: „Kunstleben“. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes. Habilitationsschrift Marburg 2012 (erscheint 2013); aus komparatistischer Perspektive vgl. Vincent Kaufmann: Post Scripts. The Writer’s Workshop. Cambridge, Mass., London 1994 (frz. u.d.T. L’équivoque épistolaire. Paris 1990).
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tierten – Brief-Anthologien einerseits und wissenschaftlichen Monographien zu einzelnen Aspekten oder Autoren andererseits geschlossen. Grundsätzlich wird dabei in jedem Beitrag jeweils ausschließlich ein Brief (oder allenfalls ein Brief samt ‚Gegenbrief‘) interpretiert – von der Datumszeile bis zur Unterschrift und gegebenenfalls bis hin zum gewählten Briefpapier und postalischen Vermerken. Beachtung finden – mit von Aufsatz zu Aufsatz variierender Schwerpunktsetzung – Aspekte wie Medialität, Textualität, Materialität,9 Sammel-, Archivierungs- und Editionsgeschichte, kommunikative Funktion, Rhetorik, aber auch Narratologie, Kulturgeschichte, Gender Studies und Soziologie sowie die Problematik des historisch-dokumentarischen Werts. Die Interpretationen gelten dabei zum einen den unterschiedlichsten Formen – vom Gelehrtenbriefwechsel über die Freundschafts- und Geschäftskorrespondenz, den Offenen Brief (in politischer Absicht), den erotischen Brief und den Liebesbrief, den im Angesicht des Todes verfassten ‚Abschiedsbrief‘ bis hin zum Auswandererbrief, dem Feldpostbrief, dem Exilbrief oder Gemeinschaftsbriefen über die deutsch-deutsche Grenze hinweg. Hieraus ergibt sich eine kleine Typologie des Briefs in Einzelstudien. Zum anderen werden in den Beiträgen je unterschiedliche systematische und methodologische Überlegungen angestellt: Wie ‚interpretiert‘ man einen nicht überlieferten, sondern nur mittels anderer Dokumente erschlossenen Brief? Wie verhält man sich gegenüber dem manipulativen Umgang mit Briefdokumenten im Rahmen autobiographischer, latent fiktionaler Erinnerungsprojekte? Worin hat sich die Interpretation eines Offenen Briefs oder eines ‚Gruppenbriefs‘ mit mehr als zwei Kommunikationspartnern von der Analyse des ‚herkömmlichen‘ Privatbriefs zu unterscheiden? Welche Rolle spielen die Überlieferungs- und besonders die Editions- und die Rezeptionsgeschichte? Von entscheidender Bedeutung für die Interpretation ist jedoch generell die Frage: Was sind jeweils relevante Kontexte, die zur Analyse des Brieftextes hinzuzuziehen sind? Dass zunächst die konkrete Kommunikationssituation sowie die Gesamtkorrespondenz, deren Teil ein Einzelbrief zumeist ist, zur Deutung herangezogen werden müssen, steht außer Zweifel. Aber inwiefern sind darüber hinaus Brief-Vernetzungen, Werkzusammenhänge sowie historische und gesellschaftliche Kontexte von Belang, und wie sind deren Spuren im jeweiligen Brief nachzuweisen? Die Frage nach der Kontextualisierung mündet schließlich in die Frage, inwiefern einzelne Briefe symptomatisches Potential im Sinne einer Kulturdiagnos______________ 9
In den Fällen, in denen die Materialität der Briefe für die Interpretation eine Rolle spielt, werden im vorliegenden Band zusätzlich zum Brieftext Abbildungen des Originals wiedergegeben.
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tik besitzen können und wie eine solche Untersuchung methodisch zu leisten wäre. In diesem Sinne, im Rahmen einer Analyse von Briefen in ihrem jeweiligen kulturgeschichtlichen Kontext und als textuelle Dokumente dieser kulturgeschichtlichen Situation, können die hier vorgestellten Texte und Interpretationen in diachronischer Hinsicht – jenseits von Generalisierungen und der Etablierung neuer Epochenkonstrukte – dann eben doch Ansätze zu einer Geschichte der Briefkultur liefern. Zugleich handelt es sich um Momentaufnahmen, die in synchronischer Hinsicht Ansätze für die Analyse ihrer jeweiligen kulturhistorischen Situation bieten. Der Einzelbrief ist ein exemplarischer ‚Knoten‘ im diskursiven ‚Netz‘ seiner Entstehungszeit. Jede der hier vorgelegten Interpretationen legt, von einem solchen Knotenpunkt ausgehend, ein Netz der Kommunikation, ein Netz von Diskursen frei. Dem Brief in all seinen Facetten und Kontexten wird dabei – und das ist das Entscheidende – mehr als ein vermeintlich neutraler Dokumentenstatus zuerkannt, der lediglich dazu angetan wäre, die Abrufbarkeit biographischer oder historischer Daten zu gewährleisten. Im Umgang mit Briefen zeigt sich in paradigmatischer Weise, dass (Kultur-) Geschichtsschreibung, die sich stets auf Texte (in einem erweiterten Sinne des Wortes), auf Archive zu stützen hat, diese Texte nicht lediglich als inhaltlich ‚auszuwertende‘ Quellen ansehen kann. Wenn wir Briefe als (kultur-) historische Dokumente analysieren, so sind sie nicht allein Dokumente für etwas. Vielmehr handelt es sich um eine spezifische Form von Texten, um Texte, die auf eine bestimmte Weise ‚gemacht‘, hervorgebracht sind und die bestimmten Konventionen gehorchen (oder von ihnen abweichen). Nutzen wir Briefe als Dokumente, so haben wir also immer ihre spezifischen Inszenierungspotentiale, ihre spezifische Form der Textualität, Materialität und Medialität sowie ihre Überlieferungspraxis zu berücksichtigen. Die Interpretation von Einzelbriefen führt dies programmatisch vor Augen.
III. Transformationen der Briefkultur vom 16. bis ins 19. Jahrhundert – Traditionslinien diesseits und jenseits der Empfindsamkeit Es liegt auf der Hand, dass mit den hier präsentierten Texten und Interpretationen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit in dem Sinne erhoben werden kann, dass die wichtigsten Briefschreiberinnen und -schreiber des 16. bis 20. Jahrhunderts präsentiert würden. Zum einen dominieren die Briefe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Dies ist primär der Tatsache geschuldet, dass die über eine bloße ‚Auswertung‘ als Dokument
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hinausgehende Interpretation von Einzeltexten noch immer weitgehend eine Domäne der Literaturwissenschaft ist. Die Frage, inwiefern – in diachronischer Hinsicht – die Transformationen epistolarer Schreibweisen, die im Fall von Schriftstellerbriefen in einem (jeweils näher zu untersuchenden) Zusammenhang mit literaturgeschichtlichen Transformationsprozessen stehen, auch generell für den Brief als Alltagsphänomen festzustellen sind, gehört zu den drängendsten Fragen der Briefforschung. Wir stehen offensichtlich erst ganz am Beginn einer Diskursgeschichte des Alltagsbriefs, und: Wir befinden uns erst am Anfang eines interdisziplinären Austauschs. Der notwendige Mut zur Lücke gilt zum anderen insbesondere für die Zeit vor dem 18. Jahrhundert, während der Schwerpunkt ganz bewusst auf die bislang wenig erforschte Briefkultur des 20. Jahrhunderts gelegt wurde. Dennoch sollte mit Martin Luther ein Briefschreiber präsentiert werden, der paradigmatisch für die neue Praxis des schriftlichen Austauschs in der Frühen Neuzeit steht. Der Reformator, so zeigt die Analyse des Briefs an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Albrecht von Brandenburg, vom 31. Oktober 1517, richtet sich zwar durchaus unter förmlicher Beachtung der gesellschaftlichen Etikette und der höfischen Rhetorik an den Adressaten als übergeordnete klerikale Instanz. Zugleich weicht er aber aus dem Bewusstsein christlicher Freiheit heraus auf provokative Weise von der Konvention ab und wendet sich dem Gegenüber unabhängig von dessen Rang und Stand zu. Damit ist bereits ein zentrales Strukturmerkmal vieler in diesem Band interpretierter Briefe benannt. Immer wieder geht es in den Analysen darum, das Wechselspiel zwischen der Einhaltung epistolarer Konventionen und deren spielerischer oder provokativer Überschreitung zu beleuchten. Sind Luthers Briefe in diesem Sinne Dokumente eines epochalen Wandels, so ist das hier vorgestellte Schreiben noch aus einem weiteren, in systematischer Hinsicht bedeutenden Grund bemerkenswert. Obwohl der Brief von einer Einzelperson an eine andere gerichtet ist, geht er in seiner Wirkung weit über diesen einen Adressaten hinaus, auch indem ihm Luthers wirkungsmächtige 95 Thesen gegen den Ablasshandel beigefügt sind. Eine in ihrer Bedeutung vergleichbare Transformation des epistolaren Schreibens ist bekanntlich für das 18. Jahrhundert festzustellen. Die um 1750 entstehende empfindsame Briefkultur wirkt in erstaunlichem Umfang traditionsstiftend: „Unter Anleitung [der] großen Epistolographen“ der Zeit, so schreiben die Herausgeber der Sammlung Deutsche Briefe Gert Mattenklott und Hannelore und Heinz Schlaffer, sei der „persönliche[ ]
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Brief als die Schriftform des Gesprächs dauerhaft für zwei Jahrhunderte“10 geprägt worden. Analog konstatiert Jochen Golz in einem maßgeblichen Lexikonartikel: „Um 1750 hat sich der deutsche Brief in seiner modernen, heute prinzipiell noch gültigen Gestalt herausgebildet.“11 Im Zentrum dieser grundlegenden epistolographischen Innovation steht das neue Paradigma, sich jenseits von konkreter Zweckorientierung der freundschaftlichen Nähe und Verbundenheit mit dem Briefpartner zu versichern bzw. diese auf epistolarem Wege immer wieder neu herzustellen. Der empfindsame Freundschaftskult entwickelt im schriftlichen Medium eine Eigendynamik, das Schreiben selbst wird bereits zur bedeutungsvollen Tätigkeit. Als neue Konvention gilt in diesem Zusammenhang der natürliche, lebendige und persönliche, am freundschaftlichen Gespräch orientierte Stil. Wie die Interpretation des Briefs von Christian Fürchtegott Gellert an seinen Schulfreund Moritz Ludwig Kersten aus dem Jahr 1748 zeigt, kommt es dabei nunmehr erstens zu einem gattungsspezifischen Spannungsverhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, wird dieses dezidiert persönliche Schreiben doch als Musterbrief in Gellerts 1751 veröffentlichten Briefsteller Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung aufgenommen. Der Brief ist seit der Empfindsamkeit zwar, dem Gespräch vergleichbar, Medium der persönlichen, häufig rein privaten, Kommunikation; indem er sich aber des Speichermediums ‚Schrift‘ bedient, ist er dennoch potentiell unbegrenzt intersubjektiv zugänglich. Zweitens ist – in literatur- und kulturgeschichtlicher Hinsicht – hervorzuheben, dass die Betonung der ‚Authentizität‘ eines Briefs vor diesem Hintergrund, dem Briefroman der Empfindsamkeit vergleichbar, immer eine strategisch-persuasive Bedeutung besitzt. Es geht hier, wie die nachträgliche Veröffentlichung unterstreicht, keineswegs um eine naiv-unverstellte Form der Kommunikation. Vielmehr handelt es sich um das Etablieren neuer Konventionen, um eine neue Pose. Auch auf der Produktionsseite befindet sich der Brief nun im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch, Ausdruck von Individualität zu sein, und einem vorgegebenen Rahmen intersubjektiv festgelegter Konventionen. Gerade der empfindsame Brief weist immer schon den Charakter der literarischen Inszenierung, der fingierten Natürlichkeit auf. Die persönliche Nähe als seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gültiges Ideal des Briefs ist, wie das zweite hier vorgestellte Beispiel empfindsamer Geselligkeitskultur, Friedrich Gottlieb Klopstocks Brief an seine spätere Frau Meta vom ______________ 10 11
Gert Mattenklott u.a.: Einleitung der Herausgeber. In: Dies. (Hgg.): Deutsche Briefe 17501950. Frankfurt/M. 1988. S. 7-18, hier S. 10. Jochen Golz: Art. ‚Brief‘. In: Klaus Weimar u.a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin, New York 1997. S. 251-255, hier S. 252.
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11. April 1751, demonstriert, immer durch bestimmte, mehr oder weniger konventionalisierte sprachlich-stilistische Mittel hergestellte Nähe. Dass dieses Herstellen von Nähe Distanz voraussetzt und diese zum Zweck einer Fortsetzung des Schreibens sogar notwendiger Weise erhalten werden muss, begründet ein weiteres Spannungsverhältnis, das für die Briefkultur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts konstitutiv ist. So wichtig diese epistolographischen Innovationen für die Briefkultur der folgenden Jahrhunderte auch sind, so führen die im vorliegenden Band versammelten Beiträge doch vor, dass das empfindsame Paradigma bereits in den unmittelbar auf Gellerts Briefsteller folgenden Jahrzehnten nur eine epistolare Schreibweise unter anderen ist. So lässt sich der Brief Wolfgang Amadeus Mozarts an seinen Vater, den er kurz vor dessen Tod, im April 1787, schrieb, als Partitur unterschiedlicher Stimmen lesen, in der die Verständigung über die persönliche Situation neben kommunikationstechnischen und beruflich-pragmatischen Aspekten nur eine Schicht unter mehreren ist. Das Ergebnis ist ein Text, in dem Polyphonie und Identität eine komplexe Synthese eingehen. Auch in Georg Christoph Lichtenbergs Brief an seine Frau aus dem Jahr 1797 ist empfindsame Distanzminderung nur ein Aspekt neben anderen wie der pragmatischen Alltagskommunikation oder der Codierung erotischer Sachverhalte im Zeichen des vulgären Witzes. Noch deutlicher zeigt die Analyse des Briefs von Rahel Levin an Karoline Gräfin von Schlabrendorf aus dem Jahr 1808, wie das empfindsame Paradigma virtuos beherrscht, zugleich aber transzendiert und subvertiert wird. Zwar beherrscht die spätere Frau Karl August Varnhagen von Enses die ‚Sprache des Herzens‘ virtuos. Im interpretierten Brief nutzt sie aber ebenso die Tradition des galanten Briefs. Sie potenziert dessen Strategie kalkulierter Unaufrichtigkeit und bürstet sie damit zugleich ‚gegen den Strich‘, indem sie die fingierten Liebesbekundungen eines Verführers ernst zu nehmen ankündigt, um ihn, abermals die auch dem Privatbrief immanenten Potentiale der Öffentlichkeit nutzend, mittels der von ihm verfassten Briefe erpressbar zu machen. Weibliche Handlungsfähigkeit im und durch den Brief wird somit durch den souveränen Umgang mit unterschiedlichen epistolographischen Traditionslinien unter Beweis gestellt. Nicht nur um das Zusammenspiel von empfindsamem Schreiben mit anderen Aspekten oder Traditionslinien, sondern um die bewusste Abkehr davon oder die Konfrontation damit geht es im Fall Ludwig Tiecks und Johann Wolfgang von Goethes. So lässt sich bereits anhand des rekonstruierten Briefs Tiecks an „die Weller“, vermutlich eine ehemalige Geliebte, aus dem August 1793 beobachten, wie das empfindsame Ideal der ‚endlosen‘ Kommunikation, der Anspruch, ‚sich alles sagen zu wollen‘, desavouiert wird. Indem Tieck mit diesem Brief die Kommunikation be-
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endet (womit die Tatsache seines Verschwindens aus dem Überlieferungskontext in Verbindung stehen dürfte), bricht er zugleich mit den Konventionen der empfindsamen Briefkultur. Goethe sieht sich hingegen im Jahr 1822 durch einen Brief Auguste Gräfin Bernstorff-Stolbergs mit seinen eigenen, ihm selbst bereits historisch gewordenen empfindsamen Anfängen konfrontiert – hatte er dieser als ‚Beichtigerin‘ doch 50 Jahre zuvor, ganz zeittypisch, in Briefen rückhaltlos sein Inneres offen gelegt. Von ihr als Vertreterin eines strengen Pietismus nun mit einem penetranten Bekehrungsversuch in Beschlag genommen, reagiert Goethe, indem er sich der für seinen Altersstil typischen Formelhaftigkeit bedient. Dieser Gestus ist zwar von der Offenherzigkeit seiner Jugendbriefe weit entfernt, schließt aber den Anspruch der Wahrhaftigkeit und des existentiellen Ernstes keineswegs aus. Jenseits der empfindsamen Tradition sind auch die unmittelbar vor dem gemeinsamen Selbstmord am 20. November 1811 geschriebenen Briefe Heinrich von Kleists und seiner Freundin Henriette Vogel angesiedelt, die sich durch das experimentelle Verfahren spielerischer, potentiell unendlicher Listen von Kosenamen auszeichnen. Das gattungsspezifische Wechselspiel von Privatheit und Öffentlichkeit ist in diesem Fall von zentraler Bedeutung, da sich die Briefe nicht nur an den – während des Schreibens vermutlich sogar anwesenden – Partner wenden; vielmehr richtet sich Kleists schriftlich inszeniertes Todesprojekt insbesondere an einen anderen Adressaten: die Nachwelt. Nicht an den ‚ersten Leser‘, den Briefadressaten, sondern an ein größeres Publikum gerichtet sind auch die Briefe Goethes an Bettine von Arnim in der zwischen Faktualität und Fiktionalität oszillierenden Bearbeitung, der Bettine von Arnim sie im Rahmen der Publikation ihres Erinnerungsbuchs Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835) unterzog. Mittels einer Dokumente strategisch retuschierenden, subversiven Form der Autorschaft verschafft sich die ‚auktoriale Herausgeberin‘ den Deutungsanspruch auf die miterlebte Vergangenheit – auch in dem Sinne, dass sie die empfindsamen Ideale der Nähe und Intimität, die den Originalbriefen gar nicht in dem Maße zueigen sind, nachträglich fingiert. Die bereits dem interpretierten Brief Gellerts immanente Spannung zwischen privater ‚Nähe‘ und durch die Publikation des Briefs hergestellter Öffentlichkeit ist hier beinahe ins Absurde gesteigert, indem die von der Briefempfängerin gewünschte Intimität erst im durch sie manipulierten veröffentlichten Brief zu finden ist. Dass aus der für die Briefkommunikation üblichen Abwesenheit des Briefpartners generell ein hohes Täuschungspotential erwächst, zeigen bezeichnenderweise aber nicht nur Briefe von Dichterinnen oder Dichtern oder auf manipulative Weise poetisierte Briefe. Gerade im extremen
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Fall einer Trennung über große zeitliche und räumliche Abstände hinweg gelingt es, wie am Fall des Auswandererbriefs von Johannes Köster an seine Frau und seine Kinder aus dem Jahr 1859 demonstriert werden kann, dem Briefpartner dauerhaft ein bewusst falsches Bild der tatsächlichen eigenen Lebensumstände zu präsentieren. Auf andere Weise als im Falle Goethes wurden schon früh die Briefe Bismarcks zum Zweck seiner Monumentalisierung eingesetzt, so mit der erfolgreichen, offiziell von seinem Sohn Herbert von Bismarck herausgegebenen Sammlung der Briefe an seine Braut und Gattin.12 Dieser späteren Instrumentalisierung kommt es entgegen, dass Bismarck bereits in einem frühen Brief wie dem am 28. Dezember 1851 an den Mentor Leopold von Gerlach geschriebenen klassische Bildung und stilistische Eleganz unter Beweis stellt. In gewisser Weise dem Brief Luthers an Albrecht von Brandenburg vergleichbar, dient die souverän beherrschte Form dabei zwar nicht der direkten Provokation, aber doch dem Zweck, sich vom Adressaten als dem Vertreter der vorausgegangenen Generation zu emanzipieren. Eine weitere Form der Spannung von Privatheit und Öffentlichkeit ist in den Korrespondenzen von Gelehrten und Wissenschaftlern bzw. Wissenschaftspublizisten zu beobachten. In den ‚Liebesbriefen‘ Ernst Haeckels tritt diese Spannung auf unheilvolle Weise als Konflikt zwischen der intimen Beziehung und der, wie Haeckel behauptet, von ihr beeinträchtigten eigenen wissenschaftlichen Aktivität hervor. Gelingt Alexander von Humboldt, wie der interpretierte Brief an Karl August Varnhagen von Ense aus dem Jahr 1834 demonstriert, noch ein wissenschaftlicher und persönlicher Dialog auf Augenhöhe, so scheitert die (Brief-) Beziehung zwischen Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen um 1900 auf tragikomische Weise. Die Amalgamierung des Liebesdiskurses und des wissenschaftlichen Diskurses (bzw. der von Haeckel praktizierten ästhetisierenden Wissenspopularisierung) im Briefwechsel erweist sich in dem Moment als explosiv, in dem die Beziehung aus dem privaten in den öffentlichen Bereich überführt wird, da die Geliebte als Modell zur Illustration der Evolutionstheorie auf einer Bildtafel dienen soll.
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Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin. Hg. v. Fürst Herbert Bismarck. Stuttgart, Berlin 1900.
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IV. Pragmatische Inszenierungen – Briefkultur im 20. Jahrhundert Ohnehin erfährt die epistolare Kommunikation zu Beginn des 20. Jahrhunderts – jedenfalls in der symptomatischen Reflexion etwa Franz Kafkas – eine medientheoretische Problematisierung. Berühmt ist Kafkas Klage aus seinem Brief an Milena Jesenská vom März 1922: „Alles Unglück meines Lebens [...] kommt, wenn man will, von Briefen oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her.“13 Bei Kafka kommt es zu einer völligen Umkehrung, oder genauer: zu einer radikalen Dekuvrierung jener empfindsamen Illusion, durch schriftliche Kommunikation könne persönliche Nähe herbeigeführt werden. Wird Nähe bereits in der empfindsamen Briefkultur auf sprachlichem Wege hergestellt, also zumindest teilweise fingiert, so benennt Kafka schonungslos den Täuschungscharakter dieser epistolaren Strategie: In Briefen werden seiner Argumentation zufolge lediglich Fiktionen, Selbstbilder, die die Briefpartner vor sich selbst und dem Adressaten erfinden, ‚ausgetauscht‘. Aus der Eigendynamik des empfindsamen Freundschaftsbriefwechsels wird so ein Teufelskreis der (Selbst-) Täuschung: Menschen haben mich kaum jemals betrogen, aber Briefe immer undzwar auch hier nicht fremde, sondern meine eigenen. […] Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern undzwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt oder gar in einer Folge von Briefen, wo ein Brief den andern erhärtet und sich auf ihn als Zeugen berufen kann. Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch Briefe mit einander verkehren können!14
Allerdings wäre es falsch, Kafkas Beschreibung einer Krise der schriftlichen Kommunikation zu verabsolutieren. Ganz im Gegenteil erweist sich das von ihm benannte Dilemma in der Briefkultur wie in der Literatur der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts als überaus produktiv. Denn akzeptiert man erst einmal den Befund einer weitgehenden Autonomie sprachlicher poiesis, einer sich verselbständigenden schriftlich hervorgebrachten, fingierten Realität, so eröffnen sich dem Brief neue, in dieser Form zuvor unbekannte Möglichkeiten. Die These, die Briefkultur schreibe sich bis ins 20. Jahrhundert hinein aus der Tradition der Empfindsamkeit fort, bedarf deshalb einer Revision. Scheint gerade Kafkas Befund einer Krise der epistolaren Kommunikation diese Annahme einer vom 18. bis ins 20. Jahrhundert bestehenden Konti______________ 13 14
Franz Kafka: Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe. Hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller. Frankfurt/M. 31983. S. 301. Ebd., S. 301 f.
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nuität ex negativo zu bestätigen, so spricht die aus der Einsicht in die Autonomie sprachlicher poiesis resultierende Freisetzung kreativer Potentiale im Brief des frühen 20. Jahrhunderts eine andere Sprache. Der entscheidende Unterschied ist dabei darin zu sehen, dass es im Brief, anders als in den Jahrzehnten vor und um 1800, nicht mehr so sehr um die ‚Erfindung von Subjektivität‘15 geht. Vielmehr verpuppen sich Briefschreiber wie Rainer Maria Rilke oder Else Lasker-Schüler auf höchst artifizielle Weise in eine selbst hervorgebrachte Kunstwelt, die den Adressaten und die Umwelt mit einschließt. Auf epistolarem Wege wird so, den zweckorientierten Gebrauchscharakter des Briefs mit seinen ästhetisch-literarischen Inszenierungsmöglichkeiten verbindend, zugleich ein ästhetischer Schutzraum gegenüber den Zumutungen der zivilisatorischen Moderne etabliert, wie sie in Form der zunächst im Ersten Weltkrieg kulminierenden Technisierung und Industrialisierung sowie der Massengesellschaft mit ihrer Gefahr sozialer Beziehungslosigkeit hervortreten. Insbesondere das auch für Kafkas Medienreflexion grundlegende, seit der Empfindsamkeit virulente Problem, dass das kommunikative Herstellen von Nähe Distanz voraussetzt (und sie oft genug zugleich stabilisiert), erfährt nunmehr eine Radikalisierung. So fingiert Rainer Maria Rilke im Brief an Magda von Hattingberg vom 4. Februar 1914 der Adressatin gegenüber Nähe, verwebt sich aber zugleich unerreichbar in den Schutzraum seiner Brief-Schrift. Else Lasker-Schüler wiederum weist Franz Marc wie vielen anderen ihrer Briefpartner eine fiktive Rolle in einer von ihr selbst konstruierten poetischen Welt zu; dies erlaubt ihr, wie die Analyse ihres Briefs vom Januar 1916 zeigt, den realen Kommunikationspartner wie die zeitgeschichtliche Realität des Ersten Weltkriegs partiell auszuklammern. Ein – auch an Werken der literarischen Moderne (konkret etwa Erich Maria Remarques Kriegsroman Im Westen nichts Neues) geschultes – Raffinement der sprachlichen Herstellung von Realität, die zugleich das bewusste Ausklammern tabuisierter Aspekte implizieren kann, lässt sich noch in einem alltagsgeschichtlichen Dokument wie dem Feldpostbrief, den Horst Rocholl am 9. September 1942 vor Stalingrad an seine Familie schrieb, nachweisen. Und sie ist natürlich konstitutiv für den eigenwilligstrategisch Fakten manipulierenden Geschäftsbrief, den Thomas Bernhard am 18. Oktober 1972 seinem Verleger Siegfried Unseld schreibt. Die pragmatische und beinahe lebensnotwendige Funktion, kommunikative Nähe unter den Umständen unüberwindbarer persönlicher Trennung herzustellen, demonstrieren dagegen der Brief des jüdischen Arztes Nathan Wolf aus dem Schweizer Exil an seine in Deutschland gebliebene ______________ 15
Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief (Anm. 2), S. 217.
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Frau vom 23. Mai 1941 und der Brief Dietrich Bonhoeffers an Eberhard Bethge vom 21. Juli 1944 aus dem Wehrmachtuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel; dieses Schreiben, das sich etwa Herrnhuter Tageslosungen als geheimer Codierung bedient und an der Zensur vorbei geschmuggelt wird, zeigt exemplarisch, wie hier der zugleich wissenschaftlich-theologische und freundschaftliche Austausch unter schwersten Bedingungen aufrecht erhalten werden kann. Dass auch die im 20. Jahrhundert eine neue Qualität annehmende Herstellung einer autonomen sprachlich hervorgebrachten Welt keineswegs den Verzicht auf bewusste Zeitzeugenschaft bedeutet, belegt eindrucksvoll der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Der po(i)etische Charakter der in Briefen gelieferten Autofiktion ist hier noch dadurch verstärkt, dass die Selbstentwürfe und Selbstreflexionen der Briefpartner durch die Auseinandersetzung über eigene literarische Texte vermittelt sind und sich lyrischer Chiffrierungsverfahren bedienen. Gerade im Rahmen dieser poetischen Autonomisierung werden jedoch die kommunikative Beziehung und die Positionen der Briefpartner – insbesondere in Bezug auf die nach dem Ende der NS-Diktatur zentrale Frage der Zugehörigkeit zum Täter- oder Opferkollektiv – zugleich als exemplarische gedeutet oder inszeniert. In dieser gleichermaßen poetischen wie exemplarischen Aushandlung von Positionen und Rollen verschwimmen erneut die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Bereich, zumal wiederum ein fließender Übergang zwischen Brief und Werk besteht. Ähnliches gilt bereits für Thomas Manns Brief nach Deutschland aus dem September 1945, in dem die Umdeutung der eigenen Exilerfahrung zum exemplarischen deutschen Schicksal sich bezeichnender Weise der Form des Offenen Briefs bedient, die programmatisch Privates mit Öffentlichem verbindet. Um eine zugleich private und öffentliche Aushandlung exemplarischer Positionen geht es schließlich auch im Briefwechsel zwischen der Exilantin Hannah Arendt und ihrem durch sein Verhalten während des ‚Dritten Reichs‘ korrumpierten ehemaligen Lehrer und Geliebten Martin Heidegger. Auch hier öffnet sich der private Briefwechsel hin zum öffentlichen Bereich, wenn das exemplarische ‚Opfer‘ Hannah Arendt dem Briefpartner im interpretierten Brief vom März 1971 in einer beredten Geste die Widmung ihres Buchs Vom Leben des Geistes anträgt. Zentrale Aspekte der Briefkultur kommen abermals in zwei Dokumenten der Alltagskommunikation zum Vorschein, zwei Familienbriefen aus dem Jahr 1980 über die innerdeutsche Grenze hinweg, deren Analyse den Band abschließt. Auch hier handelt es sich um eine durch die politische Situation, die deutsch-deutsche Teilung, erzwungene Form der Kommunikation. Noch einmal geht es hier also um die Überwindung von
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Distanz durch epistolare Kommunikation; erneut lässt sich aber auch feststellen, wie sehr Briefkommunikation durch den Verstoß gegen zwischen den Kommunikationspartnern ausgehandelte Konventionen sowie durch die Vermischung des privaten und des öffentlich-politischen Diskurses gefährdet werden kann – bis hin zu ihrem drohenden Abbruch. Die Überwindung schwer passierbarer Grenzen durch die Briefkommunikation wurde im deutschsprachigen Raum durch das Ende des OstWest-Konflikts hinfällig. Die durch diese historische Zäsur eingeläutete aktuelle Epoche der Globalisierung ist entscheidend geprägt durch ubiquitäre mediengesteuerte, räumliche Distanzen überwindende Kommunikation – nun allerdings, unter den Bedingungen radikaler Beschleunigung, in der ihr adäquaten elektronischen Form über das World Wide Web. Es spricht einiges dafür, dass diese mediale Entwicklung keineswegs gleichbedeutend mit dem ‚Ende der Briefkultur‘ ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dem Brief, gerade indem er die Kommunikation per E-Mail oder SMS häufig nur noch in besonderen Situationen (wie feierlichen Anlässen oder gravierenden Auseinandersetzungen) ersetzt, eine neue Dignität zukommt. Und es zeichnet sich ab, dass die der persönlichen schriftlichen Distanzkommunikation inhärenten Möglichkeiten der Inszenierung und Täuschung mit ihrer lange ‚verbrieften‘ Tradition in der elektronischen Kommunikation in potenzierter Form weitergeführt werden. Für eine endgültige Beurteilung dieser Fragen ist es aber noch zu früh.
Martin Luther an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Albrecht von Brandenburg, 31. Oktober 1517 ͻndissimo in Christo patri, illustrissimo domino, d[omino] Alberto Magdeburgensis ac Moguntinensis Ecclesiarum Archiepiscopo Primati, Marchioni Brandenburgensi etc. domino suo & pastori in Christo venerabiliter metuendo ac gratiosissimo. Ihesus. Gratiam & misericordiam dei & quicquid potest & est. parce mihi, ͻme in Christo pater princeps illustrissime, Quod ego fex hominum tantum habeo temeritatis, vt ad Culmen tuę sublimitatis ausus fuerim cogitare Epistolam. Testis est mihi dominus Ihesus, Quod mee paruitatis & turpitudinis mihi conscius diu iam distuli, quod nunc perfricata fronte perficio, motus quam maxime officio fidelitatis meę, quam tuę ͻ p[aternitati] in Christo debere me agnosco. Dignetur itaque tua interim celsitudo oculum ad puluerem vnum intendere & votum meum pro tua & pontificali clementia intelligere. Circumferuntur Indulgentię papales sub tuo praeclarissimo titulo ad fabricam S petri, In quibus non adeo accuso praedicatorum exclamationes, quas non audiui, Sed doleo falsissimas intelligentias populi ex illis conceptas, quas vulgo vndique iactant. Videlicet, Quod credunt infelices animę, si literas indulgentiarum redemerint, securi sint de salute sua, Item, Quod animę de purgatorio statim euolent, vbi contributionem in cistam coniecerint. Deinde tantas esse has gratias, vt nullum sit adeo magnum peccatum, etiam (vt aiunt) si per impossibile quis Matrem dei violasset, quin possit solui. Item, Quod homo per istas Indulgentias liber sit ab omni pęna & culpa. O deus optime, Sic erudiuntur animę tuis curis, optime pater, commissę ad mortem! Et fit atque crescit durissima ratio tibi reddenda super omnibus istis. idcirco tacere hęc amplius non potui. Non enim fit homo per vllum munus Episcopi securus de salute, cum nec per gratiam infusam dei fiat securus, Sed semper in timore & tremore iubet nos operari salutem nostram Apostolus. Et Iustus vix saluabitur. Denique tam arta est via, quę ducit ad vitam, vt dominus per prophetas Amos & Zachariam saluandos appellet torres raptos de incendio. Et vbique dominus difficultatem salutis denunciat. Quomodo ergo per illas falsas veniarum fabulas & promissiones faciunt populum securum & sine timore? Cum indulgentię prorsus nihil boni conferant animabus ad salutem aut sanctitatem, Sed tantummodo pęnam externam olim canonice imponi solitam auferant. Denique opera pietatis & charitatis sunt in infinitum meliora indulgentiis. Et tamen hęc non tanta pompa nec tanto studio praedicant, immo propter venias praedicandas illa tacent, cum tamen omnium
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Episcoporum hoc sit officium primum & solum, vt populus Euangelium discat & Charitatem Christi. Nusquam enim Christus praecepit Indulgentias praedicari, Sed Euangelium vehementer praecepit praedicari. Quantus ergo horror est, quantum periculum Episcopi, Si tacito Euangelio non nisi strepitus Indulgentiarum permittat in populum suum Et has plus curet quam Euangelium! Nonne dicet illis Christus: Colantes culicem et glutientes camelum? Accedit ad hoc, ͻ me pater in domino, Quod in instructione illa commissariorum sub tuę p[aternitatis] nomine edita dicitur (Vtique sine tuę p[aternitatis] ͻ & scientia & consensu) Vnam principalium gratiarum esse donum illud dei inęstimabile, quo reconciliatur homo deo et omnes pęne delentur purgatorii. Item Quod non sit necessaria contritio iis, qui animas vel confessionalia redimunt. Sed quid faciam? optime praesul & illustriss[ime] princeps, Nisi quod per dominum Ihesum Christum t[uam] ͻ mam p[aternitatem] orem, quatinus oculum paternę curę dignetur aduertere & eundem libellum penitus tollere & praedicatoribus veniarum imponere aliam praedicandi formam, Ne forte aliquis tandem exurgat, qui editis libellis & illos et libellum illum confutet, ad vituperium summum illustrissime tuę sublimitatis, quod ego vehementer quidem fieri abhorreo & tamen futurum timeo, nisi cito succurratur. Hęc meę paruitatis fidelia officia rogo tua illustriss[ima] gratia dignetur accipere modo principali & Episcopali, idest clementissimo, sicut ego ea exhibeo corde fidelissimo & t[uae] p[aternitati] ͻ deditissimo. Sum enim & ego pars ouilis tui. dominus Ihesus custodiat t[uam] ͻ p[aternitatem] inęternum. Amen. Ex Vittenberga 1517. Vigilia omnium Sanctorum. Si t[uae] ͻ p[aternitati] placet, poterit has meas disputationes videre, vt intelligat, quam dubia res sit Indulgentiarum opinio, quam illi vt certissimam seminant. Indignus filius Martinus Luther Augƌ Doctor S Theologie vocatus. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt. Briefwechsel. Bd. 1. 1501–1520. Weimar 1930. S. 110–112.
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Martin Luther an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Albrecht von Brandenburg, 31. Oktober 1517 Dem hochverehrten Vater in Christus, dem erlauchten Herrn, Herrn Albert, Erzbischof und Primas der Kirchen von Magdeburg und Mainz, dem Markgrafen von Brandenburg usw., seinem Herrn und Hirten in Christus, höchst ehrerbietig zu fürchten und ihm günstig gesonnen. Jhesus. Die Gnade und Barmherzigkeit Gottes und was sie vermag und ist. Verzeih’ mir, ehrwürdigster Vater in Christus und erlauchter Fürst, dass ich, Auswurf der Menschen, eine solche Kühnheit habe, dass ich es gewagt habe, an den Gipfel deiner Hoheit einen Brief zu richten. Der Herr Jesus ist mein Zeuge, dass ich, mir meiner Wenigkeit und Nichtswürdigkeit bewusst, schon lange aufgeschoben habe, was ich jetzt auszuführen die Stirn habe, dazu aufs höchste bewogen durch den Dienst meiner Treue, die ich, wie ich erkannt habe, dir hochverehrtem Vater in Christus schulde. Deine Hoheit möge also für jetzt geruhen, das Auge einem zuzuwenden, der nur ein Staubkorn ist, und gemäß deiner persönlichen und priesterlichen Milde meine Bitte anzuhören. Durch die Lande getragen werden päpstliche Ablässe unter deinem Namen zum Bau von St. Peter. Diese betreffend klage ich nicht so sehr die Ausrufereien der Prediger an, die ich nicht selbst gehört habe. Vielmehr bin ich schmerzlich berührt von den grundfalschen Auffassungen des Volkes, die aus jenen entnommen werden, und die sie überall und vor allen Leuten anpreisen. Nämlich dass die unglücklichen Seelen glauben, dass sie, wenn sie die Ablassbriefe kaufen, ihres Heiles sicher seien. Desgleichen, dass die Seelen sofort aus dem Fegefeuer entspringen, sobald sie den Geldbetrag in die Kiste stecken. Schließlich: so groß seien diese Gnaden, dass es keine ebenso große Sünde geben könne, so dass sogar – so sagen sie – jemand (was jedoch unmöglich ist), der der Mutter Gottes Gewalt antäte, losgesprochen werden könnte. Ferner, dass der Mensch durch jene Ablässe von aller Strafe und Schuld frei sei. O guter Gott, so also werden die Seelen unterrichtet, die deiner Seelsorge, bester Vater, anvertraut sind, zum Tode nämlich! Und es ist vorhanden und nimmt noch zu, die unnachgiebige Forderung der Rechenschaft, die du für all diese Dinge ablegen musst. Deswegen kann ich dazu nicht länger schweigen. Keinesfalls wird nämlich der Mensch durch irgendeine Amtshandlung des Bischofs seines Heiles sicher, da er nicht [einmal] durch die eingegossene Gnade Gottes sicher wird. Sondern der Apostel mahnt uns, dass wir immer in Furcht und Zittern unser Heil wirken sollen. Und selbst der Ge-
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rechte wird kaum gerettet. So eng ist schließlich der Weg, der zum Leben führt, dass der Herr durch die Propheten Amos und Sacharja diejenigen, die er retten will, einen Brand nennt, der aus dem Feuer gerissen wird. Und ganz allgemein verkündet der Herr, wie schwer es ist, das Heil zu erlangen. Wie also können sie mit solchen falschen Geschichten und Versprechungen von Vergebung die Leute sicher und furchtlos machen? Da die Ablässe den Seelen doch so gut wie gar nichts Gutes zum Heil oder zur Heiligkeit übermitteln, sondern einzig und allein die äußerliche Strafe wegnehmen, die aufzuerlegen einst nach kirchlichem Recht üblich geworden ist. Schließlich sind die Werke der Frömmigkeit und Liebe unendlich viel besser als die Ablässe. Und trotzdem predigen sie diese nicht mit solchem Aufwand und solchem Eifer, ja vielmehr verschweigen sie sie zugunsten der zu predigenden Ablässe. Und dennoch sollte dies die erste und einzige Aufgabe aller Bischöfe sein, dass das Volk das Evangelium lernt und die Liebe Christi. Christus hat nämlich niemals geboten, die Ablässe zu predigen, aber das Evangelium hat er mit allem Nachdruck zu predigen geboten. Wie schrecklich ist mithin die Bedrohung, wie groß die Gefährdung des Bischofs, wenn er das Evangelium verschweigt und nichts als das Ausposaunen der Ablasspredigten unter sein Volk kommen lässt, und mehr für diese Sorge trägt, als für das Evangelium! Sagt nicht Christus zu jenen, dass sie zwar die Fliege aussieben, aber das Kamel verschlucken? Und zu alledem kommt noch hinzu, hochverehrter Vater im Herrn, was in jener Instruktion für die Ablasskommissare steht, die unter dem Namen deiner väterlichen Güte (aber ja wohl doch ohne deiner hochverehrten väterlichen Güte Wissen und Zustimmung) herausgegeben worden ist. Eine von den Hauptgnaden1 sei jene unschätzbare Gnade Gottes, durch die der Mensch Gott versöhnt wird und so gut wie alle Strafen des Fegefeuers vergeben werden. Außerdem dass diejenigen keine Reue brauchen, die Seelen oder Beichtbriefe kaufen. Aber was soll ich tun? Bester Oberhirte und erlauchter Fürst, Nichts als dass ich deine hochverehrte väterliche Güte bitte, dass du das Auge deiner väterlichen Sorgfalt mir zuwenden und jenes Buch ganz und gar aus dem Verkehr ziehen und den Ablasspredigern eine andere Predigtweise vorschreiben wollest, damit nicht vielleicht zuletzt doch einmal jemand aufsteht, der aufgrund dieser veröffentlichten Anweisungen sowohl über jene, die sie veröffentlicht haben, als auch über das Heft selbst das Verdammungsurteil spricht, zur höchsten Schande deiner erlauchtesten Hoheit. Die Vorstellung, dass dies geschehen könnte, entsetzt mich über die
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des Ablasses
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Maßen, und dennoch fürchte ich, dass es so kommen wird, wenn nicht schnell Abhilfe geschaffen wird. Dieses von meiner Wenigkeit dir erwiesene pflichtmäßige Handeln möge, so bitte ich, Deine erlauchteste Gnade geruhen, auf fürstliche und bischöfliche Art anzunehmen, das heißt, auf höchst wohlwollende Art, so wie ich es mit treuestem und deiner hochverehrten väterlichen Güte ergebensten Herzen darbringe. Denn auch ich bin ein Teil deiner Herde. Der Herr Jesus bewahre deine hochverehrte väterliche Güte in Ewigkeit. Amen. Geschrieben zu Wittenberg am Vorabend zu Allerheiligen. Wenn es deiner hochverehrten väterlichen Güte gefällt, könnte sie diese meine Disputationen2 anschauen, damit sie versteht, eine wie zweifelhafte Sache die Meinung über die Ablässe ist, die jene gleichwohl als höchst gewiss ausstreuen. Unwürdiger Sohn Martinus Luther Augustiner Berufener Doktor der Heiligen Theologie Übersetzung: Ute Mennecke. Herrn Prof. Klaus Thraede sei für hilfreiche Hinweise gedankt.
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Disputationsthesen
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Von der Kunst, demutsvoll einen kühnen Brief zu schreiben I. Zum Wandel der Briefkultur in der Frühen Neuzeit Georg Steinhausen bezeichnete in seiner Geschichte des deutschen Briefes Luther als den „erste[n] eigentlich individuelle[n] Briefschreiber, der nichts Traditionelles und Konventionelles braucht, der sich selbst giebt und niemand anders“.1 Freilich sah Steinhausen damit den Briefschreiber Luther mit den Augen des 19. Jahrhunderts, in dem der Brief zum authentischen Ausdruck der Persönlichkeit wurde und Briefsammlungen neben den Autobiographien ungezählter Geistesgrößen beliebter Lesestoff waren, Vorbild für das eigene Bemühen um die Fähigkeit, der eigenen Persönlichkeit eine angemessene schriftliche Ausdrucksform zu geben. Um Luther als Briefschreiber gerecht zu werden, muss man ihn aber doch von diesem Bild ein wenig abrücken – ohne damit seine Größe in dieser Hinsicht in irgendeiner Weise zu schmälern! Die Welt, in der Luther lebt, ist noch geprägt von der ständischhierarchischen Gesellschaftsordnung des Mittelalters, und auch Luther ist ein Kind dieser Zeit. Freilich erlebt diese Ordnung in der Frühen Neuzeit eine gewisse Öffnung. In Deutschland bildet sich seit dem späten 15. Jahrhundert eine zunehmend bürgerliche, durch das Studium qualifizierte Elite, deren Angehörige im Dienst von Fürsten oder Magistraten verantwortliche Ämter als Juristen, Berater, Kämmerer, Stadtschreiber wahrnehmen und nebenbei noch genug Zeit haben, ihre humanistischen Bildungsinteressen zu pflegen – und das heißt auch: den Briefwechsel mit Gleichgesinnten. Dazu bildet man sich auch an der vorbildlichen Briefschreibekunst der römischen Antike. Sie kannte schon die Gattung des Freundschaftsbriefs, dessen Absicht war, ein ‚Spiegelbild der Seele‘ zu geben, also über das bloße Mitteilen von Fakten hinaus Züge des Persönlichen einzubringen. Der Humanismus entdeckt den freundschaftlichen Privatbrief neu, und die humanistischen Briefschreiber üben sich in ihm.2 ______________ 1 2
Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Berlin 1889–1991. S. 112 f. Erasmus formulierte die humanistische Brieflehre vorbildhaft für seine Zeitgenossen in seiner Schrift De conscribendis epistolis (Basel 1522), die in zahlreichen Auflagen erschien;
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Wenn man auch als Leser ihrer Briefe immer wieder den Eindruck hat, dass der literarische Ehrgeiz, einen sprachlich-stilistisch möglichst perfekten Brief zu schreiben, gerade das nicht zum Zuge kommen lässt, was nach dem neuzeitlichen Verständnis Persönlichkeit ausmacht: die Individualität des Ausdrucks, so darf man doch nicht übersehen, dass die humanistischen Hobby-Literaten einen großen Beitrag geleistet haben zum Aufblühen einer Kultur des schriftlichen Austauschs und dabei auch die Fähigkeit zur Selbstdarstellung, mehr oder weniger rhetorisch stilisiert, gelernt haben. Hat der Humanismus den Gedanken genährt, dass wahrer Adel in der Bildung besteht und in der ‚Republik der Gelehrten‘ gesellschaftliche Schranken nur zweitrangig sind, so hat er aber natürlich keinesfalls die gesellschaftliche Ordnung einreißen wollen. Auch die Reformation wollte das nicht. Aber sie hat mit dem Gedanken des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ ein Begründungsmodell geschaffen, durch das es Laien möglich wurde, geistliche Aufgaben wahrzunehmen, die bis dahin Vorrecht des geweihten Klerus waren. Sie hat damit dem Gedanken einer religiös begründeten Gleichheit aller Menschen Auftrieb gegeben. Die ‚christliche Freiheit‘, die die Reformation dem gläubigen Individuum zusprach, umfasste eine priesterliche und eine ‚königliche Freiheit‘: jederzeit freien Zugang zu Gott zu haben und der Welt, weil sie dem Gläubigen nicht an der ‚Seele‘ schaden kann, jederzeit in Freimut gegenübertreten zu können. Da, wo auf der einen Seite betont wird, dass der Mensch in seinen Handlungen allein Gott verantwortlich ist und dass er von Gott ein Amt, einen ‚Beruf‘ hat, wächst auf der anderen Seite auch die Bereitschaft, sich dem Menschen unabhängig von Stand und Rang zuzuwenden und mit ihm in Wahrnehmung des eigenen Auftrags zu kommunizieren – sei dieser seelsorgerlich motiviert, tröstend, ermahnend oder Rat gebend, sei es um eine Bitte, ein Anliegen zu äußern oder Informationen auszutauschen, oder sei es auch, um den freundschaftlichen Kontakt aufrecht zu erhalten. Der Brief, der im Folgenden nun vorgestellt werden soll, bringt Luthers Selbstverständnis und Selbstbewusstsein, aus dieser christlichen Freiheit heraus zu schreiben, sehr markant zum Ausdruck. Es handelt sich um einen „einzigartigen“3 und dennoch in vieler Hinsicht auch typischen Brief: Einzigartig, weil er einen Wendepunkt markiert, zunächst in Luthers Biographie – was Luther bewusst gewesen sein dürfte –, aber dann auch darüber hinaus. Er fällt in eine Zeitenwende und spiegelt diese auch in ______________
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vgl. Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Bd. 8. Hg. v. Werner Welzig, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Kurt Smolak. Darmstadt 1980. Johannes Schilling: Briefe. In: Albrecht Beutel (Hg.): Luther-Handbuch. Tübingen 2010. S. 340–346, hier S. 344.
Martin Luther an den Erzbischof Albrecht von Brandenburg, 31.10.1517
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zweifacher Hinsicht wider: Zum einen, indem er eine Handlung dokumentiert, die faktisch zum Beginn der Reformation führte, und zum andern, indem er die ‚christliche Freiheit‘ des Briefeschreibens demonstriert.4 Es handelt sich um den Brief, den Luther am 31.10.1517 – dem Datum, das als Tag des Thesenanschlags in das kollektive Reformationsgedächtnis eingegangen ist – an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Administrator von Halberstadt, Albrecht von Brandenburg5 sandte, um ihn zu einer Revision seiner Praxis des Ablassvertriebs zu bringen. Der Brief ist durch glückliche Umstände im Original erhalten geblieben.6 Er ist anders als die meisten Briefe an Fürsten auf Latein geschrieben, womit Luther die humanistischen Bildungsambitionen des Adressaten würdigt,7 sich aber auch die formale Möglichkeit verschafft, ihn, wie im antiken Latein üblich, in der zweiten Person Singular, also gewissermaßen ‚auf Augenhöhe‘ anzureden. Typisch ist der Brief in seinem klaren, dem in jener Zeit üblichen Dispositionsschema für den Brief folgenden Aufbau, an den sich Luther in den allermeisten Fällen hält. Innerhalb dieses Aufbauschemas wird die Darlegung des theologischen Inhalts in eine raffinierte Mischung von klarer Argumentation und rhetorisch geschickter Überführungsstrategie eingebunden. Albrecht von Brandenburg war in politischer und kirchlicher Hinsicht eine der exponiertesten Persönlichkeiten des Deutschen Reichs. Bevor er die geistliche Laufbahn eingeschlagen hatte, war der Hohenzoller zusammen mit seinem Bruder Joachim regierender Fürst des Kurfürstentums Brandenburg gewesen. Als der Bruder einen Sohn und potentiellen Thronerben bekam, entschied Albrecht sich für die geistliche Laufbahn und machte eine Steilkarriere in der kirchlichen Hierarchie. Seit 1513 war Albrecht Erzbischof von Magdeburg und zugleich Administrator von Halberstadt. Dazu kam 1514 als zweite Erzdiözese Mainz. Als Erzbischof ______________ 4
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Vgl. dazu auch die Interpretation eines weiteren Briefs Luthers an denselben Adressaten Ute Mennecke: Von der Freiheit des Briefschreibens. Luthers Brief an Albrecht von Mainz vom 31. Juli 1535. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Martin Luther. Sonderband Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. München 1983. S. 144–156. Über ihn vgl. das zweibändige Werk: Thomas Schauerte u. Andreas Tacke (Hg.): Der Kardinal Albrecht von Brandenburg, Renaissancefürst und Mäzen. Eine Ausstellung anlässlich des 1200jährigen Jubiläums der Stadt Halle an der Saale. Regensburg 2006. Das Original befindet sich im Reichsarchiv zu Stockholm, wohin es 1694 aus Privathand gelangte; vgl. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt. Briefwechsel. Bd. 1. 1501–1520. Weimar 1930. S. 110–112. Der Brief wahrscheinlich vergleichbaren Inhalts, den Luther am selben Tag an seinen zuständigen Bischof Hieronymus Schulz von Brandenburg richtete, existiert nicht mehr; vgl. ebd., S. 113 (Exkurs 1). Vgl. Thomas Schauerte: Bruder Nestors – Sohn des Cicero. Albrechts Humanismus und Kunstpatronanz als Standesattribute. In: Schauerte/Tacke: Albrecht von Brandenburg (Anm. 5), S. 51–59.
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von Mainz war er Primas unter den Erzbischöfen und zugleich als Erzkanzler des Reichs der zweithöchste Mann nach dem Kaiser. Und schließlich kam am 8. Mai 1518 mit dem Kardinalstitel eine weitere hohe kirchliche Würde hinzu, die ihn in den Kreis derer brachte, die den Papst wählen.8 In Luthers Brief verrät die vier Zeilen umfassende Titulatur der Adresse etwas davon, wobei sie noch abkürzt, um, wie es üblich war, auch das Verhältnis des Briefschreibers zum Adressaten in gebührender Weise zum Ausdruck zu bringen. Luther redet den hohen Herrn als „seine[n] Herrn“ an, der dem niedriger gestellten „günstig gesonnen“ (S. 3) zu sein hat, und dem er verehrungsvolle Ehrfurcht entgegenbringt. Damit ist der soziale Interaktionsraum zwischen Schreiber und Adressat umrissen. Luther war als Kleriker dem Magdeburger Kirchenchef mittelbar unterstellt, da Wittenberg kirchlich zum Bistum Brandenburg gehörte, das in den Bereich von Albrechts Erzdiözese fiel. Er spricht ihn bewusst auch in seiner geistlichen Funktion, nicht nur als Kirchenfürst, an: als „Hirten in Christus“ (S. 3). Damit wird bereits ein weiter unten thematisierter Kritikpunkt an den Bischöfen jener Zeit präludiert: dass sie nämlich mehr Herrscher als Hirten seien. Dem Brief waren Luthers 95 Thesen über den Ablass, höchstwahrscheinlich im Druck, beigefügt, wie aus Luthers Briefschluss hervorgeht. Der Fürst-Erzbischof betrieb in seinen Territorien, also in Kurbrandenburg, im Erzstift Mainz und im albertinischen (nicht im ernestinischen) Sachsen, seit Beginn des Jahres 1517 den vom Papst zum Ende des Jahres 1516 aufgelegten Petersablass, dessen Ertrag zum Neubau der Peters-Kirche in Rom genutzt werden sollte. Er tat dies im Interesse des Papstes, aber auch in seinem eigenen: Einen beträchtlichen Teil der Einkünfte konnte er für sich behalten, um damit die enormen Schulden von 30.000 Dukaten zu bezahlen, die er zuvor machen musste, um einerseits die Gelder für die päpstliche Verleihung der erzbischöflichen Würde (Palliengelder) und andererseits diejenigen für die auch damals schon an und für sich unerlaubte Ämterhäufung (Dispensgelder) zahlen zu können. Es lag auf der Hand, dass dieses Ablassgeschäft sowohl dem Papst als auch dem Erzbischof in erster Linie der Erschließung finanzieller Ressourcen diente und nicht etwa der Wahrnehmung seelsorgerlicher Verantwortung. So mag Albrecht aus seinem Interesse an Gewinnmaximierung heraus geduldet haben, dass seine Ablassprediger die mit dem Ablass verbundenen und durch Geld zu erwerbenden Gnaden übertrieben anpriesen. Luther hatte von diesen Praktiken durch Gemeindeglieder erfahren, die zwar in Kursachsen selbst keine Ablassbriefe erwerben konnten, dafür aber im nahen brandenburgischen Jüterbog, und man hatte offenbar da______________ 8
Über ihn vgl. Schauerte/Tacke: Albrecht von Brandenburg (Anm. 5).
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von Gebrauch gemacht. Dies ist nun für Luther der Anlass, um einzuschreiten, und zwar gar nicht einmal, wie man heute zuallererst vermuten würde, um Albrecht wegen seines gewinnsüchtigen Verhaltens zur Rede zu stellen. Nein, dieser Gesichtspunkt bleibt ganz im Hintergrund. Ihm geht es vielmehr um die in Kauf genommene Irreführung der Gläubigen, gegen die er aus seelsorgerlicher Verantwortung einschreiten will. Das erforderte durchaus Mut. Denn selbst wenn Luther Albrecht keine moralischen Vorwürfe wegen seiner ungeistlichen Bereicherungsbestrebungen macht, so macht er ihm einen in seinen Augen schwerer wiegenden Vorwurf: Der Hirte nehme sein Hirtenamt und damit seine Verantwortung für das Seelenheil der ihm anvertrauten „Herde“ (S. 5) nicht wahr. Vermutlich hatte Luther schon längere Zeit den Plan mit sich herumgetragen, einen solchen Brief zu schreiben. Das bedeutet aber auch, dass dieser Brief ihm nicht spontan aus der Feder geflossen ist, sondern dass hier jedes Wort vorüberlegt war. Noch 1541 äußerte Luther, er könne diesen Brief „noch auff legen“;9 d. h. er hatte sich eine Kopie davon genommen.
II. Konventionelle Form und individuelle Argumentation – Forderung und Anklage, in einen Bittbrief verpackt Luther setzt zwischen Titulatur und salutatio, „wohl spätmittelalterlichem Vorbild folgend“,10 als eine Art Überschrift „Jhesus“ (S. 3), was so viel heißt wie: ‚Alles, was ich dir im Folgenden zu sagen habe, geschieht im Namen Jesu‘. Es ist bezeichnend, dass er den Erzbischof sodann nicht etwa gemäß humanistischer Sitte mit der Formel salutem dicit begrüßt, sondern eine von den paulinischen Briefen inspirierte, im Jahr 1517 für ihn noch recht ungewöhnliche Grußformel wählt: „Die Gnade und Barmherzigkeit Gottes und was sie vermag und ist“ (S. 3).11 Damit signalisiert Luther, dass er vorhat, wie der Apostel zu Albrecht zu sprechen. Im ersten, einleitenden Teil des Briefs (exordium) benutzt Luther dann aber die höfische Rhetorik, um die soziale Rangfolge zwischen dem Ad______________ 9 10 11
Vgl. Martin Luther: Wider Hans Worst. In: Luther: Gesamtausgabe (Anm. 6). Abt. Schriften. Bd. 51. Predigten 1545/46. Weimar 1914. S. 540. Vgl. Gerhard Ebeling: Luthers Seelsorge an seinen Briefen dargestellt. Tübingen 1997. S. 431. Luther hat diese Weise, dem Briefeingang ein christliches Gepräge zu geben, ca. 1522 aufgegeben; stattdessen ging er zu Grußformeln aus den paulinischen Briefen über. Gerhard Ebeling weist darauf hin, dass die paulinische Grußformel ‚Gnade und Friede (von Gott, unserm Vater)‘ bzw. Variationen davon sich bei Luther erst 1522 durchsetzen; vgl. Ebeling: Luthers Seelsorge (Anm. 10), S. 434. Ihm ist der Fall von Luthers Brief an Albrecht wohl entgangen.
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ressaten und sich selbst deutlich zu machen. Der Briefschreiber, der als Bittsteller auftritt, bedient sich entsprechend den brieflichen Regeln der sogenannten affectata modestia, um den Adressaten seiner demütigen Unterwürfigkeit zu vergewissern. Luther stilisiert das Verhältnis zwischen sich und dem Kirchenfürsten deutlich zu einem Gegensatz zwischen Untertan und Herrscher. Auf der Seite des Herrschers ist unumschränkte Machtfülle, die auch zum Ausdruck kommt, wenn Unterworfene mit gnädiger Nachsicht behandelt werden. Die clementia ist Herrschertugend schon des römischen Kaisers, zu dessen Herrschaftsverständnis es gehörte, den Untertanen im Interesse des Gemeinwohls mit Milde und Nachsicht und nicht mit einer seiner Macht durchaus möglichen Strenge zu begegnen. Auf der Seite des Bittstellers steht dem eine übertrieben wirkende Selbsterniedrigung gegenüber, die vermutlich aber durchaus im Rahmen der üblichen Demutsrhetorik war. Dennoch wird vor diesem Hintergrund der gesellschaftlichen Rangfolge die Kühnheit desjenigen umso deutlicher herausgestellt, der die „Stirn“ (S. 3) hat, mit kritischen Anfragen an den Erzbischof heranzutreten. Im Briefaufbau folgt nun gemäß dem Gattungsmuster das Berichten und Darlegen des ‚Falles‘ (narratio). In einem Satz werden alle wesentlichen Punkte benannt: „Durch die Lande getragen werden päpstliche Ablässe unter deinem hochberühmten Namen zum Bau von St. Peter“ (S. 3). Das nächste Satzgefüge äußert Luthers kritische Grundhaltung dazu. Luther ist durchaus empört – was sich im Fortgang des Briefs auch an verschiedenen Stellen in affektiven Ausbrüchen niederschlägt – und äußert Schmerz: angesichts der falschen Auffassungen über den Ablass, die er von den Leuten zugetragen bekommt. Diese falschen Auffassungen werden sodann, eingeleitet durch „nämlich“ (S. 3) (videlicet), aufzählend benannt; insgesamt vier an der Zahl. Die Aufzählung ist so angeordnet, dass unter Punkt 2 und 3 Beispiele für die Übertreibungen in den marktschreierischen Parolen des Ablasspredigers gegeben werden, die Luther offenbar kolportiert worden sind. Beim ersten Beispiel wird der unmittelbare Zusammenhang von Geldzahlung und Befreiung aus dem Fegefeuer betont. Im zweiten Beispiel wird behauptet, dass der Ablass selbst dann rette, wenn jemand die Jungfrau Maria geschwängert habe. In ihrer Absurdität sprechen sie für sich. Die rahmenden Punkte 1 und 4 benennen hingegen das theologisch Problematische in Luthers Zusammenfassung: An erster Stelle steht, dass in der beschriebenen Ablasspropaganda eine falsche Heilssicherheit geschaffen werde, und an letzter, dass Strafe und Schuld unzulässig ver-
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mischt würden.12 Die Aufzählung mündet rhetorisch geschickt in einen emphatischen Ausruf: „O guter Gott, so also werden die Seelen unterrichtet, […] zum Tode nämlich“ (S. 3). Die narratio geht an dieser Stelle in die argumentatio über, in der Luther nun die theologische Verwerflichkeit der Ablasspropaganda näher darlegt. Dieser theologische Argumentationsteil umfasst zwei Abschnitte. Im ersten Abschnitt wird mit einer Reihe biblischer Belege nachgewiesen,13 dass es eine Sicherheit in Bezug auf das Seelenheil nach Gottes Willen nicht geben kann und auch gar nicht geben soll, weil der Weg dorthin schwierig ist und der Mensch ihn nicht leichtnehmen soll. Auch dieser Passus endet mit einer rhetorisch wirkungsvollen exclamatio, in Form einer rhetorischen Frage: „Wie also können sie mit solchen falschen Geschichten und Versprechungen von Vergebung die Leute sicher und furchtlos machen?“ (S. 4.) Der zweite Passus bringt ein neues Argument. Nicht genug damit, dass der Ablass die Menschen in falscher Sicherheit wiegt, weil seine Verheißungen theologisch grundlos sind. Dazu kommt nun noch, dass die Werke der Frömmigkeit und Liebe unendlich viel besser – und das heißt auch: zuträglicher zur Erlangung des Seelenheils – als die Ablässe seien, dass deren Predigt jedoch zugunsten der Ablasspredigt unterlassen werde. Dieses Argument der unterlassenen Evangeliumspredigt führt Luther jetzt zu schonungsloser Kritik an den Bischöfen allgemein, die den Auftrag Christi verfehlen und sich damit selbst in höchste Gefahr bringen. Das diesen Passus abschließende Bibelzitat Mt 23, 24 – „dass sie zwar die Fliege aussieben, aber das Kamel verschlucken“ (S. 4) – stammt aus dem Kontext von Jesu Weherufen gegen die Pharisäer. Luther bezieht hier wie auch sonst die neutestamentliche Kritik an den Pharisäern, die sich dem Ruf Christi verschlossen haben, auf die Vertreter der altgläubigen Kirche, denen er vorwirft, in vergleichbarer Weise das Evangelium unterdrückt zu haben. Man sollte meinen, dass Luther jetzt seinen Vorwürfen nichts mehr hinzufügen kann – doch weit gefehlt. Nun erst kommt er auf die Aussa______________ 12
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In seiner späteren Schrift Wider Hans Worst zählt Luther sieben „grewlich schreckliche Artickel“ auf, die Tetzel zum Verkauf des Ablasses gepredigt habe. Von den im Brief Albrecht gegenüber erwähnten finden sich der zweite und der dritte fast wörtlich: „Er [sc. Tetzel] hette solche Gnade und gewalt vom Bapst, wenn einer gleich die heilige Jungfraw Maria Gottes Mutter hette geschwecht oder geschwengert, so kündte ers vergeben, wo der selb in den Kasten legt, was sich gebürt […]. Item, wenn einer Gelt in den Kasten legt fur eine Seele im Fegfewr, so bald der Pfennig auff den boden fiel und klünge, so füre die Seele heraus gen Himel“; Luther: Gesamtausgabe. Abt. Schriften. Bd. 51. Predigten 1545/46 (Anm. 9), S. 539. Biblische Belege: Philipper 2, 12; 1 Petrus 4, 18; Matthäus 7, 14; Amos 4, 11; Sacharja 3, 2.
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gen von Albrechts Ablassinstruktion, der Instructio summaria, zu sprechen.14 Dem bisher Ausgeführten wird damit aber sachlich nichts Neues mehr hinzugefügt, es handelt sich um eine Wiederholung der Predigtaussagen, deren Missbräuchlichkeit Luther schon zuvor dargelegt hat, allerdings noch einmal sarkastisch zugespitzt durch den Doppelsinn von lat. redimere als kaufen und erlösen, der im Brief in der Formulierung „qui animas vel confessionalia redimunt“ (S. 2) evoziert wird: Indem Beichtbriefe zum Verkauf gebracht werden, so wird damit gesagt, wird in Wirklichkeit ein Geschäft mit der Heilsangst der Menschen betrieben.15 Es sieht fast so aus, als ob Luther diese Ausführungen an dieser Stelle gewissermaßen nachschiebt; hätte er den Brief nicht auch mit ihnen beginnen können, statt einen so verhältnismäßig langen Anlauf zu nehmen? Jedenfalls sind mit diesem Teil nun die narratio und argumentatio abgeschlossen. Im klassischen Aufbauschema folgt jetzt in der petitio das schon im exordium angekündigte votum, die Äußerung der Bitte. Luther bringt sie mit einer Geste der Hilflosigkeit vor: „Aber was soll ich tun?“ (S. 4). Angesichts der vorher vorgetragenen Argumentation gegen den Ablass wirkt sie denn auch fast wie eine Konzession an den Adressaten: die Ablassinstruktion einzuziehen und gegen eine maßvollere auszutauschen. Dabei hat die Argumentation eigentlich klar gemacht, dass vom Ablass nicht viel übrig bleibt, wenn man ihn wahrheitsgemäß predigt. Konsequent wäre also die Forderung gewesen, dass Albrecht den Vertrieb des Petersablasses ganz einstellt. So fordert er praktisch von ihm, den Leuten ehrlich zu sagen, dass sie vom Ablass nicht sehr viel erwarten können, nämlich keineswegs den Erlass von Fegefeuerstrafen,16 ihn aber trotzdem kaufen sollen – eine fast absurde Konsequenz. In jedem Fall wäre die Erwartung ohnehin nicht realistisch gewesen, Albrecht könnte sich Luthers Kritik zu eigen machen und entsprechend reagieren, denn es war ja klar, dass er den Erlös aus dem Ablassgeschäft dringend brauchte. Luther artikuliert seine ‚Bitte‘ nicht in der Meinung, sie würde konkret erfüllt werden. Daher wohl auch die Geste der Ratlosigkeit. Vielmehr geht es um das Aufdecken der allgemeinen Verlogenheit des Ablassgeschäfts: und Konsequenzen werden ______________ 14 15
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Vgl. Heiko A. Obermann (Hg.): Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Bd. 3. Reformation. Neukirchen-Vluyn 2005. S. 36 f. In Wider Hans Worst werden auch diese beiden Punkte aufgezählt: „Item, die Ablas gnade were eben die Gnade, da durch der Mensch mit Gott versünet wird. Item, es were nicht not, Rew noch leide oder Busse für die Sünde zu haben, wenn einer das Ablas oder die Ablas brieve kauffet (ich solt sagen löset), und verkaufft auch künfftige Sünde“; Luther: Gesamtausgabe. Abt. Schriften. Bd. 51. Predigten 1545/46 (Anm. 9), S. 539. Denn die Kirche kann, wie Luther auch Albrecht gegenüber deutlich sagt und in den 95 Thesen weiter ausführt, nur diejenigen Strafen erlassen, die sie selbst auferlegt hat; dazu gehören aber die Fegefeuerstrafen gerade nicht.
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eingefordert. Dies nun allerdings mit höchster Dringlichkeit, wie die hinzugefügte Drohung deutlich macht, Inhalt und Verantwortliche könnten verurteilt werden. Diese Drohung ist zwar vage, denn wer sollte mit diesem unbenannt bleibenden „jemand“, der da „aufsteh[en]“ (S. 4) könnte, wohl gemeint sein? Aber sie ist aus Luthers Wortwahl trotzdem deutlich hörbar. Denn Vorbild für Luthers Formulierung dürfte Psalm 7, 7 gewesen sein, in dem Gott vom Beter aufgefordert wird, wider seine Feinde zum Gericht „aufzustehen“.17 Luther stellt also in den Raum, Gott selber könne eingreifen und Albrecht zur Verantwortung ziehen (sich dabei eines menschlichen Werkzeugs bedienend).18 Mit diesen unmissverständlichen Andeutungen macht Luther deutlich, wie er selbst sein lange hinausgezögertes Eingreifen in den Ablasshandel versteht. Der Schlussabschnitt des Briefs, das Postskript, führt Luther zunächst formal zurück in die Rolle des untertänigen Briefschreibers, der seine Ergebenheit beteuert. Er nennt dann noch Ort und Datum der Abfassung, gibt einen Verweis auf die beigelegten 95 Thesen und die Unterschrift. Der Tag, der „Vorabend zu Allerheiligen“ (S. 5), erweist sich insofern als absichtsvoll gewählt, als zum Allerheiligenfest auch in Wittenberg ein großes Ablassspektakel begangen wurde, die Ausstellung der kurfürstlichen Reliquiensammlung in der Wittenberger Schlosskirche, für deren Besuch, verbunden mit entsprechenden Gebeten, die Frommen einen Portiuncula-Ablass erwerben konnten.19 Luthers kritische Aktion des Thesenanschlags war ein symbolischer Akt und konnte auf diese Weise also mit besonders großem Echo rechnen. Seltsam mutet es an, dass dieser Thesendruck im Brief an Albrecht nur so beiläufig erwähnt wird. Der Brief ist keineswegs nur ein Begleitschreiben zur Übersendung der Thesen, sondern hat sein Gewicht in sich selber. In diesem Brief unterschreibt Luther zum ersten Mal mit der von nun an in aller Regel von ihm verwendeten Namensform Martinus ‚Luther‘. Seinen Familiennamen hatte Luther zunächst als ‚Luder‘ geschrieben. Nach Humanistensitte hatte er ab 1517 gelegentlich gegenüber guten Freunden eine gräzisierte Form seines Namens gewählt, ‚Eleutherios‘, der Befreite. Als befreit hatte sich Luther aufgrund der paulinischen Rechtfer______________ 17 18
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Lat.: exsurge domine in ira tua; vgl. ähnlich auch Psalm 93, 2: exaltare qui judicas terram/ redde retributionem superbis. Sollte es Zufall sein, dass die päpstliche Bannandrohungsbulle vom 15. Juni 1520 mit den Worten „Exsurge Domine“ beginnt? Oder sollte hier ein für allemal klargestellt werden, dass Gott eben nicht Martin Luther, sondern die römische Kurie zur Durchsetzung seines Gerichtes benutzt? Vgl. Obermann: Reformation (Anm. 14), S. 49–52. Vgl. Bernd Moeller: Thesenanschläge. In: Joachim Ott und Martin Treu (Hg.): Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion. Leipzig 2008. S. 9–32.
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tigungsbotschaft verstanden.20 Als Luther wieder zu seinem deutschen Namen zurückkehrte, nahm er doch als ‚namensetymologischen Reflex‘ das ‚th‘ in die Schreibung auf.21 Zudem beruft sich Luther auf das Lehramt, das er als berufener Doktor der Theologie innehat – heute entspräche das einer Ernennung als ordentlicher Professor. Ein biographischer Wendepunkt wird durch den Brief bezeichnet, weil Albrecht von Brandenburg den Brief nicht so wohlwollend aufnahm, wie Luther ihn gebeten hatte, sondern vielmehr die beigelegten Thesen zur Beurteilung an die Theologen und Juristen der Universität Mainz und an den Papst in Rom sandte22 und damit letztlich den Lutherprozess in Gang brachte, der 1521 mit dem Wormser Edikt endete. Luther dürfte allerdings auch klar gewesen sein, dass der Kirchenfürst einen solchen Brief unmöglich wohlwollend aufnehmen konnte. Albrecht selber würdigte Luther keiner Antwort, reagierte aber insofern, als er im Dezember 1517 seine Magdeburger Räte und den Ablasskommissar Johann Tezel tatsächlich anwies, Fehlverhalten und Missbräuche abzustellen. Er bezeichnete Luther als „vermessenen Mönch zu Wittenberg“, dessen Vorgehen geeignet sei, das gemeine Volk zu verführen.23 Luther wird sich bewusst gewesen sein, dass sein Schreiben unabsehbare Konsequenzen haben konnte. Er geht dieses Risiko bewusst ein, indem er die Sache, um die es ihm geht, mehr als deutlich zum Ausdruck bringt. Neben allen Beteuerungen von Ergebenheit gibt es zugleich mehrere Stellen in dem Brief, an denen man das Ketzerfeuer quasi schon knistern hört! So hinterlässt der Brief insgesamt den Eindruck, als ob Luther zwischen Untertänigkeit und Kühnheit hin und her schwanke. In diesem Schwanken ist aber kein Ausdruck von Unentschlossenheit zu sehen, sondern dahinter steckt vielmehr eine Strategie, die abschließend umrissen werden soll. Formal handelt es sich bei dem Brief um einen Bittbrief – wie es wohl bei dem hochgestellten Empfänger kaum anders denkbar war. Der Charakter als Bittbrief wird aber schon zu Beginn der narratio unterlaufen durch Luthers Artikulation von Schmerz, der aber in Wirklichkeit Empö______________ 20 21 22 23
Vgl. dazu Reinhard Schwarz: Luthers Freiheitsbewusstsein und die Freiheit eines Christenmenschen. In: Dietrich Korsch u. Volker Leppin (Hg.): Martin Luther, Biographie und Theologie. Tübingen 2010. S. 31–68. Vgl. Bernd Moeller u. Karl Stackmann: Luder-Luther-Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. PhilologischHistorische Klasse (1981). Vgl. Kommentar in: Luther: Gesamtausgabe. Abt. Briefwechsel. Bd. 1. 1501–1520 (Anm. 6), S. 114 f. Wilhelm Ernst Winterhager: Ich dachte fur war, Er were ein Engel. Albrecht von Brandenburg im Urteil seiner Zeitgenossen. In: Schauerte/Tacke: Albrecht von Brandenburg (Anm. 5), Bd. 2. Essays. S. 131–167, bes. S. 137 ff.
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rung ist (die im weiteren Verlauf des Briefs auch mehrfach ausbricht), und die darin implizit enthaltene Anklage (accuso). Diese Anklage formuliert Luther zunächst indirekt, natürlich nicht gegen Albrecht; sie richtet sich zunächst auch noch nicht einmal gegen Albrechts Ablasskommissare, sondern nur gegen die Dinge, die er von seinen Beichtkindern gehört hat. Gleichzeitig sagt Luther aber auch ganz klar: Das läuft ‚unter deinem Namen‘. In Luthers erstem Empörungsausbruch sind dann aber die Ablassprediger schon direkt gemeint: „[S]o also werden die Seelen unterrichtet […]!“ (S. 3) – nämlich von den Ablasspredigern. Und wiederum heißt es gleichzeitig: Du bist als Bischof zuständig, du musst die Verantwortung übernehmen. In der Argumentation richtet sich die Empörung ebenfalls offen gegen die Prediger: „Wie können sie mit solchen falschen Reden die Leute so einlullen?“ Implizit trifft das Albrecht insofern auch, als es die „Amtshandlung des Bischofs“ (S. 3) ist, die angeklagt wird. Auch das Vernachlässigen der Evangeliumspredigt wird einerseits den Ablasspredigern zur Last gelegt (sie predigen, sie verschweigen), aber gleichzeitig heißt es: Die Aufgabe aller Bischöfe (implizit: auch deine), ist es, das Evangelium zu predigen statt der nutzlosen Ablässe, und der Bischof, der das nicht tut, begibt sich in große Gefahr (implizit: du auch). Und nun kommt Luther auf die unhaltbaren Inhalte von Albrechts Ablassinstruktion zu sprechen: unter ihr steht Albrechts Name, für sie muss er persönlich geradestehen, auch wenn Luthers Formulierung dem Kirchenfürsten die Entschuldigung: ‚es ist ja nur dein Name‘ zu gewähren scheint. Mit der hochironischen Formulierung „unter dem Namen deiner väterlichen Güte (aber ja wohl doch ohne dein[…] Wissen und Zustimmung)“ (S. 4) gibt Luther jedoch überdeutlich zu verstehen, dass diese Ausflucht eine Illusion ist, die höchstens hilft, einen äußeren Schein zu wahren. Denn es ist schlicht undenkbar, dass Albrecht von der Ablassinstruktion nichts gewusst haben sollte. Luther hat Albrecht mit dessen eigener Instruktion festgenagelt. Daraufhin stellt er die Bitte, daraus die Konsequenz zu ziehen und die Ablassinstruktion aus dem Verkehr zu ziehen. Formal könnte sich Albrecht dahinter zurückziehen, dass er von ihr nichts gewusst habe. Luther bringt seine äußerlich den Schein wahrende ‚Bitte‘ aber kombiniert mit einer Drohung vor, so dass klar ist: Luther äußert keine Bitte, sondern eine Forderung. Man kann die Strategie dieses Briefs also so zusammenfassen: Auf der einen Seite wird das decorum gewahrt, werden soziale Regeln eingehalten, durch die Respekt vor der gesellschaftlichen und kirchlichen Hierarchie bekundet wird, wird so auch dem Adressaten das Zugeständnis gemacht, dass er nicht ‚entblößt‘ wird. Die Form schützt ihn. Aber unter diesem ‚Text‘ gibt es einen ‚Subtext‘, der sich anders liest: In ihm wird Empörung
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geäußert, angeklagt, gedroht und gefordert. Dieser ‚Subtext‘ ist durch die gesellschaftliche Ordnung nicht gedeckt, der Briefschreiber setzt sich in ihm über die Regeln der ständisch gegliederten Gesellschaft hinweg. Das kann er natürlich nicht einfach so, dafür braucht er eine Legitimation. Seine Legitimation, so gibt Luther zu verstehen, ist eine äußerliche und eine innerliche. Luther beginnt mit der innerlichen, die in dem Bewusstsein besteht, nichts anderes als das Evangelium von Jesus Christus zu vertreten, wie der Apostel Paulus es auch getan hat, also gewissermaßen durch Gott dazu berufen zu sein, das Evangelium zu verkündigen. Die äußerliche kommt ganz zum Schluss: vor den Menschen hat er die Freiheit und das Recht zur Wahrnehmung seines apostolischen Amts durch die Berufung zum Doktor der Theologie.
Christian Fürchtegott Gellert an Moritz Ludwig Kersten, 25. Oktober 1748 Mein lieber Herr Sekretair. Ein rechter deutscher Autor muß keine Oster- oder Michaels-Messe vorbey lassen, ohne etwas heraus zu geben, wenn es auch nur ein Romanchen, oder ein übersetzter Catechismus wäre. Wovon sollten die Setzer und Buchführer leben, wenn der Autor nicht schreiben wollte? Und was sollte der Autor anfangen, wenn er nicht von Messe zu Messe schreiben könnte? Nein, nein, ich lasse mir mein Recht nicht nehmen, ich schreibe so lange ich gesunde Hände habe. Es ist gar zu hübsch, wenn man sich in dem Meßcatalogo, bald darauf in den Zeitungen und in den Journalen, und endlich in den Händen der Welt sieht. Ich komme selten zu iemanden, daß ich nicht für meinen Fleiß belohnet werde, und wenigstens eine von meinen Schriften auf dem Fenster, oder auf dem Nachttische ganz sauber eingebunden finde. Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich da empfinde; aber das weis ich, daß ich alsdann nicht zu halten bin. Ich eile nach Hause u. nehme die Feder in die Hand, u. schreibe, was ich schreiben kann, und stelle mir schon einen neuen Ort vor, wo ich mich wieder finden werde, wenn es auch in den Händen eines Holzbauers seyn sollte. Unlängst komme ich zu meinem Buchbinder. Indem ich mit ihm rede, tritt ein Holzbauer, der bey ihm bekannt ist, herein u. langt aus seinem Kober, in dem ein guter Vorrath von Butter u. Käse u. Brodt war, meine Fabeln ungebunden hervor. Da, fieng er in seiner Sprache an, bingt mir das Buch fein fest u. schien ein. Christoph, sprach mein Buchbinder, wo habt ihr denn das Buch bekommen? Wo wer ichs hergekreit han, ich ha mirs gekoft. Unser Schulmester u. der Schulze han sich bald scheckigt über dem Buche gelacht. Es stieht recht spashaft Zeug drinn, mer mögt närrisch drüber wären. Ich ha en klen Jungen, der schun schmuck lesen kann, dem will ichs gähn, er sull mir abends bey der Pfeife Tubak wenn ich vom Feld komm, draus vurlesen, so geh ich kaum mih in die Schenk. Er war noch jung der Herr, ders in Druck hat ausgiehn lassen; ich wollte was abbrechen, aber er sate, es wäre nicht angers, als zwanzig Groschen, die han ichm auch gegähn. Er hatte noch vel Bücher, das Bücherschreiben mußm recht von der Hand gehn. Ihr Narr, sprach mein Buchbinder, der Mann, wo Ihr das Buch gekauft habt, hats nicht geschrieben, er handelt nur damit. Der Schelm! fieng der Bauer an, ich dacht, es wär der Herr selber, ich hätte den Teufel nicht so viel gegän. Nunmehr hätte ich gehn können; aber mein Ehrgeiz ließ es nicht zu. Ich hoffte, daß mich mein Buchbinder verrathen sollte, und er that es zu meinem Glücke, den außerdem würde ich mich dem Bauer selber entdeckt haben. O mein lieber
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Christian Fürchtegott Gellert an Moritz Ludwig Kersten, 25.10.1748
Herr Sekretair, wenn Sie nur hätten sehn sollen, mit welcher Verwundrung mich der Bauer betrachtete, wie freundlich er mich auf die Achseln klopfte und mich ermahnte, mehr solch schnackisch Zeug zu schreiben! Ich war den ganzen Tag außerordentlich aufgeräumt. Ich stellte mir alle meine Leser vom Könige in Preußen bis zu dem Holzbauer vor, und beschloß den Augenblick, den zweyten Theil von dem Leben der Schwedischen Gräfinn fertig zu machen, den Sie mit diesem Briefe erhalten. Schicken Sie mir ihn ja nicht wieder zurück, ich würde schwermüthig darüber. Seyn Sie zugleich so gütig, und überreichen Sie dem Herrn Grafen ein Exemplar davon, nebst dem Saurin.1 Ich habe mehr, als zehnmal die Ehre gesucht, ihm beides selber hier zu übergeben; aber ich habe vor den großen Perüken, vor den Sammetröcken, vor den reichen Westen nie weiter, als bis an die Thüre des Vorsals, kommen können, ob ich gleich auch eine Weste mit Franzen anhatte; aber freylich sind sie schon etwas alt. Den Sonnabend in der Zahlwoche wagte ichs dem einen Bedienten, der mich, ich weis nicht warum, lange ansah, meinen Namen zu entdecken. Nun, dachte ich, wird er dir ein tief Compliment machen u. dir durch die Antichamber helfen; aber er blieb ganz gelassen, u. ich schämte mich, daß mein Name einem so wohl gewachsnen Menschen unbekannt war. Ich blieb demüthig stehn u. sah die Gesichter an die zu dem Herrn Grafen wollten, ob ich vielleicht errathen könnte, was sie bey ihm suchten. Bey vielen war mirs unmöglich etwas heraus zu bringen, sie sahn mir aus, als ob sie es selber nicht wüßten; aber den meisten sah ichs doch mit vieler Gewißheit an, daß sie einen Lobspruch, eine Pension, eine Profession, eine bessere Pfarr, ein Stipendium, oder so etwas suchten. Diejenichen, die etwas in dem Busen stecken hatten, oder deren Taschen dick waren, machten mir die wenigste Mühe. Was konnten sie anders anzubringen haben, als Disputationes u. Schediasmata, und Werke mit Dedicationen? Ich bedauerte den armen Herrn Grafen in meinem Herzen, u. ärgerte mich über die Gelehrten, die den Großen ihr Schicksal so sauer machen, und beschloß, weniger unverschämt zu seyn, als meine Collegen. Kurz, ich gieng fort, u. glaubte, daß ich durch mein Weggehn mehr Ehrerbietung für meinen Grafen bezeugte, als die andern durch ihr hartnäckiges Warten. Bitten Sie um seine fernere Gnade für mich, wenn ich sie verdiene. Ihr Herr Bruder hat mir gemeldet, daß er bald heyrathen wird. Das ist doch nicht Recht, daß Sie sich in der Liebe von ihm übertreffen lassen. Werden Sie doch verliebt, u. machen Sie sich u. ein Mädchen glücklich.
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Jacques Saurin (1677–1739), protestantischer Geistlicher französischer Abstammung; zahlreiche Sammlungen seiner Predigten wurden veröffentlicht.
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Ich sing alsdann gewiß ein Brautgedicht. Wovon? Das weis ich itzt noch nicht. Ich könnte von der Liebe singen, Von ihrer Lust, von ihren Schlingen, Die sie den Herzen legt; von ihrer Zauberey, Mit der sie sich der Sterblichen bemeistert, Die Blöden oft mit Witz begeistert, Die Klugen albern macht, die Treuen ungetreu, Die Freyen spröd, die Spröden frey, Die Ungetreuen aber treu; Wie sie Betschwestern oft in ihrem Singen störet, Und morgen schon verbuhlt die Mütter seufzen lehret, Die heute noch den Töchtern u. der Magd Bey ihrem Fluch das Lieben untersagt; So könnt ich von der Liebe singen, Wie sie vom Feld an Hof, die Großen zu bezwingen Vom Hof ins Feld zu Schäfern schleicht, Bald aus der Jugend lacht, bald aus den Alten keucht, Aus dem Bramarb bramarbasiret, Aus dem Pedanten meditiret, Aus süßen Herren raffiniret: Dies alles säng ich dir vielleicht. Sehn Sie wohl, was ich für ein hübsches Gedichte auf Ihre Hochzeit machen würde? Eilen Sie, es ist hohe Zeit, sonst möchten Sie zur Liebe, u. ich zur Poesie zu alt werden. Ja, werden Sie sagen, wenn ich nur wüßte, was für eine Frau ich nehmen sollte? Das weis ich auch nicht. Indessen will ich Ihnen ein einfältiges Gebetchen sagen, das ich in meiner Jugend an die Liebe abschickte: O Liebe willst du mich erfreun: So laß mein Weib einst also seyn: Recht schön, damit sie mir gefällt, Klug, daß sie mich beständig hält, Und endlich wünsch ich sie auch reich; Doch ist sie nicht getreu zugleich: So sey sie englisch vom Gesicht, Und klug und reich, ich mag sie nicht. Ich will meinen Brief schließen, ehe ein Buch daraus wird. Vergeben Sie mir meine Weitläufigkeit. Mein langer Brief, spricht Balsac einmal, würde kürzer seyn, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte. Dieses will ich auch gesagt
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haben, und Ihnen zugleich versprochen, daß Sie ein ganzes halbes Jahr vor meinen Briefen sicher seyn sollen. Grüßen Sie alle meine guten Freunde. Ich bin zeitlebens Leipzig, den 25. October, 1748. Ihr ergebenster Gellert. Der H. Steuerrevisor Rabener, mein Bruder u. s. Frau, empfehlen sich Ihnen recht freundschaftlich. Der Vorschlag wegen der Briefe nach Art des Hn. d’Argens ist recht gut; er wird mir aber noch besser gefallen, wenn Sie ihn selbst ausführen wollen. Christian Fürchtegott Gellert: Briefwechsel. Hg. v. John F. Reynolds. Bd. 1. Berlin, New York 1983. S. 25–28.
Sikander Singh
„Werden Sie doch verliebt“ – Ein Brief Gellerts im Kontext der Brieflehren der empfindsamen Aufklärung 1748 war Christian Fürchtegott Gellert dreiunddreißig Jahre alt. Der Empfänger des Briefes, den er im Oktober in Leipzig verfasste, war Moritz Ludwig Kersten. Sie hatten beide die Fürstenschule St. Afra besucht, die von den sächsischen Herzögen in Meißen unterhalten wurde. Der aus Hainichen am Rande des Erzgebirges gebürtige Gellert bezog 1729 die Schule in Meißen. Er war dort als Sohn eines protestantischen Geistlichen mit einem Freitisch auf die Gnade des Landesherrn angewiesen. Kersten war 1728, ein Jahr vor Gellert, auf die in einem vormaligen AugustinerKloster untergebrachte Schule gekommen, die seit 1543 der Ausbildung des Gelehrten- und Beamtennachwuchses für das Herzogtum diente. Dies macht es wahrscheinlich, dass er älter war als Gellert; da jedoch Dokumente zu seiner Herkunft nicht beizubringen sind, ist die Frage nicht abschließend zu beantworten. Jedenfalls verließen beide im gleichen Jahrgang 1733 die Stadt an der Elbe; Gellert begann sein Studium an der in diesen Jahren über die Grenzen Sachsens geachteten Universität Leipzig, Kersten bezog zunächst die Wittenberger Hochschule und wechselte erst 1737 in die Stadt an der Pleiße. Während Gellert nach dem Abschluss seiner akademischen Ausbildung im Jahr 1743 in der Handels- und Messestadt blieb, übersiedelte Kersten nach Dresden, wo er am sächsischen Hof bis zum Rang eines Geheimen Kriegssekretärs aufstieg.1 Er starb 1775. Wenngleich ihre Korrespondenz nur unvollständig überliefert ist (mit dem vorliegenden sind lediglich fünf Schreiben bekannt), bezeugen die vorhandenen Briefe ein freundschaftliches Verhältnis, das in den späten vierziger Jahren an den vertrauten Ton der gemeinsamen Schul- und Studienzeit anknüpft und sich nach 1755 schließlich verliert.2 Ohnehin sind lediglich die Briefe Gellerts überliefert, die Antwortschreiben Kerstens hingegen verloren gegangen.3 So übermittelte der Leipziger Aufklärer im
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Vgl. Christian Fürchtegott Gellert: Briefwechsel. Hg. v. John F. Reynolds. Bd. 1. Berlin, New York 1983. S. 5. Vgl. ebd., Nr. 6, 26, 27, 57 und 207. Auch das Original des vorliegenden Briefes ist nicht zu autopsieren. Das Schreiben wurde im Jahr 1961 bei J. A. Stargardt in Marburg versteigert, worüber der Auktionskatalog Nr. 555 (S. 5 f.) des Autographenhändlers Auskunft gibt. Vgl. hierzu auch die Überlieferungsgeschichte des Briefes. Gellert: Briefwechsel (Anm. 1), S. 295.
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März 1748 dem Dresdner Freund ein Exemplar des zweiten Bandes seiner Fabeln und Erzählungen, die zur Ostermesse des Jahres erschienen. Explizit nimmt der Schriftsteller auf die in St. Afra verbrachten Jahre Bezug, indem er schreibt: Ja, mein lieber Kersten, hätten Sie das damals wohl gedacht, als wir noch in der Fürstenschule neben einander ganz demüthig auf der Pechbank sassen, daß ich ein so großer Scribent, ein Fabeldichter, ein Comödienschreiber, ein Romanmacher, und ich weis es selbst nicht was noch mehr, werden sollte?4
Der ebenso ironische wie nonchalant leichte Ton des Schreibens darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gellert mit den Fabeln und Lustspielen sowie dem Roman Leben der Schwedischen Gräfinn von G***, die in den Jahren zwischen 1741 und 1748 entstanden sind, zu einer der einflussreichsten literarischen Autoritäten seiner Epoche avanciert war. In zwei anderen Schreiben wandte sich der Schriftsteller um politische Einflussnahme bittend an den Freund aus Schultagen. So ersuchte er ihn 1751, sich am Dresdner Hof für ihn zu verwenden – er strebte das Amt eines „extraordinairen Professor[s] mit Pension“ an, das ihm in der Folge auch gewährt wurde.5 Das letzte überlieferte Schreiben datiert aus dem Mai 1755. In ihm bittet Gellert um Protektion für seinen Famulus „Herrn Brocken“ bei der Bewerbung um ein Kirchenamt in Schulpforta.6 Im Kontext der Korrespondenz mit Kersten ist der auf den 25. Oktober 1748 datierte Brief also bereits deshalb bemerkenswert, weil Gellert zwar das Erscheinen des zweiten Bandes der Schwedischen Gräfinn zum Anlass nimmt, den Schulfreund auf die Stellung hinzuweisen, die er in der Literatur seiner Zeit erlangt hat, zugleich aber eine konkrete Mitteilungsabsicht negiert, um sein Schreiben in den Diskurs einer Briefkultur einreihen zu können, in deren Zentrum nicht die ziel- und zweckorientierte Kommunikation steht, sondern der Wunsch, einander schreibend freundschaftliche Nähe und Verbundenheit zu vermitteln.7 In den Briefen, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, die Gellert im Jahr 1751 bei dem Verleger Wendler in Leipzig veröffentlicht hat, betont er als Konsequenz dieser Haltung deshalb zum einen die Bedeutung einer
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Gellert: Briefwechsel (Anm. 1), S. 24 f. Ebd., S. 71. Ebd., S. 234. Vgl. hierzu Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien u. a. 2000. S. 56–61.
Christian Fürchtegott Gellert an Moritz Ludwig Kersten, 25.10.1748
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„natürliche[n] Schreibart“, zum anderen die Vorstellung, dass ein Brief „die Stelle eines Gesprächs vertritt“.8 So genannte Briefsteller, lehrbuchartige Anleitungen zum Verfassen von Briefen und Sammlungen von beispielhaften Korrespondenzen waren in Deutschland bereits seit dem 15. Jahrhundert verbreitet. Sie vermittelten zunächst die Grundsätze und Regeln der klassischen Rhetorik und – in Anlehnung an französische Vorbilder – ab dem 17. Jahrhundert einen stilisierten, von der höfischen Kultur geprägten schriftlichen Ausdruck. Gellert, der bereits im Jahr 1742 in seinen Gedanken von einem guten deutschen Briefe, an den Herrn F. H. v. W. für einen natürlichen, lebhaften Stil eingetreten war, bot mit seinen Briefen, nebst einer praktischen Abhandlung eine Sammlung von Musterkorrespondenzen, die dem aufstrebenden Bürgertum neue Möglichkeiten des schriftlichen Ausdrucks eröffnete.9 Zugleich spiegeln sich in diesem Werk die Anfänge des subjektivistischen Diskurses der deutschen Literatur: Gellert ist zunächst im Zusammenhang jener empfindsamen Anschauungen zu verstehen, die im Spannungsfeld von Vernunft und Gefühl zu einem Ausgleich dieser widerstreitenden Paradigmen streben. Die Einsamkeit des Schreibenden, die mit der Einsamkeit des Lesenden korrespondiert, ermöglicht dem Einzelnen eine selbstreflexive Vergewisserung der Empfindungen, die zugleich das Fühlen des anderen antizipiert. Die Verbindung von Einsamkeit und Gemeinschaft, die dem Brief eigen ist, die Gleichzeitigkeit von intimer Nähe und distanzierter Betrachtung entspricht der Dialektik von Vernunft und Gefühl, reflexiver Erwägung und emotionaler Hingabe.10 Zum anderen ist die Bedeutung des Subjektiven auch in den Kriterien der Auswahl der als Muster gegebenen Briefe zu erkennen, die Gellert in der Vorrede der Abhandlung formuliert. „Ich halte es für nothwendig […], daß man solche wähle, die man wirklich an gewisse Personen geschrieben hat“, erklärt er einleitend. „Sie werden im ersten Falle lebhafter, bestimmter, und eben dadurch brauchbarer; im andern Falle freyer, unstudirter, und eben dadurch angenehmer werden.“11 Die Lebenswirklichkeit beglau-
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Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Hg. v. Bernd Witte. Berlin, New York 1988–2008. Bd. 4. Roman, Briefsteller. Hg. v. Bernd Witte u. a. Berlin, New York 1989. S. 107 u. S. 111. Vgl. Reinhard M. G. Nickisch: „… So wird Ihr Brief natürlich seyn“: Zur Geschichte der praktischen deutschen Brieflehre des 18. Jahrhunderts. In: Journal of English and Germanic Philology 98 (1999). S. 467–480, hier S. 472–476. Vgl. hierzu Robert Vellusig: Gellert, der Husar, ein Brief und seine Geschichte. Briefkultur und Autorschaft im 18. Jahrhundert. In: Jochen Strobel (Hg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006. S. 33–59, hier S. 36. Gellert: Gesammelte Schriften. Bd. 4 (Anm. 8), S. 107.
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bigt zwar die Authentizität der Begebenheiten und Gefühle, die in den Briefen geschildert werden, erschwert jedoch zugleich deren Auswahl: Bald verliert der Leser, bald der Verfasser des Briefs, bald die Person, an die er geschrieben ist; bald verlieren alle drey zugleich, bald noch viele andre Personen, deren darinnen erwähnet wird.12
Wenngleich drei der dreiundsiebzig Musterbriefe seiner Sammlung als Briefe eines „Frauenzimmers“ gekennzeichnet sind, wird die Frage ihrer Verfasserschaft nicht erörtert.13 Ebenso wenig wird die Autorschaft der siebzig Briefe thematisiert, die überwiegend von Gellert selbst stammen. Auf diese Weise betont der Leipziger Aufklärer den bereits zu Beginn der Vorrede formulierten erzieherischen Anspruch, „junge Leute, und insonderheit das Frauenzimmer, zu einer natürlichen Schreibart zu ermuntern“ und mit der Beispielsammlung zugleich der in der Zeit verbreiteten Auffassung entgegenzutreten, die deutsche Sprache sei für „Gedanken der Höflichkeit, des Wohlstandes, des Scherzes, und zu andern zarten Empfindungen nicht biegsam und geschmeidig genug“.14 Der vorliegende Brief an den Geheimen Kriegsrat Kersten wurde in zwei Teilen als vierzehnter und vierundzwanzigster Musterbrief in den Band aufgenommen.15 Entgegen der einleitenden Beteuerung Gellerts, er habe die Briefe unverändert in die Sammlung integriert, gibt er das Schreiben an Kersten in abgewandelter und überarbeiteter Form wieder: Der gesamte zweite Teil, der sich an die Schilderung der Begegnung mit dem Holzbauern anschließt, erscheint in der im Briefsteller veröffentlichten Fassung als eigenständiges Schreiben. Der vierzehnte Musterbrief schließt stattdessen mit der Bemerkung: Ich stellte mir alle meine Leser von dem Größten bis zu dem Holzbauer vor, und beschloß den Augenblick, den zweyten Theil von der G – – fertig zu machen, den sie mit diesem Briefe erhalten. Schicken Sie mir ihn ja nicht wieder zurück, ich werde schwermüthig darüber. Endlich antworten Sie mir bald, sonst schreibe ich Ihnen keine solchen merkwürdigen Histörchen mehr. Ich bin etc.16
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Ebd., S. 107. Ebd., S. 195. Ebd., S. 107. Siehe ebd., S. 168 f. u. S. 177 f. In der Musterbriefsammlung erscheinen insgesamt fünf Schreiben, die „ A n d e n H e r r n S e k r e t ä r K * * “ adressiert sind. Da bis auf den vorliegenden, auf den 25. Oktober 1748 datierten Brief die Originale der fraglichen Korrespondenzen nicht erhalten sind, ist es zwar wahrscheinlich, dass sie an Moritz Ludwig Kersten gerichtet waren, aber nicht mit letzter Sicherheit zu konstatieren. Ebenso wenig ist zu sagen, welche redaktionellen Eingriffe Gellert in diesen Briefen für den Druck vorgenommen hat. Vgl. ebd., S. 167, S. 185 u. S. 197 f. Ebd., S. 169.
Christian Fürchtegott Gellert an Moritz Ludwig Kersten, 25.10.1748
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Der Grund für die vorgenommene Umstellung und Redaktion mag darin liegen, dass weder die privaten Anspielungen noch die jeweilige Beziehung der Korrespondenzpartner zueinander für den unbeteiligten Leser unmittelbar zu entschlüsseln ist, weshalb der Wert eines solchen Schreibens nur bedingt zu beurteilen ist: Endlich sind Briefe […] oft deswegen nicht mehr schön, weil der Leser das besondre Verhältniß, das zwischen mir und der Person ist, an die ich schreibe, nicht weis, und also die größte Tugend, den Wohlstand des Briefs, nicht wahrnehmen und empfinden kann.17
Ohne die sich aus diesen Überlegungen ergebende Problematik zu vertiefen, erläutert er daher in der den Musterbriefen vorangestellten Abhandlung: Ich habe mich in dieses Schicksal bey dem Drucke der gegenwärtigen Briefe so gut zu schicken gesucht, als es möglich gewesen ist. Ich habe aus vielen nur wenige, nur solche ausgelesen, die nach meinen Gedanken ohne die Gefahr eines Misverstandes gedruckt, ohne Mühe und Dunkelheit gelesen, und ohne ein Tagregister gewisser Hausangelegenheiten verstanden und geprüft werden könnten.18
Ebenfalls verändert ist die direkte Rede des Holzbauers: Während sie in der originalen Fassung des Briefes in der Unmittelbarkeit und Authentizität der dialektal geprägten Umgangssprache erhalten ist, überträgt Gellert sie für den Druck in das Hochdeutsche. Die Wiedergabe des Schreibens im Zusammenhang eines Briefstellers dokumentiert auf diese Weise den Anspruch, den Brief als geeignetes Medium alltäglicher Kommunikation zu präsentieren. Die Unmittelbarkeit verbaler Alltagskommunikation bedarf jedoch, indem sie in die Schriftform überführt wird, einer stilistischen Bearbeitung, grammatikalischen Vervollständigung und Glättung, um auch in diesem Medium realistisch und natürlich zu erscheinen. In der solchermaßen notwendigen Überformung sind also bereits die prozesshaften Übergänge von der Wiedergabe lebensweltlichen Geschehens zu literarischer Darstellung zu beobachten. Vor diesem Hintergrund ist auch der Aufbau des Briefes zu verstehen: Bereits am Anfang des Schreibens wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die selbstreferentielle Reflexion des Autors gelenkt. Indem Gellert keine ästhetischen Fragen in den Vordergrund rückt, sondern auf die Mechanismen verweist, die ab den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts den deutschen Buchmarkt zunehmend bestimmten („Ein rechter deutscher Autor muß keine Oster- oder Michaels-Messe vorbey lassen, ohne etwas heraus zu geben“; S. 19), betont er die problematische Abhängigkeit von ökonomischen Faktoren, der er als freier Berufsschriftsteller ausgesetzt ist.
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Ebd., S. 108. Ebd., S. 109.
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Zugleich ist diese Eröffnung ebenso ironisch wie kokett, denn sowohl die beiden Bände der Fabeln und Erzählungen als auch der erste Band der Schwedischen Gräfinn brachten dem Leipziger Aufklärer nicht nur die Anerkennung seiner Zeitgenossen, sondern auch Erfolg auf dem literarischen Markt. Auf die Bedeutung, die seine Erzählungen als unterhaltsame und zugleich belehrende Texte für die Epoche erlangten (im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden die Fabeln und Erzählungen sogar zu dem meistverkauften Buch deutscher Sprache nach der Heiligen Schrift in der Übersetzung Martin Luthers), verweist Gellert mit der nachfolgend eingerückten Geschichte des Holzbauern. Indem er die fehlende Schulbildung dieses einfachen Mannes mit einer zwar ironischen, aber gleichwohl nicht abwertenden Überlegenheit literarisch inszeniert, macht er den volkspädagogischen Anspruch seines Werkes sichtbar. Die Literatur, das „schnackisch Zeug“ (S. 20), vermag den Menschen zu bilden und moralisch zu bessern, aber ihre sittliche Aussage muss in einer einfachen und zugleich vergnüglichen Form vermittelt werden.19 Die Schilderung der zufälligen Begegnung mit dem Holzbauern veranschaulicht als rezeptionsästhetische Betrachtung eines Schreibenden die selbstreflexive Funktion, die Gellert dem Brief in seiner Brieflehre zuschreibt. Indem er in der seine Sammlung einleitenden Abhandlung dem Leser wiederholt versichert, dass die vorliegenden weder „erdichtete, noch zum Drucke geschriebene Briefe“ seien,20 rekurriert er auf eine Haltung, die in den englischen und französischen Briefromanen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorgebildet und durch die Lebensgeschichte der Schwedischen Gräfinn von G*** auch in die deutsche Literatur eingeführt worden ist. Die im Kontext dieser epischen Gattung fiktive Versicherung des Herausgebers, welche die Korrespondenz als ein authentisches Lebenszeugnis durch Erlebnisse und Erfahrungen eines realen Menschen beglaubigt, distanziert sich von der barocken Tradition des Romans, dessen phantastisch übersteigertes Heldenschema den ästhetischen Anschauungen der aufkommenden bürgerlichen Leserschicht als ebenso antiquiert wie unmoralisch erschien.21 Indem Gellert den lebenswirklichen Ursprung der Musterbriefe betont, unterstreicht er einerseits die Natürlichkeit der dargestellten Empfindungen, andererseits korrespondiert die Sammlung mit der spielerischen Dialektik von Dichtung und Wahrheit, emotionaler Antizipation und reflexiver Distanzierung, die den Briefroman des 18.
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Vgl. hierzu Werner Jung: Zur Reform des deutschen Briefstils im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zu C. F. Gellerts Epistolographie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 114 (1995). S. 481–498, hier S. 498. Gellert: Gesammelte Schriften. Bd. 4 (Anm. 8), S. 109. Vgl. hierzu Jung: Briefstil (Anm. 19), S. 495.
Christian Fürchtegott Gellert an Moritz Ludwig Kersten, 25.10.1748
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Jahrhunderts kennzeichnet. Der Leser soll den einzelnen Brief nicht nur als ein auf die Ausbildung und Verbesserung des eigenen Stils gerichtetes Beispiel begreifen, sondern zugleich die Empfindungen und Anschauungen des Schreibenden vergegenwärtigen. Die emotionale wie reflexive Teilhabe an dessen Gefühlsregungen ist sogar eine notwendige Voraussetzung, um die Qualität der zur Darstellung gebrachten Empfindungen und Erlebnisse angemessen beurteilen zu können.22 Die Praxis dieser theoretisch fundierten epistolographischen Position in Gellerts Privatkorrespondenz dokumentiert derjenige Teil des Schreibens an Kersten, der im Briefsteller als vierundzwanzigstes Schreiben veröffentlicht worden ist. Der Leipziger Aufklärer betont darin zum einen die Verbreitung seiner Schriften („Ich stellte mir alle meine Leser vom Könige in Preußen bis zu dem Holzbauer vor“; S. 20), verweist aber zum anderen auf sein Selbstverständnis als Schriftsteller sowie sein neuestes literarisches Werk: den zweiten Band des Romans mit der Lebensgeschichte der Schwedischen Gräfin. Während der Dresdner Freund aufgrund seines Amtes mit den höfischen Konventionen vertraut ist, entwirft Gellert ein ironisches Portrait seiner selbst, das ihn als gelehrten Dichter zeigt, dem die Umgangsformen der adligen Gesellschaft fremd sind. In der in das Schreiben eingerückten Schilderung einer Szene im Besuchszimmer des Grafen Christian Gottlieb von Holzendorf, bei der unbestimmt bleibt, ob es sich um die Beschreibung eines realen Erlebnisses handelt oder um eine die Wirklichkeit spielerisch antizipierende Fiktion des Briefschreibers („Ich eile nach Hause u. nehme die Feder in die Hand, u. schreibe, was ich schreiben kann, und stelle mir schon einen neuen Ort vor, wo ich mich wieder finden werde“; S. 19), scheint zugleich ein Moment von kritischer Sozialanalyse auf, das für das literarische Werk Gellerts in den vierziger Jahren charakteristisch ist. Der Leipziger ist zwar in dem Sinne ein Schriftsteller des Ancien Régime, dass er die feudale Ordnung zu keiner Zeit in Frage stellt und sich – im Gegenteil – in seinen popularphilosophischen und literarischen Schriften wie in seinen Korrespondenzen als ein überzeugter sächsischer Patriot zeigt, aber bereits seine frühen Fabeln und Verserzählungen thematisieren wiederholt die Ungleichheit von erstem und drittem Stand und die daraus erwachsende Ungerechtigkeit, welche die gesellschaftliche Ordnung seiner Epoche bestimmt. Insbesondere seine Position als zunächst freier BerufsSchriftsteller, also als Angehöriger jener bürgerlichen Schicht, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, anfangs im Bereich der Künste und Wissenschaften, später auch im Gebiet der Ökonomie, den traditionellen Primat
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Vgl. Sikander Singh: Christian Fürchtegott Gellert. Hannover 2010. S. 60 f.
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des Adels hinterfragt und schließlich aushöhlt, lassen ihn die Abhängigkeit vom Wohlwollen des herrschenden Standes deutlich spüren. Indem Gellert gegenüber Kersten bemerkt, er habe durch sein „Weggehn mehr Ehrerbietung“ (S. 20) für den Grafen bezeugt als durch „hartnäckiges Warten“ (S. 20), scheint jedoch nicht nur der ironische Gestus auf, der unter den Zeitgenossen maßgeblich zum Erfolg seiner dichterischen Werke beigetragen hat, sondern auch ein Moment jenes bürgerlichen Selbstbewusstseins, das den literarischen wie politischen Diskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmen sollte.23 Es ist nicht nur die Person des Schreibenden und sein selbstreflexiver Anspruch, die die inhaltlich voneinander abgegrenzten Abschnitte des Briefes zu einem Ganzen verbinden, sondern auch der zwischen Ernst und Spiel, Spiel im Ernst, Satire und Ironie, gedanklicher Tiefe und philosophischer Reflexion changierende Ton. Dass das in Gellerts Brief an Kersten „kultivierte Stilideal“ der „Konversationskultur der Salons“ im Frankreich des 17. Jahrhunderts entstammt, wird insbesondere im letzten Teil des Schreibens sichtbar, in dem die Nachricht von einer bevorstehenden Hochzeit Anlass zweier lyrischer Einschübe ist.24 Der Brief schließt auf diese Weise mit einer Text-im-Text-Konstellation, welche die Differenzen und Konvergenzen von Wirklichkeit und erzählter Wirklichkeit beobachtbar macht. Der frivole Gestus, der den Grenzbereich von Konvention und Konventionsverstoß inszeniert, spielt mit Abstufungen von Literarizität und thematisiert auf diese Weise, dass die Liebe in der Mitte des 18. Jahrhunderts zwar noch nicht als Bedingung und Voraussetzung der Ehe angesehen wurde, dass aber die im Diskurs der empfindsamen Aufklärung Kontur gewinnenden Vorstellungen von Individualität und Einmaligkeit des Menschen in der Konsequenz auch zu einem anderen Ideal von Liebesbeziehungen führen mussten. Diese Dialektik wird nicht nur durch Gellerts Ratschlag „Werden Sie doch verliebt, u. machen Sie sich u. ein Mädchen glücklich“ (S. 20) dokumentiert, sondern ebenso durch das frivole „Brautgedicht“, das eben kein „Brautgedicht“ (S. 21) ist, sondern lediglich die Möglichkeit antizipiert, ein solches zu schreiben. Der leichtsinnige, tändelnde Gestus des lyrischen Textes, der an die Tradition der in der Zeit verbreiteten Schäferdichtungen anschließt, wird durch den nachfolgenden lyrischen Einschub relativiert. Gellert betont in Bezug auf diesen zwar, dass es sich um „ein einfältiges Gebetchen“ (S. 21)
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Vgl. hierzu Wilfried Barner: „Beredte Empfindungen“. Über die geschichtliche Position der Brieflehre Gellerts. In: Eberhard Müller (Hg.): „… aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“. Tübinger Studien zum 18. Jahrhundert. Dietrich Geyer zum 60. Geburtstag. Tübingen 1988. S. 7–23, hier S. 21. Vgl. Vellusig: Gellert, der Husar (Anm. 10), S. 41.
Christian Fürchtegott Gellert an Moritz Ludwig Kersten, 25.10.1748
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handelt, das er in seiner „Jugend an die Liebe abschickte“ (S. 21), und evoziert damit die Erinnerung an antike Vorstellungen, der Text selbst aber betont die Werte von Beständigkeit, Treue und Verlässlichkeit, Eigenschaften also, die sozialethische Leitvorstellungen eines christlichen Lebensideals sind. Die beiden lyrischen Einschübe heben sich damit jedoch nicht auf, sondern markieren divergente, aber gleichwohl komplementäre Positionen. Der Brief dient dem Schreibenden wie dem Lesenden gleichermaßen als ein Medium der Selbstreflexion und Kultivierung, weshalb der scheinbare Widerspruch notwendige Voraussetzung eines emotionalen Erkenntnisprozesses ist, der den Menschen seiner selbst, aber auch seiner Position im sozialen Gefüge innewerden lässt. Die „Weitläufigkeit“ (S. 21) seines Schreibens, für die Gellert in der Schlusswendung den Dresdner Freund um Nachsicht bittet, indiziert vor diesem Hintergrund, dass sein Brief weder der Kommunikation noch dem Austausch von Neuigkeiten dient, sondern im Spannungsfeld von subjektivem Erleben und literarischer Inszenierung desselben als Medium einer Geselligkeitskultur verstanden werden muss. Wenngleich der Brief an den Geheimen Kriegsrat Kersten nicht für die Veröffentlichung bestimmt war, war das Bewusstsein, dass Korrespondenzen bis in das 20. Jahrhundert nicht nur einen Adressaten erreichten, sondern vorgelesen, abgeschrieben oder weitergegeben wurden, ein bestimmender Faktor im Prozess des Schreibens.25 Indem der Brief eine Bühne für den Monolog des Schreibenden darstellt, ist ihm ein performatives Moment eigen, das zwar gegen Ende des 19. Jahrhundert mehr und mehr verloren gegangen ist, aber wesentlich zur Ausbildung jener literarischen Ausdrucksmöglichkeiten beigetragen hat, die der emotional sich seiner selbst bewusst werdende Mensch im Diskurs der Aufklärung entwickelt hat. Dass Gellert sich in diesem Zusammenhang (irrtümlich) auf den französischen Schriftsteller Jean Louis Guez de Balsac beruft, dessen Schriften bis in das 18. Jahrhundert als stilbildend galten, zeigt, dass der Leipziger Aufklärer nicht nur in seinen theoretischen Abhandlungen zur Epistolographie, sondern auch in seiner Briefpraxis bestrebt war, rhetorische Tradition und individuelle Bedürfnisse in ein Vernehmen zu setzen. Christian Fürchtegott Gellerts Schreiben an Moritz Ludwig Kersten ist deshalb beispielhaft für die in der Mitte des 18. Jahrhunderts sich ausbildende literarische Kultur inszenierter Natürlichkeit. Indem der Brief vom 25. Oktober 1748 die Übergänge zwischen Wirklichkeit und erzählter Wirklichkeit als literarisches Spiel arrangiert, wird die Loslösung von der
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Vgl. Rafael Arto-Haumacher: Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der Anfang einer neuen Briefkultur. Wiesbaden 1995. S. 276 f.
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Zweckorientierung der Gattung und die Hinwendung zu einer literarisch überformten Briefpraxis sichtbar, deren Anliegen das „Vergnügen“ ist und nicht die „Nothwendigkeit“.26
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Gellert: Gesammelte Schriften. Bd. 4 (Anm. 8), S. 144.
Friedrich Gottlieb Klopstock an Meta Moller, 11. April 1751 Auf dem grossen Belte, den ersten Ostertag 1751 Liebes, kleines Mädchen, Das merken Sie sich, ich werde Ihnen in jedem Briefe einen neuen Beynamen geben, so lieb habe ich Sie. Denn Sie sind doch wirklich ein recht gutes Mädchen. Ein recht gutes, gutes Mädchen, das muß ich sagen. Diesen kurzen Brief schreibe ich nur, Ihnen zu sagen daß ich Ihnen einen sehr langen schreiben würde, wenn ich nicht im Schiffe wäre. Nun fängt der Wind ein bischen an, das ist doch recht schön. Leben Sie wohl, kleines, allerliebstes Mädchen. Ich dächte Sie giengen hin, u besuchten Hagedorn, u küßten ihn von mir. Ich bin Ihr ergebenster Klopstock. Ich komme wieder herunter, Ihnen noch einmal zu schreiben. Und das ist, Sie müssen auch fein meinem Exempel folgen, u mir oft schreiben. Sie haben nun schon einen Brief aus dem Holsteinischen von mir. Und nun haben Sie zween. Das müssen Sie überhaupt von mir merken, ich lasse mich in der Freundschaft nicht übertreffen. Leben Sie noch einmal wohl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II, Briefe. Bd. 2. 1751–1752. Hg. v. Rainer Schmidt. Berlin, New York 1985. S. 24 f. Abbildung des Originalbriefs mit freundlicher Genehmigung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky.
Friedrich Gottlieb Klopstock an Meta Moller, 11. April 1751
Joachim Jacob
Hergestellte Nähe. Friedrich Gottlieb Klopstock – Meta Moller „[...] ich hasse die Sprache, die von der Gegenwart unbeseelt ist“. Friedrich Gottlieb Klopstock an Meta Moller, 9.5.1752.1
Ein paar Zeilen nur schreibt der 26jährige Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock am Ostersonntag des Jahres 1751 an die Hamburger Kaufmannstochter Meta Moller (1728–1758). Genau eine Woche zuvor hatte er Meta in ihrem Elternhaus kennengelernt: vermutlich auf Empfehlung des gemeinsamen Freundes Nikolaus Dietrich Giseke, der Meta die Lektüre von Klopstocks derzeit Furore machendem Bibelepos Der Messias und Klopstock den Besuch Mollers in Hamburg ans Herz gelegt hatte.2 Der Mitteilungswert von Klopstocks Nachricht scheint nicht sehr hoch. Unter den erhaltenen Briefen des Dichters dürfte es wenige geben, die ihm an Belanglosigkeit gleichen, und nichts in ihm weist darauf hin, dass Briefschreiber und Empfängerin wenige Zeit später zu einem der berühmtesten Paare der literarischen Welt des 18. Jahrhunderts werden sollten. Klopstocks Brief entsteht an einem ungewöhnlichen Ort: unter Deck auf einem Postschiff, das den jungen Autor über den Großen Belt von der Insel Fünen nach Kopenhagen bringt. Dort wird Klopstock sich dem dänischen König präsentieren, der dem Dichter, der 1748 mit der Veröffentlichung der ersten drei Gesänge seines Messias gleichsam über Nacht berühmt geworden war, eine jährliche Leibrente gewährt und an seinen Hof eingeladen hatte. Klopstock genießt offensichtlich die Überfahrt: „Nun fängt der Wind ein bischen an, das ist doch recht schön“ (S. 33). Bei seiner Briefpartnerin allerdings wird schon der kurze Hinweis auf die Wetterverhältnisse schrecklichste Assoziationen auslösen, „fürchterlich“ sei ihr die Vorstellung, so wird sie ihm antworten, Klopstock auf dem
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Friedrich Gottlieb Klopstock an Meta Moller, 9.5.1752. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II, Briefe. Bd. 2. 1751–1752. Hg. v. Rainer Schmidt. Berlin, New York 1985. S. 166 f., hier S. 167. Vgl. zu den näheren Umständen ihrer Begegnung Joachim Jacob: „... wäre ich Ihr Klopstock für seine Meta“. Meta Moller und Friedrich Gottlieb Klopstock, Hamburg, 4. April 1751. In: Georg Braungart u. a. (Hg.): Bespiegelungskunst. Begegnungen auf den Seitenwegen der Literaturgeschichte. Tübingen 2004. S. 29–41.
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Meer zu wissen: „Sie freuen sich dazu, weil Sie nun hoffen bald über zu kommen: Aber ich, ich fürchte mich. Wenn der Wind nun zu stark würde? Wenn Sie nun gar – – –“.3 Klopstocks Überfahrt nach Dänemark an den Hof Friedrichs V. markiert nicht nur im Leben des Autors, sondern auch literaturgeschichtlich einen bedeutenden Moment. Denn die von Friedrich ausgesetzte Leibrente, die Klopstock die Vollendung des Messias-Epos ermöglichen soll, stellt eine bis dahin beispiellose öffentliche Anerkennung eines deutschen Dichters dar, im Weiteren auch der Eigenständigkeit des Schriftstellerberufs, denn die ausgesetzte Rente ist nicht mit einer festen Dienstverpflichtung am Hof verbunden, sondern einem freien Schriftsteller zuerkannt. Klopstock jedenfalls deutet es so, wenn er in seiner Ode auf seinen Gönner Ihre Majestät Friedrich den Fünften, König in Dänemark und Norwegen, die er den im Mai desselben Jahres 1751 erscheinenden ersten fünf Gesänge des Messias voranstellt, Friedrich als dem „Menschenfreund“ dankt, dessen „Blick lächelnd auf die herab [schaut], / Die der Muse sich weihn“ und nicht dem Herrscherlob.4 Zu dem hohen Ton, wie ihn diese Ode oder auch die ihr folgenden ersten fünf Gesänge des Messias anschlagen, steht Klopstocks Brief an Meta Moller in denkbar größtem Kontrast. Die öffentliche Rolle des Messias-Dichters, der sein Leben und Wirken Tag und Nacht dem Dienst an der „würdigen Materie“5 des christlichen Evangeliums geweiht hat,6 ist in seinem Brief ganz von ihm abgefallen. Keinen Anflug von Weihe, nicht eine einzige Anspielung auf die eigene Profession enthalten seine Sätze, die vielmehr alle Anzeichen einer spontanen, um nichts bekümmerten Niederschrift tragen. Ihr Sinn ist einzig, so scheint es, sich der Adressatin in Erinnerung, oder besser gesagt: gegenwärtig zu halten. Bestimmt der berühmteste Brieftheoretiker der ersten Jahrhunderthälfte, Christian Fürchtegott Gellert, im selben Jahr einen gelungenen Brief als „eine freye
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Meta Moller an Friedrich Gottlieb Klopstock, 21.4.1751. In: Klopstock: Werke und Briefe. Abt. II, Bd. 2 (Anm. 1), S. 28. Friedrich Gottlieb Klopstock: Ode an Ihre Majestät Friedrich den Fünften, König in Dänemark und Norwegen. In: Ders.: Der Messias. Bd. 1. Halle 1751. O. S. (Hervorhebung von mir, J.J.); vgl. auch Klopstocks eigene Deutung seiner Ode in: Friedrich Gottlieb Klopstock an Adam Gottlob Graf Moltke, 9.12.1750. In: Ders.: Werke und Briefe (Anm. 1), Abt. II, Bd. 1. Briefe 1738–1750. Hg. v. Horst Gronemeyer. Berlin, New York 1979. S. 151. Klopstock: Der Messias (Anm. 4), Vorbericht zu der Ode. Vgl. etwa die Selbststilisierung des Dichters in seiner Ode Die Stunden der Weihe (1748): „Der den Meßias seinem Geschlechte singt! / Dekt ihn mit dieser schattichten kühlen Nacht / Eures Gefieders, daß er einsam unter dem Schatten des Ewigen dichte.“ Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias. Gesang I–III. Text des Erstdrucks von 1748. Studienausgabe. Hg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Stuttgart 1986. S. 110.
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Nachahmung des guten Gesprächs“,7 in dem „alle Arbeit, alle Kunst“, die seine Abfassung gekostet habe, „versteckt“ sei, um den Eindruck natürlicher Mühelosigkeit zu erzeugen,8 gibt sich Klopstocks Brief noch freier und scheint dokumentieren zu wollen, dass es nichts zu verstecken gibt. Ein ‚gutes Gespräch‘, mit einem vernünftigen Inhalt geschmackvoll dargeboten, liegt ihm fern. Was er zu sagen hat, gipfelt im Gegenteil in äußerster Redundanz: „Diesen kurzen Brief schreibe ich nur, Ihnen zu sagen daß ich Ihnen einen sehr langen schreiben würde, wenn ich nicht im Schiffe wäre.“ (S. 33.) Es muss also um anderes gehen. So scheint es zunächst offenbar wichtig zu sein, überhaupt einen Brief zu schreiben. Darauf weist nicht nur der dürftige Inhalt hin, sondern auch der Umstand, dass Klopstock stilistisch einen besonders ‚briefhaften Brief‘ schreibt. Denn er setzt im Schreiben intensiv genau die zwei Gestaltungsprinzipien ein, die in der neueren Brieftheorie wie in der Linguistik der Alltagskommunikation als die zentralen Merkmale der Textsorte Brief benannt worden sind: die Nähe des Ausdrucks zur Mündlichkeit und die situative Einbettung der Mitteilung.9 Keineswegs jedoch sind dies beides zeitlose Merkmale der Gattung, sondern sie bilden sich eben in der Mitte des ‚briefseligen‘ 18. Jahrhunderts heraus,10 in der auch Klopstocks Brief entsteht. Ihre Wertschätzung hängt mit einem neuen ‚Natürlichkeits‘- und Authentizitäts-Ideal zusammen, dem das Muster des ‚stillosen Stils‘ der mündlichen Rede Ausdruck und Glaubhaftigkeit verleiht. Eine ganze Reihe seiner Elemente lässt sich in Klopstocks Brief identifizieren: Wiederholungen auf engstem Raum (das ‚liebe‘, ‚kleine‘, ‚allerliebste‘ ‚Mädchen‘, das „doch wirklich ein recht gutes Mädchen“ ist, ein „recht gutes, gutes Mädchen“), die direkte Anrede der Adressatin, der einfache, reihende Satzbau und schließlich die eingestreuten expliziten Redesignale („das muß ich sagen“, „schreibe ich nur, Ihnen zu sagen“), das letztere noch, wie man am Original erkennen kann, nachträglich eingeflickt (vgl. Abb.). Mit ihnen fingiert
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Christian Fürchtegott Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische kommentierte Ausgabe. Bd. IV. Hg. v. Bernd Witte u. a. Berlin, New York 1989. S. 111–152, hier S. 111. Ebd., S. 115. Vgl. Margot Heinemann: Textsorten des Alltags. In: Klaus Brinker u. a. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1. Textlinguistik. Berlin, New York 2000. S. 604–614; Robert Vellusig: Mimesis von Mündlichkeit. Zum Stilwandel des Briefes im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Schrift. In: Theo Elm und Hans H. Hiebel (Hg.): Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter. Freiburg im Breisgau 1991. S. 70–92. Vgl. Hermann Tiemann: Einführung. In: Meta Klopstock geborene Moller: Briefwechsel mit Klopstock, ihren Verwandten und Freunden. Hg. v. Hermann Tiemann. Bd. 3. Hamburg 1956. S. 729–753, hier S. 739.
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der Briefschreiber Klopstock weniger ein ‚Gespräch‘ in Gellerts Sinn, als dass er vielmehr ein lebendiges Protokoll einer mündlichen Anrede an seine Briefpartnerin zu übermitteln scheint. Auch von der Explikation der situativen Einbettung seiner Mitteilung macht Klopstock – und zwar besonders nachdrücklich – Gebrauch. Zunächst durch den Meta später so beunruhigenden Hinweis auf die gerade einsetzende neue meteorologische Lage („Nun fängt der Wind ein bischen an“), dann platziert Klopstock einen kleinen szenischen Einschub vor der Fortsetzung seines Briefs, nachdem er sich eigentlich schon verabschiedet hatte: „Ich komme wieder herunter, Ihnen noch einmal zu schreiben.“ Beide Mitteilungen haben weniger sachlichen Informationswert als dass sie ‚Lebensnähe‘, den lebendigen Eindruck der Gegenwart des Schreibenden über die Distanz der vergehenden Zeit und des trennenden Raums hinweg imaginieren wollen. Es ist eine mit sprachlichen Mitteln „hergestellte Nähe“,11 die Klopstocks Brief charakterisiert – und Meta nimmt dieses Sprachspiel auf. Sie situiert ihrerseits die eigene Lektüre des erhaltenen Briefs, der sich der Schreiber Klopstock so nah fühlen soll, dass er „doch wohl“ „rathen“ kann, „daß es des Nachts um drey war?“12 Vor allem aber nimmt sie, wie eingangs schon angedeutet, die ‚Vorstellung‘ ernst, Klopstock auf dem unheimlichen Meer zu sehen, und fühlt sich, so schreibt sie, in die Gegenwart dieser Szene zurück versetzt: „so fürchterlich ist es mir doch wenn ich Sie mir da vorstelle. Der Wind fängt [a]n. Sie freuen sich dazu [...].“13 Klopstock wird in seinen späteren darstellungstheoretischen Schriften zur literarischen Ästhetik diese alte rhetorische Kunst der enargeia (Vergegenwärtigung) als Verwandlung der inneren „Vorstellung ins Fastwirkliche“ durch „gezeigtes Leben“ bezeichnen.14 Im Brief haben er, einige seiner Zeitgenossen und nicht zuletzt Meta, deren Briefkunst Klopstock zeitlebens bewunderte, es bereits ausprobiert. Nähe herstellen zu wollen, entspringt nicht nur persönlicher Sympathie, im vorliegenden Fall vielleicht sogar schon einer beginnenden Ver-
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Peter Koch u. Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985). S. 15–43, hier S. 24 (Hervorhebung im Original, J.J.) „Ihr zweyter [der vorliegende; J.J.] Brief hat mir eine rechte Freude gemacht. Ich bekam ihn eben zu einer Zeit, da ich recht im Stande war die Freude zu fühlen. Sie rathen doch wol daß es des Nachts um drey war? Ich kam von einer Gesellschaft [...] Ihren Brief auf meinem Nachttische zu finden.“ Meta Moller an Friedrich Gottlieb Klopstock, 21.4.1751. In: Klopstock: Werke und Briefe. Abt. II, Bd. 2 (Anm. 1), S. 28. Ebd. Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Darstellung (1779). In: Ders.: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt/M. 1989. S. 166–173, hier S. 169.
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liebtheit des Briefschreibers, sondern einer neuen zeitgenössischen Vorstellung von ‚Freundschaft‘. Sie verkörpert für die Kultur des Rokoko und der Empfindsamkeit in der Mitte des 18. Jahrhunderts das Idealmodell menschlicher Beziehungen.15 Und Briefe sind aus den dargelegten Gründen bestens dafür geeignet, Freundschaft über äußere Distanzen hinweg zu erzeugen und zu pflegen. So empfiehlt das 72. Stück der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige 1748 unter dem Motto „Die Freundschaft ruhet nicht, sie weiß in hundert Fällen / Auch die Entferntesten freundschaftlich zu gesellen“ ihren Lesern ausführlich den Brief als Medium der Anbahnung und Pflege von Freundschaft und Geselligkeit. Besonders gut nachvollziehbar wird ein solcher Zusammenhang von Freundschaft und Briefkultur in den scherzhaften ‚Gemeinschaftsbriefen‘, die unter anderem aus Klopstocks Kreis überliefert sind, in denen mehrere Briefschreiber zusammen als Freunde einem Freund schreiben und sich schon durch diese äußere Form in ihrer Freundschaft darstellen.16 „Die Entzückungen, welche in dem Umgange der Freunde augenblicklich und häufig geboren werden“, heißt es im 72. Stück des Geselligen weiter, zeigen zudem, „daß wir nicht nur so ofte zusammen kommen, als möglich ist, sondern auch aufs neue Gelegenheit suchen, die Zusammenkünfte zu erneuern.“17 Die Freundschaft ist demnach ein dynamisches Gefühl, dem der Wunsch nach Steigerung innewohnt. Da Freunde jedoch nicht immer beieinander sein können, ist neben dem zeitweiligen persönlichen Besuch der Brief das einzige Mittel, „das Sinnliche unsrer Leidenschaft sowol ein Genüge zu thun, als sie noch mehr anzufeuern.“18 Klopstocks Brief illustriert diese zeitgenössische empfindsame These, dass das Feuer der Freundschaft, einmal entfacht, nach immer mehr verlangt, auf eindrückliche Weise. Die Freundschaft ist sein eigentliches und einziges, sein drängendes Thema. „Liebes, kleines Mädchen“, verschwenderisch nimmt die Anrede fast ein Drittel des zur Verfügung stehenden Raumes auf dem Blatt ein (vgl. Abb.), so dass am Ende der Platz knapp wird und die konventionelle Grußformel gerade noch in der rechten Ecke unterkommt. Zurückstehen muss ein ordentlich organisiertes Schriftbild hinter der Artikulation einer spontanen Geste, die durch das freundschaftliche Gefühl und nicht durch
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Vgl. Achim Aurnhammer u. a. (Hg.): Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung. Tübingen 2004. So z. B. J. W. L. Gleim, J. F. W. Zachariä, F. G. Klopstock, J. A. Ebert, C. Chr. Gärtner und N. D. Giseke an K. W. Ramler, 27.3.1751. In: Klopstock: Werke und Briefe (Anm. 1), S. 17–21. Das 72. Stück. In: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift. Bd. 1. Hg. v. Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. Nachdruck der Ausgabe Halle 1748–1750, neu hg. v. Wolfgang Martens. Hildesheim u.a. 1987. S. 583–592, hier S. 583. Ebd.
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sorgfältiges Kalkül regiert wird. Denn schon das Schreiben selbst ist die in sich bedeutungsvolle Tätigkeit, ein Freundschaftsbeweis. Darum ist dieser kurze Brief, der eigentlich, wie Klopstock Moller erklärt, nur das Substitut eines Briefes sein soll („Diesen kurzen Brief schreibe ich nur, Ihnen zu sagen daß ich Ihnen einen sehr langen schreiben würde, wenn ich nicht im Schiffe wäre“), kein Paradox, sondern die konsequente Anwendung des ihm zugrunde liegenden Freundschaftsprinzips. Für dieses ist neben der Länge und Kürze von Briefen auch ihre Frequenz als Dynamisierungsfaktor bedeutsam. So kehrt Klopstock nach eigenem Bekunden noch einmal unter Deck zurück, nur, um „noch einmal zu schreiben“ und seinem schon abgeschlossenen Brief auf einem neuen Blatt (vgl. Abb.), ohne neue Anrede und nur halb beschrieben, noch eine Mitteilung anzufügen. Sie fordert die neue Briefpartnerin auf, zu tun, was Klopstock ihr gerade vormacht: „oft schreiben“. Und dieser Freundschaftsbeweis, durch eine kurze Aufstellung unterstrichen, „Sie haben nun schon einen Brief aus dem Holsteinischen von mir. Und nun haben Sie zween“, überzeugt offensichtlich: „Mein lieber, lieber Klopstock. Sie sind gewiß ein süsser Freund. Schon zweene Briefe, und Sie sind noch nicht einmal in Koppenhagen!“19 Klopstock beendet seinen Brief mit einer direkt aus seiner dichten Schreibfrequenz abgeleiteten Schlussfolgerung, die schwer deutbar zwischen Großspurigkeit und Selbstironie changiert: „Das müssen Sie überhaupt von mir merken, ich lasse mich in der Freundschaft nicht übertreffen.“ (S. 33) Meta jedenfalls wird diese Herausforderung sehr selbstbewusst retournieren: „Sie lassen sich in der Freundschaft nicht übertreffen Herr Klopstock. Wir wollen sehen. [...] Ihre ganz ausserordentlich starke Freundinn. M. Moller“,20 und auch in kritischeren Momenten der jungen Freundschaft, als ernste Verstimmungen drohen, beharrt die Freundin: „Ich wiederhole es Ihnen, mein lieber Kl, daß ich in der Freundschaft eben so stark bin als Sie. – – –“21 Als Strukturmoment gehört dieses Kräftemessen sicher zur bereits angesprochenen inneren Dynamik des Freundschaftsmodells im 18. Jahrhundert. Andererseits lässt sich auf Klopstocks Seite ein nicht scherzhaft intoniertes, agonales Moment in der Vorliebe des Dichters für Wettstreit und Überbietung seit seinen ersten öffentlichen Äußerungen nachweisen.22 Erstaunlich aber ist
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Meta Moller an Friedrich Gottlieb Klopstock, 21.4.1751. In: Klopstock: Werke und Briefe. Abt. II, Bd. 2 (Anm. 1), S. 28. Ebd. Meta Moller an Friedrich Gottlieb Klopstock, 14.5.1751. In: Ebd., S. 37–40, hier S. 39. Vgl. dazu zusammenfassend Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock. Stuttgart, Weimar 2000. S. 17–21. Zum Motiv in der Korrespondenz zwischen Klopstock und Moller vgl.
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in jedem Fall die selbstgewisse Reaktion Metas, in der sich eine Paarkonstellation von historisch ungewöhnlicher Gleichberechtigung ankündigt, die eine spätere briefliche Äußerung Klopstocks in die Worte fasst: „Wenn ich ein Mädchen wäre, würde ich Sie seyn; u sie würde ich seyn. Das ist so gewiß als nur irgend die älteste Wahrheit seyn kann.“23 Ob der vorliegende Brief Klopstocks, auch wenn viel von Liebe in ihm die Rede ist, jedoch bereits als eine ‚Liebeserklärung‘ gelten kann, in der sich eben dieses Paar als ein solches erkennt, ist zu bezweifeln – auch wenn eine unmittelbar Beteiligte, Metas ältere Schwester Elisabeth Schmidt in der Rückschau ihn sogleich als solchen gedeutet zu haben meint. Sie hält über den Moment, als Meta Klopstocks Brief öffnet – „Vom Belte kam ein Brief, er war sehr kurz u äusserst mystisch“ –, aus der Erinnerung fest (sehr anders als Meta selbst Klopstock, wie oben zitiert, berichtete): „Der Brief ward gelesen, Meta ward still: (Schwester) Nun was steht in den [sic] Brief? (Meta) ich weiß nicht, da ließ. O das ist ja eine Liebeserklärung an dich.“24 Den Verdacht, dass Zweifel an der Erinnerung und Interpretationskunst der Schwester angebracht sind, deren Zeugnis Hermann Tiemann auch sonst „manche[ ] phantasievolle[ ] Zutaten“ bescheinigt hat,25 nährt nicht nur die konkurrierende Darstellung ihrer Lektüre des Briefs durch Meta selbst, sondern auch ein Blick auf die übrige Korrespondenz, die Klopstock an diesem Tag auf dem Großen Belt führt. Einer der beiden weiteren erhaltenen Briefe, die Klopstock auf der Überfahrt schreibt, geht an Johann Wilhelm Ludwig Gleim (Freund und Mittelpunkt eines ganzen Netzwerks an Freundschaftskorrespondenzen und nebenbei einer der größten Briefsammler seiner Zeit),26 mit dem einzigen Ziel, etwas über die Briefaktivitäten derjenigen zu erfahren, an die dann auch der andere Brief Klopstocks gerichtet ist: seiner Cousine Maria Sophia Schmidt, genannt ‚Fanny‘. In sie ist Klopstock, wie es den Anschein hat, tatsächlich leidenschaftlich verliebt: „Ich denke immer an Sie. Wenn ich so oft hätte schreiben wollen, als ich unterwegs an Sie gedacht
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Elke Clauss: Liebeskunst. Der Liebesbrief im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1993. S. 24–44. Friedrich Gottlieb Klopstock an Johann Jakob Bodmer, 12.12.1752. In: Ders.: Werke und Briefe (Anm. 1), Abt. II. Bd. 3. 1753–1758. Hg. v. Helmut Riege u. a. Berlin, New York 1988. S. 2–5, hier S. 3. Elisabeth Schmidt, geb. Moller: Über die erste Bekanntschaft zwischen Klopstock und Meta (undatiert). In: Meta Klopstock: Briefwechsel (Anm. 10), Bd. 1. S. 16–20, hier S. 20. Hermann Tiemann: Erläuterungen. In: Ebd. Bd. 3. S. 764. Vgl. Ute Pott (Hg.): Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen. Göttingen 2004.
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habe, so hätte ich nicht reisen, sondern schreiben müssen.“27 Wie unter einem Brennglas ist in diesen beiden Sätzen die Briefpoetik konzentriert, die Klopstock in seinem Brief an Meta ausführlicher entfaltet (man wüsste gerne, in welcher Reihenfolge Klopstock unter Deck Fanny und Meta geschrieben hat). Das Briefeschreiben ist Ausdruck und Herstellung der Nähe in Gedanken, aber wenn die Nähe zu groß ist, geraten die Passungsverhältnisse auseinander. Das Schreiben kommt dem Denken nicht mehr hinterher. Oder es würde die Gegenwart so ausfüllen, dass nichts anderes mehr zu tun möglich wäre: „so hätte ich nicht reisen, sondern schreiben müssen.“ Will Klopstock Meta in die Spielregeln des Freundschaftsbriefs einführen (was, wie sich zeigte, nicht nötig war), steigert er sie vor Fanny ins Maßlose als drängendes Indiz seiner Leidenschaft. Entsprechend bitter muss er sich bei Fanny über das Ausbleiben eines Briefs von ihr beklagen: „Ich hatte Sie in meinem lezten Briefe so sehr darum gebeten.“28 Einen Monat später wird endlich einer eintreffen und Klopstock daraufhin eine Zeit lang eine Doppelkorrespondenz mit Fanny und Meta führen, die – nicht ganz ohne Pikanterie – teilweise bis in den Wortlaut hinein identisch ist.29 Spätestens vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das kleine Liebesbekenntnis und der Kuss, den Klopstock in seinen Brief an Meta einbaut, nicht zu schwer genommen werden dürfen. Sie sind vielmehr Ausdruck der ‚sanften Revolution‘ (Tiemann) der neuen Rokoko-Kultur,30 die literarisch ihren Ausdruck in der sogenannten ‚Anakreontik‘ findet. Eine neue, scherzhaft spielerische, Anmut und Sinnlichkeit verbindende Leichtigkeit im Umgang sind für sie charakteristisch, wie etwa die immer „neuen Beynamen“, die Klopstock für seine Briefpartnerin Meta erfinden will, die Spiel und Teil der ‚hergestellten Nähe‘ zugleich sind. Hierzu gehört aber vor allem auch der Kuss, den Klopstock am Ende Meta an Friedrich von Hagedorn auszutragen bittet, einen der berühmtesten ‚Anakreontiker‘ im deutschen Sprachraum, den Klopstock bei seinem Hamburger Aufenthalt sechs Tage zuvor erstmals persönlich kennen gelernt hatte. Mag dem Tiefenhermeneuten heutiger Tage Klopstocks Auftrag als ein typischer Fall von libidinöser Verschiebung erscheinen, kultur-
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Friedrich Gottlieb Klopstock an Maria Sophia Schmidt, 11.4.1751. In: Ders.: Werke und Briefe. Abt. II, Bd. 2 (Anm. 1), S. 23 f., hier S. 23. Ebd. Vgl. Klopstock an Meta, 17.4.1751; Klopstock an Fanny, 11.5.1751; Meta an Klopstock, 29.4.1751. Zum Anteil Metas und aller hier Genannten an ihr vgl. Heinrich Tiemann: Nachwort. In: Meta Klopstock: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe. Briefwechsel mit Friedrich Gottlieb Klopstock und mit ihren Freunden, 1751–1758. Hg. v. Franziska u. Hermann Tiemann. München 1988. S. 475–489.
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historisch betrachtet ist er nichts anderes als ein Erkennungszeichen des anakreontischen Freundschaftsideals, nach dem man sich „auf einen Kaffee und einen Kuss“ besuchen kommt.31 Aber doch hat auch dieser Kuss eine konkrete Vorgeschichte, verbirgt sich vielleicht hinter dem Auftrag eine Anspielung, wenn man in diesem Fall dem Zeugnis der Quellen trauen darf. Sie führt zurück zum Besuch Klopstocks im Hause Mollers in Hamburg. Meta berichtet später im Rückblick ihrem Freund Giseke davon: Er [Klopstock] las ein Stück aus dem Mess:[ias] Die Schm. [Metas Schwester Elisabeth Schmidt] war dazugekommen. Er fragte, ob er nicht einen Kuß dafür verdient hätte? Die Schm. sagte ja. Ich sagte, ich küste keine Mannsperson. Er disputirte viel dagegen. Ich dachte, warum küst der Affe dich denn nicht? Du kannst ihm den Kuß ja nicht geben!32
Jedoch auch der „Affe“ war offensichtlich nicht zufrieden mit dem Küssen, er selbst schreibt wiederum an Giseke: Was die Bestellung von Hannchens [Johanna Catharina Eleonora Cruse, die spätere Frau Gisekes; J.J.] Küssen anbetrift, so läßt sich die Mollern durchaus nicht küssen. Denn ein Kuß auf die Backen, der noch dazu so ganz kaltsinnig angenommen wird, ist gar kein Kuß.33
Auch das Küssen ist demnach ein sehr differenziert handhabbarer Bedeutungsträger,34 der für die Skalierung von Freundschaftsverhältnissen genutzt werden kann. Meta jedenfalls reagiert in ihrer Antwort auf Klopstocks Brief so, wie dieser es dem gemeinsamen Freund geklagt hatte: „kaltsinnig“, in eher geschäftsmäßigem Ton: „Ihren Kuß an Hagedorn habe ich noch nicht überbracht, ich werde es aber bey der ersten Gelegenheit thun.“35 Spätere Zeiten haben für solche komplexen Gesellschaftsspiele weniger Sinn. Das zeigt im vorliegenden Fall die von anderer Hand vorgenommene Streichung der letzten, den Kuss an Hagedorn anweisenden Zeilen (vgl. Abb.) in Klopstocks Brief. Sie leitet zur Editionsgeschichte des erstmals von Hermann Tiemann 1956 veröffentlichten Briefs über.36
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Friedrich Gottlieb Klopstock an J. W. L. Gleim, 16.6.1750, zitiert nach: Otto F. Best unter Mitarbeit von Wolfgang M. Schleidt: Der Kuss. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1998. S. 342. Meta Klopstock über den 4.4.1751 an Nikolaus Dietrich Giseke, 11.12.1753. In: Meta Klopstock: Briefwechsel (Anm. 10), Bd. 1. S. 6–16, hier S. 14. Friedrich Gottlieb Klopstock an Nikolaus Dietrich Giseke, 4.5.1751. In: Ders.: Werke und Briefe. Abt. II, Bd. 2 (Anm. 1), S. 31–33, hier S. 32. Einen kulturgeschichtlichen Überblick dazu vermittelt Otto F. Best: Kuss (Anm. 31). Meta Moller an Friedrich Gottlieb Klopstock, 21.4.1751. In: Klopstock: Werke und Briefe. Abt. II, Bd. 2 (Anm. 1), S. 28. Vgl. Meta Klopstock: Briefwechsel (Anm. 10), Bd. 1. S. 24 f.
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Die Ausstreichung, die neben der Stelle: „Ich dächte Sie gingen hin, u besuchten Hagedorn, u küßten ihn von mir“ auch noch versehentlich das angrenzende ‚Ich‘ mit erfasst, geht vermutlich auf ein Anfang des 19. Jahrhunderts geplantes, aber nicht zur Ausführung gekommenes Vorhaben der Publikation von Klopstocks Korrespondenz zurück.37 Die Sigle ‚d.‘ für ‚deleatur‘ (‚es möge getilgt werden‘)38 am linken Briefrand lässt dabei auf planmäßiges Vorgehen schließen, und tatsächlich fällt auch Metas Versprechen im Antwortbrief, den Kuss zu überbringen, einem Strich zum Opfer. Der in diesem Fall glücklicherweise rückgängig zu machende Tilgungsversuch ist jedoch nicht allein ein Exempel für Prüderie oder Diskretion, letztere vielleicht verstärkt durch das Bewusstsein, mit der Edition von Briefen besondere, intime, lebensgeschichtliche Zeugnisse zu publizieren (so war Meta Moller später nicht an der Veröffentlichung ihrer Korrespondenz gelegen).39 Sondern die spätere ‚Bearbeitung‘ des Briefs belegt darüber hinaus anschaulich die kulturellen Veränderungen, denen auch vermeintlich universale und zeitlose Gefühle wie Freundschaft oder Liebe und ihre jeweiligen Ausdrucks- und Darstellungsformen unterliegen. Die bislang erst ansatzweise erschlossene lange Geschichte des Liebesbriefs40 kann dies ebenso belegen wie Klopstocks Brief an Meta im Kleinen, der schließlich doch, ungekürzt, seine Editoren fand.
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Vgl. Tiemann: Einführung (Anm. 10), S. 744 f., sowie den Kommentar in Klopstock: Werke und Briefe. Abt. II, Bd. 2 (Anm. 1), S. 286 f. Vgl. Tiemann: Einführung (Anm. 10), S. 744. Vgl. ebd., S. 740 f. Vgl. Renate Stauf u. a. (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2008.
Wolfgang Amadeus Mozart an seinen Vater Leopold, 4. April 1787 À Monsieur Monsieur Leopold de Mozart / Maître de La Chapelle de S. A. R. / à / Salzbourg Mon tres cher Père! – Mir ist es sehr unangenehm, daß durch die Dummheit der storace Mein Brief nicht in ihre hände gekommen ist; – ich schrieb ihnen unter andern darin, daß ich hofte sie würden mein leztes Schreiben erhalten haben – da sie aber von diesem Schreiben gar keine Meldung machen |: es war der 2te brief von Prag :| so weis ich nicht was ich denken soll; es ist leicht möglich daß so ein Bedienter vom graf Thun es für gut befunden hat, das Postgeld im Sack zu stecken; – ich wollte doch lieber doppelt Postgeld zahlen, als meine briefe in unrechten Händen wissen, – diese fasten kammen Ramm und 2 Fischer hieher – der Baßist und der Oboist von London. – wenn lezterer zu der zeit als wir ihn in Holland kannten nicht besser geblasen hat als er izt bläst, so verdient er gewis das Renomeè nicht, welches er hat. – Jedoch unter uns gesagt. – ich war damals in den Jahren wo ich nicht imstande war ein urtheil zu fällen – ich weis mich nur zu erinnern, daß er mir ausserordentlich gefiel, so wie der ganzn Welt; – man wird es freylich natürlich finden, wenn man annimt daß sich der geschmack ausserordentlich geändert hat. – er wird nach einer alten schule Spielen. – aber Nein! – er Spielt mit einem Wort, wie ein Elender scolar – Der Junge Andrè der beym fiala lernte Spielt tausendmal besser – und dann seine Concerte – von seiner eigenen Composition – Jedes Ritornell dauert eine Viertelstunde – dann erscheint der Held – hebt einen bleyernen fus nach dem andern auf – und Plumpsst dann wechselweise damit zur Erde – sein Ton ist ganz aus der Nase – und seine temata ein tremulant auf der Orgel. hätten sie sich dieses Bild vorgestellt? – und doch ists nichts als Wahrheit – aber Wahrheit die ich nur ihnen sage. – diesen augenblick höre ich eine Nachricht, die mich sehr niederschlägt – um so mehr als ich aus ihrem lezten Vermuthen konnte, daß sie sich gottlob recht wohl befinden; – Nun höre aber daß sie wirklich krank seyen! wie sehnlich ich einer Tröstenden Nachricht von ihnen selbst entgegen sehe, brauche ich ihnen doch wohl nicht zu sagen; und ich hoffe es auch gewis – obwohlen ich es mir zur gewohnheit gemacht habe mir immer in allen Dingen das schlimmste vorzustellen – da der Tod |: genau zu nemmen :| der wahre Endzweck unsers lebens ist, so habe ich mich seit ein Paar Jahren mit diesem wahren, besten freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes! und ich danke meinem gott, daß er mir das glück
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Wolfgang Amadeus Mozart an seinen Vater Leopold, 4.4.1787
gegönnt hat mir die gelegenheit |: sie verstehen mich :| zu verschaffen, ihn als den schlüssel zu unserer wahren Glückseeligkeit kennen zu lernen. – ich lege mich nie zu bette ohne zu bedenken, daß ich vielleicht |: so Jung als ich bin :| den andern Tag nicht mehr seyn werde – und es wird doch kein Mensch von allen die mich kennen sagn können daß ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre – und für diese glückseeligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie vom Herzen Jedem meiner Mitmenschen. – Ich habe ihnen in dem briefe |: so die storace eingepackt hat :| schon über diesen Punkt |: bey gelegenheit des traurigen Todfalls Meines liebsten besten Freundes grafen von Hatzfeld :| meine Denkungsart erklärt – er war eben 31 Jahre alt; wie ich – ich bedaure ihn nicht – aber wohl herzlich mich und alle die welche ihn so genau kannten wie ich. – Ich hoffe und wünsche daß sie sich während ich dieses schreibe besser befinden werden; sollten sie aber wieder alles vermuthen nicht besser seyn, so bitte ich sie bey ......1 mir es nicht zu verhehlen, sondern mir die reine Wahrheit zu schreiben oder schreiben zu lassen, damit ich so geschwind als es menschenmöglich ist in ihren Armen seyn kann; ich beschwöre sie bey allem was – uns heilig ist. – Doch hoffe ich bald einen Trostreichen brief von ihnen zu erhalten, und in dieser angenemmen Hoffnung küße ich ihnen sammt meinem Weibe und dem Carl 1000mal die hände, und bin Ewig ihr gehorsamster Sohn W. A. Mozart. Wolfgang Amadeus Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Bd. 4. 1787–1857. Hg. v. Wilhelm A. Bauer u. Otto E. Deutsch. Kassel u. a. 1963. S. 40–42.
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Von Mozart selbst punktiert.
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Der Brief als Inszenierung von Unmittelbarkeit. Mozart schreibt seinem Vater Die klassische Definition des Briefes als eines Gesprächs unter Abwesenden geht einher mit der Beobachtung, dass der Schreibende zum Zeitpunkt des Briefschreibens über ein Wissen verfügt, das sich von demjenigen unterscheidet, über das zur selben Zeit der imaginierte Adressat verfügt. Dieser wird erst mit der dem Brieftransport inhärenten Verspätung von diesem Wissensstand des Briefsenders erfahren – wobei wir heute Zeugen einer Minimalisierung dieser Zeitdifferenz sind, die nahezu gegen Null strebt, mit der Folge, dass gelegentlich der Eindruck entsteht, der minimalisierten Zeitdifferenz korrespondiere eine Minimalisierung von Inhalten.1 In der Geschichte des Briefes und der Briefliteratur ist die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, in die auch Mozarts Leben fällt, durch eine besondere Affinität geprägt, die Spannung zwischen dem Wissensstand von Sender und Empfänger als Potential dramatischer Konflikte zu nutzen. Und diese Spannung kann in einer zweifachen Hinsicht beschrieben werden, die auch für die Auseinandersetzung mit den Briefen Mozarts wichtig wird: Auf der einen Seite ist die mit dem Brief verknüpfte Differenz zwischen Sender und Empfänger Chance einer sich möglicherweise emphatisch artikulierenden Subjektivität, indem der Brief zu einer Art Seelenaussprache werden kann, wie sie vor allem im empfindsamen Briefroman der Zeit sichtbar wird, von Richardson über Rousseau bis zu Goethes Werther. Auf der anderen Seite kann die Differenz zwischen Sender und Empfänger als Medium der Intrige, der vorenthaltenen oder irreführenden Mitteilung instrumentalisiert werden, indem hier der Glaube an die subjektive Authentizität des Briefes bewusst missbraucht wird: Von dieser Form der Intrige macht auch der Roman der Zeit Gebrauch, etwa in den Liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos, vor allem aber wird sie
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Zur Theorie und Geschichte des Briefes im 18. Jahrhundert vgl.: Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830. Göttingen 2001; Peter Bürgel: Der Privatbrief. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976). S. 281–297; Angelika Ebrecht u. a. (Hg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart 1990; Wolfgang G. Müller: Der Brief. In: Klaus Weissenberger (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Tübingen 1985. S. 67–87; Reinhard M. G. Nickisch: Der Brief. Stuttgart 1991; Irmtraud Schmid: Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus ‚Brief‘ als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung. In: editio 2 (1988). S. 1–7.
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zu einer gerne genutzten Verfahrensweise des Theaters, wenn man nur etwa an Die Räuber oder Kabale und Liebe denkt, wo durch Briefe, durch Briefintrigen die Handlung wesentlich beeinflusst und zur Katastrophe geführt wird. Mozart hat wie wohl nur wenige andere diesen Bühnencharakter des Briefes durchschaut, geliebt und genutzt. Nicht nur, dass er, etwa in Figaros Hochzeit, einen zeitgenössischen, politisch brisanten Stoff auf die Bühne bringt und seinerseits mit dem Briefduett2 von Gräfin und Susanna und im dritten Akt erheblich zuspitzt: Zweifellos gehört Mozart zu den herausragenden, zu den originellsten Briefschriftstellern überhaupt – das Briefschreiben erstreckt sich lebensgeschichtlich über sein freilich nur kurzes Leben. Mozarts Briefe verfügen mit französischen und lateinischen Einsprengseln und weitläufigeren italienischen Partien nicht nur über ein erhebliches Spektrum an Sprachen. Immer wieder werden die Briefe zu einer Begegnung zwischen urbaner Weltläufigkeit eines außerordentlich weit gereisten Mannes, der sich „täglich in der französischen sprache geübt und nun schon 3 lectionen im Englischen genommen“ hat,3 und einem Bürger in höfischen oder bischöflichen Diensten, der als Mensch des späten 18. Jahrhunderts die Entwicklung eines Nationalbewusstseins spiegelt: „das wäre Ja ein Ewiger Schandfleck für teutschland“, heißt es sarkastisch gegenüber dem Textdichter Anton von Klein am 21. Mai 1785,4 „wenn wir teütsche einmal mit Ernst anfiengen teutsch zu denken – teutsch zu handeln – teutsch zu reden, und gar teutsch – zu Singen!!!“ Gewinnen die Briefe Mozarts durch diese spannungsgeladene Vielstimmigkeit eine repräsentative Objektivität im Sinn ihrer Zeit, so zeichnet sich ihre letztlich völlig unverwechselbare Individualität durch eine Eigenheit aus, die nicht schlicht als Subjektivität erfasst werden kann, aber doch als eine bezeichnende, gleichwohl sich jeweils neu formulierende Reichhaltigkeit an Spielarten. Vor allem sind sie durch die Vielzahl unterschiedlicher Stile geprägt, die eigentlich ohne Nachfolge geblieben ist und von kindlich-naivem Ton, humorvoll gegenüber der älteren Schwester schon auf den Italienreisen erprobt: „schreibe mir, und seye nicht so faul, altrimenti averete qualche bastonate di me. quel plaisir! Je te caßerei la tete“,5
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Vgl. Volker Klotz: Briefe auf der Bühne. Dramatische Sprengkraft vertraulicher Schriftstücke. In: Ders.: Gegenstand als Gegenspieler. Widersacher auf der Bühne: Dinge, Briefe, aber auch Barbiere. Wien 2000. S. 90–192. Wolfgang Amadeus Mozart an den Vater, 17. August 1782. In: Ders.: Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Hg. v. Wilhelm A. Bauer u. Otto E. Deutsch. Bd. 3. 1787–1857. Kassel u. a. 1963. S. 221. Ebd., S. 393. Wolfgang Amadeus Mozart an die Schwester, 5. Juni 1770. In: Ders.: Briefe und Aufzeichnungen (Anm. 3), Bd. 1. Kassel u. a. 1962. S. 358.
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über die skatologisch-derben Töne, die er 1777–1781 hauptsächlich an die Augsburger Cousine Maria Anna Thekla richtet: iezt wünsch ich eine gute nacht, scheissen sie ins beet daß es kracht; schlafens gesund, reckens den arsch zum Mund; ich gehe izt nach schlaraffen, und thue ein wenig schlaffen[,]6
bis hin zu den Briefen an seine Frau Constanze reicht, in denen mitunter konsequent die dem Brief zugesprochene Subjektivität sich zu einer für Dritte unverständlichen Geheimsprache steigert.7 Dazwischen stehen Briefe offiziellerer, objektiverer Art, etwa wenn er sich im Juli 1778 aus Paris an den Familienfreund Abbé Bullinger wendet, um über ihn den Vater auf die schmerzliche Nachricht vom Tod von Mozarts Mutter vorzubereiten,8 oder auch die an den Logenbruder Michael Puchberg adressierten 21 Bittbriefe, in denen Mozart möglicherweise seine pekuniäre Lage dramatisiert haben mag. Ulrich Konrad, dessen Einführungsessay zum 8. Band der Briefe und Aufzeichnungen zu den besten Darstellungen dieses Briefwechsels gehört, betont den spielerischen und immer wieder experimentellen, den sprachschöpferischen, aber gleichwohl dem Anspruch nach nicht literarischen Charakter dieser Briefsprache.9 Ein besonderes Kapitel stellen indes die Briefe Mozarts an seinen Vater dar, Leopold Mozart, der es offenbar dem sich seiner Bevormundung nach und nach entziehenden Sohn nicht verziehen hat, sich auf Dauer für den Aufenthalt in Wien zu entscheiden und dort die Ehe mit Constanze zu schließen. Obwohl die Briefe des Vaters vielfach nicht überliefert sind, wird aus den Antworten des Sohnes deutlich, wie sehr sie sich als unmittelbare Antworten in einem Gesprächszusammenhang bewegen, an dem, bei zunehmender Distanz zwischen Vater und Sohn, die Tochter bzw. Schwester einen wichtigen Anteil haben sollte, so dass die Briefe nicht nur Ich-Du-Gespräche, sondern auch Dreiecksbeziehungen zum Ausdruck bringen. Momente von Verteidigung und offenbar vorausgegangener Anklage, von Legitimation und Erläuterung, von Entschuldigung und Enttäuschung zeigen, auf welche höchst subtile und doch zwingende Weise die Briefe vom Sohn an den Vater Teil des zeitgenössischen Generationendiskurses sind, wie er in der Literatur des Sturm und Drang zum Vorschein kommt. Auch die Materialität der Briefe, der Blick in die Handschriften zeigt die individuellen Spannungen, unter denen diese
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Wolfgang Amadeus Mozart an M. A. Thekla, 5. November 1777. In: Ebd. Bd. 2. Kassel u. a. 1962. S. 104. Vgl. Wolfgang Amadeus Mozart an Constanze Mozart, 13. April 1789. In: Ebd. Bd. 4. Kassel u. a. 1963. S. 81. Vgl. Wolfgang Amadeus Mozart an Abbé Bullinger. In: Ebd. Bd. 2. S. 390 f. Vgl. Ulrich Konrad: Mozart, der Briefschreiber. In: Ebd. Bd. 8. Kassel u. a. 2005. S. 9–40.
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Briefe ausgetauscht werden: Nicht nur, dass den eher erzählerisch ausholenden längeren Briefen des Vaters die gedrängte Gehetztheit vieler kürzerer Briefe auf Seiten des Sohnes je länger je mehr gegenübersteht (auch wenn erhebliche Verluste an Briefen zu berücksichtigen sind), auch die Handschrift Mozarts „spiegelt die fliegende Hast, mit der die Briefe zu Papier gebracht worden sind“.10 Zwar hat Mozart nicht wie später Franz Kafka zu einem umfassenden Brief an den Vater ausgeholt, um darin das Zerstörerische einer engen Abhängigkeit zu analysieren, aber auch Mozarts Briefe sind Zeugnisse einer Emanzipation aus väterlicher Macht. Umso heikler ist daher die Einschätzung des letzten Briefes, den Mozart an seinen Vater richtete, datiert auf den 4. April 1787, wenige Wochen vor dem Tod Leopolds am 28. Mai. Dieser Brief spielt in der Geschichte der Mozartbiographik eine besondere Rolle, weshalb seine Problematik – in ihrer Uneindeutigkeit – geeignet sein mag, das beträchtliche Briefœuvre des Komponisten zu vertreten und der Illustration zu dienen, wo es um Schwierigkeiten der Briefinterpretation geht. Auf der einen Seite spricht der Brief in einem Ton unmittelbarer Betroffenheit angesichts der „diesen augenblick“ (S. 47) eingetroffenen Nachricht von der schweren Erkrankung des Vaters, die zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung Mozarts mit dem Tod Anlass zu geben scheint. Gerade aufgrund des Seltenheitscharakters solcher Bekenntnishaftigkeit und Reflexivität in Mozarts Briefen mag die Versuchung besonders groß sein, diese Zeilen als Ausdruck persönlicher Betroffenheit zu verstehen und sie gar in die These zu verlängern, aus ihnen spreche eine sonst eher musikalisch beglaubigte Nähe Mozarts zum Tod. Gegen eine solche biographische Instrumentalisierung hat sich vor allem Wolfgang Hildesheimer gewandt, der diesem Zeugnis mit eklatantem Misstrauen begegnet: Nach Hildesheimers Darstellung ist dieses Misstrauen dadurch begründet, dass dieser Brief sich als der einzige der VaterSohn-Korrespondenz aus einem Zeitraum von drei Jahren erhalten habe.11 Dass aber die Entfernung Mozarts vom Vater, der ihn im Frühjahr 1785 noch in Wien aufgesucht hatte, so weit gegangen wäre, dass es dem Sohn gleichgültig geworden sei, den Vater so krank zu wissen, ist in keiner Hinsicht glaubwürdig. Die Vermutung, mit diesem Brief liege eine Manipula-
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Ebd., S. 37; vgl. Anne Bohnenkamp u. Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethemuseum. Frankfurt/M., Basel 2008. Gegen die Abwertung dieses Briefes wendet sich Hanns-Josef Ortheils Essay über die Mozart-Briefe. Vgl. Hans-Josef Ortheil: Mozart im Innern seiner Sprachen. München 1982. S. 178–181.
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tion wo nicht gar eine Fälschung vor,12 zumal das Autograph verschollen sei, zeugt von einer voreiligen Begrenzung des Mozartschen Rollenrepertoires, von dessen Unabsehbarkeit und Außerordentlichkeit Hildesheimer sonst überzeugt ist. Warum sollten Trauer und Mitgefühl im Umgang mit dem todkranken Vater nicht glaubwürdig sein – Mozarts Reaktion auf den Tod, gegenüber der Schwester, ist alles andere als kalt. Auch der in diesem Brief vorgenommene „Versuch einer Objektivierung des eigenen Selbst ist gänzlich unmozartisch“, so Hildesheimer,13 – die Briefe seien niemals „Ergebnis gedanklicher Spekulation, geschweige denn Reflexion“.14 Hier wird eine Tabuisierung entwickelt, die dem Duktus des Briefes Unrecht tut. Martin Geck hat versucht, die Ästhetik Mozarts mit der Metapher „Harlequin komponiert“ zu verknüpfen – „denn wir tun uns schwer, Mozart einen einzigen Stil zuzuschreiben“. Seine Fähigkeit, „sich in jede beliebige Person versetzen“ zu können, ist dabei vor allem eine theatralische Begabung.15 Gegen Hildesheimers Reflexionsverdikt wird in Gecks mitunter turbulenter Darstellung dann auch eine Möglichkeit für den „reflektierenden Komponisten“ gesehen.16 Diese Polyphonie des Komponisten auf den Briefschreiber Mozart zu übertragen, unternimmt Geck nicht, er kommentiert die Divergenzen des Briefes vom 4. April 1787 mit einem „wie auch immer“.17 Liest man den Brief als Partitur unterschiedlicher Stimmen, aus denen sich ein Spiegel Mozartscher Briefmöglichkeiten ergibt, zeigt er eine viel größere Breite als die bloße Einschränkung auf den Tod vermuten ließe. Die Konventionalität der Briefsprache des 18. Jahrhunderts bekundet sich in der Umständlichkeit der Adresse und in der Stilisiertheit von Anrede und Schlusswendung. Da ist zum einen der Charakter des Briefwechsels, also der für dieses Genre konstitutive Austausch von Bestätigung, Rückversicherung und Beantwortung. Ein vorausgegangener, sicherheitshalber
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Vgl. Wolfgang Hildesheimer (Hg.): Mozarts Briefe. Frankfurt/M. 1980. S. 133. Der Brief wurde in Nikolaus Georg von Nissens Biographie W. A. Mozart’s (Leipzig 1828) erstmals, wenn auch gekürzt, publiziert, das Original ist aber nach dem Ausweis der Gesamtausgabe der Briefe und Aufzeichnungen 1971 nicht mehr erhalten gewesen. Vgl. Mozart: Briefe und Aufzeichnungen (Anm. 3), Bd. 6. Kassel u. a. 1971. S. 350. Der Zeitpunkt des Verlustes ist nicht angegeben, wohl aber als früherer Besitzer ‚W. Heyer, Köln‘. Eine Abschrift des Briefes, von der Hand Josef Hauers (1802–1876), liegt in Berlin; vgl. Rudolf Elvers (Hg.): Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz. Kataloge der Musikabteilung. Erste Reihe, Handschriften. Bd. 6. W. A. Mozart, Autographen und Abschriften. Bearb. von HansGünter Klein. Berlin, Kassel 1982. S. 430. Hildesheimer: Mozarts Briefe (Anm. 12), S. 133. Ebd., S. 9. Martin Geck: Mozart. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2005. S. 220–222. Ebd., S. 239. Ebd., S. 163.
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von Mozart gezählter Brief, „es war der 2te brief von Prag“ (S. 47), scheint nicht angekommen, wie Mozart aus einer – nicht erhaltenen – Nachricht des Vaters schließen muss; sein Verdacht, dass „so ein Bedienter“ (S. 47) das Postgeld für sich genommen haben mag, bezeugt die medien- wie die sozialgeschichtliche Umgebung des Kommunikationsmittels ‚Brief‘, das nicht nur mit Subjektivität, sondern auch mit Geld zu tun hat. Zum anderen ist der Brief Spiegel privater Situationen, „die Dummheit der storace“ (S. 47) bezieht sich auf eine Vermutung des Vaters, der die auch von Mozart unterstützte Sängerin dafür verantwortlich gemacht hat, dass ein Brief abhanden gekommen ist (in einem Brief Leopolds an seine Tochter, 1. März 1787, belegbar).18 Zum dritten spielt der Brief im Bereich des musikalischen Detailwissens, das Vater und Sohn verbindet, denn er bezieht sich mit dem genannten Oboisten Johann Christian Fischer auf einen gemeinsamen Bekannten des Aufenthaltes in Holland 1765/66. Mit diesen drei Schichten sind Aspekte berührt, die in zahlreichen anderen Mozartbriefen geläufig sind. Erst mit der vierten, der existenziellen Schicht, kommt ein Spezifikum ‚dieses‘ Briefes zum Vorschein, das ihn dem Verdacht ausgesetzt hat. Mit der plötzlichen Wendung „diesen augenblick höre ich eine Nachricht“ (S. 47) gewinnt der bislang im eher ‚Weltlichen‘ angesiedelte Text eine Tiefendimension, deren ‚Echtheit‘ wohl kaum zu verifizieren oder falsifizieren ist – das Autograph ist verschollen. Andererseits hat Mozart schon im anderen Fall einer solchen existentiellen Bedrohung – beim Tod seiner Mutter, den der 22-jährige Anfang Juli 1778 seiner Familie, seinem Vater! mitteilen musste – den Zusammenhang von Tod und Auferstehung bedacht und ein Zeugnis seiner Gläubigkeit abgelegt.19 Als Argument für die Glaubwürdigkeit mag gelten, dass die oben angesprochene erste Schicht auch in diesem Teil des Briefes eine Fortführung erfährt, indem der Schreiber sich in einen imaginären Briefwechsel hineindenkt, dem er Nachrichten, aber auch Trost über den Gesundheitszustand des Vaters zu entnehmen hofft: „[…] wie sehnlich ich einer Tröstenden Nachricht von ihnen selbst entgegen sehe“, heißt es, „brauche ich ihnen doch wohl nicht zu sagen“ (S. 47). Hier wird die Gesprächs- und Lebensader des Briefes angesprochen, der Brief gleichsam als Bestätigung einer am anderen teilnehmenden Lebendigkeit. Von daher ist der Schritt von der – auch rhetorisch geprägten – Korrespondenz im wörtlichen Sinn zu einer existenziellen (vierten) Schicht nicht unüberwindbar groß. Die zentrale Schicht, die aus dem weniger
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Leopold Mozart an seine Tochter, 1. März 1787. In: Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Bd. 4 (Anm. 7), S. 28. Vgl. Wolfgang Amadeus Mozart an Leopold Mozart, 3. Juli 1778, u. W. A. Mozart an Abbé Bullinger. In: Ebd., Bd. 2. S. 387–390 und S. 390 f.
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auffälligen Briefanfang zu rekonstruieren war, findet ein Echo in der persönlichen, auch hier ins Existenzielle übertragenen Erinnerung, die in der zweiten Briefhälfte dem früh verstorbenen Grafen von Hatzfeld gilt. Aber auch das Vater und Sohn gemeinsame Interesse (dritte Schicht), das zunächst auf der Ebene des musikalischen Handwerks, mit den genannten Musikernamen, bezeugt worden war, bricht nicht ganz ab, sondern findet in der zweiten Briefhälfte seine Fortsetzung: Nur dass es jetzt nicht wieder um Musiker geht, sondern um gleichsam gemeinsames Denken vor dem Hintergrund der Logenbruderschaft. Gerade die Tatsache, dass Mozart mit dem Gedanken vom Tod als „wahre[m] Endzweck unsers lebens“ (S. 47) vermutlich auf Ideen von Moses Mendelssohns Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele von 1767 zurückgeht, wäre als bloße Konventionalität zu lesen doch wohl zu wenig, denn Vater und Sohn waren durch die Zugehörigkeit zum Orden miteinander verbunden.20 Ein Anliegen der Freimaurerloge ‚Zur Wahren Eintracht‘ war, in den ‚Großen Mysterien‘ die Symbolik von Tod und Wiedergeburt zu vermitteln. Auch an die zur Meisterweihe führenden Initiationsrituale könnte der Brief anknüpfen.21 Wolfgang Hildesheimers Aufregung über die Instrumentalisierung dieses Briefes zu einem „starken Zeugnis für die durchgehende Innerlichkeit“ Mozarts, die er dem Kommentar der Briefe und Aufzeichnungen22 und dem dort gegebenen Zitat aus Walther Rehms Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik entnommen haben dürfte, ist ebenso verständlich wie übertrieben. Denn Hildesheimer monumentalisiert Rehms Rede von der Innerlichkeit, die sich auf das Vater-Sohn-Verhältnis bezieht, zu einer Art Todesphilosophie und Reflexivität unmozartischen Ausmaßes, und andererseits lässt sich dieser strittigere Teil des Briefes – den gerade Hildesheimer in seiner Auswahlausgabe von 1980 nach dem Muster der Nissenschen Mozartbiographie von 1828 gekürzt zitiert! – sehr wohl in die Gesamtheit des Briefes einbinden. Sicherlich wäre es übertrieben, dem Brief an den Vater ein besonderes Maß an innerer Authentizität zuzusprechen, aber bei aller Einsicht in die Stimmen- und Rollenvielfalt seiner Briefe ist nicht zu übersehen, dass gerade ‚in‘ der Dialogizität dieses Genres eine Chance persönlicher Direktheit genutzt wird. Mozart gibt sich hier nicht einfach in unmittelbarer Selbstaussprache zu verstehen, aber eben im imaginären Gespräch mit
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Vgl. Mozart: Briefe und Aufzeichnungen (Anm. 3), Bd. 7. Kassel u. a. 1975. S. 351. Vgl. Harald Strebel: Der Freimaurer Wolfgang Amadé Mozart. Stäfa 1994. S. 41–46, mit einer harten Kritik an Hildesheimer. Vgl. auch Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium. München 2005. S. 220–222. Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Bd. 7 (Anm. 20), S. 351.
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dem andern kommt ein freilich ‚hergestellter‘ Dialog in Gang, der aber ein hohes Maß an vermittelter Direktheit erlaubt. Dazu dient im Brief vor allem das Verhältnis von Syntax und Rhythmus, findet sich doch kaum ein durchgeschriebener Satz, der nicht durch Konkretisierungen: „und dann seine Concerte – von seiner eigenen Composition – Jedes Ritornell dauert eine Viertelstunde“ (S. 47), Adressatenbezüge: „Jedoch unter uns gesagt“ (S. 47) oder Reflexionen: „aber Nein!“ (S. 47) unterbrochen würde und dadurch Lebendigkeit und Unmittelbarkeit gewönne. Die Syntax folgt dabei nicht einer logischen Hierarchie des Hypotaktischen, auch nicht der Maßgabe ästhetischer Variation, sondern sie protokolliert offenbar eine allmähliche Verfertigung beim Schreiben. Dazu gehört als weitere Eigenheit dieses Briefes die Virtuosität der Satzzeichen – ich zähle 37 Gedankenstriche, hinzukommen zahlreiche Semikola, aber auffallend wenig Punkte –, die ihm etwas Unabgeschlossenes, Fließendes geben. Texthervorhebungen (für die man sich freilich auf die Drucke verlassen muss) und besonders die in Virgel und Doppelpunkte eingeklammerten Formulierungen: „genau zu nemmen“ (S. 47), „sie verstehen mich“ (S. 48), „so Jung als ich bin“ (S. 48) bilden eine Vielstimmigkeit ab, die nicht allein dem theatralischen Harlequin und Alleskönner zugesprochen werden kann, sondern ein Zeichen einer sich in Dialog und Kreativität entfaltenden Individualität sein mag. Dazu würden weitere biographisch-ästhetische Phänomene gehören, wonach Mozart in euphorischer Stimmung in Versen zu sprechen begann23 oder auch in den Briefen dialogisierte Passagen unterbrachte.24 Der Brief, so könnte man sagen, ist in seiner Doppelbestimmung von imaginiertem Dialog und adressiertem Selbstgespräch für den Musiker Mozart eine dankbar genutzte sprachliche Form, mittels Rollenspiel und Stilvielfalt jene Möglichkeit virtuoser Inszenierung zu erproben, die seine Musik dadurch einmalig werden lässt, dass nicht ‚ein‘ Stil als individueller Ausdruck gelten kann, sondern dass Polyphonie und Identität auf beispiellose Weise zusammenkommen.
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Vgl. Alexander Oulibicheff: Mozart’s Leben. 3 Teile. Bd. 1. Stuttgart 1846. S. 241, sowie Bd. 2. Stuttgart 1847. S. 46. Vgl. Wolfgang Amadeus Mozart an den Vater, 29./30. September 1777. In: Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Bd. 2 (Anm. 6), S. 23 f.
Ludwig Tieck an „die Weller“, 17. August 1793 Brief verschollen, Text unbekannt.
Jürgen Joachimsthaler
Empfindsamkeitsabwehr. Zu einem verschollenen Brief Ludwig Tiecks I. Ein verschollener Brief Um den 13. August 1793 schrieb Ludwig Tieck aus Erlangen einen Brief an eine Frau namens Weller in Dahme. Dieser Brief ist nicht überliefert. Ludwig Tieck hatte ihn einem (erhaltenen) Schreiben an seine Schwester Sophie in Berlin mit der Bitte beigelegt, ihn an „die Weller“ weiterzusenden. Wir wissen von ihm nur, weil er in der Korrespondenz zwischen Ludwig und seiner Schwester Sophie Tieck mehrfach erwähnt wird;1 er scheint für die Geschwister Tieck und „die Weller“ von einiger Bedeutung gewesen zu sein. Dass Briefe verloren gehen, ist eher die Regel; bewusst mit Blick auf die Nachwelt aufbewahrte oder gar geschriebene Briefe stellen eine Ausnahme dar, die freilich im Nachhinein unsere Vorstellung von Briefen vergangener Epochen prägt: Wir kennen ja nur die erhaltenen, die oft durch gestaltete Überlieferungskontexte wie Werkzusammenhänge, Sammlungen oder Editionen in einen Deutungsrahmen eingeordnet sind, der ihre Lektüre leitet. Wie aber geht man mit den Hinweisen auf einen verschollenen Brief um? Lässt sich im Rahmen eines Bandes mit Interpretationen von Brieftexten ein unbekannter Brief behandeln, über dessen Entstehungsumfeld zwar etliche Details nachweisbar sind, auf dessen konkreten Textbestand aber nicht einmal ein einziges Zitat oder eine auch nur auszugsweise Zusammenfassung zweifelsfreien Rückschluss erlauben? Da der Verlust von Briefen historischer Normalfall ist, der gerade auch den stark zersplitterten Briefnachlass Ludwig Tiecks kennzeichnet,2 und die Rekonstruktion und Interpretation verschollener Briefe mit zum Aufgabenbereich der Briefforschung gehören, soll dieser Brief als Beispiel dafür genutzt werden, wie mit solchen Briefen, genauer: mit den wenigen ______________ 1
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Die Briefzitate und Verweise auf erschlossene Briefe folgen in vereinfachter Form Bd. I der bei Thelem in Dresden in Vorbereitung befindlichen Historisch-kritischen Ausgabe der Briefwechsel Ludwig Tiecks. Hg. v. Walter Schmitz in Verbindung mit Jürgen Joachimsthaler und Jochen Strobel (Bd. I bearbeitet v. J.J. unter Mitwirkung v. Claudia Neumann u. a.). Zur Überlieferungssituation vgl. Richard Littlejohns: Die Briefsammlung Ludwig Tiecks. Zur Entstehung eines literaturgeschichtlichen Problems. In: Aurora 47 (1987). S. 159–175.
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Informationen über sie, umgegangen werden kann. An die Stelle des Briefes treten zunächst Spuren, Hinweise und Vermutungen oft sehr zweifelhaften Charakters. Der verlorene Brieftext fungiert dabei als interpretationsbedürftige Lücke in der ohnehin brüchigen Überlieferung. Er kann nicht wieder hergestellt, sondern nur eingerahmt werden durch systematische Zusammentragung aller zugänglichen Informationen über Schreibanlässe, Briefumfeld und Wirkung. Im Idealfall kann aus erhaltenen Kontexten, Bezugnahmen, wörtlich zitierenden Reaktionen und vielleicht sogar Zusammenfassungen die Leerstelle so genau erfasst werden, dass sie eine Art Hohlabdruck des verlorenen Briefes ergibt, der eine zumindest ansatzweise Interpretation erlaubt: Man weiß ja ohnehin nur aufgrund erhaltener Spuren und Hinweise, dass ein solcher Brief überhaupt einmal existiert hat, sollte also mit diesen bereits erste Interpretationshinweise besitzen. Im vorliegenden Fall ist die Rekonstruktion des Inhalts jedoch sehr erschwert, da unsere Hauptquelle, Sophie Tieck, den Brief selbst (höchstwahrscheinlich) nicht gelesen hat und nur Vermutungen über seinen Inhalt äußern konnte,3 die von ihrem Bruder dann durchweg zurückgewiesen wurden,4 ohne dass er jedoch korrigierend mitgeteilt hätte, was tatsächlich in dem Brief stand. Damit freilich wurde die Lücke, die der Brief heute für uns darstellt, von Ludwig bereits seiner Schwester gegenüber bewusst aufgerissen: Ihr, der (wie wir sehen werden) nicht grundlos Interessierten gegenüber sollte der Briefinhalt rätselhaft und Anlass bloßer Spekulation bleiben. Diese nicht an die Hauptadressatin gerichtete kommunikative Nebenabsicht des Briefes überlagert sich in seltener, für uns aber dann doch glücklicher Koinzidenz mit jenem einzigen von ihm noch erhaltenen ‚Zeichen‘, das das Ausgangsproblem eines jeden Interpretationsversuches darstellt: seinem Verschwunden-Sein. Sophie gegenüber ist die damit verbundene Unklarheit über seinen Inhalt jedoch Absicht und damit immerhin ein erster Ansatzpunkt für eine Interpretation.
II. Nicht geschriebene Briefe Zunächst sei aus der nur fragmentarisch erhaltenen Korrespondenz zwischen den Geschwistern Tieck der Entstehungskontext rekonstruiert: Zur ______________ 3 4
Vgl. Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 26.8.1793. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden abgekürzt: SBPK), NL Tieck 42, Mappe 2, Bl. 20 f. Vgl. Ludwig Tieck an Sophie Tieck, 24.9.1793. Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden (im folgenden abgekürzt: SLUB), e 90 b I, Nr. 18.
Ludwig Tieck an „die Weller“, 17.8.1793
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„Besorgnis“5 Sophies war Ludwig Tieck spätestens im Zuge seines Studienaufenthaltes in Halle im Sommersemester 1792 eine nähere Verbindung mit „der Wellern“ eingegangen. Am 23.12.1792 schrieb Ludwig dann beruhigend seiner Schwester, nun bereits aus Göttingen, „die Weller“ sei ihm jezt wirklich ziemlich gleichgültig [...]. Ich habe ihr zwar von hier geschrieben, allein sie kommt vielleicht nicht nach Berlin, nicht weil sie nicht hinwollte, sondern weil ich sie wirklich nicht gern mitbringen möchte.6
Seine veränderte Einstellung ihr gegenüber scheint Tieck „der Wellern“ jedoch nicht (oder nicht in der nötigen Deutlichkeit) mitgeteilt zu haben, denn in den nächsten Monaten schreibt sie ihm mehrere nicht erhaltene Briefe. Diese schickt sie nicht direkt an die wechselnden Adressen des Studenten Ludwig Tieck, sondern über sein Berliner Elternhaus, genauer: über Sophie Tieck an ihn. Zwar war es damals durchaus üblich, einen Brief zunächst an etwas näher wohnende vertrauenswürdige dritte Personen zu übermitteln, damit diese den Brief dann wiederum ihrer Korrespondenz an den Adressaten beilegten, doch bleibt auffällig, dass Tieck zunächst „der Wellern“ direkt geschrieben zu haben erklärt, später aber alle Korrespondenz mit ihr über Sophie abgewickelt wird, wobei der Begriff ‚Korrespondenz‘ deren Einseitigkeit nicht gerecht wird: Seit dieser Mitteilung Ludwigs lassen sich bis auf den einen verschollenen Brief keine weiteren Briefe Ludwigs an „die Weller“ nachweisen. Diese wartete über Monate vergeblich auf Antwort auf ihre Briefe und beklagte sich darüber bei Sophie.7 Da Ludwig die Beziehung mit ihr beenden wollte, spricht vieles dafür, dass er sich davor gehütet hat, ihr seine Anschrift mitzuteilen. Auch scheint „die Weller“ nicht ganz unbeschwert auf den Umweg über Sophie ausgewichen zu sein: Zu Sophies Empörung versuchte sie, dieser Postgeld zu ersetzen8 (und sogar Ludwig Postgeld zukommen zu lassen)9 – Sparsamkeit kann also nicht der Grund für den Umweg gewesen sein: Es dürfte für sie keinen anderen Zugang mehr zu Ludwig gegeben haben. Damit wurde die Erschwerung des Postwegs Teil des Kommunikationsverhaltens Ludwig Tiecks. Allein schon durch solche Behinderungen können Zeichen gesetzt und Botschaften vermittelt werden, die in Briefen selbst gar nicht explizit ausformuliert sein müssen – wie ja Ludwig bedeutungsvoll ‚nicht‘ schrieb (oder später seiner Schwester ‚nicht‘ mitteilte, was er „der Wellern“ ge______________ 5 6 7 8 9
Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 26.–30.11.1792. SLUB, App. 273, 148. Ludwig Tieck an Sophie Tieck, 23.12.1792. SLUB, e 90 b I, Nr. 14. Vgl. Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 25.1.1793. Ebd., App. 273, 137. Vgl. Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 12./21.7.1793. SBPK, NL Tieck 42, Mappe 2, Bl. 18 f. Vgl. ebd.
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schrieben hatte). Bewusst nicht geschriebene Briefe können eine Form aktiven „textuellen Schweigens“10 darstellen und dann analog zu den in der linguistischen Pragmatik untersuchten kommunikativen Akten11 behandelt werden. Trotz der räumlichen Distanz zwischen dem ‚Sender‘ Tieck und der Empfängerin Weller (oder auch Sophie) bewirkten sie ja unmittelbare Effekte: Nicht zu antworten war auch damals ein Verstoß gegen das allgemeine Kooperationsprinzip.12 Dieses war von Bedeutung gerade in der zu Beginn der 1790er Jahre trotz etlicher Auflösungserscheinungen noch immer gültigen Briefkultur der Empfindsamkeit, für die Briefe Medium ‚ehrlich‘ sich aussprechender Innerlichkeit innerhalb eines unbeendbaren schriftlichen ‚Gesprächs‘ waren. Sie dienten der Ausbildung sowohl von Individualität wie auch von Gemeinsamkeit im aufeinander bezogenen, gemeinsam einsamen Schreib-Akt. Durch ihre brieflichen Gesten hindurch drückten die Briefpartner sich einander mit einer Direktheit aus und ein, deren mit gefühlsbetonter Sprache als spürbar evozierte Intensität an unmittelbar physische Berührung erinnern konnte; räumliche Trennung mochte helfen, den nur vorgestellten Kontakt imaginativ sogar zu steigern. Die sprachliche Gestik in den Briefen war darauf angelegt, einander verbal zu (be)rühren.13 Tiecks langes Schweigen musste vor diesem Hintergrund nicht nur unhöflich wirken, sondern auch als verletzender Eingriff in die auf ihn bezogene schriftliche Selbst-Konstitution der Briefpartnerin. Der konventionelle Weg des Abbruchs einer Kommunikation wäre eine deklarative (im Sinne der Sprechakttheorie: illokutionäre) Äußerung gewesen (‚hiermit beende ich‘); doch hüllte sich Ludwig Tieck, der sich bereits vor seiner Bekanntschaft mit „der Wellern“ gegen „die affectirte
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Wolfgang Heinemann stellt fest, dass die „für Schweige-Phasen im Gespräch konstitutive Partner-Erwartung, daß der Sprecher [...] an Stelle der Pause eine bestimmte Sprachhandlung vollziehen müßte, beim textuellen Schweigen nicht zum Tragen kommt. Oder anders: Beim textwertigen Nicht-Sprechen wird das Schweigen auch vom Partner erwartet.“ Ders.: Das Schweigen als linguistisches Phänomen. In: Hartmut Eggert u. Janusz Golec (Hg.): „...wortlos der Sprache mächtig“. Schweigen und Sprechen in der Literatur und sprachlicher Kommunikation. Stuttgart, Weimar 1999. S. 301–314, hier S. 314. Grundlegend für die hier nötige Unterscheidung zwischen illokutionärem und perlokutionärem Akt ist natürlich John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Übersetzt v. R. und R. Wiggershaus. Frankfurt/M. 1997 [Original 1969]. Formuliert von Herbert Paul Grice: Further Notes on Logic and Conversation. In: Peter Cole (Hg.): Syntax and Semantics 9: Pragmatics. New York 1978. S. 112–128. Zu den realen Verwirrungen, zu denen dies führen konnte, vgl. am Beispiel Gleims und Anna Louisa Karschs Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Würzburg 2003. S. 126.
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Empfindsamkeit, die Ziererei“14 gewandt hatte, lieber in wirkungsbewusste Stummheit: „da ich ihr nicht geschrieben habe, so wird sie wahrscheinlich auch böse auf mich sein“.15 Nicht ausformulierter Inhalt ist die Botschaft, sondern seine Verweigerung, sprechendes Schweigen.
III. Kommunikation im Dreieck In der ‚Lücke‘ zwischen „der Wellern“ und ihrem Bruder fungierte Sophie, die Dritte der brieflichen Kommunikation, unfreiwillig als eine Art Relaisstation. Als einzige Ansprechpartnerin, die „der Wellern“ zur Verfügung stand, verkörperte sie für diese den Übermittlungsweg und musste ihr substituthaft den schweigenden Adressaten Ludwig ersetzen. Dabei nutzte Sophie ihrerseits das zeitübliche Modell zärtlich empfindsamer Familienbriefe zu einem zumindest von ihr aus sehr gefühlsinnig geführten Briefwechsel mit Ludwig, in dem auch sie eigene Lebens- und Selbstentwürfe zu entwickeln versuchte (in ihrer Vorstellung lange noch in imaginierter künftiger Gemeinschaft mit dem Bruder); „die Weller“ musste ihr da als unangenehme Nebenbuhlerin um die Gunst ihres Bruders erscheinen. Schon deshalb war sie kaum in der Lage, die von „der Wellern“ erbetene Vermittlungsfunktion neutral durchzuführen: Sie nahm die Briefe „der Wellern“ zwar an, gab sie aber nicht unkommentiert als diskret treue Botin weiter, sondern schrieb begleitend als aus ihrer Sicht selbst Mitbetroffene ihrem Bruder von ihrem Unbehagen gegenüber „der Wellern“. Da Ludwig die Briefe „der Wellern“ nicht mehr beantwortete, wandte sich diese – sehr zu Sophies Missfallen – deshalb bald auch direkt an Sophie, wollte also mit der einzigen ihr zugänglichen Übermittlungsinstanz selbst über die misslingende Kommunikation kommunizieren: „Sie glaubt das die Briefe welche du an sie geschrieben hast untergeschlagen sind ich glaube aber das du noch keine geschrieben hast.“16 Erbost griff Sophie schließlich aktiv in die ohnehin zum Scheitern verurteilte Kommunikation zwischen „der Wellern“ und Ludwig ein. Dies war auch der Grund, warum dieser sich dann genötigt fühlte, „der Wellern“ doch noch einmal zu schreiben – eben den hier als Ausgangspunkt unserer Überlegungen genutzten verschollenen Brief. In einem erst am 21. Juli 1793 fertiggestellten ______________ 14 15 16
Ludwig Tieck an Wilhelm Heinrich Wackenroder, 10.5.1792. Handschrift verschollen; zit. nach Karl von Holtei (Hg.): Dreihundert Briefe aus zwei Jahrhunderten. Bd. 2. 4. Theil. Hannover 1872. S. 27–33. Ludwig Tieck an Sophie Tieck, ca. 12.2.1793. SLUB, e 90 b I, Nr. 25. Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 25.1.1793. Ebd., App. 273, 137.
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Brief teilte Sophie ihrem Bruder bereits unter dem Datum des 12. Juli 1793 mit, sie habe – „[d]as thut mir jezt sehr leid“ – einen der Briefe „der Wellern“ geöffnet. [W]en ich das nicht gethan hätte so wolte ich ihr den Brief wieder schicken und ihr schreiben das du nicht mehr in Erlangen währst sondern einen Posten bei der Armee erhalten hättest das ich also ihre Briefe nicht mehr besorgen könte und auch keine Nachricht von dir erhalten würde so ohngefähr werde ich ihr aber doch schreiben.17
Während Ludwig Tieck einen Studienaufenthalt in Erlangen dazu nutzte, mit seinem Freund Wilhelm Heinrich Wackenroder durch Franken zu reisen und sich von der katholischen Volkskultur faszinieren zu lassen, versuchte Sophie, ihm ohne Rücksprache „die W vom Halse zu schaffen“.18 Im Gegensatz zu Ludwig, der zeitlebens nicht nur viele Briefe schrieb, sondern ebenso häufig versprochene oder erwartete Briefe schuldig blieb,19 die Erwartungshaltungen seiner Korrespondenzpartner also wissentlich enttäuschte, indem er Lücken und Abbrüche in Kommunikationen in Kauf nahm oder gar absichtlich erzeugte, wollte Sophie sein Verhältnis zu „der Wellern“ durch aktive Mitteilung beenden und scheute nicht einmal davor zurück, „die Weller“ über Ludwig zu belügen. Mit Datum vom 24. Juli, also schneller als Ludwig überhaupt auf ihren Plan reagieren konnte, schrieb sie „der Wellern“ den Ludwig bereits angekündigten Brief. Diesen erhielt sie mit einigen darunter geschriebenen, sehr emotionalen Bemerkungen der Adressatin zurück. „[U]m Dir gänzlich in allen möglichen licht in der Sache zu geben“,20 schickte sie daraufhin eine Abschrift dieses Briefes (incl. der Reaktion „der Wellern“) an Ludwig. Darin heißt es: Sogleich wie ich Ihren Brief erhielt schückte ich ihn fort, ein paar Tage darauf erhielt ich einen Brief von meinen Bruder, daß es ihm in Erlangen nicht gefallen hätte, ihm eine Stelle bey der Armee angeboten sey und er sie angenommen hätte, er hoffe daß er sein Glück machen würde, und würde Morgen schon abreisen. [...] Wie sehr mich die Nachricht von seiner Abreise überraschte, können Sie selbst dencken, und auch wie viel Kummer sie mir macht, da ich nun schwerlich oft Nachricht von ihm erhalten werde. allso auch Ihnen meine liebe keine mehr geben und (was mir sehr leid thut) Ihre Briefe nicht mehr bestellen kan.21
______________ 17 18 19 20 21
Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 12./21.7.1793. SBPK, NL Tieck 42, Mappe 2, Bl. 18 f. Ebd. „Eine typische Klage seiner Briefpartner zielt auf das Ausbleiben seiner Antworten.“ Jochen Strobel: Der Briefschreiber. In: Claudia Stockinger u. Stefan Scherer (Hg.): Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung. Berlin, Boston 2011. S. 165–176, hier S. 168. Sophie Tieck an Ludwig Tieck, erste Augusthälfte 1793. SBPK, NL Tieck 42, Mappe 5, Bl. 21. Ebd.
Ludwig Tieck an „die Weller“, 17.8.1793
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Sophie erfand damit eine Geschichte von so zweifelhafter Glaubwürdigkeit, dass „die Weller“ sie rasch durchschauen konnte: „durch einen Zufall erfuhr ich daß er noch in Erlangen sey“,22 heißt es in den von ihr darunter geschriebenen Zeilen. Doch nicht nur „die Weller“ war unangenehm berührt. Ludwig, den „die Weller“ nicht mehr interessierte, sah sich nun veranlasst, dieser doch noch einmal zu schreiben – eben den verschollenen Brief, den er einem Schreiben an Sophie mit der Bitte beilegte, ihn weiterzuleiten: Mit der Weller hast du es etwas zu stark gemacht, denck doch, was mir die Nachricht, die du ihr geschrieben hast, verbreitet, für Schaden thun könnte! – Schick ihr daher nur den einliegenden Brief und schreib ihr, ich wäre in der Schweitz, – auf neue Briefe antworte ihr lieber gar nicht.23
IV. Wirkung und Bedeutung des Briefes Trotz ihrer offensichtlichen Eigenwilligkeiten hielt Ludwig also am Kommunikationsweg über Sophie fest. Dass er, der zu Beginn der Beziehung direkt, also ohne Umweg über Sophie, an „die Weller“ geschrieben hatte, nun für diesen einen Brief in dieser durch Sophies Schuld heiklen Situation nicht abermals den direkten Weg wählte, bezog nun auch von seiner Seite aus Sophie in die Kommunikation mit „der Wellern“ ein. Dass der Brief über diese ging, war einerseits ein Zeichen an „die Weller“ (es gibt keine ‚intime‘ Kommunikation an der Schwester vorbei); dass die Schwester auf diese Weise unvermeidlich von diesem Brief erfuhr, war aber zugleich ein Zeichen auch an diese, ein ihr freilich verschlossenes Zeichen, dessen Inhalt nicht für sie gedacht war. Sie konnte nur Vermutungen darüber anstellen (wurde also ihrerseits in Unsicherheit gestürzt) und war zu befürchten genötigt, dass das von ihr aufgebaute – und von „der Wellern“ durchschaute – falsche Bild des Sachverhalts von ihrem Bruder noch einmal mit Worten zurückgenommen werden würde, die für sie beschämend sein könnten. Als Sophie gegenüber ‚sprechender‘ stummer gestischer Akt bewirkte der Brief – vielleicht sogar absichtlich – entsprechende Ängste in ihr. Sie fühlte sich von der Möglichkeit düpiert, ihr Bruder könnte sie der Lüge bezichtigen, und leitete deshalb den Brief zunächst nicht an „die Weller“ weiter, sondern versuchte, Ludwig davon zu überzeugen, dass es keine gute Idee sei, „der Wellern“ noch einmal zu schreiben – „die Weller“ habe ______________ 22 23
Ebd. Ludwig Tieck an Sophie Tieck, ca. 13.8.1793. SLUB, e 90 b I, Nr. 21.
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gewiß eingesehn [...] das ich es nur gethan habe um sie loß zu sein sie hat mir auch noch nicht wieder geschrieben und glaubt gewiß die ganze Geschichte nicht sondern erräht nun die Wahrheit das du nicht mehr an sie denckst sie ist dadurch auf jeden Fall schon sehr gekränkt.24
Hatte sie zuvor ihre Abneigung gegen „die Wellern“ offen geäußert, so nahm sie nun bei sicherlich fortbestehender Aversion in ihrer Argumentation dem Bruder gegenüber zumindest scheinbar deren Standpunkt ein, um Ludwig davon zu überzeugen, dass sein Brief, was immer er enthalten mochte – „was kannst du ihr schreiben?“25 –, in jedem Fall nur verletzend wirken könnte und deshalb besser nicht abgeschickt werden sollte. Zu den Gründen, die Sophie darlegte, gehört auch die Vermutung, „die Weller“ müsste es „für Spot halten wen sie nun noch einen Brief von dir erhält der dem meinigen so sehr wiederspricht? Und wie sehr müste sie dadurch gedemühtigt werden wen sie sich von uns verspottet glaubte.“26 Da „die Weller“ Sophies Lüge bereits durchschaut hatte und Sophie dies wusste, war es wohl eher Sophie, die fürchtete, mit diesem Brief vorgeführt und „gedemühtigt“ zu werden, wenn Ludwigs Brief „dem meinigen so sehr wiederspricht“. Indem Ludwig Sophies Befürchtung weder bestätigte noch zurückwies, ersparte er ihr nicht, mit der Möglichkeit leben zu müssen, ‚vielleicht‘ gedemütigt zu werden. Sein Schweigen wurde zum Ausdruck ‚vielleicht‘ unausgeübter, aber drohender (kleiner) Macht über sie. Unter Zugrundelegung des Gesamtkontextes ist der verschollene Brief als performativer bzw. perlokutionärer Akt unabhängig von seinem nicht mehr ermittelbaren genauen Inhalt zumindest mit seiner nicht verbalisierten gestischen Nebenbotschaft an die Schwester verständlich, verständlicher vielleicht sogar als die Tatsache, dass Ludwig überhaupt an „die Weller“ schrieb, hatte diese doch die Lüge bereits durchschaut. Hinsichtlich seiner Funktion als Mitteilung auch an Sophie erweist sich das Verschollen-Sein des Briefes jedoch als irrelevant, denn diese Funktion hat nichts mit seinem Textbestand zu tun – er teilt Sophie auch ohne Worte mit, dass ihre Eingriffe eine Korrektur nötig machten. Der Brief selbst – nicht sein Text! – wird zum interpretierbaren ‚Zeichen‘, er ist ein kommunikatives Ereignis, ein bedeutungsgeladener Gestus Ludwigs (auch) an Sophie. Da auch Ludwig wusste, dass die Weller wusste, dass Sophie gelogen hatte, konnte eine bloße Klarstellung der Tatsachen ohnehin kaum der alleinige Grund dieses Briefes sein – zumal Ludwig seine Schwester zum Ausgleich zu einer anderen Lüge legitimierte, von der nicht klar ist, ob sie ______________ 24 25 26
Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 26.8.1793. SBPK, NL Tieck 42, Mappe 2, Bl. 20 f. Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 26.8.1793. SBPK, NL Tieck 42, Mappe 2, Bl. 20 f. Ebd.
Ludwig Tieck an „die Weller“, 17.8.1793
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in dem Brief bereits vorbereitet war oder nicht: Weil uns der Brief nicht erhalten ist, wissen wir nicht, ob Ludwig tatsächlich in ihm schrieb, dass er in der Schweiz sei, oder ob er Sophie nur diese ‚Antwort‘ für den Fall künftiger Nachfragen „der Wellern“ zur Hand gab, um diese abzustellen, wobei dann, Sophie hatte ja bereits einmal erkennbar gelogen, der Wahrheitsgehalt nicht so wesentlich gewesen sein dürfte wie die durch die Falschbehauptung vermittelte Botschaft: Weitere Kommunikationsversuche haben keinen Sinn mehr. Jedenfalls war es ein für seine ‚Beziehung‘ zu „der Wellern“ sprechendes Zeichen, dass Ludwig sein langes Schweigen nun mit einem Brief unterbrach, der nach so vielen Briefen „der Wellern“ gar nicht auf deren Briefe, sondern auf Sophie reagierte und seinerseits weitere Antworten nicht erwünschte, also ebenfalls gestisch abwehrend wirken sollte. Seine Absicht war Beendigung. Angesichts ihres nicht unbedingt diskreten Vorgehens sind die Vermutungen, die Sophie über mögliche Inhalte des Briefes äußerte, nicht ganz sicher zu beurteilen. Sie versuchte dabei das Feld der Möglichkeiten, wie der Brief formuliert sein könnte, abzudecken, und erklärte so indirekt, aber unmissverständlich, dass sie diesen Brief nicht gelesen hatte – aber dass dies wirklich so ist, lässt sich nur annehmen. Immerhin hatte sie zuvor „der Wellern“ das erbrochene Siegel des dieser zurückgeschickten Briefes an Ludwig mit beträchtlichem Aufwand an Notlügen zu erklären versucht.27 Ihre Dreistigkeit wurde demnach doch von Scheu und schlechtem Gewissen ausbalanciert; ein zweites Eindringen in die briefliche Intimsphäre ihres von ihr geradezu vergötterten Bruders darf daher als unwahrscheinlich – aber eben nicht ausgeschlossen – gelten. Zwar schreibt ihr Ludwig, keiner der von Sophie angenommenen Möglichkeiten über den Inhalt seines Briefes treffe tatsächlich auf diesen zu, aber diese ihrerseits nicht gerade mitteilsame Reaktion diente in erster Linie dazu, die Diskussion über den Brief zu beenden. Ludwig wollte nicht über ihn räsonieren, sondern Wirkung sehen und ihn abgeschickt wissen: […] den Brief nach Dahme sei so gut, sogleich abzuschikken, denn keiner von deinen geglaubten Fällen findet hier statt, du hättest es gleich thun sollen, denn ich würde ihn sonst nicht geschrieben haben.28
Der befehlende Ton dieser brüderlichen Anordnung teilt sich im Nachhinein auch dem betroffenen Brief mit: Er markiert Verärgerung, die sich nicht durch langwierige Kommunikation abschwächen lassen will, sondern auf möglichst wortarme Beseitigung dessen insistiert, was die Verärgerung ausgelöst hat. ______________ 27 28
Sophie Tieck an Ludwig Tieck, erste Augusthälfte 1793. SBPK, NL Tieck 42, Mappe 5, Bl. 21. Ludwig Tieck an Sophie Tieck, 24.9.1793. SLUB, e 90 b I, Nr. 18.
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Am 5. Oktober bestätigte Sophie die Absendung des Briefes,29 am 28. Oktober schickte sie Ludwig eine Antwort „der Wellern“, die sie gelesen hatte und aus der sie Rückschlüsse über den verlorenen Brief zog: „wie ich aus der Antwort sehe so kan dein Brief nichts zärtliches enthalten haben und sie ist so bereitwillig zu vergeben.“30 Auch dieser Brief „der Wellern“ ist nicht erhalten. Sie scheint nach wie vor zu einem zärtlichempfindsamen Brief-Gespräch gewillt, in dem man sich ‚alles‘ sagt, immer wieder ‚alles‘ verzeiht und so nie zu jenem Ende kommen kann, an dem Ludwig einzig lag. Er reagierte nicht mehr auf sie. Das letzte Zeugnis über „die Weller“ ist Ludwigs Antwort an Sophie aus dem Spätherbst oder Winter 1793: „Sollte die Weller dir je noch einmahl einen Brief an mich schikken, so schick ihn nur sogleich wieder zurück und sage ihr, du wüßtest meine Addresse nicht, ich mag das dumme Zeug nicht öffter lesen“.31 In letzter Konsequenz stellt das Verschwinden von Ludwigs Brief an „die Weller“ eine Folge des abweisenden Gestus dieses Briefes dar: „Die Weller“ ist aus Tiecks Leben, damit aber auch aus jedem Zusammenhang verschwunden, der eine Tradierung an sie gerichteter Briefe hätte anregen können. Spuren ihres Lebens konnten in Dahme bisher nicht gefunden werden, Dokumente jeglicher Art oder gar ein Nachlass sind nicht nachweisbar. Wir kennen nicht einmal ihren Vornamen.
V. Epochenwandel Der verschollene Brief beendete jedoch nicht nur eine Kommunikation mit einer lästig gewordenen Bekanntschaft, er steht auch exemplarisch für Ludwig Tiecks Bruch mit den Konventionen empfindsamer Briefkultur32 und damit jener Ausdrucksformen rührungsseligen Schreibens, die er in seinem literarischen Werk bald ironisch und satirisch vorführen sollte – die einige Jahre später Weltliteratur gewordene ‚romantische Ironie‘ beinhaltet unverkennbare Empfindsamkeitskarikatur. An Wackenroder hatte Ludwig Tieck bereits am 10. Mai 1792 über die von ihm mit dem Aufbruch ins Studium hinter sich gelassene empfindsame Kultur in Berlin geschrieben, „nirgens wird so viel von Empfindung gesprochen u. nir______________ 29 30 31 32
Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 5.10.1793. Freies Deutsches Hochstift, Hs-9660. Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 28.10.1793. SBPK, NL Tieck 42, Mappe 2, Bl. 9 f. Ludwig Tieck an Sophie Tieck, ca. Dezember 1793. SLUB, e 90 b I, Nr. 23. In den ältesten erhaltenen Briefen hat Ludwig Tieck diese noch pro forma eingehalten vgl. z. B. Ludwig Tiecks Brief an Sophie Tieck vom 1. Mai 1792 (ebd., e 90 b I, Nr. 8), in dem es im Kern freilich auch nicht mehr um Gefühlsmitteilung, sondern um erbetene Dienstleistungen geht.
Ludwig Tieck an „die Weller“, 17.8.1793
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gends weniger empfunden“.33 Tatsächlich waren die einst innovativen Formeln und Usancen der Empfindsamkeit zu Beginn der 1790er Jahre zumindest aus Sicht der jüngeren, nachwachsenden Generation schon längst zur Floskelhaftigkeit erstarrt und auch objektiv betrachtet langsam in einer auf Überdehnung beruhenden Auflösung begriffen. Goethe hatte mit seinem von Tieck und seiner Schwester (und ihrer Generation) geliebten Werther34 ja bereits 20 Jahre zuvor radikalisierter Subjektivität durch dem Kooperationsprinzip Vernunft widersprechende Ausblendung des Korrespondenzpartners im Romankonzept Ausdruck verschafft. Die Briefkultur der literarischen Jugend der frühen 1790er Jahre war literarisch überformt von Briefromanen, die die gemäßigten Grenzen aufgeklärter Empfindsamkeit stellenweise oder ganz überstiegen wie Rousseaus (gerne auf die leidenschaftlichen Stellen verkürzte)35 Julie ou la Nouvelle Héloïse, Heinses Ardinghello36 und natürlich und vor allem dem Werther; diese luden dazu ein, das Schreiben von Briefen zu scheinbar rückhaltloser SelbstAusgießung entlang literarisch vorgeprägter Formulierungsschemata zu nutzen. Auch die wenigen erhaltenen Worte „der Wellern“, ihre Bemerkungen auf dem Sophie zurückgeschickten Brief, erinnern stellenweise eher an anempfundene Lektüre als an eine persönliche Mitteilung und rufen die schaurigen Momente der Ossian-Übersetzung im Werther oder die auch von Ludwig Tieck zeitweise geschätzte neue Mode der gothic novel und deren Rhetorik drohender Ich-Auflösung in zum Wahnsinn gesteigertem Empfindungsexzess auf: Es war gerade noch darzu um eine schreckliche Mitternacht, wo wütent der drausen hausente Sturm mein Gefühl mit Beängstigungen mehr anfülte, und ich habe, ich muß es gestehn, mein ganzes Leben hindurch noch nie eine so peinigente höllen Nacht gehabt. In meinen Bußen sey auf ewig ein Geheimniß dieser Gedancken, jener Wütenten Nacht verschlossen – ich war zu alles fähig – so wütent leidet kein Mann!37
Ähnlich liest sich Tiecks von Wackenroder heftig kritisierte Mitteilung über seine wahnsinnsverliebte Lesung der ersten beiden Bände von Gros______________ 33 34 35 36 37
Ludwig Tieck an Wilhelm Heinrich Wackenroder, 10.5.1792. In: Holtei: Dreihundert Briefe (Anm. 14), S. 27–33. Ludwig beschwört in einem Brief an Sophie „Göthe [...] dessen [...] Werther wir so oft zusammen gelesen haben“. Ders. an Sophie Tieck, 2.5.1793. SLUB, e 90 b I, Nr. 5. Vgl. Gert Mattenklott: Briefroman. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 4. Reinbek bei Hamburg 1992. S. 184–203, hier S. 196. Ausdrücklich empfiehlt Tieck Wackenroder den Ardinghello zur Lektüre. (Ders. an Wilhelm Heinrich Wackenroder, 28.12.1792. Freies Deutsches Hochstift, Hs-15920.) „Die Weller“, zit. nach Sophie Tieck an Ludwig Tieck, erste Augusthälfte 1793. SBPK, NL Tieck 42, Mappe 5, Bl. 21.
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ses Genius38 im Juni 1792, also ungefähr zu der Zeit, zu der Tieck in Beziehung mit „der Wellern“ getreten sein muss. Tieck verabschiedete sich jedoch rasch von solcher Empfindungskultur. Sophie und „die Weller“ bildeten demgegenüber für Ludwig Tieck die Negativfolie jener ausufernden und zunehmend als übertrieben, wo nicht gar gekünstelt und unecht betrachteten Empfindungsseligkeit, von der er selbst sich hinwegentwickelte. In der Formulierung weniger hart, in der Sache aber ähnlich bestimmt wie „die Weller“ blockte Ludwig auch empfindungsreiche Stellen in Briefen Sophies an ihn ab, manchmal explizit,39 öfters durch Schweigen. Sophies brieflicher Gestus Ludwig gegenüber war ja nicht so unterschieden von dem empfindsamen Ton, den sie in Kenntnis von Ludwigs Idiosynkrasien „der Wellern“ vorgeworfen hatte. Ihre hochemotionalen Briefe an Ludwig, Ausdruck ihrer Isolation im Elternhaus und ihrer Unzufriedenheit mit den eingeschränkten Möglichkeiten einer jungen Frau in jener Zeit, lesen sich fast wie Liebesbriefe an den Bruder, der zur Projektionsfläche für ihre Träume von einem erfüllten Leben wurde. Seine Schwester wurde von ihm denn auch etwas besser, aber nicht grundlegend anders behandelt als „die Weller“. Nicht umsonst reagierte Sophie ihrerseits auf den Brief, der doch den von ihr erwünschten Beziehungsabbruch zwischen Ludwig und „der Wellern“ endgültig machte, mit einer überraschenden rhetorischen Solidarisierung mit „der Wellern“, die von ihr auch in der weiteren Korrespondenz mit Ludwig noch aufrecht erhalten wurde. Ludwigs Brief an „die Weller“ zerstörte nicht nur deren Hoffnungen, Ludwigs eher an ‚Ruhe‘ als an wortreichen Erklärungen interessiertes Vorgehen auch Sophie gegenüber schnitt schmerzlich in deren Beziehung zu ihrem Bruder ein. Dass Sophie am Ende Mitleid mit „der Wellern“ äußerte (oder vortäuschte) und Ludwig gegenüber deren „Gühte“40 betonte, galt so unausgesprochen der Härte, die Ludwig mit diesem Brief auch ihr selbst entgegengebracht hatte. Letztlich verteidigte Sophie damit die von ihr noch gepflegte empfindsame Briefkultur gegen den ablehnenden Gestus ihres Bruders. Ludwigs Empfindsamkeitsabwehr freilich galt nicht nur diesen beiden Korrespondenzpartnerinnen:41 Er verabschiedete sich während der 1790er ______________ 38 39 40 41
„[A]lle Schrecken des Todes und d. Verwesung umgaben mich“. Ludwig Tieck an Wilhelm Heinrich Wackenroder, 12.6.1792. Biblioteka Jagielloľska Kraków, Aut. Ludwig Tieck. So heißt es in dem Brief von Ludwig Tieck an Sophie Tieck vom 6.–15.5.1792 (Universität Hamburg, Theatersammlung): „du sprichst so krank und matt [...], daß man glauben sollte, du gehörtest zu den Empfindlerinnen“. Sophie Tieck an Ludwig Tieck, 28.10.1793. SBPK, NL Tieck 42, Mappe 2, Bl. 9 f. Ein anderes, zeitlich etwas später anzusetzendes Beispiel wäre Ludwigs brieflicher Umgang mit dem Bruder Christian Friedrich Tieck. Vgl. Jürgen Joachimsthaler: Ortlos in Paris.
Ludwig Tieck an „die Weller“, 17.8.1793
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Jahre, also während der langsamen Entstehung der neuen literarischen Bewegung der ‚Romantik‘, sehr bewusst von den Konventionen der vorangegangenen Empfindungsepoche. Zu seinem Briefwechsel mit Wackenroder gehört wechselseitige Warnung etwa vor zuviel „schwermüthige[m] Taumel, der uns abstumpft, und sich in Schläfrigkeit endigt“.42 Wackenroder und Ludwig Tieck entwickelten ein neues, von literarischästhetischem Austausch getragenes Modell (vor- oder früh-) romantischer Freundschaft, in dem bewusst in ihrer Fiktionalität reflektierte Phantasie gemeinsam entwickelt und genossen, aber immer auch vor den Gefahren übertriebener Gefühlsseligkeit gewarnt wurde. Der noch durch die Überlieferungslücke hindurch erkennbare ablehnende Gestus des verschollenen Briefes richtete sich in diesem Kontext nicht nur gegen „die Weller“ und Sophie, sondern gegen eine ganze Gefühlskultur und deren Ausdrucksweise. Nicht erst seit dem Tod seines Hauptbriefpartners Wackenroder (1798) vermied Ludwig ausschließlich oder vorrangig dem Gefühlsausdruck verpflichtete Briefe. Seine Korrespondenz wurde während der 1790er Jahre zunehmend anlassbezogen und sachlich. Sie war fortan auf konkrete Kommunikationsziele wie Veröffentlichungen, gemeinsame Projekte, Geschäftliches, Verabredungen etc. ausgerichtet (in späteren Jahren diente sie dann auch dem Nachleben der Romantik im kulturellen Gedächtnis und nicht zuletzt dem eigenen Ruhm). Zumindest von ihm aus betrachtet erscheint die Briefkultur in der Zeit der Romantik in deutlicher Abgrenzung zur empfindsamen Epoche als ein nicht zuletzt von Nützlichkeitserwägungen getragenes Netzwerk an gemeinsamen Projekten Arbeitender. Die in der Art ihrer Durchführung Konventionen verletzende Verabschiedung „der Wellern“ als Briefpartnerin war so gesehen nicht nur ein privates Ereignis, sondern auch bis in die (briefliche) Gestik hinein spürbarer Teil der Entkopplung des erst langsam beginnenden literarischen Projekts ‚Romantik‘ von einer sich selbst genügenden, ausufernden Empfindsamkeit.
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Friedrich Tiecks Reisebriefe an seinen Bruder Ludwig (1797–1801). In: Helmut Peitsch (Hg.): Reisen um 1800. München 2012. S. 139–165. Ludwig Tieck an Wilhelm Heinrich Wackenroder, 28.12.1792 (SLUB, App. 273, 139); Warnende Worte Wackenroders an Ludwig Tieck finden sich umgekehrt in dessen Schreiben vom 15./16.6.1792 (ebd., App. 273, 142).
Georg Christoph Lichtenberg an Margarete Elisabeth Lichtenberg, 30. Juli 1797 Nun, meine Liebe, wie gehts und wie hast Du geschlafen? Wenn ich nur auch sogleich eine Antwort auf diese Fragen haben könte. Doch ich hoffe, daß nun das Schlimmste vorüber ist. Mit meinem armen Ohmel will es nicht recht fort. Lebe recht wohl und grüße alles was uns Lieb und werth ist. Sage dem Alten, daß mir die Zunge gestern besser geschmeckt hätte als neulich. Loder ist wieder hier. Es wird schrecklich heiß heute. Adieu. Diesen Abend um halb 10 bin ich wieder bey Dir. Lebe recht wohl. – Die Post mit den langen Beinen eilt. den 30ten Julius 1797. G.C.L. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. IV. 1793–1799 und Undatiertes. Hg. v. Ulrich Joost u. Albrecht Schöne. München 1992. S. 748 f. © Verlag C. H. Beck.
Ulrich Joost
„Arme Ohmel“, „12 Zolle lange Schelmen“ und ein „loser Upstart Gentleman“. Über einen Ehebrief Lichtenbergs und dabei etwas zu Liebeskodierungen I. Von „Dietrichs schöner Köchin aus Arnstadt“, Marie, berichtet Lichtenberg, daß wir, bis kurtz vor ihrer Verheyrathung zu Erfurt mit einander correspondirten; Gleich nach ihrer Ankunfft zu Arnstadt schrieb sie mir eine umständliche Nachricht von ihrer Reise; Sie war zwischen hier und Heiligenstadt, wie gewöhnlich umgeworfen worden und sagte sie hätte bis an ihre Keine im Morast gestanden. In meiner Antwort machte ich ihr ihren Schreibfehler deutlich und sagte sie solte dem Himmel dancken, daß es nicht bis an ihre Eine gegangen wäre. Sie nannte mich dafür einen losen Vogel, indessen aber erhielt mein Schützenhof=Witz doch Beyfall u es wurde in unsern Briefen, die ich noch einmal mit den Lettres der Babet und der Ninon heraus zu geben gedencke, so offt mit Keinen und Einen gespielt (A et non A) daß ich würcklich noch jezt immer das Wort kein, so bald der Accent darauf gelegt wird, den ersten Augenblick für eine Zote halte.1
Einen ‚Herrenwitz‘ nannte man früher so etwas auch, und dieser hier verdankt seine Überlieferung vor allem dem Umstand, dass der Empfänger des ihn zitierenden Billetts, Johann Friedrich Blumenbach, ein Freund solcher Scherze war. Lichtenberg behauptet (wir können freilich im zur Rede stehenden Fall den Wahrheitsgehalt in Ermangelung des Brieforiginals nicht überprüfen), er habe den derben Witz gegenüber einer ‚Frau‘ gemacht: Das wäre allerdings ein flagranter Verstoß gegen stilistisches aptum und gesellschaftliches decorum seines Zeitalters gewesen, und so überrascht es eigentlich nicht, dass wir diesen Brief nicht mehr besitzen. Wir wissen aber aus den uns überlieferten Briefen an Frauen, dass Lichtenberg tatsächlich die Gratwanderung zwischen Anstand und Frivolität
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Georg Christoph Lichtenberg an Johann Friedrich Blumenbach, 12.11.1786. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. III. 1785–1792. Hg. v. Ulrich Joost u. Albrecht Schöne. München 1990. S. 291 f. Den Schreibfehler (Keine/Knie) hatte Lichtenberg 1785 im Orbis pictus für „die meisten“ weiblichen Bedienten konstatiert (Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Bd. 3. Aufsätze, Entwürfe, Gedichte, Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1972. S. 402).
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meisterlich beherrschte, auch und gerade dann, wenn er das kokett bestreitet: „es ist abscheulig, was ich für Zeug mache, wenn ich an ein Frauenzimmer schreiben soll, es ist als wenn mir alle Knöpfe abgeschnitten wären“.2 Allein schon dieser Satz beweist es, denn dieses Adynaton, seine Unfähigkeitserklärung, ist nicht etwa ein rhetorischer Unsagbarkeitstopos, sondern für sich genommen schon eine Frivolität, auch ohne auf freudianische Kastrationsvorstellungen zurückzugreifen: Da lässt jemand gekonnt die Hosen herab und zeigt seine „moralische backside“.3 Dass Lichtenberg mit Sprache umzugehen verstand, rühmte seinerzeit schon Georg Forster: „sein Witz ist 100 Procent leichtfüßiger“ als sein eigener, fand er. Aber Forster, sonst nicht immer ein so keuscher Jüngling, beklagt dabei auch: „hingegen läßt er sich zuweilen auf einer Zote ertappen“.4 ‚Zuweilen‘, aber zum Glück nicht immer, sonst hätten wir manchen der besten Briefe Lichtenbergs nicht mehr. Ausgerechnet sein Sohn Christian Wilhelm Lichtenberg, der als selbsternannter Sachwalter des väterlichen guten Rufs die vom älteren Bruder gesammelte Korrespondenz gründlich für den Druck ‚entfrivolisierte‘ und vermutlich zwei oder drei der wichtigsten Sudelbücher des Vaters nach eingehender Prüfung vernichtet hat,5 ist ihm auf den Leim gegangen. „Wilhelmchen“ hat nämlich um 1840 für seine Kinder eigens eine Mappe mit „Billetts an die Großmama“ angelegt – und bei einigen doch offenbar nicht bemerkt, was sich unter mancherlei Hüllformeln und Andeutungen versteckte.6 Indes: Selbst geschulte Literaturhistoriker7 können da leicht einmal etwas übersehen.
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Georg Christoph Lichtenberg an Georg Forster, 18.2.1788. In: Ders.: Briefwechsel. Bd. III (Anm. 1), S. 480. Lichtenberg in B 78: „Jeder Mensch hat auch seine moralische backside, die er nicht ohne Noth zeigt, und die er so lange als möglich mit den Hosen des guten Anstandes zudeckt.“ (Ders.: Schriften und Briefe. Bd. 1. Sudelbücher. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1968. S. 67.) Georg Forster an Friedrich Heinrich Jacobi, 19.11.1788. In: Ders.: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Bd. 15. Briefe Juli 1787–1789. Hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1981. S. 209 f. Er zumindest war der letzte, der sie besessen, durchgesehen und diese Durchsicht auf den Vorsatzblättern und Innendeckeln protokolliert hatte (vgl. Ulrich Joost: Zur Rekonstruktion der verlorenen Sudelbücher G, H und K. Dabei ein paar übersehene Aphorismen Lichtenbergs. Harald Fricke zum 28. März 2009. In: Lichtenberg-Jahrbuch 2009. S. 141–184, hier S. 180, Anm. 24). Zu seinem rücksichtslosen Umgang mit den Briefen Lichtenbergs, deren von seinem älteren Bruder gefertigte Abschrift er für den Druck ‚einrichtete‘ vgl. die Einleitung der Herausgeber in: Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. I. 1765–1779. Hg. v. Ulrich Joost u. Albrecht Schöne. München 1983. S. VIII u. XV.) Über die Briefe Lichtenbergs an das andere Geschlecht hatte ich in meiner Untersuchung zum Briefwerk Lichtenbergs (Ulrich Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber. Göttingen
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So können wir nachher die Probe aufs Exempel von Forsters Bemerkung und meinen Behauptungen bieten: Es geht dann um nicht mehr und nicht weniger als um das Problem der Kodierung im zwischengeschlechtlichen Brief. In einigen jener immerhin dreißig von Lichtenberg überlieferten Kurzbriefe8 an seine Frau Margarete Elisabeth, geb. Kellner, die vom nur zirka 900 Meter Luftlinie entfernten Gartenhaus an das Stadthaus in der Göttinger Gotmarstraße gingen, haben ihn Generationen von Lesern und Literaturhistorikern nicht ‚auf der Zote ertappt‘. Eins dieser Billetts, das vorstehend präsentierte,9 wollen wir uns daher einmal mit allen seinen Implikationen genauer ansehen und dabei Lichtenbergs Ehebriefstil reflektieren. Über die ‚Empfängerin‘ wissen wir herzlich wenig:10 Lichtenberg engagierte die aus der Unterschicht des benachbarten Dorfes Nikolausberg stammende Margarete Elisabeth Kellner wahrscheinlich um die Mitte, spätestens im Herbst des Jahres 1783, da war sie 14 Jahre alt, konfirmiert und nach damals geltendem Recht heiratsfähig. Spätestens seit dem darauf folgenden Winter unterhielten die beiden ein intimes Verhältnis, dessen unmittelbare Folge, ein Sohn, schon im November 1784, wenige Wochen nach der strikt geheim gehaltenen Entbindung im September, starb. Bevor Lichtenberg seine junge Geliebte, die er selbst seit 1784
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1993) nur sehr knapp im Zusammenhang mit dem Codeswitching (S. 98) gehandelt – und die zahlreichen Briefe an seine Frau hatte ich nur im Kontext des Materialen (S. 72 u. 81), der Distanzminderung (S. 146 f.) und Pragmatiknachbildung (S. 296), Deixis (S. 152), des ‚Impliziten Lesers‘ beim literarischen Zitieren (S. 199 f.; 205 u. 210) und der besonders vertraulichen Briefe (S. 257) behandelt und diese Briefe damit – wie ich jetzt sehe – geradezu ein bisschen verharmlost. Zwar ist meine Angabe vollkommen zutreffend „von den intimen [Briefen] der Stechardin oder Margaretes, falls es denn welche gegeben hat, ist kein Schnipsel erhalten“, sehr wohl aber überging ich die Intimität seiner eigenen. Die Aufforderung zur Teilnahme an vorliegendem Sammelband gibt mir willkommene Gelegenheit, einen zu wenig beachteten Bereich wenigstens zu skizzieren. Eine vollständige Übersicht ist leicht zugänglich in Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. V.2. Verzeichnisse, Sachregister. Hg. v. Ulrich Joost u. Albrecht Schöne. München 2004. S. 961. In ders.: Schriften und Briefe. Bd. 4. Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1967 finden sich 19 davon. In diverse Anthologien gerieten immerhin sieben Billetts – wonach diese Korrespondenz zu Lichtenbergs bekanntesten zählt. Das Handschriften-Original des zur Rede stehenden Briefs ist leider mit jenem Teil des Nachlasses verschollen, der am Ende des II. Weltkriegs in Schlesien vom letzten Besitzer auf der Flucht vor der russischen Front zurückgelassen wurde und hernach vermutlich zum Ofenanzünden, Zigarettendrehen oder anderen alltäglichen Zwecken verbraucht worden ist; vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. I (Anm. 6), S. XIX u. ebd. Bd. V.1. Nachträge, Besserungen, Personenregister. Hg. v. Ulrich Joost. München 2004. S. 128. Alles noch Erreichbare werde ich im nächsten Lichtenberg-Jahrbuch (2012) ausführlich und kritisch gewichtet zusammenstellen; daher sei hier auf Details und Nachweise ganz verzichtet.
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wiederholt als seine Haushälterin bezeichnet, gleich bei Einsetzen des lebensbedrohlichen Schubs seiner Krankheit im Oktober 1789 heiraten sollte, schenkte sie ihm noch drei weitere uneheliche Kinder, deren Vaterschaft gleichfalls in den Kirchenbüchern verschwiegen bzw. verfälscht wurde; damals und zumal bei den Professoren der Universität Göttingen keine außergewöhnliche Praxis. Von den insgesamt acht Kindern (davon vier in einem „vergnügten Eheleben“), die es bis zu seinem allzu frühem Tod im Februar 1799 werden sollten, starben aber drei nach wenigen Monaten oder Jahren, ein viertes 1802 (das liegt also völlig innerhalb des damaligen Durchschnitts einer 50-prozentigen Kindersterblichkeit vor dem 10. Lebensjahr), und Margarete überlebte sie alle bis auf den Sohn Christian Wilhelm. Wir haben es bei ihr offenbar nicht mit einer intellektuell anregenden athenischen ‚Aspasia‘ zu tun, sondern viel eher, das Diktum von Goethes Mutter zu gebrauchen, mit einem „Bettschatz“.11 Immerhin, sie konnte zwar vielleicht kaum hochdeutsch sprechen, vermochte natürlich zu lesen, ein bisschen zu schreiben, aber keinen Brief orthographisch und grammatisch korrekt, wie das wohl einzige erhaltene Specimen beweist, und konnte jedenfalls ganz gut rechnen, aber gewiss und vor allem auch denken. Die Briefe, die Lichtenberg an sie richtete, hat sie verstanden – sonst hätte er sie schwerlich geschrieben. Aber dies Verstehen verdankt sich eben auch seiner Briefkunst.
II. Man hat frühzeitig erkannt, dass Lichtenbergs Briefstil gekennzeichnet ist durch das entschiedene Eingehen auf den Briefpartner.12 Richtig daran ist, vor allem auch mit Blick auf unseren Brief hier, dass Lichtenberg Briefe an Frauen als einen spezifischen Typus mit einem sehr eigenen und deutlich abgrenzbaren stilistischen Profil ausstattete, ihnen mithin gleichzeitig etwas von ihrer Individualität nahm. Dieser Umstand macht seine Briefe noch heute so außerordentlich lesbar, insofern nämlich in ihnen eine ‚Implicite Leserin‘ als so ein Typus konfiguriert wird, welcher die Indivi-
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„Küße den kleinen Augst – auch deinen Bettschatz“. (Katharina Elisabeth Goethe an ihren Sohn, 19.1.1795. In: Die Briefe der Frau Rath Goethe. Hg. v. Albert Köster. Teil 1. Leipzig 1923. S. 274.) Nur obenhin Walter Abendroth: ‚Der glänzendste unsrer Schriftsteller‘. Über Georg Christoph Lichtenberg. In: Monatsschrift für das deutsche Geistesleben (1940). S. 142– 146, hier S. 146; deutlicher dann Otto Deneke: Lichtenbergs Leben. München 1944. S. 63, 105, 172; weiter ausgeführt und vermutlich durch die persönliche Bekanntschaft mit Deneke inspiriert Herbert Schöffler: Der Briefschreiber. In: Götz von Selle (Hg.): Lichtenberg. Studien zu seinem Wesen und Geist. Göttingen 1956. S. 44 u. 52.
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dualität der ersten Empfängerin zugleich mit aufnimmt. Es gibt freilich, um dieses Ziel zu erreichen, noch andere, nicht weniger wichtige profilbildende Momente,13 unter anderen textsortenunspezifisch bestimmte Witzelemente aus Uneigentlichkeit, Wortspiel und Intertextualität; textsortenspezifisch Techniken der Metareflexion und der Distanzminderung. Insbesondere die letztgenannten sind Elemente, die stilideologisch deutlich auf die Tradition von Gellerts „schöner Natürlichkeit“ verweisen, zu denen sich aber Lichtenberg ganz neuer Kunstgriffe bedient. Im Satz unseres Briefs hier „Wenn ich nur auch sogleich eine Antwort auf diese Fragen haben könte“ (S. 73) sind mehrere solcher Kunstgriffe miteinander verknüpft. Lichtenberg hat das ganze Billett szenisch und gestisch durch winzige Tricks gestaltet, die gerade wegen ihrer Simplizität unaufdringlich (mithin sehr anders als ihr erster Beschreiber Christian Fürchtegott Gellert) den Leser gefangen nehmen. Schauen wir uns seinen Stil im Vergleich zu dem anderer Ehebriefe Lichtenbergs gleich noch ein bisschen genauer an. Um es vorwegzunehmen: Er ist keiner von jenen anderen an Margarete gerichteten, die mit Sprachspielereien, witzigen Umschreibungen glänzen. Gleich im ersten Satz springt sein Schreiber medias in res – mit einem „Nun“ (S. 73). Das war ursprünglich eine Temporalpartikel, deren deiktisches Gewicht aber mittlerweile fast verloren ist. Umso gewichtiger erscheint schon seit ein paar Jahrhunderten ihr immer mehr zunehmender Gebrauch als ‚gesprächseinleitende‘ Partikel, hauptsächlich in mündlicher Kommunikation.14 Lichtenberg imitiert eine solche Situation, arbeitet szenisch. Allerdings eine Szene auf dem Papier: Er fragt zwar wie in mündlicher Kommunikation, wahrt aber die Logik des Schriftlichen, beklagt gleich im zweiten Satz die nicht mögliche sofortige Antwort. Koketterie und Spiel mit dem Briefsteller und seinen Weisheiten? Ja, sicherlich; zugleich aber raffinierter: Selber scheinbar naiv, spielt Lichtenberg mit der ‚Naivetät‘ seiner Partnerin und überbrückt die raumzeitliche Distanz, die den Brief als Gebrauchsgattung konstituiert. Dies aber nicht, wie Gellert es wohl gewollt hätte, durch die Dialogfiktion, sondern indem er jene Distanz metareflexiv ‚artikuliert‘: Im Irrealis eines non possumus wird die Unmöglichkeit benannt und – so paradox das klingt – durch ihre bloße Artikulation zumindest teilweise überwunden.
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Vgl. Joost: Lichtenberg der Briefschreiber (Anm. 7), passim. Das einschlägige Kapitel in der Duden-Grammatik (7. Aufl. Mannheim 2005. S. 601) nennt „Nun“ als typisches Beispiel für Startsignale in Gesprächen, und in genau diesem Sinn benutzt Lichtenberg es in seiner Brief- und Vorlesungspraxis und in einer ungedruckten Übungsaufgabe im von ihm erteilten Englischunterricht (Nachlass Ms. Licht VI, 58, Bl. 6v.).
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Das Spiel mit den künstlichen Fragen gehört bei Lichtenberg zu den wichtigsten Techniken, sie begegnen uns in jedem zweiten oder dritten Brief, und die 30 kurzen Billetts an Margarete enthalten ungefähr ebenso vielen Fragen – mit und ohne Fragezeichen. In einem einzigen sind es einmal gleich sechs in Folge. Auch im hier zur Rede stehenden Billett fragt Lichtenberg, indes: er muss sich die Antwort selber geben: „Doch ich hoffe, daß nun […]“ (S. 73). Offenbar ist die Angelegenheit, um die es da geht, zu ernst, um sie nach Gellerts Art in einen heiteren Dialog zu verwandeln, wie Lichtenberg das etwa in seinen Reisebriefen an Christiane Dieterich mehrfach getan hat.15 Zu den textsortenspezifischen Schwierigkeiten des Briefs, insofern sie aus seiner besonderen Kommunikationssituation erwachsen, gehört der Umstand, dass bei seiner Lektüre unser kollektives Weltwissen, über das wir sonst allenfalls verfügen, nicht zu einem vollständigen Verständnis ausreichen kann. Einfacher ausgedrückt: Der Briefschreiber wendet sich nur an eine oder ganz wenige Personen, das sind nicht alle Zeitgenossen und schon gar nicht wir nachgeborenen, naturgemäß indiskreten Leser. Vielmehr müssen wir uns im verborgenen, manchmal sogar verbotenen Wissen der Vertraulichkeit unterschiedlicher Lebenswelten bewegen – je privater solche Briefe sind, desto umsichtiger wird ihr exklusives Wissen gehütet. Mit so einem vertraulichen Brief haben wir es auch hier zu tun. Mag uns Heutigen auch die Anrede „meine Liebe“ (S. 73) einigermaßen distanziert vorkommen, so muss man doch bedenken, dass im damaligen Bürgertum (schon gar im Adel) selbst Ehepartner einander zumeist siezten. Daher ist diese Anrede und das vertrauliche Du entweder ein erhebliches Zugeständnis an die soziale Herkunft von Margarete Elisabeth16 – oder – wahrscheinlicher – es ist ganz außerordentlich privat, ja intim. Überschwang und Seeleneröffnung wird man bei den jüngeren Altersgenossen Lichtenbergs, den fünf bis zehn Jahre Jüngeren, allenthal-
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Einige Hinweise und Belege bietet der Abschnitt zu Gesprächsimitationen im Brief in Joost: Lichtenberg der Briefschreiber (Anm. 7), S. 148–151. Bis zur Auffindung seines Testaments (gedruckt in: Der Briefwechsel zwischen Johann Christian Dieterich und Ludwig Christian Lichtenberg. Hg. v. Ulrich Joost. Göttingen 1984. S. 111 f.), wo sie nur „Elisabeth“ genannt wird, war ihr zweiter (oder erster?) Vorname gänzlich unbekannt. Bis jetzt weiß man nicht sicher, mit welchem der beiden Lichtenberg sie gerufen hat – vermutlich mit dem ersten, wenn wir voraussetzen, er habe seit der Frühzeit der Beziehung und Ehe ‚über‘ sie [„Margarethchen“ in den „HaußAngelegenheiten“ im Notizbuch Leih-Bibliothek (ungedruckt) – „Lisbeth“ begegnet ganz zu Anfang dort aber auch; „Margarethe“ (in der Heiratsnotiz im Tagebuch (Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Bd. 2. Materialhefte, Tagebücher. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1971. S. 698) und im Brief an Dieterich (Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. III (Anm. 1), S. 707–709, hier S. 708)] genauso geredet wie sie ‚angeredet‘.
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ben antreffen, aber gerade ihm ist der Superlativ auch in der Liebeskommunikation noch reichlich ungewohnt – wir haben es jenseits von Lichtenbergs persönlichem distanzierten Verhältnis zu Gefühlsoffenbarungen mit einem anthropologischen Generationenwechsel zu tun, den Lichtenberg nicht mitvollzogenen hat. Auch um derlei Fragen aufzuklären: Eine halbwegs systematische und zugleich auch historisch-diachronisch vergleichende Geschichte der Anredeformen im Liebesbriefwechsel scheint mir ein dringliches Desiderat, sie ist, wenn ich richtig sehe, noch nicht vorhanden.17 Dabei sollte doch nicht erst der Brief Heinrich von Kleists an Henriette Vogel eine dahingehende Ermahnung sein, der nur aus Liebesanreden, nach Art eines Quodlibet spielerisch angeordnet, und dem Schluss „wie lieb’ ich dich!“ besteht.18 Die dreißig Ehebriefe Lichtenbergs sind gemessen an einer solchen Aufgabe zwar ein sehr kleines und statistisch schwerlich belastbares Korpus, lassen aber durchaus ein paar aufschlussreiche und zu weiterer Suche anregende Beobachtungen zu. Die mit Abstand häufigste Anrede an Margarete ist „Meine Liebe“ (20mal in 19 Briefen), gefolgt von „Mein (lieber, liebster) Schatz“ (5mal). Im Tagebuch spricht Lichtenberg immer nur ganz formelhaft und zumeist auch abgekürzt von „m. l. Frau“,19 in Briefen (wenn sie denn einmal erwähnt wird) ähnlich – mit dem Vornamen wird sie offenbar nicht gerufen. Vergleichsweise selten sind Koseformen: Je einmal treffen wir als Anrede „Schelm“, „Zuckerpüppchen“, „Mein liebes Mütterchen“, „Liebster Engel“.20 Schatz, Schelm, Zuckerpüppchen sind offenkundig aus dem Kinderzimmer in die elterliche Wohnstube (oder das Schlafzimmer) aus-
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Das habe ich schon im Zusammenhang mit dem Braut- und Ehebriefwechsel Theodor Storms erläutert. Vgl. Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (2005). S. 189–193, hier S. 191, und ebd. (2011). S. 209–213, hier S. 212. Wohl vom November 1811. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. v. Ilse-Marie Barth u. a. Bd. 4. Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793– 1811. Hg. v. Klaus Müller-Salget u. Ilse-Marie Barth. Frankfurt/M. 1997. S. 519 (zur Textkritik ebd., S. 1102–1108); vgl. auch: Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. v. Theophil Zolling. Stuttgart 1885. S. LXXXVII; dort auch der Anfang eines ebenso aufgebauten Gegenbriefs von Henriette. Zolling bemerkt aber angesichts der ihm fremden Exaltation auch: „ein Briefwechsel, dessen Beurteilung zum Ressort des Psychiaters gehört“. (Ebd.; vgl. hierzu auch den Beitrag von Günter Blamberger im vorliegenden Band.) 607mal, wenn ich richtig zähle, nur 30mal gar nicht abgekürzt und siebenmal teilweise. Diese Anrede ist zu Lichtenbergs Zeit schon ziemlich allgemein (vgl. Goethe, der seinen Werther im Brief vom 16. Juni selbstironisch sagen lässt: „Ein Engel! – Pfuy! das sagt ein jeder von der Seinigen, nicht wahr?“ Ders.: Ausgabe letzter Hand. Teil 16. Stuttgart, Tübingen 1830. S. 24). Ich finde aber hauptsächlich Belege bei den jüngeren Zeitgenossen Lichtenbergs: Beethoven an die „Unsterbliche Geliebte“ etwa oder Clemens Brentano an die Günderode.
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gewandert. Das nimmt einen nicht wunder, denn es entsprach gesellschaftlicher Wirklichkeit. Man kann das ein bisschen modisch-modernistisch den Diskurs von Macht und Eros nennen, es ist aber schlicht ein juristischer Tatbestand, dass die Frau noch durch die ganze frühe Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert aus der Vormundschaft ihres Vaters in die des Ehemanns überging, und daher ist es durchaus folgerichtig, dass „Kind“, „angenehmes Kind“ etc. noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine der beliebtesten Mädchenanreden sogar der Liebeslyrik (beim frühen Johann Christian Günther etwa quälend einfallslos), nicht also nur in Briefen, war. Einen eigenen Kosenamen hat „m. l. Frau“ schon gar nicht, weder im Reden über sie noch in der Anrede. Das lag gewiss nicht an Lichtenbergs Einfallslosigkeit: Die scherzhaften (parodistischen) Anreden würden eine solche Annahme widerlegen. Den Literaturwissenschaftler reizen sie naturgemäß mit Blick auf die Normabweichung am meisten – das Seltene und Außergewöhnliche ist zumeist aufschlussreicher als das Landläufige: „Wohlgebohrne liebe Frau, | Hochzuverehrender kleiner Eigensinn“,21 „Liebe Frau HofRäthin“,22 „Frau Strohwittwe“23 und das biblische „Fleisch von meinem Fleisch“.24 Bemerkenswert sind auch die Begrüßungen und Verabschiedungen. Die pragmatische Situation – raumzeitliche Trennung bei geringer Entfernung – lässt das Fehlen von Orts- und Datumsangabe in zwei Dritteln der Ehebilletts keineswegs zu einem Normverstoß werden. Eben diese geringe Distanz erlaubt aber auch die Übernahme von Redefiguren, die in der Schriftlichkeit sonst nicht gelten gelassen wurden. Bei den Begrüßungen ist daher folgerichtig die häufigste „Guten Morgen“ (sechsmal in fünf Briefen) – das kommt einem schon sehr modern vor, denn es blieb den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts vorbehalten, den Tageszeitengruß an die Stelle der Anrede zu setzen. Seine Wahl folgt aber ganz zwanglos, ebenso wie bei der Abschiedsformel, dem mittlerweile offenkundig längst und vollständig Gemeingut gewordenen Gellert’schen Prinzip der „schönen Natürlichkeit“: Denn bei den letzteren führt „Lebe recht wohl“ (16mal in 14 Briefen), gefolgt von „Adieu“ (viermal), dem wir ja auch in diesem Brief hier begegnen, als Anadiplosis „Adieu Adieu“ (zweimal),25 ferner
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Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. III (Anm. 1), S. 1104. Ders.: Briefwechsel (Anm. 1), Bd. IV. Hg. v. Ulrich Joost. München 1992. S. 79 f., hier S. 79. Ebd., Bd. III, S. 1087 f., hier S. 1087. Ebd., S. 1088. Auch in der Doppelform bei anderen Briefschreibern geläufig anzutreffen, Heinrich von Kleist etwa.
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parodiert: „ajöh | o wei“ (meint: adieu | au revoir).26 Hier wird also der Abschiedsgruß aus dem Leben in die fiktive Welt des Briefs geholt, das schafft Konkretheit („proprie communia dicere“) und scheinbare Nähe, womit gleich mehrere Stilideale des Zeitalters erfüllt werden können. Auch die Personalstruktur der Grußformeln ist aufschlussreich: 13mal insgesamt begegnet in unterschiedlichen Varianten „(Ich bin) Dein (ewig zweimal, ewig ewig zweimal) treuer (Freund einmal)“, einmal immerhin das schon etwas überschwänglichere „In Ewigkeit der Deinige“. Dies also zur Ausdrucksfunktion in Lichtenbergs Liebeskorrespondenz im Allgemeinen und ihrer Anwendung in unserem Brief hier im Besonderen. Betrachten wir nun auch die eher der Mitteilungsfunktion zugehörigen Teile des Briefs. Der dritte und vierte sowie der sechste bis neunte und der elfte Satz enthalten bloße Alltäglichkeiten, zumindest auf den ersten Blick: Informationen, die man von einem Brief erwartet. Im fünften und zehnten Satz werden sie durch Grußformeln unterbrochen: Bestandteil des szenischen Gestaltens. Trotz einer Vertraulichkeit, die uns auszuschließen scheint, kommt einem dieser Brief auf den ersten Blick leicht verständlich, seinem Inhalt nach sogar ein bisschen belanglos vor – über eine ähnliche Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten wie an diesem Briefende befand Lichtenberg ein Vierteljahrhundert zuvor, sie klängen, „als wenn man Phrasen in einer Grammaire liest“.27 In Kenntnis der zeitlich benachbarten Briefe und in Lichtenbergs Lebenskontext lässt sich der größte Teil des als alltäglich Angedeuteten leicht verstehen oder doch gleich erraten, auch wenn unser Briefschreiber zur fraglichen Zeit sein Tagebuch leider nur unregelmäßig geführt hat. Das „Schlimmste“ war Lichtenberg aber doch wichtig genug, und er erklärt es uns in einer Tagebuchnotiz vom 26. Juli: „das Milchfieber meiner l. Frau sehr starck“, ein entsprechendes Billett vom 29. bestätigt das.28 Am 24. nämlich war Margarete von ihrem letzten, achten Sohn Friedrich Heinrich Lichtenberg entbunden worden, und Lichtenberg hat jedenfalls noch konsequenter als sonst schon immer jede freie Minute und jedes vollständige Wochenende zur Flucht aus der gewiss jetzt recht lauten Wohnung in der Gotmarstraße in Göttingen zum Gartenhaus vor der Stadt genutzt, wo er in Ruhe arbeiten konnte. Der gute „Alte“ sodann, der Hauswirt, Freund, Verleger Johann Christian Dieterich, hatte also eine „Zunge“ (jedenfalls eine vom Rind) geschenkt, wie er das gern mit Deli-
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Ebd., Bd. IV, S. 143 f., hier S. 143. Und schließt den Brief gleich: „also geschwind nach der Grammaire. | Je suis le votre.“ (Ebd., Bd. I, S. 97.) Vgl. ebd., Bd. IV, S. 748. Zitat ebd.
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katessen und guten Weinen tat, um seine Autoren bei Laune zu halten, und diese Zunge verfehlte ihre kulinarische Wirkung offenbar nicht. Beiläufig wird dann noch Ferdinand Justus Christian Loder erwähnt, der Schwiegersohn August Gottlob Richters, des Gartennachbarn, Kollegen aus der Medizinischen Fakultät und Arztes des Vertrauens. Man versorgte sich wechselseitig mit naturhistorischen Büchern und Präparaten: Hatte Loder nur über den Zaun Lichtenberg angeredet oder ihn gezielt besucht? Die „langbeinige Post“ (S. 73) schließlich informiert uns über die Körpermaße von Lichtenbergs Bedienstetem Johann Georg Ludolf Rogge; ähnlich wird der nämlich auch in anderen Briefen apostrophiert.29 Was um alles in der Welt aber bedeutet der Hinweis auf den „armen Ohmel“ (S. 73)? Wenn es ein Wortwitz oder Sprachspiel sein sollte, so lässt sich aus der Kenntnis der anderen Billetts an Margarete sagen: die sind zumeist gänzlich unaggressiv und harmlos, eben kindgemäß und dadurch auch ein bisschen biedermeierlich; sie brauchen fast überhaupt keine Erläuterungen, und manche der Billetts sind nur Umrahmung einer oder einiger solcher ganz gemächlich aufgebauten Pointen, wie die komische Klage über das „Ober Bette“, in dem „Ducksteine“ stecken müssten statt der Gänsefedern.30 Um ein paar Beispiele für Lichtenbergs Witztechnik zu geben, so bieten sich zunächst harmlose Sprachpointen und Umschreibungen durch Uneigentlichkeit an, wie „Stoßmaschine“ (für: Kutsche),31 wir haben aber sonst gerade in diesen Briefen erstaunlich wenig Metaphorik. Die einzigen Wortspiele an Margarete kommen als Namenverballhornungen daher: Aus der Nachbarin Permeter wird eine „Barometerin“.32 Aposiopesen wie „Grüße […] die kleinen – ich weiß nicht gleich wie man die Dinger heißt“33 müssen selbstredend vom Empfänger der Briefe (und uns) fortgedacht werden, und die Empfängerin kann nun nach Bedarf ‚Teufelchen‘, ‚Quälgeister‘ oder einfach nur ‚Kinder‘ einsetzen. Intertextuell kann Lichtenberg bei seiner Frau nur die Bibel als bekannten Text voraussetzen, also werden von dort einige Sprachspiele gewählt wie die Umschreibung „Schabbes“ [Sabbat] für Sonnabend34 oder die Anrede „Fleisch von meinem Fleisch“;35 hierher gehört auch die Hyperbel:
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Vgl. ebd., S. 254 f., hier S. 255; S. 760, 890 f. u. 917. Zum Wortspiel mit Namen vgl. Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber (Anm. 7), S. 238. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. III (Anm. 1), S. 1087 f., hier S. 1088. Ebd., S. 962 f., hier S. 962. Ebd., Bd. IV, S. 1037. Zu diesem rhetorischen Verfahren vgl. Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber (Anm. 7), S. 226–228. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. III (Anm. 1), S. 1104. Ebd., Bd. IV, S. 507. Ebd., Bd. III, S. 1087 f., hier S. 1088.
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Ist es wahr was die Leute sagen, Du hättest die Arche Noah gekauft zum Brennholtz? Wenn das ist, so schicke mir heute eine Etasche davon heraus.36
Ansonsten greift Lichtenberg auf ein paar bewährte Tricks zurück, die wir schon aus seiner Frühzeit kennen, aus seinen Reisebriefen – wie den scherzhaften Fragenkatalog37 oder die Porträtskizze von einem „galante[n] Leichtfüßchen“ mit der Bildunterschrift: „Ich konte den Brantwein am Fenster riechen.“38 Auch die Technik des konstruierten Aprosdoketons, die Enttäuschung einer vorher geweckten Erwartung, hier in Gestalt eines Dementis, kennen wir schon aus jener Zeit. Ganz gemütlich heißt es jetzt: „Daß meine Nase roth ist, das weiß ich wohl, aber das kommt vom Brantewein und nicht von der Kälte, und daß ich 3 Schlafröcke über einander an hätte, ist gantz erlogen, ich habe nur zwey an“.39 Aggressiv sarkastisch, wie wir Lichtenberg sonst lieben, ist er in diesem kleinen Briefcorpus also fast gar nicht, ein paarmal bricht es aber doch, wiewohl noch sehr gemäßigt, blitzartig aus ihm heraus. Während einer Seuche, die in Göttingen grassierte, erzählt er, man habe „Kulenkamp schon heute todt gesagt. Es ist aber Uebertreibung“.40 Das befreiende Lachen über die eigentlich grundtraurige Nachricht liegt in dem vollkommen unangemessenen (inapten) Gebrauch von „heute“ und „Uebertreibung“. Urbaner in der freundlichen Ironie sind solche Sachpointen wie die Forderung: „Die Fritze [damals ein Jahr alt] kan zu Fuß gehen“41 oder die Drohung „Wenn du nicht kömmst, so nehme ich den Ruf als Proviant Commissarius bey der Armee an“42 – aber auch hinter dem heiteren Scherz verbirgt sich die große Angst vor dem bedrohlich sich nähernden Koalitionskrieg. Scherze aus der Sphäre der Erotik und der Körperlichkeit aber sind überaus selten; einmal lässt er sich von der Amme die „beyden Gesichter“ [des Neugeborenen] zeigen, „Das No 1 war schön, rund und freundlich wie die Sonne, das andere No 2 blanck und still wie der volle Mond, oder eigentlich wie das erste und lezte Vierthel gegen einander gestellt“.43 Ein andermal begegnet die witzige Umschreibung „ein kleines Mädchen mit
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Ebd., Bd. IV, S. 1037 f. Vgl. ebd., S. 917. Vgl. ebd., S. 597. – Zu den graphischen Effekten und Zeichnungen vgl. Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber (Anm. 7), S. 241-244. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. IV (Anm. 22), S. 79. – Zum rhetorischen Verfahren vgl. Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber (Anm. 7), S. 230 f. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. IV (Anm. 22), S. 329. Ebd., S. 586. Ebd., Bd. III, S. 1104. Ebd., S. 1087 f., hier S. 1087.
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zwey Schwäntzen“,44 die die mehrfache Zweideutigkeit zulässt ‚männliche Zwillinge‘, oder eher: ,männliches Teufelchen‘. Das mag als Einblick in Lichtenbergs Witztechniken einstweilen genügen, beantwortet indessen noch nicht meine Frage nach der seltsamen Verrätselung: Was ist ein Ohmel?
III. Denn der bleibt unverständlich und leicht zu überlesen. Nur dem aus dem Rheinland oder aus Niedersachsen Gebürtigen, wo man ihn noch heute subliterarisch als ,Oimel‘ kennt, gibt der Ausdruck weniger Geheimnisse auf. Der Nicht-Autochthone muss sich in Grimms Deutschem Wörterbuch Rat holen und erfährt dort zunächst nur,45 dass es sich um eine diminutivische Erweiterung zu Ohm handele, kleiner Oheim also, und im Grimm findet man unter den bekannten Bedeutungen (Onkel, dann überhaupt älterer männlicher Verwandter) auch den übertragenen Sinn: Genosse, Kumpan und (das ist auch die noch lebendige Bedeutung vom Oimel): (guter) Kerl, Kumpel, Lümmel. Selber erraten muss er aber (so frei oder so informiert war der damalige Bearbeiter Matthias von Lexer doch nicht, und die anderen Wörterbücher, selbst die der deutschen Gegenwartssprache, lassen einen wieder einmal im Stich), dass ein Ohmel im uneigentlichen: im übertragenen Sinn (beim Oimel sogar fast immer) den wichtigsten Kumpel des Mannes meint, seinen Penis.46 Was wir selbst mit diesem Wissen ausgerüstet immer noch nur vermuten können, bleibt die Frage, ob Lichtenberg nun ‚an‘ ihm litt (weil er vielleicht daran erkrankt war) oder eher ‚durch‘ ihn: weil der Zustand seiner Frau ihm nämlich Enthaltsamkeit auferlegte. Es wird wohl Letzteres gewesen sein, und so können wir mit Lichtenberg aufatmen, als er am 5. August 1797 an seine Margarete geradezu jubelnd schreibt: Meine liebe, | Guten Morgen, guten Morgen! Hoffentlich wird alles gut gegangen seyn mit Dir und dem bewußten 12 Zolle langen Schelmen, den ich nicht nennen mag. Es könte unter die Leute kommen.47
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Ebd., S. 962. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 7. Hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Leipzig 1889. Sp. 1199 f. Eine ganz ähnliche Übertragung kennen wir beim ostpreußischen ‚Lorbass‘: Kerl, Kumpel; dann: ‚er‘. – Das Internet scheint mir aber anzudeuten, dass sich die Bedeutung allmählich verschiebt und die sexuelle Konnotation wieder stark abnimmt. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. IV (Anm. 22), S. 749.
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Wir wollen Lichtenberg das Mitgefühl mit seiner Frau und ihrer nach der Entbindung etwas angeschlagenen Gesundheit zugutehalten und uns auf den (zum Glück wieder vom allzu moralischen Christian Wilhelm Lichtenberg überlesenen) Scherz und dessen literarische Gestaltungsweise beschränken. Bei der sexuellen Prahlerei beschreitet Lichtenberg einen Mittelweg: Jener bewusste ‚Schelm‘ da begegnet uns nämlich auch als ,Tröster‘ in Ludwig Seegers Übersetzung von Aristophanes’ Lysistrata,48 dort freilich mit der ein bisschen realistischeren Längenangabe „achtzöllig“.49 Die Verfasser jenes berühmten obszönen, zu Unrecht Gottfried August Bürger zugeschriebenen Studentenliedes An die Feinde des Priaps billigen hingegen dem Vulkan (freilich einem Gott) gleich 25 Zoll zu: über 60 Zentimeter.50 Lichtenberg hätte es dann mit 12 Zoll hannoverisch immerhin auf zirka 29 Zentimeter gebracht.51 Das aber nur nebenbei. Kommen wir noch ein einmal auf Lichtenbergs Hüllformel „Ohmel“ (S. 73); die Bedeutung dürfte klar sein. Warum er eine solche Umschreibung wählte, lässt sich nur vermuten. Derlei Billetts vom Garten zur Stadt gingen gesiegelt oder auch mit einer Oblate verklebt, vermutlich manchmal nur gerollt und geknifft auf ihren Transport, und die Sorge vor der Indiskretion der Dienstboten mag vielleicht eine Rolle gespielt haben, auch die internalisierte Quasinorm einer Keuschheit, die Lichtenberg veranlasste, selbst im geheimen Tagebuch derlei Naturalia als Turpia aufzufassen und sie mit Umschreibungen und Kryptogrammen zu camouflieren. Wichtiger aber ist, dass dieses Spiel in den Liebesdiskurs gehört, den Liebesbriefpartner zu einem Auserwählten macht – nicht bloß einer happy few,
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In Akt 1, Szene 1, V. 109. Seegers Übersetzung erschien zuerst 1845–1848; hier nach der Ausgabe: Aristophanes’ Werke. Neue Auflage mit Einleitung von Hermann Fischer und Wilhelm Schmidt. Bd. II. Stuttgart, Berlin o.J. [ca. 1900]. S. 230. Immerhin wären das selbst in den niedrigeren Varianten des Zollmaßes in Deutschland, etwa dem hannoverischen Zoll zu 2,47 cm gerechnet, bei dem griechischen Ehemannsersatz (denn es ist von einem Godemiché die Rede: „Ein Notknecht nicht einmal, ein lederner!“ V. 110), also zirka 20, nach den griechischen Maßen umgerechnet sogar nur zirka 15 Zentimeter: Im griechischen Original steht ολισβον οκτωδακτυλον (wörtlich: acht Querfinger langer Lederphallos), das sind ziemlich genau 15 cm. Die Übersetzungen, die Heinrich Tuitje freundlicherweise noch für mich konsultiert hat (J. H. Voss 1821, J. G. Droysen 1836, C. Schnitzer 1854, J. Minckwitz 1865) geben das alle als „achtzölliger Tröster“ bzw. „Tröster mehr als acht Zoll lang“, nur Droysen überträgt ganz präzise: „Siebenzöllner“. Str. 8, V. 6. Vgl. eingehend dazu Ulrich Joost: Jünglinge im (unedlen) Wettstreit, oder: Der Mythos von den „Phantasien in drei priapischen Oden“. Eine Ermittlung. In: Bodo Plachta (Hg.): Literarische Zusammenarbeit. [Festschrift für Winfried Woesler.] Tübingen 2001. S. 49–100, hier S. 88 u. 94. „Jeder Zoll 1 Inch“, kalauert Arno Schmidt (Kühe in Halbtrauer. (1961). In: Ders.: Bargfelder Ausgabe Werkgruppe I. Romane. Erzählungen. Gedichte. Juvenilia. Bd. 3. Zürich 1987. S. 341) ohne sexuellen Hintersinn.
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Ulrich Joost
sondern einem happy one and only. Bemerkenswert ist hier vor allem auch, dass das Phänomen eine eigene und soweit ich sehe gänzlich unerforschte Literaturgeschichte hat. Derlei metonymische oder antonomastische Kodierung, Geschlechtsorgane wie hier mit der Bezeichnung einer Person (nomen appellativum), deren Eigennamen (nomen proprium) oder auch nur einem Pronomen (demonstrativum oder personale)52 zu umschreiben, ein volles Jahrhundert vor Nietzsches Unterscheidung des Ich vom Leiblichen, dem Selbst, mutet uns zwar im Privatbrief zumal des 18. Jahrhunderts zu Recht ungewöhnlich an, doch ist sie in Literatur und Leben nichts weniger als beispiellos. Ich wage die Vermutung, dass hier lediglich die seinerzeit neue Prüderie im Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert unsere Wahrnehmung für ein weitverbreitetes und vermutlich viel älteres Verfahren, das strukturell erklärlich ist und nicht einmal einer Tradition bedarf, etwas getrübt hat. Ein paar Beispiele bei den Zeitgenossen: Gottfried August Bürger nennt ‚ihn‘ im Brief an Johann Christian Dieterich in feinsinniger Anspielung auf die Bibel „Zebedäus“, das ist im Niedersächsischen und vielleicht darüber hinaus bis heute ein beliebter Vulgarismus.53 Der hessische Freiherr Georg Ernst von und zu Gilsa und seine Gemahlin Henriette, geb. von der Malsburg bedienten sich zum Zweck der Camouflage im Briefwechsel während ihres kurzen Eheglücks 1767 ihrer eigenen Rufnamen (in deren Koseformen), nannten ihn „Ernst“ und sie „Jetchen“ beziehungsweise nur abgekürzt „E.“ und „J.“, ließen die beiden einander grüßen, miteinander scherzen und sich nach dem wechselseitigen Wohlbefinden erkundigen.54 Fühlten sich die Briefschreiber wirklich sicher, von
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Arno Schmidt in Seelandschaft mit Pocahontas: „Erich fiel eben unnötigerweise aus der Rubrik ‹Oberschlesisches Liebesgeflüster› noch ein: »Warum nimmstu Fin-gärr?: Nimm doch IHN!«“. (Ders.: Bargfelder Ausgabe Werkgruppe I. Romane. Erzählungen. Gedichte. Juvenilia. Bd. 1. Zürich 1987. S. 399. – Hierzu stelle ich noch aus Goethes Gedicht Das Tagebuch den bekannten „Meister Iste“ [= dieser da (lat.)], der sich auch noch auf „Christe“ reimt. Brief vom 9.4.1778: „Sie [die Makulatur] muß aber nicht so schlapp, sondern hübsch steif wie unser Zebedäus seyn“ (Ulrich Joost (Hg.): Mein scharmantes Geldmännchen. Gottfried August Bürgers Briefwechsel mit seinem Verleger Dieterich. Göttingen 1988. S. 27). Sehr passend ist auch der biblische Nebensinn: Geschickter. – Des sagenhaft unkritischen Ernst Bornemanns reichhaltiges Handbuch Sex im Volksmund. Der obszöne Wortschatz der Deutschen. 1: Wörterbuch von A–Z. 2: Wörterbuch nach Sachgruppen. Reinbek 1974, ohne Paginierung, kennt diesen Hüllnamen auch, s. auch unten Anm. 55. Zum Beispiel „den E. bitte von J. zu grüßen“ (Henriette von und zu Gilsa an ihren Gemahl Ernst, 30. September 1767). Ich danke Ulrike Leuschner für den freundlichen Hinweis, zitiere sie nach dem Manuskript ihres Vortrags: „ein gar zu kostbahres pfand […] von dero Zärtlichkeit“. Das kurze Glück des Georg Ernst von und zu Gilsa und der Henriette von der Malsburg. Gehalten auf der Tagung Schreiblust. Der Liebesbrief im und aus dem 18. Jahrhundert, Braunschweig, Oktober 2011; im Satz. – Das Besondere an diesem Fall ist die Ausgewogenheit der Geschlechterbeziehung. Die Übertragungsfigur aber erinnert
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unberufenen Lesern ihrer Briefe unter einer solchen doch recht simplen Camouflage nicht durchschaut zu werden – oder genossen sie gar die Gefahr, entdeckt zu werden? Für einen Blick ins Weite sei gestattet, uns ein bisschen vom 18. Jahrhundert zu entfernen. Neu ist das also beileibe nicht, ja schon die mutmaßlich alte sprichwörtliche Redensart im Deutschen gibt ‚ihm‘ Namen: „Wie die Nase des Mannes / so ist sein Johannes“.55 Ganz dem entsprechend F.[riedrich]-K.[arl] Wächter im Mai-Heft des Satiremagazins Pardon 1973 mit einer Zeichnung, die (auf den zweiten Blick) an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: „Sie nannte ihn zärtlich Hansimann und zog ihm die Klamotten von ihrer Puppe an. Ich war stinksauer“.56 Hinter derlei Übertragungen durch individuelle Benennung steht auch wohl (wie gesagt: lange vor Nietzsche und Freud) die Vorstellung einer Abtrennung und Verselbständigung; Arno Schmidt etwa begnügt sich während seiner noch vorfreudianischen Phase mit der Unterscheidung zwischen „ich“ und „moi“, wobei letzteres nicht nur ganz eigentlich ‚ihn‘ (losgelöst vom übrigen Mann) meint, sondern dann auch Chiffre für die Körperlichkeit des Erzählers und seinen männlichen Trieb überhaupt ist.57
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wiederum an literarische Traditionen: etwa an jenen schwankhaften Scherz in Giovanni Boccaccios Decamerone, wo in der 10. Geschichte des 3. Tages der Einsiedler Rusticus der etwas einfältigen Alibech beibringt, wie man den Teufel heim in die Hölle schicken muss; ja auch an Grimmelshausens Lebuschka, die im Roman von der Landstörtzerin als pseudonymer Janko „sein edles Jungferkränzlein [?] umb den Namen Courasche“ „vertauschet“, wie es in der Inhaltsangabe des 3. Kapitels heißt. (Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen: Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courasche. Hg. v. Klaus Haberkamm und Günther Weydt. Stuttgart 1971. S. 20.) Google behauptet, rund 60.000 Eintragungen schon allein für diesen Wortlaut zu kennen – aber einen locus classicus für das ‚Volkswort‘, wie Hoffmann von Fallersleben solche Bildungen nicht bestimmbaren Ursprungs nannte, habe ich dort und auch sonst bislang nicht gefunden. Übrigens sind auch die Namen ‚Otto‘ und ‚Karl-Heinz‘ in deutschen Eckkneipen ungemein beliebt für ihn; im amerikanischen Slang sind es ganz entsprechend ‚Willy‘ und ‚Dick‘ (Koseform für Richard). Bornemann: Sex im Volksmund (Anm. 53) nennt (Bd. 2 unter 1.73: Penis) an Vornamen: Der alte Adam, Franz, (Freund) Hugo, Fritz, Hans(el), Hänschen(klein), Hänselmann, Hanswurst [historisch freilich ganz falsch, diese Wurst meint natürlich den Scheißhaufen!], Johannes, Peter, Peter Lenz, Petermann, Zacharias, Zacherl, Zebedäus. An weiblichen Nomina propria für die Scheide (Bd. 2 unter 1.66) finde ich hingegen nur Fanni, Hildegard, Klementine, Mimi, Miss Brown, Rosa(munde). Drei Ferkel scheitern. Schade! Vertrödelt, verplempert, vertan – ein großes Schweinebuch von F. W. Bernstein, Robert J. Gernhardt und F.-K. Wächter blieb unvollendet. Wieder in: Dieselben: Welt im Spiegel. Frankfurt 1979. S. 551. Zum Beispiel: „Ich hab immer das Gefühl, als wenn ‚ich‘ mich etwa in Kopfhöhe hinter ‚mir‘ befände. Als ‚ich‘ und ‚moi‘. (Wobei der Dicke unten natürlich ‚moi‘ sein muß!“; oder: „Ihr Gesäß begann einmal zu fauchen – ein seitlicher Druck an die Schamlippe (Resigniert: cosi fan tutte. Zum Trost den Unterschied zwischen ‚ich‘ und ‚moi‘ erklären; sie akzeptiert es teilweise).“ Arno Schmidt: Das steinerne Herz (1954). In: Ders.: Bargfelder Ausgabe
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Die Umbenennung insbesondere mit Eigennamen kennen wir mehr noch aus angelsächsischer Literatur und Filmkultur. D. H. Lawrence in Lady Chatterley’s Lover: „‚That’s you in all your glory!‘ he said. ‚Lady Jane, at her wedding with John Thomas.‘“58 In amerikanischen Filmkomödien der letzten Jahrzehnte begegnet das Phänomen allenthalben, manchmal sehr einfallsreich und bissig, aber vermutlich doch nur verbreiteten Volkswitz reproduzierend.59 Was folgt aus diesem Material, das sich bei einigem Suchen (eine Aufgabe, die ich hier nicht lösen kann) vermutlich stark vermehren ließe? Man wird bei dieser Liebes- und Geschlechtskodierung, zumal in so unterschiedlichen Textsorten, schwerlich eine Traditionslinie von der Komödie des Aristophanes über die Briefschreiber des 18. Jahrhunderts: Lichtenberg, Bürger, Gilsa, den Versdichter Goethe und den britischen Romancier Lawrence bis hin zur Filmkomödie des 20. und 21. Jahrhunderts ziehen können. Die volkstümliche Verwendung dieser Figur bietet uns aber einen Schlüsselhinweis: Diese polymorphe Umschreibungstechnik ist offenbar vielmehr unserer Sprache und Literatur inhärent, ihre strukturelle Ähnlichkeit schlagend: Indem nämlich mit einer harmlos klingenden Hüllformel aus einer Prüderie ein Witz entsteht, wie erotische Spannung in Gelächter abgeleitet und somit gelöst werden kann. Nomina propria hat Lichtenberg für ‚ihn‘ anscheinend nicht erfunden (oder wenn doch, so sind diese Briefe von Christian Wilhelm rechtzeitig in Sicherheit gebracht – will sagen: vernichtet – worden), und für ‚sie‘ hat er auch bloß den unbestimmten Artikel beziehungsweise das Numerale als Hüllformel gefunden, die eine aus dem eingangs gegenüber Blumenbach zitierten Brief an Marie aus Arnstadt. Aber zwei Nomina appellativa kennen
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Werkgruppe I. Romane. Erzählungen. Gedichte. Juvenilia. Bd. 2. Zürich 1986. S. 19, 53 (weitere Belege u. a. S. 20, 55, 70, 87, 99). – Die Verselbständigung von ‚ihm‘ als Personifikation hat Gerhard Zwerenz sogar auf den Titel eines seiner Romane, der davon handelt, genommen: Casanova oder der kleine Herr in Krieg und Frieden (Bern, München 1966). (http://gutenberg.net.au/ebooks01/0100181.txt). Ich danke Sabine Bartsch für diesen Hinweis, die mir zugleich versichert: Die Wiedergabe des nordenglischen Dialekts ist trefflich gelungen. In der deutschen Synchronisation des amerikanischen Films An Officer and a Gentleman (1982) heißt ‚er‘ wenig beziehungsreich „Zacharias“ (s. a. Bornemann: Sex im Volksmund (Anm. 52)); in Bird on a Wire (1990) „Mister Wiggley“. In The Big Lebowski (1998) attackieren die deutschen Nihilisten, als der Dude kiffend in der Badewanne ‚relaxt‘, seinen „Johannes“ (Synchronisation) bzw. „Johnson“ (Donny: „What do you need that for, Dude?“) mit einem Frettchen, das sie ins Wasser werfen. Einmal heißt ‚er‘ mit bösartigem Seitenhieb auf die Gerüchte über den britischen Prinzgemahl und seine bekannten Vorlieben: „Your Prince Philipp“; ich habe schon mein Gehirn zermartert, welcher Film das war (bis ich ihn mal wieder gesehen habe, muss man mir auf mein Wort glauben). – Die Reihe lässt sich jedenfalls lange fortsetzen.
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wir jetzt schon, und zum guten Ende sei noch an eine feine, über drei Stationen zu einer Personifikation erweiterte Bildfolge, eine Metaphora continuata und mithin rhetorische Allegorie,60 mit ganz ähnlicher Tendenz aus einem Brief Lichtenbergs an Samuel Thomas Soemmerring vom 11. Februar 1785 erinnert: Wenn Sie können, So legen Sie dem losen Upstart Gentleman, der Sie so sehr zum heyrathen drängt, Zaum und Gebis an, oh pray, do, pass sentence of water gruel upon him. Wenn er rufft: I can’t get in, so dencken Sie, mein Freund, an Yoricks Stahren: I cant get out, I can’t get out. Wedlock is no Padlock, obgleich das Schlößchen noch der schönste Theil bey diesem Kercker ist.61
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Zum Verfahren eingehend Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber (Anm. 7), S. 166 u. passim. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. III (Anm. 1), S. 48–51. Die Geschichte vom Staren, der in seinem Käfig-Gefängnis nur diese vier Wörter sagen kann, ist eine der melancholischen Episoden aus Laurence Sternes höchst witzig-zweideutiger Sentimental Journey, einer Erzählung übrigens, in der der Gedankenstrich am Schluss aposiopesenartig auch für so eine, so ein „Schlößchen“ steht.
Rahel Levin an Karoline Gräfin von Schlabrendorf, 11. Oktober 1808 Berlin, Montag den 11. Oktober 1808. Dies ist mein zweiter Brief, liebe Gräfin, den ich Ihnen seit diesem Sommer schreibe. Mein erster war eine Antwort auf den von Ihnen, der mich so sehr freute, als ich es Ihnen doch eigentlich nicht bezeigen konnte; und indem ich Ihnen flüchtig mein Leben, d. h. mein inneres Sein berichtete. Von Woche zu Woche wollte ich Sie wieder anreden, obgleich mich Ihr Schweigen weiter nicht wunderte, noch mein Brief eine direkte Antwort erforderte; aber freundliche und unfreundliche Wellen des Lebens verschlangen mit meiner Zeit die Ausführung meines Vorhabens, dessen Lebendigkeit manchmal bis zur Qual in mir stieg. Nun aber bin ich nach vierzehn Tagen von Leipzig zurückgekommen, wohin Unruhe und ein kleines nicht zu Stande gekommenes Geschäft mich rief und stürzte; und plötzlich erzählt mir ganz diskursiv der Baron B., der hier durchreist, daß Lothario unumstößlich gewiß heirathet. Mein Schreck war beinah dem gleich, als ich die noch verschleierte Existenz von Leontine erfuhr – B. dachte ich sei närrisch – das ganz Unerwartete erhöhte ihn um die Hälfte: denn nie konnte ich eine endlich wirkliche Ausführung eines so derben Vorhabens von Lothario erwarten. Welchen Henkerschlag hatte ich Cäcilien beizubringen, wenn sie es etwa nicht wußte! Gestern kam sie zu mir, beklagte sich – eine Wiederholung von mehr als sechs Monaten – über Vernachlässigung in jeder Rücksicht; und nach langem Schmachten, Missen, und Verlegenheit nach Geld, war endlich ohne ein Wort des Trostes und der Freundschaft die nackte, kahle Pension für das Kind angekommen; so beträgt sich, so stumm immer Lothario, wenn er in Verlegenheit ist; dies bemerkte mir das Mädchen von neuem. Wie erschrak ich von neuem! Und wie ein Wundarzt mußt’ ich mich nun entschließen, ihr den Mordschlag beizubringen. Ich verschone Sie mit den Details! Wissen Sie soviel: daß ihr Herz und seine Forderungen schon längst mit der unerbittlichen Allgewalt des Unglücks abgetödtet ist: daß ihr erster Schmerz sich auch von neuem nur dahin wandte und gestaltete, den letzten Pulsschlag zu tödten. Aber welche Angst, welche Sorge erwachte, und wüthete in ihr für das Kind! Sie kann sich wenig mit Worten und mit der Schrift äußern – und jeder Schmerz kehrt in sie selbst zurück. Ich sah es, und hätte vergehen mögen! Was auch hätte sie von diesem feigen Manne nicht zu erwarten! seine Feigheit ist ja so gediegen, daß sie Grausamkeit ist. Auf sein machtloses Herz ist nicht zu rechnen; gebrauchen wir also seine Furcht vor éclat; Cäcilie hat Briefe, die ihn vielleicht vor Gericht zu nichts zwingen können, ihn aber in den Augen aller Rechtlichen so darstellen, daß er da-
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vor zittert. Da ihn Gott so schwach unter unsere Augen gebracht hat, so nutze man für dies arme Kind, welches er Bastard in seinem Herzen nennt, und welches aus dessen Blute ist, seine Schwäche! Sprechen Sie, Gräfin, Worte des Ernstes zu ihm. Sie muß er hören, schätzen und fürchten, Ihnen muß er sich gleich stellen! Sie sind ihm an männlicher Kraft und Muth und Rechtschaffenheit überlegen. Er denkt, spricht und schreibt nicht besser und richtiger als Sie. Bei weitem. Ihren Wandel kennt die Welt, die, wie sie auch zusammengesetzt ist, nach zehn Jahren immer die verflossenen richtig beurtheilt. Sie sind ihm an Macht und Geburt in der Gesellschaft gleich; Sie sind schon die einmalige Beschützerin, der wahre Ritter dieser beiden unglücklichen Femellen – Weiber drückt mir noch nicht alles aus! Sprechen Sie zu dem vergessenen Manne. Und da er Cäcilien das Herz gebrochen und vernichtet hat; daß er sein Kind und die Mutter endlich sicher der Noth und der ewigen Sorge, und dem schändlich prekairen und abhängigen Zustand entreißt. Es bleibt der Schmach, des Jammers, des Ertragens genug! Er glaubt sich – der vielfach verflochtene, der vierfache Vater – frei und leicht – ! – und jungherzig genug, edles Liebesglück zu bereiten und zu genießen, ein junges Fräulein will er sich zugesellen, und der endlich Gemahl und Beschützer sein, und Kinder und keine Bastarde!! mit ihr zeugen; deren Jugend in jedem Sinn will er saugen. Und sie – soll ewig ignoriren, was er, seine Geschichten, und die Welt sei. Ich schweige! Sie kennen das Greuelgebäude, welches Gesetz und Sitte Europa’s schützen! welches ganze Vegetationen von Liebe und Treue verheert und schändlich gebraucht; und das Beste, die Bessern unter seinem Schutt erstickt. Ich füge kein Wort hinzu: und weiß, Sie reden diesen Mann für die beiden Geschöpfe an! Für jetzt empfindet nur die Mutter die Schmach und Angst: an seine eigne Tochter wird die Reihe kommen. Daß er nur nicht denkt, sie von Cäcilien zu trennen! dem größten Skandal setzt sie sich lieber aus; und es gehen mehr bettlende Weiber mit Kindern umher. Ich wenigstens rathe ihr im schlimmsten Fall diesen Schritt nicht ab. Haben Sie doch die Gnade mich mit einer Antwort zu erfreuen! Sie wissen aus meinem letzten Brief, aus diesem, aus meinem Wandel und meinem Sein, wie sehr ich Sie schätzen muß; ich füge nur noch hinzu, daß mich meine wahre Hochachtung Ihnen ergeben macht. Rahel. Cäcilie wird ihm nicht schreiben. Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. Bd. 1. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Hg. v. Konrad Feilchenfeldt u. a. München 1983. S. 351–354.
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Der Frauenbrief als Ausdruck weiblicher Solidarität und Handlungsfähigkeit. Ein Brief Rahel Levins an die Gräfin von Schlabrendorf I. Die Briefe ‚Rahels‘ im Licht der Genderforschung Die am 26. Mai 1771 in Berlin geborene Rahel Levin Varnhagen hat als bedeutendste Briefschreiberin der Romantik Eingang in die Literaturgeschichte gefunden. Ihr Werk, bestehend aus rund 6.000 Briefen,1 erfuhr unlängst eine umfassende Neuedition durch Barbara Hahn, die, von dem Wunsch nach der „Wiederentdeckung einer Schriftstellerin“2 geleitet, damit eine Edition vorgelegt hat, die die postum zugeschriebene Autorschaft Rahel Levin Varnhagens zu festigen sucht.3 In der Sozialgeschichte gilt sie zudem als wohl bekannteste Salonnière neben Henriette Herz, mit der sie ihre jüdische Abstammung verband sowie die Liebe zu kultivierter Geselligkeit und dem ‚schönen Gespräch‘. Im Zentrum der Salonkultur der Romantik steht der Dialog zwecks Unterhaltung und Bildung der Ge-
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Die Frage, ob ein Briefkorpus als Werk gelten kann, ist insbesondere im Blick auf die in der Romantik geltenden Konventionen der Autorschaft umstritten. Rahel wird mitunter als ‚Schriftstellerin ohne Werk‘ behandelt oder als Verfasserin eines Nicht-Werks. Vgl. Ulrike Landfester: Durchstreichungen. Die Ordnung des Werks in Rahel Levin Varnhagens Schriften. In: Sabina Becker (Hg.): Rahel Levin Varnhagen. Studien zu ihrem Werk im zeitgenössischen Kontext. St. Ingbert 2001. S. 53–80; Wolfgang Bunzel: Schrift und Leben. Formen der Subversion von Autorschaft in der weiblichen Briefkultur um 1800. In: Jochen Strobel (Hg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006. S. 157–176. Unter diesem Motto fand die Tagung in Turin 1986 statt. Siehe Barbara Hahn u. Ursula Isselstein (Hg): Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin. Göttingen 1987. Diesem Motto wird die Ausgabe Karl August Varnhagen von Enses aus dem Jahr 1833 nicht gerecht. Die originäre Literarizität der Briefe wird durch die Korrekturen Varnhagens, die ohne besondere Kenntlichmachung in die Texte eingefügt wurden, getilgt. Rahel. Ein Buch des Andenkens. 6 Bde. Hg. v. Barbara Hahn. Mit einem Essay von Brigitte Kronauer. Göttingen 2011. Erkennbar wird hierin die Abkehr von der biographisch-psychologisierenden Lesart, der die Briefe während der 1980er und 1990er Jahre insbesondere durch feministische Ansätze unterlagen. Unser heutiges Verständnis von Schriftstellertum ist der nachzeitigen Perspektive auf die literatur- und kulturgeschichtliche Epoche geschuldet, nicht zuletzt einem seit den 1960er Jahren neu erwachten Interesse am Brief als literarischer Ausdrucksform.
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sprächspartner bei gegenseitigem Erfahrungsaustausch. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erfährt der Brief, der zuvor weitgehend als Zweckform des Informationstransfers im öffentlichen Leben galt, eine Wandlung zum Geselligkeitsmedium. Der Brief, der als „Teil der Entwicklung einer bürgerlichen Öffentlichkeit“4 komplementär zum Leitmedium privater Beziehungen wird,5 gilt als vergegenständlichtes Pendant mündlichen Austausches, was seinen ephemeren Status verdeutlicht. Es bedarf dabei keiner aus der petitio eines Brieftexts hervortretenden Intention mehr. Stattdessen kennzeichnen ihn ein zunehmend individualisierter Schreibstil, das Zurücktreten traditioneller Rhetorik sowie die Nachahmung von Mündlichkeit als Strategie der Vergegenwärtigung und Distanzüberwindung zwischen Schreiber und Adressat.6 Somit vergrößert sich auch das Themenspektrum der brieflichen Mitteilung.7 Neben alltäglichen Gegebenheiten und Neuerungen treten nun besonders die subjektiven Einsichten und Reflexionen des Schreibenden in den Vordergrund. Regina Nörtemann hat festgestellt, dass insbesondere die Bitte um Freundschaft charakteristisch für den Frauenbrief um 1800 ist,8 und so sind Freundschafts- und Liebesbekundung9 auch zentrale Topoi des Rahelschen Briefes. Mitunter gilt der Privatbrief nicht nur als Substitut des ‚Boten‘, sondern erlangt Fetisch-Charakter,10 indem er eine Verkörperung des Korrespondenzpartners darstellt.11 Das Ausbleiben einer Antwort kommt der Destabilisierung der eigenen veräußerlichten Existenz gleich. Dem vorliegenden Brief, der zudem eine außergewöhnliche Frauenfreundschaft dokumentiert, kommt auf andere Weise ein existentieller Wert zu: Rahel Varnhagen formulierte das Schreiben 1808 aufgrund der misslichen Lebensumstände ihrer Freundin Anna Renaud Marcuse, ge-
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Regina Nörtemann: Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert und ihre Genese. In: Angelika Ebrecht (Hg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts: Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart 1990. S. 211–224, hier S. 214. Robert H. Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien 2000. S. 9. Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003. S. 49. Vgl. Vellusig: Gespräche (Anm. 5), S. 15: „Die interpersonale Beziehungsebene erlangt kategoriale Eigenständigkeit gegenüber informativen Zwecken der Rede.“ Nörtemann: Konzepte (Anm. 4), S. 216 Ebd., S. 217. Reinlein: Empfindsamkeit (Anm. 6), S. 51. Vgl. Rainer Baasner: Schrift oder Stimme? Materialität und Medialität des Briefs. In: Detlev Schöttker (Hg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München 2008. S. 53– 70, hier S. 54–64; außerdem zum Sprachoptimismus des 18. Jahrhunderts: Jochen Strobel: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. In: Ders.: Dichter und Gespenster (Anm. 1), S. 7–32, hier S. 16–18.
Rahel Levin an Karoline Gräfin von Schlabrendorf, 11.10.1808
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nannt Nettchen. Diese war in Folge einer unglücklich verlaufenen Liaison mit Wilhelm von Burgsdorff schwanger und mittellos und hatte bei Rahel angesichts ihrer prekären Situation Rat und Beistand gesucht.12 Wie dieses Schreiben beweist, nutzte Rahel ihre Kontakte in die Welt des Adels, um ihrer Freundin Hilfe zukommen zu lassen. Die literarische Epoche der Romantik ist aufgrund ihrer zirkulierenden Diskurse um Weiblichkeit zentraler Gegenstand der Gender-Studien geworden. Im Zuge der Aufarbeitung der weiblichen Literaturgeschichte wurde neben anderen bedeutenden Zeitgenossinnen wie Madame de Staɺl, Caroline Schlegel und Bettine von Arnim auch Rahel Varnhagen zur Ausnahmeerscheinung in einer patriarchal organisierten Ständegesellschaft stilisiert.13 Der Brief gilt als Medium der Selbstbesinnung, weshalb die Forschung im Privatbrief das Experimentierfeld weiblicher Ausdrucksfähigkeit und der Reflexion weiblichen Leidens sieht.14 Aus psychologischer Perspektive evoziert der Schreibprozess Einsichten über das eigene Ich – angestoßen durch den Rahmen der äußeren Kommunikationssituation, welche einen inneren Austausch des Schreibenden mit und über sich selbst initiiert. Es entstand das Portrait einer hochempfindsamen, hypochondrischen Frau, die an ihrer jüdischen Abstammung, an ihrem Körper und am Weiblichsein schlechthin leidet und deren Produktivität kompensatorisch in ihre Briefe einfließt. Die Problematik dieser Deutung ist dem vorrangigen Interesse an „geschlechtsspezifischen Aussagen“15 des viktimisierten Weiblichen per se geschuldet.16 Um Rahels Leiden zu belegen, werden häufig frühe Briefe an ihren Jugendfreund David Veit herangezogen, die emotionale selbstreflexive Passagen über das „Verbluten“17 an der durch Marginalisierung und mangelnde Handlungsfähigkeit hervorgerufenen Lebensuntüchtigkeit beinhalten. Die Kunst sprachlicher Inszenierung in
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Nachzulesen bei Rahel Levin Varnhagen: Familienbriefe. Hg. v. Barbara Hahn. München 2009. S. 1464 u. S. 1091. Vgl. Hannah Arendt: Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. Frankfurt/M. u.a. 1975; Christa Bürger: Arbeit am Ich. Zu Rahel Varnhagens Schreibprojekt. In: Merkur 37 (1983). S. 116–120; Carola Stern: Der Text meines Herzens: Das Leben der Rahel Varnhagen. Hamburg 1994. Da dem Schreibprozess die Vergegenwärtigung der eigenen Position und Handlungsweisen in Bezug auf gesellschaftliche und private Vorkommnisse immanent sein kann, wird der Brief als Ausdruck geheimer Sehnsüchte und Wünsche interpretiert. Er ist partiell ebenso ‚Ego-Dokument‘ wie der Tagebucheintrag. Vgl. Strobel: Dichter und Gespenster (Anm. 1), S. 9. Sabina Becker: Einleitung. In: Dies.: Studien (Anm. 1), S. 9–16, hier S. 9. Vgl. ebd. Rahel Levin an David Veit, 1795. Zitiert nach Dagmar Barnouw: Rahel und die deutschjüdische Identität um 1800. In: Ebd., S. 81–117, hier S. 89.
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der scheinbar natürlichen Rede wird durch biographisch-psychologisierende Lesarten häufig übersehen. Somit bereitet der Konstruktcharakter, der bereits in dem Rahel-Bild der Varnhagenschen Edition angelegt ist, der Rahel-Philologie seit jeher die Schwierigkeit, nicht einem universalpoetischen Mythos aufzusitzen.18 Die Rezeption neigt zu Verklärung und Instrumentalisierung der Frau, sei es als Lichtgestalt ihrer Epoche, weibliche Goethe-Inkarnation oder als Pionierin der Frauenemanzipation.19 In besonderer Weise hat Karl August Varnhagen von Ense diese Tendenz als Strategie der ‚Ruhmesverwaltung‘20 angelegt, indem er die erste Briefsammlung unter dem signifikanten Titel Rahel. Ein Buch des Andenken für ihre Freunde21 nach dem Tod seiner Frau herausgab. Wie Barbara Hahn detailliert belegt hat, unterzog der Herausgeber die Dokumente tiefgreifenden Veränderungen,22 sodass die Fingierung des ‚Werks‘ mit der Erstehung einer fiktiven ‚Rahel‘-Figur an Stelle der historischen Person zusammenfiel.23 Daher droht die Auseinandersetzung mit dem Genre des Briefs aus der Gender-Perspektive jene Festschreibungen fortzuführen, die im Diskurs um das weibliche Schreiben, respektive bei der Frage weiblicher Autorschaft, in der Romantik prominent waren,24 wenn sie den Inszenierungsrahmen, den die Textsorte Brief dank der ihr immanenten doppelten Dialogizität generiert,25 ausklammert. Dieser Gefahr versucht die folgende Briefinterpretation zu entgehen, indem sie die rhetorischen Mittel der Inszenierung und deren Einsatz bei dem Entwurf kontrastiver Geschlechtsbilder ins Zentrum der Analyse stellt. Vorerst gilt es festzuhalten, dass das ausgewählte Schreiben sich durch einen hohen Reflexi-
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Zu dem Prozess der Selbstinszenierung vgl. Landfester: Durchstreichungen (Anm. 1), S. 55. Vgl. Barnouw: Deutsch-jüdische Identität (Anm. 17), S. 84; zum Rahel-Kult vgl. Kay Goodman: The Impact of Rahel Varnhagen on Women in the Nineteenth Century. In: Marianne Burghard (Hg.): Gestaltet und Gestaltend. Frauen in der deutschen Literatur. Amsterdam 1980. S. 125–154. Vgl. Detlev Schöttker: Einführung: Briefkultur und Ruhmbildung. In: Ders. (Hg.): Adressat (Anm. 11), S. 9–16, hier S. 12. Die erste einbändige Privatausgabe erschien 1833. 1834 folgte eine zweite, dreibändige Ausgabe. Vgl. Hahn: Rahel (Anm. 3), Bd. 6. S. 12. Vgl. Barbara Hahn: „Antworten sie mir!“ Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel. Frankfurt/M. 1990. S. 46–48 . Leider trägt Barbara Hahns neue Edition (Anm. 3) gerade diesem Umstand keine Rechnung. Sie präsentiert die Texte ausschließlich in der von Varnhagen korrigierten Fassung. Das Interesse der Genderforschung an potenziell subversiven Schreibstrategien legt paradigmatisch den Gehalt und thematischen Spielraum des Textes auf den Ausdruck eines unterdrückten Selbst fest, welches sich in die Welt zu schreiben sucht. Vgl. Uwe Wirth: Dialogische Zeichen. In: Schöttker: Adressat (Anm. 11), S. 94 f.
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onsgrad hinsichtlich seiner Medialität sowie der Rolle der Briefschreiberin auszeichnet. Exemplarisch bezeugt es Rahels perfektionierte Inszenierung der Sprache des Herzens. Ihr Selbstverständnis als Frau reicht aber weit über empfindsame Selbstreflexion hinaus.
II. Der Konnex von weiblichem Schreiben und Moral Die Brieftheorie proklamiert seit Mitte des 18. Jahrhunderts die natürliche Rede zum Leitbild gelungener Konversation.26 Namentlich Christian Fürchtegott Gellert greift in seiner Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen27 von 1751 auf den antiken Natürlichkeitstopos der Rede zurück. Wiederholt wird die Textsorte Brief als Domäne des Weiblichen beschrieben und als „Entree-Billett“28 der Frau in die literarische Produktion bewertet. Zwar belegen zahlreiche Briefsammlungen wie die Rahels tatsächlich den regelmäßigen und intensiven Briefverkehr, dem auch – wie am Beispiel des vorliegenden Briefes gezeigt werden kann – ein ästhetischer Anspruch zugestanden werden muss. Dennoch ist der Frauenbrief um 1800 weniger ein Instrument zur Partizipation an Kunstproduktion als vielmehr präferiertes Medium des romantischen Freundschaftskults. Zeitgleich ist er Gegenstand einer gesellschaftlichen Metadebatte: Um seinen Status als halb-öffentliches, semi-literarisches Werk einerseits und um neue Leitideen seiner Rhetorik, verknüpft mit dem weiblichen Schreiben und dem erstarkten weiblichen Lesepublikum, andererseits.29 Generell bildet das Geschlecht eines Schreibenden eines der zentralen Kriterien für
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Einer der ersten Briefsteller, die das Ideal der ‚gesprächsnahen Natürlichkeit‘ proklamierten, war bereits Benjamin Neukirchs Anweisung zu Teutschen Briefen aus dem Jahre 1709. Er folgte hierin dem Vorbild französischer Epistolographen. Vgl. Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991. S. 80. Vgl. Schöttker: Einführung. In: Ders.: Adressat (Anm. 11), S. 10. Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Bd. 4. Roman, Briefsteller. Hg. v. Bernd Witte u. a. Berlin u. a. 1989. Im selben Jahre erschienen die Briefbücher Johann Christoph Stockhausens und Johann Wilhelm Schauberts, die ebenfalls jenen Privatbriefstil, wie ihn Gellert postulierte, vertraten. Vgl. Nickisch: Brief (Anm. 26), S. 81 f. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M. 1979, S. 212, zitiert nach: Bunzel: Schrift und Leben (Anm. 1), S. 166. Die Diskussion um weibliches Schreiben und weibliche Autorschaft auszuführen, wäre an dieser Stelle unangemessen. Nörtemann (Anm. 4) stellt zwei Phasen der Diskussion fest: zunächst eine von männlichen Zeitgenossen dominierte, anschließend die von Frauen zu Beginn des 19. Jahrhunderts geführte.
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den Autor- und Werkbegriff der Romantik. Der Brief bildet einen Sonderfall. Verbunden mit den geschlechterspezifischen Rollenbildern wird die Frau auf einen „vorästhetischen Zwischenraum“30 verwiesen. Die Anwendung der Dichotomie von Natur und Kultur auf die Geschlechterbilder resultierte in der Idee, die Frau verstehe sich nicht auf künstlerisch überhöhten oder inszenierten Ausdruck,31 da ihr als komplementärem Gegenstück zum Männlichen ein gesundes, nicht-kulturelles und nicht-intellektuelles Wesen zu eigen sei.32 Gelehrsamkeit gilt als unweiblich,33 wohingegen die weiblich besetzte ‚Natürlichkeit‘ Stilideal des Briefs seit der Empfindsamkeit ist. Die Instanzen der neuen Schreibart, der Gefühlsreinheit und der bürgerlichen Moral, implizieren die Idee eines Erkenntnisgewinns durch Brieflektüre.34 Somit widersprach die eingeforderte Authentizität der Gefühle dezidiert der galanten, männlichen Schreibweise, welche die Aufrichtigkeit des Schreibenden paradigmatisch ausschloss, vielmehr die artifizielle Pose als Teil des erotischen Spiels kultivierte und zum Zweck der Verführung einsetzte.35 Spätestens seit Gellert wird die Galanterie, die ursprünglich höfischen Umgangsformen entstammte und bis ins 18. Jahrhundert dem Adel vorbehalten blieb, als amoralische Schreibweise verabschiedet.36 In diesem Kontext galt der Frauenzimmerbrief als Medium unverstellter Veräußerlichung des innersten Seins, des ‚Herzenstextes‘. Der freundschaftlichen Korrespondenz mit einer Frau schrieb man folglich erzieherische Wirkung und die moralische Vervollkommnung des Mannes zu. Im Unterschied zum galanten Brief gilt das empfindsame Schreiben daher als authentischer Ausdruck der Seele und als Mittel der Erkenntnis für seinen Adressaten. Denn durch den Einblick in das See-
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Reinlein: Empfindsamkeit (Anm. 6), S. 57. Obwohl die Fähigkeit der Frau zu schreiben nicht allein mit Blick auf die Pflichten der häuslichen Sphäre in Frage gestellt wurde, gestand man ihr ein natürliches Ausdrucksvermögen von Empfindungen allenfalls im Privatbrief zu. Dieser Double-Standard lässt sich nachweisen in Schillers Konzeption von Anmut und Würde sowie in Rousseaus Émile ou De l’éducation. Vgl. dazu Reinlein: Empfindsamkeit (Anm. 6), S. 43–53. Unter anderem bei Ignaz Paul Vitalis Troxler und Friedrich Schlegel. Vgl. Herta Schwartz: Brieftheorie der Romantik. In: Ebrecht: Brieftheorie (Anm. 4), S. 225–238, hier S. 232– 238. Zur Bedeutung von Gefühlen als Mitteln der Erkenntnis und Sinnstiftung siehe Christel Eckart: Zur Einleitung: Die aufklärerische Dynamik der Gefühle. In: Sabine Flick u. Annabelle Hornung (Hg.): Emotionen in Geschlechterverhältnissen. Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel. Bielefeld 2009. S. 9–20, hier S. 9–11. Vgl. Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1995. S. 27–32. Vgl. ebd., S. 24.
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lenleben des Freundes wird die Lektüre zum Prozess des Nachempfindens und schließt auf diese Weise ein kathartisches Moment und die moralische Erziehung des Menschen mit ein.37
III. Eine Freundschaft in Briefen: Rahel Levin und die Gräfin Karoline von Schlabrendorf Der Brief vom 11. Oktober 1808 ist Zeugnis einer besonderen Verbundenheit zwischen Rahel Levin und Karoline Gräfin von Schlabrendorf. Die erste Begegnung der ungleichen Frauen ereignete sich vermutlich Ende 1799 oder im Jahr 1800 in Rahels erstem Salon, in dem sich Adelige und Bürgerliche über Standesgrenzen hinweg miteinander trafen. Ihr dokumentierter Briefwechsel beginnt 1800 und zeugt von einer tiefen Vertrautheit Rahels mit der zehn Jahre älteren Gräfin, einer geborenen von Kalckreuth. In einem Brief vom Juni 1800 an den schwedischen Diplomaten Gustav von Brinckmann schreibt Rahel: Wissen Sie, daß ich jetzt sehr liirt mit der Gräfin Schlabrendorf bin, Graf Kalckreuths Schwester? […] Ein Öl der Seele fehlt ihr: die derben Eigenschaften hat sie beinah alle; und eine außerordentliche, man darf – das heißt was anders, als man kann – ihr alles sagen. Man kann ihr alles erklären. Errathen – Errathen – ! ist freilich nur mein Glück. Doch geht’s gut.38
Wie in diesem Zitat bereits anklingt, ist die Beziehung der Freundinnen eher wechselhaft als harmonisch. Die Ursache findet sich in Karolines unkonventionellem Lebensentwurf und ihrem Auftreten in der Gesellschaft, an dem sich Rahel wiederholt stößt, obwohl sie zugleich fasziniert ist. Denn sie vermittelt außerhalb der gängigen Weiblichkeitskonzepte ihres Standes ein Bild, welches von ihren Zeitgenossen als männlich aufgefasst wird. Auch Karl August Varnhagen betont, sie sei „von entschiedenem Karakter und freier Geistesart; edel, rechtschaffen und ehrenfest wie ein Mann, aber auch wie ein Mann herb und trotzig und herausfordernd.“39 Ihr aufbrausendes Wesen nimmt sich vor allem im Widerspruch zu den Rollenbildern der Zeit bemerkenswert aus, welche die Frau entwe-
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Zur poetischen Wahrheitsfähigkeit der natürlichen Schreibweise vgl. Wirth: Dialogische Zeichen (Anm. 25), S. 90 f. Hahn: Rahel. Bd. 1 (Anm. 3), S. 207 f. Karl August Varnhagen von Ense (Hg.): Gallerie von Bildnissen aus Rahel’s Umgang und Briefwechsel. Leipzig 1836. Bd. 1. S. 205–221, hier S. 324. Neben einer einleitenden Charakterisierung der Gräfin und ihrer Beziehung zu seiner Frau führt Varnhagen drei ihrer Briefe an Rahel an.
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der in der Rolle der Mutter, der Geliebten oder des Kindes zu erfüllen hat. Die Streitlust der Gräfin macht Rahel in den dreißig Jahren ihrer Freundschaft besonders zu schaffen, ist jedoch ein Indiz für die gemeinsame Wahrheitsliebe und verweist darauf, dass die beiden gegensätzliche Strategien der Artikulation von Wahrheit verfolgen: Sie ging in allen Stücken unmittelbar auf die Wahrheit, und litt zu deren Bekleidung auch nicht die mindeste Poesie. Sie hatte den harten Muth, nach solcher Wahrheit immer zu forschen, und den kühnen und oft gefährlichen, sie unter allen Umständen zu sagen.40
Doch obwohl sich Rahel wiederholt über die „Kernfrau“41 beschwert und der Kontakt zwischenzeitlich wiederholt abreißt, halten sich die Freundinnen ein Leben lang die Treue.42 Die Besonderheit dieser Beziehung liegt einerseits in der Differenz der beiden Frauen begründet. Andererseits verbindet sie seit einer gemeinsamen Reise nach Paris im Sommer 1800 ein Geheimnis, das die Freundschaft über alle charakterlichen und räumlichen Distanzen hinweg festigt: Zunächst bietet die Reise für Rahel einen willkommenen Ausweg aus dem Liebesleid nach der gescheiterten Verbindung mit Karl Graf von Finckenstein,43 doch kommt ihr weitaus größere Bedeutung zu, wie Rahel schriftlich von Karoline erfährt. Der gräflichen Anweisung folgend, vernichtet Rahel das Schreiben und antwortet: Ihr Brief ist verbrannt. […] – Daß nun unsre Reise Leben hat, daß ich einen Zweck habe, daß wir eine Familie sind […]. Es ist ein Glückszufall für mich, daß ich Ihnen als edler Mensch dienen kann; Sie können ganz auf mich vertrauen.44
In Paris bringt Karoline eine uneheliche Tochter, Virginie, zur Welt. Für Rahel gerät die gemeinsame Flucht ins Ausland zwecks Geheimhaltung des Kindes zu einem Abenteuer, das die Vorlage eines Dramas sein könnte und einen biographisch-thematischen Bezugsrahmen des vorliegenden Schreibens bildet.
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Ebd. Rahel Levin Varnhagen an Astolphe De Custine 1817. In: Hahn: Rahel (Anm. 3), Bd. 3. S. 489. Dokumentiert sind drei längere Wiedersehen nach 1800. Weitere Zusammenkünfte sind nicht rekonstruierbar. Der krisenreiche Verlauf der vierjährigen Beziehung des Paares und der endgültige Bruch waren nicht zuletzt ihrem Standesunterschied, den damit verbundenen Ansprüchen der Familie von Finckenstein sowie Rahels jüdischer Herkunft geschuldet. Nachzulesen in: Rahels erste Liebe. Rahel Levin und Karl Graf von Finckenstein in ihren Briefen. Nach den Originalen erläutert von Günther de Bruyn. Berlin 1985. Rahel Levin an Karoline Gräfin von Schlabrendorf, 21. oder 28. Juni 1800. In: Hahn: Rahel (Anm. 3). Bd. 1. S. 211.
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IV. Ein zielorientiertes Schreiben – formaler Aufbau und Stil Der ausgewählte Brief erscheint in seinem pragmatischen Mitteilungsverhalten untypisch für Rahels Korrespondenz, obgleich sein Thema – eine verhängnisvolle Liebschaft und daraus resultierendes Liebesleid – sich in zahlreichen Briefwechseln mit Freundinnen wiederfindet. Rhetorisch und formal bewegt sich das Schreiben zwischen Konvention und dem Freundschaft bezeigenden, individualisierten Stil der Empfindsamkeit. Seine Besonderheit liegt in der freien sprachlichen Gestaltung des Textes, dessen Komposition einem traditionellen Schema der Rhetorik zweckgebundener Kommunikation nahesteht.45 Der Aufbau des Schreibens verweist auf die Intention, ein Begehren erfolgreich vorzutragen. In dieser Hinsicht handelt es sich um ein Bittschreiben oder Gesuch. Dieser Umstand mag außerdem dem prosaischen Anliegen des Schreibens geschuldet sein,46 zu dessen Verwirklichung sprachkünstlerische Mittel eingesetzt werden. Die salutatio nennt zunächst den Adelstitel der Adressatin, richtet sich daher dezidiert an Karoline als eine Dame von Stand und verzichtet auf den für Rahel obligatorischen, oftmals Rückschlüsse auf ihre Gemütslage zulassenden „Wetterbericht“47 zu Beginn eines Schreibens. Hierin klingt bereits ein zielorientierter Gestus an. Daraufhin eröffnet sie den Brief mit der Figur der captatio benevolentiae sowie dem für den Privat- und Freundschaftsbrief charakteristischen Topos der Antwort in der raum-zeitlich zerdehnten Kommunikationssituation. Somit nimmt die Schreiberin eine Einbettung des einzelnen Textes in den Kontext der Korrespondenz vor und äußert ihr Bedauern, nicht bereits früher das Gespräch wieder aufgenommen zu haben. Die Gründe bleiben nur allgemein und metaphorisch verschlüsselt: die „freundliche[n] und unfreundliche[n] Wellen des Lebens“ (S. 93). Darüber hinaus formuliert die Einleitung das von Rahel angestrebte Ideal schriftlicher Gesprächsführung gemäß dem Ideal der Natürlichkeit. Es folgt die narratio, eine Passage, die die Vorgeschichte des Gegenstandes erzählt. Wie die Bildhaftigkeit der Sprache, die bereits in der Ein-
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Vgl. zur stilistischen Entwicklung amtlicher, z. B. kanzlistischer, Schreiben und der zunehmenden Durchsetzung weniger formalisierter Schreibweisen bezüglich des Privatbriefs: Nickisch: Brief (Anm. 26), S. 76–83; Nörtemann: Konzepte (Anm. 4), S. 216 f.; Carmen Furger: Briefsteller. Das Medium „Brief“ im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln u.a. 2010. S. 160–172. Die Mehrzahl der Varnhagenschen Briefe bricht mit den rhetorischen Konventionen nicht zuletzt aufgrund ihrer thematischen Ausrichtung, der Freundschaftspflege oder der Reflexion des inneren Gemütszustandes als Kunstform. Landfester: Durchstreichungen (Anm. 1), S. 69.
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leitung augenscheinlich wird, zeichnet sich der Gesamttext durch den Einsatz von prägnant platzierten Metaphern aus. So gewinnen sowohl zentrale narrative Passagen als auch abstrakte Begriffe an Anschaulichkeit und Einprägsamkeit. Ganze Bildergefüge setzt die Verfasserin ein, um beispielsweise ihre Haltung und die Motivation des Schreibens zu verdeutlichen: „Vegetationen von Liebe und Treue“ werden „verheert und schändlich gebraucht“ und durch „das Greuelgebäude […] das Beste, die Bessern unter seinem Schutt erstickt.“ (S. 94.) Eine intensivierende Wirkung kommt auch dem Einsatz der Alliteration zu („[v]on Woche zu Woche wollte ich“ S. 93; „der vielfach verflochtene, der vierfache Vater“ S. 94), welche die Bedeutung und Dringlichkeit besonders emotional aufgeladener Passagen des Briefs unterstreicht. Darüber hinaus wirkt der Text unter Anwendung vielfältiger Rede- und Gedankenfiguren besonders durchdacht. Zahlreiche Parenthesen („– B. dachte ich sei närrisch – “ S. 93; „– eine Wiederholung von mehr als sechs Monaten –“ S. 93), emphatische und korrektive Einschübe folgen aufeinander („mein Leben, d.h. mein inneres Sein“ S. 93). Sie tragen zum Eindruck des Momenthaften bei, als sei der Text das Produkt einer spontanen Eingebung und damit in seiner sprachlichen Form authentisch. Den Effekt der gesprochenen Rede verstärkend treten daneben rhetorische Fragen („Aber welche Angst, welche Sorge erwachte […]“ S. 93; „Was auch hätte sie von diesem feigen Manne nicht zu erwarten!“ S. 93), Ellipsen („Bei weitem.“ S. 94) Akkumulationen („[S]ie – soll ewig ignoriren, was er, seine Geschichten, und die Welt sei.“ S. 94) auf. Die Dringlichkeit des Anliegens, welche auf diese Weise suggeriert wird, erfährt zusätzliche Steigerung durch eingeworfene affektive Äußerungen: „Mein Schreck war beinah dem gleich, als ich noch die verschleierte Existenz von Leontine erfuhr […]. Wie erschrak ich von neuem!“ (S. 93.) Unruhe und Erregung schlagen sich überdies im Schriftbild des Textes nieder, denn zahlreiche Gedankenstriche verweisen sowohl auf die Unsagbarkeit des Geschilderten als auch auf den vermeintlichen Affektzustand der Schreibenden. Die Schilderung der Geschichte Cäciliens gewinnt außerdem durch den inflationären Einsatz der Figur des Hendiadyoins an Lebendigkeit, wodurch die ihr zugewiesene Opferrolle konturiert wird: „[…] und nach langem Schmachten, Missen, und Verlegenheit nach Geld, war endlich ohne ein Wort des Trostes und der Freundschaft die nackte, kahle Pension für das Kind angekommen“ (S. 93). Die Schilderung des Eindrucks, den Rahel in der Unterredung mit Cäcilie gewinnt, nimmt den Raum der argumentatio, der Beweisführung, ein. Gleichsam führt der Bericht Lotharios Verstum-
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men lautmalerisch vor: „[…] so beträgt sich, so stumm immer Lothario, wenn er in Verlegenheit ist“ (S. 93).48 In dieser zentralen Passage des Textes vergleicht Rahel ihre eigene Rolle mit der eines zur Wahrheit verpflichteten „Wundarzt[es]“ (S. 93), der, um seine Patientin zu retten, zum äußersten Mittel greifen muss. Somit wird die Rolle des Arztes mit der des Henkers verschränkt. Die tödliche Wirkung der Wahrheit wird wiederum in dem Bild des letzten Pulsschlags plastisch vor Augen geführt: Wissen Sie soviel: daß ihr Herz und seine Forderungen schon längst mit der unerbittlichen Allgewalt des Unglücks abgetödtet ist: daß ihr erster Schmerz sich auch von neuem nur dahin wandte und gestaltete, den letzten Pulsschlag zu tödten. (S. 93.)
Unter Berücksichtigung der Namensgebung lässt sich eine Literarisierung des Geschehens konstatieren, die Rahel einerseits zum Schutz der betreffenden Personen,49 andererseits zur Rollencharakterisierung der Protagonisten vornimmt. ‚Lothario‘, der ihr als Verehrerin Goethes aus dem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre vertraut ist, wird darin von der sterbenden Aurelie der Untreue bezichtigt.50 In Verbindung mit dem HenkerBild, das Rahel in Bezug auf ihre eigene Rolle in der Geschichte entwirft, rekurriert der Name ‚Cäcilie‘ auf das Erdulden und Leiden des zum Opfer geborenen weiblichen Wesens.51 Zudem liest sich die Wahl des fiktiven Namens als Verweis auf Goethes Trauerspiel Stella, in welchem die alleinerziehende Mutter Cäcilie entdeckt, dass der Vater ihres Kindes sie einst für eine andere verließ. Daraufhin formuliert Rahel das eigentliche Anliegen des Textes: „Sie kann sich wenig mit Worten und mit der Schrift äußern – und jeder Schmerz kehrt in sie selbst zurück.“ (S. 93.) Die Sprachlosigkeit des weiblichen Opfers wird hier deutlich artikuliert und rekurriert auf das Motiv der wehrlosen, verlassenen Schwangeren, die ohne Fürsprecher bei dem ehemaligen adeligen Geliebten ist.52 Dieser Stilisierung entsprechend ent-
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Anapher, correctio und Inversion werden hier miteinander verschränkt, woraufhin der zweifach verdoppelte Einsatz des bilabial gebildeten nasalen Konsonanten erfolgt. Somit kommt es zu einer Zäsur nach dem Wort „stumm“. Es handelt sich um Anna Conradine Marie Renaud Marcuse und Friedrich Wilhelm von Burgsdorff. Vgl. Rahel Levin Varnhagen: Familienbriefe (Anm. 12), S. 1091. Laut Hettner wurde der wohlhabende Kunstfreund von Burgsdorff wiederholt von Freunden mit Goethes Lothario-Figur verglichen. Vgl. Hermann Hettner: Burgsdorff, Wilhelm von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 3 (1876), S. 617 [Onlinefassung]; http://www.deutsche-biographie.de/pnd117169005.html?anchor=adb. (Stand: 1.8.2012). Vgl. dazu Liliane Weissberg: Zur Pathologie des Salons. Regina Frohberg, Rahel Levin, Karl August Varnhagen und der Schmerz der Liebe. In: Becker: Studien (Anm. 1), S. 119– 161. Dieses literarische Motiv findet sich in zahlreichen Dramen des 18. Jahrhunderts, beispielsweise in Goethes Faust und im Bürgerlichen Trauerspiel. Es ist eng verknüpft mit
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wirft die Vermittlerin Rahel das Bild des schuldigen, morallosen Galans, dessen Feigheit seine größte Charakterschwäche ausmacht. Die darauffolgende Passage lässt sich als refutatio verstehen, da Rahel hier entgegen möglicher Einwände ihres vorgestellten Gegenübers ein Wir-Gefühl (sensus communis) beschwört, um die notwendige Intervention in der Affäre zu unterstreichen: „[…] gebrauchen wir also seine Furcht vor éclat; Cäcilie hat Briefe“ (S. 93). Die Briefe, welche als Dokumente zur Diskreditierung heranzuziehen sind, scheinen eindeutig sein Werben um und seine vormaligen Ansprüche auf die Geliebte zu belegen. Der Liebesbrief des Mannes erfährt an dieser Stelle seine Umwertung zu einem potenziellen Beweisstück, die Verletzung des Briefgeheimnisses wird im Dienste der Moral und der Wahrheitsfindung legitim. Den Höhepunkt des Schreibens, sowohl stilistisch wie formal, bildet die petitio, die direkte Anrede der Gräfin als einzige Instanz, die das Unglück der Gefallenen mildern könne, indem sie, Rahels Bitte folgend, als Fürsprecherin Einfluss nähme. Dreimalig folgt die anaphorische Wiederholung der Anrede „Sie“ (S. 94); dreifach überlegen schätzt Rahel ihre Freundin an Tugend, Verstand und männlicher Kraft. Die Wirkung der Gräfin auf den zu Erpressenden nimmt Rahel in der Steigerung „Sie muss er hören, schätzen und fürchten“ (S. 94) vorweg. Nicht allein ihres Standes wegen ist Karoline in Rahels Augen zur exponierten Verteidigerin in der Öffentlichkeit prädestiniert, sondern auch kraft ihres Rufs: „die einmalige Beschützerin, der wahre Ritter“ (S. 94). Dieser Ernennung zum Ritter wohnt ein Moment der Transgression inne, das auf ein Androgynitätskonzept rekurriert, welches sich im literarischen Diskurs unter anderem bei Goethe, Friedrich Schlegel und Heinrich von Kleist findet. Rahels Wissen um die Tatsache, dass Karoline es vorzog, in Männerkleidung zu reisen, dürfte bei dieser Beschwörung eine Rolle gespielt haben. Zudem besitzt das Motiv des cross-dressing großes Assoziationspotential bezüglich der berühmtesten weiblichen Ritter-Figur des 15. Jahrhunderts, Johanna von Orléans. Rahel lässt hier indirekt ihre persönliche Wilhelm Meister-Rezeption einfließen, indem sie wie Goethe der starken Frauenfigur eine kriegerische Maskerade verleiht.53 Wie der Henker steht der Ritter idealiter auf der Seite des geltenden Rechts. Wie dem Arzt obliegt ihm die Pflicht zur Moral und Wahrheitsliebe.
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dem Motiv der Kindsmörderin, so etwa in Heinrich Leopold Wagners Tragödie Die Kindermörderin aus dem Jahre 1776. Mariane tritt als Offizier verkleidet auf, die Baronesse trägt transsexuelle Kleidung, Therese spielt einen artigen Jägerburschen, Natalie erscheint als Amazone und Mignon steht paradigmatisch bis zu ihrem Tod zwischen den Geschlechtern. Vgl. Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln, Wien 1986. S. 172.
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Bevor das Schreiben mit einem ausschweifenden Final-Compliment endet, findet sich in der conclusio eine Zusammenfassung der möglichen Wendungen der Angelegenheit, sollte das Vorhaben scheitern. Um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen, stilisiert Rahel nun ein finales, abschreckendes Bild des „vielfach verflochtene[n], […] vierfache[n] Vaters“ (S. 94), dem sie die Festigkeit zu einem aufrechten Lebenswandel als liebender Ehemann und Vater legitimer Kinder nicht zutraut. Stattdessen entwirft sie das Bild eines Vampirs: „[…] ein junges Fräulein will er sich zugesellen, […] deren Jugend in jedem Sinn will er saugen.“ (S. 94) Der Einsatz des postscriptums wird hier als finale Aussage „Cäcilie wird ihm nicht schreiben“ (S. 94) zum unüberlesbaren Argument und besitzt eine verstärkende appellative Funktion.
V. Weibliche Solidarität und Handlungsfähigkeit Wechselnde Liebschaften, Affären und Enttäuschungen über gelöste Verbindungen bilden unverkennbar einen thematischen Schwerpunkt von Rahels Œuvre.54 Die persönliche Dimension des Mitgefühls ist deutlich erkennbar und für die Seite der Adressatin aufgrund ihrer eigenen Biographie rekonstruierbar. Zudem lässt sich die Zeile „Sie kennen das Greuelgebäude, welches Gesetz und Sitte Europa’s schützen“ (S. 94) als Anklage der moralischen Sittenlosigkeit und des Verfalls von Aufrichtigkeit lesen. In Rahels Umfeld sind es häufig Männer von Adel, die temporäre Liaisons mit jüngeren, teils bürgerlichen Damen eingehen, jedoch selten Verantwortung im Falle einer Schwangerschaft zu übernehmen bereit sind.55 Dennoch begegnet das gros der Gesellschaft insbesondere nicht-adligen Müttern und ihren „Bastarde[n]“ (S. 94) mit Ächtung. Anhand des Briefs zeigt sich ein Bewusstsein für die aufgrund gesellschaftlich normierter Geschlechtsbilder hervorgerufene gemeinsame Identität. Diese ist in öffentlich-gesellschaftlichen Kontexten in ihrem Handlungsspielraum und ihrer Wirkungsmacht stark limitiert. Die reflek-
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Wechselnde Liebeleien und Affären sind auch unter Rahels Freundinnen keine Seltenheit und gelten zeitweilig als willkommene Abwechslung. Häufig kommt es zu Ver- und Entlobungen, die zum Teil auf dem Bekanntwerden obengenannter Verhältnisse beruhen. (Vgl. Herbert Scurla: Rahel Varnhagen. Die große Frauengestalt der deutschen Romantik. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1980. S. 100–108.) Eine Affäre neben der Ehe ist kein Einzelfall, wie sich am Beispiel namhafter Persönlichkeiten wie Prinz Ferdinand von Preußen und Friedrich von Gentz nachvollziehen lässt. Rahel von Varnhagen selbst findet sich 1808 unversehens in einer Dreiecksbeziehung wieder. Vgl. Carola Stern: Der Text meines Herzens. Das Leben der Rahel Varnhagen. Hamburg 1994. S. 151 f.
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tierte Auseinandersetzung mit diesem Weiblichkeitskonzept stiftet jedoch ein Gemeinsamkeitsgefühl, das zum Motor ebensolcher Handlungen wird, wie Rahel sie mit Hilfe des Briefs vollzieht. Der Griff zur Feder bedeutet die Entscheidung zur Intervention, wenngleich die Verfasserin in diesem Falle aufgrund ihres Standes nur Initiatorin sein kann, die die Fäden aufnimmt und ihren freundschaftlichen Kontakt zu einer Adeligen nutzt. Den Solidaritätsgedanken stiftet der Brief zunächst aufgrund seiner spezifischen kommunikativen Funktion, indem er drei Frauenschicksale, die Nettchens, der Gräfin und Rahels, in Beziehung zueinander setzt. Außerdem bezieht Rahel die Aussichten der zukünftigen Frau von Burgsdorff – im Brief „Leontine“ – und des ungeborenen Kindes mit ein. So entwirft der Text am Beispiel der Cäcilie und der zur Resignation verdammten Leontine die duldende Rolle des Weiblichen und gemahnt mit dem Verweis auf die kommende Generation: „[…] an seine eigne Tochter wird die Reihe kommen.“ (S. 94) In diesem Argument, das den Grafen umstimmen könnte, klingt Bitterkeit mit. Es sind sowohl die Pflicht zu Aufrichtigkeit als auch das Leiden an der Wahrheit, die Weiblichkeit kennzeichnen. Aufgrund seines konspirativen Mitteilungsverhaltens ist Rahels Brief das Instrument einer Intrige und führt überdies weibliches Kalkül im Umgang mit der Wahrheit vor. Ihr Schreiben kann somit auch als Gegenstück zum galanten Brief des Verführers gelesen werden, indem sie sich die fingierten Liebesbekundungen, die seine Billetts offenbar kennzeichnen, zunutze macht. Das im Brief aufgerufene Bild des Mannes schreibt ihm geschlechtsspezifische Gefühlsarmut respektive die Fähigkeit zu Affektkontrolle und zielorientierter Inszenierung des Gefühls gegenüber dem weiblichen Opfer zu. Entmachten kann ihn allein die sprachgewandte Frau hinter der Maske der Intrigantin, durch das Angebot, die unangenehme Wahrheit zu verschweigen. Das Motiv der verlassenen bürgerlichen Geliebten tritt hier mittels fiktiver Namensgebung und Rollenzuweisung literarisiert in Erscheinung und vermag durch Rahels Vermittlung die Schicksale dreier Frauen miteinander zu verbinden. Sie inszeniert die Errettung einer Gefallenen und beschwört die Heldin, die dazu nötig ist. Schließlich vereint das der Gräfin zugesprochene Weiblichkeitsbild Transgressions- und Handlungsfähigkeit und stellt nicht zuletzt die Verteidigerin der Moral vor. Die Erpressung des Schuldigen ist das äußerste Mittel, zu dem Rahel ihrer Freundin rät. Somit ist die Thematik des Briefs unverkennbar mit dem moralischen Diskurs der Frühromantik verknüpft, der im Zuge der um 1750 einsetzenden Wertverschiebungen zugunsten der Natürlichkeit und Wahrheit schriftlicher Aussagen und der daraus abgeleiteten Erkenntnis aus dem unverfälschten Gefühl auch zentral für das Verständnis der Briefkultur um 1800 ist.
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Insgesamt diskutiert die Schreiberin des Textes unterschiedliche Dimensionen der Wirksamkeit des Mediums Brief in seiner Latenz zur Statusänderung oder Umkehrung seiner ursprünglich intendierten Funktion in Abhängigkeit von seiner Rezeption. Diese unterliegt einander überschneidenden gesellschaftlichen Diskursen und Kontexten, hier dem Liebes- und Moraldiskurs. Die Drohung, die dem Mann gegenüber ausgesprochen werden soll, beruht auf der Verkehrung der Wirksamkeit seiner Briefe durch die Überführung in den juristischen Kontext, in dessen Rahmen die Decodierung des galanten Schreibstils nur zum Nachteil des Absenders ausfallen kann. Zugleich eignet sich die Erpresserin oder Intrigantin nun ihrerseits die Strategie kalkulierter Unaufrichtigkeit an, um ihr Ziel zu erreichen. Ihr berechnendes Verhalten entlehnt sie spielerisch dem ‚männlichen‘ galanten Diskurs und generiert im Zwischenraum des Moralund Galanterie-Diskurses die komplementäre Form weiblichen Kalküls. Dem heutigen Leser tritt die bewusste Teilhabe und Berufung auf einen mit dem Genre – aufgrund seines semiliterarischen Verständnisses – verzahnten Moralbegriff aus dem vorgestellten Brief entgegen, der zudem ein Gegenbild der Geschlechterverhältnisse entwirft, mit denen der galante Diskurs operiert.
VI. Schlussfolgerungen In seiner Eindringlichkeit belegt der Text, dass wir es mit einer Schreiberin zu tun haben, die den Brief nicht allein als intimes Medium der eigenen Empfindsamkeit versteht. Stattdessen ist er das zielgerichtet eingesetzte Mittel, um einer unerfreulichen Affäre eine Wendung zu geben. Als Intrigantin nimmt Rahel den weiteren Verlauf der Ereignisse in die Hand und legt die Rolle der Zeugin jenes Trauerspiels, das die Geschichte zu werden droht, ab. Aus dem kommunikativen Akt, der ein Spezifikum der vorliegenden Textsorte darstellt, tritt das ihm immanente Handlungsmoment deutlich hervor. Somit steht das Schreiben in einem „Verwertungszusammenhang“,56 wie sich an seiner appellativen Ausrichtung zeigt. Inhaltlich untermauert die Selbstinszenierung der Verfasserin als Wahrheitsvermittlerin, die im Brief mit der Rolle des Arztes identisch ist, ihr Selbstverständnis als handelnde Person. Der Appell an die Adressatin antizipiert deren Bereitschaft ihrerseits aktiv einzugreifen. Die sprachliche Gestaltung des Gesuchs ist ein essentieller Faktor für die Wirksamkeit, verleihen doch
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Achim Barsch: Literarizität. In: Ansgar Nünning (Hg.): Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2008. S. 430.
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die Anhäufung von Bildergefügen und Redefiguren der Dringlichkeit und der Tragweite des verhandelten Problems Nachdruck. Zudem reflektieren sie Rahels literarisch geschultes Wissen um die poetische Funktionalisierung sprachlicher Äußerungen. Wie die Bildsprache lässt sich auch die Einführung fiktiver Namen als strategischer Zug zu Illustrationszwecken interpretieren, welche wiederum der gelingenden Kommunikation, d. h. der appellativen Wirkung auf die Adressatin, dienlich sind. Folglich liegt dem Leser hier ein Dokument der Wirksamkeit weiblichen Schreibens vor, das als Medium der Realisierung einer existenziellen Hilfeleistung fungierte. Denn wie dem Kommentar der Familienbriefe zu entnehmen ist, hatte der Plan Erfolg: „Der Brief that seine Wirkung; vollkommen.“57 Tatsächlich zeichnet sich die Mehrzahl von Rahels Schreiben durch den Versuch einer Momentaufnahme der Empfindung aus, und so sind auch dem hier diskutierten Schreiben Wendungen und Stilmittel zu eigen, die ihm den Gestus des natürlichen Stilempfindens verleihen. Dennoch betreibt Rahel lebensferne Gefühlskultivierung nicht als Selbstzweck, sondern setzt den Brief als praktisches, ganz im konventionellen Sinn gebräuchliches Kommunikationsmittel ein und erweist sich somit als sendungsbewusst und handlungsfähig. Dieser Brief aus der Korrespondenz mit der Gräfin von Schlabrendorf beweist dies eindrucksvoll.
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Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. Bd. 1. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Hg. v. Konrad Feilchenfeldt u. a. München 1983. S. 354.
Heinrich von Kleist an Henriette Vogel, 20. November 1811 Mein Jettchen, mein Herzchen, m Liebes, m Täubchen, m Leben, m liebes süßes Leben, m Lebenslicht, m Alles, m Hab u Gut, meine Schlösser, Aecker, Wiesen u Weinberge, o Sonne meines Lebens, Sonne, Mond u Sterne, Himmel u Erde, m Vergangenheit u Zukunft, meine Braut, m Medgen, meine liebe Freundin, m Innerstes, m Hertzblut, meine Eingeweide, m Augenstern, o, liebste wie nen ich Dich? Mein Goldkind, m Perle, m Edelstein, m Krone, m Königin und Kaiserin. Du lieber Liebling meines Herzens, m Höchstes u Theuerstes, m Alles u Jedes, m Weib, m Hochzeit, die Taufe meiner Kinder, m Trauerspiel, m Nachruhm. Ach du bist meines zweites bessers Ich, meine Tugenden, m Verdienste, m Hoffnung, die Vergebung m Sünden, m Zukunft und Seeligkeit, o, Himmelstöchterchen, m Gotteskind, m Fürsprecherin u Fürbitterin, m Schutzengel, m Cherubim u Seraph, wie lieb ich Dich! –
Henriette Vogel an Heinrich von Kleist, 20. November 1811 Mein Heinrich, m Süßtönender, m Hyazinthen Beet, m Wonnemeer, m Morgen u Abendroth, m Aeolsharfe, m Thau, m Friedensbogen, m Schoßkindchen, m liebstes Hertz, m Freude, im Leid, m Wiedergeburt, m Freiheit, m Fessel, m Sabbath, m Goldkelch, m Luft, m Wärme, m Gedancke, m theurer Sünder, m Gewünschtes hier u jenseit, m Augentrost, m süßeste Sorge, m schönste Jugend, m Stoltz, m Beschützer, m Gewissen, m Wald, m Herlichkeit, m Schwerd u Helm, m Großmuth, m rechte Hand, m Paradies, m Thräne, m Himmelsleiter, m Johannes, m Tasso, m Ritter, mein Graf Wetter, m zarter Page, m Erzdichter, m Kristall, m Lebensquell, m Rast, meine Trauerweide, m Herr Schutz und Schirm, m Hoffen und Harren, m Träume, m liebstes Sternbild, m Schmeichelkäzchen, meine sichre Burg, m Glück, m Tod, m Herzensnärchen, m Einsamkeit, m Schiff, m schönes Thal, m Belohnung, m Werthester! m Lethe, m Wiege, m Weirauch und Myrrhen, m Stimme, m Richter, m Heiliger, m lieblicher Träumer, m Sehnsucht, m Seele, m Nerven, m goldner Spiegel, m Rubin, m Syrings Flöte, m Dornenkrone, m tausend Wunderwercke, m Lehrer u m Schüler, wie über alles gedachte u zu erdenckende lieb ich Dich. Meine Seele sollst Du haben. Henriette.
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Heinrich von Kleist und Henriette Vogel, 20.11.1811
Mein Schatten am Mittag, m Quell in der Wüste, m geliebte Mutter, m Religion, m innre Musik, m armer kranker Heinrich, m zartes weißes Lämchen, m Himmelspforte. H. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 4. Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811. Hg. v. Klaus Müller-Salget u. Stefan Ormanns. Frankfurt/M. 1997. S. 519 f. © Deutscher Klassiker Verlag.
Günter Blamberger
Über Nähe und Ferne: Die Todeslitanei Heinrich von Kleists und Henriette Vogels In Baldassare Castigliones Verhaltensbrevier Il libro del cortegiano von 1528 wird Grazie von einem Aristokraten verlangt, in allen Lebensbereichen. Genauer gesagt: ‚sprezzatura‘, Mühe der Verbergung von Mühe – zur Kontrolle des eigenen Selbstbildes. Kleist hat sich, mit Verlaub gesagt, auch mit Grazie umgebracht: Einerseits leicht und heiter nach ausgelassenen Albereien mit Henriette Vogel in der Kegelbahn des Gasthauses Stimming am Wannsee und einem Picknick an einem milden Wintertag im Freien vor den tödlichen Schüssen, andererseits mit Abschiedsbriefen, die als Teil einer grandiosen Inszenierung verstanden werden können, mit der Kleist seine Rezeptionsgeschichte selbst präformiert hat. Kleist hatte es wohl nötig, sich um seinen Nachruhm zu kümmern. Mit seinen Dichtungen hatte er zu Lebzeiten kaum Erfolg gehabt, sein spektakulärer, rätselhafter Selbstmord aber und die Begründungen dafür in den Todesbriefen erregten Aufsehen schon bei den Zeitgenossen und prägen bis heute das Bild von Kleists Leben und Werk. Die Regeln also, mit denen man das Bild seiner Autorschaft konstruiert.1 Die Abschiedsbriefe ersetzen sozusagen eine sorgsam stilisierte Autobiographie, wie sie sonst als Mischung von Wahrheit und Dichtung unter Schriftstellern zur Sicherung ihres Andenkens üblich ist. Sie sind effektvoller noch, weil man von Todgeweihten keine Dichtung erwartet, nur noch Wahrheit. An letzten Worten ist die Nachwelt immer interessiert, weil sie als authentische Konfessionen gelten, in denen die Summe eines Lebens gezogen wird. Auf diesem ‚autobiographischen Pakt‘ beruht die ungeheure Wirkung von Kleists Briefen vor seinem Freitod, sie sind in und gegen alle Verzweiflung geschrieben, folgen in der Inszenierung eines Autorbildes für die Nachwelt einer kalkulierten Ökonomie des Opfers, wobei es eine poetische Ausnahme von der prosaischen Regel gibt: den wunderbaren letzten Briefdialog zwischen Henriette Vogel und Heinrich von Kleist, ‚Todeslitanei‘ genannt, Aus-
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Vgl. zur Genealogie und Wirkung von Kleists Abschiedsbriefen, inklusive der ‚Todeslitanei‘, auch Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt/M. 2011, vor allem S. 450–486, sowie ders.: Ökonomie des Opfers. Kleists Todes-Briefe. In: Detlev Schöttker (Hg.): Adressat Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München 2008. S. 145–160.
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Günter Blamberger
druck einer grandiosen Anökonomie des Opfers, der Überwindung allen Berechnens in der Liebe und im Tod. Was geschieht an Kleists letzten Tagen im November 1811? Darüber sind wir besser informiert als über alle anderen Ereignisse in Kleists Leben. Auskunft geben Kleists und Henriette Vogels Abschiedsbriefe, die Protokolle des Richters Felgentreu, der die Augenzeugen der letzten Stunden vernommen hatte: das Personal des Gasthofs Stimming am Kleinen Wannsee, in dem die Selbstmörder genächtigt hatten, sowie die Obduktionsberichte zweier Chirurgen mit den seltsamen Namen Sternemann und Greif. Demnach verhält es sich kurz gefasst so: Am Vormittag des 20. November 1811, einem Mittwoch, fahren Kleist und Henriette Vogel mit einer Lohnkutsche, also einer Art Taxi, von Berlin in Richtung Potsdam und steigen gegen zwei Uhr im Gasthof Stimming ab, der an der Brücke liegt, die den Zufluss vom Kleinen zum Großen Wannsee überquert. Die beiden nehmen sich in dem Gasthof zwei Zimmer, trinken Kaffee und wandern zu der Stelle, an der sie sich am nächsten Tag erschießen werden. Danach essen sie zu Abend, verlangen Lichter und Schreibzeug, und zweimal in der Nacht zum Donnerstag Kaffee, um wach zu bleiben. Henriette Vogel ruft um sieben Uhr nach dem Dienstmädchen, um sich beim Ankleiden helfen zu lassen. Am Morgen bezahlen sie ihre Rechnung, expedieren Briefe mit einem Boten nach Berlin, scherzen miteinander im Hof des Gasthauses, Kleist springt über die Bretter der Kegelbahn und fordert Henriette zu ähnlichen Sprüngen auf, was diese ablehnt. Danach gehen sie zum Kleinen Wannsee, tanzen, fortwährend vom Personal des Gasthofs beobachtet, ein wenig herum, werfen Steine ins Wasser und bitten die Angestellten des Gasthofs, einen Tisch, Stühle und Kaffee auf einen Hügel am Wannseeufer zu bringen. Diese nennen die Idee, an einem Wintertag im Freien zu speisen, eine ‚Tollheit‘, verrichten aber brav ihren Dienst und ziehen sich dann diskret zurück. Im Vernehmungsprotokoll des Tagelöhners Riebisch und seiner Ehefrau wird die seltsame Stimmung der Todesstunde deutlich: […] indem wir uns entfernten, und nach Hause gingen, sahen wir beide Fremde Hand in Hand den Berg hinunter nach dem See zu springen, schäkernd, und sich jagend, als wenn sie Zeck spielten. Überhaupt habe ich selten zwei Leute gesehen, die so freundlich zusammen gewesen wären, wie diese auf dem Berge. Sie nannten sich beständig Kindchen, liebes Kindchen, und waren außerordentlich vergnügt.2
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Helmut Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Bd. 1. Frankfurt/M. 1984. Nr. 532, S. 426–434. Wie in der KleistForschung üblich, werden auch im Folgenden die Nummern in Klammern angefügt.
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Von dieser Vergnügtheit zeugen auch die Abschiedsbriefe der beiden. Ein Beispiel dafür ist Henriettes Bestattungswunsch, gerichtet an den preußischen Kriegsrat Christoph Ernst Friedrich Peguilhen: Mein sehr werther Freund! Ihrer Freundschaft die Sie für mich, bis dahin immer so treu bewiesen, ist es vorbehalten, eine wunderbare Probe zu bestehen, denn wir beide, nehmlich der bekannte Kleist und ich befinden uns hier bei Stimmings auf dem Wege nach Potsdamm, in einem sehr unbeholfenen Zustande, indem wir erschossen da liegen, und nun der Güte eines wohlwollenden Freundes entgegen sehn, um unsre gebrechliche Hülle, der sichern Burg der Erde zu übergeben. Suchen Sie liebster Pequilhen [sic] diesen Abend hier einzutreffen und alles so zu veranstalten, daß mein guter Vogel möglichst wenig dadurch erschrekt wird.3
Von Henriette Vogel weiß man wenig. Peguilhen schildert Henriette als „krank“ und „reizbar“, geprägt durch „überspannte religiöse Begriffe“, des öfteren wünschte sie zu sterben, weil sie „einen hohen Grad von Glückseligkeit in der Fortdauer nach dem Tode setzte“. Er attestiert ihr weiter einen „vorzüglichen Grad von Bildung“. Sie habe sich mit „gebildeten Männern“ gern umgeben, auch mit Kleist, den Adam Müller 1810 in das Haus der Familie Vogel brachte. Zwischen Kleist und Henriette habe eine „Sympathie der Seelen“, eine „geistige Liebe statt gefunden“. Mehr offenbar nicht, denn Henriette lebte „in einer sehr glücklichen Ehe“ und hatte „ein von ihr geliebtes Kind, eine Tochter von 10 Jahr“. So Peguilhen am 22. November 1811, einen Tag nach den tödlichen Schüssen.4 1812 liefert er ein ausführlicheres Porträt, bemerkt, dass Henriette eine „Zierde ihres Geschlechts“, „ein wunderbares genialisches Wesen“ war, das Shakespeare, Homer, Cervantes las, auch Liebesgeschichten wie Goethes Werther oder Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses, „nie für den Druck“ schrieb, aber „kleine höchst interessante Aufsätze“ verfasste, Fechten zu lernen wünschte und sich von Kleist „in den Elementen der Taktik und Kriegskunst“ unterrichten ließ. Ein Arzt habe ihr von ihrem unheilbaren Zustand berichtet, Kleist habe davon lange nichts gewusst, dann aber Henriette ihren Wunsch nach Erlösung erfüllt.5 Henriettes Gatte, Friedrich Ludwig (Louis) Vogel, war Landschafts-Rendant, also preußischer Finanzbeamter. Adam Müller, der ihm Kleist als Hausgast beschert hatte, versuchte Vogel vor Gerüchten zu schützen. In einem Zeitungsarti-
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Henriette Vogel an Ernst Friedrich Peguilhen, 21. November 1811. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 4. Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793– 1811. Hg. v. Klaus Müller-Salget u. Stefan Ormanns. Frankfurt/M. 1997. S. 513 f. Vgl. Sembdner: Lebensspuren (Anm. 2), Nr. 522, S. 413 f. Vgl. ebd., Nr. 523a, S. 414–416.
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kel am Weihnachtstag 1811 schrieb er blumig, aber direkt über die beiden Selbstmörder: Über die Tröstungen einer kurzen Leidenschaft, waren beide so weit erhaben, daß ich sie, um mich der Welt verständlich zu machen, kalt gegen einander nennen muß. Es gab keine Gemeinschaft zwischen ihnen, als die der herrlichsten Anlagen, der Unwissenheit über ihre höhere, göttliche Bestimmung, also der Verzweiflung und – in den letzten Stunden ihres Lebens – eines gewissen tragischen Interesses aneinander.6
Adam Müller hatte allen Grund, den edlen Freund zu spielen. Im Nachlass Karl August Varnhagen von Enses, Rahel Levins späteren Ehemanns, findet sich ein Eintrag, der Madame Vogel als eine leichtlebige Dame schildert, mit der Adam Müller einen „ernstlichen Liebeshandel“ hatte, bis ihn sein eigener Freund, Franz Theremin, ein protestantischer Geistlicher, ablöste, weil Müller sich für eine Madame Sander zu interessieren begann, der wiederum auch Theremin verfiel, so dass sich Henriette schließlich mit Kleist zu begnügen hatte.7 Kleists Cousine Marie hat kein besseres Bild von Henriette als Varnhagen. Dem König schildert sie Madame Vogel als eine „ruhmsüchtige, eitle Närrin“, die um jeden Preis „Célébrität hätte erlangen wollen“; unheilbar krank sei sie nach Auskunft der Ärzte gar nicht gewesen.8 Peguilhen bittet in Todesanzeigen der Vossischen und der Spenerschen Zeitung am 26. und 28. November das „Publikum“, „nicht zwei Wesen lieblos zu verdammen, welche die Liebe und die Reinheit selbst waren“, bis er eine Verteidigungsschrift vorlegen werde.9 Dazu kommt es nicht. Friedrich Wilhelm III. ist verstimmt und untersagt den „Missbrauch“ öffentlicher Blätter „zur Verbreitung der Immoralität“.10 Peguilhen, der „eine Parallele mit dem ruhmwürdigeren Tode des Ewald v. Kleist“ hatte ziehen wollen, entschuldigt sich untertänigst beim Staatskanzler Hardenberg in einem Brief vom 3. Dezember 1811.11 Des Königs Verurteilung des Selbstmords mag auch die beiden Ärzte beeinflusst haben, die Kleist und Henriette Vogel obduzierten. Jedenfalls versuchen sie sich an einer medizinischen Erklärung des Freitods der beiden. Kreisphysicus Dr. Sternemann und Stadtchirurgus Greif haben im Falle Henriette Vogels keine Schwierigkeiten. Seltsam penibel beschreiben sie
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Ebd., Nr. 523b, S. 416 f. Ebd., Nr. 523c, S. 417 f. Ebd., Nr. 523d, e, S. 418 f. Ebd., Nr. 540, S. 444 f. Ebd., Nr. 541, S. 445 f. Ebd., Nr. 542, S. 446 f.
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deren Körperbau und Wäsche, um dann aus der Einsicht in den Unterleib zu folgern, was sie vermutlich von Peguilhen und Louis Vogel vor Ort erfahren haben, dass „denata Vogeln an einem unheilbaren Mutter-Krebs gelitten, und aus Furcht für einem langsam sehr schweren Tod, sich diesen leichten Tod gewählt hat.“ Henriettes Todeswunsch wird so verständlich gemacht, er erscheint nicht mehr als Resultat einer Liebestragödie, Kleist leistete gewissermaßen Sterbehilfe. Mit Kleist tun sich die beiden Ärzte schwerer. Während der Obduktion suchen sie sorgfältig nach einer physischen Ursache, die Kleist sein Leben vorzeitig beenden ließ, und weil sie kein Anzeichen dafür finden können, erfinden sie sich eines und schreiben ihren ersten Obduktionsbericht noch einmal um. In der ersten Fassung, dem Protokoll der Obduktion vom 22. November 1811, heißt es noch: Die Leber war sehr groß, jedoch natürlich, die Gallenblase enthielt etwas viel Galle, jedoch waren in der Gallenblase keine steinernen Concremente enthalten. Eben so waren die Nieren, die Milz, die Urinblase, das Pancreas und der ganze tractus intestinorum im Normal Zustande.12
In einem nach diesem Protokoll verfertigten Abschlussbericht am 11. Dezember – des Königs Zorn über Peguilhens Apologie der Selbstmörder war mittlerweile allen bekannt – lautet der Befund auf einmal signifikant anders: Die Leber war widernatürlich groß, der Lobus minor [der Leberlappen] ging über den Magen herüber, die Substanz derselben war widernatürlich fest, und ließ sich nur mit Mühe zerschneiden, wobey viel schwarzes dickes Bluth herausfloß. Vorzüglich groß war auch die Gallenblase, sie enthielt viel verdikte Galle. [...] Nach diesen Anzeigen finden wir uns veranlaßt, gestützt auf Physyologischen Principia zu folgern, daß Denatus dem Temparente [sic] nach ein Sanguino cholericus in Summo gradu gewesen, und gewiß harte hypochondrische Anfälle oft habe dulden müssen, wie einige Herrn Dienst-Cameraden mir den Physicus selbst, solches versichert haben. Wenn sich nun zu diesem excentrischen Gemüthszustand eine gemeinschaftliche Religionsschwärmerey gesellte, so läßt sich hieraus auf einen kranken Gemüthszustand des Denati von Kleist mit Recht schließen.13
So wird man verrückt gemacht. Die beiden Mediziner wollen unbedingt den physiologischen Nachweis dafür erbringen, dass der Todessüchtige aus dem renommierten preußischen Adelsgeschlecht nicht ganz bei Trost gewesen sein könne. So kommen sie auf den Einfall, die Leber größer, die Galle verdickter zu machen und viel schwarzes Blut fließen zu lassen. Sie folgen damit den zu ihrer Zeit schon reichlich überholten Prinzipien der
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Zitiert nach Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt/M. 2011. S. 458. Sembdner: Lebensspuren (Anm. 2), Nr. 534, S. 435–440.
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Humoralpathologie, der aus der hippokratischen Medizin abstammenden Temperamentenlehre, wonach von der rechten Mischung von KörperSäften der Geistes- und Gemütszustand eines Menschen abhängt. Gesundheit wird ihr zufolge durch das Gleichmaß der Säfte garantiert; Disharmonie der Säfte, Unordnung, bedeutet Krankheit. Kleist hat zu viel schwarzes Blut und eine verdickte Galle, also ist er ein Choleriker und melancholischer Hypochonder. Bekanntermaßen wechseln in einer solchen Verfassung depressive und manische Zustände einander ab, was die ausgelassenen Vergnügungen, die kindlichen Tollereien der letzten Stunden vor dem Tod begreiflich machen könnte. Religionsschwärmerei jedoch bei Kleist? Davon kann doch, wenn man dessen Briefe bedenkt, keine Rede sein. Das Attest ist wohl von Peguilhens Urteil über Henriettes „überspannte religiöse Begriffe“ inspiriert. Es gäbe auch einen medizinischen Grund für diese wilde Spekulation über Kleists krankhafte Verbindung von Geist und Körper. Die medizinische Anthropologie des 18. Jahrhunderts hatte Religionsschwärmerei, z. B. den pietistischen Bußkampf, immer mit Melancholie zusammengedacht.14 In einem Brief vom 10. November 1811 an seine Cousine Marie hat Kleist diesen ganzen Zinnober geahnt. Er bittet darum, seinen Freitod nicht für eine Krankheit zu halten, und weiß doch, dass es anders kommen wird: Aber ich schwöre Dir, es ist mir ganz unmöglich länger zu leben; meine Seele ist so wund, daß mir, ich mögte fast sagen, wen ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe thut, das mir darauf schimmert. Das wird mancher für Krankheit und überspant halten; nicht aber Du, die fähig ist die Welt auch aus andern Standpunckten zu betrachten als aus dem Deinigen.15
Kleist hofft darauf, dass seine Cousine seinen Standpunkt teilen wird. Er möchte sie mit seinem Brief zu einem Perspektivenwechsel bewegen, von der Pathologisierung zur Legitimierung seines Todeswunsches. Kleist wehrt zunächst medizinische Argumente zur Begründung seines Todes ab und nennt stattdessen mit äußerster Klarheit und Nüchternheit soziale: Da ist explizit vom Ausschluss aus der Familie die Rede und implizit damit auch von seiner ökonomischen Notlage nach dem Scheitern der Berliner Abendblätter, von der mangelnden Anerkennung seiner literarischen und journalistischen Werke – die Familie betrachte ihn „als ein ganz nichtsnütziges Glied der menschlichen Gesellschafft, das keiner Theilnahme mehr
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Zum Melancholiekonzept der philosophischen Ärzte des 18. Jahrhunderts vgl. HansJürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977. Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 4. (Anm. 3), S. 508.
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werth sey“ –, sodann von der politischen Misere in Preußen, von der „Allianz, die der König jezt mit den Franzosen schließt“. Kleist entwirft sich als der nonkonformistische Intellektuelle, der außerhalb der familialen, ständischen, ästhetischen und politischen Ordnungen seiner Zeit steht. Die erste Begründungsliste wird deshalb konsequent abgeschlossen durch ein Hamlet-Zitat. Kleist bekennt, dass er nicht die Kraft habe, „die Zeit wieder einzurücken“, um im nächsten Satz die Narrenrolle Hamlets für sich abzulehnen, den verzweifelten Witz des Melancholikers, dessen Worte nichts ändern an den Taten der Herrscher: […] ich fühle aber zu wohl, daß der Wille, der in meiner Brust lebt, etwas Anderes ist, als der Wille derer, die diese witzige Bemerkung [Hamlets] machen: dergestalt, daß ich mit ihnen nichts mehr zu schaffen haben mag. Was soll man doch, wen der König diese Allianz [mit Napoleon] abschließt, länger bey ihn machen?
Fragwürdig ist es von daher, Kleists Freitod als patriotischen Appell zu verstehen, zumal er in der Folge das Begründungsregister wechselt. Seine „Traurigkeit“ werde von Henriette verstanden als eine „höhere, festgewurzelte und unheilbare“. Ein philosophischer Diskurs wird jetzt geführt, der Freitod als heroisches Opfer begriffen, als Ausdruck einer gewissermaßen prä-existentialistischen Radikalität, als Einsicht darin, dass es seine „ganze jauchzende Sorge nur sein kan, einen Abgrund tief genug zu finden um mit ihr [Henriette] hinab zu stürtzen“.16 An Kleists Brautbrief vom 21. Juli 1801 ist hier zu erinnern, an die Erkenntnis damals, dass „nichts ekelhafter“ sei als diese Furcht vor dem Tode. Das Leben ist das einzige Eigenthum, das nur dann etwas werth ist, wenn wir es nicht achten. Verächtlich ist es, wenn wir es nicht leicht fallen lassen können, und nur der kann es zu großen Zwecken nutzen, der es leicht u freudig wegwerfen könnte. Wer es mit Sorgfalt liebt, moralisch todt ist er schon, denn seine höchste Lebenskraft, nämlich es opfern zu können, modert, indessen er es pflegt.17
Kleists Todesbereitschaft ist 1801 wie 1811 keine Jenseits-, sondern eine Diesseitsfeier. Von religiösem Trost angesichts des Todes kann bei Kleist keine Rede sein, eher macht er sich lustig darüber, wenn er z. B. an Sophie Müller am 20. November 1811 schreibt, dass Henriette und er von „lauter himmlische Fluren und Sonnen“ träumen, „in deren Schimmer wir, mit langen Flügeln an den Schultern umher wandeln werden“.18 Am Ende des Briefs vom 10. November 1811 an Marie von Kleist verschiebt sich also die Frage. Von Interesse ist eigentlich nicht mehr,
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Ebd., S. 508 f. Ebd., S. 247. Ebd., S. 511.
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warum Kleist sterben muss – weil er an seiner hartherzigen Familie leidet, am schwachen, reformunfähigen preußischen Staat, am Misserfolg als Dichter, an Geldmangel usw. – das erscheint in der Addition nun banal. Von Interesse ist, warum Kleist so gelassen, nüchtern, vergnügt und ohne religiösen Trost sterben kann. Kleist Freitod wird uns als Ausdruck eines destruktiven Charakters begreiflich, der sich dem aller Natur eingeschriebenen Zwang zur Selbsterhaltung ein Leben lang entzieht, der Freiheit als einen Akt begreift, der die eigene Selbsterhaltung notwendig verletzen muss. Wobei der destruktive Akt zugleich ein schöpferischer Akt ist: Denn ohne die Aufgabe jeglicher Sicherheit ist Neues im Leben nicht möglich und nicht in der Kunst. Die gemeinsame Todesreise ist, so die Nachschrift von Henriette Vogel im Brief an Sophie Müller vom 20. November 1811, eine „große Entdeckungsreise“.19 Konsequenter Nomadismus also, mit dem Kleist bis zuletzt die Einsicht seines Lebens verteidigt, die er im Februar 1811 in den Berliner Abendblättern noch einmal abdruckt, dass „Erhaltung nur durch Zerstörung möglich [ist], so wie oft Leben nur aus dem Tode hervorgeht.“20 Kleists Inszenierung seines Freitods folgt einer Ökonomie des Opfers. Was unterscheidet Henriette Vogel von Kleists Schwester? Ulrike habe „die Kunst nicht verstanden sich aufzuopfern, ganz, für das was man liebt, in Grund und Boden zu gehn“. So Kleist an seine Cousine Marie am 9. November 1811. Und was unterscheidet Marie von Henriette? Dass diese mit Kleist sterben will, so Kleist am 12. November 1811, wenig tröstlich an die verärgerte Marie: „Kan es Dich trösten wen ich Dir sage, daß ich diese Freundin niemals gegen Dich vertauscht haben würde, wen sie weiter nichts gewolt hätte als mit mir leben?“21 Bereit sein, zugrunde und auf den Grund zu gehen, jenseits bloßer Selbsterhaltung, das verbindet Kleist und Henriette Vogel, diese Radikalität macht sie frei und heiter, und die Ähnlichkeit der beiden dokumentiert sich in einer Parallelaktion, die dem gemeinsamen Tod vorausgeht, im Spiegelbrief der ‚Todeslitanei‘, der zum Korpus der Todesbriefe gehört und in der Gattungsgeschichte des Briefes einmalig, ja unvergleichlich ist. Diese beiden Briefe Kleists und Henriette Vogels sind über die Maßen schön, zärtlich und spöttisch zugleich, ein – leider dem großen Publikum weitgehend unbekanntes – Stück Weltliteratur und ein Katalog, in dem
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Ebd., S. 512. Heinrich von Kleist: Berliner Abendblätter. 13. Feb. 1811. In: Ders.: Sämtliche Werke Brandenburger Ausgabe. Bd. II/8. Berliner Abendblätter II. Hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Basel, Frankfurt/M. 1997. S. 189. Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 4. (Anm. 3), S. 507 u. 510.
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alle Liebenden der Welt blättern könnten, die um Kosenamen verlegen sind, um dabei einzusehen, dass sie auf das Benennen des anderen lieber verzichten sollten. Henriettes Brief verrät, anders als Kleists, die Genauigkeit der Liebenden. Sie betont die Brüchigkeit, Widersprüchlichkeit, Heterogenität, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Kleist. Er wird in den wechselnden Anspielungen ihres Porträts erkennbar, sie in seinem, weit konventionelleren, nicht. Beide treiben es ziemlich bunt mit ihrer Liste von Kosenamen, die im Prinzip unendlich verlängerbar ist. Um den Übertritt ins Unbegrenzte geht es ihnen allerdings in diesem Augenblick, kurz vor ihrem gemeinsamen Tod am Wannsee am 21. November 1811. Von letzten Worten erwartet man jedoch Wahrheit, keine Dichtung, kein galantes Masken- und Zitatenspiel wie hier. Wer kann wissen, ob sich dahinter Intimes verbirgt? Die Ausgangsfrage, die das Spiel in Gang setzt, ist schon Zitat, einem gänzlich verwirrten Manne nachgestellt, Graf Wetter vom Strahl aus dem Käthchen von Heilbronn. „O du – – – wie nenn ich dich? Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Käthchen, Mädchen, Käthchen!“ stammelt der Graf,22 und Kleists Todeslitanei variiert ihn: „o, liebste wie nen ich Dich?“ (S. 111) und verwendet dann wie Henriettes Antwort verdächtig oft das Possessivpronomen ‚mein‘. Wie erkenne ich Dich, wie nenne ich Dich, was ist der rechte Name, der Eigenname, der das besondere, unvergleichliche Wesen des Anderen enthält,23 das ist eine allen Liebenden ernste Frage, die Kleist und Henriette durch die Erfindung immer neuer Namen ad absurdum führen. Der andere ist unverfügbar, heißt das, und gerade in der Respektierung dieser Grenze ereignet sich Wahrheit, fallen Galanterie und authentische Herzenssprache in eins, wird aus Ferne Nähe. Auch räumlich vielleicht. Man könnte sich vorstellen, dass die Todeslitaneien in der Nacht zum 21. November 1811 verfasst wurden, im Gasthof Stimming. Leider gibt es von den beiden Briefen kein handschriftliches Original, nur eine Abschrift, die sich im Nachlass Peguilhens fand. Vielleicht saßen die beiden schreibend nebeneinander, die Briefpartner sind jedenfalls auf Augenhöhe, einander gleichwertig, anders als in Kleists Brautbriefen an Wilhelmine, in denen er ständig seine Überlegenheit bezeugen musste. Die Symmetrie von Gabe und Gegengabe, wechselseitiger Erkennung als Anerkennung des unverfügbaren Anderen in den Todeslitaneien ist etwas
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Heinrich von Kleist: Das Käthchen von Heilbronn. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. (Anm. 3), Bd. 2. Dramen 1808–1811. Hg. v. Ilse-Marie Barth. Frankfurt/M. 1987. S. 349. Zu dieser Frage, die ja auch im Käthchen-Drama zentral ist, vgl. Gerhard Neumann: Hexenküche und Abendmahl. Die Sprache der Liebe im Werk Heinrich von Kleists. In: Freiburger Universitätsblätter 25 (1986) H. 91. S. 9–31.
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ganz Besonderes und hat zur Voraussetzung, dass sich Kleist und Henriette Vogel schon die maximale Gabe versprochen haben, die man überhaupt geben kann: die Gabe des eigenen Lebens. Mehr an Hingabe, an totaler Verausgabung geht nicht. Im Angesicht des Todes folgt Kleist nicht nur einer Ökonomie, sondern auch einer Anökonomie des Opfers. Dem entspricht die Form der einander spiegelnden Briefe, die Paul Lindau 1873 erstmals publiziert hat, verbunden mit dem Kommentar, dass ihre Beurteilung „weniger zum Ressort des literarischen Kritikers als zu dem des Psychiaters“ gehöre. In Abwehr solcher Pathologisierung hat August Sauer den Briefwechsel in einer Studie 1907 ‚Todeslitanei‘ genannt, weil er „Ton und Form“ der Litanei nachahme. Sauer hat den Text in Verse und Strophen gegliedert und damit die explizite Briefform der Abschrift ignoriert.24 Litanei, das meint bekanntlich die Flehgebete eines Vorbeters bzw. Vorsängers, wobei die Gemeinde in festen, monotonen Formeln antwortet (‚Herr erbarme Dich, Christus erbarme Dich‘ usw.). Von daher wird das Wort Litanei auch im Grimmschen Wörterbuch schon für eine „lange, eintönige, sich wiederholende herzensergießung oder darlegung“ gebraucht.25 Kleists und Henriettes letzter Briefwechsel ist aber weder eintönig noch Herzensergießung im Sinne der flehentlichen Anrufung eines Geliebten, der in romantischer Passion zum Gott verabsolutiert würde. Von daher einigt man sich besser auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen kirchlicher Liturgie und der ‚Todeslitanei‘ der beiden Selbstmörder, wenn man Sauers Namensvorschlag beibehalten will: Es handelt sich um Listen, um Aufzählungen, um eine Poetik des Enumerativen angesichts des Übertritts ins Unberechenbare.26 Solche Aufzählungsformen kennt man auch von barocken Gedichten, eines von vielen Beispielen ist Georg Rodolf Weckherlins Gedicht Ueber den frühen tod etc. Fräuleins Anna Augusta Marggräfin zu Baden etc. „Dein leben, dessen end uns plaget,/ war wie ein tag, schön und nicht lang,/ wie ein stern vor des tags aufgang,“ heißt es zu Anfang der ersten Strophe, dann
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Bibliographische Nachweise zu den Zitaten finden sich in einer luziden Studie, die die Rezeptionsgeschichte der ‚Todeslitanei‘ akribisch verfolgt, vgl. Holger Helbig: Herr von Kleist und Frau Vogel beschließen ihren Tod und verwirren die Wissenschaft. Der Briefwechsel zwischen Heinrich von Kleist und Henriette Vogel als philologische GrenzSituation. In: Dorothea Lauterbach u. a. (Hg.): Grenzsituation. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur. Göttingen 2002. S. 107–130. Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 12. München 1984. Sp. 1071. Zur spezifischen Modernität literarischer Listen vgl. Sabine Mainberger: Die Kunst der Aufzählung. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. Berlin 2002.
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geht es „etc.“, also mit vielen weiteren Vergleichen, weiter, bis die letzte Strophe zusammenfasst: Also dein leben, schnell verflogen,/ hat sich nicht anderst, dan ein tag,/ stern, morgenröt, seufz, nebel, klag,/ staub, thau, luft, schnee, blum, regenbogen,/ zweig, schaur, eis, glas, blitz, wasserfall,/ stral, stim, gelächter, widerhall,/ zeit, traum, flug, schat und rauch verzogen.27
Weckherlins Summationsschema ist kein Widerhall des Lebens einer berühmten Markgräfin, der Dichter legt keinen Wert darauf, die Dahingeschiedene als Einmalige, Unverwechselbare darzustellen, es geht ihm in seiner Vergleichsreihe einzig und allein um die Demonstration der Vergänglichkeit alles Irdischen. Kleists und Henriettes Todeslitaneien fehlt das memento mori wie jede christlicher Sinngebung, sie taugen auch schlecht als Epitaphe, geben weder ein rundes Bild des Individuums noch ein Bild des Ganzen. In ihren Namensanrufen dominiert das Einzelwort, Dekontextualisierung ist das Prinzip ihrer Reihung, nicht Kontextualisierung. Verbindlich ist nichts, beliebig in den Permutationen und unabschließbar alles. So entstehen bunte Listen, die an literarische Taxonomien in der Moderne erinnern, in denen sich Menschen und Eigenschaften voneinander lösen oder Einordnungen fragwürdig werden wie bei Jorge Luis Borges, der „eine gewisse chinesische Enzyklopädie“ zitiert, nach der sich die Tiere [...] wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.28
Kleists Inszenierung seines Todes ist ein letztes Experiment, ein Rechenkunststück an der Schwelle zum Unberechenbaren. Der sinnfälligste Ausdruck dafür ist die Todeslitanei, die durch ihre Listenform gleichfalls paradox ist in der Verschränkung von Ökonomie und Anökonomie des Opfers. Das Wort Liste meint nicht nur ein Verzeichnis aus Worten, es ist etymologisch abgeleitet von althochdeutsch lista. Das ist ein „schmaler, bandförmiger streifen“,29 d. h. eine Leiste, ein Saum, eine Borte; im Falle Kleists und Henriettes ein Streifen aus Worten zwischen Diesseits und
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Georg Rodolf Weckherlin: Ueber den frühen tod Fräuleins Anna Augusta Marggräfin zu Baden. In: Deutsche Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Bd. 5. Gedichte von Georg Rodolf Weckherlin. Hg. v. Karl Goedeke. Leipzig 1873. S. 106 f. Jorge Luis Borges: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur. München 1966. S. 212; bekanntlich verdankt sich Michel Foucaults Die Ordnung der Dinge (Frankfurt/M. 1971, hier S. 17) dem „Erstaunen über diese Taxonomie“. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 12 (Anm. 25), Sp. 1069.
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Günter Blamberger
Jenseits, mit dem ein Leben umgrenzt und entgrenzt wird. Demonstriert wird in der Todeslitanei, einprägsam auch für jeden Biographen, die Unzulänglichkeit allen Benennens, Begreifens und Ordnens, und zugleich ist sie ein Versuch, sich spielerisch einen Namen zu machen. Ein Wort sticht aus Kleists Liste nämlich hervor, weil es die Zeitlichkeit seines Lebens überschreitet: „m Nachruhm“ (S. 111) nennt er Henriette und entlarvt damit den futurischen Charakter seines Todesprojekts. Wer so monströs wie Kleist als Subjekt aus der Geschichte verschwindet, taucht irgendwann als Objekt von Geschichten wieder auf, erreicht Aufmerksamkeit in Nachrufen, Erzählungen und in der Historiographie. So paradox funktioniert hier die Ökonomie des Selbstopfers. Sie zwingt der Nachwelt eine Form des Eingedenkens auf, die effektiv ist, weil alles andere als harmlos, insofern sie Erinnerungsbilder eingraviert in die Wachstafeln der Seele und des Körpers, damit sie lebendig bleiben. Kleists Versuch einer Präformierung seines Autorbildes für die Nachwelt zeitigte allerdings erst 1911 Erfolg, im Zuge der Würdigungen zum 100. Todestag. 1811 erregte sein Selbstmord das Aufsehen der Zeitgenossen, sorgte aber nicht für das erhoffte Verständnis von Person und Werk. Die Abschiedsbriefe blieben zunächst wirkungslos, Kleists Briefwerk wurde ab 1848 in Teilen veröffentlicht, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Vielzahl von Ausgaben,30 als der radikale, gegenklassische Kleist von den Autoren der Moderne als „Vorfechter der Moderne“ entdeckt wurde.31
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Zu der Geschichte der Briefausgaben vgl. Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 4 (Anm. 3), S. 1159–1163. So nannte Adam Müller seinen Freund Kleist in einem Brief vom 6. Februar 1806 an Friedrich von Gentz. Sembdner: Lebensspuren (Anm. 2), Nr. 226, S. 184–187.
Auguste Gräfin Bernstorff-Stolberg an Johann Wolfgang von Goethe, 15./23. Oktober 1822 B: d: 15t: October 1822. Würden Sie, wenn ich mich nicht nennete, die Züge der Vorzeit, die Stimme die Ihnen sonst willkommen war, wieder erkennen? nun ja ich bins – Auguste – die Schwester der so geliebten, so heiß beweinten, so vermißten Brüder Stolberg. Könten doch diese aus der Wohnung ihrer Seeligkeit, von dort wo sie den schauen, an den sie hier glaubten – könten doch diese, mit mir vereint, Sie bitten: „Lieber Lieber Goethe, suchen Sie den, der sich so gerne finden läßt, glauben Sie auch an den, an den wir unser Lebe lang glaubten“ die seelig Schauenden würden hinzu fügen, „den wir nun schauen!“ und ich sage: „der das Leben meines Lebens ist, das Licht in meinen trüben Tagen, und uns allen dreyen, Weg, Wahrheit, u Leben, unser Herr, und unser Gott, war.“ u nun, ich rede auch im Nahmen der Verklärten Brüder die so oft den Wunsch mit mir aussprachen: „Lieber Lieber Goethe, Freund unsrer Jugend! Genießen auch Sie das Glük, waß schon im irrdischen Leben uns zu Theil ward, Glaube, Liebe, Hofnung! Und die Vollendeten setzen hinzu: „Gewißheit, und ewiger seeliger Frieden harrt denn auch deiner hier“ – Ich lebe zwar nur noch in Hofnung deßen waß Zukünftig ist, aber in seeliger Hofnung die mir so zur Gewißheit geworden ist, daß ich Mühe habe, die unendliche Sehnsucht darnach zu stillen – Ich las in diesen Tagen wieder einmal alle Ihre Briefe nach – the Songs of other times – die Harfe von Selma ertönte – Sie waren der kleinen Stolberg sehr gut – und ich Ihnen auch so herzlich gut – das kan nicht untergehen – muß aber für die Ewigkeit bestehen – diese unsre Freundschaft – die Blüthe in unsrer Jugend, muß Früchte für die Ewigkeit tragen, dachte ich oft – u so ergrif es mich beym Lesen Ihrer Briefe, u so nahm ich die Feder – Sie bitten mich einmal in Ihrem Briefe, „Sie zu retten“ – nun maaße ich mir wahrlich nichts an, aber so ganz Einfältigen Sinns bitte ich Sie, retten Sie sich selbst. nicht wahr Ihre Bitte giebt mir dazu einiges Recht? – u ich bitte Sie immer, hören Sie in meinen Worten, die Stimme, meiner Brüder, die Sie so herzlich liebten – Ich habe denn meinen Wunsch, meinen dringenden Wunsch ausgesprochen, den ich so oft wollte laut werden lassen: o ich bitte, ich flehe Sie Lieber Goethe! abzulaßen, von allem waß die Welt, Kleines, eitles, Irrdisches, u nicht gutes hat – Ihren Blik, u Ihr Herz zum Ewigen zu wenden – Ihnen ward viel gegeben, viel anvertraut. wie hat es mich oft geschmerzt, wenn ich in Ihren Schriften fand, wodurch Sie so leicht andern Schaden zu fügen – o machen Sie das gut, weil es noch Zeit ist – Bitten Sie um höhern Beystand, u er wird Ihnen, so wahr Gott ist, werden – Ich dachte oft, ich
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Auguste Bernstorff-Stolberg u. J. W. v. Goethe, 15./23.10.1822 u. 17.4.1823
könte nicht ruhig sterben, wenn ich nicht mein Herz so gegen den Freund meiner jugend, ausgeschüttet hätte – u ich denke ich schlafe ruhiger darum ein, wenn mein Stündlein schlägt – die jahre nicht nur, sondern viel früher haben, unsägliche Leiden, meine Haare schnee weiß gebleicht – aber nie wankte in mir das feste Vertrauen zu Gott, u die Liebe zu meinem Erlöser – bey allem waß mich traf, tönte es tief, u stark in meinem Innern: „Der Herr hat alles wohl gemacht! – Der Gott meiner jugend, ist auch der Gott meines Alters – Als wir uns schrieben, war ich eins der glüklichsten Geschöpfe auf Erden, wie reich war ich! früh durch die besten Eltern – Geliebt von den besten Geschwistern – später, das Geliebte Weib des Mannes meines Herzens – Mutter der besten Kinder – aber welche Trübsale wurden mir zu Theil – der einzig von mir gebohrne Knabe – ein Kind von 4 jahren, der die wonne der Eltern, u der Stolz der Mutter war – ich sage nicht daß ich ihn verlohr – waß für ihn Gewinn war, sah mein Mutter-Herz nie als Verlust an – er gewann den Himmel, u nur mir ward der unsägliche Schmerz zu Theil – u so konte ich selbst im heißen Schmerz, Gott danken. und später verlohr ich den Angebeteten Gatten – O dieß war noch ein ganz neuer, eigener, mit nichts zu vergleichender Schmerz – mir blieben noch die lieben Geschwister. Ach die herrlichen, die unaussprechlich Geliebten Brüder! Ein Sturm riß den jüngern hin – u zerstörte, die vorher noch jugend volle Lebenskraft des Ältern – durch diesen doppelten, so schnell aufeinander folgenden Verlust, fühle ich mich, wie aufs neue verwaißt – aber dennoch preise ich Gott – Ich finde sie ja alle wieder – Eltern, Geschwister, Freunde, Kinder, u den Geliebten Gatten – So gerne nähme ich auch die Hofnung mit hinüber, Sie Lieber Goethe, auch einst da kenen zu lernen – Noch Einmal bitte ich Sie – schlagen Sie es der nicht ab, die Sie einst Freundin, Schwester, nannten – Ich bete für Sie, dass Sie es ganz erfahren mögen, wie freundlich, u gütig der Herr ist, wie glüklich die auf Ihn trauen. Bitte laßen Sie dieß unter uns bleiben – wollen Sie mir antworten? Ich mögte wißen wo Sie sind, waß Sie treiben. Ich lebe meistens still auf dem Lande – eine liebe Enkelin, Tochter meines jüngsten Sohnes ist bey mir – sie ist 13 jahr – meine Liebe, u meine Freude. Ich reiche Ihnen freundschaftlich meine Hand. Ihr Andenken ist nie in mir erloschen, u meine Theilnahme für Sie immer Lebendig geblieben – meine Wünsche für Ihr wahres wohl, auch. Manches betrübte mich oft – Ich will so lange ich lebe, noch recht für Sie beten – mögten Sie sich doch darin noch recht mit mir vereinigen – Mein Erlöser ist ja auch der Ihrige, es ist auch in keinem andern Heil, u Seeligkeit zu finden. Ob Sie wohl noch an mich dachten? Bitte schreiben Sie ein paar Worte an Auguste Bernstorff-Stolberg. meine Adresse ist. In Bordesholm, durch Hamburg.
Auguste Bernstorff-Stolberg u. J. W. v. Goethe, 15./23.10.1822 u. 17.4.1823
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d: 23 st: Sie bitten mich in einem Ihrer Briefe, nachdem Sie lange geschwiegen hatten: „den Alten Faden wieder anzuspinnen, es sey diß ja ohnehin ein Weibliches Geschäft.“ Da ist er denn wieder angesponnen, und o! möge er sich denn nun biß in die Ewigkeit hineinspinnen! – So leben Sie denn wohl, u verkennen Sie meine Absicht nicht – Laßen Sie, ich bitte Sie, diß ganz unter uns bleiben –
Johann Wolfgang von Goethe an Auguste Gräfin BernstorffStolberg, 17. April 1823 Von der frühsten, im Herzen wohlgekannten, mit Augen nie gesehenen theuren Freundin endlich wieder einmal Schriftzüge des traulichsten Andenkens zu erhalten war mir höchst erfreulich-rührend; und doch zaudere ich unentschloßen, was zu erwiedern seyn möchte. Laßen Sie mich im Allgemeinen bleiben, da von besondern Zuständen uns wechselseitig nichts bekannt ist. Lange leben heißt gar vieles überleben, geliebte, gehaßte, gleichgültige Menschen, Königreiche, Hauptstädte, ja Wälder und Bäume, die wir jugendlich gesäet und gepflanzt. Wir überleben uns selbst und erkennen durchaus noch dankbar, wenn uns auch nur einige Gaben des Leibes und Geistes übrig bleiben. Alles dieses Vorübergehende laßen wir uns gefallen; bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegenwärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit. Redlich habe ich es mein Lebelang mit mir und andern gemeint und bey allem irdischen Treiben immer aufs höchste hingeblickt; Sie und die Ihrigen haben es auch gethan. Wirken wir also immerfort so lang es Tag für uns ist, für andere wird auch eine Sonne scheinen, sie werden sich an ihr hervorthun und uns indeßen ein helleres Licht erleuchten. Und so bleiben wir wegen der Zukunft unbekümmert! In unseres Vaters Reiche sind viel Provinzen und, da er uns hier zu lande ein so fröhliches Ansiedeln bereitete, so wird drüben gewiß auch für beyde gesorgt seyn; vielleicht gelingt alsdann was uns bis jetzo abging uns angesichtlich kennen zu lernen und uns desto gründlicher zu lieben. Gedenken Sie mein in beruhigter Treue. Vorstehendes war bald nach der Ankunft Ihres lieben Briefes geschrieben, allein ich wagte nicht es wegzuschicken, denn mit einer ähnlichen äuße-
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Auguste Bernstorff-Stolberg u. J. W. v. Goethe, 15./23.10.1822 u. 17.4.1823
rung hatte ich schon früher Ihren edlen, wackern Bruder wider Wissen und Willen verletzt. Nun aber, da ich von einer tödtlichen Krankheit ins Leben wieder zurückkehre, soll das Blatt dennoch zu Ihnen, unmittelbar zu melden: daß der Allwaltende mir noch gönnt das schöne Licht seiner Sonne zu schauen; möge der Tag Ihnen gleichfalls freundlich erscheinen und Sie meiner im Guten und Lieben gedenken, wie ich nicht aufhöre mich jener Zeiten zu erinnern wo das noch vereint wirkte was nachher sich trennte. Möge sich in den Armen des allliebenden Vaters alles wieder zusammen finden. Weimar den 17. Aprl. 1823. wahrhaft anhänglich Goethe. Text des Briefes von Auguste Gräfin Bernstorff-Stolberg: nach dem Original im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (GSA 28/192). Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar. Text des Briefes von Johann Wolfgang von Goethe: nach dem Original im Freien Deutschen Hochstift Frankfurt am Main. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt am Main.
Auguste Gräfin Bernstorff-Stolberg an Johann Wolfgang von Goethe, 15./23. Oktober 1822
Johann Wolfgang von Goethe an Auguste Gräfin Bernstorff-Stolberg, 17. April 1823
Briefkuvert, Rück- und Vorderseite
Jochen Golz
Ein Dialog der Konfessionen? Zu einem Briefwechsel zwischen Auguste Gräfin Bernstorff-Stolberg und Goethe in den Jahren 1822 und 1823 Nach Charakter und Umfang bildet Goethes Korrespondenz ein singuläres Phänomen. Ein talent épistolaire gibt sich schon im Brief des Vierzehnjährigen an Ludwig Ysenburg von Buri zu erkennen, in dem der junge Poet um Aufnahme in eine Geheimgesellschaft ersucht und ein auf Wirkung bedachtes Porträt seiner selbst entwickelt. Wenige Tage vor seinem Tod, am 17. März 1832, diktiert Goethe seinen letzten Brief – ein Zeugnis Distanz wahrender Altersweisheit – an Wilhelm von Humboldt. Beide Briefe hat Albrecht Schöne zum Gegenstand Maßstab setzender Studien gemacht.1 In diesem weit gespannten Lebensrahmen entstand ein Briefwerk, dessen Umfang gewaltig war, dessen tatsächliche Größe der lückenhaften Überlieferung wegen nur schwer zu überblicken ist. Das am Goethe- und Schiller-Archiv (GSA) entstandene elektronische Repertorium der Goethe-Briefe verzeichnet etwa 15.000 faktisch überlieferte Briefe, doch dürfte die Zahl der tatsächlich geschriebenen weitaus höher und möglicherweise auf annähernd 25.000 zu beziffern sein. Als ungefähre Vergleichszahl kann die Summe der Briefe an Goethe gelten, von denen heute noch etwa 21.000 (davon ca. 20.000 im GSA) überliefert sind. Wenn man ins Kalkül zieht, dass Goethe im Laufe seines Lebens mehrere Autodafés unter den an ihn gerichteten Briefen veranstaltet hat und erst zu einem Zeitpunkt, als sein autobiographisches Projekt Gestalt annahm, eine eigene Registratur der An-Briefe anlegen und sie fortan als Substrat „aus meinem Leben“ sorgfältig archivieren ließ, dann lässt sich ermessen, dass die Zahl der Briefe, die an ihn gerichtet waren und die er vermutlich auch zumeist beantwortet hat, weitaus höher als 21000 gewesen sein muss.2 Die gleiche archivische Sorgfalt, die Goethe der An-Korrespondenz angedei-
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Vgl. Albrecht Schöne: Soziale Kontrolle als Regulativ der Textverfassung. Über Goethes ersten Brief an Ysenburg von Buri. In: Alexander Bormann (Hg.): Wissen aus Erfahrung. Werkbegriff und Interpretation heute. Tübingen 1976. S. 217–241; Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Der letzte Brief. In: Wilfried Barner (Hg.): Querlektüren. Weltliteratur zwischen den Disziplinen. Göttingen 1997. S. 106–123. Vgl. dazu im Einzelnen: Sabine Schäfer: Zur Erschließung der Registratur der bei Goethe eingegangenen Briefe. In: Karl-Heinz Hahn (Hg.): Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte. Studien. Weimar 1991. S. 85–107.
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Jochen Golz
hen ließ, wurde auch der eigenen Korrespondenz zuteil. In der Regel diktierte er seine Briefe, sah das entstandene Konzept durch, nahm in wechselnder Häufigkeit inhaltliche Korrekturen im Konzept vor und fügte der danach entstehenden ‚behändigten Ausfertigung‘ eigenhändig Grußformel und Unterschrift hinzu. Die ausschließlich diktierten Konzepte wanderten in die Registratur der ‚ausgegangenen Briefe‘, die in Gestalt von 54 Heften (für die Korrespondenz seit 1807) im GSA überliefert ist, und da heutzutage längst nicht mehr alle Ausfertigungen überliefert sind, müssen Goethes Briefe nicht selten nach den Konzepten ediert werden. Goethes Briefe entstehen in einer Zeit, da sich der Wandel vom Briefstil der Aufklärung, wie er von Gellert kodifiziert worden war, hin zum romantischen Brief vollzieht, in dem dieser Werkstatus gewinnt.3 Goethe partizipiert an dieser Entwicklung, schlägt aber einen eigenen Weg ein. Der Leipziger Student wird seiner Schwester Cornelia Gellerts Grundsätze ans Herz legen. „Mercke diß: schreibe nur wie du reden würdest, und so wirst du einen guten Brief schreiben“, heißt es in seinem Brief vom 6. bis 10. (?) Dezember 1765.4 In der Vorrede zum Sammelwerk Winkelmann und sein Jahrhundert hat Goethe seine bündigste Definition des Briefes gegeben: Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann. Lebhafte Personen stellen sich schon bei ihren Selbstgesprächen manchmal einen abwesenden Freund als gegenwärtig vor, dem sie ihre innersten Gesinnungen mittheilen, und so ist auch der Brief eine Art von Selbstgespräch. Denn oft wird ein Freund, an den man schreibt, mehr der Anlaß als der Gegenstand des Briefes. Was uns freut oder schmerzt, drückt oder beschäftigt, lös’t sich von dem Herzen los, und als dauernde Spuren eines Daseins, eines Zustandes sind solche Blätter für die Nachwelt immer wichtiger, je mehr dem Schreibenden nur der Augenblick vorschwebte, je weniger ihm eine Folgezeit in den Sinn kam.5
Im Konkreten legt Goethes Korrespondenz davon Zeugnis ab, dass neben dem Charakter des epistolaren Selbstgesprächs der dialogische Charakter des Briefes gleichermaßen Geltung beansprucht. Seine Korrespondenz umschließt einen Reichtum von Ausdrucksmöglichkeiten, der ohne Beispiel ist, bezieht sie doch den ganzen Spielraum des Menschlichen ein. An Albrecht Schönes Studien zu einzelnen Goethe-Briefen ist abzulesen, wie der Autor sich auf seine Korrespondenzpartner einzustellen weiß, wie behutsam er den Ton des Briefes wählt, stets Rücksicht nimmt auf die
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Vgl. Wolfgang Bunzel: Schrift und Leben. Formen der Subversion von Autorschaft in der weiblichen Briefkultur um 1800. In: Jochen Strobel (Hg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006. S. 157–176. Johann Wolfgang Goethe an Cornelie Goethe, 6. Dez. 1765. In: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. IV, Goethes Briefe. Bd. 1. 1764–1771. Weimar 1887. S. 22. Johann Wolfgang Goethe: Winkelmann. In: Ebd. Abt. I. Bd. 46. Weimar 1891. S. 11 f.
Auguste Bernstorff-Stolberg u. J. W. v. Goethe, 15./23.10.1822 u. 17.4.1823
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soziale, kulturelle und psychische Befindlichkeit des Briefpartners.6 Langjähriger Austausch mit Briefpartnern, zu nennen wären vor allem die Briefwechsel mit Schiller und Zelter, besitzt dabei einen eigenen Status. Angesichts des Reichtums der Überlieferung fällt die Auswahl eines zu interpretierenden Briefes besonders schwer. Gerade für Goethe scheint mir die Berücksichtigung des Bezugsbriefes in vielen Fällen unerlässlich zu sein. Hält man an diesem Grundsatz fest, dann kommen – von den häufig interpretierten Briefwechseln mit Schiller und Zelter einmal abgesehen – vor allem Briefe aus Goethes späteren Lebensjahren in Betracht. Für mich liegt ein exemplarisches Zeugnis für einen Briefdialog in den beiden Briefen vor, die zwischen Auguste Louise Gräfin Bernstorff-Stolberg und Goethe 1822/23 gewechselt wurden.7 Diesen Briefen kommt insofern ein Ausnahmestatus zu, als sie eine Korrespondenz wieder aufnehmen, die ihren Höhepunkt im Jahre 1775 hatte. Heinrich Christian Boie hatte den Kontakt zwischen Goethe und den Brüdern Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg gestiftet, und in die sich entwickelnde Beziehung wurde bald auch die Schwester Auguste einbezogen, die, im fernen Kloster Uetersen nordwestlich von Hamburg als Konventualin lebend, das Briefschreiben zu ihrer Passion erklärt hatte; ihre Briefe an Goethe aus jener Zeit sind nahezu vollständig einem Autodafé des Empfängers zum Opfer gefallen. Erhalten haben sich hingegen Goethes Briefe (heute im Freien Deutschen Hochstift), und es sind die unmittelbarsten und wahrhaftigsten, die er damals geschrieben hat. Das Paradoxon ist am Platz, dass gerade die räumliche Entfernung von der Briefpartnerin, die Goethe niemals im Leben zu Gesicht bekam, die Offenheit des Brieftons möglich gemacht hat. Zutreffend ist Augustes Rolle von Jürgen Behrens als Beichtigerin Goethes charakterisiert worden.8 Ihr gegenüber legt er Zeugnis ab von seiner im Privaten wie im Sozialen unsicheren Situation in Frankfurt, aus der er hinaus strebt, ihr berichtet er vom befreienden Wechsel nach Weimar; doch bald nimmt Charlotte von Stein jene Rolle ein, die „Gustgen“ gespielt hatte. Goethes Briefe werden seltener und bewegen sich zusehends in den Bahnen hergebrachter Höflichkeit, bevor die Korrespondenz 1782 ganz erlischt.
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Vgl. exemplarisch dafür: Albrecht Schöne: Versuch über Goethesche Humanität / Oder / Zum Gebrauch des Konjunktivs Plusquamperfekt in einem Brief an Johann Friedrich Krafft. In: Gerald Gillespie u. Edgar Lohner (Hg.): Herkommen und Erneuerung. Essays für Oskar Seidlin. Tübingen 1976. S. 103–126. Den vollständigen Briefwechsel hat Jürgen Behrens zugänglich gemacht. Johann Wolfgang Goethe: Briefe an Auguste Gräfin zu Stolberg. Hg. v. Jürgen Behrens. Frankfurt/M., Leipzig 1995. Vgl. ebd., S. 83–103.
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Nunmehr also, nach knapp 50 Jahren, nimmt Auguste Stolberg, seit 1797 verwitwete Gräfin Bernstorff, den Korrespondenzfaden wieder auf. Über ihre Motive bleiben wir letztlich im Unklaren, nicht zuletzt deshalb, weil über ihre späten Lebensjahre in Bordesholm – sie starb 1835 im Alter von 82 Jahren in Kiel – kaum verlässliche Zeugnisse existieren.9 Soviel aber scheint sicher, dass die Briefschreiberin, mehr denn je einem Pietismus spezifisch norddeutscher Prägung hingegeben, die Entfremdung zwischen Goethe und (vor allem) ihrem Bruder Friedrich Leopold entweder nicht zur Kenntnis genommen oder bewusst verdrängt hatte. Ihre Selbstpräsentation am Anfang – „Schwester der so geliebten, so heiß beweinten, so vermißten Brüder Stolberg“ – bezieht sich zum einen auf ihr eigenes Verhältnis zu den Geschwistern, setzt aber andererseits stillschweigend voraus, dass Goethe ähnliche Gefühle hegen wird. Verborgen geblieben waren ihr offenkundig die Xenien auf Friedrich Leopold, die dessen Frömmlertum attackiert hatten.10 In mehrfacher Hinsicht fällt die fromme Gräfin eigener Illusion zum Opfer, darin z. B., dass sie eine psychosoziale Harmoniegesinnung zwischen Goethe und ihren Brüdern konstruiert, damals schon auftretende, von Goethe später scharfsichtig diagnostizierte Differenzen im Weltverhältnis außer acht lässt. So fügt sie die eigene Stimme und die ihrer toten Brüder zu einem beinahe chorischen Bittgesang zusammen; die in Anführungszeichen gesetzte Rede mündet in „Glaube, Liebe, Hofnung“ und „ewige[n] seelige[n] Frieden“ (S. 125) – Verheißungen, die Goethe zuteil werden sollen. Dem dringlichen Appell folgt eine autobiographische Reminiszenz aus der Substanz gemeinsamer Erinnerung, die die eingangs ausgesprochene Mahnung bekräftigen soll. Der Einstieg ist nicht ungeschickt gewählt und liefert zugleich ein Motiv, warum die Gräfin just zu jenem Zeitpunkt an Goethe schrieb. Beim täglichen Lektürepensum, so hält sie fest, seien ihr Goethes Briefe in die Hände gefallen – „the Songs of other times“ (S. 125) (Auguste war eine gute Kennerin der englischen Literatur, die sie im Original las) –, Ossian-Stimmung wird beschworen. Das Hauptargument für ihren (nunmehr im zweiten Anlauf unternommenen) Bekehrungsversuch gewinnt sie aus ihrer einstigen Rolle als Goethes Nothelferin, wie sie sich in dessen Brief vom 14. September 1775 dokumentiert:
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Vgl. ebd., S. 83–103. Vgl. den einschlägigen Kommentar in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2 II A. Gedichte. Hg. v. Georg Kurscheidt u. Norbert Oellers. Weimar 1991. S. 497 f. Heftig hatte Goethe auf Stolbergs Übersetzung Auserlesene Gespräche des Platon (1795–1797) reagiert, in dem dieser Plato zu einem Vorläufer des Christentums erklärte. Goethes polemische Entgegnung Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung. (Im Jahre 1796 durch eine Übersetzung veranlaßt) wurde allerdings erst aus seinem Nachlass veröffentlicht, konnte der Schreiberin also nicht bekannt sein.
Auguste Bernstorff-Stolberg u. J. W. v. Goethe, 15./23.10.1822 u. 17.4.1823
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„Hören Sie, ich hab immer eine Ahndung, sie werden mich retten, aus tiefer Noth, kanns auch kein Weiblich Geschöpf als Sie.“11 Auguste zitiert die Kernstelle aus jenem Brief und richtet die flehentliche Bitte an ihn, „Blik“ und „Herz zum Ewigen zu wenden“ (S. 125). Im Folgenden, und nur an dieser Stelle, wird explizit – freilich in der Sprache christlicher Barmherzigkeit – Kritik an Goethe laut, der anderen „Schaden“ zugefügt habe; die Mahnung zur Umkehr folgt auf dem Fuße: „o machen Sie das gut, weil es noch Zeit ist“ (S. 125). In gut pietistischer Gesinnung hält die Gräfin im dritten Teil Rückschau auf ihr Leben, und auch dieser Abschnitt mündet in einen Bekehrungsversuch. Alle Schicksalsschläge haben sie nicht in ihrem persönlichen Gottvertrauen erschüttern können, und so betet sie für Goethe, „dass Sie es ganz erfahren mögen, wie freundlich, u gütig der Herr ist, wie glüklich die auf Ihn trauen“ (S. 126). Hält man freilich ihre realen Lebensumstände gegen die Schilderung im Brief, so ist in reichem Maße verklärende Erinnerung oder, schärfer formuliert, frommer Selbstbetrug im Spiele. Harmonisch blieben stets die Beziehungen zu ihren Geschwistern, das Verhältnis zur Mutter hingegen – der Vater starb früh – war konfliktgeladen, was nicht zuletzt auch beider exzentrischem Temperament zuzuschreiben war. Die 1783 geschlossene Ehe mit dem Grafen Bernstorff war eine reine Vernunftheirat, in der Auguste nach dem Tod ihrer Schwester Henriette im Jahre 1782 – 1762 war diese die Ehefrau des Grafen Bernstorff geworden – Mutterpflichten für deren neun Kinder übernommen hatte. Im letzten Abschnitt des Briefes, in dem die Gräfin knapp von ihren gegenwärtigen Lebensumständen berichtet, wechselt sie in einen persönlichen, vertraulichen Ton. Ihre Eingangsformel – „Bitte laßen Sie dieß unter uns bleiben“ (S. 126) – gibt zu erkennen, dass sie in der brieflichen Zwiesprache dem jeweils persönlichen Gottesverhältnis, das keine Einwirkung von außen zulässt, größten Wert beimisst. Verglichen mit der Feierlichkeit der zuvor abgelegten eigenen Lebensbeichte, besitzen die letzten Sätze des Briefes einen schlichten, zu Herzen gehenden Duktus; der abschließenden rührenden Bitte um Antwort würde sich Goethe, so ihre unausgesprochene Hoffnung, nicht verschließen können. Im Äußeren ist der Brief das Abbild einer in sich gefestigten Persönlichkeit. Einen Viertelbogen von guter Papierqualität hat die Gräfin mit schwarzer Tinte voll beschrieben, die abschließende Adresse musste etwas gedrängt noch auf dem unteren Rand der vierten Seite untergebracht werden. Der Duktus der Handschrift ist gleichmäßig klar und großlinig, grei-
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Goethe: Briefe an Auguste Gräfin zu Stolberg (Anm. 7), S. 28.
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senhafte Schwäche wird nirgendwo sichtbar. Gelegentlich ist ein vergessenes Wort über der Zeile eingefügt oder ein Wort ausgetauscht worden, auch finden sich Streichungen von Wortansätzen oder ganzen Worten im laufenden Text. Auf die Fleckenlosigkeit einer ‚behändigten Ausfertigung‘ legte die Schreiberin offenbar wenig Wert. Bemerkenswert ist zudem, dass Anrede, Grußformel und Unterschrift fehlen, bemerkenswert aber ist vor allem, dass dem Brief auf einem dritten Blatt am 23. Oktober ein Nachtrag hinzugefügt wurde. Die Vermutung liegt nahe, dass der frommen Gräfin Zweifel gekommen waren, der Empfänger könne ihre Absichten falsch auslegen. So nimmt sie Zuflucht zu einem weiteren Zitat aus Goethes Briefen – diesmal zu dem vom 3. Juni 1780 –, wo es im Original heißt: „[…] und knüpfen Sie wenn Sie mögen den alten Faden wieder an, es ist ia dies sonst ein weiblich Geschäfft“.12 Ihre eigene Paraphrase der Briefstelle soll den Brief in doppelter Hinsicht legitimieren, als Begründung für die Wiederaufnahme der Korrespondenz überhaupt und, wichtiger noch, als Rechtfertigung ihrer (lauteren) Bekehrungsintention. Fast gewinnt man den Eindruck, als ob die Gräfin sich mit dem Nachtrag von einer inneren Last befreit hätte; ihre Schrift wird freier und großzügiger. Der am Schluss wiederholte dringliche Appell – „Laßen Sie, ich bitte Sie, diß ganz unter uns bleiben“ (S. 127) – korrespondiert – wohl unbeabsichtigt – mit jenem Satz, den Goethe unter seinen Brief an Gustgen vom 3. August 1775 setzte: „Lassen Sie um Gottes willen meine Briefe niemand sehn.“13 Legt man die damaligen postalischen Regularien zugrunde, so wird Goethe der Brief der Gräfin spätestens nach 14 Tagen zugestellt worden sein. Seine Antwort aber ließ auf sich warten, und sie nahm in den nächsten Monaten etappenweise Gestalt an, von der die im GSA erhaltenen Konzepte von der Hand Johns Zeugnis geben.14 Das erste Konzept entstand der handschriftlichen Überlieferung zufolge wahrscheinlich zwischen dem 18. und 23. Januar 1823; es weist Korrekturen teils mit Tinte, teils mit Bleistift und dann mit Tinte nachgezogen, von Goethes Hand auf, die sich meist über der Zeile, hingegen auch am Zeilenrand finden. An eine Ausfertigung war zunächst nicht zu denken, weil eine bald darauf einsetzende Herzbeutelentzündung Goethe an den Rand des Todes brachte. Frühestens Ende März 1823 wird das zweite Konzept entstanden
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Ebd., S. 53. Ebd., S. 27. Sie finden sich im GSA unter den „abgegangenen Briefen“ (GSA 29/29); wie gewöhnlich auf halbbrüchig beschriebenen Bogen (hier aus grüngrauem Papier); der erste Teil umfasst im Konzept zwei Seiten, der zweite eine Seite.
Auguste Bernstorff-Stolberg u. J. W. v. Goethe, 15./23.10.1822 u. 17.4.1823
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sein, das keine handschriftlichen Korrekturen aufweist; die Ausfertigung des vollständigen Briefes ist auf den 17. April 1823 datiert. Johann August Friedrich John, Sekretär Goethes, der bereits nach Diktat des Dichters die beiden Konzepte besorgt hatte, ist auch der Schreiber der Ausfertigung, der Goethe wie sonst häufig auch eigenhändig Schlussformel und Unterschrift hinzugefügt hat. Drei Seiten des überlieferten geschlossenen Doppelblattes sind beschrieben. Eigenhändig hat Goethe unter den ersten Teil des Briefes die Abschlussklammer gesetzt, die inhaltliche Zäsur auch graphisch markierend. Apart und wohl nicht ohne Bedacht gewählt ist das Briefpapier, denn es besitzt als Wasserzeichen ein Profilbild Carl Augusts, von einem Kreis umgeben, der folgendermaßen beschriftet ist: „CARL AUGUST GROßHERZOG VON SACHSEN WEIMAR U EISENACH“. Der gesiegelte Umschlag ist von John und Goethe beschriftet worden. John schrieb die Adresse, dabei getreulich den Anweisungen der Gräfin folgend („Auguste BernstorfStollberg / Gnaden. / frank. Hambg /in Bordesholm /durch Hamburg.“), Goethe gab sich eigenhändig auf der Rückseite als Absender zu erkennen: „JWvG“. Poststempel bezeichnen den Weg des Briefes: Weimar, 17. April, und Hamburg, 23. April. Bei genauerer Betrachtung des Briefes ist zu bemerken, dass John mit dem korrekten Falten des Schriftstücks offenkundig seine Schwierigkeiten hatte. Goethe wird das Schreiben der Gräfin mit innerer Distanz wahrgenommen haben. Zwar besitzt ihr Brief durchaus einen gewissen Alterscharme, doch ist nicht zu verkennen, dass es der Schreiberin an einem Verständnis von Goethes gegenwärtiger Persönlichkeit, das das Bild vom jungen Goethe hätte ersetzen können, entschieden mangelte. Was Goethe damals über den Freundschaftskult seiner Jugend dachte, erschließt sich am ehesten aus jenen Partien des 18. Buches von Dichtung und Wahrheit, die Goethes Reise mit den Grafen Stolberg 1775 in die Schweiz Revue passieren lassen und möglicherweise 1822 oder 1823 entstanden sind. Dort heißt es: Um diese Zeit meldeten sich die Grafen Stollberg an die auf einer Schweitzerreise begriffen bei uns einsprechen wollten. Ich war durch das frühste Auftauchen meines Talents im Göttinger Musenalmanach mit ihnen und sämtlichen jungen Männern, deren Wesen und Wirken bekannt genug ist, in ein gar freundliches Verhältnis geraten. Zu der damaligen Zeit hatte man sich ziemlich wunderliche Begriffe von Freundschaft und Liebe gemacht. […] Das erste heitere Zusammen-
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sein zeigte sich höchst erfreulich, allein gar bald traten exzentrische Äußerungen hervor.15
Die Brüder Stolberg lebten nicht mehr, Friedrich Leopold war 1819, Christian 1821 gestorben. Goethes Befund, damals solche Verhältnisse für „wahrhafte Neigung“ gehalten, „davon viele Jahre auf mehr als eine Weise gelitten“16 zu haben, kann in jedem Falle auf die Brüder Stolberg bezogen werden. „[W]ahrhafte Neigung“ hatte er auch für Auguste an den Tag gelegt, und unverändert bildet „wahrhaft“ (S. 128) einen Bestandteil von Goethes Schlussformel im Brief an die Gräfin. Eben dieses innere Gebot der Wahrhaftigkeit einer hoch zu respektierenden alten Dame von Stand gegenüber, der Goethe beinahe 50 Jahre zuvor rückhaltlos sein Inneres offen gelegt hatte, musste ihn in nicht geringe Verlegenheit setzen. Im schleppenden Fortgang der Briefentstehung und auch in der Suche nach angemessenen Wendungen im ersten Teil des Konzepts spiegelt sie sich wider. Feierlich-getragen, durch die dreifache Attribuierung rhythmisiert, setzt der Brief ein; aus „wohlbekannten“ hat Goethe „wohlgekannten“ (S. 127) korrigiert und dadurch die ferne Adressatin näher an sich herangerückt. „Schriftzüge des traulichsten Andenkens“ (S. 127): Goethe wählt eine Wendung, die den Brief der Gräfin auf seinen Erinnerungswert im Zeichen des einstmaligen Vertrauens zueinander eingrenzt und seinen Bekehrungscharakter unerwähnt lässt. Aufgefangen und erhöht wird diese Aussage durch eine von Goethes charakteristischen Alters-Doppelbildungen: „höchst erfreulich-rührend“ (S. 127) (rührend wohl im Sinne von: menschlich anrührend, bewegend) sei sein Empfinden bei der Brieflektüre gewesen. Doch dem appellativen Bekehrungsgestus des Briefes kann Goethe nicht ausweichen. Während er in nicht wenigen Altersbriefen geradezu eine Strategie der Ich-Vermeidung verfolgt, wählt er hier das offene Bekenntnis – seiner Unentschlossenheit. Das gibt seiner Aussage nur begrenzt den Charakter freimütiger Offenheit, wie sie ihn seine Jugendbriefe an Gustgen besessen hatten; gleichwohl kann sie der Briefpartnerin das Bewusstsein vermitteln, in ihrem Anliegen ernst genommen zu werden. Indes ist das Bekenntnishafte hier ein wohl kalkuliertes Moment. Sogleich zieht sich Goethe aufs ‚Allgemeine‘ zurück, und seine Begründung ist aufschlussreich. Denn er zieht ins Kalkül, dass ein Briefwechsel nur dann zum Dialog im Zeichen von Wahrhaftigkeit werden kann, wenn er kontinuierlich geführt wird; in Goethes Alterskorrespondenz mit Zelter haben
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Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 16. Aus meinem Leben Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Peter Sprengel. München, Wien 1985. S. 763. Ebd.
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wir das sprechendste Beispiel. Mit bedachtsamer Rücksicht gibt Goethe der Gräfin zu verstehen, dass „von besondern Zuständen uns wechselseitig nichts bekannt ist“ (S. 127). Unzweifelhaft trifft das für Goethes Verhältnis zur Gräfin Bernstorff zu, die in ihrem engen pietistischen Zirkel gelebt und niemals die literarische Öffentlichkeit gesucht hatte. Unausgesprochen ist darin aber auch eine Zurückweisung all jener Mutmaßungen über Goethes Schriften und Charakter enthalten, wie sie die fromme Gräfin in ihrem Brief besorgt artikuliert hatte. Sie haben mich zwar gelesen, will Goethe sagen, aber mein Wesen ist ihnen verborgen geblieben. Was Goethe im folgenden Abschnitt entwickelt, ist so etwas wie eine auf höchstem Niveau abstrahierende, auf letzte Formeln dringende Lebensüberschau und Lebensbilanz. Hier ist Walter Benjamins Formulierung von Goethe „als Kanzlist des eigenen Innern“17 am Platz, hier tritt der Rollencharakter von Schreiber und Leser in seine Rechte. Goethe spricht nicht allein von und für sich, er spricht im Plural, der hier einen Pluralis Concordiae darstellt, der eine Brücke schlagen soll zwischen Schreiber und Leserin. Alles Historische, das dem Menschen zu tragen aufgegeben ist, wird aus dieser Perspektive als ein ‚Vorübergehendes‘ gefasst. Das ‚Wir‘ seiner brieflichen Rede legt Goethe sodann für einen Augenblick auseinander, indem er zunächst von sich spricht, dann aber die Briefpartnerin – zum zweiten Mal – direkt anredet und die „Ihrigen“ (S. 127) einbezieht. Hier geschieht der Brückenschlag auf unmittelbare, versöhnende Gemeinsamkeit stiftende Weise, indem Goethe die eigene Redlichkeit umstandslos auch anderen zuerkennt. Dieses eben konstituierte sittliche Fundament schafft die Voraussetzung, wieder im Plural sprechen zu können. Dabei vermeidet Goethe, wie in seiner poetischen Sprache sonst auch, Begriffe und Konnotationen, die einer Auslegung im Sinne religiöser Konfession direkte Handhabe bieten könnten. Zwar nimmt er die Begrifflichkeit des Bezugsbriefes auf, spricht vom Ewigen und Höchsten, enthält sich aber einer Interpretation im Sinne religiöser Transzendenz. Goethes Lichtmetaphorik, die ihre Substanz nicht zuletzt von seiner Beschäftigung mit der Farbenlehre empfängt, bewegt sich im Bereich des Diesseits und wagt sich nur an dessen Grenzen vor, wenn davon die Rede ist, dass „uns indeßen ein helleres Licht erleuchten“ (S. 127) wird. Zugrunde liegt eine Stelle aus dem Neuen Testament (Matth. 13, 43): „Dann werden die Gerechten leuchten, wie die Sonne in ihres Vaters Reich“, die aber hier ins Diesseitige transformiert wird.
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So in Benjamins Kommentar zu Goethes Brief an Carl Julius Moritz Seebeck vom 3. Januar 1832 in seiner Sammlung Deutsche Menschen; Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Abt. 4. Bd. 1. Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Hg. v. Tillmann Rexroth. Frankfurt/M. 2009. S. 211.
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Goethes hier vorgetragene konzise und gemessene Lebensbilanz ist auf einen Ton ruhiger, im Diesseits beharrender Gewissheit gestimmt. Aus solcher Gewissheit gewinnt er unmittelbar – der beinahe gewaltsame Anschluss „Und so“ (S. 127) im nächsten Briefabschnitt bezeugt es – ein Vertrauen in die Zukunft, das ihn „unbekümmert“ (S. 127) sein lässt. Das ist in deutlicher Abwehr der Sorge der Gräfin um das künftige Schicksal seiner unsterblichen Seele formuliert. Im Folgenden operiert er wiederum mit dem Verfahren, einen Vers des Neuen Testaments in die eigene Gedankenwelt zu transformieren: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“ (Joh. 14, 2). Die fromme Gräfin wird Goethes Bibelfestigkeit dankbar zur Kenntnis genommen haben. Die Jenseitsvorstellung des Neuen Testaments aber wird nicht ernsthaft akzeptiert. Stattdessen zieht Goethe Diesseits und Jenseits in eins, und er tut dies im Zeichen eines Pluralis Concordiae, der beinahe blasphemisch anmutet. Im Grunde stellt seine Behauptung, der himmlische Vater habe „uns […] ein so fröhliches Ansiedeln“ (S. 127) im Diesseits bereitet, für die Adressatin eine Zumutung dar, hatte diese doch in ihrem Brief Zeugnis von eigenen schweren Schicksalsschlägen abgelegt. Goethe wischt das beiseite, und auch die anschließende Tröstung, „drüben“ werde „gewiß auch für beyde gesorgt sein“ (S. 127), hat einen Hauch von leichtfertiger Herzlosigkeit. Und dieser Ton wird nicht verlassen, selbst wenn das Ende dieses Satzes, auf die religiösen Grundsätze der Gräfin direkt replizierend, in „gründliche[…]“ (S. 127) Liebe und in Hoffnung (nicht aber in Glaube) mündet. Das im Leben niemals stattgehabte persönliche Kennenlernen könne „vielleicht“, so lässt Goethe die Briefpartnerin in direkter Replik auf deren Mutmaßung wissen, „drüben“ (S. 127) stattfinden. Hier sehe ich sogar Ironie am Werke, einen spielerisch-verfremdenden Umgang mit zentralen Inhalten der christlichen Glaubenslehre, und fast könnte man auf den Gedanken kommen, Goethe habe seine Partnerin nach der Maxime „Du gleichst dem Geist, den du begreiffst“18 behandelt. An diesem Punkt bricht der Schreiber ab. Geradezu gebieterisch, jede weitere Argumentation abschneidend, klingt der kurze Schlusssatz: „Gedenken Sie mein in beruhigter Treue.“ (S. 127.) Eine doppelte Intention gibt sich darin zu erkennen, für den Seelenfrieden der Schreiberin Sorge zu tragen und sie seiner „Treue“ zu versichern – im Sinne einer geistigen Beständigkeit, deren Konturen vor der Adressatin aber eher verhüllt als offen gelegt werden. Dann aber geschieht etwas Ungewöhnliches, das gewisse Parallelen zur Schreibintention der Gräfin aufweist. Goethe wird möglicherweise beim Überlesen des Geschriebenen bewusst geworden sein, die Briefpart-
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Johann Wolfgang Goethe: Werke (Anm. 4). Abt. I. Bd. 14. Faust. Erster Teil. Weimar 1887. S. 33.
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nerin mit seiner Antwort verletzen zu können. Im Februar und März 1823 war Goethe selbst in Todesgefahr geraten. Eine Herzbeutelentzündung ließ das Schlimmste befürchten. Goethe genas, Lebenszuversicht und Lebensdankbarkeit führen ihm jetzt die Feder, auch und vor allem im zweiten Teil des Briefes, der dann am 17. April in die Ausfertigung mündet. Die leibhaftig erfahrene Nähe des Todes verändert den Duktus des Briefes. An die Stelle einer traktathaften Kundgabe im Pluralis Concordiae, wie sie im ersten Teil vorherrscht, tritt jetzt der unmittelbare Dialog zwischen dem schreibenden Ich und der Leserin; das ‚Wir‘ bleibt ausgespart. Der Ton wird entspannter, lebendiger, vertraulicher. Es hätte im Bereich des Möglichen gelegen, den ersten Teil in der Ausfertigung wegzulassen oder ihm einen anderen Charakter zu geben. Goethe lässt beide Teile bewusst nebeneinander bestehen, ja er macht die Zäsur durch das eigenhändige Trennungszeichen kenntlich. Die Erfahrung des memento mori verleiht dem zuerst Geschriebenen einen existentiellen Ernst, der aus Goethes Sicht die Absendung legitimieren kann. Die eigene Lebenszuversicht, im ersten Teil des Briefes in weisheitsvoll-allgemeine Formeln gekleidet, soll der Briefpartnerin als Erfahrung bestandenen Leidens exemplarisch zuteil werden. In solchem Sinn wird die LichtMetaphorik des ersten Teils umgestaltet, aus einer Perspektive sub specie aeternitatis transformiert in die sinnlich-leibliche, zugleich ästhetisch kodierte Erfahrung des Sonnenlichts als Quelle allen Lebens, in die auch die Briefpartnerin einbezogen wird. Dass Goethe seine wiedergewonnene Lebenszuversicht der Gunst des „Allwaltende[n]“ (S. 128) zuschreibt, fügt sich in seine Überzeugung von der in allem waltenden Gott-Natur, korrespondiert z. B. mit dem Anrufen des „Allumfassers“ und „Allerhalters“19 im Monolog des Faust. Der frommen Gräfin gewährt er die Lizenz, den „Allerhalter“ im christlichen Sinne zu begreifen. Im Zeichen eines „Allwaltenden“ steht auch die – nunmehr wiederholte, als Wunsch formulierte – Gedenkformel; nicht in „beruhigter Treue“ (S. 127) möge die Adressatin seiner gedenken, sondern „im Guten und Lieben“ (S. 128); Goethe versteht darunter eine strikt innerweltliche, die Tätigkeit des Menschen leitende Ethik, doch er stellt es der Gräfin frei, das Gute und Liebe christlich zu ‚supplieren‘. Das hindert ihn nicht, das einstmals Gemeinsame, später Trennende in Erinnerung zu rufen – möglicherweise eine Reminiszenz an die gleichzeitig statthabende Arbeit am vierten Teil von Dichtung und Wahrheit. In gleicher Weise ist Ambivalenz für den Schlusssatz des Briefes in Anspruch zu nehmen. Mit der Anrufung des „alllieben-
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Ebd., S. 173.
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den Vaters“ endet auch Goethes Jugendgedicht Ganymed,20 und man geht nicht fehl, wenn man Goethes abschließendes Bekenntnis wiederum auf seinen Begriff von Gott-Natur zurückführt. Gleichwohl konzediert er dem Leser – der Briefpartnerin zunächst, auch jedem nachfolgenden – die Freiheit, den Satz auch anders zu lesen. Wie so häufig beim späten Goethe: Er lässt alles in der Schwebe, im Status des „offenbaren Geheimnisses“. Mit besonderer Sorgfalt hat der alte Goethe die Schlussformeln seiner Briefe entworfen. Sie variieren in vielfältiger Weise zumeist, so die glückliche Begriffsbildung von Schöne, „Beständigkeitsformeln“,21 in denen das Wort „treu“ – häufig in der Kombination „treu angehörig“ – eine Vorzugsstellung einnimmt. Am Ende des ersten Briefteils spricht Goethe von „beruhigter Treue“ (S. 127). Nunmehr wechselt er zu „wahrhaft anhänglich“ (S. 128). Treue hatte er der Briefpartnerin genugsam bekundet – der erste Teil ist nicht zuletzt aus diesem Grunde sehr bewusst mit abgesendet worden. Die endgültige Schlussformel gibt die Essenz des zweiten Teils in gültiger Weise zu erkennen: ein Verhältnis persönlicher Verbundenheit unter dem Siegel des Wahrhaftigen, das zwar auf das Subjektive beschränkt bleibt, in dessen Grenzen sich aber eine lautere, von Herzen kommende und durch eigenes Leiden geläuterte Gesinnung kundgibt, die bei der Gräfin Bernstorff nicht ohne Widerhall geblieben sein kann. Davon aber ist uns nichts überliefert.
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Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Ganymed. In: Ders.: Werke (Anm. 4). Abt. I. Bd. 2. Gedichte. Zweiter Teil. Weimar 1888. S. 80. Vgl. Schöne: Der letzte Brief (Anm. 1), S. 120.
Alexander von Humboldt an Karl August Varnhagen von Ense, 24. Oktober 1834
Berlin, den 24. Oktober 1834. Ich fange den Druck meines Werks (des Werks meines Lebens) an. Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was mir [sic!] heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in Einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt. Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufgeglimmt, muß neben den Thatsachen hier verzeichnet sein. Es muß eine Epoche der geistigen Entwickelung der Menschheit (in ihrem Wissen von der Natur) darstellen. Die Prolegomena sind meist fertig, der ganz neu umgearbeitete, von mir frei gehaltene, aber an demselben Tage diktirte Discours d’ouverture, das Naturgemählde, die Anregungsmittel zum Naturstudium im Geiste unserer Zeit (dreierlei: 1) Poésie descriptive und lebendige Schilderung der Naturscenen in modernen Reiseberichten, 2) Landschaftsmahlerei, Darstellung, sinnliche, einer exotischen Natur, wann sie entstanden, wann sie Bedürfniß und hohe Freude geworden, warum das leidenschaftliche Alterthum sie nicht haben konnte, 3) Pflanzungen, Gruppirung nach Pflanzenphysiognomik, (nicht botanische Gärten); Geschichte der physischen Weltbeschreibung, wie die Idee der Welt, des Zusammenhangs aller Erscheinungen, den Völkern durch den Lauf der Jahrhunderte klar geworden ist. Diese Prolegomena sind die Hauptsache, und enthalten den generellen Theil, ihm folgt der spezielle, – die Einzelnheiten, geordnet, (ich lege Ihnen einen Theil eines tabellarischen Registers bei). Weltraum – die ganze physische Astronomie – Unser feste Erdkörper, Inneres, Aeußeres, Elektro-Magnetismus des Inneren. Vulkanismus, d. h. Reaktion des Inneren eines Planeten auf seine Oberfläche. Gliederung der Massen. Eine kleine Geognosie – Meer – Luftkreis – Klimate – Organisches – Geographie der Pflanzen. Geographie der Thiere – Menschen-Racen und Sprache – deren dann physische Organisation (Artikulation der Töne) von der Intelligenz (deren Produkt, Manifestation die Sprache ist) beherrscht wird. In dem speziellen Theile alle numerischen Resultate, die genauesten wie in Laplace exposition du systême du Monde. Da diese Einzelnheiten nicht derselben litterarischen Darstellung fähig sind, als die allgemeinen Kombinationen des Naturwissens, so wird das nur Faktische nur in kurzen Sätzen fast tabellarisch geordnet, so daß z. B. über Klimate, über Erdmagnetismus der fleißige Leser in wenigen Blättern
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Alexander von Humboldt an Karl August Varnhagen von Ense, 24.10.1834
alle Resultate zusammengedrängt finden muß, die ein Studium vieler Jahre nur liefern würde. Die Formähnlichkeit (litterarische Uebereinstimmung) mit dem allgemeinen Theile wird vermittelt durch kleine Einleitungen zu jedem speziellen Kapitel. Otfried Müller hat in seiner vortrefflich geschriebenen Archäologie dieselbe Methode sehr glücklich befolgt. Ich habe gewünscht, daß Sie, hochverehrter Freund, einen deutlichen Begriff von meinem Unternehmen durch mich selbst erhalten möchten. Es ist mir nicht geglückt, das Ganze in Einen Band zusammenzudrängen, und doch würde es in dieser Kürze den großartigsten Einruck hinterlassen haben. Ich hoffe, daß zwei Bände das Ganze fassen. Keine Note unter dem Texte, aber hinter den Kapiteln Noten, welche ganz ungelesen bleiben können, die aber solide Erudition und mehr Einzelnheiten enthalten. Das Ganze ist nicht was man gemeinhin physikalische Erdbeschreibung nennt, es begreift Himmel und Erde, alles Geschaffene. Ich hatte vor 15 Jahren angefangen, es französisch zu schreiben, und nannte es Essai sur la Physique du Monde. In Deutschland wollte ich es anfangs das Buch von der Natur nennen, wie man dergleichen im Mittelalter von Albertus Magnus hat. Das ist alles aber unbestimmt. Jetzt ist mein Titel: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung von A. v. H. Nach erweiterten Umrissen seiner Vorlesungen in den Jahren 1827 und 1828. Bei Cotta. Ich wünschte das Wort Kosmos hinzuzufügen, ja die Menschen zu zwingen das Buch so zu nennen, um zu vermeiden, daß man nicht H.’s physische Erdbeschreibung sage, was denn das Ding in die Klasse der Mittersacher’schen1 Schriften werfen würde. Weltbeschreibung (nach Weltgeschichte geformt) würde man als ungebräuchliches Wort immer mit Erdbeschreibung verwechseln. Ich weiß, daß Kosmos sehr vornehm ist und nicht ohne eine gewisse Afféterie, aber der Titel sagt mit einem Schlagworte Himmel und Erde, und steht der Gäa (dem etwas schlechten Erdbuche von Prof. Zeune, einer wahren Erdbeschreibung) entgegen. Mein Bruder ist auch für den Titel Kosmos, ich habe lange geschwankt. Nun meine Bitte, theurer Freund! Ich kann es nicht über mich gewinnen, den Anfang meines Manuskripts wegzusenden, ohne Sie anzuflehen, einen kritischen Blick darauf zu werfen. Sie haben ein so großes Talent der anmuthreichsten Schreibart, Sie sind auch so geistreich und unabhängig, daß Sie Formen des Schreibens nicht gradehin zurückstoßen, die individuell sind, und von den Ihrigen abweichen. Lesen Sie gewogentlichst die Rede, und legen Sie ein Blättchen an, auf welches Sie schreiben, ganz ohne Gründe anzugeben: so…hätte ich lieber statt so…dieses. Tadeln Sie aber ______________ 1
recte: Mitterpacher’schen (Ludwig Mitterpacher von Mitterburg, 1734–1814)
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nicht, ohne mir zu helfen. Auch beruhigen Sie mich über den Titel. Mit innigstem Vertrauen Ihr Montags. A. v. Humboldt. Die Hauptgebrechen meines Stils sind eine unglückliche Neigung zu allzu dichterischen Formen, eine lange Partizipial-Konstruktion und ein zu großes Konzentriren vielfacher Ansichten, Gefühle in Einen Periodenbau. Ich glaube, daß diese meiner Individualität anhangenden Radikal-Übel durch eine daneben bestehende ernste Einfachheit und Verallgemeinerung (ein Schweben über der Beobachtung, wenn ich eitel so sagen dürfte) gemindert werden. Ein Buch von der Natur muß den Eindruck wie die Natur selbst hervorbringen. Worauf ich aber besonders wie in meinen Ansichten der Natur geachtet, und worin meine Manier von Forster und Chateaubriand ganz verschieden ist, ich habe gesucht, immer wahr beschreibend, bezeichnend, selbst scientisisch wahr zu sein, ohne in die dürre Region des Wissens zu gelangen. Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858. Hg. v. Ludmilla Assing. Leipzig 1860. S. 20–23.
Thomas Richter
„Tadeln Sie aber nicht, ohne mir zu helfen.“ Alexander von Humboldt und Karl August Varnhagen von Ense im Dialog1 I. Aktuelle Bedeutung der „Humboldtian“ Science Alexander von Humboldt zählt zu den wissenschaftlichen Größen des 19. Jahrhunderts. Betrachtet man die Veröffentlichungen2 der letzten Jahre über den Gelehrten, so wird deutlich, dass er inzwischen endgültig aus dem Schatten seines Bruders Wilhelm von Humboldt3 herausgetreten ist. Die Ursachen dieser späten Wiedergeburt sind vielfältig. Prägend für Alexanders Biographie ist zweifellos seine große Expedition, die ihn in den Jahren 1799 bis 1804 nach Süd- und Mittelamerika sowie zu einem kurzen Aufenthalt in die USA führte. Eine derartige Forschungsreise, die zwar außergewöhnliche Herausforderungen wie eine Fahrt in die damals noch unerschlossenen Regionen des Flusses Orinoco oder die Besteigung des Vulkanes Chimborazo in den Anden beinhaltete, erklärt die Strahlkraft Alexander von Humboldts bis in die Gegenwart aber nur zum Teil. Zwei andere Faktoren sind dafür in gleicher Weise maßgeblich. Zum einen geht es dem Gelehrten darum, seine Forschungen nicht nur der Fachwelt, sondern auch einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Daher bemüht sich Humboldt nicht nur um die Präsentation naturwissenschaftlicher Fakten, sondern auch um eine geeignete Methode der Wissenschaftsvermittlung. Deshalb legte der Gelehrte Wert auf einen passenden Darstellungsstil
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Meinem Doktorvater Professor Dr. Wolfgang Riedel zum 60. Geburtstag mit herzlichen Glückwünschen zugeeignet! Zum Stand der Forschung vgl. Thomas Richter: Alexander von Humboldt. Ansichten der Natur. Naturforschung zwischen Poetik und Wissenschaft. Tübingen 2009. S. 12, Fußnote 6. Die Renaissance des Gelehrten wird auch anhand der wieder aufgelegten Werke Humboldts deutlich, welche Hans Magnus Enzensberger in der Reihe ‚Die Andere Bibliothek‘ herausgegeben hat: Alexander von Humboldt: Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Vues des Cordillères et Monumens des Peuples Indigènes de l’Amérique. Frankfurt/M. 2004; ders.: Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Frankfurt/M. 2004; ders.: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Frankfurt/M. 2004. Inzwischen gibt es eine sehr lesenswerte Biographie, welche die beiden Brüder im Doppelpack vorstellt: Manfred Geier: Die Brüder Humboldt. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2010.
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seiner erlebten Eindrücke und vermessenen Daten. Genau diese Absicht macht Alexander von Humboldt zu einem Forschungsgegenstand der philologischen, vor allem der literaturwissenschaftlichen Disziplinen. Zum anderen ist es Humboldt ein Anliegen, sich niemals in Einzelheiten zu verzetteln, sondern das große Ganze aufzuzeigen. Diese Methode ähnelt einer Quadratur des Kreises. Ein dritter Faktor für den Erfolg der „Humboldtian science“4 kommt hinzu. Der preußische Bergbauingenieur Alexander von Humboldt war ein Netzwerker in zweifacher Hinsicht. Er überschritt nicht nur die Grenzen zwischen den einzelnen Fachdisziplinen, sondern pflegte auch bis kurz vor seinem Tode eine umfangreiche Korrespondenz mit zahlreichen Gelehrten und Intellektuellen innerhalb und außerhalb Europas. Dass es ihm dabei um einen aufrichtigen Dialog zugunsten seines wissenschaftlichen Programms ging, beweist der im Folgenden besprochene Brief an den Politiker und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense, den Humboldt am 24. Oktober 1834 schrieb. Wie in einem Brennglas werden in diesen Zeilen die maßgeblichen Linien gebündelt, welche die Faszination des Gelehrten im 21. Jahrhundert erklären.
II. Privatgelehrter mit ambivalentem Verhältnis zu Preußen Zum Verständnis des Briefes sind einige biographische Vorbemerkungen hilfreich.5 Alexander von Humboldt kehrte nach seiner Rückkehr aus den Tropen nicht in seine preußische Heimat zurück, sondern wohnte von 1804 bis 1827 in Paris. Die Stadt war eine der führenden wissenschaftlichen Metropolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach seiner Rückübersiedlung in seine Geburtsstadt Berlin begann er am 3. November 1827 mit den Kosmos-Vorlesungen an der dortigen Universität, welche die Grundlage für sein späteres Werk mit dem gleichnamigen Titel legten. Das Ziel Humboldts bestand darin, alle zentralen Gegenstände der Naturwissenschaft, aber auch der menschlichen Kulturgeschichte einem wissenschaftlichen Publikum vorzustellen. Nur gut einen Monat später sprach er über die gleiche Thematik in der Singakademie zu Berlin, diesmal vor einer breiten Öffentlichkeit. Wenige Monate später, im April des Jahres
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Der Terminus stammt von Ottmar Ette. Vgl. ders.: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne. Weilerswist 2002. S. 11– 19. Vgl. Kurt-R. Biermann, Ilse Jahn u. a.: Alexander von Humboldt. Chronologische Übersicht über wichtige Daten seines Lebens. Berlin 1968; Thomas Richter: Alexander von Humboldt. Reinbek bei Hamburg 2009. S. 113–117.
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1828, hielt Humboldt seinen letzten Kosmos-Vortrag. Im selben Jahr reifte der Entschluss, die Vorträge in Buchform zu veröffentlichen. Mit der Ausarbeitung des Manuskriptes begann Humboldt jedoch erst später, und zwar in den Jahren 1833 und 1834. Der Grund für dieses lange Intermezzo hängt sicherlich mit der Russlandreise Humboldts zusammen, die er im Auftrag des Zaren im Jahre 1829 unternahm.6 Zwischen Humboldt und seinem Korrespondenzpartner, dem etwa sechzehn Jahre jüngeren Karl August Varnhagen,7 gibt es einige biographische Parallelen. Dieser interessierte sich ebenfalls für naturwissenschaftliche Themen und begann in Halle ein Studium der Medizin. Sein weiterer beruflicher Weg stand in enger Verbindung zum preußischen Staat, für den Varnhagen tätig war, jedoch ohne eine feste Anstellung. Dieses ambivalente Verhältnis zu Preußen erinnert an Humboldt, der sich den Angeboten einer unbefristeten Beschäftigung im Dienste des Staates immer wieder entzog. Die große Liebe seines Lebens war für Varnhagen die Jüdin Rahel Levin. Die Heirat erfolgte im Jahre 1814, nachdem Rahel von Friedrich Schleiermacher evangelisch getauft wurde. Im Alter von 39 Jahren wird Varnhagen vom preußischen Staat offiziell in den Ruhestand versetzt, so dass der Gelehrte Zeit für eine umfangreiche Korrespondenz- und Publikationstätigkeit besaß. Ein schwerer Schicksalsschlag stellte für Varnhagen zweifellos der Tod seiner geliebten Frau Rahel im Jahre 1833 dar. Eine zentrale Rolle in seinem Haushalt übernahm seine Nichte Ludmilla Assing, die nach seinem Tode im Jahre 1858 den Briefwechsel mit Alexander von Humboldt veröffentlichte. Die beiden Wissenschaftler pflegten seit dem September 1827 eine umfangreiche Korrespondenz. Der Kontakt begann exakt in dem Jahr, in dem Humboldt von Paris zurückkehrte und seine Kosmos-Vorlesungen zu halten begann. Vielleicht hat Varnhagen den einen oder anderen Vortrag Humboldts in Berlin persönlich gehört. Nach dem Tod Rahels intensivierte sich der Briefwechsel zwischen den beiden Gelehrten. Den letzten Brief an seinen Freund Varnhagen schrieb Humboldt etwa einen Monat vor dessen Tod, am 10. Oktober 1858. In einem Kondolenzschreiben an die Nichte Ludmilla von Assing beklagt er die Tatsache, dass er, der fast neunzigjährige „Alte von den Bergen“8, noch da sei, während Deutschland „einen großen Schriftsteller“ verloren habe.
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Vgl. Hanno Beck (Hg.): Alexander von Humboldts Reise durchs Baltikum nach Russland und Sibirien 1829. Stuttgart 1983. Vgl. Karl August Varnhagen von Ense. Schriften und Briefe. Hg. v. Werner Fuld. Stuttgart 1991. S. 64–72. Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858. Hg. v. Ludmilla Assing. Leipzig 1860. S. 400.
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III. ‚Allgemeines‘ und ‚Einzelnes‘ – mundgerecht serviert Für den Brief an Varnhagen aus dem Jahre 1834 gab es einen konkreten Anlass, den Humboldt gleich zu Beginn seiner Ausführungen erwähnt: „Ich fange den Druck meines Werks (des Werks meines Lebens) an.“ (S. 151) Diese Aussage ist keinesfalls übertrieben. Humboldt glaubte wirklich, dass mit der Drucklegung des genannten Buches sich ein lang gehegter Traum erfülle, nämlich die „ganze materielle Welt [...] in Einem Werke darzustellen“ (S. 151). Dieses Ziel verfolgt der Wissenschaftler schon seit seiner Rückkehr aus den Tropen im Jahre 1804. Die von ihm im Anschluss daran verfasste Sammlung von Essays, die er unter dem Titel Ansichten der Natur9 veröffentlichte, stellten zwar ein Werk dar, das „zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt.“ (S. 151) Es erfüllte Humboldts Ziel eines totalen wissenschaftlichen Panoramas der Welt10 jedoch nur teilweise. Freilich konnte die mühevolle und manchmal schleppende Herausgabe seines Reisewerkes in seiner Pariser Zeit zwischen 1805 und 182811 zwar Humboldts Anspruch auf Vollständigkeit erfüllen, blieb jedoch in Sachen Allgemeinverständlichkeit und Lesbarkeit weit hinter den Zielen des Autors zurück. Humboldt berührt daher in diesem Brief an Varnhagen ein für ihn zentrales Lebensthema, das er im Alter von 65 Jahren zu erreichen glaubte. Auf den ersten Blick mag es befremdlich erscheinen, dass im ersten Drittel des Briefes nur vom ‚Ich‘ des Briefschreibers die Rede ist und sich der Gelehrte mit keinem Wort dem ‚Du‘ des Adressaten zuwendet. Spricht hier ein Egomane, der einen Korrespondenzpartner nur benötigt, um einen Monolog zu halten? Humboldt hatte sein ganzes Leben in den Dienst der Wissenschaft gestellt. Sein eigenes ‚Ich‘ ordnete der Junggeselle und Privatgelehrte, der nie einen Lehrstuhl oder ein bedeutendes politisches Amt innehatte, dem hohen Ziel seines wissenschaftlichen Schaffens unter. Letztlich steht dieses ‚Ich‘ des Gelehrten im Dienste eines „tollen Einfall[s]“ (S. 151), welcher Humboldt schon seit seiner Studienzeit im späten 18. Jahrhundert begleitete. Der Adressat seines gesamten Werkes ist die bürgerliche Gesellschaft, die ein leicht verständliches Buch in die Hände bekommen soll. Dessen Herzstück ist das von Humboldt zu Beginn des Briefes erwähnte „Naturgemählde“ (S. 151), das aus spannenden
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Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Bd. 1. Tübingen 1808. Vgl. dazu Richter: Ansichten der Natur (Anm. 2), S. 58–66. Die komplizierte Bibliographie des Reisewerkes findet sich bei Horst Fiedler u. Ulrike Leitner: Alexander von Humboldts Schriften. Bibliographie der selbständig erschienen Werke. Berlin 2000. S. 70–339.
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Reiseberichten, landschaftlichen Panoramadarstellungen – unter Einschluss der für Humboldt so bedeutenden Botanik – sowie historischen Exkursen zur Geschichte der wissenschaftlichen Erkenntnis besteht. Der im Brief auftauchende französische Terminus „Poésie descriptive“ (S. 151) ist ein Schlüsselwort für das Verständnis des Gelehrten von einer Wissenschaft, die zum einen poetisch-literarisch motiviert ist, zum anderen aber immer das konkrete Objekt im Blick hat. Letztendlich kennzeichnet dieser französische Ausdruck auch den Stil Alexander von Humboldts. Somit begegnet uns zwar ein glühender und leidenschaftlicher Verehrer seines Faches, aber auch ein Realist, der die Dinge der Natur mit den Augen eines empirischen Forschers betrachtet. Daher wird man auch im Brief an Varnhagen von Ense keine Fülle von Stilmitteln oder bildlichen Elementen finden. Diese Sachlichkeit und Klarheit sind auf ein genaues Ziel ausgerichtet, das Humboldt mit der Herausgabe des im Brief vorgestellten Werkes verfolgt. Die von ihm anvisierte Ganzheitlichkeit darf nicht zu Lasten der einzelnen Fakten gehen, welche der Wissenschaftler in einem eigenen Teil vorstellen will. Sie umfassen die Himmelswissenschaften wie die Erdwissenschaften und sollen dem Leser mundgerecht durch „kleine Einleitungen zu jedem speziellen Kapitel“ (S. 152) vermittelt werden. Darüber hinaus möchte Humboldt die Fakten komprimieren und diese mit Hilfe von Tabellen und Schaubildern kurz und prägnant darstellen. Gleichzeitig ist für ihn eine ästhetische Darstellung der untersuchten Naturphänomene, ganz im Sinne der Goethezeit, ein zentrales Anliegen. Nur so lässt sich ein Spagat zwischen dem ‚Allgemeinen‘ und dem ‚Einzelnen‘ – zwei Schlüsselbegriffen für das Wissenschaftsverständnis im frühen 19. Jahrhundert12 – verwirklichen.
IV. Von der Erde zum Himmel Erst im zweiten Drittel seines Briefes spricht Humboldt seinen Korrespondenzpartner Varnhagen persönlich an. Der Schreiber ist anscheinend selbstkritisch genug und entschuldigt sich geradezu für die langen Ausführungen des ersten Teiles, welche damit begründet werden, dem Adressaten „einen deutlichen Begriff“ (S. 152) des ins Auge gefassten Unternehmens zu vermitteln. Die persönliche Ansprache seines Briefpartners dauert jedoch nur kurz, und schon beginnt der Gelehrte wieder damit, die Ausführungen des ersten Drittels fortzusetzen. Humboldt weiß um die Bedeu-
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Vgl. Ilse Jahn und Andreas Kleinert (Hg.): Das Allgemeine und das Einzelne – Johann Wolfgang von Goethe und Alexander von Humboldt im Gespräch. Stuttgart 2003.
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tung, welche ein aussagekräftiger Titel für den Erfolg oder Nichterfolg eines Buches besitzt. Er gibt seinem Gegenüber einen tiefen Einblick, wie er geradezu um einen passenden Buchtitel ringt. Die Auseinandersetzung zeigt, dass Humboldt zu seiner Zeit nicht nur ein Wissenschaftler von nationalem, sondern auch von internationalem Rang gewesen ist. Die Vorarbeiten zu dem im Brief erwähnten Werk gehen nämlich auf die Zeit zurück, als Humboldt noch in Paris lebte. Die französische Hauptstadt war eine der Wissenschaftsmetropolen des frühen 19. Jahrhunderts und bestimmte auch die Sprache der Gelehrtenwelt. Deshalb nennt Humboldt seine ersten Studien zu einem wissenschaftlichen Gesamtpanorama der Wissenschaften „Essai sur la Physique du Monde“ (S. 152).13 Die Ambivalenz des Begriffes ‚Monde‘ bringt uns in Berührung mit den Grundlagen der „Humboldtian science“. Zunächst sollte man feststellen, dass die Übersetzung des Ausdruckes ‚Welt‘ einen ambivalenten Charakter hat, auf den Humboldt an dieser Stelle verweist. Handelt es sich hier um die Welt im Sinne des Universums, welche somit auch die astronomischen Phänomene wie Fixsterne, Planeten oder die Milchstraße beinhaltet, oder aber bezieht sich der Ausdruck ausschließlich auf die Erscheinungen der Erde? Der Gelehrte will auf jeden Fall vermeiden, dass das von ihm ins Auge gefasste Werk als „gemeinhin physikalische Erdbeschreibung“ (S. 152) verstanden wird, ein Eindruck, den der Ausdruck ‚Monde‘ ja durchaus hervorrufen könnte. Der Griff nach den Sternen ist durchaus als eine Art kopernikanische Wende in Humboldts wissenschaftlichem Werdegang zu betrachten. Dieser Paradigmenwechsel vollzog sich im Jahre 1834, als Humboldt den Brief an Varnhagen schrieb. Die Vorgeschichte zu Humboldts Ziel der Etablierung einer neuen Geographie reicht in seine Zeit als preußischer Bergbauingenieur in Oberfranken14 zurück. Als er diese Stelle im Jahre 1793 antrat, wollte er bereits eine Physique du monde im Sinne einer ‚Physikalischen Geographie‘ begründen, welche ein Resultat entsprechender Geofaktoren wie Geomorphologie, Klimatologie, Hydrographie, Pflanzen-, Tiergeographie und Geographie des Menschen darstellt. Mit diesem Hintergrundwissen wird auch deutlich, weshalb Humboldt eine Forschungsreise plante, die als Weltexpedition gedacht war, um die genannten Faktoren in allen Kontinenten auf der Erde zu untersuchen. Dass die Reise nur nach Amerika führte, war in Humboldts Augen ein großes Defizit, was er nach seiner Rückkehr mit einer Asienexpedition kompensieren wollte, die jedoch niemals zu Stande kam. Umso bedeutender war für
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Vgl. Alexander von Humboldt: Kosmos: Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. In: Ders.: Studienausgabe. Hg. v. Hanno Beck. Bd. 7, Teilbd. 2. Darmstadt 1993. S. 345–355. Vgl. Biermann/Jahn u. a.: Alexander von Humboldt (Anm. 5), S. 11.
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ihn die Herausgabe seines Reisewerkes, das eine ‚Physikalische Geographie‘ im Sinne einer ‚Allgemeinen Geographie‘ werden sollte, welche die genannten Geofaktoren in den einzelnen Regionen der Welt untersuchte. Die entsprechende Herausgabe gestaltete sich jedoch äußerst mühsam, zog sich fast drei Jahrzehnte hin und führte den Gelehrten, der die Drucklegung seiner Bücher selbst finanzierte, in eine wirtschaftliche Schieflage. So musste Humboldt im Jahre 1834 die Hoffnung endgültig begraben, dass der vierte und letzte Band seines amerikanischen Reisewerkes jemals noch gedruckt werden könne.15 Welche Tatsache könnte für einen Gelehrten deprimierender sein als das Scheitern eines geplanten Sammelwerkes? Doch jetzt, im Herbst des Jahres 1834, schöpfte Humboldt neuen Mut, indem er sich von einer reinen physikalischen Erdbeschreibung abwandte und ein in ihm schon lange schlummerndes wissenschaftliches Projekt, den Kosmos, noch einmal zu neuem Leben erwecken wollte. Der Gelehrte war sich im Klaren darüber, dass dieser Terminus, mit dem er wissenschaftliche Phänomene im „Himmel“ und auf der „Erde“ (S. 152) beschrieb, einen großen Anspruch implizierte und beim Leser ebenfalls entsprechende Emotionen hervorrief, die Humboldt mit dem französischen Terminus „Afféterie“ (S. 152) kennzeichnet. Aber ein Scheitern, wie es dem Gelehrten bei der Herausgabe seines Reisewerkes widerfahren war, wollte Humboldt kein zweites Mal erleben. Im Alter von 65 Jahren hatte er somit noch einmal die physische Energie und die Hoffnung, dass die Darstellung eines wissenschaftlichen Großpanoramas terrestrischer und extraterrestrischer Phänomene gelinge. Rückhalt holte er sich bei seinem Bruder Wilhelm, der zwar kein Naturwissenschaftler war, aber als Philologe mit dem griechischen Terminus ‚Kosmos‘ sehr wohl vertraut gewesen ist.
V. Kosmos als Inbegriff der Wahrhaftigkeit in der Natur Im dritten Teil seines Briefes an Varnhagen wendet sich Humboldt mit einem Wunsch an sein Gegenüber. Er bittet ihn darum, das diesem Schreiben vermutlich beigefügte Kosmos-Manuskript zu korrigieren. Interessant sind die präzisen Anweisungen, die der Gelehrte gibt, indem er Varnhagen darauf hinweist, in welcher Weise mögliche Korrekturen vorzunehmen sind: „so…hätte ich lieber statt so […]. Tadeln sie aber nicht, ohne mir zu helfen“ (S. 152 f.). Diese Ausführungen demonstrieren die große Sensibilität eines Gelehrten, dem es in erster Linie um eine kon-
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Vgl. Humboldt: Studienausgabe. Bd. 7, Teilbd. 2 (Anm. 13), S. 352 f.
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struktive Kritik geht. Nichts fürchtet Humboldt mehr als eine zersetzende Polemik an einem in Entstehung befindlichen Werk, in welches er viel Herzblut vergossen hat. Es sei darauf hingewiesen, dass Humboldt sich einen Korrespondenzpartner aussucht, der ein ähnliches wissenschaftliches Profil wie er selbst besitzt und daher zu den Universalgelehrten der Goethezeit zählt.16 Varnhagen studierte zunächst an der Pepinière, der medizinischen Militärakademie in Berlin, woran sich dann nach einer Zwischenstation als Hauslehrer eine philologische sowie philosophische Ausbildung an den Universitäten Halle und Tübingen anschloss. Der Gelehrte stand in Verbindung mit vielen prominenten Zeitgenossen aus dem Umfeld der Romantik wie beispielsweise Adelbert von Chamisso, Ludwig Uhland oder Friedrich de la Motte Fouqué. Seine liberale Gesinnung führte dazu, dass er vor dem Hintergrund der Karlsbader Beschlüsse von seinem Posten als preußischer Gesandter am badischen Hof in Karlsruhe abberufen wurde. Nach dem Tod seiner geliebten Frau Rahel Levin im Jahre 1833 war Varnhagen vor allem publizistisch tätig; sein Œuvre besteht aus historischen und politischen Schriften, nach seinem Tod erschien darüber hinaus eine umfangreiche Auswahl an Tagebüchern und Briefen. Der Briefwechsel mit Alexander von Humboldt, der 1860 herausgegeben wurde, erreichte innerhalb weniger Wochen fünf Auflagen. Der Grund für die Popularität dieses Werkes lag in den heftigen Angriffen konservativer Kreise, denen die freiheitliche demokratische Gesinnung Humboldts und Varnhagens ein Dorn im Auge war.17 Humboldt hat sich somit einen adäquaten Briefpartner herausgesucht, von dem er nicht nur eine inhaltliche Beurteilung des Kosmos, sondern auch eine Analyse des Sprachstils erwartet. Die Außenwirkung seines wissenschaftlichen Werkes war Humboldt schon seit seinen ersten Veröffentlichungen nach der Rückkehr aus den Tropen ein zentrales Anliegen. Davon geben die Ansichten der Natur ein beredtes Zeugnis, etwa wenn der Gelehrte schreibt, dass das Werk „dem Leser doch einen Teil des Genusses gewähren“ soll, „welchen ein empfänglicher Sinn in der unmittelbaren Anschauung findet.“18
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Vgl. Werner Greiling: Varnhagen von Ense. Lebensweg eines Liberalen. Politisches Wirken zwischen Diplomatie und Revolution. Köln, Weimar, Wien 1993. Die Herausgeberin Ludmilla Assing nimmt darauf Bezug in ihrem Vorwort zur dritten Auflage: Briefe von Humboldt an Varnhagen von Ense (Anm. 8), S. X–XVIII; vgl. auch Nikolaus Gatter: „Gift, geradezu Gift für das unwissende Publicum“. Der diaristische Nachlaß von Karl August Varnhagen von Ense und die Polemik gegen Ludmilla Assings Editionen (1860–1880). Bielefeld 1996. Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur. In: Ders.: Studienausgabe (Anm. 13), Bd. 5. Darmstadt 1987. S. IX.
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In dem Brief an Varnhagen spricht daher nicht ein Gelehrter zu uns, der sich im Elfenbeinturm verschanzen will und dem Grundübel mancher Wissenschaftler verfällt, welche Unverständlichkeit für ein Qualitätsmerkmal wissenschaftlicher Präzision halten. Der zu Beginn seines Schreibens auf seine eigenen Ideen fixierte Autor wendet sich im Laufe des Briefes immer mehr seinem Gegenüber zu und offenbart im Nachtrag sogar seine persönlichen Schwächen. Er weiß darum, dass seine Ausdrucksweise bisweilen von „lange[n] Partizipial-Konstruktion[en]“ (S. 153) gekennzeichnet ist. Aufschlussreich ist Humboldts hohes Ziel, das er zum Abschluss erwähnt, nämlich eine Sprache zu schaffen, die einen Eindruck „wie die Natur selbst“ (S. 153) erzeugt. Der Rezipient soll also bei der Beschäftigung mit dem Kosmos denken, dass beim Lesen des Werkes die Natur selbst zu ihm spricht. Entwickelt man dieses Paradigma der Wahrhaftigkeit weiter, dann hat die Natur auch keinen Zeichencharakter mehr. Denn wenn alles „wahr beschreibend“ (S. 153) ist, gibt es auch keine Symbole und Chiffren, welche auf die Dinge hinter den Dingen verweisen. Diese fast schon aristotelisch begründete Wissenschaft19 kennt also keinen „geheimen Sinn“20 in der Natur, den der durch ein spinozistisches Weltbild geprägte Johann Wolfgang von Goethe in den sichtbaren Erscheinungen und Formen sucht. Dennoch möchte Humboldt aber auch nicht mit Faktenwissen glänzen und nur in der „dürre[n] Region des Wissens“ (S. 153) zu Hause sein. Damit ist der Gelehrte auch kein lupenreiner Adept der Wissenschaft zu Zeiten der Aufklärung, deren charakteristische literarische Gattung die Enzyklopädie darstellt. Die Authentizität des Gelehrten spiegelt sich letztendlich auch im Schreibstil des Briefes wider, der auf den ersten Blick zwar nüchtern und sachlich zu sein scheint, jedoch keineswegs frei von Emotionen ist. Alexander von Humboldt legt Schritt für Schritt seine wissenschaftlichen Ideen, seine Ziele, aber auch seine Unsicherheiten und Ängste frei. Auf diese Weise gewährt er Varnhagen letztendlich einen Blick in sein verwundbares Herz. Es findet daher in diesem Brief ein echter wissenschaftlicher und persönlicher Dialog zwischen zwei Gelehrten des 19. Jahrhunderts statt, wobei Person und Sache eine unzertrennbare Symbiose eingehen. Dazu bedarf es einer klaren Sprache, die die Tatsachen so darstellt, wie sie sind. Das von Humboldt angedeutete „Schweben über der Beobachtung“ (S. 153) soll keineswegs eine fehlende Bodenhaftung zum Ausdruck bringen. Vielmehr fordert Humboldt von sich selbst ein differenziertes Denken, das sich nicht in
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Zur Bedeutung Aristoteles’ in der Wissenschaft vgl. Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage u. a. (Hg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. Berlin, New York 2005. S. 97–99. Siegfried Unseld: Goethe und der Ginkgo. Ein Baum und ein Gedicht. Frankfurt/M., Leipzig 1998. S. 58.
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Einzelheiten verliert, sondern immer das große Ganze im Visier hat. Dieses kann man allerdings nur wahrnehmen, wenn man einen bestimmten Abstand zu den Dingen besitzt, ohne jedoch das Objekt aus den Augen zu verlieren. Karl August Varnhagen von Ense hat seinen Briefpartner Alexander von Humboldt nicht lange auf eine Antwort warten lassen. Bereits am 28. Oktober 1834, also vier Tage später, bedankte sich der Verfasser des Kosmos, dass ihn das Schreiben seines Freundes „aufgerichtet und erfreut“ habe. Darüber hinaus lobt Humboldt den „Grad der Feinheit, des Geschmacks und des Scharfsinns“, den Varnhagen von Ense bei der Durchsicht des Manuskriptes an den Tag gelegt habe. Die Tatsache, dass der Naturforscher über „19/20“21 der Anmerkungen übernahm, zeigt die hohe Wertschätzung seines Briefpartners, dem er offensichtlich vertraute. Der Kosmos sollte sich schließlich für Humboldt als großer wissenschaftlicher Wurf erweisen, wobei der Gelehrte einen langen Atem benötigte.22 Die Drucklegung begann erst neun Jahre nach dem Brief an Varnhagen, im Jahre 1843. Aus den geplanten zwei Bänden, von denen im Brief noch die Rede ist, wurden fünf. Der letzte Band erschien posthum drei Jahre nach Humboldts Tod im Jahre 1862. Auch wirtschaftlich wurde das Unternehmen ein großer Erfolg, so dass die Schulden, die Humboldt hinterließ, durch den Verkauf des Kosmos getilgt werden konnten. Jeder einzelne Band wurde in einer Stückzahl zwischen 15.000 und 22.000 Exemplaren aufgelegt. Damit hatte sich die Hoffnung Humboldts erfüllt, die er gleich zu Beginn seines Briefes an Varnhagen äußert. Der Kosmos wurde in der Tat für den Gelehrten zum „Werk[…] [s]eines Lebens“ (S. 151).
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Briefe von Humboldt an Varnhagen von Ense (Anm. 8), S. 24. Vgl. Humboldt: Studienausgabe. Bd. 7, Teilbd. 2 (Anm. 13), S. 354 f.
Johann Wolfgang von Goethe an Bettine Brentano, 9. Januar 1808 Sie haben Sich, liebe Bettine, als ein wahrer kleiner Christgott erwiesen, wissend und mächtig, eines jeden Bedürfnisse kennend und ausfüllend. Ihre Schachtel kam kurz vor Tische, verdeckt trug ich sie dahin wo Sie auch einmal saßen und tranck zuerst Augusten aus dem schönen Glase zu. Wie verwundert war er als ich es ihm schenckte! Darauf wurde Riemer mit Kreuz und Beutel beliehen. Niemand errieth woher. Auch zeigte ich das höchst künstliche und zierliche Besteck, da wurde die Hausfrau verdrieslich daß sie leer ausgehen sollte. Nach einer Pause um ihre Geduld zu prüfen zog ich endlich den Gewandstoff hervor, das Räthsel war aufgelöst und jedermann im Lob und Preise Bettines fröhlich. Wenn ich also noch umwende; so habe ich immer nur Lob und Dank Da Capo vorzutragen. Das ausgesuchte zierliche der Gaben war überraschend. Kunstkenner wurden herbeygerufen die artigen Balgenden zu bewundern, genug es entstand ein Fest als wenn Sie eben selbst wieder gekommen wären. Und nun hoffe ich bald Nachricht wie Sie die gute Mutter gefunden haben, wie Sie ihrer pflegen und was für Unterhaltungen im Gange sind. Der lieben Meline Mützchen kam früher. Ich darfs nicht laut sagen es steht aber niemand so gut als ihr. Hr. Stollens Attention auf dem blauen Papier hat Ihnen doch Freude gemacht. Adieu mein artig Kind! Schreiben Sie bald daß ich wieder was zu übersetzen habe. W[eimar] den 9. Jan. 1808. G. Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. IV, Goethes Briefe. Bd. 20. Januar 1808 – Juni 1809. Weimar 1896. S. 3 f. Der Wortlaut des Schreibens wurde abgeglichen mit dem Druck in: Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 2. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Hg. v. Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt/M. 1992. S. 585 f., und an zwei Stellen verbessert: „Hr.“ statt „Herrn“ und „W[eimar] den“ statt „W. d.“
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Bettine von Arnim, Goethes’s Briefwechsel mit einem Kinde
Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835) [Goethe an Bettine, 5. September 1807] An Bettine. Am 5ten September. Du hast Dich, liebe Bettine, als ein wahrer kleiner Christgott erwiesen, wissend und mächtig, eines jeden Bedürfnisse kennend und ausfüllend; – und soll ich Dich schelten oder loben, daß Du mich wieder zum Kinde machst? Denn mit kindischer Freude hab’ ich deine Bescherung verteilt und mir selbst zu geeignet. Deine Schachtel kam kurz vor Tische; verdeckt trug ich sie dahin, wo Du auch einmal gesessen, und trank zuerst August aus dem schönen Glase zu. Wie verwundert war er, als ich es ihm schenkte! Darauf wurde Riemer mit Kreuz und Beutel beliehen; Niemand erriet, woher? Auch zeigte ich das künstliche und zierliche Besteck; – da wurde die Hausfrau verdrießlich, daß sie leer ausgehen sollte. Nach einer Pause, um ihre Geduld zu prüfen, zog ich endlich den schönen Gewandstoff hervor; das Rätsel war aufgelöst, und jedermann in deinem Lobe eifrig und fröhlich. Wenn ich also das Blatt noch umwende, so hab’ ich immer nur Lob und Dank dacapo vorzutragen; das ausgesuchte zierliche der Gaben war überraschend. Kunstkenner wurden herbei gerufen, die artigen Balgenden zu bewundern – genug, es entstand ein Fest, als wenn Du eben selbst wieder gekommen wärst. – Du kommst mir auch wieder in jedem deiner lieben Briefe und doch immer neu und überraschend, so daß man glauben sollte, von dieser Seite habe man Dich noch nicht gekannt; und deine kleinen Abenteuer weißt Du so allerliebst zu drehen, daß man gern den eifersüchtigen Grillen sich begibt, die einem denn auch zuweilen anwandlen; bloß um das artige Ende des Spaßes mit zu erleben. So war es mit der launigen Episode des Engländers, dessen ungeziemendes Wagnis den Beweis für sein schönes sittliches Gefühl herbeiführen mußte. Ich bin Dir sehr dankbar für solche Mitteilungen, die freilich nicht jedem recht sein mögen; möge dein Vertrauen wachsen, das mir so viel zubringt, was ich jetzt nicht mehr gerne entbehren mag; auch ein belobendes Wort muß ich Dir hier sagen für die Art, wie Du dich mit meinem gnädigsten Herrn verständigt hast. Er konnte nicht umhin, auch dein diplomatisches Talent zu bewundern; du bist allerliebst meine kleine Tänzerin, die einem mit jeder Wendung unvermutet den Kranz zuwirft. Und nun hoffe ich bald Nachricht, wie Du mit der guten Mutter lebst, wie Du ihrer pflegst, und welche schöne vergangne Zeiten zwischen Euch beiden wieder auferstehen.
Bettine von Arnim, Goethes’s Briefwechsel mit einem Kinde
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Der lieben Meline Mützchen ist auch angekommen. Ich darf’s nicht laut sagen; es steht aber niemand so gut als ihr. Freund Stollen’s Attention auf dem blauen Papier hat Dir doch Freude gemacht. Adieu mein artig Kind! schreibe bald, daß ich wieder was zu übersetzen habe. Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Nach dem Text der Erstausgabe. Hg. v. Wolfgang Bunzel. München 2008. S. 110 f. Modifikationen der Vorlage sind kursiv und neu hinzugefügte Textpassagen fett gedruckt.
Wolfgang Bunzel
Die Kunst der Retusche. Ein Originalbrief von Goethe an Bettine Brentano und seine Überarbeitung in Bettine von Arnims teilfingierter Quellenedition Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835) I. Auktoriale Briefedition Berühmt geworden ist Bettine von Arnim durch die Briefe, die sie als noch unverheiratete junge Frau zwischen 1807 und 1811 an Goethe geschrieben und 1835 – rund ein Vierteljahrhundert später – als Dichterwitwe unter dem Titel Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde veröffentlicht hat. Zwar war es ungewöhnlich, dass sie als Frau die Dokumente selbst in Druck gab, doch folgte sie damit genau besehen nur Goethes eigener Praxis, der 1828/29 seine Korrespondenz mit Schiller publik gemacht hatte. Bettine von Arnims Doppelrolle als Briefschreiberin und Briefeditorin liefert letztlich den Schlüssel zum Verständnis ihrer Autorschaft und ihres poetischen Verfahrens: Indem die Herausgeberin nämlich mit gehörigem historischen Abstand Zeugnisse aus einer früheren Phase ihres Lebens publizierte, eignete sie sich diese neu an.1 Der Umstand, dass ihre jeweiligen Briefpartner (neben Goethe selbst wären hier zu nennen seine Mutter Catharina Elisabeth, die Freundin Karoline von Günderrode und der Bruder Clemens Brentano) bereits tot waren, gab ihr dabei weitreichende Verfügungsgewalt über das – längst geschichtlich gewordene – Material. Und da sie sich ganz im Sinne romantischer Ästhetik als Künstlerin der Möglichkeitsform verstand,2 nahm sich Bettine von Arnim ______________ 1
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Zu den Implikationen und Ausprägungen ihres selbsteditorischen Verfahrens siehe Wolfgang Bunzel: Ver-Öffentlichung des Privaten. Typen und Funktionen epistolarischen Schreibens bei Bettine von Arnim. In: Bernd Füllner (Hg.): Briefkultur im Vormärz. Vorträge der Tagung des Forum Vormärz Forschung und der Heinrich-HeineGesellschaft am 23. Oktober 1999 in Düsseldorf. Bielefeld 2001. S. 41–96. So hatte Novalis im 21. Blüthenstaub-Fragment erklärt: „Genie ist das Vermögen von eingebildeten Gegenständen, wie von wirklichen zu handeln, und sie auch wie diese zu behandeln.“ In: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. München, Wien 1978. S. 235. In diesem Sinn hat Bettine von Arnim dann die „Phantasie“ als „freie Kunst der Wahrheit“ definiert. Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Nach dem Text der Erstausgabe. Hg. v. Wolfgang Bunzel. München 2008. S. 579.
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selbstverständlich die Freiheit heraus, die vorliegenden Schriftstücke im Sinne eigener Darstellungsabsichten zu retuschieren und so eine – poetisierte – Vergangenheit zu konstruieren,3 wie sie hätte sein können bzw. wie sie sich die Editorin gewünscht hätte.4 Den publizierten Briefen ist nicht auf den ersten Blick anzusehen, dass sie für den Druck überarbeitet worden sind. Die meisten Zeitgenossen nahmen sie deshalb als authentische Lebenszeugnisse. Dennoch gab es schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts Stimmen, die den Wahrheitsgehalt des Mitgeteilten anzweifelten. Man verwies auf chronologische Unstimmigkeiten oder bemängelte Angaben, die der historischen Faktenlage zuwider laufen. Eine Überprüfung des fiktionalen Anteils war indes erst möglich, als die Originaldokumente, die sich zunächst in Bettine von Arnims Händen befanden und dann in den Besitz ihrer Nachkommen übergingen, wieder eingesehen werden konnten.5 Die zwischen 1896 und 1901 erschienenen Bände 20 bis 22 der Weimarer Ausgabe von Goethes Werken machten erstmals dessen Briefe aus dem Zeitraum der Korrespondenz mit Bettine Brentano zugänglich, und 1899 wurden im Rahmen einer Dokumentation von Goethes Beziehungen zu Autoren der Romantik auch einige Schreiben Bettines an ihn im originalen Wortlaut abgedruckt.6 Aber es vergingen noch einmal mehr als 20 Jahre, bis der gesamte Briefwechsel beider in authentischer Textgestalt vorlag und qualifizierte Aussagen über das Verhältnis von Original und ‚Fälschung‘ bzw. von ‚Dichtung‘ und ‚Wahrheit‘ getroffen werden konnten.7 ______________ 3
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In seinen Poëticismen hatte Novalis ganz in diesem Sinn erklärt: „Die Welt muß romantisirt werden. [...] Romantisiren ist nichts als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt.“ Novalis: Werke. Bd. 2 (Anm. 2), S. 334. In diesem Sinne entwerfen die von ihr veröffentlichten Korrespondenzen so etwas wie eine „Wunschautobiographie“; Christa Bürger: Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart 1990. S. 149, 154 und 173. Der Herausgeber Albert Leitzmann schreibt dazu im „Lesarten“-Teil des Bandes mit Briefen aus dem Zeitraum Januar 1808 bis Juni 1809: „Die Briefe Goethe’s an Bettina [...] befinden sich der Mehrzahl nach in Wiepersdorf [...]. Mit Zustimmung der Herren Barone Erwin von Arnim auf Czernikow, Ottmar von Arnim auf Blankensee und Annois von Arnim auf Wiepersdorf hat Herman Grimm die Blätter für das Goethe- und SchillerArchiv abschreiben lassen, während Reinhold Steig die von Weimar nach Berlin gesandten Druckbogen mit den Originalen verglich.“ Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. IV, Goethes Briefe. Bd. 20. Januar 1808– Juni 1809. Weimar 1896. S. 374. Vgl. Goethe und die Romantik. Briefe mit Erläuterungen. 2. Theil. Hg. v. Carl Schüddekopf u. Oskar Walzel. Weimar 1899. S. 159–197. Bettinas Briefwechsel mit Goethe. Auf Grund ihres handschriftlichen Nachlasses nebst zeitgenössischen Dokumenten über ihr persönliches Verhältnis zu Goethe zum ersten Mal
Bettine von Arnim, Goethes’s Briefwechsel mit einem Kinde
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Auch wenn seit dieser Zeit mehrere Untersuchungen zum Thema erschienen sind und Bettine von Arnims poetisches Verfahren insgesamt mittlerweile sehr genau beschrieben werden kann,8 ist es für uninformierte Leser nach wie vor schwierig, die komplexe Vorgehensweise der Autorin bei der Überarbeitung der Dokumente zu erfassen und die Absichten, die hinter den verschiedenen Eingriffen stehen, zu durchschauen. Deshalb wird hier ein einzelner Brief, nämlich das originale Schreiben Johann Wolfgang von Goethes an Bettine Brentano vom 9. Januar 1808, herausgegriffen und mit der überarbeiteten Version verglichen, die Bettine von Arnim 1835 in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde veröffentlicht hat. So kann im Einzelnen überprüft werden, wieviel die als auktoriale Editorin auftretende Schriftstellerin tatsächlich verändert, wo genau sie in die Vorlage eingegriffen und was sie daran mit welcher Intention modifiziert hat.
II. Zum Kontext des Originalbriefes Innerhalb der Korrespondenz zwischen Goethe und Bettine Brentano kommt dem Schreiben vom 9. Januar 1808 eine besondere Stellung zu, handelt es sich dabei doch um „seinen ersten Brief“9 an sie. Bettine Brentano hatte dem verehrten Dichter im April 1807 einen Besuch in Weimar abgestattet (ein weiterer folgte Anfang November) und ihn bei dieser Gelegenheit um die „Erlaubnüß“ gebeten, ihm „zuweilen ein plättgen zu schicken zu dörfen“.10 Von dieser Lizenz machte sie am 15. Juni erstmals ______________
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hg. v. Reinhold Steig. Leipzig 1922; erweitert und verbessert: Bettinas Leben und Briefwechsel mit Goethe. Auf Grund des von Reinhold Steig bearbeiteten handschriftlichen Nachlasses neu hg. v. Fritz Bergemann. Leipzig 1927. Die erste – heute noch nützliche – gründliche Untersuchung über ihre Bearbeitungstechniken wurde vor mehr als 100 Jahren vorgelegt von Waldemar Oehlke: Bettina von Arnims Briefromane. Berlin 1905. Zu nennen wären darüber hinaus vor allem Wolfgang Bunzel: „Phantasie ist die freie Kunst der Wahrheit“. Bettine von Arnims poetisches Verfahren in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 1 (1987). S. 7–28, und Ursula Liebertz-Grün: Ordnung im Chaos. Studien zur Poetik der Bettine Brentano-von Arnim. Heidelberg 1989. Goethe und die Romantik. 2. Theil (Anm. 6), S. 349. Allerdings scheint Goethe vor diesem Brief schon im Dezember 1807 die „eigenhändige Abschrift zweier Sonette“ „ohne weiteres Begleitschreiben“ übersendet zu haben; Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 2. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Hg. v. Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt/M. 1992. S. 1112. Catharina Elisabeth Goethe an Johann Wolfgang von Goethe, 8.9.1807. In: Die Briefe der Frau Rath Goethe. Bd. 2. Gesammelt und hg. v. Albert Köster. Sechste, vermehrte Auflage. Leipzig 1923. S. 166. Um sich Goethe gewogen zu halten, hob Bettine Brentano gegenüber seiner Mutter mündlich noch einmal hervor, wie bescheiden sie sei.
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Gebrauch; weitere Briefe schrieb sie in relativ kurzen Abständen Anfang September, Anfang Oktober, Ende November/Anfang Dezember und am 21. Dezember 1807. Das bevorstehende Weihnachtsfest nun bot die willkommene Gelegenheit, außer schriftlichen Mitteilungen auch Geschenke nach Weimar zu senden und sich so den Adressaten und die übrigen Empfänger gewogen zu machen. Tatsächlich verhielt sich Bettine Brentano überaus freigebig und bedachte Goethe mit einem zweiteiligen Essbesteck, das kunstvoll verzierte Elfenbeingriffe aufwies,11 seine Frau Christiane mit „Gewandstoff“,12 den Sohn August mit einem kostbaren Trinkglas und den Sekretär und Hauslehrer Friedrich Wilhelm Riemer mit einem „Ehrenkreuz“13 und einem „Beutel“ (S. 165). Eine solch opulente Geschenksendung nun erzwang vom Empfänger regelrecht einen Dankesbrief14 – und um eben einen solchen handelt es sich bei Goethes erstem Schreiben an seine 22-jährige Frankfurter Verehrerin.
III. Gegenüberstellung von Original und Bearbeitung Wie die Gegenüberstellung von Original und Überarbeitung zeigt, hat Bettine von Arnim das zwar in herzlichem Ton abgefasste, inhaltlich aber doch recht konventionelle Dankesschreiben für den Druck in Goethe’s ______________
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Dementsprechend schreibt Frau Rat an den Sohn: „antworten sol[s]t du nicht – das begehre Sie nicht – dazu wäre Sie zu gering – belästigen wolle Sie dich auch nicht – nur sehr selten“; ebd. Doch schon in ihrem nach dem 8. September 1807 geschriebenen Originalbrief an Goethe enthüllt Bettine Brentano, dass ihre Beteuerung nur ein strategisches Manöver war: „Ihre Mutter, schrieb, [...] daß ich keinen Anspruch an Antworten mache, daß ich keine Zeit rauben wollte, die ewiges hervorbringen kann, Sie hat Unrecht gehabt, denn ich mögte gern alle Zeit alle verfloßne und alle Zukünftige Ihnen rauben wenn mirs möglich wär, ohne böses Gewissen zu haben“; Bettine von Arnim: Werke und Briefe. Bd. 2 (Anm. 9), S. 578. Es ist abgebildet in Bettine von Arnim: Werke und Briefe. Bd. 2 (Anm. 9), Abb. 10. Leitzmann sowie Schüddekopf und Walzel nahmen irrigerweise noch an, es handele sich um „Amoretten“; Goethes Werke. Abt. IV, Bd. 20 (Anm. 5), S. 375, bzw. Goethe und die Romantik. 2. Theil (Anm. 6), S. 349. Knapp vier Monate später ließ sie ein selbst besticktes „Kleid“ folgen. Bettine von Arnim: Werke und Briefe. Bd. 2 (Anm. 9), S. 598. Ebd., S. 1005; Riemer bedankte sich dafür mit einem Sonett: Belehnt bin ich von Eurer Majestaet...; ebd., S. 1005 f. Näher erläutert wird die Strategie der briefschreibenden Autorin, ihre Gegenüber zum Dialog zu verführen oder sie zur Kommunikation zu nötigen, in meinem Aufsatz: Im Gespräch. Dialogizität bei Bettine von Arnim. In: Anne Frechen und Olivia Franke (Hg.): Dialog und Bewegung: Bettina von Arnim als Kommunikationsexpertin. Dokumentation eines öffentlichen Symposions im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf. Berlin 2011. S. 19–34.
Bettine von Arnim, Goethes’s Briefwechsel mit einem Kinde
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Briefwechsel mit einem Kinde ebenso behutsam wie entschlossen zu einem Schlüsseldokument umgeformt – mit weitreichenden Folgen für die Charakterzeichnung der korrespondierenden Personen und für die thematische Schwerpunktsetzung der Korrespondenz. Die Retuschen, die sie daran vorgenommen hat, wirken sich nachhaltig auf die Aussage des Schreibens aus, auch wenn sie den Wortlaut des Originalbriefs weitgehend unangetastet lassen und sich am Prinzip darstellerischer Ökonomie orientieren. (Genau hierin lässt sich übrigens die literarische Gestaltungskraft der Autorin erkennen.) Im Einzelnen verändert Bettine von Arnim ihre Vorlage auf drei verschiedenen Ebenen: – sie korrigiert das Datum des Geschriebenen und verändert damit dessen Position in der Abfolge der Briefe – sie modifiziert die Anredeform – schließlich fügt sie Passagen hinzu, die den Brief mit bekenntnishaften Elementen anreichern, die Beziehung zum Gegenüber thematisieren und indirekt den Adressaten charakterisieren. Der Brief verändert damit seinen Charakter grundlegend: Er verliert seine Funktion als lebensgeschichtliches Dokument und wird zum Gestaltungselement innerhalb einer wohlkalkulierten Werkkomposition. Da die auktoriale Editorin Bettine von Arnim nach außen aber weiterhin den Anschein erweckt, sie drucke real gewechselte Schreiben ab, beginnen die Texte zwischen Faktualität und Fiktionalität zu oszillieren.
IV. Veränderung des Datums Die auffälligste Änderung, die Bettine von Arnim vornimmt, betrifft das Datum.15 Während das originale Schreiben vom 8. Januar 1808 stammt, ist das Schreiben in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde auf den 5. September 1807 datiert. Diese Veränderung mutet unspektakulär an, sie hat jedoch erhebliche Rückwirkungen auf den Charakter des Textes. Zunächst verschiebt sich dadurch die Beziehungschronologie der Korrespondenzpartner. Während tatsächlich rund neun Monate zwischen dem persönlichen Kennenlernen und dem Eintreten Goethes in die Korrespondenz mit seiner jungen Verehrerin liegen, schrumpft diese Zeitspanne in der teilfingierten Edition auf etwa fünf Monate. Bezeichnend ist auch, dass die Goethe-Figur zum ersten Mal schreibt, bevor Bettine Brentano Anfang November 1807 zu einem zweiten Besuch nach Weimar kommt. Was in ______________ 15
Vgl. zum strategischen Einsatz von Zeitangaben in Bettine von Arnims Werken Bunzel: Arnims poetisches Verfahren (Anm. 8), S. 7–11.
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der Realität ein relativ langwieriger Prozess der Kontaktanbahnung war, wird im Goethe-Buch entscheidend verkürzt mit dem Ergebnis, dass das Aufeinander-Reagieren beider Personen in wesentlich kürzerer Frist geschieht und damit intensiver erscheint. In Wirklichkeit war schon die erste Begegnung Ende April von ungünstigen Begleitumständen getrübt. Mehrere Personen aus Goethes näherem Weimarer Umgang, namentlich seine Frau Christiane, aber auch der alte Freund Wieland, äußerten sich nämlich nach dem ersten Besuch Bettines negativ über sie. Goethe selbst „empfing sie wohl freundlich, wenngleich sein Tagebuch für den 23.4. nicht mehr als ihren Namen“16 erwähnt. Doch schon einen Monat später zeigte auch er sich verstimmt über ein – nicht erhaltenes – „Briefelein von der kleinen Brentano“,17 das einer Postsendung seiner Mutter vom 19. Mai beilag und ihm nach Jena nachgesendet wurde. Am 24. Mai schreibt er „fast verärgert“18 an seine Frau Christiane: Der Mutter Brief hat mich weit mehr erbaut als der Brief von Bettinen. Diese wenigen Zeilen haben ihr mehr bei mir geschadet, als Deine und Wielands Afterreden. Wie das zusammenhängt, auszulegen, dazu würde ich viele Worte brauchen.19
Auf die Anbahnungsphase der Korrespondenz trifft also zu, worüber sich Bettine Brentano in einem späteren Brief an Achim von Arnim vom 12. Februar 1809 beklagt: „Göthe antwortet mir nicht, es schlägt mich nieder. Ich weiß, daß er andern schreibt“.20 Betrachtet man die Sukzession der Schriftdokumente, so ergibt sich ebenfalls eine deutliche Diskrepanz. Fünf (rechnet man das verschollene „Briefelein“21 von Mitte Mai hinzu: sechs) Schreiben Bettines an Goethe in der Originalkorrespondenz des Zeitraums bis Anfang Januar 1808 stehen im Goethe-Buch zehn Briefe von ihr und fünf von ihm an sie in der deutlich kürzeren Zeitspanne bis Anfang September 1807 gegenüber. Bettine von Arnim verdreifacht also die Briefanzahl, sie macht aus der monologischen Schreibsituation eine Korrespondenz und sie erhöht die ______________ 16 17 18 19 20 21
Bettine von Arnim: Werke und Briefe. Bd. 2 (Anm. 9), S. 826 f. Catharina Elisabeth Goethe an Christiane von Goethe, 19.5.1807. In: Briefe der Frau Rath Goethe. Bd. 2 (Anm. 10), S. 156. Bettine von Arnim: Werke und Briefe. Bd. 2 (Anm. 9), S. 831. Hans Gerhard Gräf (Hg.): Goethes Ehe in Briefen. Der Briefwechsel zwischen Goethe und Christiane Vulpius 1792–1816. Frankfurt/M. 1994. S. 515. Bettine und Arnim: Briefe der Freundschaft und Liebe. Hg. v. Otto Betz und Veronika Straub. Bd. 2. Frankfurt/M. 1987. S. 129. Catharina Elisabeth Goethe an Christiane von Goethe, 19.5.1807. In: Briefe der Frau Rath Goethe. Bd. 2 (Anm. 10), S. 156.
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Frequenz der Schriftstücke dramatisch, so dass der Eindruck entsteht, gleich nach dem Kennenlernen sei es zu einem intensiven Kontakt zwischen beiden gekommen. Im Goethe-Buch jedenfalls ist der hier vorgestellte Brief schon das 16. Schreiben, das Bettine und Goethe miteinander wechseln, während es sich tatsächlich um den ersten Brief Goethes handelt, dem lediglich eine ohne Begleitbrief gesendete Abschrift zweier Sonette von Dezember 1807 vorangeht. Besonders auffällig ist, dass Bettine von Arnim dem mit der Vordatierung des Originalbriefes vom 9. Januar 1808 auf den 5. September 1807 einhergehenden Funktionswandel des Textes von einem Dankschreiben für Weihnachtsgeschenke zu einem Dankschreiben für Geburtstagspräsente nicht oder nur ungenügend Rechnung getragen hat. Dass ihr bewusst war, welche Veränderung sich durch den Datumswechsel ergab, belegt schon der Umstand, dass sie mit Goethes Geburtstag gezielt einen Anlass gewählt hat, der die Sendung von Geschenken nach Weimar in geeigneter Weise zu motivieren im Stande war. Bedenkt man des weiteren, wie präzise und ökonomisch zugleich die Modifikationen sind, die sie an der Vorlage vorgenommen hat, wird man nicht umhin können, den scheinbaren Lapsus, der daraus resultiert, dass sie das nun unpassende Wort „Christgott“ (S. 165) in der Bearbeitung unverändert stehen gelassen hat, und die logische Unstimmigkeit, die sich ergibt, weil zu einem Geburtstag gleich vier Personen mit Präsenten bedacht werden, als gewollt anzusehen. Mit anderen Worten: Bettine von Arnim nimmt offensichtlich bei ihrer Retuschierungsarbeit Ungereimtheiten in Kauf, weil so der aufmerksame Leser jener Inkongruenzen gewahr werden kann, die zwischen den Originalen und der Bearbeitung bestehen. Da die Differenz zwischen beiden im Endeffekt gering bleibt, kann die auktoriale Editorin den Anspruch auf Authentizität der vorgelegten Dokumente, der für die Wirkung ihres Werks von entscheidender Bedeutung ist,22 aufrecht erhalten und Einsprüche von Seiten der Philologen zurückweisen, gleichzeitig aber ______________ 22
Selbst gegenüber ihrem Vertrauten Karl August Varnhagen von Ense bekannte sie sich erst bei ihrer dritten Publikation Dies Buch gehört dem König offen zum freien Umgang mit historischen Quellen. Am 19. Februar 1842 notiert er in sein Tagebuch: „Abends Bettina von Arnim bei mir, liest mir einen großen Abschnitt aus ihrem Königsbuche vor, eine herrliche Komposition, worin sie die Mutter Goethe’s die tiefsinnigsten, kühnsten, schlagendsten Sachen über Hof und Fürsten, Kirche und Glauben, Regieren und Volkswesen, aussprechen läßt, in glücklichstem Humor vorgetragen. Zum erstenmale gestand sie mir völlig ein, daß hier mit der Wahrheit auch Dichtung sei, und daß sie den Anspruch auf buchstäbliche Wirklichkeit nicht mehr machen wolle. Hätte sie dies bei ihrem ersten Buche aufgegeben, wie viel Widerspruch und Verdruß hätte sie sich erspart!“ Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense. Tagebücher von K. A. Varnhagen von Ense. Bd. 2. Leipzig 1861. S. 23.
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diskret auf ihre literarische Konstruktionsarbeit hindeuten. Schon in der Widmungsvorrede für den Fürsten Pückler kommt sie ja in aller Deutlichkeit auf jene mit „Vorurteilen“ behafteten Rezipienten zu sprechen, die „dies Buch als unecht verdammen und sich selbst um die Wahrheit betrügen“.23 Insofern fungiert die Nichtanpassung des Briefinhalts an das veränderte Datum beim Schreiben vom 5. September 1807 als diskret gesetztes Fiktionalitätssignal. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Bettine von Arnim in der englischen Übersetzung ihres Werks das Wort „Christgott“ (S. 165) mit der Wendung „truly a little Divinity“24 übersetzte und so den bestehenden „Widerspruch“25 abschwächte. Denn der irritierende Umstand, dass zu Goethes Geburtstag außer dem Jubilar noch drei weitere Personen ‚beschert‘ werden, bleibt auch hier erhalten. Die Autorin vermeidet also lediglich den Anschein, hier könnte ein Übersetzerfehler vorliegen, behält aber die für sie charakteristische Doppelung von Authentizitäts- und Fiktionalitätssignalen bei. Erkennbar wird dies beispielsweise auch daran, dass sie sich Mühe gibt, in einem vorangehenden Schreiben eine Erklärung für die verräterischen Mehrfachpräsente zu liefern. Jedenfalls lässt die am 7. August 1807 von Goethe ausgesprochene, fingierte Aufforderung „Lebe wohl und komme Deinen Verheißungen nach“26 die üppige Geschenksendung zu seinem Geburtstag als Einlösung dieser „Verheißungen“ erscheinen.
V. Umwandlung der Anredeform Ähnlich weitreichende Auswirkungen wie die Veränderung des Datums hat ein zweiter, was den Textbestand anbelangt ebenfalls geringfügiger Eingriff in das Original, nämlich die Umwandlung der distanzierten „Sie“Anrede in ein intimes „Du“. Sie unterstützt und beglaubigt jene Vertrautheit des persönlichen Umgangs, die bereits durch die hohe Anzahl und die rasche Folge der Schriftzeugnisse wirkungsvoll suggeriert wird. Auch hier wieder differieren authentischer und überarbeiteter Briefwechsel deutlich voneinander. Realiter hat Goethe erstmals am 22. Februar 1809 Bettine gegenüber das ‚Du‘ gebraucht, und zwar bezeichnenderweise im ersten Brief, den er nach dem Ableben seiner Mutter an sie geschrieben hat. ______________ 23 24 25 26
Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (Anm. 2), unpaginiert. [Bettine von Arnim:] The Diary of a Child. O. O. [London] 1838. S. 182. Bettine von Arnim: Werke und Briefe. Bd. 2 (Anm. 9), S. 998. Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (Anm. 2), S. 102.
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Obgleich Goethe zu diesem Zeitpunkt seine Geburtsstadt schon lange nicht mehr besucht und nur noch sporadisch Kontakt zu Catharina Elisabeth unterhalten hatte, markierte ihr Tod für ihn doch eine Art Zäsur, mit der auch das Verhältnis zu Bettine Brentano in eine neue Phase eintrat. Erst jetzt wurde Bettine zu einem leibhaftigen „Erbstück“27 der Mutter, das über deren Tod hinaus die Erinnerung aktualisierte an Frankfurt und seine Jugendzeit.28 Die durchaus wehmütige Sentimentalität, die sich in diesem Zusammenhang bei Goethe einstellte, ließ ihn die Verdienste, die sich die junge Korrespondenzpartnerin als freundschaftlicher Umgang in Catharina Elisabeths letzten Lebensjahren erworben hatte, höher schätzen, was wiederum dazu führte, dass er sich ihr gegenüber eine größere Vertraulichkeit gestattete. Dieser Befund ließe vermuten, dass Bettine von Arnim die in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde mitgeteilten Dokumente brachial retuschiert hat, was die Personenanrede betrifft. Dem ist freilich nicht so. Vielmehr findet sich zumindest von Bettines Seite aus das ‚Du‘ schon früh in der Korrespondenz. Bereits am 6. Oktober 1807 – mithin weniger als vier Monate nach der Kontaktaufnahme – nahm sie sich in Antizipation jener Stilisierungspakte, die sie später mit ihren Korrespondenzpartnern einging, die Freiheit, ihr Gegenüber zumindest in spielerischem Übermut zu duzen: „Ich mögte gar zu gern recht vertraulich Kindisch und selbst ungereimt an Sie Schreiben dürfen, wie mirs in Kopf käme darf ich?“29 Ohne die Erlaubnis dazu abzuwarten, redete sie in ihrem knapp zwei Monate später geschriebenen Folgebrief Goethe ungeniert mit ‚Du‘ an. Mit dieser Überrumpelungsstrategie schlüpfte die damals 22-jährige Bettine bereits in der Originalkorrespondenz in die Rolle des unmündigen Kindes und installierte jenes Reife- und Bedeutungsgefälle, das dann die Figurenkonstruktion in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde bestimmt.
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29
Johann Wolfgang von Goethe an Carl August von Sachsen-Weimar, 13.9.1826. In: Briefwechsel des Herzogs-Großherzogs Carl August mit Goethe. Hg. v. Hans Wahl. Bd. 3. Berlin 1918. S. 238. Das Zurücksteigen „in die eigne Jugend“ ist dann in doppeltem Wortsinn ein zentrales Thema des Goethe-Buchs; Bettine von Arnim: Werke und Briefe. Bd. 2 (Anm. 9), S. 579. Zum einen führt Bettine von Arnim einen Goethe vor, der sich durch den Umgang mit ihr verjüngt, zum anderen inszeniert sie durch die Publikation der überarbeiteten Briefe selbst jenen Rückbezug auf ihre Mädchenjahre, die das Buch vor allem beim jüngeren Publikum zu so einem durchschlagenden Erfolg werden ließ. Ebd.
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VI. Hinzufügung neuer Textpassagen In zwei der drei Abschnitte des Originalbriefs fügt Bettine von Arnim zusätzliche Textpassagen ein. Im ersten Absatz sind das lediglich ein Adjektiv: „schönen“ (S. 166) und ein relativ kurzer Einschub. Doch selbst quantitativ geringfügige Ergänzungen können die ursprüngliche Aussage des Briefes merklich verändern. Die beim ersten Lesen relativ unscheinbar wirkende Textergänzung: „– und soll ich Dich schelten oder loben, daß Du mich wieder zum Kinde machst? Denn mit kindischer Freude hab’ ich deine Bescherung verteilt und mir selbst zu geeignet“ (S. 166) beispielsweise akzentuiert nicht nur den Charakter Goethes um, sondern rückt auch sein Verhältnis zu Bettine in ein neues Licht. In Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde bedankt sich der Weimarer Dichter nicht mehr mit wohlgesetzten Worten, die den Rahmen der Höflichkeit nie verlassen, für übersandte Geschenke, sondern er bekennt, dass ihn just die von Bettine stammenden Präsente verwandelt hätten. Offenbar weil sie so zahlreich und so sorgfältig ausgesucht gewesen sind, sei er selbst bei ihrem Empfang „wieder zum Kinde“ geworden. Und als solcherart in seine Kindheit zurück Versetzter habe er sie dann „mit kindischer Freude“ an die anderen Personen in seinem Lebensumfeld verteilt. Ganz gezielt fügt Bettine von Arnim hier zweimal die Vokabel ‚Kind‘ ein, die ja – wie schon der Titel zeigt – als zentraler Begriff ihres Erstlingswerks angesehen werden muss. Während es sonst aber die BettineFigur ist, die sich als unmündiges, zugleich aber auch unverbildetes Kind darstellt, sieht der Leser hier, wie Goethe selbst sich zurückverwandelt. Auf der latent allegorischen Verständnisebene, welche die Autorin den gesamten Texten unterlegt, bedeutet dies, dass der alte Goethe von Bettine verjüngt wird. Indem sie ihn und seine Familienangehörigen mit einer Vielzahl von genau auf die jeweilige Person zugeschnittenen Präsenten bedenkt, erlebt sich der gealterte und deshalb im Umgang zeremoniös gewordene Goethe noch einmal als Kind und fühlt sich in die Zeit zurückversetzt, die er in seinem Frankfurter Elternhaus verbracht hat. Es ereignet sich mithin ein vielsagender Rollentausch, und Goethe rückt momenthaft in die Position seiner Korrespondenzpartnerin. Eine solche – herbei geschriebene – Verkehrung der Rollen kommt natürlich einer beispiellosen Selbstermächtigung gleich.30 Bettine von Arnim deutet damit nicht nur an, welche Macht sie – angeblich – über ______________ 30
Vgl. das Kapitel „Vom erzogenen zum erziehenden Kind“ in der Studie von Ulrike Landfester: Selbstsorge als Staatskunst. Bettine von Arnims politisches Werk. Würzburg 2000. S. 98–120.
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Goethe hatte, sie signalisiert auch, wie Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde eigentlich zu verstehen ist, nämlich als Textinszenierung, mit deren Hilfe sie ihre besondere Form von subversiver Autorschaft begründet31 und einen Deutungsanspruch auf die miterlebte Vergangenheit anmeldet.32 Zugleich implementiert sie in das Briefgespräch mit Goethe eine Zentralkategorie romantischer Ästhetik33 und suggeriert, dass sich der Weimarer Dichter unter ihrem Einfluss diesen Denkkonzepten zumindest partiell aufgeschlossen gezeigt habe. Der zweite, längere Einschub im zweiten Absatz wiederum ist ein gutes Beispiel dafür, wie Bettine von Arnim sich vermeintlich durch ihr Gegenüber oder mit Hilfe von mitgeteilten Äußerungen Dritter selbst charakterisieren lässt. Der erfundene Goethe attestiert ihr in diesem Zusammenhang Vielseitigkeit, Einfallsreichtum und eine facettenreiche Persönlichkeit: „Du kommst mir [...] in jedem deiner lieben Briefe [...] immer neu und überraschend, so daß man glauben sollte, von dieser Seite habe man Dich noch nicht gekannt“ (S. 166). Umgekehrt modelliert sie aber auch den Charakter ihres Briefpartners bzw. die besondere Art der Beziehung zu diesem heraus. Indem sie Goethe bekennen lässt, dass ihn beim Lesen ihrer kurzweiligen Briefe zuweilen „eifersüchtige[ ] Grillen“ (S. 166) anwandeln, wird der Kontakt zwischen beiden als verkapptes Liebesverhältnis erkennbar. Christiane von Goethe hat im Figurenkonstrukt von Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde dann zwar die Rolle der rechtmäßigen und in dieser Funktion unangefochtenen Ehe- und „Hausfrau“ (S. 166) inne, Bettine aber nimmt die des faszinierenden und begehrenswerten Mädchens ein, das Goethes Aufmerksamkeit auch aus der Distanz zu fesseln vermag. Das von der Herausgeberin nachträglich hinzugefügte Geständnis, dass Goethe die „Mitteilungen“ Bettines „jetzt nicht mehr gerne entbehren“ (S. 166) möchte, motiviert und bekräftigt abermals die – editorisch hergestellte – Intensivierung des Briefdialogs. Zugleich schafft eine solche Dankbarkeitsäußerung ein Gegengewicht zu all jenen in der Korrespondenz vorfindlichen (und im Goethe-Buch durchaus nicht unterdrückten) Signalen, in denen zum Ausdruck kommt, wie Goethe mit Höflichkeits______________ 31 32 33
Vgl. Wolfgang Bunzel: Schrift und Leben. Formen der Subversion von Autorschaft in der weiblichen Briefkultur um 1800. In: Jochen Strobel (Hg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006. S. 157–176. Vgl. Wolfgang Bunzel: Lippen auf Marmor. Bettine von Arnims epistolare Erinnerungspolitik im Kontext der Briefeditorik des 19. Jahrhunderts. In: Detlev Schöttker (Hg.): Adressat Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. Paderborn 2008. S. 161–180. Vgl. besonders Gerhard Schaub: Le génie enfant. Die Kategorie des Kindlichen bei Clemens Brentano. Berlin, New York 1973.
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floskeln seine Distanz und mangelnde Teilnahme kaschiert. Auf diese Weise entsteht nämlich der Eindruck, zwischen den Briefpartnern habe eine Art von Geheimsprache bestanden. Demnach seien alle förmlichen und unbeteiligt wirkenden Äußerungen Goethes in z. T. sogar einem Schreiber in die Feder diktierten Briefen den Zwängen der Konvention geschuldet. Aber auch hinter diesen Beispielen uneigentlicher Kommunikation verberge sich eine hohe und liebende Wertschätzung, die allerdings nur gelegentlich explizit verbalisiert werde. Das Ergebnis dieser Darstellungsstrategie ist erstaunlich, weil dadurch alle brieflichen Aussagen Goethes eine Doppelbödigkeit erhalten und der Leser sich dazu aufgerufen sieht, hinter den Worten nach einem versteckten Sinn bzw. dem tatsächlich Gemeinten zu suchen. Und noch eine weitere wichtige Fähigkeit schreibt Bettine von Arnim in dem nachträglich eingefügten Briefeinschub sich zu: die der klug operierenden Diplomatin. Goethe attestiert seiner Briefpartnerin explizit „diplomatisches Talent“ (S. 166): „ein belobendes Wort muß ich Dir hier sagen für die Art, wie Du dich mit meinem gnädigsten Herrn verständigt hast.“ (S. 166) Diese Passage nährt nicht nur den Eindruck, die heranwachsende Bettine verkehre ganz selbstverständlich mit hochgestellten Persönlichkeiten wie dem weimarschen Landesherrn Carl August, sondern suggeriert auch, sie werde von diesen wegen der feinfühligen Art, mit der sie mit heiklen – u. U. sogar politischen – Angelegenheiten umgehe, besonders geschätzt. Hier entfernt sich die auktoriale Editorin am weitesten von der Realität. Dass Bettine Brentano den Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach bereits zu diesem frühen Zeitpunkt kennengelernt hat, erscheint hochgradig unwahrscheinlich, ebenso dass sie sich mit ihm „verständigt“ hat – selbst wenn das nur heißen soll, sie habe gewandt mit ihm kommuniziert. Völlig ausgeschlossen aber ist, dass dieser darauf ihre diplomatischen Fähigkeiten „bewundert“ hätte. Vorbereitet wird die nachträglich in das Schreiben vom 9. Januar 1808 eingefügte Passage über ihr „diplomatisches Talent“ durch den unmittelbar vorangehenden Brief vom 21. August 1807. Hier wird im Haupttext geschildert, wie Dalberg Bettine zu Tisch gebeten habe, damit sie ihm Einzelheiten von ihrem Besuch bei Goethe berichte: Der Primas hat mich auch einladen lassen, wie er hörte, daß ich von Weimar komme; ich sollte ihm von Dir erzählen. Da hab’ ich ihm allerlei gesagt, was ihm Freude machen konnte. [...] Der Primas hat mir noch Aufträge gegeben; ich soll Dir sagen, daß wenn dein Sohn kommt, so soll er ihn in Aschaffenburg besuchen, wohin er in diesen Tagen abreist.34
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Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (Anm. 2), S. 108 f.
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Durch die erwähnten „Aufträge“ wird Bettine quasi offiziell zur Emissärin zwischen Frankfurt und Weimar, die Informationen zwischen hochgestellten Persönlichkeiten aus Kultur und Politik übermittelt. Die Nachschrift dann motiviert, wie es zum Kontakt mit Carl August von SachsenWeimar-Eisenach gekommen sei: Die Mutter läßt mich heut’ rufen, und sagt’, sie habe einen Brief von Dir, und läßt mich nicht hinein sehen, und sagt, Du verlangst, ich soll dem Dux schreiben ein paar Zeilen, weil er die Artigkeit gehabt hat, für die umgestürzte Linde zu sorgen [...]. Dem Dux [...] sage, was meine Devotion mir hier eingibt: daß es ein andrer hoher Baum ist, für dessen Pflege ich ihm danke, dessen blühende Äste weit über die Grenzen des Landes in andre Weltteile ragen, und Früchte spenden und duftenden Schatten geben. Für den Schutz dieses Baumes, für die GnadenQuelle die ihn tränkt, für den Boden der Liebe und Freundschaft, aus welchem er begeisternde Nahrung saugt, bleibt mein Herz ihm ewig unterworfen, und dann dank’ ich ihm auch noch, daß er der Wartburger Linde nicht vergißt.35
Die im überarbeiteten Brief vom 5. September erwähnte ‚Verständigung‘ zwischen Bettine und Carl August meint demnach ein auf Goethes Wunsch verfasstes Schreiben von ihr an ihn (das natürlich realiter nicht existiert) und eine (gleichfalls fingierte) vorangehende persönliche Unterhaltung in Weimar über eine sonst nicht näher spezifizierte „Wartburger Linde“, die durch Bettines Einsatz gerettet worden sei.36 Derartige für den Leser nicht oder nur teilweise verständlichen Stellen erhöhen paradoxerweise die Glaubwürdigkeit des Mitgeteilten, weil Privatbriefe stets Informationen enthalten, die von Dritten nicht unmittelbar nachvollzogen werden können.37 Genau so funktioniert auch die – schon im Originalbrief enthaltene – Erwähnung von „Stollens Attention auf dem blauen Papier“ (S. 165). Der Umstand, dass Bettine von Arnim in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde weder die Identität der erwähnten Person lüftet noch ______________ 35 36 37
Ebd., S. 109 f. Im Hinblick auf den souveränen Umgang Bettine von Arnims mit der Chronologie der abgedruckten Briefe und auf die kompositorische Dichte von Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde ist auch zu bedenken, dass Carl August am 3. September Geburtstag hatte. Anton hat diese Verfahrensweise detailliert beschrieben: „Der Leser versteht die einzelnen Briefteile stets mit einer kleinen Verspätung. Gerade das macht den Brief aber so glaubhaft und ‚echt‘. Würde der Leser alles sofort verstehen, hätte er den Eindruck, der Brief sei überhaupt nur für ihn geschrieben worden, also gerade nicht authentisch. Das Nachreichen von Informationen, oder genauer von Assoziationen, hat zur Folge, daß der Leser zwar versteht, worum es geht, weiterhin aber das Gefühl behält, als hätte er heimlich an etwas Intimem teil, das ursprünglich nur einem, nämlich Goethe, zugedacht war.“ Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1995. S. 86.
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die Art und Weise der erwähnten „Attention“ aufklärt,38 sorgt dafür, dass der Leser den Eindruck erhält, er werde Zeuge einer vertraut-intimen Briefkommunikation, die nicht für ihn bestimmt ist. Er vergisst dabei, dass just er der eigentliche Adressat der publizierten Briefe ist, die speziell für ihn aufbereitet wurden. Die „Attention auf dem blauen Papier“ (S. 167) eignet sich darüber hinaus vorzüglich, um zu demonstrieren, dass Goethe sich bereits im Sommer 1807 durch Gegengaben bei Bettine erkenntlich gezeigt habe. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, beide hätten schon früh ein inniges Verhältnis zueinander unterhalten, das ein regelmäßiger do-ut-des einschließt. Der Vergleich des Originaldokuments mit der Version in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde führt paradigmatisch vor, wie geschickt die auktoriale Selbsteditorin Bettine von Arnim bei der späteren Überarbeitung lebensweltliche Zeugnisse interpoliert hat. Sie geht dabei gewöhnlich recht behutsam vor und nimmt nur da Veränderungen vor, wo es ihr unbedingt nötig zu sein scheint. Die Eingriffe selbst allerdings geschehen durchweg beherzt und erfolgen ohne Zögerlichkeit. Genau diese Kombination von Zurückhaltung und Entschlossenheit im Zugriff auf die Texte hat die Forschung lange Zeit irritiert und macht es auch heutigen Lesern noch schwer, Bettine von Arnims Vorgehensweise angemessen zu bewerten. Geht man nur vom Umfang der vorgenommenen Veränderungen aus, so wird man versucht sein, die Autorin als zwar nicht philologisch genaue, aber doch alles in allem relativ quellentreue Bearbeiterin einzustufen. Erst wenn man die Präzision und Konsequenz ihres editorischen Verfahrens in den Blick nimmt, lässt sich erkennen, wie sehr sie durch gezielte Kontextveränderung den Charakter sämtlicher im Druck präsentierter Schriftstücke verändert und wie dadurch sämtliche lebensweltlichen Quellen zu Material eines auktorialen Gestaltungswillens werden.
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Dies leisten dann erst die Kommentare wissenschaftlicher Ausgaben; vgl. etwa Bettine von Arnim: Werke und Briefe. Bd. 2 (Anm. 9), S. 998 f.
Otto von Bismarck an Leopold von Gerlach, 28. Dezember 1851 Ew. Excellenz danke ich von Herzen für das gütige Schreiben, welches ich vor dem Fest von Ihnen erhalten habe. Ich würde meinem Schmerz über Ihre Zweifel daran, ob ich Werth auf die Uebereinstimmung mit Ihnen lege, sogleich Luft gemacht haben, wenn nicht Weihnachten, neben seiner christlichen und häuslichen Freude, die störenden Angebinde der Geburtstagsfeier der reizenden jungen Herzogin in Wiesbaden und den schweren Todeskampf der Deutschen Flotte in meinen Lebensweg geworfen hätte. Der erste Eindruck, den mir der zweite Dezember machte, war ein gemischter, ähnlich dem, als das Gehöft eines mir benachbarten Demokraten und Leuteschinders brannte; der Antheil des Ormuzd in mir fand das Schauspiel peinlich, während Ariman in den dunkeln Winkeln meines Herzens ein uneingestandenes Behagen verbreitete, gemischt aus der befriedigten avidité d’émotions und dem Gedanken, daß es nicht mich, und daß es grade diesen traf. So dachte ich mir Frankreich unter dem Gesichtspunkte fiat experimentum in corpore vili; Gott zeigt uns, wohin das führt, wenn ein Volk das Festland der Legitimität steuerlos verläßt, um sich dem Malstrom der Revolution anzuvertrauen. Wie Hamlet, nachdem er den constitutionellen Philister Polonius erstochen hat, zu seiner Mutter, so mag auch der Präsident zu Frankreich sagen: a bloody deed, almost as bad, good mother, as kill a king and marry with his brother, wobei ich den hinkenden Vergleich dahin ausdehne, daß ich den brother durch den cousin, Hamlets Stiefvater durch Louis Phil[ippe] und die Orleans wiedergegeben finde. Sie werden sagen: viel Kohl für einen Menschen, der keine Zeit zu haben behauptet. Der Bonapartismus ist bei uns in Preußen, möchte ich behaupten, älter als Bonaparte, nur in milderer deutscher Form; die letztre hat er einigermaßen abgestreift, als er sich in Gestalt der aus dem Königlich Westphälischen bulletin übersetzten Hardenbergischen Gesetzgebung in mehr Französischer Form introducirte; jetzt finde ich ihn bei uns vorzugsweise durch die liberalisirende Bürokratie körperlich dargestellt; daß ich ihn in dieser Form nicht anfeinde, werden Sie von mir nicht vermuthen. Wenn ich den Zustand der Französischen Bevölkerung nach der Analogie derjenigen Wirkungen beurtheile, welche Französische Herrschaft und Nachbarschaft auf die Anwohner des Mittel- und Oberrheins geübt haben, so muß ich jede Hoffnung auf lange hin aufgeben, daß eine andre als eiserne Gewaltherrschaft dort möglich sei. Wenn unbotmäßiger Hochmuth in Verbindung mit neidischem Streben nach Geld und Genuß jeden andern Regulator verloren haben, als die Furcht vor den Uebeln, die das Gesetz androht, so weiß ich nicht, wie
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dieses Volk anders regirt werden kann als mit dictatorischer Handhabung des eisernen Scepters, mit welchem die Hand des legitimen Königs von Gott und Rechts wegen unter sie schlagen würde, während Bonaparte dadurch, daß er Frankreich diesen nützlichen Dienst erweist, den Character eines unberechtigten aventurier’s in meinen Augen nicht verliert. Ich kann mich nicht recht in die Lage des Präsidenten denken, weil ich schon auf dem Wege dahin den Stab über mich brechen müßte und als Franzose nur mit Genehmigung des sanften Heinrich von Frohsdorf die Präsidentschaft hätte annehmen können. Als Preuße kann ich mich nicht freuen über den 2. Dezember, weil ich nur einen Feind, der krank war, momentan erstarken sehe mit der beiläufigen Consequenz, daß ein leichtsinniger und lügenhafter Freund, Oestreich, einen Zuwachs von Unverschämtheit aus dieser Thatsache zieht. An Kriegsgelüste Bonaparte’s glaube ich nicht, ich bin sogar überzeugt, daß er alles aufwenden wird, den Frieden zu erhalten, weil Krieg die Armee von ihm lösen würde; aber ich kann mir nicht denken, daß er sich der Armee gegenüber auf die Dauer hält. Das Element, welches ihn bei der nichtmilitärischen Bevölkerung trägt, Ermattung und Zerfahrenheit, fehlt im Heere. Ich habe heut einen langen Bericht an Herrn v. Manteuffel über Flotte und Oestreich expedirt; ich würde sehr dankbar sein, wenn Ew. Excellenz ihn sich geben ließen, da ich nach Ihrer Ansicht und eventuellen Zustimmung begierig bin. Die Einführung rücksichtsloser Majoritätenherrschaft mit dem Motto: stat pro ratione voluntas, hält der Bundestag nicht aus; wenn wir das dem Wiener Cabinet nicht bei Zeiten ad oculos demonstriren, so geht der ganze Bund aus dem Leim. Es ist nicht zu verlangen, daß alles grade so geht, wie wir wollen, aber es ist zu erwarten, daß man sich davor hütet, wichtige Beschlüsse zu fassen, bei denen Preußen in protestirender Minorität ist. Bei der unvermeidlichen Reaction unsrerseits gegen ein solches „Unterfuttern“ Preußens thut mir Thun leid; er ist an collegialischen Geschäftsbetrieb und Discussion von früher her nicht gewöhnt, dabei trotz seines bärenhaften Aeußern nervös und von Migräne geplagt wie eine Dame; nach einer lebhaften Erörterung, in der wir uns nicht einigen, liegt er am andern Tage bis 5 Uhr Mittags zu Bett und kommt dann so elend und niedergeschlagen zum Vorschein, daß ich ihm gleich Flotte, Bundes-Corps und 7. September mitleidig in die Hand drücken möchte, so nah geht mir sein Zustand. Ich habe ihn eigentlich persönlich lieb, trotz der Bauernpfiffigkeit, die unser allergnädigster Herr „Spanische Praktiken“ titulirt, und hätte ihn recht gern zum Nachbarn bei Schönhausen. Er sucht den Grund der Differenzen dann viel eher in persönlichen Stimmungen und Vorurtheilen, als in der Geschichte Deutschlands. Der Sturz Wintzingerode’s in Nassau ist übel für uns. Der Einfluß von F. M. L. Leiningen dominirt den Herzog, und Menßhengen hier ist
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mit dem ganzen Hofgesinde in Wiesbaden verschwägert; unser lieber Canitz wird schwer dagegen aufkommen. A propos von Nassau überzeuge ich mich, daß ich Ihnen doch morgen nochmals schreiben muß, denn jetzt steht der Canzlist hinter mir und erwartet mit der Uhr in der Hand den Schluß dieses flüchtigen Geschreibsels. Verzeihn Sie die Eile, aber ich habe heut den lieben Sonntag über von 8 Uhr bis jetzt, ohne mich anzuziehn, gearbeitet. Meine unterthänige Empfehlung an Ihre Damen. Ew. Excellenz diplomatischer Säugling und gehorsamster Diener Frankfurt, 28. 12. 51 v. Bismarck. (Geburtstag meines aîné und Erben). Ich komme bald nach Neujahr, gegen den 7. Ich habe es nicht nochmals lesen können, pardon, wenns wo fehlt. Bismarcks Briefe an den General Leopold von Gerlach. Hg. v. Horst Kohl. Berlin 1896. S. 12–15.
Hans-Christof Kraus
Emanzipation eines „diplomatischen Säuglings“ – ein Brief Otto von Bismarcks an Leopold von Gerlach Im Jahr 1869 erschien Das Buch vom Grafen Bismarck, verfasst von dem Journalisten und Buchautor George Hesekiel, einem langjährigen Mitarbeiter der konservativen Kreuzzeitung und verlässlichen Bismarck-Bewunderer. Der Dargestellte hatte ganz offensichtlich dieses populäre, später vielfach neu aufgelegte Werk als gewissermaßen erste ‚offiziöse‘ Biographie persönlich inspiriert und mit Material versehen, darunter mit Briefen, die er an seine Schwester Malwine von Arnim und an seine Gattin Johanna von Bismarck, geb. von Puttkammer, aber auch bereits an Diplomaten und Politiker geschrieben hatte.1 Die erstaunte Öffentlichkeit konnte hier erstmals wahrnehmen, in welch hohem Grade Bismarck – der die Deutschen dieser Jahre mit seiner Politik entschieden polarisierte und deshalb gleichermaßen verehrt wie gehasst wurde – ein stilistisch überaus versierter, höchst originell formulierender, bilder- und metaphernreicher, dazu noch literarisch informierter, ja ungemein gebildeter Briefschreiber war. Der Jahrzehnte später, schon zwei Jahre nach Bismarcks Tod erschienene Band Fürst Bismarcks Briefe an Braut und Gattin, offiziell herausgegeben vom älteren Sohn Herbert von Bismarck, erlangte nicht nur unter dem patriotisch, ‚bismarckisch‘ gesinnten Publikum des wilhelminischen Kaiserreichs zeitweilig sogar den Status eines (ebenfalls wiederum vielfach aufgelegten) ‚Kultbuchs‘.2 In rascher Folge kamen weitere Editionen von Bismarck-Briefen hinzu, die jenen ersten Eindruck aus dem Jahr 1869 bestätigten und vertieften.3 Schon früh wurde bemerkt, dass der später als ‚Eiserner Kanzler‘ der Deutschen, als harter Realpolitiker wie auch als erfolgreichster Diplomat seiner Epoche berühmt gewordene Politiker ein Stilist von überaus hohen Graden gewesen ist, dessen „sprachliche Virtuosität“, wie einmal treffend angemerkt wurde, „nicht von seiner Persönlichkeit, wohl aber von seiner ______________ 1 2 3
George Hesekiel: Das Buch vom Grafen Bismarck. Bielefeld, Leipzig 1869; zu Hesekiel als Schriftsteller und Publizist siehe auch Otto Neuendorff: George Hesekiel. Berlin 1932. Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin. Hg. v. Fürst Herbert Bismarck. Stuttgart, Berlin 1900. Karl Erich Born verzeichnet bis 1957 allein dreiunddreißig verschiedene Briefausgaben. Vgl. ders. (Hg.): Bismarck-Bibliographie. Quellen und Literatur zur Geschichte Bismarcks und seiner Zeit. Köln, Berlin 1966. S. 158 f.
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Leistung abzutrennen“ wäre. Bekannt ist jedenfalls Bismarcks enge „Vertrautheit mit der Dichtung Shakespeares und Goethes, Schillers und Byrons“,4 die ihm die Möglichkeit zu keineswegs seltenen literarischen Anspielungen, zu direkten oder auch indirekten Zitaten und Vergleichen lieferte. Bismarck hatte, wie Friedrich Gundolf einmal treffend formulierte, „sein Leben lang eine fast rückhaltlose, vorurteilsfreie Zärtlichkeit für Geist, Witz und kurze Weile“,5 und eben diese bestimmte auch den Stil seiner privaten Korrespondenz, in der, so wiederum Gerhard Masur, „das Heiter-Melancholische, das Schwungvoll-Stürmische und Idyllisch-Versponnene“6 überwiegt. Der Brief, den Bismarck aus Frankfurt am Main kurz nach den Weihnachtstagen des Jahres 1851 an Leopold von Gerlach richtete, stammt freilich aus einer Zeit, als der Briefschreiber noch kein in ganz Europa bekannter und geachteter wie gefürchteter Politiker war, sondern ein junger, unerfahrener Diplomat, in mehr als einer Hinsicht sogar noch ein sozusagen ‚blutiger Anfänger‘ in seiner Stellung als preußischer ‚Außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister‘ am Deutschen Bundestag zu Frankfurt am Main. Im Grunde hatte ihn kaum etwas zu dieser politisch exponierten Stellung qualifiziert – ausgenommen seine hervorragenden politischen Verbindungen zu den seinerzeit, in der ‚Reaktionsära‘ nach 1850, tonangebenden konservativen politischen Führungsschichten in Preußen, und vor allem seine vorzügliche, durch stete Lektüre geförderte Bildung sowie seine exzellenten französischen und englischen Sprachkenntnisse, die für einen Landadligen in dieser Zeit durchaus ungewöhnlich waren.7 Eine diplomatische Ausbildung, wie sie damals bereits üblich war, war von Bismarck dagegen nicht absolviert worden;8 er hatte lediglich ein kurzes juristisches Studium und ein unter eher unrühmlichen Umständen abgebrochenes Referendariat hinter sich. Ansonsten hatte ______________ 4 5 6 7
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Die Zitate: Gerhard Masur: Bismarcks Sprache (1932). In: Ders.: Geschehen und Geschichte. Aufsätze und Vorträge zur europäischen Geistesgeschichte. Berlin 1971. S. 100–113, hier S. 101. Friedrich Gundolf: Bismarcks Gedanken und Erinnerungen als Sprachdenkmal (1931). In: Ders.: Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte. Heidelberg 1980. S. 302–317, hier S. 307. Masur: Bismarcks Sprache (Anm. 4), S. 102. Vgl. hierzu auch Frank-Lothar Kroll: Der intellektuelle Bismarck. In: Bernd Heidenreich, Hans-Christof Kraus u. a. (Hg.): Bismarck und die Deutschen. Berlin 2005. S. 157–168; Hans-Christof Kraus: Bismarck. In: Wilhelm Kühlmann (Hg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Bd. 1. 2. überarbeitete Aufl. Berlin, New York 2008. S. 567–569. Grundlegend hierzu: Dietmar Grypa: Der Diplomatische Dienst des Königreichs Preußen (1815–1866). Institutioneller Aufbau und soziale Zusammensetzung. Berlin 2008. S. 196– 235.
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Bismarck, in seinen jungen Jahren in Ostelbien als ‚toller Junker‘ eher berüchtigt als angesehen, lediglich seine pommerschen Güter verwaltet und Landwirtschaft betrieben.9 Erst die Bekanntschaft mit gewissen christlich-pietistisch und konservativ gesinnten Landadelskreisen in Hinterpommern, in deren Umfeld er Mitte der 1840er Jahre auch seine spätere Frau Johanna von Puttkammer kennenlernte, brachte Bismarck in Kontakt zu politisch einflussreichen Persönlichkeiten aus dem Umfeld des seit 1840 regierenden Königs Friedrich Wilhelm IV., die recht bald schon die außerordentlichen persönlichen und politischen Talente des rhetorisch gewandten, gebildeten, vor allem aber nach persönlicher, religiöser und politischer Orientierung suchenden Landjunkers erkannten. Von besonderem Einfluss waren hier die beiden Brüder Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach; der erste war General und etwas später auch persönlicher Adjutant des Königs von Preußen, der zweite wiederum amtierte als Präsident des Oberlandesgerichts in Magdeburg und agierte bald darauf als einflussreicher konservativer Parlamentarier und Publizist.10 Geprägt von den Erfahrungen der ‚Franzosenzeit‘ und der Befreiungskriege gegen Napoleon sowie vom politischen Denken der Spätromantik und der Restauration nach 1815, verfochten beide Brüder streng christlich-konservative Überzeugungen. Es gelang ihnen, Bismarck schon vor der – von ihnen übrigens vorausgeahnten und befürchteten – Revolution von 1848 in ihr politisches Umfeld zu ziehen; der bis dahin politisch unerfahrene Junker wurde bereits im Jahr 1847 Mitglied des Ersten Vereinigten Landtags des Königreichs Preußen, betätigte sich ab 1848 im Umfeld der Gerlachs als konservativer Journalist11 und ließ sich 1849 erstmals in die Zweite Kammer des nach den Grundsätzen der neuen Verfassung errichteten preußischen Parlaments wählen. Natürlich wusste Bismarck sehr genau, was er seinen beiden politischen Mentoren zu verdanken hatte und was diese wiederum von ihm ______________ 9
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Zur frühen Biographie Bismarcks siehe aus der reichhaltigen Literatur vor allem Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt/M. u. a. 1980. S. 27–124; Ernst Engelberg: Bismarck. Bd. 1. Urpreuße und Reichsgründer. Berlin 1985. S. 85–362; Otto Pflanze: Bismarck. Bd. 1. Der Reichsgründer. München 1997. S. 15–91. Knapper Überblick: Hans-Christof Kraus: Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach. In: Bernd Heidenreich (Hg.): Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus. 2. völlig neu bearbeitete Aufl. Berlin 2002. S. 155–177; ausführlich zum historischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhang: Hans-Christof Kraus: Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen. Bd. 1. Göttingen 1994. S. 33–290. Vgl. Horst Kohl: Herr von Bismarck-Schönhausen als Mitarbeiter der Kreuzzeitung I-II. In: Bismarck-Jahrbuch 1 (1894). S. 469–483; 3 (1896). S. 398–430; Bernhard Studt: Bismarck als Mitarbeiter der ‚Kreuzzeitung‘ in den Jahren 1848 und 1849. Blankenese 1903.
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erwarteten. Er verdankte ihnen übrigens nicht nur den unmittelbaren Einstieg in das politische Leben als Abgeordneter, sondern auch den (von Leopold von Gerlach vermittelten) aus den genannten Gründen höchst ungewöhnlichen Eintritt in den diplomatischen Dienst im Mai 1851, dazu noch die Berufung auf den politisch keineswegs unerheblichen Posten des preußischen Bundestagsgesandten in Frankfurt am Main – „zum Entsetzen der diplomatischen Welt“.12 Bismarck war und blieb also, gerade weil er als unerfahrener und nicht speziell ausgebildeter Jungdiplomat zuerst eine höchst umstrittene Figur darstellte, auf die Gunst seiner einflussreichen Förderer dringend angewiesen; sollte sich seine soeben erst begonnene Karriere weiter fortsetzen, dann durfte er es sich gerade mit ihnen – speziell mit Leopold von Gerlach, der über das Ohr des Königs verfügte – nicht verderben. Doch andererseits begannen sich, kaum dass Bismarck seinen neuen Posten in Frankfurt am Main angetreten hatte,13 schon bald erste Zweifel an der Gültigkeit so manchen konservativen Glaubenssatzes auf dem Gebiet der Außenpolitik bemerkbar zu machen; Bismarcks sehr vorsichtige Versuche, sich hier und dort von den ultrakonservativen Dogmen seiner Förderer ein wenig abzusetzen und eigene Ideen zu entwickeln, blieben von diesen allerdings nicht unbemerkt.14 Die etwas starren außenpolitischen Grundsätze der Gerlachs – festes Zusammengehen mit Österreich im Deutschen Bund, enge Kooperation mit Russland und gelegentlich auch mit Großbritannien in Europa, jedoch entschiedener Gegensatz zum genuin ‚revolutionären‘ und daher politisch ‚gefährlichen‘ Frankreich – mussten dem jungen Gesandten, der nun erstmals die Praxis der ‚hohen Politik‘ kennenlernte, zunehmend zweifelhaft erscheinen. Schon gegen Ende des Jahres 1851, am 20. Dezember, meldete sich General Leopold von Gerlach bei seinem politischen Zögling, der sich soeben in Frankfurt am Main einzuleben begann, mit einem freundlich-besorgten Brief, um diesem seine neuesten politischen Einschätzungen und Befürchtungen angesichts des am 2. Dezember 1851 von Louis Napoleon Bonaparte inszenierten Pariser Staatsstreichs mitzuteilen.15 Der drei Jahre zuvor zum französischen Präsidenten gewählte Neffe Napoleon Bonapartes hatte per Dekret das allgemeine Wahlrecht wieder ______________ 12 13 14 15
Eine spätere Formulierung Ernst Ludwig von Gerlachs, hier zitiert nach: Kraus: E. L. von Gerlach (Anm. 10), Bd. 2. S. 710; Vgl. hierzu auch Grypa: Der Diplomatische Dienst (Anm. 8), S. 202, 273. Grundlegend hierzu und zum Zusammenhang immer noch Arnold Oskar Meyer: Bismarcks Kampf mit Österreich am Bundestag zu Frankfurt (1851 bis 1859). Berlin, Leipzig 1927. S. 35–120. Vgl. Kraus: E. L. von Gerlach (Anm. 12), S. 711. Der Brief ist abgedruckt in: Briefe des Generals Leopold von Gerlach an Otto von Bismarck. Hg. v. Horst Kohl. Stuttgart, Berlin 1912. S. 4–6.
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eingeführt, gleichzeitig aber auch die Etablierung einer neuen, autoritären, auf ihn persönlich zugeschnittenen Verfassung angekündigt; schon im folgenden Jahr sollte er das zweite französische Kaiserreich errichten.16 Diese Maßnahmen wurden von den konservativen Führungsschichten ‚außerhalb‘ Frankreichs allerdings höchst kontrovers eingeschätzt: Während die einen die vermeintlich endgültige Wiederherstellung von ‚Ruhe und Ordnung‘ nach der Krise der Revolution begrüßten, fürchteten die anderen über kurz oder lang eine Wiederholung der genuin ‚revolutionären‘ Politik des ersten Bonaparte.17 Zu den letzteren gehörte auch der alte General Leopold von Gerlach, der über Umwege von vermeintlichen ‚bonapartistischen‘ Sympathien oder doch wenigstens Anfechtungen Bismarcks erfahren hatte; vorsichtig versuchte er dem jungen Gesandten – vorgeblich in der Form eines Berichts über neueste, beunruhigende Vorgänge in Berlin – in Sachen Bonapartismus ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Ausgesprochen unerfreulich sei die Tatsache, so Gerlach in seinem Schreiben an Bismarck, dass nach den Pariser Ereignissen des 2. Dezember nun „der Bonapartismus, die practischste und daher gefährlichste Richtung der Revolution, […] mächtig sein Haupt zu erheben“18 beginne, sogar in der preußischen Hauptstadt. Natürlich habe, das räumte Gerlach ein, Louis Bonapartes Staatsstreich auf den ersten Blick wohl auch eine „gute Seite“ aufzuweisen, nämlich die Wiederherstellung von Ruhe, Ordnung und Autorität in Frankreich, doch letztlich überwögen die aus der Erfahrung leidvoller Vergangenheit gespeisten Besorgnisse, dass auf diesem Wege über eine kurzfristige Beruhigung der politischen Verhältnisse doch bald von Frankreich ausgehend der Brandherd der Revolution in Europa erneut entzündet werde: „Ich kann mir nicht denken“, so Gerlach weiter, daß ich nicht mit Ihnen in diesem Punkte einig sein sollte, obschon es mir leichter als Ihnen wird, instinctmäßig den Bonapartismus zu fürchten und zu hassen, weil ich älter bin, weil ich ihn gesehen und gefühlt und mit allen rechtlichen Leuten im Lande seit meinem 16ten Jahre dagegen gekämpft habe.
Der Brief schloss: „Antworten Sie mir gefälligst bald und, wenn Sie keine Lust haben zu schreiben, mit wenigen Worten“.19 Bismarck war also gehalten, sich seinem politischen Mentor und Förderer „gefälligst“20 zu erklären und möglichst umgehend Rechenschaft ______________ 16 17 18 19
Neuerdings hierzu: Johannes Willms: Napoleon III. Frankreichs letzter Kaiser. München 2008. S. 102 ff. Vgl. Heinz Gollwitzer: Der Cäsarismus Napoleons III. im Widerhall der öffentlichen Meinung Deutschlands. In: Ders.: Weltpolitik und deutsche Geschichte. Gesammelte Studien. Hg. v. Hans-Christof Kraus. Göttingen 2008. S. 239–286. Gerlach: Briefe (Anm. 15), S. 5. Ebd., S. 5 f.
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abzulegen über seine Deutung und Einschätzung der jüngsten Pariser Vorgänge im besonderen und des Phänomens ‚Bonapartismus‘ im allgemeinen. Er kannte den alten General nur zu gut, um zu wissen, wie wichtig gerade diesem – der als blutjunger Offizier einst in den Befreiungskriegen gegen den ersten Bonaparte gekämpft hatte – eine klare, unzweideutige Einschätzung des Bonapartismus war. Insofern erforderte die Formulierung seiner Antwort ein eminentes Fingerspitzengefühl, und man wird sagen können, dass Bismarck sich dieser Aufgabe mit Bravour und stilistischer Eleganz zu entledigen vermocht hat. Im verhältnismäßig knappen exordium unterlässt es Bismarck nicht, auf das soeben vergangene Weihnachtsfest (das Gerlach überraschenderweise mit keinem Wort erwähnt hatte) und dessen christliche und häusliche Freude hinzuweisen, und er nennt ebenfalls seine gesellschaftlich-diplomatischen Verpflichtungen am benachbarten Wiesbadener Hof des kleinen Herzogtums Nassau sowie den ihn in dieser Zeit gleichfalls beanspruchenden und bewegenden „schweren Todeskampf der Deutschen Flotte“ (S. 183).21 Bismarck deutet hiermit seinem Korrespondenzpartner gleich zu Beginn seines Schreibens zweierlei an: Zuerst einmal stellen die politischen Veränderungen in Frankreich für ihn nur ‚ein‘ Ereignis unter anderen dar; er misst ihnen augenscheinlich eine weit geringere Bedeutung bei als der alte Gerlach, dessen Schreiben von einer unübersehbaren Beunruhigung gekennzeichnet war. Und zum anderen weist Bismarck seinen Korrespondenzpartner mehr oder weniger freundlich-diskret darauf hin, dass er als Gesandter Preußens beim Deutschen Bund eben zuerst einmal und vor allem für ‚deutschlandpolitische‘ Angelegenheiten – und damit ‚nicht‘ für außerdeutsche, internationale Beziehungen zuständig sei (dass er elf Jahre später einmal preußischer Botschafter in Paris werden würde, konnte er zu dieser Zeit nicht einmal ahnen). Indessen kommt er anschließend in seiner narratio sehr rasch auf das den General eigentlich bewegende und umtreibende Thema zu sprechen, eben den kürzlich erfolgreich durchgeführten Staatsstreich Louis Bonapartes in Paris. Überaus vorsichtig deutet Bismarck hier an, dass er die Besorgnisse Gerlachs eigentlich nicht zu teilen vermag: ______________ 20 21
Dieses Wort verfügte damals aber noch nicht über den heutigen kritisch-polemischen Unterton. Gemeint ist hier das Ende der von den Schleswig-Holsteinern im seit 1848 geführten Unabhängigkeitskampf gegen Dänemark zuerst mit Unterstützung der Frankfurter deutschen Nationalversammlung errichteten deutschen Flotte, die nach dem Niedergang der Revolution und der erzwungenen Rückkehr zum politischen Status quo ante auf Druck der Großmächte, vor allem Großbritanniens und Russlands, unter Billigung des Deutschen Bundes an Dänemark ausgeliefert werden musste. Vgl. Walther Hubatsch (Hg.): Die erste deutsche Flotte 1848–1853. Herford, Bonn 1981.
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Der erste Eindruck, den mir der zweite Dezember machte, war ein gemischter, ähnlich dem, als das Gehöft eines mir benachbarten Demokraten und Leuteschinders brannte; der Antheil des Ormuzd in mir fand das Schauspiel peinlich, während Ariman in den dunkeln Winkeln meines Herzens ein uneingestandenes Behagen verbreitete, gemischt aus der befriedigten avidité d’émotions und dem Gedanken, daß es nicht mich, und daß es grade diesen traf. So dachte ich mir Frankreich unter dem Gesichtspunkte fiat experimentum in corpore vili; Gott zeigt uns, wohin das führt, wenn ein Volk das Festland der Legitimität steuerlos verläßt, um sich dem Malstrom der Revolution anzuvertrauen (S. 183).
Unter ironischer Anspielung auf einen – damals den Gebildeten wohlbekannten – Aspekt der altpersischen Religionsgeschichte, den Gegensatz des guten (Ormuzd) und des bösen Prinzips (Ahriman), erläutert Bismarck hier seine Einschätzung der Pariser Ereignisse: Zuerst einmal kann er – und diese Haltung scheint er auch seinem Briefpartner anzuempfehlen – wenigstens ansatzweise ein Gefühl der Schadenfreude kaum unterdrücken: Von Frankreich ist die Revolution im Februar 1848 bekanntlich ausgegangen, also hat Frankreich nun auch die Konsequenzen – ein autoritäres, vielleicht sogar zeitweilig gewalttätiges Regime des zweiten Bonaparte – zu ertragen. Was in Frankreich geschieht, ist ein experimentum in corpore vili, ein Versuch am lebenden, aber ‚wertlosen‘ Körper, und man kann außerhalb Frankreichs in Ruhe abwarten, was geschehen wird. Der Staatsstreich erscheint allerdings (und hier schließt sich Bismarck den Überzeugungen Gerlachs an) als die logische Konsequenz des Verlassens des „Festland[s] der Legitimität“ durch das politisch „steuerlos[e]“ (S. 183) Frankreich, das nun die Strafe Gottes für dieses Abweichen vom rechten Wege zu erwarten und zu ertragen hat. Das aus historischen und persönlichen Erfahrungen gespeiste negative Frankreichbild des alten Generals geschickt aufnehmend (etwa durch die knappe Anspielung auf die rheinischen Eroberungen Frankreichs in der Zeit der Revolutionskriege) und auf seine Weise parierend, lässt Bismarck recht deutlich seine Genugtuung über das Geschehen durchblicken: Wenn ich den Zustand der Französischen Bevölkerung nach der Analogie derjenigen Wirkungen beurtheile, welche Französische Herrschaft und Nachbarschaft auf die Anwohner des Mittel- und Oberrheins geübt haben, so muß ich jede Hoffnung auf lange hin aufgeben, daß eine andre als eiserne Gewaltherrschaft dort möglich sei. Wenn unbotmäßiger Hochmuth in Verbindung mit neidischem Streben nach Geld und Genuß jeden andern Regulator verloren haben, als die Furcht vor den Uebeln, die das Gesetz androht, so weiß ich nicht, wie dieses Volk anders regirt werden kann als mit dictatorischer Handhabung des eisernen Scepters, mit welchem die Hand des legitimen Königs von Gott und Rechts wegen unter sie schlagen würde, während Bonaparte dadurch, daß er Frankreich diesen nützlichen Dienst erweist, den Character eines unberechtigten aventurier’s in meinen Augen nicht verliert (S. 183 f.).
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Eine religiös-christliche Geschichtsdeutung mischt sich hier auf sehr geschickte Weise mit realpolitischer Reflexion: Das politisch genuin ‚sündhafte‘ Frankreich wird von Gott auf eben diese Weise, durch Entsendung eines politischen ‚Zuchtmeisters‘ namens Bonaparte, gestraft, dem ein legitimer Monarch an sich zwar vorzuziehen sei – doch Bismarck ironisiert gerade diesen wiederum anschließend als „sanften Heinrich von Frohsdorf“,22 damit zugleich suggerierend, dass ein so gearteter Monarch einer solchen politischen Herkulesaufgabe, die Louis Bonaparte nun zu erfüllen habe, wohl kaum gewachsen wäre. Aufschlussreich ist ebenfalls der Hamlet-Vergleich, mit dem Bismarck den hochgebildeten Shakespeare-Bewunderer Gerlach23 zu beeindrucken versucht: Wie Hamlet, nachdem er den constitutionellen Philister Polonius erstochen hat, zu seiner Mutter, so mag auch der Präsident zu Frankreich sagen: a bloody deed, almost as bad, good mother, as kill a king and marry with his brother, wobei ich den hinkenden Vergleich dahin ausdehne, daß ich den brother durch den cousin, Hamlets Stiefvater durch Louis Phil[ippe] und die Orleans wiedergegeben finde. (S. 183)
Ein durchaus anspielungsreicher Vergleich: Hamlets Mutter (= Frankreich) tötet ihren Gemahl (= König Karl X.), um dessen Bruder (= hier: den „Vetter“ Louis Philippe von Orleans) zu heiraten – das ist nichts anderes als der Vorgang der Julirevolution von 1830. Wie also im Jahr 1830 nach dem – revolutionären und gewalttätigen – Umsturz und der Beseitigung des eigentlich legitimen Monarchen eine neue Ordnung entstanden ist, so wird auch jetzt, nachdem Hamlet (= Louis Bonaparte) den „constitutionellen Philister Polonius“ (= die französischen bürgerlichen Liberalen) „erstochen“ hat, eine neue, voraussichtlich wohl starke Ordnung entstehen und für Ruhe im westlichen Nachbarland sorgen. Das ist zwar für die kleinste europäische Großmacht Preußen nicht an sich schon ein Grund zur Beruhigung – und genau an dieser Stelle kommt Bismarck gewissen Besorgnissen seines Briefpartners durchaus entgegen, indem er einräumt, „[a]ls Preuße“ könne er sich über Bonapartes Staatsstreich durchaus nicht freuen, „weil ich nur einen Feind, der krank war, ______________ 22
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Gemeint ist hiermit Comte Henri de Chambord, französischer Thronprätendent der (infolge der Julirevolution von 1830 abgesetzten und vertriebenen) Dynastie der Bourbonen, der sich inzwischen im österreichischen Exil befand und auf seinem Gut Frohsdorf bei Wien lebte. Die Brüder Gerlach hatten als junge Männer um 1815 in Berlin bestimmten, romantischen Ideen zugewandten Zirkeln junger Offiziere, Gelehrter und Beamter angehört; zu ihren Freunden und Bekannten zählten damals u. a. Achim von Arnim und vor allem Clemens Brentano. Die Shakespeare-Begeisterung dieser Kreise wurde von ihnen geteilt. Vgl. Leonie von Keyserling: Studien zu den Entwicklungsjahren der Brüder Gerlach. Heidelberg 1913; Kraus: E. L. von Gerlach. Bd. 1 (Anm. 10), S. 39 ff., 74 ff. u. passim.
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momentan erstarken sehe“ (S. 184) –, doch andererseits wiederum glaubt Bismarck, wie er Gerlach klarzumachen versucht, „[a]n Kriegsgelüste Bonaparte’s […] nicht“ (S. 184); er gibt sich sogar überzeugt, dass dieser „alles aufwenden wird, den Frieden zu erhalten, weil Krieg die Armee von ihm lösen würde“ (S. 184). Das sich gerade am Körper der französischen Nation vollziehende politische Großexperiment werde, suggeriert Bismarck hier, noch einige Zeit in Anspruch nehmen; dessen Ergebnisse müssten erst einmal abgewartet werden, und bis dahin seien übertriebene Besorgnisse hinsichtlich einer von Frankreich ausgehenden, für den preußischen Staat eventuell nachteiligen Veränderung der internationalen Lage durchaus nicht angebracht. Das ist der Grundtenor von Bismarcks Antwort an Gerlach.24 Die nachfolgenden beiden Absätze, in denen vom neuesten diplomatischen Bericht Bismarcks „über Flotte und Oestreich“ (S. 184) an seinen unmittelbaren Vorgesetzten, den Berliner Ministerpräsidenten und Außenminister Otto von Manteuffel, die Rede ist – einem Bericht, dessen baldige Lektüre Bismarck seinem Mentor Gerlach hier noch besonders ans Herz legt25 –, dienen in erster Linie der Einbettung seiner vorangegangenen Äußerungen zu Frankreich in den Zusammenhang seines eigentlichen Tätigkeitsgebiets, eben der Deutschlandpolitik. Bismarcks vorsichtigkritische Bemerkungen über das „Wiener Cabinet“ (S. 184), das offenkundig die habsburgische Dominanz über Preußen mit Hilfe von (aus Berliner Sicht unzulässigen) Mehrheitsbeschlüssen am Bundestag festzuschreiben gedenkt, seine etwas herablassenden, wenn auch im Ganzen nicht unfreundlichen Äußerungen über seinen offenbar nicht eben sehr nervenstarken österreichischen Gesandtenkollegen Friedrich Graf von Thun26 – dies alles dient dazu, die Bismarck nur allzu bekannte Österreichfreundlichkeit seines Korrespondenzpartners Gerlach ein wenig zu dämpfen, wenn auch auf humorvolle Weise. Der dezente Hinweis auf die Charakterisierung der österreichischen „Bauernpfiffigkeit“ als „Spanische Prakti______________ 24
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Die von Gerlach beschworene vermeintliche ‚Gefährlichkeit‘ des Bonapartismus versucht Bismarck gleichzeitig noch durch den zeithistorischen Hinweis auf die jüngste Geschichte des eigenen Landes, die Hardenbergsche Reformgesetzgebung, abzumildern, indem er diese als eine Art von preußischem Bonapartismus charakterisiert – „älter als Bonaparte, nur in milderer deutscher Form“ (S. 183)! Abgedruckt ist dieser Bericht in: Otto von Bismarck: Die gesammelten Werke. Friedrichsruher Ausgabe. Bd. 1. Berlin 1924. S. 117–121. Dieser umfangreiche Text ist ebenfalls, wie Bismarcks Brief an Gerlach, auf den 28. Dezember 1851 datiert; insofern erscheint Bismarcks Behauptung am Schluss des Briefes, er habe „heut den lieben Sonntag über von 8 Uhr bis jetzt, ohne mich anzuziehn, gearbeitet“ (S. 185), durchaus glaubwürdig. Vgl. zu Friedrich Graf von Thun und zu Bismarcks Verhältnis zu ihm auch Arnold Oskar Meyer: Bismarcks Kampf mit Österreich am Bundestag zu Frankfurt. Berlin 1927. S. 35– 57.
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ken“ (S. 184) durch König Friedrich Wilhelm IV. dient Bismarck zudem dazu, wenigstens anzumerken, dass auch der König (also der gemeinsame „allergnädigste Herr“ Bismarcks und Gerlachs) den habsburgischen Verbündeten – in diesem Fall anspielend auf das strenge spanische Hofzeremoniell am Wiener Hof und auf das dort noch sichtbare spanische Erbe in dessen diplomatischer Raffinesse – offenbar auch nicht bis zum Letzten vertraut. Die knappe peroratio wiederum nimmt noch einmal kurz Bezug auf den seinerzeit eher kleinteiligen politischen Alltag im Deutschen Bund, weist darauf hin, dass durch den kürzlich erfolgten Sturz des preußenfreundlichen nassauischen Staatsministers Friedrich von Wintzingerode und das Treiben des österreichischen Gesandten in Wiesbaden, eines Freiherrn von Menßhengen, eventuell Nachteile für die Berliner Deutschlandpolitik entstehen könnten, und versucht endlich, durch mehrere, deutlich untertreibende Formulierungen einen eventuell aufkeimenden Unwillen des Briefpartners – sowohl gegenüber der unbefangen-offenen Einschätzung des Bonapartismus wie gegenüber dem kritischen Blick auf die Wiener Politik – gezielt abzuschwächen, indem er zuletzt noch auf den vermeintlich ganz peripheren Charakter seines „flüchtigen Geschreibsels“ (S. 185) hinweist und sogar noch nachträglich rasch (ohne P. S.) „mit Bleistift am untern Rande der ersten Seite“27 anfügt: „Ich habe es nicht nochmals lesen können, pardon, wenns wo fehlt.“ (S. 185) Hierdurch wird Gerlach mehr oder weniger signalisiert, dass es Bismarck als „diplomatischer Säugling“ (S. 185), wie er sich selbst humorvoll in seiner abschließenden Grußformel bezeichnet, derzeit mit ganz anderen, fraglos eher peripheren Problemen als denen der ‚großen Politik‘ Europas zu tun hat, sich also beispielsweise mit den Launen deutscher Miniaturpotentaten und den Intrigen kleinstaatlicher Politiker und Diplomaten sowie den „Spanische[n] Praktiken“ (S. 184) der Österreicher herumschlagen muss. Endlich kündigt er noch seinen baldigen Besuch in Berlin an, wo er Gerlach sogleich aufzusuchen gedenkt, um eventuell gründlicher zu klärende Fragen mündlich mit ihm zu besprechen. „In seinen Briefen und Reden wechselt Bismarcks Tempo unablässig nach seinem jeweiligen Gegenüber, das ihn bald zutraulich, bald ungeduldig stimmte, bald drängte, bald hemmte“, bemerkt Friedrich Gundolf.28 Diese Beobachtung trifft jedenfalls auf den hier betrachteten Brief des frühen Bismarck uneingeschränkt zu: Fast hektisch wechseln schon am Anfang, im exordium des Textes, die Gegenstände: vom Weihnachtsfest über die Herzogin von Nassau und die deutsche Flotte gelangt er umge______________ 27 28
Anmerkung des Herausgebers in: Gerlach: Briefe (Anm. 15), S. 15. Gundolf: Bismarcks Gedanken und Erinnerungen (Anm. 5), S. 309.
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hend, schon nach wenigen Zeilen, zum Pariser „zweite[n] Dezember“ (S. 183). Auch in der narratio springt Bismarck von einem Aspekt zum anderen, religionsgeschichtliche Anspielungen, historische Reminiszenzen und Shakespeare-Zitate miteinander mischend, um anschließend noch einmal auf die Aspekte der provinziellen deutschen Bundespolitik – eben das Alltagsgeschäft des sich noch in der Bewährungsphase befindenden preußischen Jungdiplomaten – zurückzukommen; Humorvolles wechselt hier mit manchmal leicht zynischem Räsonnement. Das alles dient letztlich nur dazu, den behäbigen alten Herren, an den dieser Brief gerichtet ist, davon abzulenken, dass ihrer beider politische Anschauungen langsam voneinander abzuweichen beginnen. In der Tat hat sich Otto von Bismarck einige Jahre danach, gegen Ende der 1850er Jahre, von seinen politischen Mentoren und Ziehvätern – denen er, wie bereits gesagt, durchaus nichts Geringeres als den raschen Eintritt in das politische Leben Preußens an einflussreicher Stelle zu verdanken hatte – gewissermaßen ‚abgenabelt‘. Wiederum Jahrzehnte später, als er, nun selbst ein alter Mann, nach seinem Sturz um 1892/93 seine Memoiren Erinnerung und Gedanke verfasste, nahm er mehrere Ausschnitte aus seinem im Jahr 1857 geführten Briefwechsel mit Leopold von Gerlach in das Buch mit auf, Briefe, in denen es übrigens um die gleiche Frage ging wie schon 1851, nämlich um die angemessene Einschätzung des Bonapartismus und der Persönlichkeit Louis Bonapartes, der 1857 bereits mehrere Jahre als Kaiser Napoleon III. auf dem französischen Thron saß.29 In dieser Frage, und damit auch in der Einschätzung der Möglichkeiten einer realistischen, d. h. ‚realpolitisch‘ zu begründenden Außenpolitik für Preußen und Deutschland, entzweiten sich schließlich die Wege Bismarcks und der Brüder Gerlach; den schweren, unversöhnlichen Bruch, der erst im Jahr 1866 zwischen Bismarck und Ernst Ludwig von Gerlach (dessen älterer Bruder Leopold bereits verstorben war) erfolgte,30 haben beide Seiten nicht mehr heilen können. Ein erster – allererster – Vorschein dieser späteren Entwicklung wird bereits zwischen den Zeilen des Briefes vom 28. Dezember 1851 erkennbar. Dieser Akt einer ‚Emanzipation‘ jüngerer Politiker und Diplomaten von der Generation der Väter und Vorgänger ist ein immer wieder auftretendes Phänomen der politischen Geschichte; hier wird es im Medium eines Briefwechsels erkennbar. ______________ 29
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Vgl. Bismarck: Werke (Anm. 25), Bd. 15. Erinnerung und Gedanke. Hg. v. Gerhard Ritter. Berlin 1932, S. 110–126; siehe zum Zusammenhang auch Hans Mombauer: Bismarcks Realpolitik als Ausdruck seiner Weltanschauung – Die Auseinandersetzung mit Leopold v. Gerlach 1851–1859. Berlin 1936. Vgl. Kraus: E. L. von Gerlach. Bd. 2 (Anm. 10), S. 794 ff.
Johannes Köster an seine Frau und seine Kinder, 24. April 1859
St. Joseph M.[issouri] 24. April 1859 Meine liebe Frau, meine lieben Kinder! Mit welcher Sehnsucht, mit welchem Jammer ich Euer Schreiben erwartet habe, könnt Ihr Euch nicht denken, denn ehe ich weiter wanderte in die weite Welt, um uns eine neue Heimath, ein neues Vaterland zu suchen, wollte ich doch gern erst Nachricht von Euch haben, die ich am 19. d.M. mit wahrhaften Freudenthränen erhielt; und so will ich nun weiter gehen, so weit es nur irgend meine Kräfte noch wollen, bis ich einen Ort gefunden habe, wo wir eine Hütte für uns aufschlagen können, was hoffentlich nicht lange dauern wird. – Jetzt hält es mir schwer, mein Leben zu machen, da mir die Kraft fehlt gewöhnliche Arbeiten verrichten zu können, aber wäre ich der englischen Sprache mächtig so hätte ich hier glänzende Aussichten gehabt, was ich früher kaum ahnen konnte; man both mir unter dieser Bedingung monatlich 60, u. auf einem anderen Platze 70 Dollar; auch hätte ich die hiesige Lehrerstelle, zu deren Gründung ich die Veranlassung gegeben, mit einem Gehalte von 600 Dollar jährlich, erhalten, so ich der englischen Sprache wäre mächtig gewesen, und werden diese Stellen überhaupt nobel bezahlt, da es unter 500 Dollar eine solche Anstellung nicht gibt, und sind die Lehrer sehr gesucht. Für mich wird mit der Zeit sich auch noch etwas finden, ich denke an eine Organistenstelle, die man hier sehr hoch bezahlt. Morgen will ich nun meine Wanderschaft antreten, kann aber nicht mit Bestimmtheit sagen, wohin; ich denke jetzt einige tausend Meilen nördlich, durch den Staat Iowa, oder westlich durch das Territorium Nebraska zu gehen, denn nach den Goldminen, nach Piekes Peik, kann ich nicht gehen, weil ich ohne alle Mittel dazu bin. Wie großartig die Heerzüge nach den Goldminen sind, davon kannst Du Dir keinen Begriff machen; – tausende von Menschen liegen in Zelten vor der Stadt; tausende kommen, tausende gehen, woraus man sich den Verkehr bei solcher Wanderschaft schließen kann. Hunderte sind unterwegs verhungert, doch dies hält niemanden ab, denn es ist ja der amerikanische Herrgott dort – Gold; und dazu sind einige, die nur 3 Monate dort waren, zurückgekehrt mit 30–40 tausend Dollar. So geht es in Amerika, die gräßlichste Armut, die man übrigens in solchem freien Lande durchaus nicht kannte, wächst umsehends mit dem größten Reichtum aus der Erde, nicht allein auf diese Weise, sondern durch die großartigsten Spekulationen.
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Man kann sich keinen Begriff davon machen, was für bewundernswürdige Unternehmungen eine freie Nation fähig ist –; schnell zu beginnen –, schnell zu vollbringen; und so wachsen die schönsten Städte aus der Erde pp. Wer hier die freie Luft nur erst einige Monate genossen hat, der ist unfähig geworden in einem deutschen, europäischen Sclavenstaate zu leben; man wird daher auch selten sehen dass Jemand dort bleibt, der hier einmal gelebt hat. Dort ist der Mensch in jeder Beziehung ein Sclave –, er arbeitet nur, um nicht müßig zu sitzen, für seinen Herrn, und kann leider mit dem was ihm noch bleibt nicht einmal frei verfügen: hier ist freie Bewegung, freier Wille, er hat mit Allem was er unternehmen will, nur mit sich selbst zu rathe zu gehen; nirgends findet er Hindernisse pp.; und dann gehört ihm sein saurer Schweiß, den man dort zur Erhaltung von Heeren von Beamten, Hofwesen pp leider opfern muß. Hier gilt das Wort: wo Du leben kannst, da gehe hin u. lebe, und zwar wie und auf welche Art Du willst; überall ist des Amerikaners Heimath. Jedem Mann, der nach Amerika gehen will, rathe ich, es in seinen jungen Jahren zu tun, damit er nicht später, wie ich, fürchterlich zu bereuen hat, seine besten Kräfte in einem deutschen Sclavenstaate vergeudet zu haben, und doch für seine Zukunft nichts errungen hat. Wäre jetzt nur Marie und Rickchen bei mir, dann solltest Du sehen, wie bald wir eine Heimath, ein Eigenthum erworben hätten; denn wenn ein Mädchen blos monatlich 10–12 Dollar, also 14–17 Thaler erhält, so lässt sich wohl denken, was hier zu machen ist: doch es ist so, ich muß allein arbeiten und unsere Zukunft suchen, was wohl auch keine Gefahr haben wird. Wie Du schreibst, sind Konrad, Philipp, Großbernd, und Bürgermeister Kersten – der jedenfalls, so er Ansprüche auf eine Stelle in den Annalen der hessischen Geschichte hätte, ein Schandflecken darin sein würde – gute Freunde; dies ist für mich nichts Ueberraschendes, u. ich freue mich recht königlich darüber ein solches Quodlibet in seinem Dasein zu wissen; nur habe ich daran zu tadeln daß Großbernd die Karten vergeben hat, was er um seines selbst willen nicht hätte tun sollen: – ich lache später mit; jetzt spielt erst das Vorspiel; es kommen nun noch fünf Akte, die erst in einigen Jahren zu Ende spielen werden; wer dann noch lebt, mag darüber sprechen und urtheilen; für jetzt würde Jeder unrecht thun, ein Wort darüber zu verlieren, da doch jeder im Trüben fischen würde. Laß die Welt Welt sein, und thue Du mir nur die einzige Liebe, u. lebe nur, als wäre die Welt für Dich nicht da; – Dein ganzes Dasein widme nur unseren Kindern: wache über sie und halte sie brav und gut, das ist Alles, was ich wünsche und hoffe, – und rufe ich dann aus weiter Ferne zu Euch, dann hoffe ich, wird Keiner fehlen, und Ihr werdet dann alle bei mir sein –; bis dahin, habe für Deinen Lebensunterhalt keine ängstliche Sorge, laß mich dafür sorgen, und bittet nur Gott, daß er mir Kraft dazu gibt. – So ich nächstens wieder schreibe, schicke ich Dir, was
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Du brauchst, und thue mir im nächsten Schreiben den Gefallen, zu schreiben, wo Du Dich eingerichtet hast, wo Du wohnst, wo jede Kleinigkeit im Logie steht –; die alten Sachen stelle bei Seite und richte Dich so gut, so schön u. bequem ein, als es nur möglich ist –; eine solche Nachricht würde mir große Freude machen. – Thue mir die Liebe u. grüße Konrad und Philipp, nebst Frau und Kindern; – sage Ihnen, daß ich auch jetzt noch das Bruderherz mit mir herumschleppe, wie es früher für sie geschlagen hat, und dass sie Dir und den Kindern großes Unrecht thun, wenn sie Dir den Rücken kehren wollten und behaupten Du hättest von irgend etwas gewußt. Konrad hat in Karlshafen zu fordern, für sich 125 Th. von George 125 Th. Dann für diesen 83 und 25 Th. an Ludwig und Deppe –; mehr hat er nie vorher zu fordern gehabt, und was hiergegen anders gesagt wird, sind Lügen, und mit nächstem Schreiben schickst Du mir ein Theil der Abrechnung mit wie ichs mit Konrad gestellt habe, damit ich die Sache von hieraus ordne. Übrigens thut es mir sehr leid hier bemerken zu müssen, dass die Menschheit im Unrecht ist, wenn sie glaubt, er hätte uns aus brüderlicher Liebe gefüttert, da ich habe alles bezahlen müssen; – und gibt er Dir das Geld nicht, was Du noch mit Recht bekommst, so schenke es ihm. – Mit Heinrich werde ich fertig, für den ist es jetzt noch ein todtes Kapital pp das Konrad doch etwa nicht erben will. – Ich will hier schweigen, – das Blut kocht mir, wie es dort schon oft gekocht, wenn ich an die Vermögenverhältnisse des Ankers nur denke pp. – Fühlt sich etwa Philipp auch benachtheiligt? – Ich denke doch wohl nicht – und seine abschiedliche Liebe, die er an mein Herz gedrückt, will ich ihm vergeben. Grüß Schmoll und Kinau mit Ihren ganzen Familiengliedern recht herzlich von mir, und sage ihm, ich würde, sobald als es thunlich an Philipp und sie eine amerikanische Zeitung irgendeiner großen Stadt besorgen lassen. Grüß Braun, Schiffmann, Stock, Großbernd pp namentlich aber Gärtner und Frau u. die Wittwe Ortleben, u. sag ihr, ich sei ihr recht dankbar, und sag unter vielen Grüßen, Freund Valentin seiner Frau, daß mich die Nachricht von seinem Tode schmerzlich berührt hätte. Grüß Schwager Fennel mit Familie, und wäre mir recht angenehm gewesen, auch Nachricht von ihm zu hören: so auch Freund Zindel mit Familie. – Die Sclavenhalterei unter der Herrschaft des Sclavenhalters Kersten, ist in Wehlheiden sehr gut.1 Hätte man ihn hier, so wäre er schon siebenhundertmal aufgehängt. Liebe Frau und Kinder, lebt nun wohl bis, so
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Bürgermeister des Ortes, ca. 2.000 Einwohner 1860, 1899 nach Kassel eingemeindet.
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Gott will, zum nächsten Schreiben, unter tausend tausend Grüßen Dein Mann Euer Vater J. Köster Nicht veröffentlicht; Original in der Nordamerika-Briefsammlung der Forschungsbibliothek Gotha.
Wolfgang Helbich
Ein Auswandererbrief von Millionen Wissenschaftlich ausgewertet, analysiert, interpretiert werden Auswandererbriefe so gut wie nie als Einzeldokument, sondern ausschließlich in der Mehrzahl, seien es die Briefe einer Person oder einer Familie, sei es eine Reihe von Schreiben, die nach inhaltlichen, nationalen, zeitlichen oder anderen Kriterien ausgewählt sind. Für die meisten Historiker ist ein Einzelbrief zwar nicht wertlos, aber dessen Aussage derjenigen einer Briefserie deutlich unterlegen. Ich beginne deshalb hier nicht nur etwas Ungewöhnliches, sondern auch etwas in Fachkreisen wenig Angesehenes, wenn ich – jedenfalls zunächst – nur einen Brief untersuche. Bis 1914 dürften aus den USA 100 Millionen Privatbriefe von deutschsprachigen Auswanderern in den deutschen Sprachraum geschickt worden sein.1 Bis heute erhalten geblieben sind bestenfalls 150.000, der Forschung zugänglich sind maximal 15.000, davon erschlossen (transkribiert, CV der Schreiber recherchiert, Findhilfen im Internet) und in der Forschungsbibliothek Gotha deponiert 10.000. Weltweit sind es vielleicht 200 Wissenschaftler, vornehmlich Historiker, die sich im Lauf der letzten 20 Jahre als Herausgeber, Interpreten oder Sammler intensiv mit Auswandererbriefen befasst haben. Eine internationale Konferenz zum Thema, Reading the Immigrant Letter, die 2003 an der Carleton University in Ottawa stattfand, zählte nicht weniger als 54 Vortragende. Hinsichtlich der Publikationen rangieren Editionen, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts in größerer Zahl erschienen, mit weitem Abstand vor allen anderen Formen der Nutzung von Auswandererbriefen. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, als Karl Larsen 1912 mit dem ersten Band seines De der tog hjemmefra die erste Edition mit wissenschaftlichem Anspruch veröffentlichte,2 dienten sie vornehmlich zur Abschreckung vor Auswanderung oder Ermutigung dazu. Das erste Werk, das den Anspruch der Wissenschaftlichkeit voll erfüllte, erschien mit Charlotte Ericksons Invisible Immigrants 60 Jahre später; heute gilt David Fitzgeralds Oceans of Consolation (1994) als bisher unübertroffener Klassiker, der Edition und ______________ 1 2
Vgl. Wolfgang Helbich u. a (Hg.): Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt. München 1988. S. 31 f. Karl Larsen u. Halfdan Eduard: De der tog hjemmefra. Kopenhagen 1912. Deutsche Ausgabe: Karl Larsen u. Halfdan Eduard: Die in die Fremde zogen. AuswandererSchicksale in Amerika (1873–1912). Auf Grundlage von Briefen und Tagebüchern. Berlin 1913.
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ausführliche Darstellung kombiniert.3 Gegenwärtig geht die Tendenz deutlich zu umfangreicher Kontextualisierung und generell zur Verwertung als sozialhistorische Quelle, vor allem für die Migrationsforschung sowie ansatzweise als Text zu einer kultur- und literaturwissenschaftlichen Interpretation.4 Unersetzlich sind die Aussagen dieser Briefe hinsichtlich Gefühlen, Erwartungen, Urteilen von Einwanderern. Es gibt recht verschiedene Ansichten über Editionsprinzipien, die von absoluter Buchstabentreue und rigoroser Ablehnung jeglicher Kürzung bis zum Vorrang der Leserfreundlichkeit und dem Eingehen auf die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe reichen. Der Sozialhistoriker mag je nach seinem Erkenntnisinteresse Dutzende von Fragen an einen Brieftext stellen, aber einige sind fast unvermeidlich. Was erscheint dem Schreiber besonders mitteilenswert? Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Ist das Berichtete selbst erlebt oder aus zweiter Hand? Enthält der Brief Details, die bisher unbekannt waren? Welche potentiell für den Empfänger interessanten Bereiche werden ausgespart? Wie ist die Haltung zu Deutschland, wie zu den USA? Und vor allem: Wie geht es dem Schreiber psychisch und materiell? Beurteilt er seine Auswanderung positiv? Aspekte, die noch vor 20 Jahren unwichtig erschienen und in Editionen meist weggelassen wurden, gelten heute als unverzichtbare Teile des Auswandererbriefs: Anredeformen, Diskussionen von Gesundheit und Klima, Postlaufzeiten, Grüsse und Wünsche, auch Wiederholungen und eindeutig abgeschriebene Berichte. Historiker, die mit Auswandererbriefen arbeiten, sprechen von Verstehen, Erschließen, Analysieren, Auswerten, wenn sie ihre Tätigkeit beschreiben, selten von ‚Interpretieren‘. Das Verstehen ist die Voraussetzung für alle weiteren Schritte, und hier geht es zunächst um Wörter und Begriffe, deren Bedeutung unklar oder durch älteren Sprachgebrauch erschwert ist, dann um Bedeutung und Gewicht von Aussagen und Erkennen von Zusammenhängen. Ist diese unverzichtbare Grundlage geschaffen, kann man sich den Inhalten zuwenden, von denen einige in den beiden Vorabsätzen skizziert sind. Es ist zwar schwer, das Zustandekommen der Verstümmelung von Pikes Peak nachzuvollziehen, aber selbst hier hilft Google, und der Kontext ohnehin. Auch die deutschen Orts______________ 3 4
Vgl. Charlotte Erickson: Invisible Immigrants. The Adaptation of English and Scottish Immigrants in Nineteenth-Century America. Ithaca 1972; David Fitzgerald: Oceans of Consolation. Ithaca 1994. In jüngerer Zeit haben auch Germanisten/Linguisten diese Dokumente entdeckt und für ihre Disziplin erschlossen. Sie seien der größte existierende Fundus an schriftlichen Zeugnissen der unteren Schichten. Vgl. Stephan Elspaß: Sprachgeschichte von unten. Untersuchungen zum geschriebenen Alltagsdeutsch im 19. Jahrhundert. Tübingen 2005.
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namen sind leicht zu finden, doch ein erheblicher unverständlicher Rest bleibt, weil uns das Vorwissen der Briefempfänger weitgehend verschlossen ist. Der hier behandelte Brief ist Teil einer unveröffentlichten Serie von 21 Briefen, 1859–1862, die der hessische Auswanderer Johannes Köster (1815–1893) an Frau und Kinder in Deutschland schrieb. Kopien der Originale, Transkriptionen und ausführliches Kontext-Material befinden sich in der Nordamerika-Briefsammlung in der Forschungsbibliothek Gotha. Was sagt der Brief über den Schreiber und seine Lebenssituation aus? Er scheint nicht ausgesprochen nüchtern oder umsichtig zu sein. „[E]inige tausend Meilen nördlich“ (S. 199) durch Iowa – diesen Staat hätte er bereits nach 300 Meilen durchquert, nach 700 die kanadische Grenze erreicht, und „einige tausend“ weit wäre er in der Nähe des Nordpols angelangt. Dagegen hätte ihn der Weg in westlicher Richtung durch Nebraska schnurstracks in das Goldminengebiet gebracht, von dem er erklärt, dort wolle er nicht hin. Doch wirklich unglaublich scheint, dass ein offenbar nicht ungebildeter Mann von 44 Jahren noch am Vorabend einer offenbar sehr weiten und schicksalsschweren Reise nicht weiß, wo er hin will. Was er über die englische Sprache als Voraussetzung einer von ihm gesuchten Arbeit sagt, ist selbstverständlich, und die genannten Gehaltszahlen sind nicht unrealistisch, aber er hält sich merkwürdig lange beim „hätte ich, wenn“ auf. Seine ökonomischen Betrachtungen sind nicht sehr stringent. Gold als Gott der Amerikaner ist ein abgegriffenes Klischee unter Deutschamerikanern, Deutschen und anderen (und mit Sicherheit nicht eine Feststellung, die auf eigener Erfahrung basiert), und wieso Armut aus Reichtum und Spekulation entsteht, führt er nicht aus. Ein irgendwo aufgelesenes Klischee ist auch „überall ist des Amerikaners Heimath“ (S. 200), wovon wohl nur stimmt, dass Amerikaner mobiler schienen als die scheinbar sesshaften Deutschen; angesichts von fast sechs Millionen deutscher Einwanderer im 19. Jahrhundert ist das allerdings eine merkwürdige Aussage. Die Leistungsfähigkeit einer freien Wirtschaft hat er erkannt, nur das Jubeln über die schönsten Städte ist schwer nachzuvollziehen, zumal sich ein Vergleich mit Deutschland direkt anschließt. Recht radikal und pauschal erscheint seine politische Einstellung. Im Umfeld der 1830er Jahre sowie um und nach 1848 waren solche Töne nicht neu, aber seine Spielart des Liberalismus war sehr extrem. Was er über deutsche und europäische Sklavenstaaten zu sagen weiß, klingt wie eine Verhöhnung der Millionen wirklichen Sklaven in den USA, die er gar nicht erwähnt, ebenso wenig wie die politischen Spannungen aufgrund der Sklaverei, die keine zwei Jahre später zum Bürgerkrieg führten.
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Bei seiner vernichtenden Schilderung der Zustände in den europäischen „Sclavenstaate[n]“ (S. 200) mutet die Arbeitsmotivation „um nicht müßig zu sitzen“ (S. 200) zumindest sonderbar an. Beamtenheere, Fürstenhöfe und ausbeutende Arbeitgeber waren seit Jahrzehnten gängige Zielscheiben radikaler Kritik, und wenn der Schreiber hier nicht so krass schwarz-weiß argumentiert hätte, entspräche diese Position nicht nur dem liberalen Zeitgeist, sondern wäre auch heute nachvollziehbar. Dass der Europäer über das wenige, das ihm bleibt, nicht frei verfügen könne, soll sich wohl auf die vielfältigen deutschen Steuern und Abgaben beziehen, die es in dieser Form in den USA vor dem Bürgerkrieg in der Tat nicht gab. Hinsichtlich der Kritik an Europa und speziell Deutschland befand sich der Schreiber ungefähr auf der Linie der deutschamerikanischen Radikalen um Karl Heinzen, doch von deren harschen Vorwürfen gegen die USA, wie sie etwa in der Louisville Platform von 1854 zum Ausdruck kommen, findet sich allenfalls der nicht erläuterte Hinweis auf Armut, die wiederum bei Heinzen nicht viel Beachtung findet. Kösters Loblied auf die grenzenlose Freiheit ignoriert Dinge, die in vielen Auswandererbriefen zum Standard gehören: Die auch in der Hochkonjunktur stets drohende Arbeitslosigkeit, die hohen Arztkosten mit der Folge, dass Krankheit die Existenz vernichten kann, kurz: dass nicht einmal das rudimentäre damalige deutsche soziale Netz existiert. Der Stoßseufzer, wäre er doch schon in jungen Jahren nach Amerika gekommen, findet sich in zahlreichen Auswandererbriefen. Etwas sonderbar erscheint der Satz über die beiden Töchter, deren Anwesenheit angesichts ihrer Verdienstchancen die materielle Lage gründlich verbessern würde. Viele Kinder und Jugendliche kamen Ende der 50er Jahre ohne Eltern, aber mit Nachbarn oder Bekannten übers Meer, und das Geld für die Überfahrt hätte sich bei deren angegebenen Verdienstmöglichkeiten in ein paar Monaten zurückzahlen lassen. Das merkwürdige Schwanken zwischen Selbstmitleid – muss allein arbeiten, zu schwach für gewöhnliche Arbeiten – und kaum fundiertem Optimismus – mit der Zeit werde sich etwas finden für ihn, und ihre Zukunft sei außer Gefahr – passt wohl in das Bild des Mannes, der angeblich nicht weiß, wohin er morgen reist. Was auch immer von seiner geringen Kraft zu halten ist – denkbar wäre ja ein gewisser Standesdünkel gegenüber körperlicher Arbeit –, es ist ein Refrain in Briefen und Auswandererführern, dass Handarbeit in Amerika lohnt, aber Schreibtischberufe wenig Chancen haben. Dass Tausende in Zelten vor der Stadt St. Joseph lagerten, dürfte er selber gesehen haben; offenbar waren es Goldsucher auf dem Weg nach Pikes Peak, die sich in der letzten Station vor dem Wilden Westen mit dem Nötigsten ausstatteten. Insgesamt entsteht der Eindruck, hier
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schreibe in seinem positiven wie negativen Überschwang ein Zwanzigjähriger, nicht ein gestandener Familienvater. Zwei Briefpassagen – „Wie Du schreibst, sind Konrad, Philipp, Großbernd, und Bürgermeister Kersten …“ bis „…da doch jeder im Trüben fischen würde“ (S. 200, Zeile 24–35) und „und dass sie Dir und den Kindern großes Unrecht thun, …“ bis „… will ich ihm vergeben“ (S. 201, Zeile 8–25) – entziehen sich ernsthafter Interpretation und erlauben allenfalls phantasiereiche Spekulation. Mit einiger Sicherheit lässt sich dem Brief im Ganzen entnehmen, dass Konrad und Philipp Brüder des Briefschreibers sind. Doch um welche finanziellen Wirrungen, Verdächtigungen und Gründe für Beschimpfungen es sicht handelt, bleibt verborgen – aus dem schlichten Grund, dass dem heutigen Leser das Vorwissen der Empfängerin fehlt. Allenfalls unterstreichen die Witzeleien, schnöden Urteile und allwissend-aggressiven Bemerkungen das aus dem übrigen Brief gewonnene Bild eines wortgewandten, aber erratischen und jedenfalls partiell realitätsfernen Menschen. Atmosphärisch deuten die Passagen darauf hin, dass irgendetwas im Argen lag bei der Abreise. Aber was? Und wovon hatte die Adressatin angeblich „irgend etwas gewusst?“ In einer solchen Situation sind zwei pragmatische Fragen am Platze. Erstens, was ließe sich voraussichtlich an zusätzlichen Erkenntnissen gewinnen, wenn die Unklarheiten zum Teil oder sogar ganz behoben würden, und welches Gewicht hätten die neuen Fakten? Zweitens, was wären die für einen solchen Zweck anzusetzenden Kosten an Zeit und Reisemitteln? Im vorliegenden Fall halte ich den mutmaßlichen Wert des zusätzlichen Erkenntnisgewinns für eher gering. Was wir vom Briefschreiber wissen, deutet darauf hin, dass seine Spötteleien wie Anspielungen und die Bekundung seiner Aversionen, wenn man sie verstünde, wenig am Kern der Gesamtaussage ändern würden. Was die zweite Frage betrifft, so erscheinen die notwendigen Recherchen ungemein aufwändig und zudem wenig erfolgversprechend, was ein eklatantes Missverhältnis zwischen beiden Antworten ergibt. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Man begnügt sich mit dem, was man mit adäquatem und vertretbarem Forschungsaufwand gewinnen kann – außer in gänzlich einzigartigen Fällen, in denen keine Kosten zu scheuen sind. Die hier angesprochene Problematik stellt sich in so gut wie allen mikrohistorischen sowie auch vielen anderen Arbeiten. Man könnte die Suche nach weiteren Informationen ins Unendliche treiben. Aber um Forschungsökonomie ist nicht herumzukommen, weil Zeit und Geld immer begrenzt sind und – so die Erfahrung mit Auswandererbriefen – man sich Grenzlinien setzen muss, jenseits derer man die Suche aufgibt. Solche undurchschaubaren Passagen sollten auch daran erinnern, dass viele Fälle
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auftreten, in denen man nicht einmal merkt, dass man etwas nicht versteht, weil es sich liest, ohne Fragen aufzuwerfen. Es sind – um nur ein paar Möglichkeiten anzudeuten – ein Datum, eine Zahl, die Wetterlage, ein nicht alltägliches Wort, eine Floskel, ein Sprichwort, eine Blume, ein Ort, ein Fluss, die beim Briefempfänger Assoziationen wecken sollen, welche dem heutigen Leser verschlossen bleiben. Es gibt also viele Fallstricke beim Verstehen und Interpretieren von Auswandererbriefen. Vermutungen sind legitim, aber Gewissheit ist selten angebracht beim Rekonstruieren der schriftlichen Kommunikation zweier Menschen. Zweifellos der eindringlichste Teil dieses Briefes behandelt die Befindlichkeit des Schreibers und dessen Beziehung zu der fernen Frau und den Kindern. Erstere pendelt zwischen Selbstmitleid und Hochmut. Resümierend ließe sich zum Verhältnis zur Familie sagen, er verzehre sich vor Sorgen und Sehnsucht, denke ständig an sie und überschütte sie mit guten Ratschlägen, und vor allem richte er größte Anstrengungen darauf, bald genug zu verdienen, um sie alle möglichst rasch herüberkommen zu lassen in eine gemeinsame neue Heimat und Zukunft. Man kann sich rühren lassen von so viel Anteilnahme und Empathie, ja fast mit dem Schreiber leiden bei so viel Trennungsschmerz. Für die speziell an Befindlichkeit und Beziehungen interessierten Historiker ist hier mehr Stoff als in den allermeisten Briefen und Briefserien. Jedenfalls sind zweifellos Liebe, Sehnsucht und Trennungsschmerz das für den Schreiber Mitteilenswerteste. Dagegen sind die Einschätzung eigener Chancen und ein paar Pauschalurteile über die USA und Deutschland deutlich sekundär. Was er (außer Goldgräber-Zelten) sieht, was er isst, wie er wohnt, was man anzieht, mit wem er Umgang hat, das könnte seine Frau wohl interessieren, und er möchte ja von ihr alle Details ihres täglichen Lebens wissen, aber dazu schweigt er. Routinemäßig lesen Historiker in einem nächsten Schritt die übrigen erhalten gebliebenen Briefe. Die meisten sind sehr lang (der hier abgedruckte ist einer der kürzesten), der erste vom 25. Februar 1859, der letzte vom 2. Dezember 1862. Hinweise, ob oder warum spätere nicht vorliegen, gibt es nicht. Grundsätzliche Unterschiede zum vorliegenden Dokument lassen sich nicht feststellen, wohl aber einiges Überraschende. Statt Abscheu vor dem „Sclavenstaate“ (S. 200) entwickelt der Schreiber in den ersten Monaten des Bürgerkrieges nationale Gefühle: Wer bringt die Blutopfer? Die Deutschen. Ja der deutsche Mann legt sein Blut und sein Vermögen auf diesen Altar [des Vaterlandes], und erntet dafür Undankbarkeit und schnöde Zurücksetzung in allen seinen Bestrebungen.5
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St. Louis, 21.2.1862. Offenkundig war er in die deutschamerikanische Ethnie weit genug integriert, um deren Stolz und Empfindlichkeiten zu teilen.
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Er hat Anstellung als Lehrer an deutschamerikanischen Schulen gefunden, ja sogar selbst eine gegründet und schickt gelegentlich Beträge um 15 Dollar nach Hause; meist jedoch entschuldigt er sich, weil er wieder kein Geld erübrigen könne. Und ein Herzanfall wirft ihn für Wochen aufs Krankenbett, so schreibt er, was zu einem neuen Höhepunkt der Zuwendungsbekundungen führt: „Mein Herz war solchen Leiden nicht gewachsen, die das Schicksal mich auferlegt hat; das Heimweh war zu groß, und die Kämpfe der Sehnsucht um Euch mussten es brechen.“6 Bei so viel Liebe gibt es gelegentlich auch Misstöne. Im 19. Jahrhundert wäre der Satz „Im nächsten Brief erhältst Du weitere Order“ nicht unbedingt als lieblos empfunden worden, wohl aber der folgende: „Das Geld von Dippels ist demnach verloren, da die Sache in Deinen Händen war –, mir wäre es nicht verloren gegangen…“7 Liebe und Strenge müssen nicht Gegensätze sein, aber es ist auffällig, wie häufig bei den zahlreichen Erziehungsanweisungen für den Jungen ‚Härte‘ gefordert wird, für die Mädchen strengste Sittlichkeit, „denn in der Reinheit liegt eines Weibes Tugend und die alleinige Achtung.“8 Am merkwürdigsten aber mutet an, dass die Gattin mehrfach beschworen wird, niemandem seine Adresse mitzuteilen. Die verschiedenen Begründungen, die er gibt – er wolle seine Ruhe haben vor Besuch, Landsleute in Not hätten ihn schon viel Geld gekostet, Bettler seien lästig – wollen bei aller Berücksichtigung der Effizienz landsmannschaftlicher Netzwerke nicht recht überzeugen. Hat er etwas zu verbergen? Etwa Schulden? Vielleicht gar eine strafbare Handlung? Der nächste Rechercheschritt – die Suche nach dem biographischen Hintergrund in Deutschland – bringt zwar hierauf keine klare Antwort, bestätigt aber den Verdacht, dass etwas im Argen liegen könnte. Mit 21 beendete Johannes Köster seine Ausbildung im Lehrerseminar in Kassel, als Dorfschulmeister kam er rasch in den Ruf eines Bruder ‚Leichtfuß‘ und Frauenhelden, während sein Unterricht so schlecht beurteilt wurde, dass man ihn in anderes Dorf versetzte. Dort wurde er, nachdem man ihm glaubhaft einen „Angriff auf die Ehrbarkeit eines Schulmädchens“ vorgeworfen hatte, 1842 aus dem Schuldienst entlassen. Er schlug sich bis zu seiner Auswanderung als Chorsänger, Kirchensänger und Organist durch, was angesichts seiner Eheschließung 1839 und der Geburt von sieben Kindern bis 1856 wohl nicht einfach war.9 ______________ 6 7 8 9
St. Louis, 25.11.1861. St. Louis, 17.4. 1861. St. Joseph, 25.2.1859. Die Informationen über die Jahre vor 1858 sind dem Artikel eines Urenkels desselben Namens zu den Köster-Briefen entnommen. Vgl. Rudolf Köster: Die Briefe des Johannes
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Nächste Etappe: Biographie in Amerika. Schon nach dem ersten Schritt stockt der Atem. Hektische Suche nach einer neunzehnjährigen Wilhelmine Köster unter Kindern, Geschwistern, Kusinen: Weit und breit keine Wilhelmine. Aber da steht sie, schwarz auf weiß, in der Passagierliste, die bei der Ankunft des Seglers Reuben, der Bremen am 6. November 1858 verlassen hatte, am 3. Januar 1859 bei der Ankunft in New Orleans angelegt wurde. Eine Zeile unter Johannes Köster, 43, ist die uns bis dato unbekannte Wilhelmine Köster, 19, verzeichnet. Kann die nächstliegende Vermutung zutreffen? Bei so heißen Liebesschwüren in den Briefen? Die nächsten Schritte geben eine klare Antwort. Schon bei der Volkszählung 1860 für St. Louis figuriert Wilhelmine, ihr Alter mit 30 dem Partner etwas angenähert, als Kösters Ehefrau. Nicht nur pro forma, denn 1870 hatten sie bereits drei Kinder, zwischen 1 und 9, und 1880 waren noch vier dazugekommen. Köster galt als einer der verdienten Bürger von Bloomington, Illinois, einer Hochburg der Deutschamerikaner, die in einem Band Bloomingtons Deutsche in Wort und Bild mit (massiv geschönter) Kurzbiographie und Foto gewürdigt wurden.10 Hier wird glaubhaft berichtet, er sei 1865 in die Stadt gekommen und habe bis 1871 eine eigene Schule geleitet, dann aber ein Wochenblatt namens McLean County Deutsche Presse herausgegeben, bis zu seinem Tod 1893. Neben einem englischsprachigen Blatt gab es in Bloomington noch eine zweite deutsche Wochenzeitung mit dem Titel Bloomington Journal, von dem Autor des Würdigungsbandes herausgegeben. Zur Beerdigung seien zahlreiche Trauergäste erschienen, darunter geschlossen der Turnverein, der deutsche Lieder sang. Aus dem windigen, nicht mehr ganz jungen Mann war ein bekannter und geschätzter Bürger geworden, doch scheint diese Entwicklung durch sein Doppelleben überschattet. Die zweifellos gegebene Bigamie wäre, wenn entdeckt, in Deutschland wie den USA strafbar gewesen. Das vorhandene Material lässt nicht erkennen, wie lange nach 1862 die Treueschwüre fortgeführt wurden. Es gibt auch keine Auskunft darüber, wer was wusste. In seiner deutschen Familie wurde dieser Sündenfall nicht einmal andeutungsweise weitergegeben. Urenkel Johannes Köster fiel aus allen Wolken, als wir ihm Anfang der 1980er Jahre unsere Erkenntnisse mitteilten – und erklärte einen solchen Vorgang für völlig unmöglich. Erst nach detaillierter Darlegung unserer Daten war er überzeugt – und übernahm unsere Ergebnisse in einem Artikel. Die Zeilen auf der Rückseite ______________
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Köster aus Amerika in den Jahren 1859–1862. In: Hessische Familienkunde (1992) H. 3/4. S. 162–164 und ders.: Die Briefe des Johannes Köster aus Amerika in den Jahren 1859– 1862 (Fortsetzung). In: Hessische Familienkunde (1993) H. 5. S. 210–215. Julius Dietrich: Bloomingtons Deutsche in Wort und Bild. Illinois 1893.
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von Kösters erhalten gebliebener Fotografie, datiert 11. März 1872, klären einiges auf, aber lassen auch vieles offen: „Christiane Köster – mein theures Weib – vergib! Die Buße war lang! Bleib der Engel meiner Kinder. Mein Tod wird nicht groß sein – Ihr alle seid bei mir. J.K.“11 Rein theoretisch könnte alles ein abgekartetes Spiel gewesen sein: Seine Frau könnte in alles eingeweiht gewesen sein, die Briefe wären nur für die Augen der Familie bestimmt gewesen und hätten die Behauptung entkräften sollen, sie habe von allem gewusst. Die Familienehre oder finanzielle Rücksichten könnten eine Rolle gespielt haben. Das Mitlesen von Auswandererbriefen war ubiquitäre Praxis. Höchst unwahrscheinlich, aber nicht gänzlich auszuschließen. Dies ist kein ‚typischer‘ Auswandererbrief. Einen solchen gibt es kaum. Aber viele bekannte Züge eines solchen enthält er, und die Schwierigkeiten des Verstehens und der Interpretation illustriert er sehr deutlich. Hinsichtlich einer so groben Täuschung des Empfängers allerdings ist es ein extrem untypischer Auswandererbrief.
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Köster: Die Briefe des Johannes Köster (Anm. 9), S. 162–164 und ders.: Fortsetzung (Anm. 9), S. 210–215.
Frida von Uslar-Gleichen an Ernst Haeckel, 14. Januar 1902 Den 14/I 02 Gelliehausen. Die ganz dick aufgeplusterte Taube mit dem großen Rad als Schwanz [Zeichnung] kann einzig Deine Täubse sein; alle anderen mag ich nicht leiden. Aber wie sieht das „rothe Seidenhäschen aus? Eine Brust u. einen Leib hat es, daß man weiter nichts von dem Tier sieht? Ist es so eingebildet, oder eine Mißgeburt der Natur? Ich kenne ein ganz anderes Seidenhäschen mit rothem Brüstchen u. silbernem Schopf, das gefällt mir viel besser. Nach der mitgeschickten Tafel wird mir nur eins klar: „daß alle diese Fabeltiere zusammen aus einer Familie stammen u. demnach „natürlich“ nicht zu trennen sind. Sehr warm danke ich Dir, lieber theurer Ernst, für die mir mitgesandten Briefe u. Karten – eine illustre Sammlung: Lenbach, der Herzog von M.1, (der New York Herald) ectr.… ich finde nur immer daß d. Menschen so schlechte, nichtssagende Briefe schreiben; kommt man am Ende der letzten Seite an, so weiß man nichts Besseres, als vorher. Sie schmeicheln, oder sie nutzen Dich zu ihrem Zweck aus. Was Gut u. Groß ist, gleitet an ihnen vorüber. Gerührt hat mich der Brief des armen Lehrers, der es sehr gut meint; geängstet dagegen der andere vom Amtsgerichtsrat a. D. Er möchte Dich als Leiter einer social-politischen Bewegung haben, für seine demokrat. Interessen Deinen Namen ausnutzen. Kaum liest er Deine Welträtsel, kaum macht er sich die ganze neue Gedankenwelt auch nur traumhaft klar – sofort heißt’s: „Ich bin ganz Ihrer Ansicht, werfe alles über Bord ectr…“ Solche Menschen verstehe u. schätze ich nicht; sie sind wie d. Werkzeuge Robespierres, und Marat’s – aus Egoismus oder Eitelkeit, oder sonst was – zu benutzen u. zu scheuen. Verzeih wenn ich hier hart urteile u. hoffentlich ungerecht. Aber an große Menschen drängen sich stets niedrige Elemente u. Du bist wie ein liebes Kind das nicht an Unrecht glauben mag. – Ach, oft ist mir sehr traurig um’s Herz, wenn ich lese wie Dein Name stets mit der Idee der Ausrottung der Christentums verknüpft wird! Ich weiß, Geliebtester, daß man Dir Absichten unterschiebt, die nie in Deinem Willen lagen, aber – kennst Du das kleine Gedicht von der Gärtnerin, die zur Biene sagt, sie solle sich hüten, denn „manche Blume trägt auch Gift.“ Das Bienchen antwortet „das Gift laß ich darin.“ So das Insect! Die Menschen aber machen’s umgekehrt; sie suchen sich den Giftstoff aus edelsten Blüten. In ____________ 1
Meiningen.
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Deinem Monismus finden sie nicht d. Größe die Himmel u. Erde verbindet, sondern graben emsig nach Beispielen für ihren kleinlichen Haß u. ihre Bosheiten. – Wehe, wenn das wahre Christentum – d. Menschenliebe – aus der Welt verschwindet! Du gestaltest es Dir zum Altruismus edelster Art, kleinere Geister suchen auch noch Trost für Krankheit, Tod u. Ewigkeit darin u. nimmst Du ihnen diesen Trost, so verfallen sie in Wahnsinn oder Selbstmord. – Nun sagtest Du zwar ein mal zu mir, was es denn schade, wenn man sich von dem Elend erlösen würde? Ich halte aber den Gedanken, wenn er zum berechtigten Gesetz würde, für unsere gefährlichste Krankheit. Denn wir nehmen damit dem Menschen Mut, Energie u. Widerstandswillen u. machen ihn – ohne Mark u. Knochen im Character, zu einem elenden Weichtier. – Es wäre mir eine Freude, könnte ich meine paar Worte über das 6. Heft Deiner Kunstformen drucken lassen, weil ich glaube, daß so wenig ich auch (u. so flüchtig wie es geschah) zu sagen habe, doch noch mehr darin steht u. zum Nachdenken u. Bewundern Deiner schönen Arbeit anregt, als in Anderen. Vielleicht wäre es einzurichten, daß d. kurze Abhandlung, unentgeltlich, in eine Zeitung käme, ohne Nennung meines Namens natürlich, u. ohne Honorar für mich das ich weder wünsche noch erwarte, denn ich schreibe ja nur für Dich, Geliebter. Meinst Du, daß es gut u. wünschens werth für Dein herrl. Werk wäre, so schicke mir die letzten 2 Bogen für kurze Zeit wieder, damit ich persönliches fortnehme u. sie abschreibe. Ich müßte dann aber schon Dir die kl. Abhandlung zurücksenden, damit Du sie als Dir freundlich zugeschickte Arbeit eines Verehrers an eine Dir bekannte Zeitschrift oder Zeitung giebst. Ob’s das werth ist? Mir liegt ja nur daran, daß möglichst viele Stimmen laut werden, die die Menschen auf d. Kunstformen der Natur u. ihren hohen sittlichen Werth aufmerksam machen. Dabei fällt mir ein: Geliebter, könntest Du nicht d. Frauenfigur auf der letzten Tafel (Tafel 100!!) Deines Werkes ohne Affen bringen? Ich kann mir nicht denken, daß Affen wirkl. Anspruch an „Kunstformen“ machen; denn das was, ohne d. Schönheit, unsere Körper zu Kunstformen stempeln könnte, ist doch nur das Durchdringen des Höheren, Geistigen. Sei nun der Affe auch noch so entwickelt – u. wie ich überzeugt bin, unser Ahnherr, so ist das geistige Element bei ihm noch nicht vorherrschend, d. Schönheit aber fehlt. – Und weshalb, nur weil Du „Haeckel“ bist, diese Affenverherrlichung? Auch ohne das, kennen d. Menschen Deinen Standpunct. Dann wenigsten, bringe auf Tafel 100 nicht nur Affen, sondern auch andere Säugetiere. Weshalb aber nicht lieber Deine Frau von einzelnen Körperteilen, wie Hand, Nagel, Arm – Haar – Auge, Lippen ectr.… umrahmen. Machst Du es nicht bei Deinen Siphonophoren ebenso?
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In Mantegazza las ich bis jetzt nur sehr wenig. Die Sprache ist schön, seine philosophischen Abhandlungen soweit ich bis jetzt urteilen kann, zeugen von tiefem Denken u. klarer Beobachtungsgabe; mir ist es nicht sympathisch, das zarteste u. Schönste was d. Welt bietet, auseinandergezerrt zu sehn – über Wollust u. Keuschheit zu lesen – in d. Tiefen meines Organismus u. d. Geheimnisse [Schluss fehlt] Über Dein höchst reizendes Erlebnis in Cassel schreibe ich Dir einmal ausführlich, wenn ich Zeit habe, –
Ernst Haeckel an Frida von Uslar-Gleichen, 31. Januar 1902 J. 31. 1. 1902. Liebste Freundin! Als vorgestern am Mittwoch Morgen (– meinem Sonntag! –) der gewohnte l. Gruß aus G. nicht eintraf, überfiel mich plötzlich solche Angst, daß Du erkrankt u. von der bei Euch herrschenden Influenza befallen seiest. Um so froher war ich gestern, als das ersehnte l. Vögelchen doch von der Post angeflogen kam u. mir nur Gutes von Dir meldete. Ich bin froh zu hören, daß Du nach langem Suchen in Göttingen eine für Euch passende, von grünen Bäumen u. Gärten freundlich umrahmte Wohnung gefunden hast! – Dein Rath, betreffend Emma, liebste Fr.! ist gewiß gut und richtig; aber Du weißt nicht, mit welchen – unüberwindlichen! – Hindernissen ich hier zu kämpfen habe. Nach der schweren vorigen Woche, in der ihr Zustand fast unerträglich war, ist E. in dieser Woche wieder leidlich vernünftig, zeitweise sogar liebenswürdig! Die bestimmte Drohung, sie demnächst aus dem Hause zu geben, hat gewirkt, u. sie nimmt sich zusammen. Damit ist aber zugleich bei meiner armen Agnes der feste Entschluß dazu wieder wankend geworden – und ich stehe vor der alten Misere wieder machtlos, ohne sie ändern zu können! – Mit ganzer Energie stürze ich mich jetzt auf die zusammenhängende Vollendung der „Kunstformen“! Noch viel Arbeit; ich glaube nicht, daß die noch fehlenden 30 Tafeln (– die Vorlagen für Heft VII. sind jetzt fertig! –) in diesem Jahr alle fertig werden! Die bedenkliche Schluss Tafel Nr 100 – in der Dein Bild die Hauptrolle spielen sollte! – kommt zuletzt daran; sie wird mir noch viel Kopfbrechen machen. Das Mittelbild (– Helena, als schönste aller „Kunstformen der Natur“! –) möchte ich mit anderen Primaten (Affen u. Halbaffen) nicht allein der phyleti-
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schen Entwickelung zu Liebe umrahmen, sondern auch um die Schönheit durch den Contrast um so stärker zu heben. Diese charakteristische u. malerische Gruppirung der Formen – in ihrer morphologischen u. stammesgeschichtl. Beziehung! – könnte auch allein diesem Schlußbilde Interesse verleihen. Denn „Schöne Frauen-Körper“ sind ja schon zu Millionen abgebildet – schöner als ich sie geben kann. Auch Dein Vorschlag (– meine Helena! –), die Mittel-Figur mit einzelnen Körpertheilen zu umrahmen (Augen, Hand Haar etc) könnte nur ein Künstler ersten Ranges mit Erfolg ausführen (– und das bin ich leider nicht! ). – Über die Publication Deiner l. letzten Kritik der „Kf.“ will ich nächstens mit Hans mich berathen, wenn er herkömmt; der Weg muß sorgfältig erwogen werden. Den Fuß meines weißen Täubchens laß „mal eben“ rasch von Deinem weißen Silberhäschen küssen! Dein E. Das ungelöste Welträtsel. Frida von Uslar-Gleichen und Ernst Haeckel. Hg. v. Norbert Elsner. Bd. 2. Briefe und Tagebücher 1900–1903. Göttingen 2000, S. 727– 732. © Wallstein Verlag. Abbildung ebd., S. 731.
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Herzblatt Haeckel. Wissenschaft als Grenzdiskurs der Gattung Liebesbrief …so fühle ich doch auch andererseits, wie sehr mein wissenschaftliches Leben und Streben unter der Liebe gelitten hat. In dieser Beziehung werden mir erst jetzt die ganz gewaltigen Lücken klar, welche ich in den letzten Jahren, wo ich nur Dir lebte, in meinen wissenschaftlichen Kenntnissen habe einreißen lassen. Ernst Haeckel, Italienfahrt. Briefe an die Braut (Anna Sethe), 1861 Sollte das ein ‚Trostbrief‘ sein, mein Herzblatt? Dann mußt Du das Trösten noch besser lernen. Frida von Uslar-Gleichen an Ernst Haeckel, 1900
I. Geliebte Radiolarien Ernst Haeckel kennt man nicht als Liebenden. Man kennt ihn als Polemiker des radikalen Darwinismus, der im späten 19. Jahrhundert die Gemüter spaltet und den Kampf ums Dasein zum rhetorischen Fanal erhebt. Ernst Haeckel ist es, der die Unterschiede zwischen Mensch und Affe zum Verschwinden bringt, dem Gott als „gasförmiges Wirbeltier“ begegnet und die Seele als basale Zellfunktion. Durch Haeckels kompromisslose Polemik wird der Wissenschaftsdiskurs vom Hort gepflegter Diskussionskultur zum Schlachtfeld eines Weltanschauungskampfes, der vor keiner Diffamierung halt macht und bisweilen auch stilistisch ungekannte Tiefen erforscht. Als Liebenden kennt man Ernst Haeckel nicht. Allein: Das war nicht immer so. Bereits die frühe Haeckel-Hagiographie hat unter einschlägigen Titeln wie Himmelhoch jauchzend Haeckels Briefwechsel mit Anna Sethe, seiner ersten Frau, als „Liebe eines berühmten Mannes in Briefen“ ver-
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klärt.1 Und in der Tat: Der frühe Haeckel schreibt von seinen Reisen viele Briefe an den „Schatz“ zu Hause, ein idyllisch-topisches Erzählverfahren, wie es vielfach auch in fiktionalisierter Form erscheint – man denke etwa an Max Dauthendeys Die geflügelte Erde (1910). Dort erscheint der Schatz (im Original mit Namen Annie) ebenfalls als home base des gefühlvollen Vaganten, die nicht nur mentaler, psychologischer und intellektueller Rückhalt, sondern auch poetologisch unabdingbar ist.2 In beiden Fällen nämlich bringt die Adressatin selbst – als stiller Auslöser – den Briefdiskurs hervor und definiert auf diese Weise eine destination of desire besonderer Art. Die Pointe daran ist der Umstand, dass der Sehnsuchtsruf bei Haeckel wie bei Dauthendey ja nicht aus finsterer Verbannung, sondern von der paradiesischen location, von Italien oder Indien aus erschallt. Die Zuschreibung der loci, deren Funktionalisierung als amoenus (Heimat) und horribilis (berufsbedingter Auslandsaufenthalt) vom faktischen Geschehen unterlaufen wird, verbirgt die Differenz von langweiliger Heimat und begeisternder Exotik im Beziehungsrahmen einer Schein-Entsagung, die de facto die Erfüllung eines exotistischen Begehrens ist. Bei Dauthendey wirkt dieser Utopos der Heimat-Liebe als Strukturprogramm und Ziel der Dichterreise, das dem zirkulären Plot die Regel (und Bedeutung) gibt. Ein Pärchenurlaub kommt hier nicht in Frage, weil die Nähe der Geliebten das incentive zur poetischen Ekstase tilgt.3 Bei Haeckel freilich kann von Urlaub nicht die Rede sein. Der Forscher und sein Schatz sind Opfer eines Differenzproblems, das nicht nur der Entfernung selbst geschuldet und nicht ohne weiteres harmonisierbar ist. Es lautet ‚Wissenschaft‘. Zu Pfingsten nämlich, schreibt der Liebende im Jahre 1858 noch aus Jena, erschien mir wieder die hehre Wissenschaft in ihrer ganzen Majestät und Größe, der ich so oft mein ganzes Ich, mein Wesen und Wirken allein versprochen und angelobt hatte, und forderte es mit eiserner Strenge. Und Dein liebes, holdes Bild, mein Schatz, trat dabei so in den Hintergrund, daß ich Dich gar nicht wirk-
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Vgl. Ernst Haeckel: Himmelhoch jauchzend…Erinnerungen und Briefe der Liebe. Hg. v. Heinrich Schmidt. Dresden 1927, und: Heinrich Schmidt (Hg.): Anna Sethe. Die erste Liebe eines berühmten Mannes in Briefen. Neue gekürzte Ausg. [um die Briefe des Bandes Italienfahrt. Briefe an die Braut 1859/60. Leipzig 1921.] Dresden 1929. Vgl. Max Dauthendey: Die geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere. München 1910. Diese ‚Poetologie der Ferne‘, die zugleich ein Eros der Ersetzung ist, gilt nicht nur für das Gattungsamalgam aus Reisebrief und Liebesbrief, es ist auch für die Gattungsmischung Lehrbrief/Freundschaftsbrief konstitutiv. Vgl. dazu das Kapitel: Strategischer Dilettantismus – Carus’ Briefe und die Freundschaft der Natur. In: Robert Matthias Erdbeer: Die Signatur des Kosmos. Epistemische Poetik und die Genealogie der Esoterischen Moderne. Berlin, New York 2010, darin auch Hinweise zur einschlägigen Brieftheorie.
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lich lieb zu haben glaubte, obwohl es mich noch vor wenigen Stunden so ganz beherrscht hatte. Wie oft verwünschte ich meine Schwachheit, daß ich mich meiner bloßen Neigung so ganz und gar hingegeben habe, wo es doch Pflicht gewesen wäre, dem reinen, kalten Ernste der Wissenschaft allein alle Sinne und Gedanken zu widmen.4
Schön ist dieses nicht, doch andere, so Haeckel, denken ebenso: „Wie schade“, hebt ein Haeckel-Freund zu einem warnenden Exempel an, „[…] daß ein so talentvoller, tüchtiger Naturforscher sich durch zu frühes Hingeben an ein weibliches Herz so ganz von seiner wissenschaftlichen Laufbahn, die er so glänzend begann, hat ablenken lassen. Das kann nun einmal beides nicht zusammen bestehen. Der Flug des Genius erlahmt unter der Sorge für Weib und Kind. Das Interesse für die Wissenschaft erlischt unter dem Gedanken an Bett und Wiege. [...] Ich kann Sie nicht genug warnen“, setzte er lächelnd hinzu, ohne meine Folterqualen gewahr zu werden, „sich zu bald zu verlieben. Es ist zu gefährlich. Haben Sie erst Ihr Herz vergeben, dann ist es auch bald mit der Wissenschaft vorbei. […]“5
Ein düsterer Konflikt. In Haeckels schizoider Brief-persona wird er internalisiert zum doppelten ‚inneren Menschen‘, den der Forscher passgenau in einen ‚wissenschaftlichen‘ und einen ‚lieben‘ – oder, deftiger beschrieben: einen „Wissenschafts-‚Ernst‘“ und einen „Liebes-‚Erni‘“ teilt.6 An Anna etwa schreibt er über die Begegnung mit der Weltreisenden Ida Pfeiffer: Solcher Wissensdurst, durch solche energische Tatkraft gestützt, ist bei einer Frau in der Tat etwas Außerordentliches, und mein einer innerer Mensch (der wissenschaftliche nämlich, nicht der liebe!) schämte sich dabei nicht wenig, als er dachte, daß er auch solche Tropenpläne so lange und innig gehegt und sie nun so rasch und leicht um eines gewissen kleinen Wesens willen aufgegeben habe.7
Haeckel generiert hier einen gender trouble, der entsprechend der gespaltenen persona eine doppelte Beziehungskrise stiftet: mit der Frau, die Wissenschaft betreibt (in quasi-Konkurrenz zu Haeckel selbst), und mit der Frau, die Wissenschaft verhindert. Solche Rede ist im Liebesbrief prekär und muss durch gegenläufige Bekenntnisse gemildert werden. Daher distanziert sich Haeckel rasch von seiner Einschätzung und schwört auf „Ännis“ „reinen Wahrheitssinn“, der ihrem „offenen Naturgefühl“ zu eigen sei und die exakte Wissenschaft durch innere (und äußere) Natur harmonisch ergänze:8 „Immer wieder drängt es mich nach einiger Zeit wieder an den Busen der Natur und an Deinen Busen, liebster Schatz, der ______________ 4 5 6 7 8
Ernst Haeckel an Anna Sethe, 25.5.1858. In: Anna Sethe (Anm. 1), S. 21. Ebd., S. 19. Ernst Haeckel an Anna Sethe, 3.9.1860. In: Ebd., S. 113. Ernst Haeckel an Anna Sethe, 26.8.1858. In: Ebd., S. 44. Ernst Haeckel an Anna Sethe, 25.5.1858. In: Ebd., S. 21.
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Du mein bestes, liebstes Stückchen Natur bist…“.9 Soweit Haeckel. Wenig später geht er auf Italienfahrt. Dort freilich findet seine Liebe einen neuen Gegenstand, der auf der Ebene des männlichen Begehrens ebenso wie auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung greifbar wird – das Radiolarium. In ihm erscheint die Wissenschaft erneut und eindrucksvoll als Grenzdiskurs der Gattung Liebesbrief: Der glücklichste Tag – wahrscheinlich in wissenschaftlicher Beziehung der glücklichste für mein ganzes Leben – war der 10. Februar, wo ich [...] nicht weniger als 12 (zwölf!) neue Arten erbeutete und darunter die allerreizendsten Tierchen! [...] Und was sah ich? Kaum traute ich meinen Augen, ein so überaus herrliches Haliomma schwamm zwischen andern unnützen Infusorien herum, eine neue Art, schöner als alle andern! [...] Ach Schätzchen, könnt’ ich Dich nur einmal die Seligkeit mitempfinden lassen, die mich bei solch prächtigen Freuden [...] beseelt.10
‚Liebt er‘, könnte Änni sich hier fragen, ‚seine Radiolarien etwa mehr als mich?‘ Der kluge Haeckel findet, knapp genug, noch einen eindrucksvollen Ausweg aus der Wirrnis seines doppelten Begehrens – in der transpositio des Wortes ‚Fund‘: Ich kenne nur eine einzige, überselige Empfindung, die noch darüber geht, und das ist der Fund, den ich am 3. Mai 1858 gemacht habe und der denn doch dies alles aufwiegt!! Kennst Du den auch?...11
Vor diesem Hintergrund – es wird wohl ein gemeinsames erotisches Erlebnis sein – ergibt sich dann der briefpoetologische Befund, durch den der Forscher das prekäre Gleichgewicht von Frau und Radiolarium ästhetisch austariert. Der Schatz, im Forschungskontext eher störend, wird im Briefdiskurs zur epistemischen Muse: „Ich meine, Du müßtest es meinen Briefen wohl angefühlt haben, wie Du überall darin webst und lebst, wie der stete Gedanke an Dich mir alle Erlebnisse poetisch verklärt hat.“12 Wenn der Liebestopos ‚Frau‘ zum epistemischen Verfahren wird, das Forschungen sowohl ermöglichen als auch ästhetisch läutern kann, dann liegt es umgekehrt auch nahe, die Geliebte wissenschaftlich zu verklären. Haeckel (Erni versus Ernst) verfällt hier auf den schönen Einfall, seine Lieblingsqualle mit dem Namen seiner Frau und diese mit der Forschungsnovität zu ehren: Desmonema Annasethe heisst das hübsche Tier. Wo Forschertum auf solche Art poetisch wird, verwandelt sich nicht nur die Frau zur Qualle, auch der Liebesbrief gerät alsbald zum Sprachrohr der modernen Wissenspopularisierung: ______________ 9 10 11 12
Ernst Haeckel an Anna Sethe, 23.5.1861. In: Ebd., S. 142. Ernst Haeckel an Anna Sethe, 16.2.1860. In: Ders: Italienfahrt. Briefe an die Braut 1859/1860. Leipzig 1921. S. 155. Ebd. Ernst Hackel an Anna Sethe, 8.11.1859. In: Ebd., S. 126.
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Das Kieselskelett [der Radiolarien] bildet meist einen äußerst zierlichen, schönen und regelmäßig modellierten, glashellen Panzer, dessen ungemein mannigfaltige Form fast allein die Gattungen und Arten unterscheiden hilft. Der gemeinsame Grundtypus aller ist strahlig, so daß von einem gedachten oder realen Mittelpunkt zahlreiche gleiche Teile ausgehen. [...] Die einfachsten Formen sind Stachelsternchen (Acanthometren) und netzige Hohlkugeln (Collosphären).13
Im Widerstreit von Wissenschaft und Liebe, amouröser und exakter Form, neigt Haeckel also auch als Briefpoet zum Pol des Strengen: „Die Früchte vom Baume der Erkenntnis sind es immer wert, daß man um ihretwillen das Paradies verliert.“14
II. Wissenschaft als amour fou Warum [so fragt sich Haeckel 1861] mußte gerade mir, einem so zum Naturforscher geborenen Kinde, die Natur eine solche Fülle tiefsten und innigsten Gefühls mitgeben, daß darunter der Naturforscher zugrunde geht?15
Tatsächlich könnte man sich bei der fachlichen wie metaphysischen Entwicklung Haeckels fragen, wo auf dessen Reise zum Monisten, Popularästheten, Deszendenzfanatiker und Gegenpapst der strenge Forschergeist verblieben ist?16 Besiegte hier der ‚Liebes-Erni‘ am Ende den ‚Wissenschafts-Ernst‘? Um 1900 jedenfalls macht Haeckel, damals Mitte 60 und in zweiter Ehe unglücklich liiert, die fordernde Bekanntschaft einer glühenden, doch kritischen Verehrerin, die Haeckel und sein Spätwerk einer ebenso dynamischen wie rührenden und letztlich tragischen amour fou unterwirft.17 In Haeckels Briefwechsel mit Frida von Uslar-Gleichen findet sich die Krönung dessen, was der vorliegende Essay als Problem verhandelt: Wissenschaft als Grenzdiskurs der Gattung Liebesbrief. Am Beispiel zweier Briefe – Brief und Gegenbrief – vom Januar des Jahres 1902 wird diese heikle Genremischung idealtypisch erkennbar; sie wird selbst ______________ 13 14 15 16
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Ernst Haeckel an Anna Sethe, 29.2.1860. In: Ebd., S. 162 f. Ernst Haeckel an Anna Sethe, 29.5.1859. In: Ebd., S. 65. Ernst Hackel an Anna Sethe, 2.10.1861. In: Anna Sethe (Anm. 1), S. 197. Zu Haeckel allgemein vgl. Uwe Hoßfeld (Hg.): Absolute Ernst Haeckel. Freiburg 2010; zu Haeckels Mix aus Wissenschaft und Weltanschauung, Ethik und Polemik vgl. Mario A. di Gregorio: From Here to Eternity. Ernst Haeckel and Scientific Faith. Göttingen 2005; Bernhard Kleeberg: Theophysis. Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen. Köln u. a. 2005, sowie das Kapitel: „Fanatiker des Wissens“. Haeckels Deskriptionspolemik oder Medienwechsel im Diskurs der Feinde. In: Erdbeer: Die Signatur des Kosmos (Anm. 3), S. 507-580. Ausführlich dokumentiert in der Briefedition: Das ungelöste Welträtsel. Frida von UslarGleichen und Ernst Haeckel. Hg. v. Norbert Elsner. 3 Bde. Göttingen 2000.
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zum Grenzfall einer ungewöhnlichen ‚erschriebenen Beziehung‘, die in diskursiver Hinsicht ihresgleichen sucht. II.1 Erotische Sachlichkeit Die Leidenschaft, die diesen Briefen wie dem ganzen Briefwechsel zugrundeliegt, ist medieninduziert: „Zwar bin ich nun“, schreibt Haeckel schon im Frühjahr 1900, diesen grausamen Zwang, den Du auf mich unwiderstehlich mit D[einen] Briefen ausübst, schon gewohnt; aber immer aufs Neue erstaune ich über die geheimnißvolle Macht, die Du auf mich ausübst, u. die alle anderen Gedanken überwuchert! [...] Jeder Deiner theuren Briefe macht es mir immer klarer u. sicherer, daß ich niemals eine Frau so geliebt habe wie Dich.18
Die kritischere Frida führt die Medienproblematik dieser exzessiven BriefMacht weiter – als subtile Intermedienkritik: Ich habe Deine Briefe sehr lieb. Du brauchst nicht zu fürchten, daß ich eine scharfe Kritik übe. Nein, durch sie erst lernte ich die Tiefen Deines großen, wunderbaren Characters kennen, durch Deine Briefe erst habe ich Dich so lieb gewonnen, obgleich sie immer noch keine getreue Photographie Deiner Seele sind [...].19
In nahezu 800 solcher Briefe, zweifelsohne Beispiele der Gattung Liebesbrief, verhandeln Haeckel und die damals 35jährige Frida nicht nur ihr erotisches Begehren, sondern auch sein Gegenstück: die strenge Wissenschaft. Wenn etwa Haeckel, immer vielbeschäftigt, Briefe schickt, sind dies nicht zwangsläufig auch seine eigenen: Heute kann ich Dir nicht viel schreiben, mein liebstes Herzchen, weil ich noch viele dringende Briefe zu erledigen habe. Statt dessen sende ich Dir 2 Briefe, die Dich sehr interessieren werden, vom Herzog Georg von Meiningen und meinem lieben Onkel Louis Mulder [...]. Ein dritter Brief (vom Gymnasial Director Geist) hat mich ebenfalls erfreut. Ich erbitte sie gelegentlich zurück, ebenso die beigelegte Recension der Wr. [Welträtsel] von Julius Hast (aus der „Tägl. Rundschau“). Der erste Artikel ist treffend, die letzten mehr oberflächlich.20
Dieser nicht-erotische Informationsdiskurs – es geht um Kritiken zu Haeckels Werk – gelingt auch umgekehrt. Schon 1899 hatte Frida in luzider und vor allem schonungsloser Stilkritik die „Correcturbogen“ der Welträtsel zerpflückt und damit auch den ‚Typus Haeckel‘ nachhaltig erschüttert. Habe sie doch, schreibt sie, ______________ 18 19 20
Ernst Haeckel an Frida von Uslar-Gleichen, 25.4.1900. In: Ebd. Bd. 1. S. 448 f. Frida von Uslar-Gleichen an Ernst Haeckel, 19.5.1900. In: Ebd., S. 468. Ernst Haeckel an Frida von Uslar-Gleichen, 16.12.1899. In: Ebd., S. 345.
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leider nur zu oft gefühlt [daß] Sie aus der Objektivität des ‚[Über]-Allem-Stehenden-Lehrers‘ heraus treten u. mit bitteren Spitzen die Menschen angreifen – Spitzen die uns ins Fleisch stechen u. darum Widerstand u. Geschrei erregen müssen [...].21
Haeckels Ausfälle der Art, wie Sie z.B. über die unbefleckte Empfängnis der Maria los ziehen im 17 Capitel [der Welträtsel], zeugen von einer Bitterkeit, haben einen so beißenden Hohn – daß ich viel darum gäbe – könnte ich d. Sätze mildern. Man überzeugt, meines Erachtens nach nie einen Menschen durch solche Waffen – wo die einfache sachliche Darlegung der Thatsachen – ohne jedes ätzende Beiwerk – so viel wirken kann [...]. Ich vermisse hier die ruhige, klare Kälte, durch die sich Ihr Styl, so wie es Ihre Wissenschaft betrifft, in so hervorragender Weise auszeichnet. Dieselbe Objectivität vermisse ich bei Vielem was sie über den Monismus sagen. Mein Freund, Sie sind ein ebenso großer Schwärmer u. Idealist wie jeder andere Prophet – u. Sie sehen in Ihren Monismus wie in einen goldenen Kelch, der uns in seinem kostbaren Trank keinen Wermutstropfen bietet. [...] Ich möchte noch einmal wiederholen: werden sie sachlich – betrifft es ihre Wissenschaft [...] so scheint mir Ihr Buch unübertroffen dazustehn – betrifft es aber Ihr Gemüt- und Gefühlsleben – so wünschte ich in vielem mehr Reserve, mehr klare Kälte – ohne Beiwerk und die ruhige Darlegung der Thatsachen – auch mehr Gerechtigkeit.22
Gerade Haeckel, den Fanatiker aus Profession, zur Sachlichkeit zu mahnen, ist ein kühnes Unterfangen, das auch nur bedingt erfolgreich war: Zum Jahresanfang ist die beiderseitige Beziehung schon intim. Im Liebesbriefdiskurs des Jahres 1900 wandelt sich die ‚Kälte des Gemüts‘, die Frida für die Haeckelsche Stilistik fordert, zur amour fou der besonderen Art. Hier wird aus dem noch eben „hochverehrten Herr[n] Professor“ „mein geliebtes Herzblatt“ oder gar – man lese schnell darüber weg – „mein theures Silberhäschen“,23 das sich freilich immer noch der wissenschaftlichen Kritik zu stellen hat. Die Dissonanz von Wissenschaft und Liebe wird in Fridas raffinierter Textkritik erotisch aufgeladen und zur Doppelkorrektur – des Textes wie des Mannes – brieflich eingesetzt. Der epistemische und der erotische Diskurs befruchten sich dabei im Zuge eines ‚Sado-Masochismus‘, der, als epistolographischer, von beiden Partnern nicht nur größten Einsatz fordert, sondern auch entlastend wirken kann: Wie danke ich Dir noch heute für das häßliche Wort „Pfui!“ – das Du im Juni an einen Correcturbogen der bösen ‚Welträthsel‘ geschrieben und dadurch mehrere Derbheiten dieses Unglücks Buchs verhütet hast!24
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Frida von Uslar-Gleichen an Ernst Haeckel, 10.7.1899. In: Ebd., S. 158. Ebd., S. 448 f. u. S. 158 f. Frida von Uslar-Gleichen an Ernst Haeckel, 24.3.1898, 21.7.1903 u. 23.6.1903. In: Ebd., S. 67, sowie Bd. 2. S. 870, 857. Ernst Haeckel an Frida von Uslar-Gleichen, 8.3.1900. In: Ebd. Bd. 2. S. 409.
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Der Einsatz allerdings hat, wie sich im Folgenden zeigen wird, seinen Preis. II.2 Die Kunstform ‚Frau‘ Zum Jahreswechsel 1902 führt dieses heikle Amalgam aus Nähe und Distanz zum Austausch zweier Briefe, deren diskursive Anspannung nicht zu verkennen ist. Das Arsenal, das Haeckel im Dezember 1901 an Frida schickt – ein Liebesbrief mit handgemalten Tieren, die erwähnten Briefe fremder Hand und den Entwurf zur Tafel 100 seiner Kunstformen der Natur – trifft nicht nur (besser: nirgends) auf Begeisterung: Die ganz dick aufgeplusterte Taube mit dem großen Rad als Schwanz kann einzig Deine Täubse sein; alle anderen mag ich nicht leiden. Aber wie sieht das „rothe Seidenhäschen aus? Eine Brust u. einen Leib hat es, daß man weiter nichts von dem Tier sieht? Ist es so eingebildet, oder eine Mißgeburt der Natur? […] Sehr warm danke ich Dir, lieber theurer Ernst, für die mir mitgesandten Briefe u. Karten – eine illustre Sammlung: Lenbach, der Herzog von M., (der New York Herald) ectr…. ich finde nur immer, daß d. Menschen so schlechte, nichtssagende Briefe schreiben; kommt man am Ende der letzten Seite an, so weiß man nichts Besseres, als vorher. (S. 213)
Diese Stilkritik an Haeckels Zeichenkünsten und am Briefstil seiner Freunde lässt auch für den Rest des Briefs nichts Gutes ahnen – um so mehr als Haeckel selbst, am Gipfel seiner amour fou des Wissens, das Zusammenspiel von Wissenschaft und Liebe ausdrücklich als ‚Kunstform‘ projektiert. Wie schon bei seiner ersten Frau (und seiner Lieblingsqualle) mit Erfolg erprobt, forciert er nunmehr die ästhetische Verklärung seiner „‚Herzens-Frau‘“ zum Signum und Symbol exakter Wissenschaft. Es handelt sich um den Entwurf zur Tafel 100, End- und Höhepunkt der Sammlung Kunstformen der Natur. Hier nämlich möchte Haeckel der Geliebten dadurch ein entwicklungsbiologisch wert- und eindrucksvolles Denkmal setzen, dass er sie im Kreis der ursprünglichen Artgenossen als moderne Venus präsentiert. ‚Apotheose des Entwickelungsgedankens‘ heißt das hehre Ziel der Schluss Tafel Nr 100 – in der Dein Bild die Hauptrolle spielen sollte! – [Sie] kommt zuletzt daran; sie wird mir noch viel Kopfbrechen machen. Das Mittelbild (– Helena, als schönste aller „Kunstformen der Natur“! –) möchte ich mit anderen Primaten (Affen u. Halbaffen) [...] umrahmen […]. (S. 215 f.)
Ein bedenkenswerter, auch ästhetisch wohldurchdachter Plan, der nicht nur der „phyletischen Entwickelung zu Liebe“, dem prodesse, sondern auch mit dem erklärten Ziel entworfen ist, „die Schönheit durch den Contrast um so stärker zu heben.“ (S. 216) Frida freilich ist nicht Änni – ihre Reaktion auf den ‚Contrast‘ fällt ungewöhnlich heftig aus:
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Geliebter, könntest Du nicht d. Frauenfigur auf der letzten Tafel (Tafel 100!!) Deines Werkes ohne Affen bringen? Ich kann mir nicht denken, daß Affen wirkl. Anspruch an „Kunstformen“ machen; denn das was, ohne d. Schönheit, unsere Körper zu Kunstformen stempeln könnte, ist doch nur das Durchdringen des Höheren, Geistigen. Sei nun der Affe auch noch so entwickelt – u. wie ich überzeugt bin, unser Ahnherr, so ist das geistige Element bei ihm noch nicht vorherrschend, d. Schönheit aber fehlt. – Und weshalb, nur weil Du „Haeckel“ bist, diese Affenverherrlichung? Auch ohne das, kennen d. Menschen Deinen Standpunct. (S. 214)
Ist hier etwas Grundsätzliches nicht verstanden worden? Frida scheint es in berechtigter Empörung zu entgehen, dass die Marke ‚Haeckel‘ einer rein evolutionären und vor allem kontroversen Schönheitskonzeption verpflichtet ist. Ihr Gegenvorschlag allerdings ist durchaus haeckelwürdig. Er entspricht nicht nur genau dem Bildprogramm der Kunstformen; durch seine Übertragung auf den Menschen produziert er einen – gleichsam autodestruktiven – splatter-Effekt: Weshalb aber nicht lieber Deine Frau von einzelnen Körperteilen, wie Hand, Nagel, Arm – Haar – Auge, Lippen ectr… umrahmen. Machst Du es nicht bei Deinen Siphonophoren ebenso? (S. 214)
Erotik wird hier einmal mehr zum Grenzdiskurs des Wissens, Wissenschaft zum Grenzdiskurs der Gattung Liebesbrief. Dass man sich nämlich immer noch in dieser Gattungskonvention befindet, zeigt die Antwort Haeckels. Erni, der Charmeur, vertuscht darin aufs Rührendste, was Ernst, der Wissenschaftler, konsequent verwirft. Das kingkongeske Genrebild aus Frau und Affen nämlich ist gerade in ästhetischer Beziehung unverzichtbar, weil die „charakteristische u. malerische Gruppirung der Formen – in ihrer morphologischen u. stammesgeschichtl. Beziehung! – [...] allein diesem Schlußbilde Interesse verleihen“ (S. 216) kann. Hier gilt es zu bedenken: „Schöne Frauen-Körper“ sind ja schon zu Millionen abgebildet – schöner als ich sie geben kann. Auch Dein Vorschlag (– meine Helena! –), die Mittel-Figur mit einzelnen Körpertheilen zu umrahmen (Augen, Hand Haar etc) könnte nur ein Künstler ersten Ranges mit Erfolg ausführen (– und das bin ich leider nicht! –). [...] Den Fuß meines weißen Täubchens laß „mal eben“ rasch von Deinem weißen Silberhäschen küssen! Dein E. (S. 216)
Hier zeigt sich, was der Liebes-Erni diplomatisch leisten kann. Der FridaVorschlag wird nicht abgelehnt, er wird zum Opfer der ästhetischen Pragmatik, weil er an der künstlerischen Überforderung des Meisters scheitert; an die Stelle der prekären, weil sezierten Körperteile tritt der Fuß des Abschlussflirts, der ebenso vom Sprachregister (der intimen Wendung mit Privatzitat) wie auf der figuralen Ebene symbolhaft eingebunden wird. Doch Frida gibt nicht auf. Wohl wissend, dass der Zeichner hochkomplexer Radiolarien nicht an ein paar Haaren scheitern würde, nimmt sie
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Haeckels understatement taktisch ernst und legt ihm einen Künstler nahe, der es kann: Könntest Du das letzte Blatt der Kunstformen nicht von Lenbach oder Magnussen entwerfen lassen? Ihm würde es eine Ehre sein u. Du kämest zu der Tafel, die mit der zarten Huldigung des berühmten Forschers für uns Frauen zugleich einen würdigen Beschluß Deines herrl. Werkes machte. Wie Du siehst, bin ich obstinat; mir wollen d. Primaten nicht in den Kopf. Geben sie Dir wirklich einen Kunstwerth, so wähle sie für eine andere Tafel; oder, wenn Du durchaus aus jeder Tierklasse Vertreter haben willst, so wähle doch unter allen Säugern etwas wirklich Edles [...].25
Es liegt nahe, anzunehmen, dass die hier geübte Wissenschafts- und Kunstkritik das zarte Liebesspiel gefährdet hat; auch Fridas Vorschlag, eine selbstverfasste Abhandlung zu Haeckels Bilderwerk zu publizieren, trägt hier wenig zur Entschärfung bei.26 II.3 Ästhetische Devolution Tatsächlich leitet die an der Gesamtbeziehung leidende Geliebte in den angeführten Briefen schon die Krisis der Beziehung ein und ventiliert ein downgrade, das die Entintimisierung der gesamten Briefwechseldiktion erwägt. Drei Tage später schreibt ihr Haeckel drei emphatische und szientismusfreie Liebesbriefe, die er mit dem Hauptverfahren des Poetischen Realismus beschließt: „Das also wäre ‚Das Ende des Romans‘: Entsagung!!“27 Sichtbar würde die Entsagung, so der Liebende im Anschluss an den Vorschlag der Geliebten, in der sprachlichen Gestalt der Briefe; der Konflikt des amourösen und des wissenschaftlichen Thesaurus wäre dann zuungunsten des letzteren entschieden: Dann darf weder von der „Weißen Taube“, noch von dem weichen „Seidenschwänzchen“ die Rede sein, weder vom lieben Silberschwan, noch vom Weißen Raben und „Silberhäschen“! Das klingt hart, liebste Fr.! – und doch muß es sein, wie Du selbst schreibst [...]. Da das Alles nun ausgeschlossen bleiben muß, wird sich unser Verkehr fernerhin ganz auf den brieflichen „Gedanken-Austausch“ beschränken müssen, in dem Du, Liebste, das „reinste Glück zu finden“ meinst!28
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Frida von Uslar-Gleichen an Ernst Haeckel, 4.2.1902. In: Das ungelöste Welträtsel (Anm. 17), Bd. 2. S. 732. In seiner Antwort wiegelt Haeckel, der wohl Missverständnis (oder Konkurrenz) befürchtet, den Versuch lakonisch ab: „Über die Publication Deiner l. letzten Kritik der ‚Kf.‘ will ich nächstens mit [Schwiegersohn] Hans mich berathen […]; der Weg muß sorgfältig erwogen werden.“ (S. 216.) Ernst Haeckel an Frida von Uslar-Gleichen, 7.2.1902. In: Das ungelöste Welträtsel (Anm. 17), Bd. 2. S. 738. Ebd., S. 738 f.
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So ist es nicht gekommen. Immerhin ermöglicht der beschlossene erotische Diskursverzicht noch einen letzten Aufschwung für den Wissenschaftsdiskurs, insofern Frida jetzt das Nachwort zu den Welträtseln akribisch korrigiert – die wissenschaftlichen Passagen ebenso wie die polemischen: Von David Strauss würde ich entweder sagen: der große Theologe – oder der größte deutsche Theologe. England hat in Spencer u. Spurgeon, Frankreich in Renan – u.s.w. Bedeutendes aufzuweisen. Der Satz ist in Deiner Fassung anfechtbar. [...] Bitte setze auf Seite 8 anstatt: „bei einer Balgerei zwischen dummen Jungens“ lieber „bei einer Balgerei von dummen Jungens“. Das Wort „zwischen“ zieht Deine Person mit hinein. Mir gefällt der Satz nicht, aber ich verstehe, das Du kraß sein willst [...]. Vermeide den Ausdruck „Brüder im Herrn“. Der Cynismus ist Dir schädlich u. nützt Deiner Sache nicht.29
In diesem Kontext kommt auch die prekäre Tafel 100 nochmals in den Blick; hier darf sich Frida über unverhoffte Unterstützung freuen. Haeckels Schwiegersohn verwirft die Tafel auch: Ich kann Dir nachempfinden, mein armer Liebling, wie betrübt Du von Deinem Schwiegersohn fortgingst [...]. Aber Dein Schwiegersohn hat als Weltmann Recht! Ich bin überzeugt, daß sich ein Sturm von Entrüstung erhoben hätte; die Frauen wollen nicht mit Affen zusammengruppiert werden; die Männer hätten Cynismus darin gesucht u. den Weibern d. Fehler der Äffinnen vorgeworfen etc… [...] Erinnere Dich, daß ich hier schon leise Bedenken laut werden ließ.30
Hier appelliert die kritische Geliebte nochmals an die Trennung der Diskurse, deren text- und bildstrategische Vermischung freilich immer schon die Pointe Haeckelscher Textur (und seines Briefwechsels) gewesen ist: „Sei nicht traurig, mein teurer Lehrer u. lasse die Kreise Deines Darwinismus nicht in Deine Kunst hineingleiten, da sich d. Kunst weit über alles Erdenwerk erheben soll.“31 Zugleich (und hellsichtig) plagt Haeckels ‚Herzens-Frau‘ noch bis in ihre letzten Briefe wiederholt die schlafraubende Sorge, Haeckel könnte sich die Krönung seines Tafelwerks am Ende selbst verderben: Ich komme nochmals auf die Tafel 100 Deiner Kunstformen zurück, nachdem ich mich d. ganze Nacht damit beschäftigte. [...] Gerade Tafel 100, die noch einmal, sozusagen d. Ideé des ganzen Werkes sammeln u. verklären soll, ist so schwierig zu komponieren, daß ich auf das Schmerzlichste bedaure, nicht mit Dir darüber reden zu können. […] Deine impulsive Natur könnte Dich jetzt veranlassen, Hals über Kopf eine letzte, schwache Tafel zu entwerfen. Und das würde mich tief betrüben.32
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Frida von Uslar-Gleichen an Ernst Haeckel, 7.4.1903. In: Ebd., S. 840 f. Frida von Uslar-Gleichen an Ernst Haeckel, 26.9.1903. In: Ebd., S. 902 f. Ebd., S. 903. Frida von Uslar-Gleichen an Ernst Haeckel, 27.9.1903. In: Ebd., S. 904 f.
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Frida sollte Recht behalten, musste allerdings die schwache Tafel nicht mehr selbst erleben. Im Dezember 1903 verstummt die Gegenstimme, deren einfühlsames, aber unzweideutiges appeacement das Phantasma einer anderen, entspannten Populärtextur beschworen und befördert hat, für immer. Während einer Reise Haeckels nimmt sich Frida mit der indirekten Hilfe des Geliebten, der ihr einst auf Anfrage, „als heimliches Geschenk zu Deinem Geburtstag“, „Morphium“ und „Cyan-Kalium“ vermittelt hatte, das Leben.33 Wissenschaft als Grenzdiskurs der Gattung Liebesbrief wird hier zur grausigen existentiellen Pointe, die den untergründigen Zusammenhang von materialistischer ‚Autonomie-Ästhetik‘ und moderner Selbstbestimmungsethik hinter der umkämpften Affen-Frau-Groteske sichtbar macht: Übriges ist auch das Fläschchen mit Cyan-Kalium, das ich Dir früher auf Deine Bitte gab, sicher wirksam (augenblicklich tödtend), so lange es geschlossen im Dunkeln bleibt, und vor der Einwirkung der Luft und des Lichtes geschützt wird. – Ein höchst einfaches, jederzeit zu habendes Mittel zur „Selbsterlösung“ ist, Abends vor dem Schlafengehen ein offenes Becken mit glühender Kohle in das Zimmer zu stellen; durch die langsame und unvollständige Verbrennung der Kohle entwickeln sich Dämpfe von Kohlen-Oxyd, die schmerzlos betäuben und tödten – […]; da ich Dich mehr als mich selbst liebe, gönne ich Dir auch die Mittel zur Selbsterlösung […].34
Mit Bezug auf diese Form der Wissenspopularisierung, die gerade dort als Sterbehilfe in Erscheinung tritt, wo sie kein lebensfähiges Verhältnis zweier Liebender begründen kann, darf man die These wagen, dass der Ausgleich beider Subdiskurse ethisch wie ästhetisch scheitern muss. Poetologisch scheitert hier auch und vor allem der Versuch der Einschreibung ins Paradigma des poetisch-realistischen Romanverfahrens, weil die Wissenschaftstextur die faktische Entsagung nicht verklären kann. Dies zeigt sich nirgends klarer als am traurigen Vermächtnis dieser Liebe: am Geschick der Tafel 100. Haeckel nämlich – im entscheidenden Moment wie immer unsensibel – hat nach Fridas Tod die vielverschmähte Affen-Frau durch eine Gruppe Geweihe ersetzt. Und noch bei einem weiteren Aspekt ist sich der Forscher treu geblieben: Frida wird, wie einstmals Anna, am Ende als Qualle verklärt. Was einmal ‚Täubchen‘ hieß, begegnet nunmehr als Rhopilema Frida. Diese prachtvolle Art der Gattung Rhopilema, eine der schönsten Medusen [...], trägt ihren Namen zur bleibenden Erinnerung an Fräu-
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Ernst Haeckel an Frida von Uslar-Gleichen, 28.8.1903. In: Ebd., S. 878. Ebd., Frida dankt entsprechend „für das mir endlich erfüllte Geburtstagsgeschenk, den besten Beweis von Liebe u. Freundschaft, den Du mir geben kannst […].“ (Brief an Ernst Haeckel, 31.8.1903. In: Ebd., S. 880.)
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lein Frida von Uslar-Gleichen, die kunstsinnige Naturfreundin, die durch ihr feines Urteil die „Kunstformen der Natur“ vielfach gefördert hat.35
So kann es gehen, wenn man in der Gattung Liebesbrief dem Grenzdiskurs der Wissenschaft vertraut.
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Ernst Haeckel: Widmungstext als Beilage zum Brief an Frida von Uslar-Gleichen vom 30.7.1903. In: Ebd., S. 872.
Liebe in der Wissenschaft – die knapp verhinderte Hommage an Haeckels Frida. Abgelehnte Schlusstafel der Kunstformen der Natur.
Rainer Maria Rilke an Magda von Hattingberg, 4. Februar 1914 Paris, am 4. Februar 1914. 17, rue Campagne Première. Freundin, schönes Herz, wie strömt, wie strömt Ihnen mein Herz hinüber –. Alle Briefe, die in Jahren möglich wären, möcht ich Ihnen auf einmal schreiben, wissen Sie, es giebt solche Morgen am Meer, heiter starke, alle Wellen wollen zugleich kommen, halten sich auf draußen, es glänzt, glänzt und kommt keine. Aber es ist lauter Freude zwischen uns, die ist klar, da sehen sich die entferntesten Ortschaften, und die Glocken gehen fast sichtbar durch die empfängliche Luft. Meine Freundin, kämen Sie doch –, dann wieder, wenn ich denke, wir sähen uns, ist mir, als betrög ich Sie: einmal, sehen Sie, müssen Sie im vollständigsten Verstande nehmen, was ich neulich von meinem Gehör Ihnen schrieb: dass es wie eines Saugkindes Fußsohle sei: das will nicht nur heißen: so neu, so ungebraucht, so vor aller Verwendung, sondern auch so ungeschickt, so unbrauchbar und unbeholfen und am Ende, (was man mir schon als Kind immer versicherte) gar nicht fähig, zu gehen, außerstande, auch nur drei Schritte zu lernen. (Wirklich, ich behalte keine Melodie, ja ein Lied, das mir nahe ging, das ich dreißigmal hörte, ich erkenn es wohl wieder, aber ich wüsste auch nicht den mindesten Ton daraus anzusagen, das ist wohl die dichteste Unfähigkeit selber.) Dies. – Und dann ein Anderes. Freundin, Schwester, Lieblings-Schwester in dieser lauteren Seeligkeit, Seelige, Frohe, Helle, unaufhaltsame Seele: der Zufall, dieser liebe lebendige, hat Ihnen, eins ums andere, Bücher von mir ans Herz gegeben, die vor langer Zeit geschrieben sind; wer war ich damals? Wer bin ich jetzt? Bin ich auch nur im Recht, Ihre Briefe zu öffnen, gehören sie nicht alle einem Anderen Gewesenen zu, Einem, nach dem ich selbst manchmal eine Art Heimweh habe, wenn ichs denn sagen soll? .. Wie wäre alles geworden, wenn Sie stattdessen ein gewisses zweibändiges Prosa-Buch würden gelesen haben, eine Arbeit, in der ich meinte, Vorräthe alter Schmerzen aufzuarbeiten, nicht wissend, dass ich mit ihr recht eigentlich meine Schmerzthümer erst anträte, unsägliche Zeiten. Nicht, dass ich den Glauben an das Größeste aufgegeben hätte, nicht dass ich in ihm zaghaft geworden und zurückgegangen wäre, alles das nicht, ich bin sicher weitergegangen. Aber frag ich mich wie, meine Freundin, mir ist, als wär ich einfach vor mich hin in einen Berg hineingegangen, und der Berg hätte wirklich nachgegeben, und ich hätte, durch fortwährende Wunder wider die Natur, weitergekonnt und hätte Stein eingeathmet und Stein ausgeathmet, wesend in nichts als Gestein. Nun lieb ich „Wunder“ nicht
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und habe alle Lust zur Natur, da konnt es nicht fehlen, dass ich mir manchmal monstruös vorkam in meinem Gebirg, ich ward ungeduldig, müde, erschöpft; ich hoffte auf einen, der mich mit der Hacke herausholte, der mich freimeißelte, der mich auf eine Wiese legte unter den Wind, der nichts sagte, der alles begriffe, der da wäre; ach, wahrscheinlich hab ich so geschrieen, dass wirklich ein paar Vorübergehende sich daranmachten, mich herauszuholen, aber da sie mich zutage hatten, die Guten, da wars völlig falsch. Ich habe keine Übung mit Menschen, ich stellte mich schlecht mit ihnen an, ich bat sie am Ende, zu gehen, und kaum waren sie fort, so kroch ich wieder in meinen Berg hinein, denn draußen verlor ich mich so sinnlos in die Leute hinüber, gab mich weg und bekam, aus Ungeschicklichkeit, nichts dafür wieder, während das Gestein mich wenigstens zusammenhielt und mir so rein und stätig zu thun gab, es war nicht überall gleich hart –; da übersprang mein Gefühl die Menschen, und ich wollte bleiben oder höchstens von einem Engel gerettet sein, mit dem getraute ich mir schon den richtigen Umgang zu haben. Auch giebt es sicher einen Grad von Noth, auf den die Engel hören, äußerste Nothstrahlen, die die Menschen gar nicht wahrnehmen, die durch ihre dichte Welt durchdringen und erst drüben in eines Engels Schein ein leises leidvolles Violett anschlagen, wie der Amethyst in den Drusen des Bergkrystalls. Gute Freundin, dies ist zu sagen, musste gesagt sein: der Ihnen schreibt, gleicht viel mehr dem Mann aus diesem (anhaltenden, noch nicht abschließbaren) Märchen, als jenem einstigen jungen Menschen, dessen einzelne Bücher Sie, gerne und bewegt, gelesen haben. Dieser Mann, (bei dem hier niemand Zulass hat) würde jedem schreiben, nicht zu kommen. Ihnen schreibt er, (seiner unvermutheten Freundin, zu der er das tiefste Vertrauen fasst): handeln Sie, Freundin, nach Ihrer Freude: die kann nicht anders als Recht thun, die hat Macht und Herrlichkeit auf ihrer Seite. Rainer Maria Rilke. Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg – „Benvenuta“. Hg. v. Ingeborg Schnack u. Renate Scharffenberg. Frankfurt/M., Leipzig 2000. S. 34–36. © Insel Verlag.
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Im Schutzraum der Schrift – ein Brief Rainer Maria Rilkes an Magda von Hattingberg Bekannt ist Rainer Maria Rilke als einer der produktivsten und erfolgreichsten Lyriker des frühen 20. Jahrhunderts. Weniger bekannt ist, dass er mindestens im gleichen Maß einer anderen Tätigkeit nachging: Er war ein ebenso manischer wie professioneller Briefschreiber. Schätzungen, die von „etwa 10.000 Briefe[n]“1 ausgehen, dürften untertrieben sein. Rilke sah in seinen Briefen einen Teil seines schriftstellerischen Werkes, den er zur Publikation vorschlug: „Da ich, von gewissen Jahren ab, einen Theil der Ergiebigkeit meiner Natur gelegentlich in Briefe zu leiten pflegte, steht der Veröffentlichung meiner [...] Correspondenzen [...] nichts im Wege“,2 verfügte er in seinem „Letzten Willen“. Neben ihrem literarischen Wert zeichnen sich die Briefe durch eine deutliche Zweckorientierung aus, ging es für den aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden und als Schriftsteller zunächst nicht reüssierenden Rilke doch um das Herstellen eines dichten Netzes an Beziehungen. Dies schließt den Kontakt mit Verlegern wie Axel Juncker und Anton Kippenberg oder mit einflussreichen Personen des literarisch-kulturellen Lebens wie Lou Andreas-Salomé oder Ellen Key ebenso ein wie die Tuchfühlung mit Mäzenen wie Karl von der Heydt oder Marie von Thurn und Taxis, aber auch mit Lesern und vor allem Leserinnen.
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Joachim W. Storck: Das Briefwerk. In: Manfred Engel (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2004. S. 498–506, hier S. 498. Mittlerweile wurden mehr als 70 Bände mit Rilke-Briefen herausgegeben, fast jährlich kommen neue Briefeditionen hinzu, wichtige Dokumente wie die Korrespondenz mit seiner Frau Clara sind noch immer nicht vollständig publiziert. Rainer Maria Rilke: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart. Bd. 2. Hg. v. Rätus Luck. Frankfurt/M. 1977. S. 1193.
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I. „Mein Werk, mich Dir wahr zu machen“: Der Briefwechsel mit ‚Benvenuta‘ Innerhalb der zahllosen von ihm geführten Briefwechsel nimmt die Korrespondenz mit Magda von Hattingberg, einer um acht Jahre jüngeren Konzertpianistin, die sich nach der begeisterten Lektüre seiner Geschichten vom lieben Gott an ihn wandte, eine Sonderrolle ein.3 Es handelt sich um eine der intensivsten, aber auch um eine der kürzesten Briefbeziehungen des Autors: Innerhalb von nur fünf Wochen, zwischen dem 22. Januar und dem 26. Februar 1914, werden insgesamt 38 Briefe gewechselt. Manchmal werden an einem Tag gleich zwei Briefe abgeschickt, manchmal verfasst Rilke aber auch über mehrere Tage hinweg umfangreiche Brief-Essays, die sich in der Druckausgabe über bis zu 15 Seiten erstrecken. Der in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht herausragende Briefwechsel mit Hattingberg beruht allerdings auf einer entscheidenden Grundvoraussetzung: der Tatsache, dass sich die Korrespondenten nicht persönlich kennen. Nach der Begegnung Ende Februar 1914 in Berlin, der gemeinsame Reisen nach München, in die Schweiz, nach Paris und nach Duino folgen, schlägt die zunächst so fruchtbare Beziehung in ihr Gegenteil um: Schon bald treten Spannungen auf, und spätestens im Mai 1914 kommt es zur Entzweiung – die nur im Schriftverkehr aufgebaute Beziehung hält der Konfrontation mit der Realität nicht stand. Und bereits innerhalb des Briefwechsels fungiert die Adressatin bei näherem Hinsehen primär als Stimulanzmittel, als Katalysator. ‚Benvenuta‘, wie Rilke sie nennt, ist weniger ein konkretes Gegenüber, sondern vielmehr eine gleichermaßen imaginierte wie notwendige Instanz für Rilkes epistolare poiesis, seine mittels Briefen bewerkstelligte Selbsthervorbringung: „Mir ist“, so bemerkt Rilke einmal, „als wärs in dieser Weile mein Werk, mich Dir wahr zu machen“.4 Wie diese Formulierung suggeriert, nähert sich der Briefwechsel dem poetischen Schaffen. In materialer Hinsicht äußert sich dies darin, dass Rilke ‚Benvenuta‘ auf ‚Arbeitsblättern‘ schreibt. In seinem ersten Brief erklärt er diese Besonderheit dadurch,
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Vgl. hierzu aus psychologisch-biographischer Perspektive Angelika Ebrecht: Rettendes Herz und Puppenseele. Zur Psychologie der Fernliebe in Rilkes Briefwechsel mit Magda von Hattingberg. In: Anita Runge u. Lieselotte Steinbrügge (Hg.): Die Frau im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes. Stuttgart 1991. S. 147–172. Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit Magda von Hattingberg – „Benvenuta“. Hg. v. Ingeborg Schnack u. Renate Scharffenberg. Frankfurt/M., Leipzig 2000. S. 111; Hervorhebung durch J.S.
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dass er Hattingberg spontan habe antworten wollen: „[…] ich schrieb gleich, obwohl mein Briefpapier ausgegangen war, nahm dieses Arbeitsblatt und schrieb“.5 Im weiteren Verlauf wird das länglich karierte Arbeitspapier im Oktavformat dem Briefschreiber zur „Gewohnheit“,6 durch die sich diese Korrespondenz von anderen unterscheidet.7
II. „Die Glocken gehen fast sichtbar durch die empfängliche Luft“ – Der Entwurf einer utopischen Kommunikation am Beginn des Briefs Rilkes vordringliches Interesse besteht darin, diese intensive epistolare Selbsterforschung und Selbsthervorbringung möglichst lange aufrechtzuerhalten – und das heißt: eine Begegnung, wie sie Hattingberg schon früh anregt, möglichst hinauszuschieben. Rilkes Briefe folgen, was die Möglichkeit einer persönlichen Begegnung betrifft, dem Grundprinzip der bloßen Ankündigung, die stets zurückgenommen werden kann. Am extremsten wird dies in Rilkes Schreiben vom 4. und 5. Februar 1914 deutlich – an diesen beiden Tagen sendet er drei Briefe und ein Telegramm, in denen er Hattingberg zunächst ein- und dann wieder auslädt. Der hohen Frequenz entspricht die Intensität der Briefe. Dies soll im Folgenden im Hinblick auf den ersten Brief vom 4. Februar demonstriert werden, der in rhetorischer, medialer und kulturpoetischer Hinsicht analysiert wird. Bereits das exordium dieses Briefs erinnert in seiner poetischen Dichte an ein Prosagedicht: Freundin, schönes Herz, wie strömt, wie strömt Ihnen mein Herz hinüber –. Alle Briefe, die in Jahren möglich wären, möcht ich Ihnen auf einmal schreiben, wissen Sie, es giebt solche Morgen am Meer, heiter starke, alle Wellen wollen zugleich kommen, halten sich auf draußen, es glänzt, glänzt und kommt keine. Aber es ist lauter Freude zwischen uns, die ist klar, da sehen sich die entferntesten Ortschaften, und die Glocken gehen fast sichtbar durch die empfängliche Luft. (S. 231)
Dieser Briefbeginn zeichnet sich durch das genus grande, die höchste rhetorische Stilebene, aus, auf engstem Raum ist eine Fülle von Stilfiguren ver-
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Ebd., S. 24. Ebd., S. 27. Rilke benutzte sonst meist bläulich gefärbtes Briefpapier mit vorgedruckter Adresse, ebenfalls im Oktavformat. Vgl. hierzu den Kommentar ebd., S. 202, sowie Davide Giuriato: Briefpapier. In: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. Frankfurt/M., Basel 2008. S. 1–18, hier S. 7 f. und S. 13.
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sammelt. Neben dem überaus konventionellen Epitheton „schönes Herz“ finden sich Figuren wie Polyptoton („schönes Herz“, „mein Herz“), geminatio („wie strömt, wie strömt“; „es glänzt, glänzt“), Hyperbel („alle Briefe“; „alle Wellen“), Hyperbaton („solche Morgen am Meer, heiter starke“), Alliterationen („Morgen am Meer“; „Wellen wollen“), Inversion („die ist klar“), Antithese („und kommt keine“; „Aber es ist lauter Freude zwischen uns“), Anthropomorphismus („Ortschaften“ „sehen sich“) und Synästhesie („Glocken gehen fast sichtbar“). Der Stil ist dem Gegenstand angemessen, geht es hier doch um die Inszenierung höchsten Gefühlsüberschwangs: Das eigene Herz „strömt“, zwischen den Briefpartnern ist „lauter Freude“. Mit diesem emotionalen Überschwang geht jedoch sofort die mediale Problematisierung einher. Deutlich wird dies insbesondere, indem die gleiche Stilfigur innerhalb weniger Zeilen wieder aufgegriffen wird: Der Hyperbel „alle Briefe“ entspricht die Hyperbel „alle Wellen“, der geminatio „wie strömt, wie strömt“ die geminatio „es glänzt, glänzt“. Indem das ‚Strömen‘ aber durch das ‚Glänzen‘ abgelöst wird, wird das unmittelbare haptische Fühlen durch den optischen Fernsinn ersetzt, der in der Tat dem Schriftmedium ‚Brief‘ angemessener erscheint: Der Brief ‚strömt‘ nicht wie das Herz vom Verfasser zum Adressaten, vielmehr bleibt der Briefschreiber – gerade durch seine virtuose poetische Inszenierung – ‚glänzend‘ in der Ferne. Die mediale Reflexion schlägt allerdings sofort eine weitere Volte. Analog zu den ‚glänzenden Wellen‘ geht es bei den ‚sich sehenden Ortschaften‘ um die optische Form der Wahrnehmung. Wie das unmittelbare „Strömen“ durch das ferne „Glänzen“ abgelöst wurde, so wird hier der durch Schwingungen übertragene Klang der Glocken synästhetisch in den Bereich des Visuellen übersetzt. Wie um diesen Verlust an sinnlicher Unmittelbarkeit zu kompensieren, wird jedoch eine kommunikative Utopie entworfen: Indem die verlebendigten Glocken „gehen“, wird die Illusion tatsächlicher körperlicher Annäherung hergestellt. Garant dieser illusionären Form der Kommunikation ist ein ebenso illusionäres Medium: Ein ätherisches Gemisch aus „Luft“ und „Freude“, das „klar“ und „empfänglich“ ist – es handelt sich um die Illusion eines völlig transparenten Mediums, um eine Art medialer tabula rasa, die die Möglichkeit einer utopisch ‚unmittelbaren‘ Kommunikation suggeriert.8
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Es handelt sich hierbei um eine mediale Konzeption, die für die Zeit um 1900 symptomatisch ist. So geht Edmund Husserl in seinen 1900 veröffentlichten Logischen Untersuchungen von einer „Ausdrucksschicht“ sprachlicher Zeichen aus, die der Intention des vom Subjekt ‚eigentlich Gemeinten‘ nichts hinzufüge (vgl. Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Bd. 2. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. I. Teil. Tübingen 1993. S. 32–37). Vgl. zur Kritik an dieser Position Jacques Derrida: La forme et le vouloir-dire. Note sur la phénoménologie du langage. In: Ders.:
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Was den weiteren Verlauf des Briefs, insbesondere die nun folgende argumentatio, betrifft, so steht sie der Ambivalenz, durch die sich die mediale Reflexion des exordium auszeichnet, in nichts nach. Nun geht es ganz konkret um die Frage einer Begegnung zwischen den Briefpartnern. Der vorherrschende Modus ist zunächst der Konjunktiv, der bezeichnenderweise zwischen Optativ und Potentialis changiert: „Meine Freundin, kämen Sie doch –, dann wieder, wenn ich denke, wir sähen uns, ist mir, als betrög ich Sie“ (S. 231). Rilke wird daraufhin nicht müde, mögliche Hinderungsgründe für eine Begegnung zu benennen: die eigene Unmusikalität ebenso wie die Differenz zwischen dem von Hattingberg verehrten ‚frühen‘ Rilke und der aktuellen Person des Dichters. Das Anführen von Hinderungsgründen, die einer Begegnung entgegenstehen, wird dabei kompensiert durch eine asyndetische Reihung von Epitheta, eine Auflistung von Antonymien, die auf ihre Weise die Vorzüge der Briefform belegen: „Freundin, Schwester, Lieblings-Schwester in dieser lauteren Seeligkeit, Seelige, Frohe, Helle, unaufhaltsame Seele“ (S. 231). Das „Herz“ des Briefschreibers „strömt“ hier so sehr, dass es weit über die – ihm ja unbekannte – reale Person der Adressatin hinausströmt.
III. Das Innere des Bergs und die Drusen des Bergkristalls Dass Rilke demgegenüber nicht müde wird, die Brieffreundin vor dem Autor des Malte Laurids Brigge zu warnen, der nichts mehr mit dem ‚frühen‘ Rilke der von ihr verehrten Geschichten vom lieben Gott zu tun habe, belegt die nun folgende ausführliche narratio. „Mir ist“, so umreißt Rilke die eigene existentielle Situation, als wär ich einfach vor mich hin in einen Berg hineingegangen, und der Berg hätte wirklich nachgegeben, und ich hätte, durch fortwährende Wunder wider die Natur, weitergekonnt und hätte Stein eingeathmet und Stein ausgeathmet, wesend in nichts als Gestein. […] da konnt es nicht fehlen, dass ich mir manchmal monstruös vorkam in meinem Gebirg, ich ward ungeduldig, müde, erschöpft; ich hoffte auf einen, der mich mit der Hacke herausholte, der mich freimeißelte, der mich auf eine Wiese legte unter den Wind, der nichts sagte, der alles begriffe, der da wäre; ach, wahrscheinlich hab ich so geschrieen, dass wirklich ein paar Vorübergehende sich daranmachten, mich herauszuholen […]. (S. 231 f.)
Diese narratio lässt sich als eine merkwürdige, ins Autobiographische gewendete Variation des Bergwerk von Falun-Stoffs verstehen, der durch Jo-
_____________ Marges de la philosophie. Paris 1972. S. 185–207; ders.: La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl. Paris 1993.
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hann Peter Hebel (Unverhofftes Wiedersehen), Clemens Brentano, E.T.A. Hoffmann und Hugo von Hofmannsthal prominente Bearbeitungen erfuhr. Der Plot ist gegenüber dem Prätext radikalisiert, indem es sich hier um einen lebendig Begrabenen handelt, der freiwillig im Inneren des Bergs ‚versteinert‘ und sich schließlich doch wieder nach dem Leben der Außenwelt und insbesondere nach einem abermals tabula rasa-ähnlichen, ebenso schweigsamen wie verständnisvollen Idealwesen sehnt. Zur Chiffre der eigenen Existenz tritt so der Entwurf eines idealen Gegenübers hinzu, eines Menschen, „der nichts sagte, der alles begriffe, der da wäre“ (S. 232). Doch weil diese allzu ideale Kommunikation nicht zu verwirklichen ist, verschwindet das Subjekt wieder im Berg, denn draußen verlor ich mich so sinnlos in die Leute hinüber, gab mich weg und bekam, aus Ungeschicklichkeit, nichts dafür wieder, während das Gestein mich wenigstens zusammenhielt. (S. 232)
Der Antithese von ‚draußen‘ und geschütztem ‚drinnen‘ entspricht so die Gegenüberstellung von kommunikativer Verausgabung und dem Erhalt eines Ich-Konzentrats. Dass es somit nicht um Alltagskommunikation, sondern um einen Verdichtungsprozess geht, der letztlich in die konzentrierte Form der epistolar-poetischen Schrift mündet, wird am Schluss der narratio deutlich. Der zuvor präsentierte Entwurf eines idealen Adressaten wird hier nochmals überboten, indem Rilke auf das poetische Inventar der 1912 entstandenen ersten Duineser Elegien zurückgreift und wie dort die fiktive Gestalt des Engels als Adressat ins Spiel bringt: „Ich wollte“, schreibt Rilke, höchstens von einem Engel gerettet sein […]. Auch giebt es sicher einen Grad von Noth, auf den die Engel hören, äußerste Nothstrahlen, die die Menschen gar nicht wahrnehmen […] und erst drüben in eines Engels Schein ein leises leidvolles Violett anschlagen, wie der Amethyst in den Drusen des Bergkrystalls. (S. 232)
Erneut handelt es sich hier um eine Selbstreflexion des Mediums ‚Brief‘, oder genauer: um eine Spiegelung der konkreten Situation des Briefwechsels mit Hattingberg. Die Briefpartnerin fungiert nicht so sehr als realer Widerpart, sondern als Stimulanzmittel, als reine Briefkasten-Adresse für Rilkes umfangreiche Brief-Konfessionen. Obwohl es sich bei ihr um eine real existierende Person handelt, ist sie als Adressatin innerhalb des Briefwechsels auf ähnliche Weise ein Produkt der Imagination wie der ideale Adressat Engel. Auch die tatsächliche Adressatin der Briefe liefert somit lediglich eine Art Anlagerungsfläche für Kristalle, die hier in Form epistolar-poetischer Texte auftreten. Nicht zufällig wiederholt sich in der narratio des Briefs der Schutzraum des Berginneren in nuce nochmals als Innenraum der Druse. In beiden Fällen handelt es sich um Allegorien eines epistolaren Raums, der für das Subjekt eine Schutzfunktion besitzt und zugleich Anlagerungsflächen für kristalline Textkonzentrate bereitstellt.
Rainer Maria Rilke an Magda von Hattingberg, 4.2.1914
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Die auf die ausführliche narratio folgende conclusio des Briefs knüpft in ihrer Ambivalenz an dessen Beginn an: […] der Ihnen schreibt, gleicht viel mehr dem Mann aus diesem (anhaltenden, noch nicht abschließbaren) Märchen, als jenem einstigen jungen Menschen, dessen einzelne Bücher Sie, gerne und bewegt, gelesen haben. (S. 232)
Rilkes Beziehung zu Hattingberg changiert in dieser Darstellung auf komplexe Weise zwischen Literatur und Leben. Zum einen ist er nicht mehr der Dichter der von ihr geliebten frühen Werke, sondern entwirft sich als problembeladenen realen Menschen; zum anderen stilisiert er sich zur im Bergesinneren unerreichbaren Märchenfigur. Umso erstaunlicher ist die Volte, die Rilke, den zentralen Begriff der „Freude“ wieder aufgreifend, im letzten Satz seines Briefs abermals vollzieht: Dieser Mann, (bei dem hier niemand Zulass hat) würde jedem schreiben, nicht zu kommen. Ihnen schreibt er, (seiner unvermutheten Freundin, zu der er das tiefste Vertrauen fasst): handeln Sie, Freundin, nach Ihrer Freude: die kann nicht anders als Recht thun, die hat Macht und Herrlichkeit auf ihrer Seite. (S. 232)
Die Frage ist nur, ob dieser Appell, nach all den Einschränkungen, Zurücknahmen und konstruierten Hindernissen, durch die sich der bisherige Briefwechsel und insbesondere dieser Brief auszeichnen, ernst genommen werden kann.
IV. Leben unter Vitrinenglas Die Antwort auf diese Frage gibt der Brief, den Rilke, wie er selbst in der Datumszeile vermerkt, „noch am selben 4. [Februar]“ schreibt:9 Der im ersten Brief ausgesprochenen Einladung folgt hier unverzüglich die Ausladung, die er am nächsten Morgen noch durch ein Telegramm untermauert. Erst drei Wochen und mehr als 30 Briefe später kommt es zur Begegnung zwischen Magda von Hattingberg und Rainer Maria Rilke und damit zum Absturz in die Realität. Wie Rilke an seine andere, lebenslängliche Beicht-Mutter Lou Andreas-Salomé schreibt, ist für ihn mit dem bald darauf folgenden Scheitern der Beziehung „nach einer langen, breiten und schweren Zeit, […] wieder eine Art Zukunft vorüber“.10 Bedauert wird nicht, dass ‚die Gegenwart‘,
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Am Briefende folgt zusätzlich, einem vom Autor selbst erstellten editorischen Kommentar gleich, der Hinweis: „(Schnell, als Nachschrift). Gegen Abend.“ Rilke: Briefwechsel Hattingberg (Anm. 4), S. 37. Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé, 8./9.6.1914. In: Ders., Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Hg. v. Ernst Pfeifer. Frankfurt/M. 1979. S. 321.
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Jörg Schuster
sondern dass die Zukunft vorüber ist – also jenes „Künftige“, das stets aufgeschoben werden, nicht „ins Gegenwärtige gemischt“11 werden sollte. Beinahe wie Kafka, der das gesamte Unglück seiner Existenz auf Briefe zurückführt,12 resümiert Rilke: „Was schließlich so völlig zu meinem Elend ausfiel, fing mit vielen vielen Briefen an, […] die mir stürzend von Herzen gingen.“13 Und weiter: „[…] wenn je ein innig getrübter Mensch rein werden kann, so wurde ichs in jenen Briefen […], so daß ich zum ersten Mal Eigenthümer meines Lebens zu werden schien.“14 Während er ‚in Briefen‘ erst zum „Eigenthümer seines Lebens“ wird, ‚zu sich‘ kommt, beginnt mit der realen Begegnung die Ent-Äußerung: […] drei (nichtgekonnte) Monate Wirklichkeit haben etwas wie ein starkes kaltes Glas darüber gelegt, unter dem es unbesitzbar wird, wie in einer Museumsvitrine. Das Glas spiegelt, und ich sehe darin nichts, als mein Gesicht, das alte, frühere, vorvorige.15
Durch die reale Begegnung wird Rilke seines gerade erst in den eigenen Briefen gewonnen „Lebens“ wieder enteignet, es ist zum entfremdet-antiquarischen Museumsstück geworden. Sein altes Ich starrt ihm gleich doppelt entgegen: als Inhalt der Vitrine und als Reflex des Vitrinenglases. Die Vermutung liegt nahe, dieses doppelte Sich-Bespiegeln habe damit zu tun, dass auch die in den Briefen erreichte Klarheit bereits das Resultat einer reinen Selbst-Bespiegelung war.
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Rilke: Briefwechsel Hattingberg (Anm. 4), S. 37. Im März 1922 schreibt Kafka an Milena Jesenská: „Alles Unglück meines Lebens […] kommt, wenn man will, von Briefen oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her. Menschen haben mich kaum jemals betrogen, aber Briefe immer undzwar auch hier nicht fremde, sondern meine eigenen. […] Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern undzwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt“ (Franz Kafka: Briefe an Milena. Hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller. Frankfurt/M. 1986. S. 301 f.). – Vgl. hierzu den Beitrag von Philipp Theisohn im vorliegenden Band. Rilke, Andreas-Salomé: Briefwechsel (Anm. 10), S. 322. Ebd., S. 323. Ebd., S. 324.
Rainer Maria Rilke an Magda von Hattingberg, 4.2.1914
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V. Moderne-Schutzhüllen: Brief und Intérieur um 1900 Beim Inneren des Berges, das Schutz vor der Außenwelt gewährt, und bei der Vitrine als Symbol völliger Absonderung vom Leben handelt es sich um Zerrformen eines Phänomens, das für Rilkes umfangreiches Briefwerk wie generell für die Kulturgeschichte der Zeit um 1900 von zentraler Bedeutung ist: um Zerrformen des geschützten Innenraums, des Intérieurs, in dem der Mensch beschützt und gefangen [sitzt] wie in einem Kokon, so daß kaum auszumachen ist, ob diese Hülle Teil eines individuellen Selbstentwurfes oder umgekehrt das Menschsein Effekt dieser kunstvoll/nützlichen Hüllenkonstruktion ist.16
Bei Rilke besteht ein enger struktureller Zusammenhang zwischen Briefschreiben und Intérieur:17 Wie der Brief die Distanz zum Gegenüber wahrt, so garantiert das Intérieur den Schutz vor der Umwelt. Es ist alles andere als ein Zufall, dass sich spätestens die Briefe, die Rilke nach dem Ersten Weltkrieg an Schweizer Freunde wie Werner Reinhart oder Nanny Wunderly-Volkhart schreibt, sich unaufhörlich um das Finden und Ausgestalten idealer Innenräume und Inneneinrichtungen drehen. Rilke betont diesen Zusammenhang selbst, wenn er bereits in einem Brief an Sidonie Nádherný von Borutin vom 24. November 1907 den Briefwechsel als eine ‚Korrespondenz‘ zwischen Zimmern beschreibt: Ihres Zimmers Stille am Abend müßte gedeutet werden können als diese Stille, in der ich Ihnen schreibe: denn ich glaube sie sind beide gleich groß, und wir hören mit derselben Aufmerksamkeit und Hingabe jeder die seine.18
Explizit reflektiert Rilke den Zusammenhang zwischen geschütztem Innenraum und Briefkommunikation am Beispiel von Marcel Proust. Fasziniert schildert er „Proust’s Intérieur“,19 in dem der Schriftsteller gegen den Pariser Großstadtlärm, „gegen solche Aufdringlichkeit der Außenwelt sich dadurch geschützt halte, daß seine Zimmer mit, übrigens durchaus sicht-
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Cornelia Blasberg: Jugendstil-Literatur. Schwierigkeiten mit einem Bindestrich. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), H. 4. S. 682–711, hier S. 685 f. Vgl. Jörg Schuster: „Als ob Du bei mir eintreten könntest“. Rainer Maria Rilkes epistolare Intérieurs. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. XIX (2009), H. 3. S. 574–589. Rainer Maria Rilke, Sidonie Nádherný von Borutin: Briefwechsel 1906–1926. Hg. v. Joachim W. Storck. Göttingen 2007. S. 30. Rainer Maria Rilke, Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel. Bd. 1. Hg. v. Ernst Zinn. Zürich, Frankfurt/M. 1951. S. 354.
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Jörg Schuster
baren, Korkplatten verkleidet erscheinen“.20 Dieser völligen Abschottung entspricht der Distanz-Mechanismus von Prousts Briefen: Schreibt man Proust […] einen Brief, so kann es geschehen, daß er sorgsam, gerührt und überaus ausführlich antwortet, es sind richtige Correspondenzen so entstanden, wenn aber am Ende der, der den Anfang gemacht hat, sich, angeregt von dem wirklichen Schreibverkehr, hinreißen ließ, anzufragen, ob man, bei soviel gegenseitigem Bedürfnis zur Mittheilung, nicht am Besten thäte, sich einmal (bei ihm, Proust,) zu sehen –: so wird dem Frager mit unbeschreiblicher Milde, wieder in einem langen Brief, angedeutet, daß solches völlig unmöglich sei.21
Dass Rilkes Briefe über den gleichen Distanzmechanismus, über die gleiche Affinität zum geschützten Innenraum verfügen, belegt exemplarisch die Beziehung zu Magda von Hattingberg, die im Bild des im Bergesinneren ‚versteinernden‘ Dichters ihr zentrales Symbol findet. Doch wie die – in ihrem Distanzcharakter wie in ihrem Hang zur Selbstbespiegelung extreme – Briefbeziehung zu Magda von Hattingberg demonstriert, kann das Intérieur dabei leicht zur geradezu parodistischen Schwundstufe eines Innenraums verkommen: zur leblosen „Museumsvitrine“.
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Ebd., S. 355. Ebd., S. 354.
Else Lasker-Schüler an Franz Marc, 9. (?) Januar 1916
Mein lieber, lieber blauer Reiter. Mein Weihnachtsbäumchen [im W ein Stern] wirst Du doch bekommen haben, nun send ich Dir einen blauen Teckel, einen blauen Teckel denk mal. Der soll Dich immer begleiten und er wird zu Deinen blauen Pferden passen. Ich habe auch denselben blauen Hund, es gab nur zwei blaue Hunde, für uns sicher, da wir Brüder sind, schon in der Bibel Brüder waren zu Cana. Ich schreibe Dir diesen Brief im Café d. W. Die Menschen verschwinden, ihr Reden und ihre Gebärden gehen ein, ich bin allein wie überfüllt auch alles hier ist und alles Leben wird Tapete. Ich bin allein, als ob ich in der Wüste wandele oder mich in den Sand gelegt habe, Dir zu schreiben. Meine Einsamkeit heute Abend ist wohl die schwerste, die ich je erlebte, ich bin von ihr erlegen. Ich kann die ganze Welt gar nicht mehr fassen; am Wertvollsten ist doch nur das Gespräch, das Musik wird, ein Concert worauf sich Gott herabläßt. Darum ist wohl der Schmerz der Einsamkeit so tief und tötlich und so schwer zu ertragen, ich meine, die Einsamkeit kommt nur durch ein Gespräch mit sich selbst zu Stande und wer kann Gott allein tragen? Du, blauer Reiter oder St. Peter Hille. Und meine Mutter konnte das, mein Bruder, der ins Kloster gehen wollte. Das Meer kann das und der Fels, oder das Meer und der Fels gerade nicht, beide sind unbeherrscht, sie tun was der Mond will wie ich und sind die Golem des Sterns. Ihr aber seid selbst Mond und Sterne und Himmel, Ihr seid unsterblich, ich aber sterbe fortwährend und lebe wieder auf und bin müde vom Wechselspiel. Daher kommt meine Angst. War nicht immer Krieg, Totschlag. Heute werden die Körper zerstückelt, vorgestern wurden die Seelen erstochen. Wann wirst Du aus dem Krieg kommen? In München denkt man an Dich nur. Ich habe so viele Bilder gezeichnet, ich schenke sie Dir alle so wie Du hier bist und raube die verkauften wieder. Ich mußte sie verkaufen – sieben bis jetzt. Der strickende Hirte, König Jussuf, der Dir ein Tuch strickt hinter seiner Stadt, die auch ihm nur noch wie ein Gewebe vorkommt, hat Haas-Heye gekauft, aber ich raube es s icher wieder. Die Hauptsache, das ist mir klar, ist nur die blaue Blüte des Herzens zu pflegen, den Himmel, der ist die Seele, die hat nichts mit den Thaten zu tun, die man ausführt; die Seele hat keine Gesetze nur Wirkung und Atem. So muß ich oft säumen und Jeder, der mich kennt, traut mir Unberechnetes zu, Raub, Brand, Totschlag. – Allen sind die ersten Sterne verloschen unter denen die Seele aufging in der Nacht. Ich bin ganz alleine und bin aus natürlicher Abwehr hochmütig, und allein hier, denke an manche Sol-
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Else Lasker-Schüler an Franz Marc, 9.(?)1.1916
daten, an die Jesusse im Krieg an Dich besonders, lieber, lieber blauer Reiter. Dein Jussuf für immer. [dreizehn Sterne] Else Lasker Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Norbert Oellers u.a. Bd. 7. Briefe 1914–1924. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt/M. 2004. S. 106 f. © Text: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Literaturarchivs Marbach.
Else Lasker-Schüler an Franz Marc, 9. (?) Januar 1916
Rückseite des Briefs
Claudia Natterer
„Alles Leben wird Tapete“ – Else Lasker-Schülers letzter Brief an Franz Marc I. „Spielen ist alles“1 „Ich bin aus Galiläa, ging dann nach Bagdad, kam dann nach Theben. So erklärt sich alles.“2 Mit dieser Fiktionalisierung ihrer eigenen Identität konfrontiert Else Lasker-Schüler Franz Marc am 28. November 1912 in ihrem dritten an ihn gerichteten Brief. Anlass für die Bekanntschaft zwischen dem expressionistischen Maler und der egozentrischen Schriftstellerin war deren Gedicht Versöhnung, da Herwarth Walden, Lasker-Schülers zweiter Ehemann und Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift Sturm, Marc gebeten hatte, das Gedicht für den Sturm mit einem Holzschnitt zu illustrieren.3 Dieser Holzschnitt erschien im September 1912 auf der Titelseite des Sturm. Lasker-Schülers Brief vom 9. November eröffnet eine bis zum Tod des Malers im Jahr 1916 dauernde Korrespondenz, die seit Weihnachten 1912 durch persönliche Begegnungen ergänzt wird. Franz Marc ist in vielerlei Hinsicht ein idealer Briefpartner: Er sieht die Berliner Verhältnisse, an denen Lasker-Schüler ihn teilhaben lässt, aus einer gewissen Distanz, er trifft stets den angemessenen Ton, indem er – durch zahlreiche andere Korrespondenzen geübt – einfühlsam reagiert, und er schafft eine „kongeniale Bildwelt“4 zu den oft überspannten Briefen Lasker-Schülers. Darüber hinaus verbindet Lasker-Schüler mit Marc ______________ 1 2 3
4
Else Lasker-Schüler an Karl Kraus, 8.11.1911. In: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Norbert Oellers u. a. Bd. 6. Briefe 1893–1913. Frankfurt/M. 2003. S. 209. Ebd., Bd. 7. Briefe 1914–1924. Frankfurt/M. 2004. S. 277. Allerdings hatte Else Lasker-Schüler es abgelehnt, im Sturm zu veröffentlichen, da sie zu diesem Zeitpunkt bereits von Herwarth Walden, der ihr im Übrigen auch dieses Pseudonym verdankt und eigentlich Georg Lewin hieß, geschieden war. Auch ihre erste persönliche Begegnung mit Franz Marc und dessen Frau Maria litt unter der Anwesenheit von Walden und dessen neuer Frau Nell Roslund. Anne Overlack: Was geschieht im Brief? Strukturen der Briefkommunikation bei Else Lasker-Schüler und Hugo von Hofmannsthal. Tübingen 1993. S. 123. Ähnlich auch Claus Pese: „Ich möchte eine Brücke finden, darüber eine Seele zu meiner käme, so ganz unverhofft“. Else Lasker-Schüler und Franz Marc. In: Evangelische Akademie Iserlohn (Hg.): Prinz Jussuf ist eine Frau. Else Lasker-Schüler als Künstlerin, Dichterin und Schlüsselfigur des 20. Jahrhunderts. Iserlohn 1995. S. 18–34, hier S. 25.
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Claudia Natterer
keine erotische Liebe, wie dies mit zahlreichen anderen Briefpartnern der Fall war. So schreibt sie häufig an beide Ehepartner und bezieht Marcs Frau Maria, zumindest formal, in ihre Kommunikation mit ein, indem sie sie etwa mit „Lieber Reiter und Reiterin“5, „Liebe Brüder und Kameraden!“6 oder ähnlich anspricht. Vor allem aber lässt sich Marc bereitwillig auf Lasker-Schülers Rollenspiel ein, dem sich so viele ihrer anderen Briefpartner verweigern.7 So akzeptiert er etwa von Anfang an den ihm zugewiesenen Namen „Blauer Reiter“ und verwendet ihn bereits in seinem ersten Brief vom 7. oder 8. Dezember 1912 selbst: „Der blaue Reiter präsentirt Eurer Hoheit sein blaues Pferd.“8 Marc verliert aber im Gegensatz zu vielen anderen Adressaten Else Lasker-Schülers nie seine Eigenständigkeit, was Anne Overlack damit begründet, daß er die Bildwelt der Dichterin in seinem eigenen Medium aufgreifen und weitertragen kann, nicht aber – wie andere Briefpartner – ihr im Wort begegnen muß, was angesichts der Eigenmächtigkeit ihrer Phantasien und der Durchgeformtheit ihrer imaginären Welten fast zwangsläufig als ein letztlich hoffnungsloses Unterfangen in Enttäuschung und Entzweiung enden muß.9
In den Jahren 1912 bis 1916 entstand so ein Briefwechsel, der 48 Briefe, 21 Karten sowie 2 Telegramme von Else Lasker-Schüler10 und 28 Karten von Franz Marc, die aus Bildskizzen mit schriftlicher Kommentierung auf der Rückseite bestehen, umfasst11 – ein Briefwechsel, der laut Haslinger „in dieser Form einzigartig“12 ist. Parallel zu der privaten Korrespondenz entstand der Briefroman Malik, in dem Else Lasker-Schüler ihr Königreich Theben erdichtet, über das sie als Prinz Jussuf herrscht und in dem ihr Franz Marc als Bruder Ruben ______________ 5
6 7 8 9 10 11 12
Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 6 (Anm. 1), S. 283. Maria Marc allerdings deutet die Briefe an ihren Mann als „Liebesbriefe“ und empfindet daher eine gewisse Unaufrichtigkeit Else Lasker-Schülers ihr gegenüber. Vgl. Ulrike Marquardt und Heinz Rölleke: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Mein lieber, wundervoller blauer Reiter. Privater Briefwechsel Else LaskerSchüler / Franz Marc. Düsseldorf 1998. S 7–24, hier S. 17. Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 6 (Anm. 1), S. 319. „Wo ihr Gegenüber aus der Rolle fällt oder den ihm zugebilligten Raum verläßt, reagiert sie nicht selten heftig. Der Briefwechsel wird abgebrochen, die eigenen Briefe werden zurückgefordert.“ Overlack: Was geschieht (Anm. 4), S. 122. Franz Marc an Else Lasker-Schüler, 7. oder 8. Dezember 1912. Marquardt/Rölleke: Mein lieber, wundervoller blauer Reiter (Anm. 5), S. 31. Overlack: Was geschieht (Anm. 4), S. 124 f. Nach Marcs Tod schreibt Else Lasker-Schüler noch weitere acht Briefe allein an Maria Marc. Die sich ewig in Geldnot befindende Else Lasker-Schüler sah sich 1919 genötigt, alle 28 Karten an die Berliner Nationalgalerie zu verkaufen. Ihre späteren Bemühungen, die Karten zurückzuerhalten, scheiterten. Karin Haslinger: Der Briefwechsel von Else Lasker-Schüler und Franz Marc, ein poetischer Dialog. Würzburg 2009. S. 14.
Else Lasker-Schüler an Franz Marc, 9.(?)1.1916
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ein besonders geliebter Untertan ist. Darüber hinaus schrieb sie die an Marc gerichteten offenen Briefe und Bilder, die zwischen 1913 und 1915 in den Zeitschriften Die Aktion und Der Brenner gedruckt wurden. Von deren Erscheinen wusste der Adressat zwar, eine Reaktion ist jedoch nicht überliefert. Ab 1914 tritt der private Briefwechsel deutlich zurück, den 21 Briefen Else Lasker-Schülers stehen zwei Karten Franz Marcs gegenüber: Die Grenzerfahrung des Kriegs zwang Franz Marc dazu, alle seine […] bisherigen Beziehungen gründlich […] zu überprüfen. […] Daß auch Marcs Ansichten über Else Lasker-Schüler während des Krieges einer nachhaltigen Veränderung unterworfen waren […], ist […] bekannt.13
Else Lasker-Schülers mühsames Aufrechterhalten ihrer Phantasiewelten wirkt vor diesem Hintergrund eher kindisch. Dennoch geschieht ihr spielerischer Umgang mit der Wirklichkeit nicht nur als Spiel um des Spielens willen, vielmehr dient er ihr als Überlebensstrategie. Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits zwei gescheiterte Ehen und zahlreiche unglückliche Liebesbeziehungen hinter sich sowie den Tod der geliebten Mutter und des Vaters, ihres Lieblingsbruders Paul, der Schwester Anna, die ihr sehr nahe stand, und des Freundes Senna Hoy.14 Nimmt es da Wunder, dass sie in ein buntes Phantasiereich, in dem sie allein herrscht, flieht und sich die Realität so künstlerisch anverwandelt? Die Funktion ihres Spiels als Schutz vor der Realität zeigt sich auch in ihrem Brief an Franz Marc vom 9. (?) Januar 1916,15 der insofern eine Sonderstellung einnimmt, als es sich, ohne dass sie dies wissen konnte, um ihren letzten Brief an den Maler handelt – bereits am 4. März desselben Jahres fällt Franz Marc bei Verdun.
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15
Marquardt/Rölleke: Mein lieber, wundervoller blauer Reiter (Anm. 5), S. 14 f. Senna Hoy, eigentlich Johannes (rückwärts gelesen ergibt dies Else Lasker Schülers Bezeichnung) Holzmann, war der Begründer der anarchistischen Zeitschrift Kampf. Er wurde 1907 in Russland wegen der Beteiligung an revolutionären Unruhen zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Else Lasker-Schüler hat sich 1913 intensiv, aber vergeblich um seine Freilassung bemüht. Er stirbt 1914. Else Lasker-Schüler widmet ihm 1920 den Gedichtzyklus Meinem so geliebten Spielgefährten Senna Hoy. Der Brief kann frühestens am 9. Januar 1916 entstanden sein, da er auf der Rückseite eines Exemplars des Berliner Lokal-Anzeigers mit diesem Datum geschrieben wurde.
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Claudia Natterer
II. „Ich bin Künstlerin durch und durch“:16 Rollenidentitäten und fiktive Welten Die reale Situation, in der sich die Briefschreiberin Else Lasker-Schüler gerade befindet – „Ich schreibe Dir diesen Brief im Café d. W.“ (S. 243)17 –, wird auch im vorliegenden Brief lediglich zum Anlass, über sich selbst und ihre Stellung in der Welt nachzudenken. Zwar werden auch konkrete Vorkommnisse angesprochen, so etwa ein Geschenk Else Lasker-Schülers an Franz Marc (ein blauer Glashund, der „Teckel“; S. 243) oder die Tatsache, dass sie aus Geldnot ihre Bilder verkaufen musste; der Hauptteil des Briefes besteht aber in einer Selbstreflexion, einem nahezu autistischen Umsichselbstkreisen der Künstlerin (so taucht das Personalpronomen ‚ich‘ in seiner unflektierten Form 18 Mal in dem Brief auf), das zur Schaffung ihrer Phantasiewelten führt. Hier wird zwischen Realität und Fiktion nicht unterschieden, beides geht ständig fließend ineinander über. Auch Kommasetzung, Syntax und Orthographie weisen auf einen eigenwilligen Umgang mit Regeln hin, da sie, wie so oft bei Lasker-Schüler, nach Gutdünken eingesetzt und abgewandelt werden. Else Lasker-Schüler bedient sich hier einer raffinierten ästhetischen Strategie: Der Brief verliert weitgehend seinen funktional-kommunikativen Charakter und dient einer Fiktionalisierung ihrer gesamten Lebenswelt. Die Poetisierung der Wirklichkeit beginnt bereits mit der für Marc gewählten Anrede „lieber, lieber blauer Reiter“ (S. 243), die durch das wörtliche Aufgreifen am Ende des Briefes eine Klammer bildet, die ihre fiktive Welt umrahmt und zusammenhält. Mit „blauer Reiter“ wird nämlich keineswegs nur auf den von Wassily Kandinsky und Franz Marc erstmals im Mai 1912 herausgegebenen gleichnamigen Almanach angespielt, vielmehr wird Franz Marc hier eine Rolle innerhalb der inszenierten Welt zugewiesen. Dabei wird zum einen auf die tradierte Symbolik der Farbe Blau rekurriert, die zum anderen individuell mit derjenigen des Pferdes bzw. Reiters verknüpft wird. Symbolisiert Blau das geistige, ja spirituelle Prinzip, die Wahrheit und Treue sowie Unendlichkeit und Sehnsucht,18 so gilt das Pferd neben seiner Funktion als Bote zwischen Gott und den ______________ 16 17 18
Else Lasker-Schüler im Streitgespräch mit Gabriele Münter, der Lebensgefährtin Kandinskys, am 19. Januar 1913, wie es Maria Marc wiedergibt. Vgl. August Macke – Franz Marc: Briefwechsel. Hg. v. Wolfgang Macke. Köln 1964. S. 147 f. Das Café des Westens in Berlin ist Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen und wird in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Mittelpunkt des literarischen Expressionismus. Vgl. Günter Butzer und Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart 2008. S. 47 f.
Else Lasker-Schüler an Franz Marc, 9.(?)1.1916
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Menschen auch als christliches Auferstehungssymbol. Else Lasker-Schüler benutzt die Farbe Blau tatsächlich nur für „erwählte Figuren“,19 hält sie Blau doch für die „Lieblingsfarbe Gottes“; sie verwendet sie so auch häufig zur Kennzeichnung der dichterischen oder prophetischen Gabe.20 Mit der Anrede, dem Namen „blauer Reiter“, den Lasker-Schüler Marc in ihren Briefen zuweist, erhält dieser somit einen besonderen Stellenwert. Dieses Privileg wird noch intensiviert, wenn sie im Brief vom 9. (?) Januar 1916 schreibt: „[…] da wir Brüder sind, schon in der Bibel Brüder waren zu Cana.“ (S. 243) Hier spielt Else Lasker-Schüler auf die Josephs-Geschichte an. Franz Marc wird dabei die Rolle von Josephs Halbbruder Ruben zugewiesen, der sich als einziger gegen den Plan seiner Brüder stellt, den beneideten Joseph zu töten und stattdessen anregt, ihn in eine Grube zu werfen, aus der er ihn später heimlich befreien möchte. Bevor er diesen Plan verwirklichen konnte, verkauften die Brüder Joseph jedoch an eine nach Ägypten ziehende Händlerkarawane. Lasker-Schüler geht in ihrer Fiktionalisierung aber noch einen Schritt weiter, indem sie die biblische Geschichte in Frage stellt: Die Bibel ist falsch übersetzt – es heißt so: […] als Ruben sah, daß seine Brüder […] ihren Halbbruder in die Grube werfen wollten, erschrack er sehr, aber ließ so geschehen. Am Abend jedoch, als die Brüder schliefen, ging er heimlich an den Ort, […] holte ihn aus dem Graben, tauchte seinen Rock in Lammblut, daß seine Brüder Glaubens waren, eine wildes Tier habe Jussuf zerrissen.21
Mit dieser Rollen-Zuweisung wird Marc für Else Lasker-Schüler zu einem ihrer engsten Vertrauten: „Für keinen ihrer Künstlerfreunde hat sie ein engeres Verwandtschaftsverhältnis erdichtet als für diesen Halbbruder aus dem Nachbarland.“22 Ihr selbst kommt in dieser fiktiven Welt die Rolle Josephs zu, des Lieblingssohnes Jakobs. Konsequenterweise unterschreibt sie dann auch mit „Dein Jussuf für immer.“ (S. 244) Allerdings handelt es sich bei dieser Unterschrift nicht um ein singuläres Phänomen. Vielmehr identifiziert sich Else Lasker-Schüler bereits seit ihrer frühen Kindheit mit Joseph: „Sie ist Joseph, geliebtestes und begabtestes Kind“.23 Ihr Lieblingsbruder Paul musste ihr die Josephsgeschichte allabendlich erzählen, Mutter und Vater fanden und erfanden immer neue Ähnlichkeiten zwischen ihr und Jakobs schönem und begabtem Lieblingskind. An Karneval verkleidete sie sich ______________ 19 20 21 22 23
Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit. Heidelberg 1989. S. 213. Vgl. Marquardt/Rölleke: Mein lieber, wundervoller blauer Reiter (Anm. 5), S. 131. Brief an Franz und Maria Marc, 21.9.1913. In: Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 6 (Anm. 1), S. 365. Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie. Göttingen 2004. S. 196. Helma Sanders-Brahms: Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler. Giselheer und Prinz Jussuf. Berlin 1997. S. 15.
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Claudia Natterer
als Joseph.24 Mit der arabischen Form Jussuf verbindet Else Lasker-Schüler zudem die für sie zentralen zwei Welten – die des islamisch geprägten Orients und die hebräisch-biblische.25 Gleichzeitig fiktionalisiert die Dichterin hier ihre eigene Identität und wird damit selbst zum Gegenstand ihrer Dichtung. Mit dieser bewussten, künstlich-künstlerisch intensivierten Rolle geht gleichzeitig auch ein Gefühl der Auserwähltheit, der Sonderstellung einher – eine weitere Gemeinsamkeit mit Jakobs Lieblingskind Joseph. Dieses Bewusstsein von Auserwähltheit wird von Else Lasker-Schüler mit ihrem Künstlertum enggeführt als ein Zeichen höchster göttlicher Gunst.26 Sie definiert Schreiben als eine Art Naturvorgang,27 der einem höheren Gesetz folgt, so dass Dichten zu einer Gabe wird, die dem Auserwählten widerfährt. Kunst und Religion erscheinen damit aufs engste verflochten, wodurch der Künstler geradezu in eine sakrale Sphäre gerückt wird. So bringt Lasker-Schüler auch im Malik die dichterische Begabung mit der Bibel in Verbindung, indem Pharaos prophetischer Traumdeuter Jussuf hier als Künstler erscheint. Mit dieser Sonderstellung des Künstlers geht aber gleichzeitig eine Verantwortung, ein Auftrag an den Künstler einher: „Kunst wird nun zum Erlösungsmodell“.28 Die Identifikation mit der Kunstfigur Jussuf ist allerdings mehr als ein bloßes Verkleidungsspiel. Wie Jussuf, so ist auch Lasker-Schüler selbst eine Außenseiterfigur, die sich im Konflikt mit der Welt befindet, ihre Fremdheit wird damit ästhetisch inszeniert: Die Menschen verschwinden, ihr Reden und ihre Gebärden gehen ein, ich bin allein wie überfüllt auch alles hier ist und alles Leben wird Tapete. […] Meine Einsamkeit heute Abend ist wohl die schwerste, die ich je erlebte, ich bin von ihr erlegen. (S. 243)
Diese Briefpassage verdeutlicht die Einsamkeit und Fremdheit, die die Autorin angesichts der sie umgebenden Menschen empfindet, ja sie er______________ 24 25 26
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Vgl. ebd., S. 16 f. und S. 17. Vgl. Haslinger: Poetischer Dialog (Anm. 12), S. 78. Im Malik stellt Else Lasker-Schüler eine zusätzliche Verbindung des Künstlers zu weltlicher Macht her: „Um die außerordentliche Bedeutung des Künstlers zu verdeutlichen, wählte Else Lasker-Schüler für ihren Protagonisten Jussuf, und damit für sich selbst, die Figur eines Prinzen“. Ebd., S. 124. So schreibt Else Lasker-Schüler etwa nach der Absetzung ihres Stückes Arthur Aronymus und seine Väter vom Spielplan des Züricher Schauspielhauses in einem Brief vom Januar 1937 an die Feuilleton-Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung: „Der Dichter beabsichtigt beim Dichten seiner Dichtungen überhaupt nie etwas. Es wird in ihm gedichtet! Er muß eben dichten. [...] Der Dichter ist eben etwas Pflanzliches. Er gleicht dem Baum, der Früchte trägt, an dem es blüht im Lenz.“ Lasker-Schüler: Werke und Briefe (Anm. 1), Bd. 4.1. Prosa. 1921-1945. Nachgelassene Schriften. Frankfurt/M. 2001. S. 369. Haslinger: Poetischer Dialog (Anm. 12), S. 133.
Else Lasker-Schüler an Franz Marc, 9.(?)1.1916
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scheint im Superlativ als „die schwerste, die ich je erlebte“ (S. 243). Die Distanz der Dichterin zu den Menschen wird hier deutlich und verbindet sie wiederum mit Jussuf/Joseph. Der Schmerz der Einsamkeit ist „tief und tötlich und so schwer zu ertragen“ (S. 243), dass Else Lasker-Schüler am Ende ihres Briefes schreibt: „Ich bin ganz alleine und bin aus natürlicher Abwehr hochmütig“ (S. 243 f.).
III. Kunstwelt und Außenwelt Ihrer Fremdheit gegenüber der realen Umwelt verleiht die Briefschreiberin also bildlich Ausdruck, indem sie das sie umgebende Leben als „Tapete“ (S. 243) bezeichnet. Damit stehen bei näherem Hinsehen aber zwei Artefakte einander gegenüber: Der eigenen, im Brief erschaffenen Kunstwelt wird das pejorativ angeführte kunstgewerbliche Produkt ‚Tapete‘ entgegengestellt. Es handelt sich in beiden Fällen um die Wahrnehmung des Lebens als Kunstwelt, nur dass diese Deutung im Fall der Außenwelt gewissermaßen mit umgekehrtem Vorzeichen erfolgt – sie ist ‚nur‘ „Tapete“. Diese Problematik wird im weiteren Verlauf des Briefs nochmals auf andere Weise reflektiert. Eines der von ihr verkauften eigenen Bilder, das sie wieder zurückrauben möchte, zeigt ihrer Beschreibung zufolge Jussuf, der in einer Art mise en abyme als Hirte dargestellt wird, der für Franz Marc ein Tuch strickt. Dieser Hirte strickt aber nicht nur selbst, auch die Stadt im Hintergrund kommt ihm „nur noch wie ein Gewebe vor“ (S. 243). Wie im Fall der eigenen Kunstwelt der Dichterin und der als „Tapete“ empfundenen Außenwelt ist also auch hier beides, das eigene Kunstprodukt und die Umgebung, aus dem gleichen Stoff, dem gleichen artifiziellen Gewebe. Beides ähnelt sich zum Verwechseln; der Hirte scheint nicht nur sein Tuch zu stricken, sondern sich selbst in eine künstliche Textur zu verweben. Eine weitere, andersartige Konstellation zwischen ‚Kunstwelt‘ und Realität ist schließlich auf der Ebene der Materialität des Briefs zu beobachten. Er ist auf der Rückseite des Titelblatts des Berliner Lokal-Anzeigers vom 9. Januar 1916 verfasst, das den „Deutsche[n] Erfolg am Hirzstein“ vermeldet und diese Meldung aus dem „Großen Hauptquartier“ mit militärischen Fakten belegt: Es sei gelungen, „zwanzig Offiziere [und] 1083 Jäger gefangen zu nehmen und fünfzehn Maschinengewehre zu erbeuten“ (vgl. Abb.). Die Realität des Kriegs, die aus dem Brief – von einigen allgemeinen Reflexionen sowie der Frage, wann Marc aus dem Krieg zurückkomme, abgesehen – weitgehend zugunsten der Konstruktion einer
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Phantasiewelt ausgeklammert wird, ist auf der Rückseite des Schriftträgers somit doch präsent. Auf der Vorder- und Rückseite sind somit unterschiedliche Textsorten, ein privater Brief und eine Zeitungsmeldung, und sind zugleich Phantasie und Realität, Kunst- und Außenwelt untrennbar miteinander verbunden. In materialer Hinsicht wie auch im übertragenen Sinn erscheint das eine als die Kehrseite des anderen. Aber wenn in diesem Fall Kunstwelt und Außenwelt als Antithesen erscheinen, sind sie doch auch hier gewissermaßen aus dem ‚gleichen Stoff‘, indem es sich jeweils um Schrift auf der Vorder- und Rückseite des gleichen Stücks Papier handelt. Während – im Bild der Tapete und des Gewebes der Stadt – die Umwelt und die selbst erschaffene Welt Lasker-Schülers einander ähnlich werden, sind Zeitungsmeldung und Brief als Vorder- und Rückseite von vornherein aufeinander bezogen. Lasker-Schülers selbst konstruierte Welt und die Realität der Außenwelt stehen also – im Zeichen der Ästhetisierung und Fiktionalisierung einerseits sowie der Schrift (des Briefs/der Zeitung) andererseits – in einem komplexen Wechselspiel miteinander.
IV. „Ich aber sterbe fortwährend und lebe wieder auf und bin müde vom Wechselspiel“29 Trotz aller problematischer Aspekte, die das sich Einweben in eine künstliche Welt mit sich bringt, erscheint in diesem Brief das Schreiben jedoch in gewisser Weise als Weg aus der Einsamkeit: „Ich bin allein, als ob ich in der Wüste wandele oder mich in den Sand gelegt habe, Dir zu schreiben.“30 Das Schreiben ersetzt das ihr versagte Zwiegespräch mit den Menschen, dem doch ein so hoher Stellenwert zugeschrieben wird: „[…] am Wertvollsten ist doch nur das Gespräch, das Musik wird, ein Concert worauf sich Gott herabläßt.“ (S. 243.) Das Schreiben besitzt aber noch eine tiefergehende Funktion, es kann, wie bereits ausgeführt, zum „Erlösungsmodell“ werden. Denn im Blick auf Franz Marc und andere Lasker-Schüler besonders nahestehende Personen wird die Einsamkeit in diesem Brief auf bezeichnende Weise umgedeutet, ja verklärt: […] ich meine, die Einsamkeit kommt nur durch ein Gespräch mit sich selbst zu stande und wer kann Gott allein tragen? Du, blauer Reiter oder St. Peter Hille. Und meine Mutter konnte das, mein Bruder, der ins Kloster gehen wollte. […]
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S. 243. Hervorhebung durch C.N.
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Ihr aber seid selbst Mond und Sterne und Himmel, Ihr seid unsterblich, ich aber sterbe fortwährend und lebe wieder auf und bin müde vom Wechselspiel. (S. 243)
Es sind also die – damit glorifizierten31 – ‚Unsterblichen‘, die „Gott allein tragen“ (S. 243) können und denen sich die Künstlerin hier antithetisch gegenüberstellt. Die Unsterblichen sind bereits ewig, sie selbst aber muss sich und andere durch den Akt des Schreibens immer wieder neu verewigen und so vor der Vergänglichkeit retten. Bei den genannten Personen handelt es sich, mit Ausnahme von Franz Marc, um bereits Verstorbene. Sie werden hier als „unsterblich“ beschrieben und mit Mond, Sternen und Himmel verglichen, während Lasker-Schüler selbst als ewig sterbend und wieder zu neuem Leben gelangend erscheint. Unheimlich mag es anmuten, dass sie, die dem Künstler prophetische Fähigkeiten zuschreibt, den zu diesem Zeitpunkt noch lebenden und sich an der Front befindenden Franz Marc bereits in die Reihe der toten „Unsterblichen“ integriert. Schon im Malik wird der Tod des Bruders Ruben dargestellt und so gewissermaßen vorausgesagt. Die tiefe Trauer des Prinzen führt dort zunächst zu Depression und Lebensüberdruss und endet schließlich im Selbstmord Jussufs. Im wirklichen Leben scheint diese Gefahr durch das Schreiben des Briefromans, also durch die Kunst, gebannt zu sein. Neben dem ganz konkreten Tod, der durch den Krieg stets gegenwärtig ist, erscheint der Tod im übertragenen Sinne aber auch als ein Vergessen, das durch Erinnern aufgehoben werden kann. So heißt es nach der Frage „Wann wirst Du aus dem Krieg kommen?“ als Antwort: „In München denkt man an Dich nur.“ (S. 243) Die Aufhebung des Todes durch Erinnern leistet aber wiederum die Kunst, konkret das Schreiben: „Die Hauptsache, das ist mir klar, ist nur die blaue Blüte des Herzens zu pflegen, den Himmel, der ist die Seele“ (S. 243). In ihrem letzten Brief an Franz Marc verbindet Lasker-Schüler Tod und Aufhebung des Todes zudem bildlich durch die dreizehn Sterne, die sie am unteren Seitenrand unter ihren Namen setzt. Üblicherweise verwendet sie die Symbole Sonne, Mond und Sterne als Erkennungszeichen des Prinzen Jussuf, Sterne teilweise zur Kennzeichnung ihres Judentums.32 Die Zahl dreizehn steht für den Tod, als Symbol der Zukunft verheißen die Sterne hier jedoch – wie bereits zu Beginn des Briefs in Zusammenhang mit dem Weihnachtsbaum – Hoffnung und Erlösung. Else Lasker-Schüler hat die Erinnerung an Franz Marc aber nicht nur im Brief bewahrt, sondern in ihrer Dichtung: im Roman Malik („Mein ______________ 31 32
Peter Hille wird hier mit der Bezeichnung „St. Peter Hille“ sogar heilig gesprochen. Vgl. Haslinger: Poetischer Dialog (Anm. 12), S. 105.
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Bruder, der blaue Reiter, war Gott, wer ist es nun?“33), durch ihren Nachruf im Berliner Tagblatt vom 9.3.1916 („Der blaue Reiter ist gefallen, ein Großbiblischer, an dem der Duft Edens hing“34) und nicht zuletzt durch ihr Motive des Briefs („Brüder“, „Konzert“) aufgreifendes Gedicht Als der blaue Reiter war gefallen..: Griffen unsere Hände sich wie Ringe; – Küßten uns wie Brüder auf den Mund. Harfen wurden unsere Augen, Als sie weinten: Himmlisches Konzert. Nun sind unsere Herzen Waisenengel. Seine tiefgekränkte Gottheit Ist erloschen in dem Bilde: Tierschicksale.35
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Lasker-Schüler: Werke und Briefe (Anm. 1), Bd. 3.1. Prosa 1903 – 1920. Frankfurt/M. 1998. S. 514. Ebd., S. 413. Lasker-Schüler: Werke und Briefe (Anm. 1), Bd. 1.1. Gedichte. Frankfurt/M. 1996. S. 192. „Tierschicksale“ ist eines der bekanntesten Gemälde von Franz Marc aus dem Jahr 1913.
Franz Kafka an Milena Jesenská, Ende März 1922 Nun habe ich Ihnen schon so lange nicht geschrieben Frau Milena, und auch heute schreibe ich nur infolge eines Zufalls. Entschuldigen müßte ich mein Nichtschreiben eigentlich nicht, Sie wissen ja, wie ich Briefe hasse. Alles Unglück meines Lebens – womit ich nicht klagen, sondern eine allgemein belehrende Feststellung machen will – kommt, wenn man will, von Briefen oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her. Menschen haben mich kaum jemals betrogen, aber Briefe immer undzwar auch hier nicht fremde, sondern meine eigenen. Es ist in meinem Fall ein besonderes Unglück, von dem ich nicht weiter reden will, aber gleichzeitig auch ein allgemeines. Die leichte Möglichkeit des Briefeschreibens muß – bloß teoretisch angesehn – eine schreckliche Zerrüttung der Seelen in die Welt gebracht haben. Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern undzwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt oder gar in einer Folge von Briefen, wo ein Brief den andern erhärtet und sich auf ihn als Zeugen berufen kann. Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch Briefe mit einander verkehren können! Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft. Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken. Durch diese reichliche Nahrung vermehren sie sich ja so unerhört. Die Menschheit fühlt das und kämpft dagegen, sie hat, um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten, und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehn. Ich wundere mich, daß Sie darüber noch nicht geschrieben haben, nicht etwa, um mit der Veröffentlichung etwas zu verhindern oder zu erreichen, dazu ist es zu spät, aber um „ihnen“ wenigstens zu zeigen, daß sie erkannt sind. Man kann „sie“ übrigens auch an den Ausnahmen erkennen, manchmal lassen sie nämlich einen Brief ungehindert durch und er kommt an wie eine freundliche Hand, leicht und gut legt sie sich in die eigene. Nun wahrscheinlich ist auch das nur scheinbar und solche Fälle sind vielleicht die gefährlichsten, vor denen man sich mehr hüten soll, als vor andern,
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aber, wenn es eine Täuschung ist, so ist es doch jedenfalls eine vollkommene. Etwas ähnliches ist mir heute geschehn und deshalb ist es mir eigentlich eingefallen, Ihnen zu schreiben. Ich bekam heute von einem Freund, den auch Sie kennen, einen Brief; wir schreiben einander schon lange Zeit nicht, was äußerst vernünftig ist. Es hängt ja mit dem vorigen zusammen, daß Briefe ein so herrliches Anti-Schlafmittel sind. In welchem Zustand kommen sie an! Ausgedörrt, leer und aufreizend, eine Augenblicksfreude mit langem Leid hinterher. Während man sie selbstvergessen liest, erhebt sich das bischen Schlaf, das man hat, fliegt durch das offene Fenster weg und kommt lange nicht zurück. Deshalb schreiben wir also einander nicht. Ich denke aber oft, wenn auch zu flüchtig an ihn. Mein ganzes Denken ist zu flüchtig. Gestern abend aber dachte ich viel an ihn, stundenlang, die wegen ihrer Feindseligkeit für mich so kostbaren Nachtstunden im Bett verwendete ich dafür, ihm in einem vorgestellten Brief einige mir damals äußerst wichtig vorkommende Mitteilungen mit den gleichen Worten immerfort zu wiederholen. Und früh kam wirklich ein Brief von ihm und enthielt überdies die Bemerkung, daß der Freund seit einem Monat oder vielleicht richtiger vor einem Monat das Gefühl gehabt habe, er solle zu mir kommen, eine Bemerkung, die merkwürdig mit Dingen übereinstimmt, die ich erlebt habe. Diese Briefgeschichte hat mir den Anlaß gegeben, einen Brief zu schreiben und wenn ich schon geschrieben habe, wie sollte ich dann nicht auch Ihnen schreiben, Frau Milena, der ich vielleicht am liebsten schreibe. (Soweit man überhaupt gern schreiben kann, was aber nur für die Gespenster gesagt ist, die lüstern meinen Tisch umlagern)
Schon lange habe ich nichts von Ihnen in den Zeitungen gefunden, außer die Modeaufsätze, die mir in der letzten Zeit bis auf kleine Ausnahmen fröhlich und ruhig vorkamen, gar der letzte Frühlingsaufsatz. Vorher habe ich allerdings 3 Wochen die Tribuna nicht gelesen (ich werde mir sie aber zu verschaffen suchen) ich war in Spindelmühle. Franz Kafka: Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe. Hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller. Frankfurt/M. 1983. S. 301–304. © S. Fischer Verlag.
Philipp Theisohn
Schreiben vor Dämonen. Franz Kafka an Milena Jesenská I. Das Unglück der Briefe „Alles Unglück meines Lebens [...] kommt, wenn man will, von Briefen oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her.“ (S. 257) Wenn Kafka im März 1922 diese Zeilen an Milena Jesenská richtet, so verbindet sich mit ihnen die Wiederaufnahme einer eigentlich bereits dem Vergessen überantworteten Korrespondenz, genauer: einer Korrespondenz, die auf Kafkas eigenes Verlangen im Januar 1921 beendet wurde. Das zwischen Abschiedsbrief und dem zitierten Satz liegende Jahr war ereignis- wie folgenreich; zur Hälfte wird es von Kafkas Lungenkur in der Hohen Tatra geprägt, zur anderen Hälfte vom Schein der Normalisierung, welcher jäh durch einen Nervenzusammenbruch im Januar 1922 und einen sich daran anschließenden weiteren Kuraufenthalt in Spindelmühle durchbrochen wird. Unser Brief schließt somit an eine Pathographie im großen Stile an, ebendieselbe Pathographie, welche den Briefwechsel zuvor abgelöst, unterbrochen, durchkreuzt hatte. Natürlich lässt sich der vorübergehende Kommunikationsabbruch – dessen Zeugnis uns leider nicht mehr direkt zugänglich ist – mit Blick auf die Paargeschichte begründen. Wenn Kafka wirklich Milena darum gebeten hat (wie sie Brod schreibt), „nicht [zu] schreiben und [zu] verhindern, daß wir zusammenkommen“,1 dann scheint zuallererst die Adressatin selbst die Ursache zu sein. Freilich hält diese Erklärung einer Überprüfung nur bedingt stand: wiedergesehen hat Kafka Milena (nun wieder „Frau Milena“; S. 258) sehr wohl, nämlich schon im Oktober 1921 und von da ab auch des Öfteren – allein geschrieben hat er ihr vorerst nicht mehr. Und somit kommen wir wieder zurück zu jener Eingangsbehauptung, deren Grund wir noch nicht recht einsehen können: Man schreibt keine Briefe, weil von den Briefen her das „Unglück“ einen anweht. Worin aber besteht eigentlich dieses Unglück? Die exzeptionelle Bedeutung, die Kafkas Brief aus dem März 1922 zukommt, kann nur im Licht moderner Körperpolitik verstanden werden.
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Den Satz zitiert Milena auf Deutsch in einem Brief an Max Brod Anfang Januar 1921 („Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang“. Die Briefe von Milena. Hg. v. Alena Wagnerová. Mannheim 1996. S. 44.).
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Mit diesem Brief setzt nicht nur im Werk Kafkas, sondern in der Literatur des 20. Jahrhunderts überhaupt die Revision eines Leib-Schrift-Konzeptes ein, um dessen Auflösung in der Maschinenschrift Kafka sich Jahre zuvor bereits bemüht hatte. Erscheint jenes Bemühen als leitende Denkfigur im Briefwechsel zwischen Felice Bauer und Kafka,2 so sieht sich die Korrespondenz mit Milena Jesenská einmal mehr jener verhängnisvollen Kopplung von Körper und Schrift ausgesetzt, die sich nun jedoch nicht mehr aufheben, sondern allenfalls anders perspektivieren lassen wird. Diese Neuperspektivierung lässt die Korrespondenz und den sie durchschneidenden Paradigmenwechsel als poetologisches Reflexionsmedium zwischen den Landarzt und In der Strafkolonie – geschrieben ein Jahr vor Beginn der Korrespondenz – auf der einen und das Schloß sowie den Hungerkünstler – positioniert in unmittelbarer Nähe zur Wiederaufnahme der Korrespondenz – auf der anderen Seite treten. Die Dichotomie von Verkörperlichung und Entkörperlichung der Schrift wird in diesem Horizont lesbar als ein diagnostischer Prozess, als Einsichtnahme in einen Krankheitsverlauf. Dazu fügt es sich, dass wir es hier mit einem von Grund auf pathogenen Briefwechsel zu tun haben. Bereits zu Beginn von Kafkas MilenaKorrespondenz begegnet man immer wieder Aussagen, denen zufolge es unmöglich ist, in diesen Briefen über die Krankheit nicht zu sprechen: Schon Ende April 1920 will „man von anderem schreiben, aber es will nicht.“3 Und so bleibt den Briefschreibern nichts anderes übrig, als „aus der Krankheit soviel Süßigkeit [zu] ziehn, als nur möglich.“4 Dicht ist die epistolare Kommunikation hier mit dem körperlichen Erleben von Krankheit verbunden, sie ist für dieses Erleben funktional, im Grunde therapeutisch. Ermöglicht wird diese Engführung pathogener Zustände mit literarischer Betätigung nicht zuletzt durch das Kafkasche Konzept von ‚Krankheit‘, welches er – ganz entlang der biopolitischen Leitlinie – zu Beginn des Briefwechsels Milena erläutert. Demnach sei die Lungenkrankheit, welche die Korrespondenz überlagert, eben „keine Krankheit der Lunge“, sondern vielmehr ein Selbstopfer der Lunge, die dem Gehirn – wie Kafka es im April 1920 beschreibt5 – einen Teil der „ihm auferlegten Sorgen und Schmerzen“ abnimmt und so noch eine Weile etwas zur
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Siehe dazu ausführlich Wolf Kittler: Schreibmaschinen, Sprechmaschinen. Effekte technischer Medien im Werk Franz Kafkas. In: Wolf Kittler u. Gerhard Neumann (Hg.): Franz Kafka: Schriftverkehr. Freiburg i. B. 1990. S. 75–163. Franz Kafka: Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe. Hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller. Frankfurt/M. 1983. S. 8. Ebd., S. 10. Ebd., S. 7.
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„Erhaltung des Ganzen“ beiträgt. Einen Monat später konkretisiert der Patient: „Ich bin geistig krank, die Lungenkrankheit ist nur ein Aus-denUfern-treten der geistigen Krankheit.“6 ‚Krankheit‘, das ist kein Spezifikum, sondern ein das Gesamt der menschlichen Widerstandskraft betreffendes Schwächemoment, das letztendlich nicht aufgehoben, sondern nur durch Verschiebung, Partikularisierung, Lokalisierung, also durch organische Opfer, aufgeschoben werden kann. Just in diesem Szenario findet sich nun auch das Briefeschreiben wieder; es handelt sich um Fortsetzungen/Fortsätze des Leibes, um Auslagerungen einer allgemeinen Körperschwäche in das Schreiben. Diese ‚Verkörperlichung‘ der Schrift geht einher mit einem Hang zu einem körperlichen, materiellen Begehren der Briefe, mit voluptuösen Lektüren. Sehr früh, am 29. Mai 1920 etwa, begegnet uns die Rede von der ‚unsinnigen‘ „Lust an Briefen“, in deren Angesicht „man sich weit zurück[lehnt] und [...] die Briefe [trinkt] und weiß nichts als daß man nicht aufhören will zu trinken.“7 Die dem Körper entsprossenen Briefe sind weniger dazu bestimmt, sie zu lesen, als vielmehr dazu, „das Gesicht in sie zu legen und den Verstand zu verlieren“.8 Noch der letzte Brief Kafkas vor dem Bruch im Januar 1921 kokettiert ganz offen mit einem Begehren, welches sich nicht auf Text bezieht, sondern auf das bloße „Anschauen“ eines Briefes,9 durch den hindurch die Geliebte sichtbar wird. Dass beides miteinander zusammenhängt, die Lust und die Krankheit der Briefe und mit ihnen das Unglück – das wird sich erst im März 1922 weisen.
II. Der asketische Briefsteller Es bedarf dieser Vorgeschichte, weil erst aus ihr jener Bruch in der Korrespondenz zwischen Kafka und Milena in seiner ganzen Bedeutung verständlich wird; ein Ruptus, der wiederum seine Vor- und Folgezeichen in einer Neubewertung des Zusammenhanges von Schrift, Körper und Krankheit findet. Womöglich steht am Beginn dieser Umorientierung Kafkas in Matliary geschriebener Brief an den Direktor der Arbeiter-Unfall-Versicherung vom 3. April 1921, in welchem er davon spricht, seine Lungenkrankheit „in ihrer wirklichen Bedeutung zum ersten Mal“ erkannt
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Ebd., S. 29. Ebd., S. 23. Vgl. auch ebd., S. 60: „[...], ich kann das nicht lesen und lese es natürlich doch, so wie ein verdurstendes Tier trinkt, [...].“ Ebd., S. 35. „So bin ich jetzt, ohne irgendetwas sonst zu machen, bis ½ 2 nachts über diesem Brief gesessen, habe ihn angesehen und durch ihn Dich.“ (Ebd., S. 300.)
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zu haben;10 zwei Monate zuvor wurden die Abschiedsbriefe zwischen ihm und Milena getauscht. Der Trennung wiederum geht ein letzter Brief Kafkas voraus (der im November 1920, also vor dem Kuraufenthalt verfasst wurde), in welchem er sich zu einer bemerkenswerten Einsicht vortastet: „[...] diese Briefe sind doch nur Qual, kommen aus Qual, unheilbarer, machen nur Qual, unheilbare, was soll das – und es steigert sich gar noch – in diesem Winter?“11 Aus dem Therapeutikum der leibhaften Briefe, ihrer lustvollen Physiognomie tritt urplötzlich die Erkenntnis ihrer Kontagiosität, ihres infektiösen Zuges hervor. Die Vorzeichen verkehren sich: das Blut, mit dem sich die Briefe zuvor noch füllten, das man trinken, in das man sich versenken konnte, kann von der Schrift nicht mehr gehalten werden, es versickert, verschwindet in der Korrespondenz und wird den Korrespondenten somit entzogen. Die Briefe nehmen hierüber die Physiognomie ihres Verfassers an. „Ausgetrunken“, wie es dann im Brief vom März 1922 heißt, (und dem eigenen Genusse somit nicht mehr zur Verfügung stehend) – in diesem Zustand erreichen sie den Empfänger: Es handelt sich zweifelsfrei selbst um schwindsüchtige, um tuberkulöse Schriftstücke. Die Ursache dieser infektiösen Erkrankung der Schrift ist schnell ausgemacht: Die „leichte Möglichkeit des Briefeschreibens“ habe, so Kafka in jenem ersten Wiederannäherungsbrief vom März 1922, „eine schreckliche Zerrüttung der Seelen in die Welt gebracht“ (S. 257). In der Überantwortung des Zwischenmenschlichen an die mediale Vermittlung begibt sich der Mensch in Verkehr mit Gespenstern undzwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt […]. Briefe schreiben [...] heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. (S. 257)
Jener gespenstischen Beobachtung und ihrem Vampirismus12 zu entkommen, darin sieht Kafka den Kampf der Menschheit beschlossen, die alles tut, „um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten, und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen“, und zu diesem Zwecke „die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden“ (S. 257) hat. Jedoch –
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Franz Kafka: Amtliche Schriften. Materialien. Hg. v. Klaus Hermsdorf u. Benno Wagner. Frankfurt/M. 2004 [CD-ROM]. S. 827 f. Franz Kafka: Briefe an Milena (Anm. 3), S. 301. Dass Kafka diese vampirische Seite der Schrift schon weitaus früher entdeckte (nämlich in den Briefen an Felice Bauer), hat bekanntlich Kittler offengelegt. (Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 1900. München 1995. S. 459 f.)
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es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. (S. 257)
Die Technizität der Moderne entschlüsselt sich so als ein Ringen der Kräfte, eine „schreckliche Zerrüttung der Seelen“ (S. 257) und ihre (vergeblichen) Heilungsversuche, als eine parasitäre Infektion, von welcher derjenige befallen wird, der auf die Strategien medialer Vermittlung setzt und der seiner Krankheit bestenfalls hinterher zu reisen vermag, sie aber niemals einholen kann. Der Ausgang des Kräftemessens steht längst fest, der Patient ist unheilbar: „Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehn.“ (S. 257.) Wie konnte es aber zu diesem Szenario kommen, was rief die Geister auf den Plan, an welchem Punkt und aus welchem Grund hat sich die körperhafte und den Körper stützende Schrift in eine entkörperlichte und entkörperlichende Schrift verkehrt? Die Indizien weisen zunächst in Richtung einer zunehmenden Selbstreferentialität, einer ‚Rückkopplung‘ des Schreibens, in deren Folge die Gespenster insbesondere dort geboren werden, „wo ein Brief den andern erhärtet und sich auf ihn als Zeugen berufen kann.“ (S. 257)13 Dies ist nun keine triviale Feststellung und sie führt letztendlich eben auch nicht zum Erliegen der Schrift, zur Kapitulation vor den Gespenstern, sondern erschließt Kafka vielmehr ein neues poetisches Selbstverständnis, in dem Leibhaftigkeit, Krankheit und Schrift von neuem miteinander ins Spiel gebracht werden. Der Brief vom März 1922 lässt erstmals sichtbar werden, dass die Askesis des Briefeschreibers eine Schwellenfigur darstellt,14 insofern sich der Asket zwar einerseits anschickt, anstelle eines lustfördernden Opfers für den Leib den Leib selbst zu opfern, andererseits freilich hierin auch die stärkste aller körperlichen Selbstbezüglichkeiten zum Ausdruck bringt. Anders formuliert: Milenas asketischer Korrespondent erkennt sich nun als einen Typus, der keinesfalls ‚nichts‘ tut, sondern vielmehr alles, was er tut, ‚sich antut‘. Sein Handeln und Schreiben vollzieht sich einzig und allein am eigenen Leib, der ihm der ausschließliche Gestaltungsraum seines Willens ist. Das Gestalten selber aber ist ein Büßen, ist das konsequente Zuendedenken der Geisteskrankheit. Ebendiese Denkfigur, das Zurückwenden des Geistes auf seinen Träger, die Verselbständigung und Aggressivierung des entäußerten Potenti-
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Vgl. ebd. Vgl. hierzu Barbara Thums: Auf der Suche nach einem neuen asketischen Ideal. Nietzsches existentielle Experimente am Leitfaden des Leibes. In: Cornelia Blasberg u. Franz-Josef Deiters (Hg.): Denken/Schreiben (in) der Krise – Existentialismus und Literatur. St. Ingbert 2004. S. 41–70; Patrick Bridgwater: Kafka and Nietzsche. Bonn 1974. S. 41–46.
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als, verbirgt sich hinter Kafkas Unglück der Briefe. Aus dem Geist des Blutes sind papierne Geister geworden, vampirische Kräfte, die den Körper des Schreibenden auszehren, ihn als Schreibinstanz wie als Schriftfeld zum Verschwinden bringen. Dies aber heißt: die Kräfteverhältnisse haben sich verkehrt. Erscheint der Brief bis zum Bruch im Januar 1921 noch als Feld der Körperschrift, so wird sich nun umgekehrt der Körper durch die Briefgeister seiner Zeichenhaftigkeit bewusst. In gleichem Maße wandelt sich die Krankheit von einem Movens zum Effekt der Schrift, mithin von einer Grundierung epistolarer Kommunikation zu einem parasitären Komplex, der seinerseits das Schreiben wie das Denken befällt, den Briefwechsel somit unterminiert. Kafka hat diese Entwicklung rückblickend in einem Brief vom Frühjahr 1923 dargestellt: Ich habe seit Jahren niemandem geschrieben, ich war in dieser Hinsicht wie tot, ein Fehlen jeden Mitteilungsbedürfnisses, [...] es war, als hätte ich alle Jahre hindurch nur nebenbei alles was verlangt wurde getan und in Wirklichkeit nur darauf gehorcht, ob man mich riefe, bis dann die Krankheit aus dem Nebenzimmer rief und ich hinlief und ihr immer mehr und mehr gehörte. Aber es ist dunkel in dem Zimmer und man weiß gar nicht ob es die Krankheit ist. Jedenfalls wurde mir das Denken und Schreiben sehr schwierig, manchmal beim Schreiben lief die Hand leer über das Papier, auch jetzt noch, vom Denken will ich gar nicht reden [...].15
Von der Befeuerung des Schreibens durch die Krankheit zur Befeuerung der Krankheit durch das Schreiben und schließlich zur Zersetzung des Schreibens durch die Krankheit ist es ein kurzer Weg – wenn die Erkenntnis der ‚wirklichen Bedeutung‘ der Erkrankung auch bisweilen spät einsetzen und so die Verschlimmerung der brieflich gezeugten körperlichen Leiden bis hin zum völligen Zusammenbruch kaum noch abwenden mag.
III. Telepathische Korrespondenzen Nun darf man nicht verkennen, dass Kafkas Brief zwar durch die Körper/Geist-Dichotomie geprägt und somit im Horizont des Krankheitsdiskurses lesbar wird, dass er aber gleichzeitig diese Krankheit, die Auszehrung des verschrifteten Körpers durch die Briefgeister, nicht nur als Nebenwirkung, sondern vielmehr als Ermöglichungsbedingung des Briefeschreibens perspektiviert. So vollzieht sich am Ende des Briefes eine unerwartete Verschiebung der Szenerie. Erscheinen die Dämonen der Kommunikation zuvor noch eindeutig als Usurpatoren der Rede, als eine
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Franz Kafka: Briefe an Milena (Anm. 3), S. 313.
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Überwachungsinstanz, die selbst dort spürbar wird, wo sie scheinbar „einen Brief ungehindert“ (S. 257) passieren lässt, so setzt nun eine Reflexion ein, in der aus der spirituellen Kontrolle eine spirituelle Mediation wird. Ausgangspunkt sind dabei immer noch die ausgesogenen Briefe, die in ihrem leidvollen Zustand auf den Briefempfänger eine besondere Wirkung auszuüben scheinen: sie geben ein „herrliches Anti-Schlafmittel“ ab; „[w]ährend man sie selbstvergessen liest, erhebt sich das bischen Schlaf, das man hat, fliegt durch das offene Fenster weg und kommt lange nicht zurück.“ (S. 258) Das ist ungesund und aus genau diesem Grund vermeidet man auch das Schreiben. Besser gesagt: man ‚behauptet‘ in seinen Briefen, dass man das Briefeschreiben vermeidet, dass man „einander schon lange Zeit nicht“ (S. 258) schreibt oder geschrieben hat – nur um es dann gleichzeitig eben doch zu tun. Offensichtlich handelt es sich dabei um Korrespondenzen, die man nicht planhaft vorantreibt, sondern die höheren Gesetzen folgen: Man schreibt „infolge eines Zufalls“ (S. 257), aufgrund einer zu Beginn des Briefes noch unbestimmt gelassenen Kausalität. Im Durchqueren des pathogenetischen Kontexts des Briefes ließ sich diese Kausalität noch als ein seltsamer Drang zum Opfer des Körpers, zum asketischen Schreiben bestimmen. Liest man den Brief jedoch von seinem Ende her, dann hellt sich die Beziehung zwischen den Korrespondenten und ihrem Schreibzwang auf. Berichtet wird nämlich nun von einem zweiten Briefpartner Kafkas, von einem Freund, dessen Bekanntschaft er mit Milena teilt, auch dieser ein eigentlich Nichtkorrespondierender und Nichtangeschriebener. Wie Kafka tritt auch jener Ungenannte nach einer langen Zeit des Schweigens wieder plötzlich in die Kommunikation ein, was allerdings nun wiederum nicht als Zufall, sondern als Effekt einer geisterhaften Kontaktaufnahme von Seiten Kafkas dargestellt wird. In der Nacht zuvor ist Kafka zum Diktat geschritten; er hat einen „vorgestellten Brief“ (S. 258) an jenen Freund formuliert und am nächsten Morgen dann die Antwort des Freundes erhalten, in welcher sich offenkundig ein Wissen um das Leben und Erleben des Angeschriebenen widerspiegelt. Vollzogen wird damit eine Umkehrbewegung: Wo zuvor noch aus dem Körper die Schrift werden musste, von der sich die Geister nähren, da zeigt sich nun, dass aus einem bloßen ‚Vorstellen‘ von Briefen durch das Zutun der Geister reale Briefe werden. Das dämonische Nachrichtensystem greift über die ihm zivilisationsgeschichtlich zugesprochene Medialität hinaus: auf die Post, den Telegraphen, das Telefon und die Funkentelegraphie folgt die Telepathie – und damit die gedankliche Verschaltung des modernen Subjekts mit seiner Umwelt überhaupt. Damit aber verändert sich das Setting, in welches der Brief an Milena eingelassen ist, von Grund auf. Absender und Adressatin sind selbst zu
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Medien eines spirituellen Netzwerks geworden, das beide wie ‚zufällig‘ miteinander verbindet, tatsächlich jedoch die Kommunikation evoziert, die Korrespondenzen also erst herstellt, die dann am Ende in das Unglück der Briefe münden. Auch an Milena wurde zuerst gedacht, wie man eben „an einen fernen Menschen denken“ (S. 257) kann. Wenn Kafka am Anfang seines Schreibens aber ausführt, dass dieses ‚In-die-Ferne-Denken‘ eine der letzten verbliebenen Möglichkeiten eines unkorrumpierten, adäquaten zwischenmenschlichen ‚Verkehrens‘ darstellt, dann belegt der Brief selbst vielmehr, dass auch solche Gedanken nicht unmedialisiert bleiben, in schriftliche Kommunikation münden müssen, die die Kräfte des Menschen übersteigt, ihn unter sich zermalmt. So liefert jene nachgereichte ‚Briefgeschichte‘ nicht nur den ‚Anlass‘ für den Neubeginn des Briefwechsels Kafka – Jesenská, sondern auch dessen Erklärung. Über den Umweg des namenlosen Dritten gelingt es Kafkas Brief, den Rekurs auf die verlorene Liebe als einen geheimen Respons zu inszenieren: In einer von Geistermedien durchdrungenen Welt steht man nämlich ohnehin stets in Korrespondenz. Wo nicht mehr geschrieben wird, da trägt der Schlaf, der durch das Fenster davonfliegt und lange nicht zurückkehrt, die ungeschriebenen Briefe hinaus und erzeugt auf diesem Wege eine Reaktion von der Gegenseite, die wiederum nach Antwort verlangt. Man kann diese Inszenierung zweifach lesen. Zum einen verhält sie sich gegenläufig zur asketischen Diagnose des Eingangs: Die Schreibkrankheit ist nicht länger nur das Resultat eines mit sich selbst verschränkten Geistes, sondern auch der Effekt einer gesteigerten (wo nicht übersteigerten) Wahrnehmungs- und Empfangsfähigkeit, die ihren Träger vor niemandem entkommen lässt. So ist auch die abwesende Milena offenbar stets eine kommunikative Größe in Kafkas Leben geblieben; augenfällig wird dies etwa dann, wenn von Milenas „Feindseligkeit“ (S. 258) die Rede ist, die ihm die Nachtstunden im Bett so unentbehrlich werden lassen. Die Rede des Anderen geht immer weiter, sie verfolgt einen unablässig, selbst wenn es für Außenstehende den Anschein haben mag, dass es sich eigentlich genau umgekehrt verhält. Jede schriftliche Äußerung der Geliebten, jeder Zeitungsartikel, ja, jeder ‚Modeaufsatz‘ wird zu einer Nachricht, der nachzugehen ist, beinhaltet ein Wissen über das Ich, das dementsprechend auch Themen einfordern kann oder sich zumindest wundern darf, dass man „darüber noch nicht geschrieben“ (S. 257) habe, denn immerhin ist es ja selbst Sujet und kennt die Nachrichtenlage am besten. Kurzum: Die Welt, in die dieser Brief gehört, lässt keine informationellen Trennungen zu, dabei wären sie nötig, um zur Ruhe, zum „Frieden der Seelen“ (S. 257) zu kommen. Man kann noch so große Distanzen zwischen einander legen; die Gegenseite gewinnt diesen Wettlauf mit
Franz Kafka an Milena Jesenská, Ende März 1922
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Leichtigkeit, hält die Kanäle zwischen den Menschen stets offen und nutzt sie ohne Unterbruch und ohne Einwilligung der miteinander verschalteten Subjekte. Zum anderen aber wird der Lustgewinn an den niemals abreißenden Datenflüssen dadurch gemindert, dass es hier auch keine Freiwilligkeit der Rede mehr gibt, wie jene mysteriöse Schlussepisode es der Adressatin verdeutlichen soll. Alles Schreiben verdankt sich einem ‚Zwang zur Antwort‘, einem Zwang, der sich in den Nächten seine Bahn bricht und als Antinarkotikum Gestalt gewinnt. Dass man auf alles, selbst auf nächtliche Gedanken von weither, antworten ‚muss‘, dass einen die ‚Herrlichkeit‘, der ‚aufreizende‘ Anblick, die „Augenblicksfreude“ (S. 258) von erhaltenen Briefen immer erneut in das ‚lange Leid‘ hinabzieht – das ist die fatale Seite des seelenzerrüttenden Schreibens, das Kafka befallen hat. Der Brief aus dem März 1922 zeigt den Patienten dabei noch nicht im Endstadium. Erst ein knappes Jahr später wird Kafka von Milena dann erneut verlangen, ihre Korrespondenz einzustellen, die epistolare Daueraffizierung zu beenden – um sich den Geistern alsbald ein für allemal entziehen zu können: Der böse Zauber des Briefschreibens fängt an und zerstört mir die Nächte, die sich ja schon aus eigenem zerstören, noch immer mehr. Ich muß aufhören, ich kann nicht mehr schreiben. [...] Bitte nicht mehr schreiben.16
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Franz Kafka: Briefe an Milena (Anm. 3), S. 317.
Nathan Wolf an seine Frau Auguste, 23. Mai 1941 Freitag Vormittag, 23. Mai 1941 Mein Herzsüßes, ich habe schon einen so lieben Brief von Dir bekommen heute, dass ich ganz beglückt bin, den vom letzten Freitag – Samstag, voll heiterer Liebe u. voll Seligkeit über die Liebe, die Dir aus meinem Brief vom letzten Montag zuströmte. Ein ganz inniger Brief, voll Sehnsucht, aber auch voll Glück u. einer besonderen Zufriedenheit, ohne Sorgen u. düstere Gedanken, voll Zuversicht auch. Du siehst, ich muss wieder meinen Füller benützen, der mir das Schreiben zur Qual machte, wenn es nicht an Dich ginge. Heute schien die Sonne schon um 7 zum Fenster herein, direkt heiß, u. jetzt gegen 10 Uhr ist es schon wieder etwas kühl, aber doch recht angenehm. Ich habe Dir gestern nur die eine Ansichtskarte geschrieben von Steckborn. Ich bin voller Hoffnung hinaufgefahren, die lieben Kinder zu sehen, wenigstens auf der Rückfahrt, aber ich bin sicher, dass Stefanele nicht vom Horn aus wenigstens einmal heimgegangen ist u. es wenigstens dem Vater gesagt hat, dass ich vorbeigefahren sei, der es dann den Kindern hätte sagen können, die doch sicher nicht erst um 5 heimgekommen sind, Beide sicher nicht. Es hat dann immer nach dem Dorf zu geguckt, als ob sie noch daher kämen. Es war umso ärgerlicher als ich damit Bernhard Gump und Rosl versäumt habe, die extra herunterfuhren, um uns zu besuchen, Bernhard hat es besonders leid getan, dass ich nicht da war, das kann man sich denken. Sie haben der Mutter viele Sachen gebracht, Rosl ist ja besonders freigebig. Ihr Besuch wäre mir hundertmal lieber als der von Jacob u. Walter. Also das ärgert mich an dem alefänzigen Stefanele, denn seinetwegen bin ich weissgott nicht gefahren, wenn ich es auch sonst schätze u. seine guten Eigenschaften erkenne. Ich wäre auf der Rückfahrt auch noch so schön allein gewesen auf Deck, gut, dass solche Enttäuschungen auch wieder vorüber gehen. Herr u. Frau B. sah ich Arm in Arm, aber ich war erstaunt, dass draußen Werktag ist u. auch Frau Landherr arbeitete. In Steckborn habe ich zuerst die Karte an Dich geschrieben u. habe dann einen Spaziergang gemacht gegen Glarisegg zu, an vielen Fliederbäumen vorbei, die ihren herrlichen Duft über die Strasse verbreiteten. Die wunderbaren Apfelblüten schienen mir gestern wie eine Offenbarung, es kann kaum etwas Schöneres Lieblicheres geben als die halbgeöffneten Blüten, das Rot ist ja besonders zart u. jungfräulich das Rosa, hoffentlich kannst Du es daheim noch genießen, daran dachte ich natürlich wie bei allem Schönen, was ich sehe. Ich habe auch das Horn gemustert u. brauchte ja kaum das Fernglas wegnehmen; ich liess einfach das Taschentuch flattern für Stefane – aber ich konnte nicht alles erkennen, wenig blühende Büsche u. die Birnbäume, die gepfropften,
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zum 1. Mal mit Blüten, die beiden grossen voller Blüten und auch die Zwetschgenbäume voll zarter weisser Blüten, die gelbe u. die grüne Bank. Unterhalb des Friedhofs, den ich wegen der Sandfelsen unten dran zum 1. Mal erkannte, sogar die Grabsteine, sah ich Bienenstände, gehören die Otto Trüb, u. ist er noch daheim? Remlinger fuhr auch wieder vorbei. Ich hatte gestern Abend einen solchen Hunger, dass ich mir 4 Eier einschlagen liess, was natürlich bei einem Preis von 22 Rappen eine kostspielige Sache ist. Vom 1. Juni wollen wir dann einmal genau berechnen, was wir gebrauchen u. auch die Vorräte mit einrechnen. Ich mache natürlich keine Ansprüche, u. was Selma auf den Tisch bringt, ist mir recht, wenn man von der Unterstützung anderer abhängig ist, muss man sich bescheiden. Heute Mittag z. B. gibt es Spaghetti mit Tomatensauce, was nicht gerade meine Lieblingsspeise ist, aber wenn man nur satt wird, das ist die Hauptsache u. vor allem kann man sich bescheiden, wenn man sein Liebstes wie es jetzt den Anschein hat, gut versorgt weiss. Du glaubst gar nicht, wie es mich direkt glücklich macht, dass Du nun so gut verpflegt bist u. Dir dies u. jenes noch kaufen kannst. Könntest Du nicht mal an Wehrles eine Karte schicken u. in einer zweiten mal Deine Wünsche vorbringen, auch von Mutter berichten, für die sie sich bestimmt heute noch interessieren. Lene sei sehr empfänglich meint Selma, wenn sie statt zehn zwölf bekäme, da sollten die Kinder doch ab u. zu mal hingehen u. auch zu Grafs im b.[adischen] Hof. Nächster Tage will ich auch wieder mal eine Maientour machen, wenn sie so schön wird wie die letzte, wollte ich wohl zufrieden sein. Eben habe ich noch dies u. jenes an die Kinder geschrieben, hoffentlich bekommen sie meinen Brief früher. Denke dir, Dorle u. Herr Hilb sind immer noch da u. machen doch schon so lange an der Auswanderung herum. Was für ein Glück hatte ich doch, dass ich nicht weiterkam, wäre ich bei Dr. Bloch, hättet Ihr in einem Jahre kaum mehr eine Nachricht bekommen, ebensowenig wie wir von Eugenie, die ganz aus unserem Gesichtskreis getreten ist, glücklicherweise hat sie die lb. Mutter fast vergessen; und nun sind auch sie bald in den Krieg verstrickt, alle die Namen, die jetzt auftauchen, sind mir wohlbekannt wie Jennin, von wo ich damals ausflog, als Felsenstein mich später mit dem Flugzeug ankommen sah an einem Freitag abend, Damas u. Rajak, wo ich so Vieles erlebte, ich kenne ja Syrien wie m. Hosentasche. In Amman habe ich einmal den schönsten Blumenkohl bei einem befreundeten Feldwebel genossen, war damals noch ein rechtes Beduinennest, sehr interessant war das Amphitheater mit seinen 1000 Zuschauersitzen aus Stein u. die gut erhaltenen Aufgänge für die Schauspieler, die Zeus u. Aphrodite Köpfe, die noch herumlagen, nur Palmyra habe ich nicht gesehen, dagegen aber die gewaltige Säulenhalle von Baalbeck, die auch Kaiser Wilhelm einmal besucht hat, eine gefährliche Beduinenecke in der Wüste. Nun gibt es aber heute doch Knöpfle u.
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saure Bohnen, also ein Festessen für mich – Es war auch wirklich gut, seit bald 2 Jahren wieder zum 1. Mal. Von schneeweissem Mehl u. gut geschmalzen wirklich eine Delikatesse, auch die Bohnen waren gut. Es ist jetzt erst ¼ 1 Uhr, auch der lb. Mutter hat es gut geschmeckt. Ich habe heute zum 1. Mal gelesen, dass es nicht mehr heißt badischer, sondern Südschwarzwald, badisch war eben zum Unterschied vom württembergischen Schw. Zufällig las ich neulich ein Buch über Kroatien, der Zvonimir, der letzte König, muss ja ein sauberer Bursche gewesen sein, dabei sind die Kroaten ein kulturell hochstehendes Volk u. haben sich unter Habsburg nicht schlecht gefühlt. Die Zeit ist jetzt so fliessend, dass man mit seinen geschichtl. u. geographischen Kenntnissen immer nachhinkt. Wer jetzt als Soldat das Glück hat, herumzukommen, bei einer fliegenden Division zu sein, lernt ganz Europa u. halb Afrika u. Asien kennen. Den Irak kenne ich nur stückweise, kam damals bis Nissibien, dagegen habe ich fast ganz Transjordanien kennen gelernt, nach Persien bin ich leider nie gekommen. Dagegen lernte ich einmal einen vornehmen Perser kennen, der auf dem Bahnhof Kaden – Damaskus mit einem glitzernden Ding spielte, das sich als ein Manschettenknopf herausstellte, den ich 14 Tage vorher in Beirut verloren hatte. In Beirut hatte ich damals einen sehr netten Abend im deutschen Hotel mit einem schwedischen Major zusammen, wo es auch Champus gab. Aber das Elend in der armen Bevölkerung war grauenhaft, am frühen Morgen lagen die ausgemergelten Leichen der verhungerten Kinder vor dem Dreckkübel. Dort sah ich die ersten Bananenbäume, dort traf ich auch den Sohn meiner Hausleute aus Aleppo, Nasrim Homsi, die ein wunderbares römisches Service besaßen, Tassen aus Silber ciselisiert, u. die alten Damen dort spielten den ganzen Tag Patience, mit mir sprachen sie kein Wort, dagegen buhlten der christl. u. muselman. Diener um m. Gunst, u. so brachte ich es jeden Morgen auf 2 Mokka. Die Geschichte vom Erzbischof von Damaskus, in dessen Haus in Aleppo ich verkehrte, wo s. Schwägerin den Walzer aus der lustigen Witwe spielte, kennst Du ja. Ihm verdanke ich m. schöne Münzsammlung aus Damaskus u. vieles andere noch. So werden immer wieder Erinnerungen wachgerufen aus einer Zeit, die schon ein ¼ Jahrhundert hinter mir liegt. Aber am liebsten verweile ich in unsrer Zeit, die strahlend über all’ die Jahre hinausschaut, die ich ohne Dich verbracht habe. Erst bei Dir fängt es an, licht u. schön u. lebensvoll zu werden, u. wenn ich nicht gerade zurückschaue, so ist es, als hätte mein Leben eigentlich erst mit Dir begonnen, vorher, das war nur die Zeit, da ich mich auf m. Beruf vorbereitete u. meine Dienste u. mein Leben dem Vaterland weihte. Von all’ dem ist nichts mehr geblieben, es ist, als ob ich nie einen Beruf gehabt hätte, nie ein Vaterland, Beide wollen von mir nichts mehr wissen, Beiden war ich mit ganzem Herzen verbunden; immer wieder bewahrheitet sich,
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dass Undank der Welt Lohn ist. Einzig in meiner Liebe zu Dir habe ich den Lohn gefunden, in Dir u. den Kindern, u. dass mir das Schicksal auch noch die Trennung von Euch auferlegt, das ist fast mehr als ein Mensch zu ertragen vermag. Ich will nicht mit dem Schicksal hadern, sondern lieber mit Geduld u. Vertrauen auf eine höhere als Menschenmacht ausharren, u. wenn ich mir damit nur das Glück der Kinder verdiente. – Wie werden sie sich auf Dich freuen – wie würde ich mich auf Dich freuen! – Wäre nicht gerade Pfingsten, so wäre auch ich für eine 5. Woche gewesen, dort zu bleiben, aber so kann ich nur zugut verstehen, dass Du an den Pfingsttagen, wo die Kinder frei haben, daheim sein möchtest. Nur um das Eine bitte ich Dich, mindestens 4 Wochen musst Du wenigstens 4 Stunden am Tag noch liegen, 2½ vormittags und 1–1½ am Nachmittag, Stefane muss sich eben darnach einrichten u. ihren Dickkopf unterordnen. Dann wirst Du bestimmt Dein altes Gewicht wieder einholen u. wenigstens körperlich allen vor- u. widerstehen können. – Es regnet zur Ausnahme wieder mal, ohne dass es die Schönheit der Natur beeinträchtigt, zuhause hatte ich den Regen im Mai nicht mal ungerne, er machte die Landschaft noch weicher. Ich habe gewiss schon vor 30 Jahren einmal vom Mai gelesen „dieser Monat ist ein Kuss, den der Himmel gibt der Erde, dass sie jetzo eine Braut, künftig eine Mutter werde“, ob daher der „Wonne“monat seine Bezeichnung hat. Für uns umschließt halt ein solcher Begriff Alles, was es überhaupt nur an Schönstem Süssestem u. eben wonnevollstem gibt, aus unerschöpflicher wie du schreibst aus übersprudelnder Fülle fliesst unsere Liebe u. aus ihr die Wonnen, die wir uns so gerne schenken möchten. Wenn wir erst einmal dürfen –. Dass Du an Frau Rösch eine so nette Nachbarin hast, freut mich auch noch ganz besonders, ich wünschte nur sie käme einmal ganz schnell im Winter zu Dir, wenn es bei Euch wieder langweilig ist oder die andere müsste bleiben. – Eben bringt Selma Zeitung u. Deinen Brief vom 19. schon, aber ich will erst noch ein paar Commissionen machen, ehe ich ihn lese, damit ich noch die Vorfreude geniesse. Ganz innig dir verbunden, mein Herz Du Dein Natus Privatarchiv Dr. Hannelore König, Steinenbronn. Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Hannelore König.
Nathan Wolf an seine Frau Auguste, 23. Mai 1941. Schon während des ‚Dritten Reiches‘ hat es ungebetene Dritte gegeben, die an dieser privaten Korrespondenz teilhatten, worüber uns die zahlreichen Zensurstempel auf dem Kuvert ebenso informieren wie die handschriftlichen Bleistiftvermerke auf den Vorderseiten der beiden Briefbögen.
Kuvert des Briefs
Anne Overlack
„… dass mir das Schicksal auch noch die Trennung von Euch auferlegt, das ist fast mehr als ein Mensch zu ertragen vermag…“ – Nathan Wolf an seine Frau Auguste1 Hannelore König zum Gedenken
Als Nathan Wolf diesen Brief an seine Frau Auguste am 23. Mai 1941 schreibt, lebt er schon seit mehr als anderthalb Jahren von seiner Familie getrennt. Der jüdische Arzt hatte sein Heimatdorf Wangen2 im August 1939 endgültig in Richtung der nahegelegenen Schweiz verlassen. Dabei vollzog sich seine Flucht vergleichsweise unspektakulär per Kursschiff, das die kurze Strecke von Wangen nach Stein am Rhein fahrplanmäßig zurücklegte. Im schweizerischen Grenzstädtchen Stein am Rhein ging Nathan Wolf dann unbehelligt von Pass- oder weiteren Kontrollen von Bord,3 um während der kommenden sechs Kriegsjahre eine prekäre Existenz in der Schweiz zu führen.4
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Die folgende Briefinterpretation steht im Kontext eines größeren Biografie-Projekts zur Geschichte von Nathan Wolf und seiner Tochter Hannelore König, das auf ein bereits erschienenes biografisches Interview zwischen Hannelore König und Manfred Bosch aufbaut. Vgl. Hannelore König u. Manfred Bosch: Hitler war weg und wir waren da. In: Hegau-Jahrbuch 64 (2007). S. 239–310. Wangen am Untersee gehört heute zur Gemeinde Öhningen. Damit nutzte er als Bewohner der Grenzregion ein Schlupfloch, das die eifrig auf die Sicherheit ihrer Grenzen bedachten Schweizer schon bald schließen sollten. Eine Woche nach Nathan Wolf floh ein zweiter Wangener Jude auf genau demselben Weg. Daraufhin mahnte die eidgenössische Fremdenpolizei ihre untergebene Dienststelle in Schaffhausen: „In der Beilage senden wir Ihnen eine Deposition des Hermann Israel Weil […] über dessen Einvernahme in Zürich, wie es ihm möglich gewesen sei, illegal in die Schweiz einzureisen. Sie wollen in der Sache Dr. Nathan Wolf vorladen und ihn insbesondere darüber abhören, wie er dazu kam, Hermann Weil den Rat zu geben, illegal in die Schweiz einzureisen. […] Bei dieser Gelegenheit wären wir Ihnen dankbar, wenn sie das Loch, das für illegale Einreise offenbar noch besteht, hermetisch verschließen wollten.“ Brief vom 4. Oktober 1939, Staatsarchiv Schaffhausen, Akte: Flüchtlinge B (Nathan Wolf). Während der gesamten Dauer seines Exils in der Schweiz wurde Nathan Wolf von den Flüchtlings- und Polizei-Behörden engmaschig kontrolliert und reglementiert. Sein Aufenthaltsstatus zum Zeitpunkt dieses Briefes war derjenige der Duldung. Dabei hatte er die Verlängerung der ihm jeweils gewährten „Toleranzbewilligung“ im Abstand weniger Monate erneut zu beantragen. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit war ihm verboten, hingegen erwarteten die Behörden von dem Arzt intensive Bemühungen zur
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Die zahlreichen Versuche, das Deutsche Reich zusammen mit der Familie rechtzeitig zu verlassen, waren gescheitert. So blieben seine an Tuberkulose erkrankte Frau Auguste und die halbwüchsigen Kinder, Hannelore (*1925) und Gert (*1928), zusammen mit der über achtzigjährigen Schwieger- und Großmutter Nanette Wolf und Nathan Wolfs Schwester Selma im kleinen Bodenseedorf Wangen zurück, das über Jahrhunderte hinweg eine bedeutende landjüdische Gemeinde beherbergt hatte. Auguste Wolf war Christin, Nathan Wolf Jude – bei ihrer Eheschließung im Jahr 1925 hatte diese unterschiedliche Religionszugehörigkeit noch keine Rolle gespielt,5 erst die Rassenpolitik der Nationalsozialisten gefährdete die Familie existentiell. Dabei gab es Abstufungen im Grad der Gefährdung: Vergleichsweise sicher war Auguste Wolf als ‚Arierin‘, hochgradig gefährdet waren hingegen ihre Schwägerin und Schwiegermutter. Zum Zeitpunkt des oben zitierten Briefs hatten die beiden Jüdinnen die Deportation ins südfranzösische Lager Gurs6 und ihre Befreiung daraus durch eine beispielhafte Initiative der eigenen Familie bereits hinter sich und lebten nun zusammen mit Nathan Wolf in Stein am Rhein. In welchem Ausmaß die beiden Kinder als (nach Naziterminologie) ‚Mischlinge ersten Grades‘ bedroht waren, war keinem so recht klar, aber dass die Sorge um ihre Kinder der Mutter keine Ruhe ließ und zur dramatischen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes beitrug, steht außer Frage.7 Im Kontext dieser hier nur grob skizzierten historischen Situation entsteht Nathan Wolfs Brief, der zunächst und vor allem eines ist: wichtigstes
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„Vorbereitung der Auswanderung“. So enthält die am 4. Juni 1941 erneuerte ToleranzBewilligung den zusätzlichen Passus: „Der Obgenannte hat seine Ausreisebemühungen ganz energisch zu betreiben und ist gehalten, der eidgenössischen Fremdenpolizei bis 15. Juli 1941 einen ausführlichen Bericht über den Stand seiner Auswanderungsbemühungen zu erstatten.“ Staatsarchiv Schaffhausen, Akte: Flüchtlinge B (Nathan Wolf). Hannelore König, die Tochter Nathan Wolfs, erinnert sich: „Meine Eltern waren eigentlich beide nicht fromm. Die jüdische Religion war mehr eine Tradition. […] Wir haben alle Feste gefeiert, alle jüdischen und alle christlichen. […] Wir waren, so habe ich es jedenfalls immer empfunden, eine offene Familie. […] Allerdings gab es diese religiösen ‚Mischehen‘ bei uns erst in der Generation meines Vaters, in der Generation der Großeltern wäre das jedenfalls auf dem Dorf unmöglich gewesen.“ Vgl. König/Bosch: Interview (Anm. 1), S. 251 f. Die Deportation der badischen und pfälzischen Juden ins südfranzösische Konzentrationslager Gurs war am 22. Oktober 1940 erfolgt. (Vgl. ebd., S. 288 ff.) Noch eine Woche vor ihrem Tod im September 1942 schreibt Auguste Wolf an ihre Schwester Elly Neuhaus: „Meine große Sorge ist Gert, und dass es den Kindern vielleicht einmal so gehen könnte wie Großmutter und Selma. Ich habe halt zu viel Sorgen. Dass die [gemeint sind die Nationalsozialisten, AO] auch keine Ruhe geben und [ihnen] immer aufs neue Bestimmungen einfallen. Es würde doch wirklich an allem genug sein.“ Alle Zitate aus der unveröffentlichten Familienkorrespondenz nach den Originalmanuskripten. Für das großzügig gewährte Recht zur Einsichtnahme in diese privaten Dokumente danke ich herzlich Dr. Hannelore König (Steinenbronn) und Dr. Gert Wolf (Wangen am See).
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verbliebenes Mittel, Nähe und Verbindung zu den Liebsten in der nur wenige Kilometer entfernten Heimat herzustellen. Knapp sechs Kilometer gibt der Routenplaner heute als Distanz zwischen dem schweizerischen Grenzort Stein am Rhein und Wangen am Untersee an und errechnet grade einmal acht Minuten, um die Strecke mit dem Auto zu überwinden. Schier unüberbrückbar war diese Distanz für die Mitglieder der Familie Wolf vor siebzig Jahren. Allerdings war klar, dass Nathan Wolf, der sich zeitlebens als Akteur der eigenen Geschichte begriffen hatte, auch jetzt Mittel und Wege finden würde, seine Kinder wenigstens zu sehen. Schriftlich überliefert wie auch im Gedächtnis der Tochter Hannelore König lebhaft präsent ist das Ritual, das nach Nathan Wolfs Flucht bis zum Sommer 1943 an jedem Sommersonntag stattfand: Da bestieg der Vater das Kursschiff in Stein am Rhein, um damit nach Steckborn (Schweiz) zu reisen. Dort verließ er das Schiff für einen kurzen Aufenthalt, um später auf gleichem Wege wieder zurückzukehren. Unterwegs passierte das Schiff Wangen, das an jener Stelle des Untersees liegt, wo der hindurchströmende Rhein allmählich wieder die Gestalt eines Flusses annimmt, die Ufer also nah aneinander rücken. Keine 1000 m sind es zwischen dem Seegrundstück der Familie Wolf, dem so genannten Horn, und dem gegenüberliegenden Schweizer Ufer. Hier, am Horn, hatten die beiden Kinder zu stehen, auf die Vorbeifahrt des Vaters zu warten und ihm zu winken, eine je öfter, desto weniger geliebte Übung in Geduld und Wiederholung einer wenig kindgerechten, eher virtuellen Begegnung. Hannelore König erinnert sich: Mein Bruder und ich sind dann ans Horn gegangen, oder, wo man sich noch viel näher gesehen hat, nach Stiegen runter, denn da fuhr das Schiff ganz nah vorbei. Die Schweizer Schiffe verkehrten während des ganzen Krieges, aber sie haben nur noch in der Schweiz angelandet. Da stand dann mein Vater und hat gewinkt und wir haben auch gewinkt. Aber ich weiß aus meinem Tagebuch aus dieser Zeit, dass wir das nicht ausstehen konnten. Erstens wollten wir am Sonntagmittag machen, was wir wollten und nicht immer auf die Uhr schauen: Jetzt kommt das Schiff, jetzt müssen wir wieder an den See runter und winken, damit mein Vater uns sieht. Wir fanden das als Kinder eine sehr lästige Sache. Nun war’s natürlich so: Mein Vater hat sich um uns Sorgen gemacht und wollte uns sehen, während wir uns um ihn keine Sorgen gemacht haben.8
Wie viel dem Vater diese für die Kinder „eher lästige Pflicht“9 bedeutet hat und wie enttäuscht er war, wenn ein Hindernis die ersehnte Begegnung verhinderte, davon berichtet der oben zitierte Brief. Wut und Enttäuschung des vergebens Wartenden entladen sich über dem armen
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König/Bosch: Interview (Anm. 1), S. 283 f. Ebd., S. 284.
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Dienstmädchen, dem „alefänzigen10 Stefanele“ (S. 269), das offensichtlich in seiner Not gewagt hatte, stellvertretend für die Kinder zu winken und damit auf wenig Gegenliebe beim ehemaligen Dienstherrn gestoßen war. Möglichkeiten der Begegnung: Neben dem flüchtigen Winken mit einem Taschentuch während der unaufhaltsamen Vorbeifahrt des Schiffes hatte der Vater zunächst auch kleine Treffen mit den Kindern am Grenzübergang von Stein am Rhein verabredet – offensichtlich gingen diese Begegnungen aber über die Kräfte der Kinder hinaus. Davon berichtet ein Brief der Tochter Hannelore am 4. Januar 1941: Lieber Pappi, du schriebst neulich, warum wir nicht an den Zoll gekommen wären. Inzwischen hast Du es ja erfahren. Und nun meinst Du, wir sollten am Montag kommen. Nun haben wir ja eigentlich am Zoll gar nichts mehr zu erledigen und da wir doch kein Wort miteinander sprechen dürfen, so halte ich es für besser, wenn wir nicht kommen. Du weisst, wie schrecklich es das letzte mal war, als wir so weit auseinander stehen mussten. Du denkst jetzt bestimmt, wir würden keinen Wert drauf legen, Dich zu sehen. Du weisst gar nicht, wie gern ich Dich mal wieder sehen möchte, aber nicht unter diesen Umständen, wenn einen alles anstarrt. Hoffentlich bist Du nun nicht böse, Du bist bestimmt sehr enttäuscht. Wenn Du nur den Brief schneller bekämest. 9.1.1941 Jetzt bin ich also doch gegangen, es war mir einfach nicht wohl, wenn ich dachte, dass Du umsonst kämest. Herr Mühlhauser11 sagte, es sei grundsätzlich verboten, miteinander zu sprechen, ausser wenn man eine besondere Genehmigung hat. Aber nun haben wir uns doch wenigstens gesehen. Ich finde, dass Du ganz gut aussiehst. Ich hätte Dir so gern mehr über Mutti gesagt, sie schrieb heute, sie hätte etwas zugenommen. Auf dem Hinweg dachte ich mir eine ganze Rede aus, die ich zu dem Grenzer sagen wollte. Ich war so aufgeregt und zapplig, dass ich ab und zu gar keine Luft mehr bekam. Als ich dann vor dem Grenzer stand, hatte ich natürlich alles wieder vergessen und sagte bloss ein paar Worte. Schade, dass Du dein Päckle wieder mitnehmen musstest, mir war es allerdings lieber so. Denn es wird ja wohl die Scherereien am Zoll gar nicht wert gewesen sein. Ich bin jetzt doch recht froh, dass ich gegangen bin. Gert wollte nicht mit, es war ihm das letzte mal so schrecklich, dass er sagte, er ginge nie mehr so wohin. Das ist ja auch ganz verständlich.12
So bleibt der Brief, um die Distanz zwischen den unfreiwillig Getrennten zu überwinden, und während der Kriegsjahre spinnen alle Beteiligten mit am dichten Netz der Korrespondenz13 als dem einzig möglichen Versuch,
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Alemannisch für widerspenstig, trotzig, eigensinnig. Vorsteher des Zollamts Öhningen-Stein Angesichts der schweren Erkrankung der Mutter, die mehrwöchige Sanatoriumsaufenthalte in immer engerer Folge erfordert, wächst die fünfzehnjährige Tochter rasch in die Rolle der Ansprechpartnerin vor Ort in Wangen hinein. Längst nicht alle dieser Briefe sind erhalten; den Löwenanteil der überlieferten Korrespondenz hat Nathan Wolf verfasst, für den nach dem Tod seiner Frau im
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die persönliche Begegnung zu ersetzen. Da dies zwangsläufig ein unbefriedigendes Unterfangen bleibt, erzählt jeder Brief neben seinem eigentlichen Inhalt immer auch die Geschichte des Verlusts. „Einzig in meiner Liebe zu Dir habe ich den Lohn gefunden, in Dir u. den Kindern, u. dass mir das Schicksal auch noch die Trennung von Euch auferlegt, das ist fast mehr als ein Mensch zu ertragen vermag“ (S. 272), seufzt Nathan Wolf, der als Arzt weiß, wie schlecht es um seine Frau steht. Auch dieser Brief erreicht sie nicht zuhause, sondern im Luftkurort St. Blasien, wo Gustel Wolf schon seit mehreren Wochen in einer Pension lebt, um sich einer Liegekur zu unterziehen. Dafür, dass sie angesichts des bevorstehenden Pfingstfestes nach Wangen zurückkehren und mit den Kindern zusammen sein möchte, äußert ihr Mann Verständnis, um dann sogleich besorgte Anweisungen zu geben, wie sie daheim am besten auf sich achten könne („Nur um das Eine bitte ich Dich, mindestens 4 Wochen musst Du wenigstens 4 Stunden am Tag noch liegen, 2½ vormittags und 1–1½ am Nachmittag“; S. 272). Nathan Wolf hat einen ‚Alltagsbrief‘ geschrieben, dessen eigentliches Anliegen die Begegnung und das Gespräch mit seinen Liebsten ist, die er wohl gelegentlich von Ferne sehen, aber weder berühren noch sprechen kann. Wer solch einen Brief verstehen möchte, braucht weniger interpretatorisches Fingerspitzengefühl als möglichst gründliche Kenntnisse der privaten und historischen Begleitumstände. Auch sollte er die Skrupel beherrschen können, die ihn als ungebetenen Leser eines derart privaten Dokumentes überfallen könnten. Immerhin handelt es sich bei diesem Text nicht nur um ein Zeitzeugnis ersten Ranges, sondern auch um das intime Bekenntnis eines großen Liebenden. Lesen wir den Brief, der assoziativ mehrere Erzähl- und Gedankenstränge ineinander verknüpft, also genau: Da gibt es das Faktische, das, was passiert ist oder möglichst noch passieren soll und was folglich zwischen den Partnern besprochen und geregelt werden muss. Als aktuelles, fast schon anekdotisches Erzähl-Element bringt der Brief die Geschichte vom „alefänzigen“ Stefanele, die doch nur die Sehnsucht des Schreibers nach seinen Kindern maskiert. Konkreten Tatsachen-Bezug haben auch die beiden ‚kulinarischen‘ Passagen, in denen es ums Essen geht: Was für ein Glück, dass man jetzt in Kriegszeiten täglich immer noch satt wird; was für ein Unglück, dass
____________ September 1942 und der Verbringung der Kinder nach Stuttgart-Obertürkheim die Möglichkeit des Briefwechsels noch existenzieller wurde. Nachdem den Jugendlichen der weitere Schulbesuch untersagt worden war, mussten sie auf Weisung der Gestapo den Zollgrenzbezirk verlassen; in Obertürkheim arbeiteten sie seit dem Sommer 1943 als Knecht und Magd bei einem Weinbauern und überlebten so den Krieg.
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beide Briefpartner die gemeinsame Mahlzeit, die einst zu den zentralen Elementen ihres Familienlebens gehörte, seit langem schon und auf ungewisse Zeit entbehren müssen. Dass es dem anderen gut geschmeckt hat, mag da wenigstens ein kleiner Trost sein. Der Brief des im Exil lebenden Arztes ist zugleich Zeugnis eines genau beobachtenden und wachen Zeitgenossen, der die Gefährdung der Juden traurig kommentiert und das, was ihnen widerfährt, auf die Einzelschicksale in Familie und Bekanntenkreis bezieht. Stellvertretend sei hier nur die Schwester Eugenie erwähnt, die durch ihre Übersiedlung nach Palästina „ganz aus unserem Gesichtskreis getreten ist“ (S. 270), ein Umstand, der zwar für ihre physische Rettung gesorgt hat, für die Zurückgebliebenen aber nur im Vergessen zu bewältigen ist: „glücklicherweise hat sie die lb. Mutter fast vergessen“ (S. 270). Während Nathan Wolf mit dem Schiff am heimatlichen Ufer entlangfährt, registriert er, was sich dort tut, wer arbeitet, wer spazieren geht, wer Bienen züchtet – es ist der so genaue wie gründliche Blick des Vertriebenen, der nicht nur den Verlust der liebsten Menschen, sondern auch den der Heimat zu verkraften hat. ‚Heimat‘ ist ein emotional aufgeladener Begriff für Nathan Wolf, den hochdekorierten Frontoffizier des Ersten Weltkriegs, der für sein Vaterland damals mit solchem Einsatz kämpfte, dass das leidenschaftlich ersehnte Eiserne Kreuz nur zum ersten von vielen Ehrenzeichen wurde. Seine Kriegserlebnisse hat er in mehreren Tagebüchern festgehalten, die seinen glühenden Patriotismus eindrucksvoll dokumentieren; kein Wunder, dass er jetzt, mehr als 25 Jahre später, in seinem Brief den Rausschmiss aus der bedingungslos geliebten Heimat beklagt: „es ist, als ob ich nie einen Beruf gehabt hätte, nie ein Vaterland, Beide wollen von mir nichts mehr wissen, Beiden war ich mit ganzem Herzen verbunden“ (S. 271). Der emotional dramatische Verlust des Vaterlandes wird kompensiert durch die innige Beziehung zu seiner Frau; so wird die Liebe überhöht zu dem, was in seinem Leben einzig noch zählt und immer nur gezählt haben soll – mit all der Leidenschaft, zu der Nathan Wolf immer wieder fähig gewesen ist: Aber am liebsten verweile ich in unsrer Zeit, die strahlend über all’ die Jahre hinausschaut, die ich ohne Dich verbracht habe. Erst bei Dir fängt es an, licht u. schön u. lebensvoll zu werden, u. wenn ich nicht gerade zurückschaue, so ist es, als hätte mein Leben eigentlich erst mit Dir begonnen, vorher, das war nur die Zeit, da ich mich auf m. Beruf vorbereitete u. meine Dienste u. mein Leben dem Vaterland weihte. (S. 271)
„Von all’ dem ist nichts mehr geblieben“ (S. 271), konstatiert der zutiefst enttäuschte Patriot ernüchtert, der weiterhin – es mag schon paradox anmuten – unverdrossen von den spannenden Tagen des Ersten Welt-
Nathan Wolf an Auguste Wolf, 23.5.1941
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kriegs träumt. In zwei langen Passagen erzählt der Brief von seinen exotischen Erlebnissen als Arzt im Garde-Pionier-Bataillon 701, dem sogenannten Palästina-Korps. In Kriegszeiten scheint sich ihm die Welt in ein großes Bilderbuch zu verwandeln, in dem der Soldat besonders gut spazieren gehen, weit herumkommen und viel erleben kann. Auf diesen Abenteuer-Aspekt des Krieges verweist auch der einleitende Satz der zweiten Passage, die sich seinen Kriegserlebnissen widmet: „Wer jetzt als Soldat das Glück hat, herumzukommen, bei einer fliegenden Division zu sein, lernt ganz Europa u. halb Afrika u. Asien kennen“ (S. 271) – und tatsächlich, da ist eine gehörige Portion Wehmut im Spiel; denn dieses Mal ist er, der tapfere Soldat und Arzt, den die Kriegserlebnisse der Jahre 1914 bis 1918 entscheidend prägten, ausgeschlossen. Dass der Erste Weltkrieg in der Wahrnehmung ihres Vaters vor allem ein Abenteuer gewesen ist, daran erinnert sich auch Hannelore König: „Diese Zeit im Orient blieb für ihn das Abenteuer seines Lebens. Es war zwar ein Krieg, aber auch eine Entdeckungsreise.“14 Eine Entdeckungsreise, die schon bald ins Erzähl-Repertoire des Vaters eingeht und dort von seinen Kindern immer wieder abgerufen wird: Wir konnten uns als Kinder gar nicht satt hören an den Geschichten aus dem Orient. In Jerusalem war mein Vater auch, da gab es ein schönes Foto, wie er vor dem Jaffator in weißer Uniform auf einem Pferd sitzt.15
In den Erzählungen tritt das pittoreske Element rasch in den Vordergrund, während die zahlreichen Leichen im Kriegstagebuch wie auch in diesem Brief als Kollateralschäden wahrgenommen werden. Natürlich kennt auch Gustel Wolf all diese Geschichten bis ins Detail; und dass es so ist, wird sogar ausdrücklich bekräftigt: „Die Geschichte vom Erzbischof von Damaskus […] kennst Du ja“ (S. 271). Wenn das so ist, wenn es also nicht darum geht, Neuigkeiten mitzuteilen, dann hat das Erzählte hier eine andere Funktion. Mit der Erzählung des längst Bekannten knüpft der Briefschreiber an ein Familien-Ritual an, erinnert vergangene Zeiten und erlebte Gemeinschaft, vergewissert sich seiner Zuhörerin/Leserin auf altvertraute, liebgewonnene Weise: ‚Ich gehöre zu dir, du gehörst zu mir, wir verbringen unsere Zeit miteinander – ich schreibend, du lesend‘; das ist die ganze Botschaft und der eigentliche Inhalt dieser Text-Passagen. So haben wohl auch die Zeilen, die sich der Schilderung und innigen Betrachtung der aufblühenden Natur widmen, vor allem den Zweck, in unmittelbare Beziehung zur geliebten Partnerin gesetzt zu werden:
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König/Bosch: Interview (Anm. 1), S. 248. Ebd.
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Anne Overlack
Die wunderbaren Apfelblüten schienen mir gestern wie eine Offenbarung, es kann kaum etwas Schöneres Lieblicheres geben als die halbgeöffneten Blüten, das Rot ist ja besonders zart u. jungfräulich das Rosa, hoffentlich kannst Du es daheim noch genießen, daran dachte ich natürlich wie bei allem Schönen, was ich sehe. (S. 269.)
Selbst die heute noch sichtbare Beschaffenheit des Briefes macht deutlich, wie sehr es dem Autor um eine Fortsetzung der inneren Verbindung ging. Nathan Wolf hat seinen Brief mit winzig kleiner, freilich überaus klarer und leicht zu entziffernder Handschrift auf zwei beidseitig beschriebene DIN A5 Blätter gesetzt. Neben einem schmalen Rand auf der linken Seite der Briefbögen gibt es eigentlich keinen unbeschriebenen Fleck – im Gegenteil: bis zur allerletzten Zeile kostet der Briefschreiber die vergegenwärtigte Nähe seiner Partnerin aus, um seine Unterschrift dann mikroskopisch klein aufs letzte Fitzelchen des Bogens zu setzen. ‚Ich rede mit dir, solange es dafür Zeit und Raum gibt‘, darf man dieses Schreibverhalten übersetzen. Diese emotionale Lesart ist nicht die einzig mögliche – für das ökonomische Verhalten des Schreibenden könnte man ebenso gut auch den Papiermangel in Kriegszeiten verantwortlich machen. Und die Tatsache, dass er so ausführlich und mäandernd erzählt, mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass der Arzt aufgrund seiner von den Schweizer Behörden erzwungenen Arbeitslosigkeit über sehr viel Zeit verfügte. Sein Brief war unter anderem auch eine Selbstbeschäftigung des Einsamen. In seiner Mischung aus Alltagsschilderung, Emotionalität, Erinnerung und Reflexion variiert der lange Brief-Monolog Nathan Wolfs vor allem ein Thema: ‚Ich liebe dich, ich brauche dich, ich sorge mich um dich …‘ und beschwört damit die Sehnsucht nach der geliebten Gefährtin. Vielleicht hat der Schreibende tief im Innersten geahnt, dass seine Liebe auf dieser Erde keine Erfüllung in der direkten Begegnung mehr finden würde: „Ich will nicht mit dem Schicksal hadern, sondern lieber mit Geduld u. Vertrauen auf eine höhere als Menschenmacht ausharren, u. wenn ich mir damit nur das Glück der Kinder verdiente“ (S. 272).16
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Während er seine Frau vor ihrem Tod im September 1942 nicht mehr wiedersehen sollte, überlebte die Restfamilie die Jahre der Verfolgung. Unmittelbar nach Kriegsende kehrte Nathan Wolf nach Wangen zurück, traf hier mit seinen Kindern Hannelore und Gert zusammen und nahm seine Tätigkeit als praktischer Arzt und Geburtshelfer wieder auf. Da er politisch völlig unbelastet war, wurde er rasch zum Ansprechpartner der französischen Besatzer und als kommissarischer Bürgermeister eingesetzt. Über lange Jahre hinweg war er anschließend als Gemeinderat tätig. Er starb hoch geehrt im Dezember 1970 und liegt als ‚der letzte Jude des Dorfes‘ auf dem jüdischen Friedhof in Wangen begraben. Hannelore Wolf (verheiratete König) studierte Jura und war später als erste Oberstaatsanwältin im Landesteil Württemberg tätig. Gert Wolf wurde Zahnarzt und lebt noch heute in Wangen am Untersee.
Horst Rocholl an Gisela Rocholl, 9. September 1942 den 9.9.1942 16.30 Geliebte Gis! Die Schlacht geht weiter. Gestern gelang in sehr hartem Kampf der Durchbruch an den südlichen Stadtrand bis zum Fluß. Heute haben die Roten versucht, anzugreifen, sind aber von Infanterie und Artillerie zusammengeschossen worden. Wir sind mit unserem Gefechtsstand vorgezogen, vorbei an vernichteter, schwerer russischer Flak, einer abgeschossenen Batterie 12,5 cm, zerstörten Paks und zahlreichen Zugmaschinen. Beide Luftwaffen sind wieder sehr aktiv. Nachts bin ich mehrfach in der Decke in’s Deckungsloch gerollt. Passiert ist nichts, aber der Schlaf war etwas unruhig. Auch der Tag brachte eisenreiche Luft. Gestern abend fand ich in einem zerschossenen, völlig verlassenen Geschäft 4 junge, herrliche Puten, von denen zwei heute bei uns zu Bouillon verarbeitet wurden. Den Rest bekam die Sanitätskompanie, die eben den an Magengeschwür leidenden Div.-Arzt bei sich hat. Mag es ihm gut bekommen! Er ist ein liebenswürdiger Mann, alter Praktiker. Gestern wurde unser General verwundet. Es ist bei ihm das 7. Mal. Das 6. Mal war vor einigen Tagen. Hoffentlich geht es gut mit ihm. Er ist ein Mordslöwe, ein Draufgänger wie ein Leutnant von 1914 oder 1939. Eben orgelt er wieder mit seiner Stalinorgel. Dann krepiert rechts und links und überall etwas. Es passiert dabei trotz Riesenlärms relativ wenig, sodaß man sich immer wieder wundert. Es ist das Erfreulichste am ganzen Krieg, dass nicht jede Kugel trifft, sonst wäre wohl die Erde schon menschenleer. Die aber treffen, treffen leider immer unsere besten Soldaten und Offiziere, nur den Bomben ist das gleichgültig und oft den Granaten. Einen lieben, ziemlich müden Kuß, Dein oller Paps Küß alle 5 Kinder! Unserer Stukas haben eben den Ort P. in zahlreichen Wellen angegriffen. Er wird dem Erdboden gleich gemacht, um dort den sehr starken Widerstand zu brechen. Als Antwort orgelte er wieder mal ein wenig. Das macht er eben jeden Tag ein paar Mal.
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Horst Rocholl an Gisela Rocholl, 9.9.1942
Uns jagt eine eigene Waffe alle halbe Stunde einen Todesschrecken ein, wenn sie plötzlich […]1 losgeschossen wird. Sie steht 250 m von uns. Jedes Mal, wenn sie losgehen, fahren wir zusammen. So wahnsinnig ist das Geräusch. Eben habe ich ein malariakrankes Kind behandelt. Es war 12 Tage lang krank und – – – Eben schossen sie gleichzeitig 24 von den fiesen Dingern ab. Die werden drüben große Freude auslösen, wenn sie in das Nest P. hineinhauen. Da können morgen die rumänischen Kameraden stürmen. Wir waren im übrigen aufmerksam und haben diesmal den üblichen Schrecken nicht bekommen. Bei der zweiten Gruppe haben wir uns die Sache mal genauestens angesehen. – Stuka zu Fuß nennen unsere Soldaten diese Dinger. Dabei sind dies noch die harmloseren. Die Stalinorgel ist in den Schatten gestellt. – So, jetzt wieder zum malariakranken Kind. Es ist zum Skelett abgemagert. Ich habe ihm Atebrin gegeben. Hoffentlich hilft das noch. Daß mir die Mutter 6 Eier gab, war mir beinahe unangenehm. Ich habe sie heute abend dem Kommandeur, dem Adjutanten und mir machen lassen. Du darfst nicht glauben, dass unsere Soldaten bei der Härte des Kampfes weich werden. Sie haben ja hier lange genug mit eigenen Augen gesehen, warum wir kämpfen und siegen müssen. Der Anschauungsunterricht über die Segnungen des Bolschewismus genügt uns vollkommen. Was wir von den Rumänen wissen, aus der Zeit, wo die Russen in die Bukowina einfielen, zeigt uns, wie es den vom Bolschewismus besiegten geht. Diese Erkenntnis macht jeden zu jedem Opfer fähig. Am besten sind die kämpfenden Soldaten, aber auch die Trosse arbeiten hervorragend, sodaß immer alles da ist, was wir brauchen. Niemals fehlt es an Munition u. Betriebsstoff, immer kommt die Küche und die kalte Verpflegung an, sogar mit der Post klappt es jetzt gut, nachdem es mal eine zeitlang garnicht funktionierte. Rundrum schießen unsere Batterien, leichte und schwere. – Eben orgeln sie wieder. Noch einen lieben, langen Kuß Dein Paps. Jens Ebert (Hg.): Ein Arzt in Stalingrad. Feldpostbriefe und Gefangenenpost des Regimentsarztes Horst Rocholl 1942–1953. Göttingen 2009. S. 231–233.
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Unleserliche Stelle.
Jens Ebert
Feldpostbrief von Dr. Horst Rocholl, geschrieben am 9. September 1942 vor Stalingrad Der Erste Weltkrieg hat einen maßgeblichen Anteil daran, dass sich der Brief im 20. Jahrhundert als ein Massenkommunikationsmittel etablierte. Im Krieg schreibt jeder; Massenkrieg führt zur Kommunikation von Volksmassen. Im Ersten Weltkrieg wurden, so die Schätzungen, ca. 10 Milliarden deutsche Feldpostsendungen befördert, bedeutend mehr als bei jeder anderen Nation. Perfektioniert wurde die Feldpostkommunikation unter der NS-Diktatur und im Zweiten Weltkrieg. Von 1939 bis 1945 wurden von der Deutschen Feldpost gar geschätzte 40 Milliarden Postsendungen befördert – soviel wie nie vorher oder nachher in der Menschheitsgeschichte.1 Doch der unbestreitbare zivilisatorische und sozio-kulturelle Fortschritt intensiver schriftlicher Kommunikation und damit einhergehender zunehmender kommunikativer Kompetenz war janusköpfig. Er vollzog sich in einer apokalyptischen Welt des Elends mit einer unvorstellbaren Anzahl von Kriegstoten und materiellen sowie moralischen Verwüstungen. Obwohl der Feldpostbrief eine so enorme quantitative Bedeutung in der Geschichte des Briefes besitzt, ist er in der Forschung lange Zeit weitgehend vernachlässigt worden. Gerade weil es sich um ein Alltagsdokument der Massenkommunikation handelt, scheinen ihm die Insignien ästhetischen, philosophischen oder gar literarischen Niveaus zu fehlen. Und doch ist er ein wichtiges Kulturzeugnis – und eine unverzichtbare Quelle für die historische Forschung zudem. Die wissenschaftliche Behandlung des Feldpostbriefs hat lange in krassem Gegensatz zu seiner medialen Präsenz gestanden. Dies hat sich seit dem Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts geändert.2 Feldpostbriefe sind Texte privater Kommunikation, die doch immer wieder auch Objekte gesellschaftlichen Interesses und medialer Verbreitung waren. Die in den Feldpostbriefen transportierte Welterfahrung ist zunächst subjektiv und höchst unterschiedlich formuliert. Bei aller äußeren wie ______________ 1 2
Vgl. Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen (Hg.): Handwörterbuch des Postwesens. Berlin 1971. Vgl. Ortwin Buchbender u. Reinhold Sterz (Hg.): Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939–1945. München 1982; Martin Humburg: Das Gesicht des Krieges: Feldpostbriefe von Wehrmachtssoldaten aus der Sowjetunion 1941–1944. Opladen 1998; Klaus Latzel: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945. Paderborn 1998.
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inneren Uniformierung, die Soldaten bleiben Individuen, ihre Feldpostbriefe spiegeln den Krieg in unterschiedlichsten Farben. Das vom Krieg entworfene Bild hängt in außerordentlichem Maße vom Bildungsgrad des Schreibers ab, ebenso von Faktoren wie dem Alter, der politischen und/oder konfessionellen Bindung, der regionalen Prägung, aber natürlich auch dem Intellekt. Trotz der Einflüsse von Zensur und Selbstzensur, die aber nicht überzubewerten sind, wie zahlreiche Quellen zeigen, kann man dem in den Briefen des Zweiten Weltkriegs Vermittelten einen hohen subjektiven Wahrheitswert zugestehen. Wenn jemand systemkonform schrieb, kann man aus heutiger Sicht davon ausgehen, dass dies der Haltung des Schreibers entsprach, denn niemand konnte ihn dazu zwingen, entsprechende Offenbarungen in der privaten Kommunikation zu tätigen. Wenn sich jemand gegen das System äußerte, kann man diese Aussagen auch ernst nehmen, denn er übte Kritik angesichts der Gefahr erwischt zu werden. Nur wenn jemand nichts Entsprechendes schreibt, ist dies nicht zu interpretieren. Tatsächlich finden sich viele systemkonforme und viele systemkritische Passagen in den Briefen, die sich interpretieren lassen. Der Inhalt wie auch das, was nicht geschrieben wird, sind eher dominiert vom kommunikativen Bezug zum Adressaten.3
Denn das, was man der eigenen Mutter, den Eltern, der Ehefrau oder Freundin schrieb, war oft etwas anderes als das, was man etwa Freunden, Kameraden oder Geschwistern anvertraute. Wer heute etwas über den Krieg aus den Briefen erfahren will, sieht sich im ersten Moment nur allzu oft enttäuscht. Das Lesen der Berichte macht manchmal hilflos. Art und Weise der Mitteilungen und das Fehlen und Glätten bestimmter Informationen wird meist mit Zensur und Selbstzensur erklärt, doch das greift zu kurz. Vieles wird bewusst, aber noch mehr unbewusst verdrängt. Vieles wollten sich die Soldaten selbst nicht klar machen und scheuten deshalb, es aufzuschreiben. Vieles steht zwischen den Zeilen. Auch Formen der Selbstinszenierung spielen hier oftmals hinein. Der hier vorgestellte Brief wurde zu Beginn der deutschen Offensive auf Stalingrad geschrieben. Bereits einige Tage vorher, am 23. August 1942, hatten erstmals deutsche Truppen im Norden der Stadt die Wolga erreicht. Wenige Tage später begann der lang währende, zermürbende Häuserkampf. Schließlich gelang der Roten Armee am 19. November die Einkesselung der Deutschen und der mit ihnen verbündeten Truppen, die Anfang Februar 1943 mit dem Untergang der 6. deutschen Armee endete. Von den 300.000 deutschen und verbündeten Soldaten gingen ca. 90.000 ______________ 3
Clemens Schwender: Formale und inhaltliche Erschließung von Ego-Dokumenten aus dem Zweiten Weltkrieg – Erfahrungen aus der Feldpostsammlung Berlin. In: Manfred Seifert u. Sönke Friedreich (Hg.): Alltagsleben biografisch erfassen. Zur Konzeption lebens-geschichtlich orientierter Forschung. Dresden 2009. S. 79–92.
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Überlebende in die Gefangenschaft, die jedoch die meisten aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes und der monatelangen Auszehrung nicht überstanden. Ungefähr 6.000 von ihnen kehrten in die Heimat zurück, darunter der Verfasser dieses Briefes, der Regimentsarzt Dr. Horst Rocholl. Er wurde 1908 als Sohn eines Rechtsanwaltes in Kassel geboren. Nach dem Abitur 1927 studierte er Medizin, krönte 1934 seine Ausbildung mit dem Doktorhut und praktizierte als niedergelassener Arzt bis zum Kriegsausbruch 1939. Der Vater, ursprünglich Monarchist, sympathisierte nach dem Ersten Weltkrieg in Ermangelung eines Monarchen mit der Deutschen Demokratischen Partei, wurde dann aber 1932 Mitglied der NSDAP und der Reiter-SA. Ein Jahr später wird auch der Sohn Nationalsozialist. Horst Rocholl heiratet 1932, zwei Kinder kommen zur Welt. 1936 lässt er sich im hessischen Städtchen Waldkappel als Landarzt nieder und wird Ortsgruppenleiter der NSDAP. Doch bald schon bittet Ehefrau Maria um die Scheidung und geht als Stewardess zur See. Rocholl bleibt als allein erziehender Vater zurück. Auch die Funktion des Ortsgruppenleiters scheint ihm Unbehagen zu bereiten. Als man ihm versagt, sie abzugeben, zieht er kurz entschlossen in einen anderen Ort. Noch kurz vor Kriegsausbruch findet er ein neues Glück mit der zweiten Ehefrau Gisela und der Geburt der gemeinsamen Tochter Ute, der im Krieg zwei Söhne folgen werden. Horst Rocholl schrieb während des Krieges mehrmals pro Woche an seine Frau, zeitweise fast täglich. Dies ist sehr viel häufiger als der Durchschnitt, doch generell war das Briefeschreiben und -lesen, nach dem Essen, die bevorzugte ‚Freizeitbeschäftigung‘ der Soldaten. Von Horst Rocholl sind mehrere Hundert Feldpostbriefe und Karten aus der Gefangenschaft erhalten. Sie lagern z. T. im Bundesarchiv,4 z. T. bei der Familie. Der wichtigste Teil der Briefe wurde 2009 veröffentlicht.5 Die Bedeutung eines funktionierenden Postverkehrs als psychologisch stabilisierende Brücke zur Heimat und Familie wurde von den NS-Machthabern früh erkannt. Daher auch ging die Deutsche Feldpost, anders als das kaiserliche Heer im Ersten Weltkrieg, nicht unvorbereitet in den Krieg. Bereits seit 1936 wurde die Verteilung von sich bewegenden Einheiten in Manövern geprobt. Wichtigste logistische Neuerung war die Einführung von Feldpostnummern. ______________ 4 5
Stiftung Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv. Signatur: NY 4554. Vgl. Jens Ebert (Hg.): Ein Arzt in Stalingrad. Feldpostbriefe und Gefangenenpost des Regimentsarztes Horst Rocholl. Göttingen 2009.
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Die Post ist so wichtig, dass sie selbst zum Sujet des Briefverkehrs wird. Immer wieder wird berichtet und festgehalten, wie lange Briefe und andere Postsendungen unterwegs sind. Seit dem Frühjahr 1942 wird schrittweise die Luftfeldpost aufgebaut. Die Feldpost war generell gebührenfrei, die Beförderung mit dem Flugzeug aber nur mit einer speziellen Postmarke möglich. Auch Rocholl berichtet regelmäßig über das Funktionieren oder eben Ausbleiben der Feldpost. Trotz der enormen Transportschwierigkeiten und der großen Entfernungen kann er im September 1942 zur Versorgung mit allen Arten von ‚Lebensmitteln‘ befriedigt feststellen: „Niemals fehlt es an Munition u. Betriebsstoff, immer kommt die Küche und die kalte Verpflegung an, sogar mit der Post klappt es jetzt gut, nachdem es mal eine zeitlang garnicht funktionierte.“ (S. 284.) Da Rocholl fast täglich schreibt, kann er auf eine Nummerierung, wie bei vielen anderen Wehrmachtsangehörigen üblich, verzichten, zumal solche Nummerierungen bei den vielen Einflüssen auf die Transportwege nur scheinbar mehr Ordnung in die Korrespondenzen bringen, da sie keinen Einfluss auf die reale Beförderung hatten. Der vorliegende Brief ist neben dem Datum auch mit der Uhrzeit versehen, was bei Rocholl sehr häufig der Fall ist. Allgemein war das eher selten. Die Soldaten fanden nicht immer Ruhe, einen längeren Brief auch zu beenden, und mussten, bedingt durch militärische und andere Ereignisse, mehrfach ansetzen. Manchmal Stunden, manchmal sogar erst Tage später konnten sie ihre Berichte fortsetzen und dokumentierten das dann. Oft sollte die Angabe der Uhrzeit auch signalisieren, zu welch ungewohnter Stunde (jedenfalls für zivilisierte und zivile Zeiten) man den Brief verfasste. Ungestört sind die Soldaten 1942 beim schnellen Vormarsch auf Stalingrad durch eine staubige Steppenlandschaft fast nie. Nur kurz sind die Zeitspannen, in denen man in Ruhe schreiben kann. Doch auch diese Phasen können unverhofft durch Bomben, Granaten oder Partisanenüberfälle unterbrochen werden. In Stalingrad selbst ist man dann keine Minute mehr sicher, im Häuserkampf gibt es keine Fronten mehr. Nach der Einkesselung gehen mehr und mehr die Ressourcen zur Neige. Von Hunger und Krankheiten geschwächt, kann oftmals nur noch auf Zettel gekritzelt werden. Schreibpapier ist im Krieg oftmals Mangelware. Rocholl ist als Arzt da eher in einer komfortablen, privilegierten Situation, hat immer Papier, Stift und Unterlage zum Schreiben in Reichweite. Doch auch seine Briefe werden im Laufe der Zeit unkonzentrierter und flüchtiger, und das Papier wird schlechter. Die Anrede „geliebte Gis[ela]“ (S. 283) ist bei Rocholl – er ging 1940 zur Wehrmacht – erst ab 1942 in den Briefen zu finden. Vorher benutzt er häufig, wie viele andere Soldaten auch, das Wort ‚Mutti‘. Es ist auffällig, dass viele Ehefrauen von ihren Männern als ‚Mutter‘ in den Feldpostbrie-
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fen angeredet werden. Bei unbekannten Verfassern muss man heute erst länger im Text nachlesen, um zu verstehen, ob wirklich die Mutter oder die Ehefrau mit dieser Anrede gemeint ist. Als mehrdeutiges Pendant zur ‚Mutti‘ unterschreibt Rocholl stets als „Paps“, und das nicht primär, weil sich die Grüße auch an die Kinder richten. Die selteneren Briefe, die nur an die Kinder bzw. an eines von ihnen gerichtet sind, schließt er mit Grüßen von „Vater“ oder „Vater Horst“. Ab 1942 findet sich noch vereinzelt „Mutti“ oder „Gismutti“ bei Rocholl, manchmal, seine Frau ist schwanger, sogar, spaßhaft gemeint, „geliebtes Muttertier“ – eine Anrede, für die er sich nach dem Besuch der Antifa-Lehrgänge in der sowjetischen Gefangenschaft schämen wird: Ich freue mich so darauf, mit Dir zusammen wieder an die Arbeit zu gehen, aber nebeneinander, nicht mehr so, dass Du mir nur eine Gehilfin bist. Du bist keine dumme Mutti u. kein ‚Muttertier‘.6
Rocholls Frauenbild ist, wie sein gesamtes eklektisches Weltbild, eher konservativ. Nicht nur das wird sich in der Gefangenschaft deutlich ändern. Sehr viel häufiger als „geliebte Gis“ aber redet er seine Frau mit „heißgeliebte Gis“ oder „ganz heißgeliebte Gis“ an. Das landläufige ‚liebe‘ verwendet Rocholl nie. Auch wenn Anreden oftmals floskelhaften Charakter tragen, bei Rocholl zeigen sie doch die sehr enge Verbundenheit mit seiner zweiten Frau. Ihre Liebe wird die Schlacht um Stalingrad, den Krieg und die lange Gefangenschaft überdauern und sogar einen politischen Systemwechsel verkraften. In vielen Feldpostbriefen finden sich sehr innige oder überaus private Anreden. Zumeist sind sie Ausdruck des Gefühls der Vereinzelung und nehmen gleichsam beschwörenden Charakter in Krisenzeiten an. Mit solchen Anredeformeln wird versucht, die Trennung zumindest im Brief zu überwinden. Der Verfasser befindet sich am Rande einer Feldschlacht. Gleich nach der Anrede geht er in medias res. Er ist fasziniert vom Geschehen und zeigt sich dadurch als Außenseiter. Als Regimentsarzt gehört er nicht zur kämpfenden Truppe, sondern zu den rückwärtigen Diensten, ist also nur selten an den militärischen Kämpfen beteiligt bzw. kann sie direkt mitverfolgen. Das erklärt seinen enthusiastischen Berichtsstil. Die Beschreibung von Kämpfen und Schlachten begegnet einem in der Feldpost allgemein eher selten. Nur für den Außenstehenden scheint dies paradox: Die Wehrmachtsangehörigen, die regelmäßig an vorderster Front an militärischen Auseinandersetzungen teilnehmen, versuchen, den mörderischen Alltag eher zu verdrängen bzw. ihre Familien damit nicht zu belasten. Das ______________ 6
Horst Rocholl an Gisela Rocholl, 8.12.1946. In: Ebd., S. 310.
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Kämpfen und Töten gehört nicht zu den Alltagserfahrungen des zivilen Lebens, sondern zu den Tabus der europäischen Kultur und wird daher, wenn irgend möglich, ausgeblendet; Wehrmachtsangehörige, die eher selten an Kampfhandlungen beteiligt sind, teilen dies für sie Neue oft detaillierter mit. Die Resultate militärischer Auseinandersetzungen allerdings sieht Rocholl eindrücklicher als jeder Infanterist jeden Tag auf dem Hauptverbandsplatz. Hier wiederum legt er bei Beschreibungen eine ähnliche Reserviertheit an den Tag. Das ‚Alltagsleben‘ im Krieg ist zumeist durch Untätigkeit, Marschieren und Langeweile gekennzeichnet. Die meisten Soldaten berichten von einem Leben im Krieg, indem sie es mit Werten und Erfahrungen aus Friedenszeiten artikulieren. Alles, was in der Gegenwart dem früheren Leben ähnlich erscheint, wird ausführlich beschrieben. Solange der Krieg mit den Werten des Friedens verbunden scheint, wird er durchaus angenommen. Für Rocholl ist die Schlacht eine erfolgreiche soldatische Arbeit. Sie verläuft wie eine medizinische Operation. Nach der Planung werden gezielte Schritte eingeleitet, die vielen Einheiten arbeiten zusammen wie ein Operationsteam, jeder, so scheint es, hat seinen exakten Platz. Eine gelungene Tätigkeit wird gekrönt durch den avisierten Erfolg, die planmäßige Eroberung eines Ortes vor Stalingrad. Faszinierend für den Arzt ist auch die Erfahrung mehr oder weniger funktionierender Massen im Krieg. Anders als den meisten Infanteristen ist ihm die Arbeitswelt der Fabriken mit ihren großen Belegschaften aus der Vorkriegszeit unbekannt. „Am besten sind die kämpfenden Soldaten, aber auch die Trosse arbeiten hervorragend, sodaß immer alles da ist, was wir brauchen.“ (S. 284) Der strapaziöse Vormarsch nach Osten wird schon an sich als herausragende Leistung verstanden. Daraus resultiert oftmals die Erwartung, durch die Strapazen ein Anrecht auf späteres Wohlleben und Glück erworben zu haben. Der Leistungsgedanke der kapitalistischen Arbeitswelt findet hier seine Entsprechung. Geradezu klassisch ist im Brief der mehrfache Wechsel der Beschreibungen zwischen gewalttätigen, friedfertig-ruhigen und auch abenteuerlichen Aspekten des Kriegsalltags. Nach dem Bericht über die Bombardierungen berichtet Rocholl von vier Puten, die ihm als unerwartete schmackhafte ‚Kriegsbeute‘ in die Hände fallen und umgehend seinen Speisezettel und – ganz wichtig, ebenso wie die Eier von der Bäuerin – auch den der Kameraden bereichern. Der Wechsel der Beschreibungen findet sogar seinen Niederschlag im Satzbau. Ein lauter Feuerstoß unterbricht direkt den Satz über die Behandlung des malariakranken Kindes. Diese übergangslosen Erzählungen gegensätzlicher Erfahrungen werden in der Literaturwissenschaft seit dem Schlüsseltext über den Ersten Weltkrieg, dem Roman Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque, als
Horst Rocholl an Gisela Rocholl, 9.9.1942
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Dissonanzeffekt umschrieben, der das Erzählte dramatischer und wirkungsvoller macht.7 Rocholls Beschreibungen gehen über das Berichten weit hinaus. Das, was er hier schreibt, findet sich beispielsweise sehr ähnlich auch im Roman von Remarque, der ja ab 1928 – Rocholls Jugendzeit – eine enorme Breitenwirkung in Deutschland hatte. Die Worte „verlassen[ ]“ und „zerschossen[ ]“ (S. 283) stehen hier für Kriegsromantik, die eventuell an eigene Jugenderinnerungen anknüpft und gleichsam eine Idylle im Bombenhagel darstellt. Unerwartet macht Rocholl ‚Beute‘. Gerade das (gute) Essen hat für die Soldaten im Krieg eine exorbitante Bedeutung und lässt sie viele auch gefährliche Taten vollführen, die im militärischen Sinne völlig bedeutungslos sind. Diese Romantik lässt den Krieg als eher harmloses Abenteuer erscheinen und beruhigt auch die Empfänger solcher Botschaften. Rocholl schreibt, bei zunehmender Verschlechterung der Versorgungslage, an anderer Stelle über die Zubereitung von Speisen und den immer wieder neuen Versuch, etwas Besonderes zu kochen – Hausarbeit also, die viele Soldaten für sich als sinnvolle Tätigkeit im Krieg entdecken – um ihn zu verdrängen. Versorgt werden die Soldaten aus dem Lande, d. h. sie erhalten von der armen Zivilbevölkerung Lebensmittel ohne Gegenleistung – oft nicht freiwillig. Anders bei Rocholl. Er versorgt ohne direkten Auftrag dazu auch regelmäßig Zivilisten. In diesem Brief ist es ein malariakrankes Kind. Allerdings: „Daß mir die Mutter 6 Eier gab, war mir beinahe unangenehm“ (S. 284). Leiden, Verwundungen und Tod sind Tabuzonen, deren Grenzen die Soldaten selten überschreiten. Die Gefahren des Krieges für die eigene Person scheinen oftmals durch, aber nie als wirkliche Lebensgefahr: Beide Luftwaffen sind wieder sehr aktiv. Nachts bin ich mehrfach in der Decke in’s Deckungsloch gerollt. Passiert ist nichts, aber der Schlaf war etwas unruhig. (S. 283)
Kaum ein anderes Thema wird so mit Euphemismen und lapidaren Bemerkungen geschmückt: „Auch der Tag brachte eisenreiche Luft.“ (S. 283) Gerade bei kriegerischen Ereignissen, deren Vermittlung für die Soldaten ungewohnt ist und sie verunsichert, findet sich ein burschikoser, nassforscher Ton: „Eben schossen sie gleichzeitig 24 von den fiesen Dingern ab. Die werden drüben große Freude auslösen, wenn sie in das Nest P.8 hineinhauen.“ (S. 284) Da die Lebensgefahren des Krieges nicht geleugnet werden können, werden sie für die Angehörigen, aber auch für sich selbst oftmals bagatellisiert: „Es ist das Erfreulichste am ganzen Krieg, dass ______________ 7 8
Vgl. Hubert Rüter: Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Ein Bestseller der Kriegsliteratur im Kontext. Entstehung, Struktur, Rezeption, Didaktik. Paderborn 1980. Peschanka?
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nicht jede Kugel trifft, sonst wäre wohl die Erde schon menschenleer.“ (S. 283) Die zum Mythos geronnene NS-Propagandaparole vom deutschen Soldaten als dem besten der Welt ist – insbesondere an der Ostfront – tief in den Wehrmachtsangehörigen verwurzelt. Selbst wenn man manches in der NS-Propaganda kritisch sieht, dies hat man verinnerlicht. Bei Rocholl ist dies keine Selbstinszenierung wie bei vielen anderen, z. B. schreibt ein Soldat am 8. Januar aus dem Stalingrader Kessel: „Dein Schnuller ist ein ganzer Kerl und wird sich schon tapfer schlagen.“9 Bei Rocholl ist es die Erzählung vom heldischen Kameraden oder hier vom Vorgesetzten, dem „Mordslöwe[n]“ (S. 283), in deren Verallgemeinerung man dann aber auch selbst Platz hat, dem man sich verbunden fühlt. Rocholl ist überzeugter Nationalsozialist, zumindest sieht er sich selbst bis in die erste Zeit der Gefangenschaft so. Da er aber auch ein überzeugter Arzt ist, offenbart sich in seinen Briefen eine Kluft, die ihm selbst kaum bewusst gewesen sein dürfte. Sein Weltbild orientiert sich nicht primär an Hitlers Mein Kampf, sondern am ‚Hippokratischen Eid‘. Sein Mitfühlen und Mitleiden mit der sowjetischen Zivilbevölkerung, den vorgeblichen ‚Untermenschen‘, äußert sich in Taten. Wenn er jedoch darüber schreibt, verneint er ganz im NS-Jargon jegliches Mitleid. Seine Sorge um das malariakranke Kind ist rührend und echt. Vielleicht weil er selbst vier Kinder, das fünfte ist unterwegs, zu Hause hat? Mehrere Male schreibt er, dass er beim Anblick verelendeter sowjetischer Kinder, die er häufig ärztlich versorgt oder denen er manchmal Brot zusteckt, an die eigenen denken muss. Die NS-Propaganda fiel bei Rocholl, wie bei vielen anderen auch, auf fruchtbaren Boden. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion waren sie entsetzt von den „Segnungen des Bolschewismus“ (S. 284). Die historische Rückständigkeit und sozioökonomische Unterentwickeltheit sahen sie als Ergebnis von 20 Jahren ‚Kommunismus‘ und nicht als strukturelle Erscheinung der tausendjährigen Geschichte des zaristischen Russland. Er akzeptiert den Kampf gegen den ‚Bolschewismus‘: „Diese Erkenntnis macht jeden zu jedem Opfer fähig.“ (S. 284) Vor keinem Gegner im Zweiten Weltkrieg hatten die Wehrmachtsangehörigen allerdings so großen Respekt, ja geradezu Angst wie vor dem sowjetischen. In der Realität des Kampfes half die Propagandafloskel vom ‚Untermenschen‘ nicht viel. ‚Die Russen‘ waren gefährlich, also ernst zu nehmen, sie zu unterschätzen konnte tödlich sein. Auch Rocholl betont gleich im zweiten Satz des Briefes, wenn auch etwas beiläufig, die Härte ______________ 9
Jens Ebert (Hg.): Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943. Göttingen 2003. S. 282.
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der Kämpfe im Osten. Als er das Thema im zweiten Teil wieder aufnimmt, klingt es bereits deutlich aggressiver: „Unsere Stukas haben eben den Ort P. in zahlreichen Wellen angegriffen. Er wird dem Erdboden gleich gemacht, um dort den sehr starken Widerstand zu brechen.“ (S. 283) Ab 1942 kämpften die deutschen Soldaten mit zunehmendem Fanatismus und Verbissenheit. Interessant ist, dass gerade diese Vokabeln, bislang von der NS-Propaganda dem sowjetischen Gegner vorbehalten, nun von dieser auch auf die eigenen Truppen bezogen werden.10 Vielen Wehrmachtsangehörigen waren die verübten Verbrechen und die maßlosen Zerstörungen wohl bewusst und so fürchtete man berechtigterweise die Rache künftiger Sieger. Auch die 6. Armee war an Kriegsverbrechen in der Ukraine, z. B. beim Massaker von Babi Jar, direkt beteiligt. Man hält sich fest an der These, hier, in den Weiten des Ostens, mehr als 2.000 km entfernt von der Heimat, etwas verteidigen zu müssen. Eine irrige Ansicht, die bis in die Gegenwart in der These vom Präventivkrieg durchscheint, die jeder Grundlage entbehrt. Wenig später, im Kessel von Stalingrad, wird dieses Bewusstsein eines Verteidigers noch stärker werden. Ein Obergefreiter, von dem nur der Familienname Grün überliefert ist, schreibt aus Stalingrad am 13. Januar 1943 an seine Eltern: „denn die Verteidiger der Stadt, wir alle wissen, was uns blühen würde, wenn wir in russische Gefangenschaft gerieten“.11 Des Öfteren tauchen in den Briefen Rocholls die Verbündeten der Wehrmacht auf. Das Ringen um Stalingrad war gleichsam eine Völkerschlacht, an der neben deutschen und sowjetischen (multinationalen) Truppen auch Soldaten aus Italien, Kroatien, Ungarn und Rumänien teilnahmen. Gerade von Rumänen und Ungarn schreibt Rocholl meist positiv und unterscheidet sich hier von vielen seiner Landsleute, die in ihren Berichten selten vergessen, die angeblich geringere Kampfkraft der Verbündeten zu betonen. Rocholl ist sich sicher, dass „morgen die rumänischen Kameraden“ (S. 284) den Ort erfolgreich stürmen werden. Wie bei kaum einer anderen Briefform ist der Zeitpunkt des Schreibens bei der Feldpost fremdbestimmt. Der Soldat kann nur in engem Rahmen über seine Zeit frei verfügen. Dies hat Auswirkungen auch auf das Geschriebene. Gefühle, Stimmungen, Eindrücke können oft nicht zu Papier gebracht werden, wenn sie für den Schreiber besonders stark und prägend sind, sondern wenn er Zeit dafür hat. Vieles, was er schreiben möchte, wird von Äußerem, Anderem überlagert, wovon der Empfänger in der Regel keine Ahnung hat. Der Anlass zum Schreiben ist nicht das ______________ 10 11
Vgl. Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975. S. 21–25. Ebert: Stalingrad (Anm. 9), S. 293.
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unmittelbare Bedürfnis, etwas mitzuteilen, sondern schlichtweg die Tatsache, dass dafür eine Gelegenheit besteht, dass man Zeit und Muße hat. In kritischen Zeiten ist der Mitteilungswert reduziert auf ein Lebenszeichen, schnell hingekritzelt auf ein Stück Papier. In Phasen der Ruhe, abseits vom unmittelbaren Frontgeschehen, besteht die Möglichkeit zur Reflexion. Der vorliegende Brief ist sehr unmittelbar durch das Erlebte geprägt. Dies ist bei Feldpostbriefen häufig der Fall. Schnell werden wichtige Erlebnisse nach Hause berichtet. Diese Briefe sind zumeist wenig strukturiert und folgen rasch wechselnden Eindrücken und Erlebnissen. Durch den permanenten Stress der Kriegsereignisse, Beschuss, Detonationen, gefährliche, da unerklärliche Geräusche, aber auch durch Hunger, Kälte und Ungeziefer sind die Briefeschreiber unkonzentriert, machen orthographische und grammatische Fehler, die ihnen in wirklichen Ruhepausen, in gut versorgtem Zustand, nicht unterlaufen würden. Auch scheinbar unlogische Erzählabläufe und Schilderungen, die sich in Feldpostbriefen häufig finden, sind damit zu erklären. Die Schlacht um Stalingrad, und dessen waren sich auch die damals Beteiligten bereits in Ansätzen bewusst, gehörte zu den mentalitätsgeschichtlich bedeutendsten Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Rocholls optimistische Ansichten vom Vormarsch und dem Ausgang der Kämpfe verflogen bald. Am 19. November wurde die 6. Armee in Stalingrad eingekesselt. Rocholls Briefe wurden zunehmend nachdenklich. Schließlich gerät auch er Anfang Februar 1943 in die Kriegsgefangenschaft. Die dortigen Erfahrungen verändern ihn tiefgreifend. Er wird Antifaschist. Daran ändert auch eine Verurteilung 1948 wegen angeblicher Kriegsverbrechen nichts. Als er 1953 entlassen wird, geht er nicht in seine westdeutsche Heimat zurück, sondern entschließt sich – freiwillig – in der DDR zu bleiben. Seine Familie siedelt kurz darauf zu ihm über. Er wird ein geachteter Arzt, der sich stets über seine berufliche Tätigkeit hinaus aktiv für seine Mitbürger und die Gemeinschaft engagiert. Am 1. Januar 2004 stirbt Dr. Horst Rocholl in Neuenhagen bei Berlin. Der Brief wurde aus einem Konvolut von mehreren Hundert ausgewählt. Er sollte einige repräsentative Aussagen (Sicht auf die Sowjetunion, Kameradschaft, Versorgung, Kampf) und Kommunikationsformen des Feldpostbriefes im Allgemeinen dokumentieren als auch den spezifischen Ansichten und der Biographie des Schreibers Rechnung tragen. Horst Rocholl ist – wie spätere Briefe zeigen – der Repräsentant einer glaubhaften und nachvollziehbaren Wandlung, vom Anhänger des NS-Regimes, dessen Werte sich für Rocholl im Laufe der Zeit als brüchig und inhuman erweisen, hin zu einem aufrechten Demokraten und Antifaschisten. Das in der DDR-Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung oftmals über-
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strapazierte Wandlungsmotiv ist bei Rocholl nicht plakativ, sondern überzeugend. In der Person von Horst Rocholl, der, aus Kassel stammend, bewusst seinen späteren Lebensweg im Osten Deutschlands beschritt, zeigen sich die – bis heute spürbaren – Brüche und Differenzen der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte. Rocholls sehr spezifischer Feldpostbrief ist ein wichtiges Element für eine differenziertere Betrachtung der NS-Geschichte, ihrer Mitläufer, Täter und Opfer.
Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 21. Juli 1944 21. 7. Lieber Eberhard! Heute will ich Dir nur so einen kurzen Gruß schicken. Ich denke, Du wirst in Gedanken so oft und viel hier bei uns sein, daß Du Dich über jedes Lebenszeichen freust, auch wenn das theologische Gespräch einmal ruht. Zwar beschäftigen mich die theologischen Gedanken unablässig, aber es kommen dann doch auch Stunden, in denen man sich mit den unreflektierten Lebens- und Glaubensvorgängen genügen läßt. Dann freut man sich ganz einfach an den Losungen des Tages, wie ich mich z. B. an der gestrigen und heutigen besonders freue, und man kehrt zu den schönen Paul Gerhardtliedern zurück und ist froh über diesen Besitz. Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt; nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus – im Unterschied wohl zu Johannes dem Täufer – Mensch war. Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich. Ich glaube, daß Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat. Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden (– und ich halte für möglich, daß er es geworden ist –); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte glauben lernen. Lange Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. Als das Ende dieses Weges schrieb ich wohl die „Nachfolge“. Heute sehe ich die Gefahren dieses Buches, zu dem ich allerdings nach wie vor stehe, deutlich. Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Chris-
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tus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist ƬƥƴƜƭƯƩơ;1 und so wird man ein Mensch, ein Christ. (Vgl. Jerem 45!). Wie sollte man bei Erfolgen übermütig oder an Mißerfolgen irre werden, wenn man im diesseitigen Leben Gottes Leiden mitleidet? Du verstehst, was ich meine, auch wenn ich es so kurz sage. Ich bin dankbar, daß ich das habe erkennen dürfen und ich weiß, daß ich es nur auf dem Wege habe erkennen können, den ich nun einmal gegangen bin. Darum denke ich dankbar und friedlich an Vergangenes und Gegenwärtiges. Vielleicht wunderst Du Dich über einen so persönlichen Brief. Aber, wenn ich einmal so etwas sagen möchte, wem sollte ich es sonst sagen? Vielleicht kommt die Zeit, in der ich auch zu Maria einmal so sprechen kann; ich hoffe es sehr. Aber noch kann ich ihr das nicht zumuten. Gott führe uns freundlich durch diese Zeiten; aber vor allem führe er uns zu sich. Ich habe mich ganz besonders über den Gruß von Dir gefreut und bin froh, daß Ihr es nicht zu heiß habt. Von mir müssen noch viele Grüße zu Dir kommen. Sind wir eigentlich nicht 1936 ungefähr diese Strecke gefahren? Leb wohl, bleibe gesund und laß die Hoffnung nicht sinken, daß wir uns bald alle wiedersehen. In Treue und Dankbarkeit denkt immer an Dich Dein Dietrich Dietrich Bonhoeffer: Werke. Bd. 8. Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. v. Christian Gremmels u. a. Gütersloh 1998. S. 541–543. © 1998, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Metanoia, Umkehr.
Christian Gremmels und Florian Schmitz
Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge. Brief aus dem Wehrmachtuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel Als Dietrich Bonhoeffer, geboren in Breslau 1906, evangelischer Pfarrer und Mitglied der Bekennenden Kirche, am 5. April 1943 verhaftet wird, liegen 23 Monate Untersuchungshaft vor ihm, die er – am 21. September 1943 vom Reichskriegsgericht auf „Zersetzung der Wehrkraft“ angeklagt – im Wehrmachtuntersuchungsgefängnis von Berlin-Tegel und im Gestapokeller der SS in der Prinz-Albrecht-Straße verbringt. Im Februar 1945 wird der Gefangene aus Berlin über Buchenwald in das Konzentrationslager Flossenbürg verbracht; dort wird Dietrich Bonhoeffer, wegen „politischen Hochverrats“ zum Tode verurteilt, mit weiteren Angehörigen der Militäropposition, darunter Admiral Wilhelm Canaris und General Hans Oster, im Morgengrauen des 9. April 1945 ermordet.1 In den Monaten der Berliner Haft stellen – abgesehen von wenigen Besuchserlaubnissen – Briefe den Kontakt zur Außenwelt her: Briefe an die Eltern Karl und Paula Bonhoeffer (Elternbriefe), an den Freund Eberhard Bethge (Freundesbriefe)2 und an die Braut Maria von Wedemeyer (Brautbriefe).3 Unter diesen drei Briefcorpora nehmen die Briefe an Eberhard Bethge4 eine besondere Stellung ein: lebensgeschichtlich, weil Bonhoeffer sich in ihnen seines eigenen Lebens, des Vergangenen und des Gegenwärtigen vergewissert; theologisch, weil sie eine Theologie ermöglichten, die sich dem Gespräch von Freunden verdankt. Die Briefe setzen ein im November 1943. In den ersten Monaten der Haft hatte Bonhoeffer Bethge gegenüber geschwiegen. Es war dies ein zum Zweck der Tarnung und zum Schutz des Freundes verabredetes Schweigen, das Bonhoeffer erst ______________ 1 2 3 4
Zur Biographie Dietrich Bonhoeffers vgl. vor allem: Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie. Gütersloh 92005. Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Werke. Bd. 8. Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. v. Christian Gremmels u. a. Gütersloh 1998. Vgl. Ruth-Alice von Bismarck u. Ulrich Kabitz (Hg.): Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943–1945. München 1992. Eberhard Bethge (1909–2000), Freund und Herausgeber der Schriften Dietrich Bonhoeffers. Zur Person vgl. u. a.: Eberhard Bethge: In Zitz gab es keine Juden. Erinnerungen aus meinen ersten vierzig Jahren. München 1989; John de Gruchy: Eberhard Bethge – Freund Dietrich Bonhoeffers. Eine Lebensgeschichte. Gütersloh 2007; Martin Hüneke u. Heinrich Bedford-Strohm (Hg.): Eberhard Bethge – Weggenosse, Gesprächspartner und Interpret Dietrich Bonhoeffers. Gütersloh 2011.
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aufgab, als ein Mitglied des Tegeler Wachpersonals sich bereit erklärte, Briefe an der Zensur vorbei aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Die Tegeler Briefe blieben in den Verhören durch die Geheime Staatspolizei unentdeckt (sowohl von Bonhoeffers wie von Bethges Seite) und überdauerten in ihren Verstecken den Krieg.5 Sie sind der Kernbestand der Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, die der Freund unter dem Titel Widerstand und Ergebung in einer Auswahl 1951 zuerst veröffentlicht hat. Einige Antwortbriefe Bethges wurden in der 1970 erschienenen Neuausgabe von Widerstand und Ergebung mitaufgenommen; vollständig und ungekürzt wurde die Korrespondenz 1998 im Rahmen der Ausgabe der Dietrich Bonhoeffer Werke veröffentlicht.
I. Der Tag danach Das der Anrede folgende erste Wort unseres Briefes („Heute“) ist ein betontes, hervorgehobenes „Heute“ (S. 297). Es bezeichnet mit dem Briefdatum des 21. Juli 1944 den Tag nach dem Hitler-Attentat – und: Bonhoeffer schreibt zugleich in Kenntnis des Scheiterns dieses Anschlags. Die Nachricht vom Attentat wird für den Gefangenen keine Überraschung gewesen sein, sie traf ihn nicht unvorbereitet. Zwar war Dietrich Bonhoeffer an den Plänen und Vorbereitungen des 20. Juli 1944 nicht direkt beteiligt (zum Zeitpunkt des Anschlags saß er bereits seit 16 Monaten in Untersuchungshaft); anders verhielt es sich jedoch bei vorangegangenen Versuchen, Hitler zu töten. Sowohl über das Smolensker Attentat vom 13. März 1943 wie über das am 21. März 1943 im Berliner Zeughaus unternommene war Dietrich Bonhoeffer durch seinen Schwager Hans von Dohnanyi6 informiert. Hans von Dohnanyi, den die Geheime Staatspolizei später den „Urheber und das geistige Haupt der Bewegung zur Beseitigung des Führers“7 nennen wird, hatte Dietrich Bonhoeffer im ______________ 5 6
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Vgl. Eberhard Bethge: Wie die Tegeler Briefe überlebten. In: Bethge: In Zitz gab es keine Juden (Anm. 4), S. 135–162. Zu Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer vgl. u. a.: Bethge: Bonhoeffer. Biographie (Anm. 1), S. 754–760, 838–844 u. ö.; Christoph Strohm: Theologische Ethik im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Der Weg Dietrich Bonhoeffers mit den Juristen Hans von Dohnanyi und Gerhard Leibholz in den Widerstand. München 1989; Elisabeth Chowaniec: Der ‚Fall Dohnanyi‘ 1943–1945. Widerstand, Militärjustiz, SS-Willkür. München 1991; Winfried Meyer: Unternehmen Sieben. Eine Rettungsaktion für vom Holocaust Bedrohte aus dem Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht. Frankfurt/M. 1993. Karl Dietrich Bracher in Verbindung mit der Forschungsgemeinschaft 20. Juli e.V. (Hg.): Das Gewissen steht auf. Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933–1945. Mainz 1984. S. 90.
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Winter 1940/41 dafür gewinnen können, sich dem vom Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht ausgehenden militärischen Widerstand zur Verfügung zu stellen. In der Funktion eines ‚Kuriers‘ unternahm Bonhoeffer, vom Wehrdienst freigestellt, konspirative Reisen ins Ausland, um die Westalliierten über die Pläne der deutschen Widerstandsbewegung zu informieren. Für den Widerstand kam es entscheidend darauf an, mit Hilfe solcher Informationen die Westalliierten „vom Friedenswillen einer neuen Regierung nach Hitlers Sturz zu überzeugen und sie für diesen Augenblick zu akzeptablen […] Waffenstillstandsbedingungen geneigt zu machen“.8 Vor diesem Hintergrund markiert das den Brief eröffnende „heute“ einen Einschnitt. Die Verschwörung ist nicht zum Ziel gekommen, und das bedeutet zugleich, wie Bonhoeffer weiß, dass seine die bisherige Haftzeit begleitende Hoffnung, eines Tages die Freiheit zurückzuerhalten, sich nicht aufrecht erhalten lässt. Auf die Vorgeschichte dieses brieferöffnenden „heute“ wird auch im Brief selbst angespielt, freilich auf eine Weise, die auf den ersten Blick unerkennbar bleibt. Bonhoeffer beachtet auch in der ‚illegalen‘, der Zensur entzogenen Korrespondenz das Gebot der Tarnung, indem er sich eines Codes bedient, der unter Pfarrern üblich war. Hier sind es nicht ausgewählte Bibelstellen, sondern die Herrnhuter Losungen des Tages, die Eberhard Bethge in Italien ebenfalls in Händen hat; besonders freut Bonhoeffer sich über die des „gestrigen und heutigen“ (S. 297) Tages. Die Losung des „gestrigen“ Tages, also die von Donnerstag, 20. Juli 1944, dem Tag des Attentats, lautet: „Jene verlassen sich auf Wagen und Rosse; wir aber denken an den Namen des Herrn, unseres Gottes.“ (Psalm 20,8) Noch deutlicher spricht die auf den Tag des gescheiterten Attentats bezogene Losung: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ (Brief des Paulus an die Römer 8,31).9 Die mit der Nachricht vom gescheiterten Attentat verbundene Erschütterung, die als solche nicht direkt benannt wird, spiegelt sich auch ______________ 8 9
Otto Dudzus: Einführung. In: Ders. (Hg.): Bonhoeffer-Auswahl. Bd. 1. Anfänge 1927– 1933. Gütersloh 1977. S. 6–18, hier S. 9. Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine für das Jahr 1944. – Ebenfalls am Tag des gescheiterten Attentats veröffentlicht das Kirchliche Amtsblatt für die Evangelischlutherische Landeskirche Hannovers (Ausgegeben zu Hannover, den 21. Juli 1944, Stück 11, S. 43) eine von Landesbischof August Marahrens unterzeichnete Gebetsempfehlung für die Gemeinden der Landeskirche („Dank für die gnädige Errettung des Führers“): „Heiliger barmherziger Gott! Von Grund unseres Herzens danken wir Dir, daß Du unserm Führer bei dem verbrecherischen Anschlag Leben und Gesundheit bewahrt und ihn unserem Volke in einer Stunde höchster Gefahr erhalten hast. In Deine Hände befehlen wir ihn. Nimm ihn in Deinen gnädigen Schutz.“ Die Verfasser danken Heinrich W. Grosse, Hannover, für diesen Hinweis.
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wider in einer ‚Unterbrechung‘ der eingeübten täglichen Routinen: Bonhoeffer nimmt ein Moratorium für sich in Anspruch. Er berichtet dem Freund, dass „das theologische Gespräch […] ruht“, um dann sofort abmildernd hinzuzufügen, dass ihn jedoch „die theologischen Gedanken unablässig [beschäftigen]“ (S. 297); dennoch, es ist eine atemholende Zwischenzeit, „Stunden“, in denen der Gefangene sich jetzt „unreflektierten Lebens- und Glaubensvorgängen“ (S. 297) hingibt. Er liest die Herrnhuter Losungen und ruft sich die Lieder Paul Gerhardts ins Gedächtnis.
II. Vergewisserung des Lebens Und dann setzt plötzlich – ohne Absatz im handschriftlichen Text – die narratio dieses Briefes ein; sie hat die Gestalt eines Rechenschaftsberichtes, einer biographischen und theologischen Bilanz seines bisherigen Lebens, die mit der Mitteilung eines Bekenntnisses beginnt: „Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt“ (S. 297). Sogleich wird zur Abwehr möglicher Missverständnisse erläuternd hinzugefügt, was unter „Diesseitigkeit des Christentums“ zu verstehen ist: Es ist ein Christentum, das – ebenso wie der Christ – nicht mehr von der Religion bestimmt wird, denn: Nicht ein religiöser Mensch „homo religiosus“ ist der Christ, sondern – ebenso wie Jesus – „ein Mensch schlechthin“ (S. 297).10 Weiterhin darf die „Diesseitigkeit“, die hier für das Christentum in Anspruch genommen wird, aber auch nicht als eine „platte und banale Diesseitigkeit“ (S. 297) verstanden werden. Vielmehr, es ist die „tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung ______________ 10
Ein nicht-religiöses Verhalten hatte Bonhoeffer während der Tegeler Haft an sich selbst beobachtet: „Erschrick nicht! Ich komme bestimmt nicht als ‚homo religiosus‘ von hier heraus! ganz im Gegenteil, mein Mißtrauen und meine Angst vor der ‚Religiosität‘ sind hier noch größer geworden als je“. Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 21.11.1943. In: Ders.: Werke. Bd. 8 (Anm. 2), S. 197 f., hier S. 197. Diese Selbstbeobachtung steht im Hintergrund seiner grundsätzlichen Kritik an einer durch ‚Metaphysik‘, ‚Innerlichkeit‘, ‚Partialität‘ und ‚Privilegierung‘ gekennzeichneten christlichen Religion; ihr gilt die Prognose: „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen“, die durch eine Diagnose begründet wird: „die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein“. Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 30.4.1944. In: Ebd., S. 401–408, hier S. 403. Vgl. Wolfgang Huber: Kein Ende der Religion. Zu Bonhoeffers Unterscheidung zwischen Christentum und Religion. In: Florian Schmitz u. Christiane Tietz (Hg.): Dietrich Bonhoeffers Christentum. Festschrift für Christian Gremmels. Gütersloh 2011. S. 114–133, sowie die dort angegebene Literatur; Christian Gremmels: Religionslosigkeit? Plädoyer für eine neue Diskussion. In: Florian Schmitz (Hg.): Theologie und Lebenswelt. Beiträge zur Theologie der Gegenwart. Gütersloh 2012. S. 11–24.
Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 21.7.1944
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immer gegenwärtig ist“ (S. 297). Zur Legitimation dieser Erkenntnis beruft sich Bonhoeffer auf Luther: „Ich glaube, daß Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat.“ (S. 297) An dieser Stelle des Briefes bricht Bonhoeffer die bisher eher begrifflich und assoziativ verfahrende Darstellung seiner theologischen Erkenntnis ab und fährt in Gestalt einer weiteren Erzählung fort: „Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte.“ (S. 297) Bei diesem Gespräch hatten Bonhoeffer und Jean Lasserre11 sich „ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten.“ Die Antworten fielen nach Bonhoeffers Erinnerung unterschiedlich, ja gegensätzlich aus. Dort Lasserre: „ich möchte ein Heiliger werden“; hier Bonhoeffer: „ich möchte glauben lernen“. Als Erläuterung wird hinzugefügt: „Lange Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden.“ (S. 297) Warum es bis zu dieser Erkenntnis einer „langen Zeit“ bedurfte? Antwort: Weil ich das Lebenskonzept Jean Lasserres selbst „lange Zeit“ übernommen hatte: „Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte.“ (S. 297) Nach einem kurzen Kommentar zu seinem 1937 erschienenen Buch Nachfolge,12 zu dem er aus der Rückperspektive von Tegel kritisch und bejahend zugleich Stellung nimmt, wird der 13 Jahre zuvor formulierte Lebensentwurf („ich möchte glauben lernen“) wieder aufgenommen und aufgrund einer „bis zur Stunde“ (S. 297) sich bewährenden Erfahrung einer Revision unterzogen; Bonhoeffer weiß jetzt, „daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt.“ (S. 297) Aus dieser Einsicht werden Folgerungen gezogen. Denn die Diesseitigkeit des Christentums im Glauben anzunehmen und ihr im eigenen Leben gerecht zu werden, kann nach Bonhoeffers Überzeugung nur gelingen, „[w]enn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen“ (S. 297). Es ist dies ein Verzicht, der eine Absage an überkommene Ideale und Karrieren einschließt: kein „Heiliger“ mehr, kein „Kirchenmann“, keine „sogenannte priesterliche Gestalt“ (S. 297). Mit der Ablehnung des Heiligenideals wird jetzt ausdrücklich der Lebensentwurf revidiert, dem Bonhoeffer sich im Anschluss an Jean Lasserre einst verpflichtet fühlte. Die Erfahrung der „Diesseitigkeit“ (S. 297) markiert so lebensgeschichtlich eine ______________ 11 12
Jean Lasserre (1908–1983), ein französischer Reformierter Theologe, war 1930–1931 gemeinsam mit Bonhoeffer Stipendiat am Union Theological Seminary in New York City. Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge. München 1937, sowie Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge. In: Ders.: Werke (Anm. 2). Bd. 4. Nachfolge. Hg. v. Martin Kuske u. Ilse Tödt. Gütersloh 2002; vgl. zu dieser Schrift Bonhoeffers: Florian Schmitz: Nachfolge. Zur Theologie Dietrich Bonhoeffers (Diss. Kassel 2010), Göttingen 2013; im Druck.
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Christian Gremmels u. Florian Schmitz
Zäsur; sie wird bei der im Gefängnis von Tegel notwendig gewordenen neuen Aneignung des eigenen Lebens in Gestalt eines zweifachen Zeitprädikators gekennzeichnet, mit dem ein ,früher‘ und ein ,später‘, ein ,einst‘ und ein ,jetzt‘, ein ,vorher‘ und ein ,nachher‘ voneinander geschieden werden: Was einst als erkenntnisleitend galt, hat jetzt seine Geltung verloren. Die Blickrichtung ändert sich, wenn „man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst[nimmt]“ (S. 297). Wenn das gelingt, dann vollzieht sich durch den Glauben eine Umkehr („ƬƥƴƜƭƯƩơ“; S. 298), eine Verwandlung; man lebt mitten im Diesseits und wacht zugleich „mit Christus in Gethsemane“ (S. 297 f.). Was aber das ,Sein im Diesseits‘, das ,Wachen mit Christus in Gethsemane‘, das ,Ernstnehmen der Leiden Gottes in der Welt‘ konkret bedeuten konnte? Für Bonhoeffer jedenfalls schloss es die Möglichkeit der Beteiligung am konspirativen Sturz des Diktators mit ein: sich nicht dem Leiden in der Welt, dem Krieg, dem Völkermord, zu entziehen,13 sondern dieses Leiden als Gottes eigenes Leiden in der Welt zu verstehen und mitzuleiden, den Versuch zu unternehmen, diesem Leiden in freier verantwortlicher Tat ein Ende zu setzen.14 In der Situation der Haft ist dem an der Konspiration Beteiligten diese äußerste aller Möglichkeiten selbst nicht mehr gegeben; theologisch aber führt Bonhoeffer diese Situation zu einer in unserem Brief mitklingenden Erkenntnis, die für die Theologie des 20. Jahrhunderts wegweisend wurde: Nicht der allmächtige Gott, der Pantokrator, sondern Christus, der in der Welt ohnmächtige, leidende Gott, ist es, der jetzt noch helfen kann.15 ______________ 13
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Die Möglichkeit einer ‚Flucht‘ aus Nazi-Deutschland hatte für Bonhoeffer durchaus bestanden; vgl. Bethge: Bonhoeffer. Biographie (Anm. 1), S. 715–718. Sie dauerte aber nur wenige Wochen, bevor er sich entschied, den sicheren Hort Amerika wieder zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren – dem Krieg entgegen. Vgl. Dietrich Bonhoeffer an Reinhold Niebuhr, Ende Juni 1939. In: Ders.: Werke (Anm. 2). Bd. 15. Illegale Theologenausbildung: Sammelvikariate 1937–1940. Hg. v. Dirk Schulz. Gütersloh 1998. S. 210 sowie S. 644. Zur Wendung der „freien, verantwortlichen Tat“ vgl. Dietrich Bonhoeffer: Rechenschaftsbericht ‚Nach zehn Jahren‘. In: Ders.: Werke. Bd. 8. (Anm. 2), S. 19–39, bes. S. 20–24, sowie ders.: Ethik. In: Ebd. Bd. 6. Zettelnotizen für eine Ethik. Hg. v. Ilse Tödt u. a. München 1992. S. 245–299. Vgl. Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 16.7.1944. In: Ebd. Bd. 8. S. 526–535, hier S. 534: „Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen.“ Zur Interpretation von Bonhoeffers Satz „nur der leidende Gott kann helfen“ vgl. Christian Gremmels: Situative Verschärfung. Bemerkungen zu Denkformen der Theologie Dietrich Bonhoeffers. In: Schmitz: Theologie und Lebenswelt (Anm. 10), S. 25–37, hier S. 30 f. Zur Geschichte des Motivs des ‚leidenden Gottes‘ in der Theologie und in der Theologie Bonhoeffers vgl. Christiane Tietz: Der leidende Gott. In: Bonhoeffer-Rundbrief. Mitteilungen der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft Sektion Bundesrepublik Deutschland (2010), H. 91. S. 25–41.
Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 21.7.1944
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III. Vergangenes und Gegenwärtiges Die Skizze von Bonhoeffers theologischen Überzeugungen geht über in eine persönliche Anrede des Freundes: „Du verstehst, was ich meine, auch wenn ich es so kurz sage. […] Aber, wenn ich einmal so etwas sagen möchte, wem soll ich es sonst sagen?“ (S. 298.) Wem sonst als dem Freund; von ihm allein, das weiß Bonhoeffer, wird er „die volle Wahrheit hören“, nur ihm wird er sie „sagen dürfen“ – Wechselseitigkeit des Vertrauens: „Dir werde ich nichts vormachen und Du mir auch nicht. Das haben wir früher nicht getan und wollen es nie tun“, heißt es in einem früheren Brief. Die Frage, ob es für den Gefangenen auch noch andere Personen gibt, an die er sich mit einem so persönlichen Brief hätte wenden können, wird dort ausdrücklich verneint: „Die Eltern und auch Maria muß ich schonen“.16 Im Briefschluss vergewissert sich Bonhoeffer ein weiteres Mal der Gemeinsamkeit mit dem Freund. Er bestätigt die „Grüße“, die er von ihm aus Italien bekommen hat („Ich […] bin froh, daß ihr es nicht zu heiß habt“; S. 298) und stellt ihm seinerseits „Grüße“ in Aussicht („[v]on mir müssen noch viele Grüße zu Dir kommen“; S. 298). Ein derartiger Grußaustausch mag auf den ersten Blick eher nichtssagend erscheinen. In der Situation des Gefangenen freilich wird die Vergewisserung gelingender brieflicher Kommunikation zur Bestätigung dafür, dass die Verbindung mit dem früheren Leben nicht abgerissen ist; es sind Zeichen für die Gegenwart der gemeinsamen Vergangenheit, die Bonhoeffer mit Blick auf eine Italienreise mit dem Freund in Erinnerung ruft: „Sind wir eigentlich nicht 1936 ungefähr diese Strecke gefahren?“ (S. 298) Anders als in vielen vorangegangenen Briefen ist im Brief vom 21. Juli 1944 von Plänen für die Zukunft nicht mehr die Rede; daran ändert auch der Briefschluss nichts: „laß die Hoffnung nicht sinken, daß wir uns bald alle wiedersehen.“ (S. 298) Anderen gegenüber – den Eltern, der Braut, dem Freund – hatte Bonhoeffer seine in Tegel getroffene Entscheidung des „An-Schwierigkeiten-Vorbeidenken[s]“17 stets in besonderer Weise berücksichtigt. Ihnen gegenüber galt es, die Härte der Wirklichkeit abzumildern, der er selbst nach dem gescheiterten Attentat sich in verschärfter Weise zu stellen hatte. Und der erste Schritt, mit dem Bonhoeffer in diese nun beginnende Zeit eintritt, ist die in unserem Brief vorgenommene Vergewisserung seines bisherigen Lebensweges, des Weges, „den ich nun einmal gegangen bin.“ (S. 298) Mit diesem Rückblick auf das eigene Leben ______________ 16 17
Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 22.12.1943. In: Ders.: Werke. Bd. 8. (Anm. 2), S. 251–254, hier S. 251. Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 5.12.1943. In: Ebd., S. 225–229, hier S. 229.
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und die dieses Leben prägenden theologischen Überzeugungen macht Bonhoeffer den Versuch, die persönliche, berufliche und kulturelle Welt, „die er in Tegel verloren hatte“, und damit seine eigene Vergangenheit „zurückzugewinnen“, die „Kontinuität mit seinem früheren Selbst“ aufrecht zu erhalten.18 Bereits am 22. April 1944 hatte er dem Freund mitgeteilt: „Die Kontinuität mit der eigenen Vergangenheit ist doch ein großes Geschenk“.19 Jetzt wird diese Kontinuität festgestellt. Das „Geschenk“ wird im Ausdruck der ‚Dankbarkeit‘ bestätigt: […] ich weiß, daß ich es nur auf dem Wege habe erkennen können, den ich nun einmal gegangen bin. Darum denke ich dankbar und friedlich an Vergangenes und Gegenwärtiges. (S. 298)
Die eigene Zukunft und die des Freundes wird der Zukunft Gottes anbefohlen: „Gott führe uns freundlich durch diese Zeiten; vor allem aber führe er uns zu sich.“ (S. 298) Eberhard Bethge hat in den letzten Jahren seines Lebens mehrfach gesagt, unter allen Briefen Bonhoeffers sei ihm der Brief vom 21. Juli 1944 der liebste. Auch für uns, die ,uneigentlichen Rezipienten‘, ist dieser Brief das wichtigste autobiographische Dokument jener lebenswendenden Richtungsentscheidung, von der Bonhoeffer dem Freund Kenntnis gibt; dennoch ist es nicht das einzige Zeugnis, in dem Bonhoeffer von Veränderungen seines Lebens und seiner Theologie gesprochen hat. Bereits 1936 hatte er sich im Rückblick auf die Jahre 1930 bis 1932, in denen sich seine Hinwendung zum Pazifismus vollzog, brieflich wie folgt geäußert: Dann kam etwas anderes, etwas, was mein Leben bis heute verändert und herumgeworfen hat. Ich kam zum ersten Mal zur Bibel. […] Seitdem ist alles anders geworden. […] Der christliche Pazifismus, den ich noch kurz vorher […] leidenschaftlich bekämpft hatte, ging mir auf einmal als Selbstverständlichkeit auf.20
Auch in diesem Briefdokument taucht, wie in den klassischen ‚Bekehrungsberichten‘ der Christentumsgeschichte, der zweifache Zeitprädikator auf: „vorher“, (jetzt) „auf einmal“. Der Unterschied zu den großen Konversionserzählungen besteht aber darin, dass bei Bonhoeffer nicht von der Einmaligkeit einer lebenswendenden Entscheidung die Rede sein kann. Die Briefe vom 21. Januar 1936 und vom 21. Juli 1944 und eine Vielzahl von ‚Wendepunkten‘ in Bonhoeffers Leben stehen dafür, dass für ihn die An______________ 18 19 20
Ruth Zerner: Regression und Kreativität. Ein Nachwort. In: Dietrich Bonhoeffer: Fragmente aus Tegel. Drama und Roman. Hg. v. Renate u. Eberhard Bethge. München 1978. S. 181–216, hier S. 181. Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge vom 22.4.1944. In: Ders.: Werke. Bd. 8. (Anm. 2), S. 397–399, hier S. 397 f. Dietrich Bonhoeffer an Elisabeth Zinn, 21.1.1936. In: Ebd. Bd. 14. Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935–1937. Hg. v. Otto Dudzus u. a. München 1996. S. 112–114, hier S. 113.
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eignung der eigenen Lebensgeschichte angesichts der Vielzahl sich verändernder Lebensumstände und Lebenssituationen nicht als einmalige, sondern als fortdauernde Tätigkeit verstanden wird. Die für Dietrich Bonhoeffer kennzeichnende Einheit von ‚Lebensakt‘ und ,Denkakt‘ kann nur aufrecht erhalten werden, wird die denkende Vergewisserung des Lebens auf Dauer gestellt. Bonhoeffer zufolge gibt es keine Lebensentscheidung, die prinzipiell wahr ist. Die Wahrheit und Übereinstimmung von Leben und Denken, von Biographie und Theologie muss immer wieder hergestellt werden. So kann die in den Briefen aus der Haft erörterte Frage, wann Widerstand gefordert und wann Ergebung geboten ist, ebenfalls nicht prinzipiell beantwortet werden. Der Glaube besteht nicht in der Übernahme fixierter Inhalte, sondern er fordert das „bewegliche, lebendige Handeln. Nur so können wir unsere jeweilige gegenwärtige Situation durchhalten und fruchtbar machen.“ Der „prinzipiellen“ Haltung gegenüber steht „auf der anderen Seite unsere bewegliche, lebendigere, weil letztlich wirklichkeitsgemäßere ‚theologische‘ Haltung“21 – es ist eine Bonhoeffer und Bethge verbindende gemeinsame Haltung: Sie liegt dem brieflichen Dialog der Freunde zu Grunde und ermöglicht auf diese Weise eine dialogische Theologie.22 Mit der Entscheidung des Überlebenden, die privaten Briefe und Aufzeichnungen des Getöteten zu veröffentlichen, begann die (aktualisierende wie freilich auch vereinnahmende) Wirkungsgeschichte von Widerstand und Ergebung,23 die über den deutschsprachigen Raum hinaus die Befreiungstheologie Lateinamerikas ebenso beeinflusst hat wie den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Vor allem aber ist die Wirkungsgeschichte der Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft die Geschichte von Leserinnen und Lesern, die sich dem Dialog der Briefe anschlossen und ihn mit ihren eigenen Stimmen fortsetzten. Sie, die ,uneigentlichen Rezipienten‘, erkannten in Bonhoeffers Fragen – „Wer bin ich?“, „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“, „Was glauben wir wirklich?“24 – ihre eigenen Fragen und ______________ 21 22
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Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 21.2.1944. In: Ebd. Bd. 8. (Anm. 2), S. 332–334, hier S. 334. Hervorhebung durch C.G./F.S. Zum Verhältnis Bethge/Bonhoeffer vgl. u. a.: Christian Gremmels u. Wolfgang Huber (Hg.): Theologie und Freundschaft. Wechselwirkungen: Eberhard Bethge und Dietrich Bonhoeffer. Gütersloh 1994; Christiane Tietz: Eberhard Bethges Anteil an Dietrich Bonhoeffers Gefängnistheologie. In: Evangelische Theologie (2010) H. 70. S. 325–341. Vgl. dazu etwa Jörg Dinger: Auslegung, Aktualisierung und Vereinnahmung. Das Spektrum der deutschsprachigen Bonhoeffer-Interpretation in den 50er Jahren. Neukirchen-Vluyn 1998. In der Reihenfolge der Zitate: Dietrich Bonhoeffer: Gedicht ‚Wer bin ich?‘. In: Ders.: Werke. Bd. 8. (Anm. 2), S. 513–514; Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 30.4.1944. In: Ebd., S. 401–408, hier S. 402; Dietrich Bonhoeffer: Entwurf für eine Arbeit. In: Ebd., S. 556–561, hier S. 559.
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wurden so ermutigt, in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, der Erfahrungen und Ratlosigkeiten ihres Lebens glauben zu lernen.
Thomas Mann: Brief nach Deutschland. [Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe]. Thomas Mann an Walter von Molo, 2.–9.9.1945
Lieber Herr von Molo, ich habe Ihnen zu danken für einen sehr freundlichen Geburtstagsgruß, dazu für den Offenen Brief an mich, den Sie der deutschen Presse übergaben, und der auszugsweise auch in die amerikanische gelangt ist. Darin kommt noch stärker und dringlicher, als in dem privaten Schreiben, der Wunsch, ja die verpflichtende Forderung zum Ausdruck, ich möchte nach Deutschland zurückkehren und wieder dort leben: „zu Rat und Tat“. Sie sind nicht der Einzige, der diesen Ruf an mich richtet; das russisch kontrollierte Berliner Radio und das Organ der vereinigten demokratischen Parteien Deutschlands haben ihn auch erhoben, wie man mir berichtet, mit der stark aufgetragenen Begründung, ich hätte „ein historisches Werk zu leisten in Deutschland“. Nun muß es mich ja freuen, daß Deutschland mich wieder haben will, – nicht nur meine Bücher, sondern mich selbst als Mensch und Person. Aber etwas Beunruhigendes, Bedrückendes haben diese Appelle doch auch für mich, und etwas Unlogisches, sogar Ungerechtes, nicht Wohlüberlegtes spricht mich daraus an. Sie wissen nur zu gut, lieber Herr von Molo, wie teuer „Rat und Tat“ heute in Deutschland sind, bei der fast heillosen Lage, in die unser unglückliches Volk sich gebracht hat; und ob ein schon alter Mann, an dessen Herzmuskel die abenteuerliche Zeit doch auch ihre Anforderungen gestellt hat, direkt, persönlich, im Fleische noch viel dazu beitragen kann, die Menschen dort aus ihrer tiefen Gebeugtheit, die Sie so ergreifend schildern, aufzurichten, scheint mir recht zweifelhaft. Dies nur nebenbei. Nicht recht überlegt aber scheinen mir bei jenen Aufforderungen auch die technischen, bürgerlichen, seelischen Schwierigkeiten, die meiner „Rückwanderung“ entgegenstehen. Sind diese zwölf Jahre und ihre Ergebnisse denn von der Tafel zu wischen und kann man tun, als seien sie nicht gewesen? Schwer genug, atembeklemmend genug war, anno dreiunddreißig, der Chock des Verlustes der gewohnten Lebensbasis, von Haus und Land, Büchern, Andenken, Vermögen, begleitet von kläglichen Aktionen daheim, Ausbootungen, Absagen. Nie vergesse ich die analphabetische und mörderische Radio- und Pressehetze gegen meinen Wagner-Aufsatz, die man in München veranstaltete, und die mich erst recht begreifen ließ, daß mir die
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Rückkehr abgeschnitten sei; das Ringen nach Worten, die Versuche zu schreiben, zu antworten, mich zu erklären, die „Briefe in die Nacht“, wie René Schickele, einer der vielen dahingegangenen Freunde, diese erstickten Monologe nannte. Schwer genug war, was dann folgte, das Wanderleben von Land zu Land, die Paßsorgen, das Hôtel-Dasein, während die Ohren klangen von den Schandgeschichten, die täglich aus dem verlorenen, verwildernden, wildfremd gewordenen Lande herüberdrangen. Das haben Sie alle, die Sie dem „charismatischen Führer“ (entsetzlich, entsetzlich, die betrunkene Bildung!) Treue schworen und unter Göbbels Kultur betrieben, nicht durchgemacht. Ich vergesse nicht, daß Sie später viel Schlimmeres durchgemacht haben, dem ich entging; aber das haben Sie nicht gekannt: das Herzasthma des Exils, die Entwurzelung, die nervösen Schrecken der Heimatlosigkeit. Zuweilen empörte ich mich gegen die Vorteile, deren ihr genosset. Ich sah darin eine Verleugnung der Solidarität. Wenn damals die deutsche Intelligenz, alles, was Namen und Weltnamen hatte, Aerzte, Musiker, Lehrer, Schriftsteller, Künstler, sich wie ein Mann gegen die Schande erhoben, den Generalstrike erklärt, das Land verlassen hätte, – das hätte Eindruck gemacht, draußen und drinnen, manches hätte anders kommen können, als es kam. Der Einzelne, wenn er zufällig kein Jude war, fand sich immer der Frage ausgesetzt: „Warum eigentlich? Die anderen tun doch mit. Es kann doch so gefährlich nicht sein.“ Ich sage: zuweilen empörte ich mich. Aber ich habe euch, die ihr dort drinnen saßet, nie beneidet, auch in euren größten Tagen nicht. Dazu wußte ich zu gut, daß diese großen Tage nichts als blutiger Schaum waren und rasch zergehen würden. Beneidet habe ich Hermann Hesse, in dessen Umgang ich während jener ersten Wochen und Monate Trost und Stärkung fand, – ihn beneidet, weil er längst frei war, sich beizeiten abgelöst hatte mit der nur zu treffenden Begründung: „Ein großes, reiches, bedeutendes Volk, die Deutschen, wer leugnet es? Das Salz der Erde vielleicht. Aber als politische Nation – unmöglich! Ich will, ein für allemal, mit ihnen als solcher nichts mehr zu tun haben.“ Und wohnte in schöner Sicherheit in seinem Hause zu Montagnolo, in dessen Garten er Boccia spielte mit dem Verstörten. Langsam, langsam setzten und ordneten sich dann die Dinge. Erste Häuslichkeiten fanden sich, in Frankreich, dann in der Schweiz; eine relative Beruhigung, Seßhaftigkeit, Zugehörigkeit stellte sich aus der Verlorenheit her, man nahm die aus den Händen gefallene Arbeit, die einem zerstört hatte scheinen wollen, wieder auf. Die Schweiz, gastlich aus Tradition, aber unter dem Druck bedrohlich mächtiger Nachbarschaft lebend und zur Neutralität verpflichtet bis ins Moralische hinein, ließ verständlichster Weise doch immer eine leise Verlegenheit, Beklommenheit mer-
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ken durch die Anwesenheit des Gastes ohne Papiere, der so schlecht mit seiner Regierung stand, und verlangte „Takt“. Dann kam der Ruf an die amerikanische Universität, und auf einmal, in dem riesigen freien Land, war nicht die Rede mehr von „Takt“, es gab nichts als offene, unverschüchterte, deklarierte Freundwilligkeit, freudig, rückhaltlos, unter dem stehenden Motto: „Thank you, Mr. Hitler!“ Ich habe einigen Grund, lieber Herr von Molo, diesem Lande dankbar zu sein, und Grund, mich ihm dankbar zu erweisen. Heute bin ich amerikanischer Bürger, und lange vor Deutschlands schrecklicher Niederlage habe ich öffentlich und privat erklärt, daß ich nicht die Absicht hätte, Amerika je wieder den Rücken zu kehren. Meine Kinder, von denen zwei Söhne noch heute im amerikanischen Heere dienen, sind eingewurzelt in diesem Lande, englisch sprechende Enkel wachsen um mich auf. Ich selbst, mannigfach verankert auch schon in diesem Boden, da und dort ehrenhalber gebunden, in Washington, an den HauptUniversitäten der Staaten, die mir ihre Honorary Degrees verliehen, habe mir an dieser herrlichen, zukunftatmenden Küste, deren Klima meinem Alter wohltut, mein Haus errichtet, in dessen Schutz ich, dankbar für jeden neuen Sonnentag, für jedes farbige Leuchten der Welt um mich her im weißen Licht, mein Lebenswerk zu Ende fuhren möchte – teilhaft einer Atmosphäre von Macht, Vernunft, Überfluß und Frieden. Gerade heraus: ich sehe nicht, warum ich die Vorteile meines seltsamen Loses nicht genießen sollte, nachdem ich seine Nachteile bis zur Hefe gekostet. Ich sehe das namentlich darum nicht, weil ich den Dienst nicht sehe, den ich dem deutschen Volke leisten –, und den ich ihm nicht auch vom Lande California aus leisten könnte. Daß alles kam, wie es gekommen ist, ist nicht meine Veranstaltung. Wie ganz und garnicht ist es das! Es ist ein Ergebnis des Charakters und Schicksals des deutschen Volkes, – eines Volkes, merkwürdig genug, tragisch-interessant genug, daß man manches von ihm hinnimmt, sich manches von ihm gefallen läßt. Aber dann soll man die Resultate auch anerkennen und nicht das Ganze in ein banales „Kehre zurück, alles ist vergeben!“ ausgehen lassen wollen. Fern sei mir Selbstgerechtigkeit! Wir draußen hatten gut tugendhaft sein und Hitlern die Meinung sagen. Ich hebe keinen Stein auf, gegen niemanden. Ich bin nur scheu und „fremdle“, wie man von kleinen Kindern sagt. Ja, Deutschland ist mir in all diesen Jahren doch recht fremd geworden. Es ist, das müssen Sie zugeben, ein beängstigendes Land. Ich gestehe, daß ich mich vor den deutschen Trümmern fürchte, – den steinernen und den menschlichen. Und ich fürchte, daß die Verständigung zwischen einem, der den Hexensabbat von außen erlebte, und euch, die Ihr mitgetanzt und Herrn Urian aufgewartet habt, immerhin schwierig
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wäre. Wie sollte ich unempfindlich sein gegen die Briefergüsse voll lange verschwiegener Anhänglichkeit, die jetzt aus Deutschland zu mir kommen! Es sind wahre Abenteuer des Herzens für mich, rührende. Aber nicht nur wird meine Freude daran etwas eingeengt durch den Gedanken, daß keiner davon je wäre geschrieben worden, wenn Hitler gesiegt hätte, sondern auch durch eine gewisse Ahnungslosigkeit, Gefühllosigkeit, die daraus spricht, sogar schon durch die naive Unmittelbarkeit des Wiederanknüpfens, so, als seien diese 12 Jahre garnicht gewesen. Auch Bücher sind es wohl einmal, die kommen. Soll ich bekennen, daß ich sie nicht gern gesehen und bald weggestellt habe? Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 45 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden. Es war nicht erlaubt, es war unmöglich, „Kultur“ zu machen in Deutschland, während rings um einen herum das geschah, wovon wir wissen. Es hieß die Verkommenheit beschönigen, das Verbrechen schmücken. Zu den Qualen, die wir litten, gehörte der Anblick, wie deutscher Geist, deutsche Kunst sich beständig zum Schild und Vorspann des absolut Scheusäligen hergaben. Daß eine ehrbarere Beschäftigung denkbar war, als für Hitler-Bayreuth Wagner-Dekorationen zu entwerfen, – sonderbar, es scheint dafür an jedem Gefühl zu fehlen. Mit Göbbel’scher Permission nach Ungarn oder sonst einem deutsch-europäischen Land zu fahren und mit gescheiten Vorträgen Kultur-Propaganda zu machen fürs Dritte Reich, – ich sage nicht, daß es schimpflich war, ich sage nur, daß ich es nicht verstehe, und daß ich Scheu trage vor manchem Wiedersehen. Ein Kapellmeister, der, von Hitler entsandt, in Zürich, Paris oder Budapest Beethoven dirigierte, machte sich einer obszönen Lüge schuldig – unter dem Vorwande, er sei ein Musiker und mache Musik, das sei alles. Lüge aber vor allem schon war diese Musik auch zu Hause. Wie durfte denn Beethovens „Fidelio“, diese geborene Festoper für den Tag der deutschen Selbstbefreiung, im Deutschland der 12 Jahre nicht verboten sein? Es war ein Skandal, daß er nicht verboten war, sondern daß es hochkultivierte Aufführungen davon gab, daß sich Sänger fanden, ihn zu singen, Musiker, ihn zu spielen, ein Publikum, ihm zu lauschen. Denn welchen Stumpfsinn brauchte es, in Himmlers Deutschland den Fidelio zu hören, ohne das Gesicht mit den Händen zu bedecken und aus dem Saal zu stürzen!
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Ja, so mancher Brief kommt nun aus der fremden, unheimlichen Heimat, vermittelt durch amerikanische „sargents“ und „lieutenants“,– nicht nur von bedeutenden Männern, sondern auch von jungen und einfachen Leuten, und merkwürdig: von denen mag keiner mir raten, so bald nach Deutschland zu kommen. „Bleiben Sie, wo Sie sind!“ sagen sie schlicht. „Verbringen Sie ihren Lebensabend in Ihrer neuen, glücklicheren Heimat! Hier ist es zu traurig…“ Traurig? Wäre es nur das – und nicht unvermeidlich zum Teil auch fortdauernd böse und feindselig. Als eine Art von Trophäe bekam ich kürzlich von amerikanischer Seite ein altes Heft einer deutschen Zeitschrift zugeschickt: „Volk im Werden“, März 1937, Hanseatische Verlagsanstalt Hamburg, herausgegeben von einem hochgestellten Nazi-Professor und Dr. h. c. . Er hieß nicht gerade Krieg, sondern Krieck, mit ck. Es war eine bange Lektüre. Unter Leuten, sagte ich mir, die 12 Jahre lang mit diesen Droguen gefüttert worden sind, kann nicht gut leben sein. Du hättest, sagte ich mir, zweifellos viele gute und treue Freunde dort, alte und junge; aber auch viele lauernde Feinde – geschlagene Feinde wohl, aber das sind die schlimmsten und giftigsten. – – Und doch, lieber Herr von Molo, ist dies alles nur eine Seite der Sache; die andere will auch ihr Recht, – ihr Recht auf das Wort. Die tiefe Neugier und Erregung, mit der ich jede Kunde aus Deutschland, mittelbar oder unmittelbar, empfange, die Entschiedenheit, mit der ich sie jeder Nachricht aus der großen Welt vorziehe, wie sie sich jetzt, sehr kühl gegen Deutschlands nebensächliches Schicksal, neu gestaltet, lassen mich täglich aufs neue gewahr werden, welche unzerreißbaren Bande mich denn doch mit dem Lande verknüpfen, das mich „ausbürgerte“. Ein amerikanischer Weltbürger – ganz gut. Aber wie verleugnen, daß meine Wurzeln dort liegen, daß ich trotz aller fruchtbaren Bewunderung des Fremden in deutscher Tradition lebe und webe, möge die Zeit meinem Werk auch nicht gestattet haben, etwas andres zu sein, als ein morbider und schon halb parodistischer Nachhall großen Deutschtums. Nie werde ich aufhören, mich als deutscher Schriftsteller zu fühlen und bin auch in den Jahren, als meine Bücher nur auf englisch ihr Leben fristeten, der deutschen Sprache treu geblieben, – nicht nur, weil ich zu alt war, um mich noch sprachlich umzustellen, sondern auch in dem Bewußtsein, daß mein Werk in deutscher Sprachgeschichte seinen bescheidenen Platz hat. Der Goethe-Roman, der, geschrieben in Deutschlands dunkelsten Tagen, in ein paar Exemplaren zu euch hineingeschmuggelt wurde, ist nicht gerade ein Dokument des Vergessens und der Abkehr. Auch brauche ich nicht zu sagen: „Doch schäm’ ich mich der Ruhestunden, Mit euch zu leiden war Gewinn“. Deutschland hat mir nie Ruhe gelassen. Ich habe „mit euch gelitten“, und es war keine Übertreibung, als ich in dem Brief nach Bonn von einer Sorge und Qual, einer Seelen- und Gedanken-
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not sprach, „von der seit vier Jahren nicht eine Stunde meines Lebens frei gewesen ist, und gegen die ich meine künstlerische Arbeit tagtäglich durchzusetzen hatte“. Oft genug habe ich garnicht versucht, sie dagegen durchzusetzen. Das Halbhundert Radio-Botschaften nach Deutschland (oder sind es mehr?), die jetzt in Schweden gedruckt wurden, – diese immer sich wiederholenden Beschwörungen mögen bezeugen, daß oft genug anderes mir vordringlicher schien, als „Kunst“. Vor einigen Wochen habe ich in der Library of Congress in Washington einen Vortrag gehalten über das Thema: „Germany and the Germans“. Ich habe ihn deutsch geschrieben, und er soll im nächsten Heft der Juni 1945 wiedererstandenen „Neuen Rundschau“ abgedruckt werden. Es war ein psychologischer Versuch, einem gebildeten amerikanischen Publikum zu erklären, wie doch in Deutschland alles so kommen konnte, und ich hatte die ruhige Bereitwilligkeit zu bewundern, mit der, so knapp nach dem Ende eines fürchterlichen Krieges, dies Publikum meine Erläuterungen aufnahm. Meinen Weg zu finden zwischen unstatthafter Apologie – und einer Verleugnung, die mir ebenfalls schlecht zu Gesicht gestanden hätte, war natürlich nicht leicht; aber ungefähr ging es. Ich sprach von der gnadenvollen Tatsache, daß oft auf Erden aus dem Bösen das Gute kommt, – und von der teuflischen, daß oft das Böse kommt aus dem Guten. Ich erzählte in Kürze die Geschichte der deutschen „Innerlichkeit“. Die Theorie von den beiden Deutschland, einem guten und einem bösen, lehnte ich ab. Das böse Deutschland, erklärte ich, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Ich stände hier nicht, um mich, nach schlechter Gepflogenheit, der Welt als das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid zu empfehlen. Nichts von dem, was ich meinen Zuhörern über Deutschland zu sagen versucht hätte, sei aus fremdem, kühlem, unbeteiligtem Wissen gekommen; ich hätte es alles auch in mir; ich hätte es alles am eigenen Leibe erfahren. Das war ja wohl, was man eine Solidaritätserklärung nennt – im gewagtesten Augenblick. Nicht gerade mit dem Nationalsozialismus, das nicht. Aber mit Deutschland, das ihm schließlich verfiel und einen Pakt mit dem Teufel schloß. Der Teufelspakt ist eine tief-altdeutsche Versuchung, und ein deutscher Roman, der eingegeben wäre von den Leiden der letzten Jahre, vom Leiden an Deutschland, müßte wohl eben dies grause Versprechen zum Gegenstand haben. Aber sogar um Faustens Einzel-Seele ist, in unserem größten Gedicht, der Böse ja schließlich betrogen, und fern sei uns die Vorstellung, als habe Deutschland nun endgültig der Teufel geholt. Die Gnade ist höher als jeder Blutsbrief. Ich glaube an sie, und ich glaube an Deutschlands Zukunft, wie verzweifelt auch immer seine Gegenwart sich ausnehmen, wie hoffnungslos die Zer-
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störung erscheinen möge. Man höre doch auf, vom „Ende der deutschen Geschichte“ zu reden! Deutschland ist nicht identisch mit der kurzen und finsteren geschichtlichen Episode, die Hitlers Namen trägt. Es ist auch nicht identisch mit der selbst nur kurzen Bismarck’schen Ära des Preußisch-Deutschen Reiches. Es ist nicht einmal identisch mit dem auch nur zwei Jahrhunderte umfassenden Abschnitt seiner Geschichte, den man auf den Namen Friedrichs des Großen taufen kann. Es ist im Begriffe, eine neue Gestalt anzunehmen, in einen neuen Lebenszustand überzugehen, der vielleicht nach den ersten Schmerzen der Wandlung und des Überganges mehr Glück und echte Würde verspricht, den eigensten Anlagen und Bedürfnissen der Nation günstiger sein mag, als der alte. Ist denn die Weltgeschichte zuende? Sie ist sogar in sehr lebhaftem Gange, und Deutschlands Geschichte ist in ihr beschlossen. Zwar fährt die Machtpolitik fort, uns drastische Abmahnungen von übertriebenen Erwartungen zu erteilen; aber bleibt nicht die Hoffnung bestehen, daß zwangsläufig und notgedrungen die ersten versuchenden Schritte geschehen werden in der Richtung auf einen Weltzustand, in dem der nationale Individualismus des 19. Jahrhunderts sich lösen, ja schließlich vergehen wird? Weltoekonomie, die Bedeutungsminderung politischer Grenzen, eine gewisse Entpolitisierung des Staatenlebens überhaupt, das Erwachen der Menschheit zum Bewußtsein ihrer praktischen Einheit, ihr erstes Ins Auge fassen des Weltstaates, – wie sollte all dieser über die bürgerliche Demokratie weit hinausgehende soziale Humanismus, um den das große Ringen geht, dem deutschen Wesen fremd und zuwider sein? In seiner Weltscheu war immer soviel Weltverlangen; auf dem Grunde der Einsamkeit, die es böse machte, ist, wer wüßte es nicht, der Wunsch, zu lieben, der Wunsch, geliebt zu sein. Deutschland treibe Dünkel und Haß aus seinem Blut, es entdecke seine Liebe wieder, und es wird geliebt werden. Es bleibt, trotz allem, ein Land voller gewaltiger Werte, das auf die Tüchtigkeit seiner Menschen sowohl wie auf die Hilfe der Welt zählen kann, und dem, ist nur erst das Schwerste vorüber, ein neues, an Leistungen und Ansehen reiches Leben vorbehalten ist. – Ich habe mich weit führen lassen in meiner Erwiderung, lieber Herr von Molo. Verzeihen Sie! In einem Brief nach Deutschland wollte allerlei untergebracht sein. Auch dies noch: der Traum, den Boden des alten Kontinents noch einmal unter meinen Füßen zu fühlen, ist, der großen Verwöhnung zum Trotz, die Amerika heißt, weder meinen Tagen, noch meinen Nächten fremd, und wenn die Stunde kommt, wenn ich lebe und die Transportverhältnisse sowohl wie eine löbliche Behörde es erlauben, so will ich hinüberfahren. Bin ich aber einmal dort, so ahnt mir, daß Scheu und Verfremdung, diese Produkte bloßer zwölf Jahre, nicht standhalten
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werden gegen eine Anziehungskraft, die längere Erinnerungen, tausendjährige, auf ihrer Seite hat. Auf Wiedersehen also, so Gott will. Ihr sehr ergebener Thomas Mann Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Bd. 19.1. Essays VI. 1945–1950. Hg. und textkritisch durchgesehen von Herbert Lehnert. Frankfurt/M. 2009. S. 72–82. © S. Fischer Verlag.
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Ein J’accuse – an alle! Thomas Manns Offener Brief an Walter von Molo I. Thomas Mann und der ‚Offene Brief‘ 1945 war der amerikanische Staatsbürger Thomas Mann längst eine öffentliche Person. Als Autor hatte er seit Anbeginn seiner Karriere die Grenzen zwischen fiktionalem und faktualem Schreiben verwischt. Der Leser folgt einem konsequent durchgehaltenen Kalkül, wenn er in Manns Texten immer wieder Reminiszenzen an die persona des Autors selbst findet, zu der Erkenntnis kommt, dass ‚Leben‘ und ‚Werk‘ einander durchdringen. Zwar sind Gattungen und Textsorten wie Roman, Drama, Gedicht, Tagebuch, Notizbuch, Brief, Rede, autobiographischer Text etc. formal voneinander geschieden, doch ließ schon der Jungschriftsteller, dessen Debüt Buddenbrooks als Schlüsselroman gelesen wurde, keinen Zweifel an der Leseanweisung: „Nicht von Euch ist die Rede, gar niemals, seid des nun getröstet, sondern von mir, von mir…“1 Manns im Zeichen des Narzissmus stehendes Schreiben kann als fortgesetztes Selbstgespräch, als Prozess der Modellierung einer alles überragenden mythischen Persönlichkeit gedeutet werden, spätestens vom Ersten Weltkrieg an auch eines Repräsentanten der deutschen Kultur und aller Deutschen. Als Nobelpreisträger war Mann gewiss der bekannteste deutsche Emigrant in den USA, und er war dies schon vor seiner Übersiedlung dorthin im Jahr 1938. Was immer er schrieb, wo immer er auftrat, nicht zuletzt als Gast Franklin D. Roosevelts im Weißen Haus: es galt das, was er selbst zunächst nur in einer unveröffentlichten Notiz behauptet hatte: „Wo ich bin, ist Deutschland.“2 Thomas Mann als Repräsentant – das ist eine Lebens- und Schreibpraxis der immer aufs Neue vollzogenen wechselseitigen (narzisstischen) Spiegelungen mit der Umwelt. Das intime Ich, das literarische
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Thomas Mann: Bilse und ich. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Tagebücher – Briefe. Bd. 14.1. Essays I. 1893–1914. Hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002. S. 95–111, hier S. 110. Thomas Mann: [Tagebuchblätter. Anfang April 1938, Beverly Hills, Californien.] In: Ders.: Essays. Bd. 4. 1933–1938. Hg. v. Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 1995. S. 439–445, hier S. 440. Nicht verschwiegen sei die Doppeldeutigkeit der Aussage, die entweder auf den Repräsentanzanspruch Manns verweist oder auf eine mögliche Geste des Trostspendens, nämlich dass auch im Exil die Teilhabe an der deutschen Kultur nicht verlorengehen könne.
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Werk und das ‚Politische‘ verschmelzen dem Anspruch nach bis zur Unkenntlichkeit zu einer freilich nicht dauerhaft-gesicherten Identität. Diese ist prozesshaft immer wieder neu auszuhandeln im Zeichen des Verlusts einer doch zugleich immer wieder beanspruchten Repräsentanz. Doch die perfektionierte Lebenspraxis des in seiner kalifornischen Villa Residierenden zwischen der Vergabe von Audienzen, der Durchführung von lecture tours, der öffentlichen und nichtöffentlichen Stellungnahme zu Fragen der Zeit machte Thomas Mann zu etwas anderem als einem mehr oder weniger berühmten Schriftsteller, nämlich zum öffentlichkeitswirksamen, gut verkäuflichen Markenartikel. Fast ungeschmälerte Breitenwirkung erlangte er erst um die Wende zum 21. Jahrhundert, in unsere Gegenwart passt der Autor als Verkaufsstratege auch allzu gut. Er verwaltete seinen Ruhm, anders als seine Novellenfigur Gustav von Aschenbach, nicht nur vom Schreibtisch aus, doch können Leben und Schreiben vor allem des älteren Mann als ein sich selbst, die eigene Marke umkreisendes Verwalten dieses Ruhms gedeutet werden. Eine weit verzweigte Korrespondenz mit vielfach geschäftlichem Charakter ist ein bleibendes Dokument der Selbstmodellierung in diesem Sinn. Dass das künstlich Gemachte der Texte wie der Person dabei nicht von der Patina dieses Ruhms überdeckt wird, macht Thomas Mann trotz allem zu einem modernen Künstler. Sich und seine Bücher zu verkaufen; zugleich die große Emphase des Nationalautors zu pflegen; sich für die historische Schuld der Deutschen im Nationalsozialismus mitverantwortlich zu fühlen – dies alles ist in der öffentlichen persona Thomas Mann vereinbar. Es darf also nicht verwundern, wenn bei genauerer Lektüre die Trennschärfe etwa zwischen einem Privatbrief und einem Redetext, einem Essay oder gar Romanpassagen verloren geht, ja zahllose Selbstzitate und Anspielungen über die Genregrenzen hinweg offenbar zum Schreibprogramm vor allem des späten Thomas Mann gehören. Der Offene Brief als hybrides Genre, das Merkmale des intimen Privatbriefs und der publizistischen Stellungnahme in sich vereint, kommt einer gewollten Entgrenzung zwischen Privatperson und öffentlicher, ja ‚mythischer‘ Figur entgegen. Thomas Manns Offener Brief an Walter von Molo steht prototypisch für die souveräne Integration des alt vertrauten Mediums Brief in eine ‚starke‘, mit öffentlichem Einfluss, ja Macht kokettierende Konzeption von Autorschaft, an die hier fast nostalgisch mit Michel Foucault zu erinnern ist, hat eine derartige Konzeption heute doch längst an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Fast einzig Manns gegenwärtiger Ruhm zehrt noch vom Abgeschlossenen und Exemplarischen des Lebens und des Werks.3
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In Michel Foucaults Antrittsvorlesung Was ist ein Autor? werden Briefe als (Nicht-) Determinanten von Autorschaft zweimal und zwar widersprüchlich zueinander verhandelt.
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Der von einer prominenten Persönlichkeit, sehr oft einem Schriftsteller, verfasste Offene Brief erlebte seine besten Zeiten im 20. Jahrhundert, sobald eine weitgehende Pressefreiheit demokratische Partizipation für alle versprach. Auf deutschem Boden hatte der Offene Brief zur Zeit der Weimarer Republik seinen Zenit erreicht; er bediente eine „höchst lebendige und stark polarisierte Öffentlichkeit“,4 wurde demgemäß auch als Kampfansage oder eben als „Waffe“ im Meinungskampf begriffen.5 Er ist an das Rollenbild des Intellektuellen gebunden, des künstlerisch, journalistisch oder wissenschaftlich Tätigen, der seine Kompetenzen mit politisch-emanzipatorischer Wirkungsabsicht einsetzt. Emile Zolas gegen den Antisemitismus seiner Zeit gerichteter Offener Brief „J’accuse“ von 1898 ist der „Gründungsmythos der Intellektuellen“.6 Sind manche Privatbriefe von vornherein auch an die ‚Nachwelt‘, also sekundäre Adressaten, gerichtet, so ist beim Offenen Brief grundsätzlich von einer simultanen „Doppel- bzw. Mehrfachadressierung“ zu sprechen.7 Das Genre ermöglicht „persönliches und doch repräsentatives Eingreifen“.8 Briefe sind traditionell rhetorisch überformbare, persuasive Texte. Auch formal weist der Offene Brief die üblichen „Briefcharakteristika“ auf wie „Briefkopf, Anrede, Datierung, Eingangs-, Schlußformel“; er „wendet sich an einen expliziten Adressaten“.9 Hingegen muss nicht unbedingt ein materiales Objekt vom Briefschreiber an den primären Adressaten gelangen. Der hier vorgestellte Brief etwa, dem übrigens mit Briefkopf und Datierung zwei wichtige Merkmale fehlen, ging als Manuskript an die Redaktionen der erstveröffentlichenden Zeitungen, und dieses Manuskript wird im Personalnachlass, also im Zürcher Thomas-Mann-Archiv, nach wie vor unter den Paralipomena der essayistischen Texte, nicht unter den Briefen
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Einmal heißt es: „Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor“. (Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000. S. 198–229, hier S. 211), dann aber: „Schließlich ist der Autor ein bestimmter Brennpunkt des Ausdrucks, der sich in mehr oder minder vollendeter Form genauso und im gleichen Wert in den Werken, den Skizzen, den Briefen und den Fragmenten offenbart“ (ebd., S. 216). Rolf-Bernhard Essig: „Ich klage an!“ Eine kurze Geschichte des Offenen Briefs. In: Ders. u. Reinhard M. G. Nickisch (Hg.): „Wer schweigt, wird schuldig!“ Offene Briefe von Martin Luther bis Ulrike Meinhof. Göttingen 2007. S. 9–17, hier S. 14. Reinhard M. G. Nickisch: Schriftsteller auf Abwegen? Über politische ‚Offene Briefe‘ deutscher Autoren in Vergangenheit und Gegenwart. In: Journal of English and German Philology 93 (1994). S. 469–484, hier S. 472. Essig: Kurze Geschichte (Anm. 4), S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 10. Rolf-Bernhard Essig: Der Offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass. Würzburg 2000. S. 17.
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aufbewahrt.10 Jedenfalls gilt auch für ihn, was Rolf-Bernhard Essig als basale Bedingungen des Genres nennt: er „wendet sich an einen expliziten Adressaten […] und gleichzeitig an einen zweiten, (meist) impliziten Adressaten (die Öffentlichkeit).“11 Als literarischer Repräsentant der Weimarer Republik hatte Mann am Boom des Offenen Briefs und damit an den weit ausgreifenden publizistischen Kriegen der Zeit partizipiert.12 Unter den schwierigen Distributionsbedingungen angesichts nationalsozialistischer Zensur war zur Jahreswende 1936/37, nach dem Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft, ein nach der Aberkennung der Bonner Ehrenpromotion an den dortigen Dekan der Philosophischen Fakultät gerichteter Brief zu großer Bekanntheit gelangt: Die als Tarnschrift, d. h. als Flugschrift mit scheinbar ‚harmlosem‘ Inhalt, verteilte Anklage an das nationalsozialistische Deutschland erzielte eine Auflage von 30.000 Exemplaren und dürfte ein Mehrfaches an Lesern erreicht haben.13 An wen aber richtete sich der Molo-Brief ‚auch‘ oder ‚eigentlich‘?
II. Entstehung, Drucke, Publikationsumfeld Seit Juli 1945 hatten Thomas Mann wiederholt Aufforderungen zur Rückkehr ins nunmehr befreite, von den Siegermächten besetzte Deutschland erreicht.14 Diese Nachfragen stehen im Kontext früherer Erwägungen seitens der politisch engagierten Emigranten in den USA, Mann in der Nachkriegszeit eine öffentliche, sein Repräsentationsbedürfnis bestätigende Rolle zuzuweisen, ihn zunächst aber in die eigenen Aktivitäten einzubeziehen.15 Dieser Emigrantengruppe behagte keineswegs, dass Mann im Laufe der Kriegsjahre immer mehr zu der Überzeugung kam, eine
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Vgl. hierzu und im Folgenden immer wieder Herbert Lehnerts Kommentar zum Brief nach Deutschland in: Thomas Mann: Frankfurter Ausgabe (Anm. 1). Bd. 19.2. Essays VI. 1945– 1950. Hg. v. Herbert Lehnert. Frankfurt/M. 2009. S. 64–96, zur „Textlage“ S. 69–71, sowie S. 91–96. Essig: Der Offene Brief (Anm. 9), S. 17. Vgl. ebd., S. 226–229. Vgl. Essig: Kurze Geschichte (Anm. 4), S. 14, sowie Thomas Mann: Ein Briefwechsel. In: Ders.: Essays. Bd. 4 (Anm. 2), S. 183–191, und Lehnert: Kommentar (Anm. 10), S. 396– 400. Vgl. Lehnert: Kommentar (Anm. 10), S. 64. Thomas Manns kritische Auseinandersetzung mit den Institutionalisierungsversuchen der Emigranten ist in der Forschung vor Jahrzehnten aufgearbeitet worden, vgl. nach wie vor: Herbert Lehnert: Bert Brecht und Thomas Mann im Streit über Deutschland. In: John M. Spalek u. Joseph Strelka (Hg.): Deutsche Exilliteratur seit 1933. Bd. I. Teil I. Bern, München 1976. S. 62–88.
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Unterscheidung zwischen dem ‚guten‘ und dem ‚bösen‘ Deutschland (und damit ja implizit auch die Unterscheidung zwischen ‚Unschuldigen‘ und ‚Schuldigen‘) sei nicht tragbar.16 So boten zwei Briefe Walter von Molos, ein eindeutig privater und ein öffentlicher, die Gelegenheit, in einem Antwortbrief mittels der für den Offenen Brief charakteristischen Hybridität eine private und eine öffentliche Botschaft zu verbinden, also die schon beschriebene Verschmelzung von privatem und öffentlichem Rollenspiel, aber auch von fiktionalem und faktualem Schreiben mit maximalem Wirkungspotenzial zu praktizieren. Nach zwölf Jahren der physischen Abwesenheit aus Deutschland, nach etwa sieben Jahren der Abwesenheit seiner Bücher vom deutschen Markt inszeniert Mann seinen ersten großen publizistischen Auftritt im Deutschland der Nachkriegszeit mit Pauken und Trompeten. Der den Anlass hierfür bot, war im Literaturbetrieb der Weimarer Jahre wie der NS-Zeit alles andere als ein Unbekannter. Der zeitweilige Präsident der Sektion für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste – Thomas Mann war bis 1933 deren Mitglied gewesen – galt trotz seiner Mitunterzeichnung eines Treuegelöbnisses deutscher Schriftsteller für Adolf Hitler als „zurückhaltend“: „Sein Leben abseits der tagespolit[ischen] Ereignisse im Dritten Reich stilisierte er später als ‚innere Emigration‘.“17 Fest steht, dass er ein vielgelesener Autor historischer Romane war, die intime Einblicke in das Leben ‚großer‘ Männer der Geschichte boten – Luther, Friedrich dem Großen, dem Prinzen Eugen, Schiller und Kleist hatte er teils mehrere Bücher mit nationalkonservativer und „nationalanthropologischer[r]“18 Tendenz gewidmet. Die fiktionalisierende Innensicht in die zu mythischer Größe gelangten Deutschen hat Molo mit Thomas Mann durchaus gemeinsam, hatte dieser doch das – freilich: gebrochene – Heldentum Schillers in Schwere Stunde, das Goethes in Lotte in Weimar, das des preußischen Königs in einem nur fragmentarisch realisierten Projekt Friedrich und die große Koalition in die symbolische Sprache der Literatur übersetzt. Trotz aller so deutlicher Unterschiede in Tendenz und ästhetischer Qualität verbindet Molo und Mann also ein betont nationales, am großen Einzelnen ausgerichtetes historisch-politisches Bewusstsein. Und darüber kommen beide Autoren schließlich auch ins Gespräch.
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Vgl. Jochen Strobel: Entzauberung der Nation. Die Repräsentation Deutschlands im Werk Thomas Manns. Dresden 2000. S. 225–235, 287–292. Johannes Sachslehner u. Christian von Zimmermann: Walter von Molo. In: Wilhelm Kühlmann (Hg.): Killy Literaturlexikon. Bd. 8. Berlin, New York 2010. S. 297 f., hier S. 298. Ebd.
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Walter von Molo hatte die Korrespondenz am 6. Juni 1945, Thomas Manns 70. Geburtstag, mit der Frage nach einem Wiedersehen eingeleitet und sich dabei zum Sprachrohr des deutschen Volkes erklärt.19 Deutlicher war er in einem Offenen, am 4.8. zuerst in der Hessischen Post veröffentlichten Brief geworden, in dem er einen Rückkehrappell an Thomas Mann unter Berufung auf die Prinzipien der Gnade und der Mitmenschlichkeit mit recht deutlichen Zurückweisungen der Kollektivschuldthese bei gleichzeitiger Fortführung einer metaphysischen Rede von Deutschland verbunden hatte: Das deutsche Volk habe „im innersten Kern nichts gemein mit den Missetaten und Verbrechen […] Kranker“;20 die Versäumnisse der Deutschen seien ein Zeitphänomen gewesen: „An […] Wachsamkeit haben es wohl alle Menschen auf der ganzen Erde fehlen lassen, weil die Weltkrisen seit 1914 zu sehr verwirrten und müde machten.“21 Mann antwortet also mit einem Privates und ‚Öffentliches‘ vermischenden Brief auf zwei Briefe Molos, der seinerseits Geburtstagswünsche und ausdrücklichen Rückkehrappell voneinander getrennt hatte. Dabei erhielt er das private Schreiben erst mit beträchtlicher Verspätung, nämlich am 30. August,22 nahm dann aber diesen Brief und eine Presseanfrage zum selben Thema als Anlass, nun sein „Verhältnis zu Deutschland“ grundsätzlich zu definieren, freilich nicht ohne den privaten Akzent zu betonen; über den Doppelcharakter informiert Manns Tagebuch: „Brief an Molo begonnen, offen oder privat, da eine Äußerung fällig.“23 Im Eintrag des folgenden Tages trägt das Manuskript den Titel „Brief nach Deutschland“.24 Mann tat sich schwer mit dem Text; es bedurfte eines zweiten Anlaufs, erst nach zehn Tagen schien ihm der Brief reif für die Publikation. „Am 17. September wurde der Text an das Office of War Information zur Verteilung in Deutschland und zugleich an die New Yorker Wochenzeitung Aufbau abgesandt.“25 Erster Druckort war also der von deutsch-jüdischen Emigranten gegründete Aufbau, die in ihrer Ausgabe vom 28.9.1945 Manns Text in gekürzter Fassung veröffentlichte.26 Zuerst erfuhren also die Emigranten
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Vgl. Walter von Molo an Thomas Mann, 6.6.1945. In: Thomas Mann: Briefwechsel mit Autoren. Hg. v. Hans Wysling. Frankfurt/M. 1988. S. 365. Walter von Molo an Thomas Mann, [vor 4.8.1945]. In: Ebd., S. 365–368, hier S. 367. Ebd., S. 368. Der Offene Brief Molos hatte Mann hingegen schon am 22.8. erreicht. Vgl. Lehnert: Kommentar (Anm. 10), S. 67. Thomas Mann: Tagebücher 1944–1.4.1946. Hg. v. Inge Jens. Frankfurt/M. 1986. S. 247– 251; Zitate S. 248 (Eintrag vom 1.9.45). Ebd., S. 249 (Eintrag vom 2.9.45). Lehnert: Kommentar (Anm. 10), S. 69. Ein Image-Digitalisat steht online zur Verfügung: http://deposit.ddb.de/online/exil/exil.
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von Manns Unwillen, nach Deutschland zurückzukehren, nicht die deutsche Öffentlichkeit, nicht Walter von Molo. Dieser Schritt ist als Akt der Solidarisierung Manns mit den anderen in den USA lebenden Opfern des nationalsozialistischen Regimes zu werten. Freilich begannen sich viele dieser Überlebenden durchaus wieder in Deutschland zu engagieren. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Manns Artikel fanden die Leser des Aufbau einen Bericht über die Lizenzpresse in Deutschland: „Emigranten leiten Europas grössten Zeitungskonzern“.27 Zwei konträre Positionen, die des Eingreifens und die des distanzierenden Abwartens, werden auf ein und derselben Zeitungsseite verhandelt. Wenige Seiten später geht es um „Wiedergutmachung und Sühne in Europa“, findet sich ein Artikel „General Eisenhower inspiziert die jüdischen Lager“.28 Manns kritische Distanznahme steht also in einem Textumfeld, das aus dem Blickwinkel der jüdischen Opfer heraus die Anklage gegen die Deutschen wie auch das Für und Wider eines Engagements im jetzt geteilten Herkunftsland diskutierte. Der Aufbau war nach eigener Überzeugung „die einzige Tribüne der deutschsprachigen Judenheit, von der aus die ganze Welt erreicht werden kann“, „ein Sprachrohr der Unglücklichen und Unterdrückten.“29 In dieses Umfeld passt sich Manns Position mühelos ein. Dies belegt auch ein Leitartikel in der dem Abdruck folgenden Ausgabe, die den Offenen Brief bereits in einen publizistisch geführten Dialog einzugliedern beginnt. Unter dem Titel „Der Fall Walter v. Molo“ wird Manns Absage nicht nur recht gegeben, sondern es wird auch Molo, der kurzerhand zu den „schwächlichen Kompromisslern“ gezählt wird, überhaupt die Legitimität seiner Sprecherrolle gegenüber den Emigranten bestritten.30 Es sind also nicht Privatpersonen, die einander Briefe schreiben, den beiden Offenen Briefen wird von vornherein Allgemeingültigkeit zuerkannt – in der Auffassung des Kommentators: ein falscher Repräsentant des ‚schuldigen‘ Deutschland fordert die ‚unschuldige‘ Emigration zur Rückkehr auf. Manns Attacke musste auf die deutschen Zeitungsleser befremdlicher wirken als auf Leser und Redakteure des Aufbau, war in den deutschen Medien doch der Text gesäumt von Bekundungen des Wiederaufbaus, ja der Wiedergeburt. Einer der ersten vollständigen Abdrucke findet sich in der Frankfurter Rundschau vom 10.10.1945, eingeleitet von einer abmildern-
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htm (Stand: 20.5.2012). Vgl. Manns Artikel in: Aufbau 11 (1945) Nr. 39. S. 5 f. – Zu den Kürzungen vgl. Lehnert: Kommentar (Anm. 10), S. 69: Durch die Kürzungen werde die „emotionale Spannung […] vermindert.“ Aufbau (Anm. 26), S. 1. Ebd., S. 3. [N. N.:] Hilfe und Rettung. Ein Aufruf an unsere Leser. In: Aufbau 11 (1945) Nr. 40. S. 1. [N. N.:] Der Fall Walter v. Molo (sein Briefwechsel mit Thomas Mann). In: Ebd., S. 4.
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den, bei genauerem Hinsehen aber tautologisch statt begründend verfahrenden Agenturmeldung, die bereits den Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Manns Entscheidung impliziert: „In einem an Walter von Molo gerichteten ‚Offenen Brief nach Deutschland‘ erklärte Thomas Mann, er wolle sein Lebenswerk in den Vereinigten Staaten beenden und könne aus diesem Grunde eine dauernde Rückkehr nach Deutschland nicht in Betracht ziehen.“31 Bereits die weitere Druckgeschichte lässt die Bedeutsamkeit des Texts für die Auseinandersetzung zwischen den in Deutschland verbliebenen Intellektuellen und den Emigranten, ja für das Selbstverständnis der Deutschen in der Nachkriegszeit überhaupt, erahnen. Er wurde in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften, teils auszugsweise, nachgedruckt.32 Man darf vermuten, dass er weite Teile der sich neu formierenden deutschen Nachkriegsöffentlichkeit erreichte.
III. Argumentation: Intimität, politische Öffentlichkeit, Literatur Wie argumentiert Mann und was macht seinen Text zum ‚Brief‘, von den äußeren Kommunikationswegen, die er durchlief, einmal abgesehen? Die Apostrophe an den primären Adressaten Molo und die Dankesgeste gegen dessen Geburtstagswünsche sind zunächst ganz übliche Topoi der Privatbrief-Eröffnung. Molo ist einer von vielen, die Mann nach Hause rufen, wird damit aber sogleich zum pars pro toto, zum nur noch exemplarischen Adressaten. Mann stellt klar, dass es seine ihn drängenden Gesprächspartner – wie eben auch Molo – seien, die das Handeln des Einzelnen erst zu einem „historische[n] Werk“ (S. 309) werden ließen. Diese Voraussetzungen genügen, damit der Text, ohne seinen privaten Charakter ganz aufzugeben, zum Sprechakt in einer öffentlichen Auseinandersetzung wird. Mit Anleihen aus dem medizinisch-anatomischen Bildbereich („Herzmuskel“, „atembeklemmend“, „Chock“; S. 309), mit einer rhetorischen Frage („Sind diese zwölf Jahre […] von der Tafel zu wischen […]?“ S. 309) deutet Mann seine ablehnende Antwort auf Molos Ansinnen an und tut doch seinen Entschluss zunächst nicht kund. Ehe er einen zweiten Anlauf
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Frankfurter Rundschau Nr. 21 vom 10.10.1945. S. 1. Der Offene Brief ist auf S. 1 f. abgedruckt. Vgl. Georg Potempa: Thomas Mann-Bibliographie. Das Werk. Morsum/Sylt 1992. S. 560– 562. (Die Bibliographie ist unvollständig; der möglicherweise früheste vollständige Druck in einem im Nachkriegsdeutschland erscheinenden Medium, nämlich in der Süddeutschen Zeitung, fehlt etwa.)
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nimmt, setzt er in einer langen Klammer zu einer autobiographischen Erzählung wie auch zu einer Ätiologie (‚Wie konnte es dazu kommen?‘) an, schreitet in seiner Argumentation also wiederum vom Individuellen zum Allgemeingültigen fort. Aus der Leidensgeschichte des Emigranten wird eine Erfolgsgeschichte, deren Ausgang über die infolge dessen erst entstandenen Gräben zwischen dem ‚ich‘ und dem ‚wir‘ einerseits sowie dem ‚ihr‘ andererseits nicht hinwegtäuschen kann. Vom gegenwärtigen Status des amerikanischen Staatsbürgers aus vermag das Ich distanzierendresümierend großangelegte Ursachenforschung zu betreiben. Das im Text wie auch in vielen anderen Verlautbarungen Manns ausgeführte Ceterum censeo lautet so dezidiert wie, aus heutiger Sicht, sachlich unpräzise: „Daß alles kam, wie es gekommen ist, […] ist ein Ergebnis des Charakters und Schicksals des deutschen Volkes“ (S. 311). Pendant zu dieser Behauptung ist die ebenso metaphysisch angehauchte These vom „verlorenen, verwildernden, wildfremd gewordenen Lande“ (S. 310).33 Indirekt heißt dies, dass alle Deutschen schuldig sind – doch auch, dass alle Deutschen adressiert sind, sich angesprochen fühlen dürfen. Unterscheidet der Offene Brief üblicherweise zwischen Angeklagten und derjenigen Lesergruppe, mit der der Briefschreiber Solidarität üben möchte, so klagt Manns Brief einfach alle Adressaten, alle Deutschen, unterschiedslos an. Sie alle betrifft ja das hier Gesagte, keineswegs nur die Intellektuellen oder gar Molo allein. Nach der Schließung dieser langen Parenthese nimmt Mann wieder den Dialog mit den ihn aus Deutschland erreichenden „Briefergüsse[n]“ (S. 312) und ihren Produzenten auf, kehrt der Text also wieder seine epistolare Seite hervor. Jetzt sind es wieder vor allem Schriftsteller, an die sich Mann direkt wendet. Er holt zu der jene Adressaten maximal brüskierenden, bis heute wohl am häufigsten zitierten Stelle des Texts aus, die der Buchproduktion im Deutschen Reich zwischen 1933 und 1945 einen „Geruch von Blut und Schande“ (S. 312) attestiert und die Empfehlung ausspricht, alle diese Bücher einzustampfen. Das Skandalon einer Zensur, die die der Nazis zu überbieten versuchte, besteht nicht allein in dieser kompromisslosen Totalität und Destruktivität von Manns Forderung, sondern
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Wie so häufig in vorliegendem Brief führen von dieser Stelle intertextuelle Spuren zu Manns 1943 bis 1947 entstandenem Roman Doktor Faustus, genauer zum Distanzierungsgestus des Erzählers Serenus Zeitblom, der sich, im Lande verbleibend, bei zunehmendem Gefühl der Entfremdung von seiner Umwelt seit 1933 in einer inneren Emigration einrichtet. Um eine recht aufdringliche, für die damaligen Briefleser natürlich noch nicht erkennbare Faustus-Referenz handelt es sich bei folgendem Satz: „Der Teufelspakt ist eine tief-altdeutsche Versuchung, und ein deutscher Roman, der eingegeben wäre von den Leiden der letzten Jahre, vom Leiden an Deutschland, müßte wohl eben dies grause Versprechen zum Gegenstand haben.“ (S. 314)
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auch darin, dass vier von Manns eigenen Büchern, Neuauflagen von Tonio Kröger und Der Zauberberg sowie die Erstausgaben der beiden ersten JosephRomane,34 noch zwischen 1933 und 1937 bei seinem deutschen Verlag S. Fischer erscheinen konnten. Auch auf dem Höhepunkt seiner Polemik lässt Mann nicht von einer mythisierenden Einkleidung seiner Rede ab. Er bemüht neben „Blut und Schande“ (S. 312) das ‚Unheimliche‘.35 Dem Beleg dieser so weitgehenden Behauptungen dient der Rekurs auf die fortgesetzte Briefkommunikation mit Deutschen: „so mancher Brief“ (S. 313) habe ihn über die Zustände in Deutschland informiert und diese Briefe rechtfertigten nun seinen Schuldspruch gegen die in Deutschland verbliebenen Intellektuellen: „Es war nicht erlaubt, es war unmöglich, ‚Kultur‘ zu machen in Deutschland“ (S. 312). Zwei Fallbeispiele genügen ihm: Der Dirigent Wilhelm Furtwängler („Ein Kapellmeister“; S. 312) und der mit Mann einst befreundete Wagner-Bühnenbildner Emil Preetorius stehen – anders als der nicht persönlich angegangene Zufallsadressat Molo – im Kreuzfeuer von Manns Angriffen, die auf die Unvereinbarkeit ethischer und künstlerischer Motive abzielen, ein Verdikt über den Künstler als Handlanger der Diktatur im ‚Dritten Reich‘ aussprechen. Mittlerweile ist der private Anlass des Briefs also vergessen, längst sind andere, ‚Schuldige‘, gemeint, wenngleich nicht die Künstler einer ‚inneren‘ Emigration allein. Am Ende des zweiten Drittels von Thomas Manns Text kommt es zu einer dialektischen Wendung, zu einer Pointe, die für seine Praxis rhetorisch-ironischer ‚Politik‘ schon seit dem Ersten Weltkrieg, den Betrachtungen eines Unpolitischen, typisch ist. In einer immer stärker antithetisch, ja konträr polemisch zuspitzenden Rede wird plötzlich die zur bisher favorisierten ‚Partei‘ entgegengesetzte identifikatorisch gestärkt. Es mag der innere Zwiespalt der narzisstischen Persönlichkeit sein, der diese zum Gegenangriff auf das eigene Selbst blasen lässt. Mann wendet also die an alle gerichtete Anklage zugleich auch gegen sich selbst, macht auch sich damit zum Adressaten des Briefs. Er geht, wie man es aus zahlreichen seiner Texte kennt, zum Selbstbekenntnis als Deutscher und zugleich zur Selbstbezichtigung über. Er habe „alles auch in mir; […] alles am eigenen Leibe erfahren“ (S. 314). Dazu gehört die Beteuerung, auch vom Exil aus mit den Deutschen kommuniziert zu haben – Werke sind ihm dabei zu Botschaften geworden. Sein Goethe-Roman Lotte in Weimar, „in ein paar Exemplaren zu euch hineingeschmuggelt“ (S. 313), ist ihm nun ein an die Deutschen im Reich adressierter Brief, Dokument eines jetzt erst ausge-
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Vgl. Potempa: Bibliographie (Anm. 32), S. 95, 99, 103, 137. „Ja, so mancher Brief kommt nun aus der fremden, unheimlichen Heimat“ (S. 313).
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sprochenen Wunsches: „Mit euch zu leiden“ (S. 313). Aus der Anklageschrift gerät der Offene Brief zum sympathetischen Bekenntnis, zum Appell einer Annäherung im Zeichen gemeinsamen Leidens an Deutschland. Die im zeitgleich entstandenen Doktor Faustus strapazierte Theologie der „Gnade“ (S. 314) darf auch hier nicht fehlen – sie wird dem Schreiber wie den Adressaten gleichermaßen zugesprochen. Es verdichtet sich die Vermutung, dass die hier angeschlagenen Töne, der Brief des draußen stehenden Repräsentanten an ‚alle‘, die er repräsentieren möchte, zwar eine Wendung vom Privaten zum Öffentlichen erkennen lassen, doch dass es sich im Grunde um ein Selbstgespräch handelt, Selbstbezichtigung und Selbstbegnadigung eingeschlossen. Nun dürfen Deutschlands positive ‚Charaktereigenschaften‘ nicht fehlen, die in einer künftigen Welt, in der der Nationalstaat weniger Geltung hat und in der sich Mann eine „gewisse Entpolitisierung des Staatenlebens überhaupt“ (S. 315) erhofft, wieder ihren Platz finden werden – eben das Unpolitische, das „Weltverlangen“ (S. 315), die „Liebe“ (S. 315) an der Stelle der von ihm mit dem deutschen Sündenfall der Machtpolitik verbundenen Eigenschaften „Dünkel und Haß“ (S. 315). Es bleibt bei dem Selbstgespräch, das sich um deutsche Universalien, Charaktereigenschaften dreht. Nicht zufällig waren es die harten Anklagepunkte, nicht diese vagen, versöhnlichen Hoffnungen, die den Lesern im Gedächtnis blieben. Manns Brief nähert sich mit seiner conclusio auch schon der peroratio, die, in der persönlichen Ansprache an Molo, versöhnlich bleibt, dabei aber nur scheinbar das vorher geäußerte Verdikt zurücknimmt. Das „[a]uf Wiedersehen also“, die Beteuerung der „Anziehungskraft“ (S. 316) gemahnt mehr an wohlmeinende, die Zuwendung zum Adressaten erneuernde Schlussformeln des Privatbriefs, zu denen Mann hier seine Zuflucht nimmt, als an den konsequenten Abschluss einer an die gesamte deutsche Öffentlichkeit gerichteten rücksichtslosen Analyse und Schuldzuweisung. Mann stellt auf mehreren Ebenen intertextuelle Beziehungen zum eigenen ‚Werk‘ her, lässt den Brief zu dessen Teil werden. Er setzt auf diese Weise subtile, für den zeitgenössischen Leser vielfach überhaupt nicht erkennbare Fiktionalitätsmarker, schreibt also etwa mit den Worten des Romanerzählers Serenus Zeitblom, und konturiert die neben Intimität und politischer Öffentlichkeit dritte Argumentationsebene des Briefs. Erstens zitiert, paraphrasiert und bekräftigt er die vor allem im Mai 1945 in der Rede Deutschland und die Deutschen vollzogene, freilich in vielen seiner früheren Texte angelegte ideen- bzw. geistesgeschichtliche Deutschenschelte, die als große mythenhafte Erzählung vom Deutschen fiktionale Züge trägt. Damit rückt er den Brief an Molo ganz nah an dieses Werk. Es sind zweitens Bildungszitate, die einen Zusammenhang zwischen seinem Brief,
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dem kanonischsten aller deutschen Texte und einem eigenen Hauptwerk in progress herstellen: Es handelt sich um die autoritative Rede eines deutschen Schriftstellers in der Nachfolge Goethes, der mit dem deutschen „Hexensabbat“ (S. 311) auf den Faust und zugleich auf den Zauberberg anspielt. Doch zugleich stellt er drittens mit dem mehr oder weniger expliziten Einbekenntnis der Mitschuld und mit der Ablehnung der in Deutschland seit 1933 gedruckten Bücher sein eigenes Werk in Frage. Mit dem Molo-Brief verflochten ist nicht nur Manns Faustroman, sondern auch der 1949 erschienene autobiographische making-of-Text Die Entstehung des Doktor Faustus, in dem Mann den „Brief an den interpellierenden Schriftsteller“36 erwähnt und weitere Referenzen herstellt: Ähnlich wie beim Briefwechsel mit der Bonner Universität von 1936 war für „eine haltbar dokumentarische Form“37 Sorge zu tragen. Mann legt auf den Schluss des Briefs großen Wert: „Geist der Versöhnlichkeit und tröstlicher Haupterhebung.“38 Letztere bezieht sich auf Die Geschichten Jaakobs, den 1933 erschienenen ersten Band der Joseph-Tetralogie.39 Es handelt sich dort um die Geschichte der Rechtfertigung des an seinem Bruder Esau schuldig gewordenen Jaakob durch Gott, der den Zweitgeborenen zum Begründer des Volkes Israel machen will. In Jaakobs Traum von der Himmelsleiter „ward ihm das Haupt erhoben aus jeder Schmach zum hehrsten Gesicht“.40 Rechtfertigung, Gnade, Repräsentanz – mittels seiner Kommentare zu eigenen Texten integriert Mann sich selbst, seine mythische persona, in diese Texte. Dazu gehört eben auch die Selbstbegnadigung. In der Summe reproduzieren die Referenzen des Texts ein ausgeklügeltes, über Jahrzehnte im Schreiben und Leben erprobtes System von Spiegelungen: eine Verschränkung, ja Verschmelzung von individueller Biographie – Werk – deutscher Kultur und Politik. Schuldzuweisung und (Selbst-) Begnadigung sind eingeschlossen. Die Werkbezüge wie auch die verhandelte Thematik lassen die private Komponente des Texts zurücktreten, die dennoch mehrere Funktionen besitzt. Erstens bietet die Antwort auf zwei bereits geschriebene Briefe,
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Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. In: Ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. XI. Frankfurt/M. 1960/74. S. 145–301, hier S. 236. Ebd. Ebd. Vgl. das Kapitel „Die Haupterhebung“ in: Thomas Mann: Die Geschichten Jaakobs. In: Ders.: Gesammelte Werke (Anm. 36). Bd. IV. S. 57–389, hier S. 140–145. Ebd., S. 141. Vgl. Genesis 28, 10–22. Das Stichwort ‚Haupterhebung‘ fällt auch im Tagebucheintrag vom 10.9.1945: „Die letzten Seiten des deutschen Briefes tatsächlich noch einmal vorgenommen und mit Haupterhebung versehen.“ Mann: Tagebücher (Anm. 23), S. 251.
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einen privaten und einen Offenen, einen probaten Schreibanlass, lässt sie eine pragmatische Funktion des Briefeschreibens aufscheinen, nämlich die Hinwendung zu einem (ganz bestimmten) Gegenüber. Zweitens dürfte es sich, soweit ein bestimmter Adressat angesprochen ist, um eine zumindest formal defensive, bei aller Aggressivität abschwächende Geste handeln, denn Molo selbst wird nicht angeklagt. In der Diskussion um seine Mitwirkung an den Exilorganisationen hatte sich Mann allzu sehr exponiert und neigte etwa seit 1943 zum Rückzug – sehr zum Missfallen seiner Mitemigranten, von denen sich Bertolt Brecht am lautesten gegen diese vermeintlich passive Haltung ausgesprochen hatte.41 Inzwischen war in den USA auch seine nationalistische Publizistik der Jahre 1914-1918 ausgegraben worden, und Mann wollte sich trotz andauernder Nachfragen so wenig wie nur möglich ‚offiziell‘ zu politischen Fragen äußern.42 Ein Text, der die Form des Briefs wahrt, trägt zumindest auf den ersten Blick individuellere, weniger allgemein gültige Züge, leugnet den Charakter der ‚offiziellen‘ Verlautbarung und wirkt weniger drastisch. Drittens ist an die medial-publizistische Situation nach Kriegsende zu denken. Manns Text gehört der privaten und zugleich der öffentlichen Kommunikation an und schließt, ohne dem Genre nach und als Sprechakt eindeutig zu sein, vieles in sich, was um 1945 aus politischen oder aus technischen Gründen nicht sichergestellt ist: das Tauschen von Briefen über den Atlantik hinweg und damit die Erneuerung alter Bekanntschaften, eine entstehende, aber noch ungesicherte Debattenkultur unter demokratischen Vorzeichen, die Intimität des Bekenntnisses in einem öffentlichkeitstauglichen ‚Format‘, einen Beitrag zum ‚Werk‘ eines Schriftstellers angesichts von Papierknappheit und erheblicher Veränderungen in der Verlagslandschaft. Viertens ist für Manns Vermengung von Deutschland-Metaphysik und Selbstbezichtigung kennzeichnend, dass Begriffe, die zunächst und vor allem individuell referenzierbar sind, also Schuld und Gnade, Charakter und Schicksal, immer wieder changierend vom Einzelnen auf die Gesamtheit übertragen werden und umgekehrt. Das Private ist dabei zumindest eine unverzichtbare Zwischenstation des dialektischen Umschlags, zugleich Vehikel der Veranschaulichung. Thomas Mann selbst wird auf diese Weise zum heimlichen Ecce homo seines eigenen geschichtsmythologischen Entwurfs vom ‚guten‘ und ‚bösen‘ Deutschland. Fünftens spannt die Distanzgebärde des Privatbriefs zwischen Mann und Molo zumindest dem Anschein nach, also den brieflichen Konventionen nach, einen geschützten
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Vgl. Lehnert: Brecht und Mann (Anm. 15). Vgl. den zur Veröffentlichung gedachten Brief an Clifton Fadiman vom Mai 1944 ([Zur Erklärung des ‚Council for a democratic Germany‘]) sowie The Quotations of Mr. Peyre. In: Mann: Essays. Bd. 4 (Anm. 2), S. 247–256.
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Diskussionsraum auf, in dem auch die harten Anschuldigungen Manns noch etwas vom spielerischen Charakter politischer Einlassungen in Intimkommunikation haben, zumal sich Mann eben nicht gegen Molos Verhalten während des Nationalsozialismus wendet. Erst wenn man sich diesen privaten Rahmen wegdenkt – und der Zeitungsleser in Deutschland wird dies sofort getan haben –, wird die Härte von Manns Kritik offenbar.
IV. Eine Wirkungsgeschichte voller Eigendynamik Sofort nach der Publikation wurde Manns Text öffentlich diskutiert und, in Deutschland jedenfalls, heftig kritisiert. Die Emotionalisierung und Generalisierung, mit der Thomas Mann Anklage führt, wurde aufgrund der publizistischen Adressierung in einem enormen Ausmaß als Provokation aufgefasst. Das schon gefallene Stichwort ‚Innere Emigration‘ brachte ein Sekundant Molos, der ebenfalls 1933 bis 1945 in Deutschland verbliebene Autor Frank Thieß, in eine nun beginnende, hitzig geführte Debatte ein. Die Unzuverlässigkeit der Kommunikationskanäle bedingte allerdings, dass Thieß’ auf Molo reagierender Offener Brief vor Manns Antwort erschienen, von diesem aber nicht mehr rechtzeitig gelesen worden war. Bald schon publizierte man eine Zusammenstellung der vermeintlichen Beiträge Manns, Thieß’ und Molos zu einem jetzt so genannten „Streitgespräch über die äußere und die innere Emigration“ – ein Sammelbegriff für einen nun erst unterstellten Diskussionszusammenhang war entstanden!43 Viel zitiert wurde Thieß’ Denunziation der Emigranten, die „aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie“ zugeschaut hätten.44 In einer publizistischen Kanonade kam es nun über Monate hin zu einer Auseinandersetzung über die Rolle der Schriftsteller in der NS-Zeit.45 Diese Debatte mündete in eine Selbst-Rechtfertigung der selbst ernannten geistigen Elite Deutschlands. Es scheint, als habe Manns Invektive geradezu eine Welle des Beschönigens und Verdrängens in
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Thomas Mann, Frank Thieß u. Walter von Molo: Ein Streitgespräch über die äußere und die innere Emigration. Dortmund o. J. [1946]. Vgl. Potempa: Bibliographie (Anm. 32), S. 561, Nr. 941.10. Frank Thieß: Innere Emigration. In: Mann/Thieß/Molo: Streitgespräch (Anm. 43), S. 1 f., hier S. 2. Die Texte sind, allerdings um unzuverlässige, subjektiv gefärbte Zwischentexte ergänzt, gesammelt in: J. F. G. Grosser (Hg.): Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hamburg, Genf, Paris 1963; vgl. auch die Übersicht in Lehnert: Kommentar (Anm. 10), S. 71–81.
Thomas Mann an Walter von Molo, 2.-9.9.1945
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Deutschland ausgelöst. In einem Offenen Brief an Johannes R. Becher beschuldigte Thieß Mann selbst eines „moralische[n] Nationalsozialismus“ und lehnte für die deutsche Bevölkerung jegliche ‚juristische‘ oder ‚politische Schuld‘ ab – allenfalls ‚religiöse‘ Schuld wollte er anerkennen.46 Die weitere Rezeptionsgeschichte bestätigte die frühen Reaktionen, denn Manns Brief an Molo wurde weitgehend als publizistischer Text rezipiert, nur ausnahmsweise als Brief. Das zeigt etwa Georg Potempas Thomas-Mann-Bibliographie.47 In der Geschichte von Manns literarischem ‚Werk‘ ist der Text Ankündigung und Beleg der Kontinuität seines ‚Exilwerks‘ über 1945 hinaus bis zum Lebensende. Als ‚Brief‘ führt der Text ein marginales Dasein in dem von Hans Wysling herausgegebenen Briefwechsel mit Autoren.48 In diesen Kontext eingerückt wird sichtbar, dass Manns Korrespondenzen mit Kollegen vor allem solchen minderer Bedeutung gewidmet sind und nur selten zu seinen lesenswerteren zählen. Bis heute gelten Manns Offener Brief und die daraus entstandene Debatte eine literaturgeschichtliche Gelenkstelle am Beginn einer ‚Nachkriegsliteratur‘, den Auslöser der „Orientierungssuche“49 im Zeichen einer Abgrenzung der in Deutschland lebenden und arbeitenden Autoren von denen des Exils. Sich von der ‚äußeren‘ Emigration zu distanzieren, bedeutete eine literaturpolitische Weichenstellung, deren Folgen sich in der in Westdeutschland nach dem Kriegsende entstehenden Literatur auf Schritt und Tritt bemerkbar machten. Nur aus der besonderen Konstellation von weltweiter Reputation und fundamentaler politischer Kritik Thomas Manns und kulturellem Prestigedenken wie gebrochenem Selbstwertgefühl vieler Deutscher ist die andauernde Heftigkeit zu verstehen, mit der nach 1945 die Debatte um Thomas Manns Rückkehr geführt wurde.50
Es schien, der jeder Einladung hartnäckig widerstrebende Nobelpreisträger habe bei den Deutschen verspielt. In der Forschung zu den Offenen Briefen wird gern eingeräumt, dass diese „faktisch wirkungslos zu sein scheinen“,51 ja oft ihren „Verfassern
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Frank Thieß an Johannes R. Becher, 20.3.1946. In: Grosser: Kontroverse (Anm. 45), S. 102–108; Zitat S. 105. Vgl. Potempa: Bibliographie (Anm. 32), S. 560–562. Thomas Mann an Walter von Molo, 7.9.1945. In: Mann: Briefwechsel mit Autoren (Anm. 19), S. 368–377. Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 1994. S. 8. Ebd., S. 9. Die „Große Kontroverse“ wird zu Beginn dieser tausendseitigen Literaturgeschichte über mehrere Seiten hinweg geschildert. Burckhard Dücker: Der offene Brief als Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 23 (1992). S. 32–42, hier S. 32.
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Jochen Strobel
sogar gefährliche persönliche Benachteiligungen eingetragen haben.“52 Die Misere von Manns Offenem Brief an Molo besteht darin, dass zwar Anklage und Bekenntnis auch als Selbstkritik und Selbstbegnadigung des Nationalautors von der Ferne aus lesbar werden, dass aber die sich nach ‚Stunde Null‘ und Wiedergeburt sehnenden Adressaten sich nicht berechtigterweise adressiert glaubten, Manns Schuldspruch wie auch sein Gnadenangebot ausschlugen und aus dieser Zurückweisung sogar trotzig ein Selbstbewusstsein ‚inneren‘ Emigrantentums gewannen. Das J’accuse richteten seine Adressaten schließlich gegen den Briefschreiber selbst. Thomas Mann, der von seinem Repräsentanzanspruch nicht lassen konnte, wurde, diesmal von seinen deutschen Kollegen, gleichsam erneut und nun endgültig ins Exil geschickt.
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Nickisch: Schriftsteller (Anm. 5), S. 480.
Ingeborg Bachmann an Paul Celan, 28. Oktober 1957 (Telegramm) ICH WERDE HEUTE SCHREIBEN ES IST SCHWER VERZEIH INGEBORG
Ingeborg Bachmann an Paul Celan, 28.–29. Oktober 1957 Montag, den 28. Oktober 1957, München Paul, vor zehn Tagen ist Dein erster Brief gekommen. Seither will ich jeden Tag antworten und versäume es über dem stundenlangen verzweifelten Sprechen mit Dir. Welche Abkürzungen muß ich in dem Brief jetzt nehmen! Wirst Du mich trotzdem verstehen? Wirst Du auch die Augenblicke dazudenken, in denen ich nur die Gedichte vor Augen habe, oder nur Dein Gesicht, oder Nous deux encore?! Um Rat fragen kann ich niemand, das weißt Du. Ich bin Dir dankbar, daß Du Deiner Frau alles gesagt hast, denn es ihr ‚ersparen‘, hieße doch, schuldiger werden, auch sie verringern. Weil sie ist, wie sie ist, und weil Du sie liebst. Aber ahnst Du, was ihre Hinnahme und ihr Verstehen für mich bedeuten? Und für Dich? Du darfst sie und Euer Kind nicht verlassen. Du wirst mir antworten, das sei schon geschehen, sie sei auch schon verlassen. Aber bitte, verlasse sie nicht. Muß ich es begründen? Wenn ich an sie und das Kind denken muß – und ich werde immer daran denken müssen – werde ich Dich nicht umarmen können. Weiter weiß ich nichts. Die Ergänzung, sagst Du, muß heißen „Ins Leben“. Das gilt für die Geträumten. Aber sind wir nur die Geträumten? Und hat eine Ergänzung nicht immer stattgehabt, und sind wir nicht schon verzweifelt im Leben, auch jetzt, wo wir meinen, es käme auf einen Schritt an, hinaus, hinüber, miteinander? Dienstag: ich weiß schon wieder nicht weiter. Bis vier Uhr früh war ich wach und wollte mich zwingen, weiterzuschreiben, aber ich konnte den Brief nicht mehr anrühren. Liebster Paul. Wenn Du Ende November kommen könntest! Ich wünsche es mir. Darf ich? Wir müssen uns jetzt sehen. In einem Brief an die Prinzessin mußte ich gestern, um nicht auszuweichen, ein paar Worte über Dich schreiben, „herzliche“. Früher fiel mir
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Ingeborg Bachmann und Paul Celan, 28./29.10. u. 31.10/1.11.1957
das, trotz allem, leichter, weil ich so glücklich war, Deinen Namen aussprechen oder schreiben zu können. Jetzt meine ich fast, Dich um Verzeihung bitten zu müssen, wenn ich Deinen Namen nicht für mich behalte. Aber wir wissen schon, wie es uns, unter den anderen, weiterergehen wird. Nur wird es uns nicht mehr einschränken. Als ich nach Donaueschingen kam vor einer Woche, hatte ich plötzlich den Wunsch, alles zu sagen, alles sagen zu müssen, wie Du es mußtest in Paris. Aber Du mußtest, und ich durfte es nicht einmal, ich bin ja frei und in dieser Freiheit verloren. Weißt Du, was ich damit meine? Doch das ist nur ein Gedanke aus einer langen Gedankenkette, einer Fesselung. Du hast mir gesagt, Du seist auf immer versöhnt mit mir, das vergesse ich Dir nie. Muß ich jetzt denken, daß ich Dich wieder unglücklich mache, wieder die Zerstörung bringe, für sie und Dich, Dich und mich? Daß man so verdammt sein sollte, kann ich nicht begreifen. Paul, ich schicke den Brief so weg, mein Verlangen war, viel genauer zu sein. – Ich wollte Dir noch sagen in Köln, Dich bitten, die „Lieder auf der Flucht“ noch einmal zu lesen, in jenem Winter vor zwei Jahren bin ich am Ende gewesen und habe die Verwerfung angenommen. Ich habe nicht mehr gehofft, freigesprochen zu werden. Zu welchem Ende? Ingeborg Dienstag abend: Ich habe heute morgen geschrieben: wir müssen uns jetzt sehen. Das ist die Ungenauigkeit, die ich schon fühlte und die Du mir noch nachsehen sollst. Denn ich kann nicht abgehen von dem Wort: Du darfst sie und Euer Kind nicht verlassen. Sag mir, ob Du es für unvereinbar hältst, daß ich mir wünsche, Dich zu treffen und Dir das sage.
Ingeborg Bachmann und Paul Celan, 28./29.10. u. 31.10./1.11.1957
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Paul Celan an Ingeborg Bachmann, 31. Oktober – 1. November 1957 am 31. Oktober 1957. Heute. Der Tag mit dem Brief. Zerstörung, Ingeborg? Nein, gewiß nicht. Sondern: die Wahrheit. Denn dies ist ja wohl, auch hier, der Gegenbegriff: weil es der Grundbegriff ist. Vieles überspringend: Ich werde nach München kommen, Ende November, gegen den 26ten. Ins Übersprungene zurück: Ich weiß ja nicht, was all das bedeutet, weiß nicht, wie ichs nennen soll, Bestimmung, vielleicht, Schicksal und Auftrag, Namensuche hat keinen Sinn, ich weiß, daß es so ist, für immer. Auch mir gehts wie Dir: daß ich Deinen Namen aussprechen und aufschreiben darf, ohne mit dem Schauer zu hadern, der mich dabei überkommt – für mich ists, trotz allem, Beglückung. Du weißt auch: Du warst, als ich Dir begegnete, beides für mich: das Sinnliche und das Geistige. Das kann nie auseinandertreten, Ingeborg. Denk an „In Ägypten“. Sooft ichs lese, seh ich Dich in dieses Gedicht treten: Du bist der Lebensgrund, auch deshalb, weil Du die Rechtfertigung meines Sprechens bist und bleibst. (Darauf habe ich wohl auch damals in Hamburg angespielt, ohne recht zu ahnen, wie wahr ich sprach.) Aber das allein, das Sprechen, ists ja gar nicht, ich wollte ja auch stumm sein mit Dir. Eine andere Gegend im Dunkel: Warten: ich habe auch das erwogen. Aber hieße das nicht auch darauf warten, daß das Leben uns in irgendeiner Weise entgegenkommt? Uns kommt das Leben nicht entgegen, Ingeborg, darauf warten, das wäre wohl die uns ungemäßeste Art, da zu sein. Da sein, ja, das können und dürfen wir. Da sein – für einander. Und wenns nur ein paar Worte sind, alla breve, ein Brief, einmal im Monat: das Herz wird zu leben wissen. (Und doch, eine konkrete Frage, die Du schnell beantworten mußt: Wann fährst Du nach Tübingen, wann nach Düsseldorf? Man hat mich ebenfalls dorthin eingeladen.) Weißt Du, daß ich jetzt wieder sprechen (und schreiben) kann? Ach, ich muß Dir noch viel erzählen, auch Dinge, die selbst Du kaum ahnst.
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Ingeborg Bachmann und Paul Celan, 28./29.10. u. 31.10/1.11.1957
Schreib mir. Paul P.S. Seltsamerweise mußte ich, auf dem Weg in die Nationalbibliothek, die Frankfurter Zeitung kaufen. Und auf das Gedicht stoßen, das Du mir zusammen mit der Gestundeten Zeit schicktest, auf einem Papierstreifen geschrieben, mit der Hand. Ich hatte es immer für mich ausgelegt, und nun kommts wieder auf mich zu – in welchem Zusammenhang! I. X. 57. Verzeih, Ingeborg, verzeih die dumme Nachschrift von gestern – ich will vielleicht nie wieder so denken und sprechen. Ach, ich bin so ungerecht gegen Dich gewesen, all diese Jahre, und die Nachschrift war wohl ein Rückfall, der meiner Ratlosigkeit zu Hilfe kommen wollte. Ist „Köln, Am Hof“ nicht ein schönes Gedicht? Höllerer, dem ichs neulich für die Akzente gab (durfte ich das?) meinte, es sei eines meiner schönsten. Durch Dich, Ingeborg, durch Dich. Wäre es je gekommen, wenn Du nicht von den „Geträumten“ gesprochen hättest. Ein Wort von Dir – und ich kann leben. Und daß ich jetzt wieder Deine Stimme im Ohr hab! Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Hg. v. Bertrand Badiou, Hans Höller u. a. Frankfurt/M. 2008. S. 62–65. © Suhrkamp Verlag Berlin. Abbildungen: Deutsches Literaturarchiv Marbach, mit freundlicher Genehmigung von Frau Isolde Moser und Herrn Dr. Heinz Bachmann (Brief von Ingeborg Bachmann); Österreichische Nationalbibliothek Wien, mit freundlicher Genehmigung von Herrn Bertrand Badiou (Brief von Paul Celan).
Ingeborg Bachmann an Paul Celan, 28.–29. Oktober 1957
Paul Celan an Ingeborg Bachmann, 31. Oktober–1. November 1957
Sibylle Schönborn
Nous deux encore? – Zu zwei Briefen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan aus dem Herbst 1957 Als im Jahr 2008 der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan publiziert wurde, war das Publikumsinteresse groß, da sich die Öffentlichkeit von ihm Einblicke in die skandalumwitterte Beziehung der beiden Protagonisten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur versprach. Auch die unmittelbar einsetzende Rezeption folgte mit Ausnahme von Frauke Meyer-Gosaus früher Würdigung1 diesem einseitigen Interesse, da mit der Publikation die Geschichte einer persönlichen Beziehung nachvollziehbar erschien, die bis dato ‚nur‘ auf der Ebene literarischer Textbeziehungen2 diskutiert werden konnte. Eine Auseinandersetzung mit den Briefen unter werkgeschichtlichen, gattungspoetischen, intertextuellen, medien- und kulturhistorischen3 oder diskursanalytischen Ansätzen über ein biografisches Interesse hinaus hat dagegen, abgesehen von den kenntnisreichen Nachworten4 zu der Briefedition erst mit den Beiträgen
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Frauke Meyer-Gosau: Wer bin ich für Dich nach soviel Jahren? In: Literaturen 9 (2008), H. 10. S. 56–61. Vgl. Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Hg. v. Bernhard Böschenstein u. Sigrid Weigel. Frankfurt/M. 1997; S. Weigel warnt dort – aus dem Mangel eine wissenschaftliche Methode machend – sogar vor der den unvoreingenommenen Blick auf die Texte verstellenden Publikation des Briefwechsels: „Anstatt Gegenstand biographischer Neugier werden zu können, bleibt das ‚Geheimnis der Begegnung‘, von dem Celan im Meridian spricht, auf diese Weise in den Archiven bewahrt und stellt auf diese Weise eine Herausforderung an die literaturwissenschaftliche Methodologie dar: die Notwendigkeit nämlich, sich auf die literarischen, nicht brieflichen Korrespondenzen zu konzentrieren und so tatsächlich ausschließlich den poetischen Dialog zu rekonstruieren.“ (S. 9 f.) Später auch: Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999; Barbara Wiedemann: Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Ein Dialog? In Liebesgedichten? In: Dieter Burdorf (Hg.): Im Geheimnis der Begegnung. Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Iserlohn 2003. S. 21–43. Weitere Literatur zum Thema siehe auch in: Monika Albrecht u. Dirk Göttsche (Hg.): Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2002. S. 283 f. und Markus May u. Peter Goßens (Hg.): Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2008. S. 317– 319. Zur Theorie der Materialität des Briefs vgl. den einschlägigen Band: Anne BohnenkampRenken u. Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurt/M. 2008. Vgl. Barbara Wiedemann u. Bertrand Badiou: „Laß uns die Worte finden“. Zum Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. In: Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Hg. v. Bertrand Badiou, Hans Höller u. a. Frankfurt/M. 2008. S. 215–223; Hans Höller u. Andrea Stoll: Das Briefgeheimnis der Gedichte. In: Ebd., S. 224–243.
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Sibylle Schönborn
von Barbara Wiedemann,5 Bertrand Badiou und Susanne Böhmisch eingesetzt. In der Tat ist der Briefwechsel zwischen Bachmann und Celan als ein persönlich-privater geführt worden, der von beiden weder während seiner Entstehung noch nach seiner Beendigung zur Publikation vorgesehen war. Dennoch ist er mehr als ein authentisches Dokument einer persönlichen Beziehungsgeschichte, denn abgesehen davon, dass hier zwei bedeutende Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur brieflich korrespondieren und dieses Wissen um die eigene Autorschaft an jedem Brief implizit mitschreibt, geben die Briefe aufschlussreiche Einblicke in den engen Zusammenhang von Leben und Werk beider Autoren, die künstlerische Zusammenarbeit ihrer Schreiber, den Literaturbetrieb der Nachkriegszeit6 und die Anfänge des Nachkriegsdiskurses über Schuld und die Erinnerung an die Opfer der Shoah. Darüber hinaus sind sie aber auch als eigenständige literarische Texte, d. h. ästhetische Artefakte, zu begreifen, bei denen der Briefschreiber mit dem Subjekt seines Textes wie im „autobiographischen Pakt“7 nach Philippe Lejeune zusammenfällt, so dass im Brief „der Autor als Person gegenwärtig“8 erscheint, wie Detlev Schöttker formuliert. Nachdem der Autor und die Autorschaft in der literaturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Zeit wieder an Bedeutung gewonnen haben,9 bekommt auch der Brief als Gattung erneut Konjunktur in der Fachdiskussion:10 Denn seit Gellerts Brieflehre11 dominiert das Postulat von Unmit-
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Vgl. Barbara Wiedemann: „auch ich schreibe jetzt mit Durchschlag …“. In: Bohnenkamp/Wiethölter: Der Brief (Anm. 3), S. 196–215. Vgl. Bertrand Badiou: L’alliance d’amour avec les morts: la correspondence Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Trois Lettres d’Ingeborg Bachmann présentées et traduites par Bertrand Badiou. In: Poesie (2010) H. 130. S. 61–67; Susanne Böhmisch: Quelles voix dans l’altérité? Ingeborg Bachmann et Paul Celan. In: Ebd., S. 75–84. Beim Einblick in den Literaturbetrieb der Nachkriegszeit ist u. a. an Celans Auftritt bei der Gruppe 47, das Zeitschriftenpojekt Botteghe oscure, die Auseinandersetzung Celans mit Günter Blöcker und die Goll-Affäre zu denken. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994. S. 13–54. Detlev Schöttker: Einführung: Briefkultur und Ruhmbildung. In: Ders. (Hg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München 2008. S. 19. Vgl. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer u. a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999; Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002; Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin, New York 2007. Vgl. Jochen Strobel (Hg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006. Vgl. Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Bd. 4. Roman, Briefsteller. Hg. v. Bernd Witte, Werner Jung u. a. Berlin, New York 1989. S. 105–221.
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telbarkeit, Authentizität und Wahrhaftigkeit epistolarer Selbsterfindung die Gattungspoetiken, so dass nach Detlev Schöttker „unmittelbarer ein Leser nicht am Leben eines Autors teilhaben“12 kann. Auch im Falle dieser epistolographischen Doktrin, die den Brief als „Archiv[ ] der Subjektivität“13 begreift, sollte besser von literarischen Autofiktionen gesprochen werden, um neben der grundsätzlichen Fiktionalität von Subjektentwürfen zu berücksichtigen, dass jeder sprachliche Ausdruck von Subjektivität spezifischen kommunikativen, diskursiven und kulturellen Semantiken folgt. Briefe sind daher Medien autofiktionaler Selbstinszenierungen im Kontext diskursiver Subjektivitätskonzepte, deren Besonderheit darin liegt, dass sie im Gegensatz zu monologischen Gattungen wie dem Tagebuch und der Autobiographie durch ihr dialogisches Prinzip instabile, offene, einer permanenten Veränderung und Anpassung unterworfene Identitäten im Dialog mit dem Briefpartner hervorbringen. Die Briefe von Ingeborg Bachmann und Paul Celan sollen im Folgenden als adressierte Autofiktionen gelesen werden, in denen die Selbstentwürfe des schreibenden Ichs über eigene Gedichte und deren Reflexion im direkten, an den Briefpartner adressierten Dialog formuliert, diskutiert, infrage gestellt und korrigiert werden. Die beiden Briefe vom 28./29. Oktober 1957 und 31. Oktober 1957 demonstrieren diesen Zusammenhang besonders anschaulich, da sie als Momentaufnahme eine Wende im personalisierten Diskurs über Schuld und Gedenken an die Opfer der Shoah markieren, der über Anspielungen auf Gedichte und Reflexionen, Kommentierungen und Adressierungen der eigenen lyrischen Produktionen verläuft.
I. Der Briefwechsel Briefe zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan sind uns mit Unterbrechungen über 19 Jahre hinweg vom 24. Juni 1948 bis zum 30. Juli 1967 überliefert. Der erste Brief von Celan, wenige Tage nach dem Kennenlernen der beiden zum 22. Geburtstag Bachmanns entstanden, besteht aus einem an Bachmann adressierten und ihr gewidmeten Gedicht mit dem Titel In Aegypten in einem Pariser Kunstband Peintures 1939–46.14
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Schöttker: Adressat: Nachwelt (Anm. 8), S. 19. Ebd. Vgl. den Kommentar in: Herzzeit (Anm. 4), S. 251.
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Sibylle Schönborn
In Aegypten Für Ingeborg Du soll[s]t zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser! Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen. Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noemi! Mirjam! Du sollst sie schmücken, wenn du bei der Fremden liegst. Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden. Du sollst zu Ruth, zu Mirjam und Noemi sagen: Seht, ich schlaf bei ihr! Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken. Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noemi. Du sollst zur Fremden sagen: Sieh, ich schlief bei diesen!15
Dieses erste brieflich an Bachmann adressierte Gedicht hat insofern programmatischen Charakter, als es nicht nur die lyrische Produktion zum zentralen und hier einzigen Bestandteil der Korrespondenz erhebt, sondern zugleich im Gedicht die Beziehung selbst zu definieren und den Rahmen ihrer Möglichkeiten und Grenzen abzustecken versucht. Auf dieses Initiationsgedicht nimmt Celan in seinem Brief vom 31. Oktober 1957 noch einmal Bezug (S. 335), wenn es darum geht, die Beziehung nahezu ein Jahrzehnt später neu zu definieren. Das letzte Briefzeugnis vom 30. Juli 1967 stammt wiederum von Celan, nachdem Bachmann zum Jahreswechsel 1961/62 den Briefwechsel abgebrochen hatte. Einen Höhepunkt des Briefwechsels markieren die beiden Briefe, die nach der Wiederbegegnung auf der Tagung Literaturkritik – kritisch betrachtet16 in Wuppertal am 13. Oktober 1957 entstehen und die im Folgenden genauer betrachtet werden sollen.
II. Entstehungssituation und Position der Briefe im Briefwechsel In einer biografischen Lesart dokumentieren die beiden Briefe aufs Genaueste den tiefgreifenden Konflikt, in den die beiden Briefpartner nach der Wiederaufnahme ihrer Liebesbeziehung anlässlich der Treffen in Wuppertal und Köln geraten waren. Bachmann formuliert den unlösbaren Widerspruch zwischen ihrem Anspruch, einerseits Celans Ehe und Fami-
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Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 366.
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lie respektieren und andererseits nicht auf eine intime Beziehung mit ihm verzichten zu wollen, und plädiert für eine offene Dreierbeziehung: Ich bin Dir dankbar, daß Du Deiner Frau alles gesagt hast, denn es ihr ‚ersparen‘, hieße doch, schuldiger werden, auch sie verringern. […] Du darfst sie und Euer Kind nicht verlassen. (S. 333)
In ihrer Nachschrift vom Dienstagabend wiederholt sie diesen Satz abschließend wörtlich. Zu dieser Problematik kommt die Geschichte ihrer Beziehung, die, wie Bachmann selbst bereits früh anmerkt, keine ausschließlich persönliche, sondern eine „exemplarische“17 und damit eine unmögliche im Sinne der unaufhebbaren Differenz zwischen Angehörigen des Täter- und des Opferkollektivs in der unmittelbaren Nachgeschichte der Shoah ist. Im Herbst 1957 scheint sich die Situation für Bachmann radikal geändert zu haben und damit eine Chance für die Wiederaufnahme der Beziehung gegeben, denn Celan hat sie vom Schuldvorwurf befreit und damit die entscheidende Basis für eine gleichberechtigte Beziehung geschaffen. Welche Bedeutung diese (vorübergehende) Herauslösung der Beziehung aus dem Schulddiskurs der Shoah hatte, teilt sie ihm in ihrem Brief mit: „Du hast mir gesagt, Du seist auf immer versöhnt mit mir, das vergesse ich Dir nie.“ (S. 334) Und später heißt es: „Ich habe nicht mehr gehofft, freigesprochen zu werden.“ (S. 334)
III. Schreibszene und Materialität der Briefe Der von Rüdiger Campe in die medienwissenschaftliche Diskussion eingeführte Begriff der „Schreibszene“18 begreift Schreiben als einen komplexen kognitiven, psychischen und physischen Akt, bei dem die körperliche Seite des Schreibens und die Materialität der Schrift eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Die Analyse der Schreibszene eines Briefs, die ihm als Spur seiner Entstehung anhaftet, wird daher zum wesentlichen Bestandteil seiner eigentlichen Botschaft, indem sie Einblick in die „Umstände des Schreibens und damit in die soziale, physische und psychisch-emotionale
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Celan reagiert auf die von Bachmann nachträglich zurückgenommene Definition ihrer Beziehung als exemplarische in seinem Brief vom 7. Juli 1951 kritisch: „Indes, ich bin beteiligt, Inge, und so habe ich kein Auge für das, was Du in jener sorgfältig durchgestrichenen, aber doch nicht bis zur Unleserlichkeit getilgten Stelle in einem Deiner Briefe das ‚Exemplarische‘ unserer Beziehung nennst“; Herzzeit (Anm. 4), S. 25. Vgl. auch dazu Hans Höller und Andrea Stoll: Das Briefgeheimnis der Gedichte. In: Ebd., S. 224– 234, hier S. 224. Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Frankfurt/M. 1991. S. 759– 773.
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Situation des Schreibers gibt“.19 Hier spielt das durch technische Medien des Schreibens erzeugte Schriftbild bei der handschriftlichen (Tinte, Kugelschreiber, Bleistift) oder maschinenschriftlichen Abfassung (mechanisch, elektrisch, elektronisch) ebenso eine Rolle wie der Schriftträger, die Qualität des verwendeten Papiers, die Nutzung des Schriftraums, die Zeit, Dauer und Situation der Abfassung, wie es Barbara Wiedemann allgemein für Bachmann als Briefschreiberin dargestellt hat. Dass Bachmann durchaus um die Bedeutung der Medialität und Materialität des Schreibens wusste, belegen ihre Reflexionen zum Schreiben von Briefen in Malina.20 Bei dem Brief vom 28. Oktober handelt es sich um einen handschriftlich verfassten, der nach drei Gedichten, die Celan ihr nach der Begegnung in Wuppertal und Köln geschickt hatte, mit längerer zeitlicher Verzögerung entsteht. Bachmann schreibt diesen Brief nach ihrem mehr als zehntägigen Schweigen unter großem psychischen Druck, wie aus der telegrafischen Vorankündigung am Vormittag des 28. Oktober um 11:38 Uhr deutlich wird: ICH WERDE HEUTE SCHREIBEN ES IST SCHWER VERZEIH INGEBORG (S. 333).
Diese Entstehungssituation thematisiert Bachmann noch einmal zu Beginn des Briefs und weist damit einerseits auf seine Bedeutung und andererseits auf ihre Schreibhemmung, ihre tiefe Verunsicherung und ihre Ratund Hilflosigkeit gegenüber der durch die Wiederaufnahme der Liebesbeziehung entstandenen Konfliktsituation hin: Paul, vor zehn Tagen ist Dein erster Brief gekommen. Seither will ich jeden Tag antworten und versäume es über dem stundenlangen verzweifelten Sprechen mit Dir. (S. 333)
Tatsächlich folgt dieser Einleitung ein scheinbar quälender, akribisch dokumentierter Schreibprozess, der sich mit Unterbrechungen und Stockungen über zwei Tage hinzieht. Etwas weniger als die Hälfte des Briefs wird am Montag nach der Sendung des Telegramms um 11:38 Uhr verfasst. Fortgesetzt wird er am folgenden Tag nach einer schlaflosen Nacht, in der die Schreiberin erfolglos versucht, den Brief weiter zu schreiben: Dienstag: ich weiß schon wieder nicht weiter. Bis vier Uhr früh war ich wach und wollte mich zwingen, weiterzuschreiben, aber ich konnte den Brief nicht mehr anrühren. (S. 333)
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Wolfgang Bunzel: Schreib-/Leseszene. In: Bohnenkamp/Wiethölter: Der Brief (Anm. 3), S. 237. Vgl. dazu Weigel: Hinterlassenschaften (Anm. 2), S. 543–560.
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Damit erhält der Brief, einer gattungspoetischen Konvention aus dem 18. Jahrhundert wie in Rousseaus Nouvelle Héloïse folgend, den Charakter eines psychologischen Diariums seiner Schreiberin. Abgeschickt wird der über zwei Tage – Montagnachmittag, Dienstagmorgen und -abend – entstandene Brief noch am Dienstagabend oder in der Nacht vor dem Datumswechsel. Dieser bewussten Dokumentation der krisenhaften Schreibszene entspricht das Schriftbild des Briefes allerdings in keiner Weise, sondern steht in einem eklatanten Gegensatz zu ihr. Auf dünnem, beidseitig beschriebenem Papier scheint er in einem Zug mit nur vier kleinen Sofort-Korrekturen und ohne erkennbare Unterbrechungen im Schriftbild auf drei Blättern niedergeschrieben. Das dünne, dennoch ausgewählte – leicht rötlichbraun getönte –, strukturierte Briefpapier und die beidseitige, durchschlagende Beschriftung weisen auf seine Versendung per Luftpost hin. Im Vergleich mit den maschinenschriftlichen Briefen Bachmanns, bei denen die einzelnen Seiten meist bis zur letzten Zeile einzeilig beschrieben werden, weisen Bachmanns handschriftliche Briefe einen äußerst großzügigen Umgang mit dem Schreibraum auf, der mit großen, druckvollen Lettern in leicht nach rechts abfallenden Zeilen mit geräumigem Abstand beschrieben wird. Die deutliche Schrift aus königsblauer Tinte macht einen klaren, sauberen, einheitlichen und bestimmten, durch die Größe und Neigung eiligen Eindruck. Die Schrift variiert über die zwei Tage kaum, so dass nur über die Zeitangaben im Brief die Unterbrechungen des Schreibflusses kenntlich werden. Wie bei Bachmanns Brief handelt es sich auch bei Celans Gegenbrief um einen langen, über zwei Tage, am 31. Oktober und 1. November, entstandenen und am 2. November mit Luftpost verschickten Brief, der durch seine Form ebenfalls einen tagebuchähnlichen Charakter annimmt und die Entwicklung und Wandlung des Denkens und Fühlens innerhalb dieses Zeitraums dokumentiert. Celans Antwortbrief ist ebenfalls handschriftlich verfasst, wobei er trotz vieler Gemeinsamkeiten mit Bachmanns Brief – großzügige Nutzung des Textraums, saubere Handschrift mit tiefblauer Tinte – erst auf den zweiten Blick eine Reihe signifikanter Unterschiede aufweist. So muss bei Celan von einer ganz bewussten Gestaltung des Briefs als Artefakt ausgegangen werden, da er nicht nur ein hochwertiges cremefarbenes, mit Wasserzeichen versehenes Velin von Aussedat in Annecy verwendet, das für den Luftpostbrief ebenfalls beidseitig beschrieben wird, sondern den Textraum durch bewusste Zeilenumbrüche, Absätze und Leerzeilen auch grafisch gestaltet. Dagegen weisen das Post Scriptum und seine Erweiterung am folgenden Tag Spuren emotionaler Erregung auf, da die Schrift hier einen eiligen, schnell hingeworfenen Eindruck macht und mehrere kleinere Verschreibungen aufweist. Die
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grafische Gestaltung des eigentlichen Briefs, die den Text gliedert und im Raum anordnet, hat Ähnlichkeit mit der Form seiner Gedichte, so dass für Celans Brief eine ganz bewusste poetische Gestaltung angenommen werden kann, die dem Brief seine Einzigartigkeit schon über seine ästhetische Gestalt verleiht. Auch die Sprache des Briefs erinnert eher an Celans Lyrik als an gattungsspezifische Rhetoriken, denn Celan bedient sich über weite Strecken des Briefs sprachlicher Inversionen und lyrischer Verdichtungsund Chiffrierungsverfahren. So setzt der Brief bereits mit einem Verstoß gegen die Gattungsnorm ein, indem er auf die Anrede seines Adressaten verzichtet: „Heute. Der Tag mit dem Brief.“ (S. 335) Dieser unmittelbare und unvermittelte Briefanfang markiert den einen Tag, der zufällig das Datum des 31. Oktober 1957 trägt und der seine Signatur, Bedeutung und Struktur erst durch den erhaltenen Brief bekommt. Anders als Bachmann entwirft Celan mit seinem Brief kein Psychogramm seines Schreiber-Ichs, sondern reflektiert, kommentiert und diskutiert den erhaltenen Brief im Dialog mit der Briefpartnerin. Auch seine Entstehung lässt sich nahezu lückenlos zurückverfolgen: Dem eigentlichen, stark durchkomponierten Brief folgen zwei Nachschriften, eine am Abend des Tags „mit dem Brief“ und eine am darauffolgenden Tag, möglicherweise unmittelbar vor dem Absenden des Briefs im Postamt, entstandene. Die erste Nachschrift ist mit verwischter Tinte, die zweite mit Kugelschreiber verfasst. Darüber hinaus stellt die zweite Nachschrift, die die erste inhaltlich zurücknehmen soll, so etwas wie eine Briefbeigabe dar, da sie als Schriftträger einen Briefumschlag verwendet, was darauf hindeutet, dass dieser Zusatz spontan und in Ermangelung eines Briefbogens möglicherweise bereits im Postamt verfasst wurde.
IV. Schulddiskurs im Dialog über Lyrik Aus diesen beiden Briefen wie dem gesamten Briefwechsel ist kaum etwas über die Liebesziehung zwischen Bachmann und Celan zu erfahren, stattdessen aber sehr viel über die Art und Weise, wie Bachmann und Celan sich selbst im Kontext der Shoah entworfen, ihre Beziehung ausgehandelt und semantisiert haben, und dies geschieht – vermittelt – im Gespräch über Literatur, im literarischen Zitat oder – direkt – im lyrischen Dialog.21 So steht an zentraler Stelle ein Prosagedicht von Henri Michaux mit dem
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So entstehen die Gedichte In Ägypten, Weiß und Leicht, Rheinufer / (Schuttkahn II) und Köln, Am Hof, In der Mundhöhle, fühlbar: / Finstergewächs von Celan und Aria I und Aria II von Bachmann im Kontext des Briefwechsels, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.
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Titel Nous deux encore aus dem Jahr 1948, an dessen Übersetzung Paul Celan arbeitete. Bachmann zitiert diesen Text in ihrem Brief als Erinnerungsund Identifikationsraum für ihre Beziehung: Wirst Du mich trotzdem verstehen? Wirst Du auch die Augenblicke dazudenken, in denen ich nur die Gedichte vor Augen habe, oder nur Dein Gesicht, oder Nous deux encore?! (S. 333)
In Bachmanns Brief kommt dem Michaux-Zitat die Funktion zu, die Beziehung zwischen Celan und ihr zu beschreiben und zu definieren. Denn Michaux’ Gedicht steht wie Celans Lyrik und der gesamte Briefwechsel unter dem Zeichen des Todes und des Totengedenkens. So übersetzt Celan die Eingangspassage des Gedichts: Hast dein Spiel nicht zu spielen verstanden, Weise des Feuers. […] Hast ein schwarzes Tuch geworfen über mein Haus. […] Welche Stille allüberall? Die mein Lied verstummen ließ.22
Die letzte Passage des Gedichts vergegenwärtigt die tote Geliebte in der direkten Ansprache: Doch es mag ja sein, daß Du jetzt bist wie Schneewetterluft, sie kommt herein durchs Fenster, man schließts, es hat einen ein Schauer überlaufen, oder ein Unbehagen, wie’s Bösem vorangeht – so wie ich’s vor ein paar Wochen erlebt hab. Plötzlich saß mir der Frost auf den Schultern, ich hüllte mich ein, erleids, ich warte und will fort und dabei warst ja Du es vielleicht, du selbst, so warm als du eben sein konntest und voll Hoffnung, auf freundlichen Schlaf. Du, die Klarsichtige, die nur in dieser Gestalt zum Ausdruck kommen konnte. Wer weiß, ob [Du] nicht auch jetzt, in diesem Augenblick, ängstlich darauf wartest, daß ich’s endlich verstehe und komme, fern diesem Leben, in dem du nicht mehr bist, und zu dir stoße, ruhig, gewiß, dürftig und bar aller Mittel, doch wir, noch immer und wieder, wir beiden …23
Wenn Bachmann ihre Beziehung zu Celan im Brief mit Michaux’ Nous deux encore identifiziert und vergegenwärtigt, so definiert sie sie im Zeichen des Todes, das in ihrem Falle auf die Omnipräsenz der in den Verbrennungsöfen der Konzentrationslager ermordeten Juden hindeutet, die Celan in seinem Gedicht In Aegypten beschworen hatte. Leben, literarische Produktion und Briefwechsel bilden so bei Bachmann und Celan eine untrennbare Einheit, indem der Brief zum Entstehungsort von Gedichten und zum Gespräch über Gedichte sowie zur Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Shoah im Diskurs über Lyrik wird. In Anspielungen auf Gedichte, Lyrikzitaten und -kommentaren wird
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Paul Celan: Nous deux encore [Übersetzung von Henri Michaux’ Nous deux encore]. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Handschriftlicher Nachlass Paul Celan. Sign.: D 90.1.433. S. 9. Der Abdruck der Zitate erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Herrn Bertrand Badiou und des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Ebd., S 23.
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ein indirekter, vermittelter Dialog über das zentrale Thema in Leben und Werk beider Autoren geführt, das als ein in der Lyrik verdichteter Subtext nur über die Lektüre der Gedichte ansatzweise entziffert werden kann. So werden in den beiden Briefen insgesamt zwei Gedichte Celans (In Aegypten, Köln, Am Hof), sowie Aria I und Aria II von Bachmann und der Zyklus Lieder auf der Flucht zur Selbstverortung und Verständigung über ihre Beziehung vor dem Hintergrund der Shoah aufgerufen. Mit Köln, Am Hof, das den Ort der letzten Begegnung mit Bachmann evoziert und zugleich den Ort der Geschichte der Juden in Köln im Bild der „Uhren tief in uns“24 aufruft, steckt Celan nach der Begegnung in Wuppertal und Köln den Rahmen seiner Beziehung zu Bachmann ab. Diese antwortet darauf mit einem Lektürehinweis auf den abschließenden Zyklus Lieder auf der Flucht des Bandes Anrufung des Großen Bären, um ihre Position in der Beziehung im Kontext der Shoah vor der Wiederbegegnung zu bestimmen: Ich wollte Dir noch sagen in Köln, Dich bitten, die „Lieder auf der Flucht“ noch einmal zu lesen, in jenem Winter vor zwei Jahren bin ich am Ende gewesen und habe die Verwerfung angenommen. (S. 334)
In diesem Zyklus nimmt das lyrische Ich eine ambivalente, bewusst widersprüchliche Position zur Schuldfrage ein: „Ich bin noch schuldig. Heb mich auf. / Ich bin nicht schuldig. Heb mich auf“25 und spricht den anderen unmittelbar als Richter über das lyrische Ich an: „Mund, der das Urteil sprach, / Hand, die mich hinrichtete!“26 Rettung aus dieser unhaltbaren Situation zwischen Schuld und Unschuld erhofft sich das lyrische Ich von dem angesprochenen Anderen, der von der Richterfunktion nun in die eines Erlösers überwechseln soll: „Erlöse mich! Ich kann nicht länger sterben.“27 Am Ende kapituliert das Ich vor der Größe der übertragenen Aufgabe, das Gedächtnis der Toten zu bewahren. In diesem epistolaren Dialog über Lyrik verhandeln Bachmann und Celan so ihre eigene Position in der Gegenwart wie in der Beziehung und führen in der Anspielung auf Gedichte und deren neuer Kommentierung eine exemplarische Auseinandersetzung über Schuld mit dem Vokabular des juristischen Diskurses: Während sich Bachmann in ihren frühen Gedichten mit der Rolle der Angeklagten, Schuldigen oder bereits Verurteilten zwischen Annahme und Ablehnung auseinandersetzt und dem Adressaten des Gedichts diejenige
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Paul Celan: Köln, Am Hof. In: Ders.: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. I. Bd. 5. Sprachgitter. 1. Teil. Hg. v. Holger Gehle u. a. Frankfurt/M. 2002. S. 41. Ingeborg Bachmann: Anrufung des Großen Bären. In: Dies.: Werke. Hg. v. Christine Koschel u. a. Bd. 1. München Neuausgabe 1993. S. 81–147, hier S. 146. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146.
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eines Anklägers, Richters und zuletzt gar Erlösers zugewiesen hatte, definiert Celan seine Rolle grundsätzlich als Ankläger und Anwalt der Toten. Die beiden Briefe vom 28./29. Oktober 1957 und 31. Oktober/1. November 1957 markieren den kurzen Moment der Suspendierung, nicht Überwindung dieses juristischen Diskurses in der privaten Korrespondenz wie in der lyrischen Produktion vor der Sprachgitter-Kritik von Günter Blöcker und der Goll-Affäre durch Celans ‚Freispruch‘. Celan reagiert auf Bachmanns Lektürehinweis, indem er in seinem Antwortbrief noch einmal auf In Aegypten verweist und Bachmanns Position in dem Gedicht neu bestimmt: „Denk an ‚In Ägypten‘. Sooft ichs lese, seh ich Dich in dieses Gedicht treten: Du bist der Lebensgrund, auch deshalb, weil Du die Rechtfertigung meines Sprechens bist und bleibst.“ (S. 335) Mit Celans Kommentar zu seinem ersten an Bachmann adressierten Gedicht In Aegypten in seinem Brief vom 31. Oktober 1957 hebt er die trennende Differenz zwischen den Opfern, auch den überlebenden, und der Briefpartnerin auf, indem er sie nicht mehr als „Fremde“, sondern gleichberechtigt mit „Ruth, Noemi, Mirjam“ mehrfach mit ihrem Namen anspricht und sich an sie adressiert. Die beiden Briefe markieren so eine Zäsur im Opfer-Täter-Diskurs der beiden Briefpartner, nämlich den kurzen Augenblick, in dem der tiefe Graben zwischen den beiden Gedächtniskollektiven der deutschen Nachkriegsgeschichte in der Liebesbeziehung überschreitbar schien.
Hannah Arendt an Martin Heidegger, 20. März 1971 New York, den 20. März 1971 Lieber Martin – Mein Dank für die Theologie Schrift kommt spät. Mir war nicht nach Schreiben zumute. Die beiden Texte, durch mehr als 35 Jahre voneinander getrennt, so zusammen zu lesen, ist sehr lehrreich und auf eigentümliche Weise spannend. Es wäre gut, sie bald auch in Uebersetzung zur Hand zu haben. Zwar ist das Interesse bei den Studenten an theologischen Fragen in den letzten Jahren sehr zurückgegangen, aber alles was von Dir kommt, findet das allergrösste Interesse. Ich kenne viele Studenten, die Deutsch lernen, um „Heidegger lesen zu können.“ Ueberhaupt sind die Studenten hier augenblicklich sehr erfreulich, aber eben auch so ziemlich das einzige, was einen hier im Augenblick freuen kann. Ich habe ein paar Fragen mit Bezug auf den zweiten Text – das „nichtobjektivierende Denken und Sprechen.“ Sprechen, sagst Du (S. 43) ist „ein Sagen … dessen, was sich das Hören … sagen lässt.“ Wie ist es nun aber, wenn man auf ein Sprechen hört, im Gespräch der Menschen untereinander, und auf ein solches, das sich etwas anderes hat „sagen lassen“? Wie verhalten sich Sagen und Sprechen? Aus dem Denken, will mir scheinen, kommt das Sagen, aber nicht, wenigstens nicht unmittelbar, das Sprechen. Kommt das Sprechen aus dem Sagen? Wie verhalten sich Sprechen und Sagen zueinander? Zum objektivierenden Denken: Kann man nicht sagen, dass dies eigentlich gar nicht denken ist? Zwar aus der Erfahrung kommt sowohl das Denken als das auf das Objekt bezogene Wissen-wollen, nur geht das Denken dem Unsichtbaren nach, das in jeder Erfahrung spezifisch mitgegeben ist – das „Rotsein der Rose [die] weder im Garten steht noch.. im Wind hin und her“1 schwankt – während das Wissenwollen sich direkt mir der Rose beschäftigt. Aber ohne Erfahrung kann auch das Denken nicht auskommen; es braucht den Garten und die Rosen, nimmt aber etwas anderes in ihnen wahr. Wie seltsam, dass wir sehen müssen, um das wahrzunehmen, was wir nicht sehen können. Was ist eigentlich Erfahrung und ihr Janus-Gesicht? Noch eine Kleinigkeit. Du sagst, dass wir im Sprechen, ausdrücklich oder nicht, überall „ist“ sagen. Nun weisst Du natürlich, dass das im ______________ 1
Am linken Rand des Originalbriefes steht an dieser Stelle in Martin Heideggers Schrift: „O.Di.“ (Ontologische Differenz)
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Hannah Arendt an Martin Heidegger, 20.3.1971
Hebräischen nicht der Fall ist. Der Sprache fehlt die Copula. Was hat das eigentlich für Folgen? Lass das alles fallen, wenn es Dir lästig ist. Denn eigentlich schreibe ich heute, um Euch zu fragen, ob Euch mein Besuch in der zweiten Hälfte April oder auch im Mai recht wäre. Ich fliege hier am 4. April mit Freunden über Paris nach Sizilien und werde ab 18. April vermutlich in Zürich sein und dort bis Ende des Monats bleiben. Von dort kann ich jederzeit herüberkommen. Danach werde ich vermutlich noch nach München und Köln gehen, um dann über England zurückzufliegen. Ich muss hier spätestens wieder am 25. Mai sein. Ich habe eine letzte Frage, die ich mir mündlich wohl doch nicht leisten könnte. Es ist immerhin möglich, dass mir ein Buch, das ich unter den Händen habe – eine Art zweiter Band der Vita Activa – , doch noch gelingt. Ueber die nicht-tätigen menschlichen Tätigkeiten: Denken, Wollen, Urteilen. Ich habe keine Ahnung, ob es wird und vor allem, wann ich damit fertig sein werde. Vielleicht niemals. Sollte es aber gehen – darf ich es Dir widmen? Mit herzlichen Grüssen Euch beiden – Hannah P.S. Bis zum 3. April bin ich hier zu erreichen. Dann vom 5.–8. in Paris, bei West, 141 rue de Rennes, Paris 6e. Ab 18. Zürich am besten: American Express. H. Ich schicke mit getrennter Post einen alten Artikel von Kojevnikoff, der immerhin 16 Jahre nach der Hegelinterpretation geschrieben ist. Ich fand ihn interessant, weil er da die Katze aus dem Sack lässt. Text nach dem Original im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Text und Abbildung: Copyright © by the Hannah Arendt Bluecher Literary Trust, 1971; mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Literaturarchivs Marbach.
Hannah Arendt an Martin Heidegger, 20. März 1971
Antonia Grunenberg
„Der Weg, den Du mir zeigtest, ist länger und schwerer als ich dachte.“1 Ein Brief Hannah Arendts an Martin Heidegger I. „…die Bestätigung eines ganzen Lebens“2 Es gibt bemerkenswerte Briefwechsel zwischen Philosophen und intellektuellen Frauen im zwanzigsten Jahrhundert. Man denke an Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir oder an Martin Heidegger und Elisabeth Blochmann. Walter Benjamin schrieb sich mit intellektuellen Frauen, Theodor W. Adorno oder Ernst Bloch korrespondierten mit ihren Musen. Frauen führten berühmt gewordene Briefwechsel, erinnert sei an Rahel Varnhagens Korrespondenz mit den geistigen Größen ihrer Zeit. Doch dass eine Philosophin und ein Philosoph eine jahrzehntelange geistige Verbindung eingehen wie auch sich eine Liebe versprechen und ein Leben lang darauf Bezug nehmen, das ereignet sich ebenso selten wie dass der Briefwechsel über fünfzig Jahre aufrecht erhalten wird und die Briefpartner gleichrangig sind. Dass sie gleichrangig seien, das urteilte die Nachwelt; von den beiden Beteiligten ist dies nicht immer so empfunden worden. Vergleicht man den Briefwechsel mit anderen Korrespondenzen, die Heidegger an Frauen richtete, so ist er einzigartig, weil Arendt ihm von Anfang an als philosophisch Denkende begegnet. Stellt man den Briefwechsel mit Heidegger neben andere Korrespondenzen Arendts, so steht er ebenbürtig und doch einzigartig neben dem Briefwechsel mit Karl Jaspers.
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Hannah Arendt an Martin Heidegger, 22. April 1928. In: Hannah Arendt – Martin Heidegger: Briefe 1925–1975 und andere Zeugnisse. Aus dem Nachlass hg. v. Ursula Ludz. Frankfurt/M. 1998. S. 65. Hannah Arendt an Martin Heidegger, 9. Februar 1950. In: Ebd., S. 75.
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Antonia Grunenberg
II. „Liebes Fräulein Arendt!“3 Ihr Verhältnis begann 1925 als Leidenschaft zwischen dem 35jährigen Philosophieprofessor Martin Heidegger und der 18jährigen Philosophiestudentin Hannah Arendt. Keine zehn Jahre später waren die Liebenden zu politischen Gegnern geworden. Arendt musste als Jüdin aus Deutschland fliehen. Heidegger erhoffte sich zu dieser Zeit von den Nationalsozialisten den Beginn einer nationalen und geistigen Erneuerung. Arendt floh zunächst nach Frankreich, 1941 emigrierte sie in die Vereinigten Staaten und blieb dort. Nach Deutschland kehrte sie nur besuchsweise zurück. Heidegger wandte sich nach kurzer Zeit und enttäuschten Hoffnungen Mitte der dreißiger Jahre von den Nationalsozialisten ab, ohne sich freilich je politisch mit deren Ideologie auseinanderzusetzen. Ihr Wiedersehen im Februar 1950, 17 Jahre nach Arendts Flucht aus Deutschland, verlief gefühlvoll. Zu dieser Zeit war Hannah Arendt eine in der westlichen Welt bereits anerkannte Essayistin, Heidegger, der von der französischen Besatzungsmacht öffentlich bloßgestellt und von der Universität degradiert worden war, kämpfte seit Jahren um seine ordentliche Emeritierung und um seine Pension. Hannah Arendt hatte sich in der Zwischenzeit mehrfach scharf kritisch über ihren Lehrer und einstigen Geliebten geäußert;4 sie war sich nicht sicher, ob Heidegger ihrer Liebe abgeschworen hatte. Heidegger war, glaubt man den ersten Briefen nach dem Wiedersehen, sehr erleichtert.5 Nach Arendts Rückkehr nach New York beginnt ein Briefwechsel, der von seiner Seite aus voll aufgestauter Gefühle, fast überschwänglich ist. Ihrerseits scheinen Erstaunen und Glücksgefühle durch die Briefe. Doch die Beziehung ist fragil. Immer wieder brechen Unstimmigkeiten auf. Auf Arendts Seite glimmt ein Zorn weiter, der sich gegen die Weigerung Heideggers, politische Verantwortung zu übernehmen, ebenso richtet wie gegen die Weltferne der Profession, der beide angehören, der Philosophie. Davon zeugen mehrere ihrer Aufsätze, unter anderem Con-
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Martin Heidegger an Hannah Arendt, 10. Februar 1925. In: Ebd., S. 11. Arendt hatte 1946 in einem Brief an Jaspers ihren früheren Freund und Lehrer Martin Heidegger mit Bezug auf sein Verhalten gegenüber seinem früheren Lehrer Edmund Husserl als „potentiellen Mörder“ bezeichnet. Hannah Arendt an Karl Jaspers, 9.7.1946. In: Hannah Arendt – Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969. Hg. v. Lotte Köhler und Hans Saner. München, Zürich 1993. S. 84. Zum Verlauf des Verhältnisses zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger vgl. auch Antonia Grunenberg: Hannah Arendt – Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe. München, Zürich 2006.
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cern with Politics in Recent European Philosophical Thought (1954).6 Zu der untergründigen krisenhaften Stimmung trägt auch bei, dass Heideggers einstiger enger Freund Karl Jaspers das freundschaftliche Verhältnis zu ihm solange nicht aufnehmen will, wie Heidegger sich nicht zu seiner frühen Sympathie für die Nationalsozialisten äußert.7 Jaspers ist in der Folge der ‚unsichtbare Dritte‘, auf den sich die Beteiligten (Arendt und ihr Mann Heinrich Blücher, Heidegger und seine Frau Elfride sowie Jaspers’ Frau Gertrud) beziehen.8 Arendt pflegte zu ihrem ehemaligen Doktorvater ein vertrauensvolles Verhältnis; nach dem Krieg wurde er zu ihrem engsten Vertrauten in Deutschland. Bei ihren Besuchen spricht sie mit ihm über Heidegger. Auf Heideggers Seite bzw. auf Seiten seiner Schüler und Anhänger beobachtet man die ‚Exilantin‘ und ihren Umgang mit Jaspers, der ja gleichsam nachträglich ins ‚Exil‘ nach Basel gegangen war, misstrauisch. Gerüchte werden in Umlauf gesetzt; Neid und Missgunst wirken im Hintergrund. Arendt und Heidegger werden Teil einer weitläufigen Dynamik. Der Verlauf des Briefwechsels spiegelt diese Dynamik wider.
III. Das Auf und Ab des Briefwechsels Nimmt man den Briefwechsel als ganzen in den Blick,9 so treten vier Sequenzen hervor: – die leidenschaftliche Liebesbeziehung vom Februar 1925 bis zum Januar 1926 – die auf ihre Trennung 1926 folgende Phase, in der beide bemüht sind, ihre Beziehung auf eine Ebene jenseits der Leidenschaft zu heben; diese endet im Winter 1932/33
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Vgl. Hannah Arendt: Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought (kritische Edition). In: Antonia Grunenberg, Waltraud Meints u. a. (Hg.): Perspektiven politischen Denkens. Hannah Arendt zum 100. Geburtstag. In: Hannah-Arendt-Studien. Bd. 4. Berlin u. a. 2008. S. 11–31. Vgl. Martin Heidegger – Karl Jaspers: Briefwechsel 1920–1963. Hg. v. Walter Biemel und Hans Saner. München, Frankfurt/M. 1992. Der Briefwechsel enthält auch die Briefe, die Hannah Arendt an Elfride Heidegger richtete und die teils politischer (ihr Brief vom 10. Februar 1950), teils allgemein menschlicher (Erkundigungen nach dem Wohlbefinden von Martin bzw. von Elfride Heidegger) und teils sachlicher Natur (zum Beispiel der Brief vom 17. Mai 1969) sind. Der Briefwechsel liegt im Literaturarchiv in Marbach und ist seit Jahren publiziert. Vgl. Arendt – Heidegger: Briefe (Anm. 1).
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– die Wiederaufnahme des Briefwechsels 1950; dieser wird unterbrochen, als Arendt ihm 1960 mitteilt, sie habe vorgehabt, ihm ihre Studie Vita Activa zu widmen, habe das dann aber nicht getan – die erneute Aufnahme des Briefwechsels von 1965 bis zum Tode Arendts im Dezember 1975.10 Aus den drei ersten Perioden sind überwiegend Heideggers Briefe erhalten. Der Briefwechsel variiert in der Häufigkeit des Austauschs; am regsten ist er in der ersten Sequenz, als oft nur Tage zwischen den einzelnen Briefen (Heideggers) liegen. In der zweiten Sequenz sind es Wochen, oft Monate und gegen 1933 hin auch bis zu einem Jahr. In der dritten Sequenz werden die Briefe zunächst im Wochenrhythmus bzw. entsprechend den Beförderungszeiten der Luftpostbriefe zwischen Freiburg und New York ausgetauscht; ein Jahr später werden die Zeiträume länger, es liegen dann Wochen, oft Monate dazwischen. Im letzten Abschnitt wird der Briefwechsel immer dann dichter, wenn Arendt plant nach Europa zu kommen, um ihn zu besuchen, oder wenn es um die Übersetzung seiner Schriften ins Amerikanische geht und sie, teils selbst eingreifend, teils kommunizierend, zwischen ihm und seinen Übersetzern vermittelt. Er antwortet in der Regel auf jeden ihrer Briefe.
IV. Hoher Ton in wirrer Zeit So wie der Briefwechsel von Krisen betroffen ist, so variieren auch Ton und Stil. Die Korrespondenz beginnt 1925 im hohen Ton der Liebe. Heidegger schreibt gefühlvoll, dichterisch. Wenngleich lehrerhaftes Gebaren immer mitschwingt, lassen Ton und Stil seiner Briefe erkennen, wie sehr ihn die Beziehung zu der jungen Frau berührt. In der zweiten Phase ab 1926 ändern sich Ton und Stil. Die junge Frau hat sich von ihrem Geliebten getrennt; sie schreibt selbstbewusst. Dazu trägt bei, dass sie 1929 ihren Kommilitonen Günther Stern geheiratet hat. Nun tritt sie ihrem Geliebten und Lehrer als verheiratete Frau gegenüber. Im gleichen Jahr legt sie ihre Promotion bei Karl Jaspers ab, auch das hebt ihren Status. Arendt nimmt eine kämpferische Haltung gegenüber dem zu jener Zeit gewalttätig werdenden Antisemitismus ein.11 Dass Heidegger mit den
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Die Unterteilung des Briefwechsels in verschiedene Perioden weicht von der Unterteilung ab, die die Herausgeberin des Briefwechsels vorgenommen hat.
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Nationalsozialisten sympathisiert, wird ihr zugetragen. Heideggers letzter Brief vor 1933 (der ihm vorausgehende Arendts ist nicht erhalten) ist von einem scharfen Ton durchzogen, als wenn sie ihm gedankenlos Unrecht getan hätte. Er verweist darauf, wieviel er für seine bedrohten jüdischen Schüler getan habe.12 In der dritten Phase ist er der Nehmende und sie die Gebende. In seinen Briefen knüpft er an den hohen Ton der Liebe von einst an, nun abgeklärt und von Harmoniebedürfnis geradezu getrieben. Den Briefen für die Abschnitte nach 1950 sind Gedichte eingefügt, das letzte am 26. September 1974. Es sind meist Gedichte von Heidegger oder von ihm zitierte Gedichte (Hölderlin: Der Herbst); in einem der Briefe zitiert Arendt eines von Heideggers Gedichten. Immer wieder legt Heidegger kleine Geschenke bei (Fotos, Texte, eine getrocknete Distel aus Todtnauberg). Bücher und eigene Schriften werden ausgetauscht. Ein Ton der Dankbarkeit und des Respekts gegenüber der ihm nun vollends ebenbürtigen Frau durchzieht seine Briefe. Stil und Ton von Arendts Briefen nach 1950 künden von Erleichterung, von Wertschätzung für sein Denken, von Sorge für sein Wohlergehen. Zu dieser Zeit beginnt sie, davon zeugt ihr philosophisches Denktagebuch, Heideggers ontologische Kategorien kritisch durchzumustern. Sie studiert erneut Platons politische Schriften, die Heideggersche Lesart kritisch prüfend, die sie als junge Studentin seinerzeit übernommen hatte.13 Gleichzeitig sorgt sie dafür, dass Heideggers Schriften in den USA übersetzt werden. Die Entfernung und die langen Zeitabschnitte, in denen sie sich nicht sehen, bewirken, dass eine ruhige Gewohnheit des An-Denkens in die Briefe einzieht. In dieser Zeit fügt sich beider Leben. Hannah Arendt ist zu einer angesehenen Hochschullehrerin geworden, die an renommierten amerikanischen Universitäten lehrt. Heidegger ist inzwischen pensioniert und hält Seminare für Studenten und Kollegen. Er hat einen Teil seines Ansehens als der bedeutendste deutsche Philosoph zurückgewinnen können. In diese Atmosphäre bricht Arendts Bemerkung in dem Brief vom 28. Oktober 1960 ein, sie habe ihm ihr Buch Vita Activa widmen wollen, dies
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In dem Forschungsprojekt, an dem sie zu dieser Zeit arbeitet, entfaltet sie eine dezidierte Kritik der jüdischen Assimilation. Daraus entsteht später die Monographie: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München, Zürich 1990. Vgl. Arendt – Heidegger: Briefe (Anm. 1), S. 68 f. Vgl. Hannah Arendt: Denktagebuch 1950–1973. Hg. v. Ursula Ludz u. Ingeborg Nordmann. Bd. 1. München, Zürich 2002, S. 19-45.
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aber dann doch nicht getan; „so wie die Dinge liegen, schien mir dies unmöglich.“14 An dieser Bemerkung lässt sich einmal mehr ablesen, dass an beider Briefwechsel die Freunde und die Kritiker indirekt teilhaben. In den Briefen selbst deutet nichts auf diesen Einbruch hin. Es muss sich im weiteren Freundes- und Bekanntenkreis eine der immer wiederkehrenden Unstimmigkeiten verdichtet haben. Arendt äußert sich nach wie vor gegenüber ihren Freunden und Kollegen in Deutschland und den USA kritisch über Heideggers Verhalten während des Nationalsozialismus und nach 1945. In Heideggers engstem Kreis wird weiterhin abfällig über Arendt und ihre Freunde gesprochen. Es müssen Gerüchte des Verrats bzw. des Vertrauensbruchs im Umlauf gewesen sein. Die den Briefwechsel begleitenden Meinungsströme haben indirekte (Verschwinden der vertrauensvollen Nähe) wie direkte (verweigerte Widmung, Abbruch der Korrespondenz) Folgen. Ton und Stil der Korrespondenz im letzten Abschnitt (1965–1975) wird von beider Erleichterung darüber getragen, dass es möglich ist, vertrauensvoll miteinander zu kommunizieren. Die Briefe sind von Gelassenheit, Anteilnahme und Interesse an der Arbeit und dem Wohlergehen des/der anderen geprägt.
V. „Lass das alles fallen, wenn es Dir lästig ist“15 Aus dem letzten Abschnitt stammt der vorliegende Brief Arendts vom 20. März 1971. Er ist mit Schreibmaschine auf grauweißem Luftpostbriefpapier im amerikanischen Format geschrieben und enthält zwei handschriftliche Zusätze Arendts sowie kurze, handschriftliche Randbemerkungen Heideggers. Es handelt sich um 2 Blatt. Der Brief hat eine Vorgeschichte: Am 31. Oktober 1970 war Heinrich Blücher, Hannah Arendts (zweiter) Ehemann, gestorben. Für Arendt bricht die Welt der gemeinsamen Gespräche und des Zusammenseins weg. Das Leben mit Heinrich Blücher hatte sie als ein Stück Heimat empfunden. Sie reagiert mit Verstummen, unterbrochen nur von einer kurzen Nachricht vom 27. November 1970, in der sie sich für Heideggers Beileidsgrüße und sein Gedicht ZEIT bedankt. Fast vier Monate später findet sie die Kraft, ihm zu antworten. Sie geht auf seine Anregung aus einem früheren Brief ein, in dieser Situation der seelischen Not sich dem Den-
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Arendt – Heidegger: Briefe (Anm. 1), S. 149. S. 364.
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ken zu widmen, das, wie Heidegger zwischen den Zeilen schrieb, nicht aufhöre, nur weil einer weggehe. In der Zeit zwischen ihren beiden Briefen hatte er ihr seinen Vortrag über Phänomenologie und Theologie geschickt, den er 1927 in Tübingen und 1928 in Marburg gehalten hatte; angefügt war ein Exposé zum Problem der Theologie, das er 1970 für eine Diskussionsveranstaltung verfasst hatte, zu der ihn die theologische Fakultät der amerikanischen Drew University eingeladen hatte. Der Ton ihres Briefes ist sachlich und vertrauensvoll. Eingangs nimmt sie die Schrift, die Heidegger ihr zugesandt hatte, zum Anlass, über das geringe Interesse ihrer Studenten an theologischen Fragen zu sinnieren; gleichwohl hält sie diesen zugute, dass sie Deutsch lernten, um seine Schriften lesen zu können. Ueberhaupt sind die Studenten hier [an der New School for Social Research in New York] augenblicklich sehr erfreulich, aber eben auch so ziemlich das einzige, was einen hier im Augenblick freuen kann. (S. 363.)
Eine Anspielung auf die politischen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten, auf denen der Vietnamkrieg schwer lastet – und auf ihre Tätigkeit als Philosophieprofessorin. Auf diese Weise ihre Position markierend, wendet sie sich im weiteren Verlauf der zugesandten Schrift, dem Exposé für die Drew University, zu. Die amerikanische Diskussion war unter dem Titel Das Problem eines nichtobjektivierenden Denkens und Sprechens in der heutigen Theologie angekündigt. Heidegger, der nicht in die USA gereist war, hatte eine Reihe von diskussionsleitenden Fragen zusammengestellt. Zwei Probleme rückt Arendt in den Vordergrund, die eng mit ihren Studien zu Heideggers Grundkategorien zusammenhängen. Mit der ersten Frage problematisiert sie Heideggers These, ob nicht das Sprechen „ein Sagen … dessen [sei], was sich das Hören … sagen läßt?“ (S. 363)16 Interessanterweise übernimmt Arendt nicht Heideggers Frageform, sondern unterstellt ihm das Geschriebene als Behauptung. Sie fragt, wie es sich denn mit dem Sprechen der Menschen untereinander verhalte, auf das das Hören höre. Wer will, kann darin Anklänge an ihr Streitgespräch über Pluralität entdecken, das seit ihrer Kritik an der ihrer Meinung nach zu engen Plato-Auslegung Heideggers immer wieder neu anfängt. Zudem will sie Sprechen und Sagen unterschieden wissen:
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Vgl. Martin Heidegger: Anhang. Einige Hinweise auf Hauptgesichtspunkte für das theologische Gespräch über „Das Problem eines nichtobjektivierenden Denkens und Sprechens in der heutigen Theologie“. In Ders.: Gesamtausgabe. Abt. 1, Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Bd. 9. Wegmarken. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 1976. S. 68.
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Aus dem Denken, will mir scheinen, kommt das Sagen, aber nicht, wenigstens nicht unmittelbar, das Sprechen. Kommt das Sprechen aus dem Sagen? Wie verhalten sich Sprechen und Sagen zueinander? (S. 363.)
Es ist charakteristisch für ihr Verhältnis in diesen späten Jahren, dass sie seinen Stil paraphrasiert, d. h. Einwände in der Regel in (die von ihm üblicherweise benutzte) Frageform kleidet und gleichzeitig deutlich zu erkennen gibt, dass sie ein philosophisches Gespräch unter Gleichen führen, das weder Anfang noch Ende hat. Zwischen den Zeilen ist erkennbar, dass darin Bezüge auf ihre mündlichen Gespräche enthalten sind. Auf einen deutlichen Bezug zwischen dem Brief und mündlichen Gesprächen deutet auch die Eintragung in ihr Notizbuch hin, die sie am 22.4.1971, während ihres in dem Brief angekündigten Besuches bei Heidegger, vornimmt. Sie gewährt ihm an diesem Tag das Privileg, das erste Wort der Eintragung in ihr Notizbuch zu schreiben: „Ent-sagen“.17 Es folgt eine graphische Symbolisierung des doppelsinnigen Wortes Entsagen und eine Bemerkung Arendts zum Verhältnis von Sagen und Sein.18 Ihre zweite Frage im Brief bezieht sich auf den Titel der Debatte an der Drew University, die Heidegger mit seinem Exposé anregen wollte: was denn objektivierendes Denken sei? Könne man nicht sagen, so wandte sie ein, dass Denken per se nicht objektivierend sei, und dass das sogenannte objektivierende Denken eher ein „Wissen-wollen“ (S. 363) sei. Denn das Denken gehe dem Unsichtbaren nach, während das „objektivierende[…] Denken“ (S. 363), d. h. das Wissen-wollen, sich auf Gegenstände beziehe. Außerdem greife Denken ja auch auf Erfahrung zurück: [O]hne Erfahrung kann auch das Denken nicht auskommen; es braucht den Garten und die Rosen, nimmt aber etwas anderes in ihnen wahr. […] Was ist eigentlich Erfahrung und ihr Janus-Gesicht? (S 363.)
Schließlich weist sie ihn darauf hin, dass seine Aussagen nicht für das Hebräische gälten, das eine eigene Sprachphilosophie habe. All dies sind Einwände und Fragen, die Arendt aus ihrem Denken heraus stellt; sie bilden eine Vorlage für das in Aussicht genommene Gespräch. Charakteristisch für Arendt ist, dass sie ihren gewichtigen Anmerkungen eine Art kolloquialer Nichtigkeitserklärung folgen lässt, die zu besagen scheint, der Adressat bräuchte diese nicht so wichtig nehmen, wenn ihm
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Vgl. die Anmerkung der Herausgeberin, die sich auf einen diesbezüglichen Vermerk von Hannah Arendt bezieht: Ursula Ludz, Anmerkung Nr. [7] 1. In: Arendt: Denktagebuch (Anm. 13), S. 1155. „Ad Sagen – Sein: Das Ent-sagen (wie ent-nehmen) entnimmt das zu Sagende von dem Sein und ent-sagt dabei, d.h. gibt es zurück.“ Ebd., S. 803. Eintragung [7], 1 vom 22.4.1971.
Hannah Arendt an Martin Heidegger, 20.3.1971
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der Sinn nicht danach stünde: „Lass das alles fallen, wenn es Dir lästig ist.“ (S. 364.) Doch hat eine Bemerkung wie diese wohl mehr mit Arendts Art zu tun, Respektsbezeugungen in paradoxem Stil zu bekunden, als etwa mit einer Demutsgebärde. Zum Schluss vollzieht sie eine erneute paradoxe Wendung, die freilich eine Hauptsache dieses Briefes zu sein scheint: Ich habe eine letzte Frage, die ich mir mündlich wohl doch nicht leisten könnte. Es ist immerhin möglich, dass mir ein Buch, das ich unter den Händen habe – eine Art zweiter Band der Vita Activa –, doch noch gelingt. Ueber die nicht-tätigen menschlichen Tätigkeiten: Denken, Wollen, Urteilen. Ich habe keine Ahnung, ob es wird und vor allem, wann ich damit fertig sein werde. Vielleicht niemals. Sollte es aber gehen – darf ich es Dir widmen? (S. 364)
Leser sollten sich von dem alltagssprachlichen Ton Arendts hier nicht irreführen lassen. Hier geschieht etwas. Unausgesprochen bezugnehmend auf die in ihrem Brief vom 28.10.1960 verweigerte Widmung von Vita Activa, fragt sie, ob sie ihm ein Buch widmen dürfe, das sie als Fortsetzung des erwähnten Essays geplant habe.19 War sie in Vita Activa von der Frage ausgegangen ‚Was tun wir, wenn wir tätig sind?‘, so wollte sie sich in ihrem neuen Projekt der Frage nach den geistigen Tätigkeiten zuwenden. Dies war ein Projekt, mit dem sie sich auf Heideggers ureigenstes Gebiet begab, das der Grundkategorien, des reinen Denkens. Ihn daher zu fragen, ob sie ihm ein noch unvollendetes Buch, von dem sie sich nicht sicher sei, ob sie es je beenden werde, widmen dürfe, implizierte eine Referenz auf ihre seinerzeitige Mitteilung und die darauf folgende jahrelange Verstimmung. Gleichzeitig setzt Arendt ein Zeichen für die jenseits aller Aufs und Abs der Beziehung bestehende Übereinstimmung im Denken.20 Die beiden handschriftlichen Zusätze sind wohl später geschrieben worden. Der erste enthält weitere Informationen über die geplante Europa-Reise, an deren Ende sie ihren Besuch bei ihm einplant. Charakteristisch für den vertrauensvollen Ton und die zurückgekehrte Spontaneität im Verhältnis beider ist, dass sie im zweiten, den Brief abschließenden, handschriftlichen Zusatz, einen über 15 Jahre alten Artikel des französischen Philosophen und Hegel-Spezialisten Alexandre Kojève21 zu schicken ankündigt. Kojève thematisiert in diesem Artikel den philosophischen Diskurs über Zeitlichkeit bzw. Überzeitlichkeit von Begriffen seit
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Gemeint ist das unvollendet gebliebene und postum herausgegebene Werk: Vom Leben des Geistes. Hg. v. Mary McCarthy. München, Zürich 1998. Heideggers zustimmende Antwort in seinem Brief vom 26.3.1971 signalisiert, dass er die in der Frage mit enthaltenen Botschaften der Frage sehr wohl verstanden hatte. Vgl. Arendt – Heidegger: Briefe (Anm. 1), S. 208 f. Im Brief verwendet Arendt den vollen russischen Namen des französischen Philosophen russischer Abstammung: Kojevnikoff.
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der Antike.22 Kojève war von Hegels Satz: „Was die Zeit betrifft, so ist sie der daseiende Begriff selbst“ ausgegangen.23 Im Text enthalten war nun ein direkter Bezug auf Heideggers große, unvollendete Schrift Sein und Zeit, während deren Vorbereitungszeit sie sich 1925 kennengelernt hatten. Auf diese Koinzidenz sind sie gewiss in den Gesprächen, die sie während ihres Aufeinandertreffens in Freiburg im Frühjahr 1971 führten, zurückgekommen.
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Vgl. Alexandre Kojève: Le Concept et le Temps. In: Deucalion. Cahiers de philosophie. (1955) H. 5. S. 11–20. Ebd., S. 11.
Thomas Bernhard an Siegfried Unseld, 18. Oktober 1972 Ohlsdorf, 18.11.72 Lieber Herr Doktor Unseld, wenn ich den Grad der Vernachlässigung, dem meine schriftstellerische Arbeit seit längerer Zeit im Suhrkampverlag ausgesetzt ist, bestimmen soll, muss ich sagen, er ist der grösste; zurückgenommen ausgedrückt, ist es eine mir schmerzliche, allzu unübersehbare Nichtbeachtung (Nichtachtung will ich nicht sagen, weil mir der Begriff der Achtung kein gestatteter ist), während ich doch wenigstens Beachtung erwarten kann. Ich möchte hier ein paar Punkte aufzeigen, auf die Ihre Antwort, oder wenigstens Ihre Reaktion unerlässlich ist. Zuerst das mir im Augenblick am wichtigsten erscheinende: die „Korrektur“, ein Manuskript, in welchem ich die grösste Anstrengung mit dem grösstmöglichen Glücksfall einer ununterbrochenen Angespanntheit habe vereinigen können, will ich nicht im Frühjahr, sondern im Herbst 1973 erscheinen lassen. Es gibt verschiedene, alle schwerwiegende Gründe, der Hauptgrund ist aber der, dass ich dieses Buch, das mir als das wichtigste aus meinem Kopfe erscheint, nicht einfach unter anderm wie beinahe immer lieblos (das das unwiderlegliche Schicksal meiner Schriften bei Suhrkamp) einfach in einem normalen Frühjahrsprogramm vorübergehen lassen will. Dieses Buch will ich ausgereift vorbereitet und als ein mir in vieler Hinsicht überwichtiges in einem Herbstprogramm „erscheinen“ sehen, an erster Stelle. Und einmal möchte ich wirklich die ganze Obsorge und das ganze charakterliche Gewicht des Verlages auf mein Buch konzentriert sehen, was ich noch nicht erlebt habe, denn ausgezeichnetes, wirklich Gewichtiges im Hinblick auf den Absprung eines meiner „grösseren“ Bücher in die gehirnkläffende scheussliche, mir auf die Nerven, aber nicht in die Nerven hineingehende Welt, habe ich bis jetzt noch nicht erlebt. Tatsächlich hat es keiner meiner sogenannten Romane bis heute auch nur zu einem Einzelinserat in einer der wichtigsten Zeitungen gebracht, beispielsweise, mir ist es zuwider, davon zu sprechen, aber es gibt unerlässliche Gründe, etwas auszusprechen. Nur dürfen Sie nicht vergessen, dass ich, obwohl weit entfernt, doch aufs Äusserste mit der Materie des Verlags, des Geschäftes und des gemachten Erfolges oder Mißerfolges vertraut bin, nicht länger gedenke ich mich einer doch nur liebenswürdigen Beiläufigkeit eines Apparates wie des Verlages in Frankfurt als ein Opfer der Routine zu empfinden. Entweder mein Buch zieht auf sich die grösstmögliche Konzentration im nächsten Herbst, oder es kommt ganz einfach nicht heraus. Mir fehlen zahmere Wörter.
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Dieser Entschluss bedeutet die Verschiebung von „Erinnern“ auf das Frühjahr 1974. In diesem Augenblick fällt mir ein, dass Sie im letzten Frühjahr auf einem Spaziergang die Eigenerfindung gehabt haben (eine recht liebenswürdige), einen Band zusammenzustellen, in welchem ein radikaler Schnitt durch meine literarischen Körper gezogen wird. Die Idee hat mein Interesse, meinen lauten Beifall gefunden. Dann habe ich nichts mehr gehört. Das Buch war für Frühjahr 73 geplant gewesen. Zugleich fällt mir ein, dass ich Ihnen vor etwa drei Monaten den Vorschlag gemacht habe, über die Salzburger Vorfälle eine Dokumentation herauszubringen, mein Vorschlag ist klar und gründlich, wenn auch kurz formuliert gewesen, denn dass sich in Salzburg eine Ungeheuerlichkeit begeben hat, ist unbestreitbar. Es handelt sich um einen revolutionären Stoff, allerdings um einen solchen in unserer unmittelbarsten Umgebung, besser noch: in uns. Wenn Sie aber dieses Buch nicht machen wollen, so sagen Sie deutlich nein, aber ignorieren Sie nicht, was ich vorschlage. Die Ignoration muss ich verachten, gleich von welcher Seite. Ich kann mir vorstellen, dass Sie den Begriff der Undiplomatie vor Augen haben, wenn Sie daran denken, ein solches Buch zu machen. Aber sagen Sie dann wirklich: es ist (wäre) undiplomatisch. Zu schweigen in einem solchen Falle wirkt auf mich in Gedanken. Zu überflüssigen. Das Thema Salzburg ist nicht erschöpft: wie kann der Verlag eine Neuauflage des „Ignoranten“ machen mit allen vorherigen Druckfehlern, mit Druckfehlern, die entscheidend abstossend, sinnentstellend und das ganze Buch in Frage stellend, sind. Man hätte doch die Zeit haben müssen, mich nocheinmal etwa in Form eines Expressbriefes, einer telegrafischen gefährlichen Drohung etcetera, an das Zuschicken der Korrektur zu erinnern. Der Vorgang ist so haarsträubend, wie die Auflage abstossend für mich. Entschuldigt kann hier nichts werden. Hier bin ich bei einem weiteren Punkt: es geht nicht, dass ich nicht verständigt bin, überhaupt nicht, wenn im „Spectaculum“ ein Stück von mir abgedruckt wird, wenn auch aus dem eigenen Verlag, hier geschieht einfach etwas über meinen Kopf, der nicht alles widerspruchslos hinnimmt, was ein grösserer und kräftigerer und dadurch mächtigerer Apparat ohne zu fragen beschliesst. Und dieser „Boris“ im „Spectaculum“ strotzt vor neuerlichen Druckfehlern und ist wiederum nichts als abstossend. Aber ich muss überhaupt sagen, dass Rach mich in einer Weise enttäuscht, die nicht zu formulieren ist. Keinerlei Nachricht ist etwas, was ich mir nicht gestatten lassen darf, wenn es sich vor allem um Theater handelt. Aus dem Büro Rach kommt nichts, ausser ein paar nichtssagende Agenturmeldungen, dummen Rezensionsausschnitten. Beispiel: dummes
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Zeug aus Kleinblättern über die Berliner Aufführung, aber kein Wort aus der FAZ etcetera. Das Kaffeehaus ist meine Rettung. Wäre ich auf den Verlag angewiesen, müsste ich glauben, ich sei einer der erfolglosesten, gerade noch geduldeten Schriftsteller, das ist eine absurde Verzerrung. Wozu existiert ein Büro, wie das von Rach, wenn ich nichts erfahre, was mich betrifft, nichts über Proben, Besetzung in Zürich, Wien, Berlin, München. Hier sind die Apparate sinnlose Apparate. Es wäre doch das Natürlichste, mich laufend über alles, was meine Theaterarbeit betrifft, zu unterrichten. Ich erfahre aus eigenem Hundertmal mehr, und Unumgängliches, als aus dem Verlag, von dem ich soviel wie nichts erfahre. Ich habe, was die Stücke betrifft, nicht den geringsten Rückhalt im Verlag. Dass die Theater meine Stücke spielen, ist, glaube ich, doch tatsächlich nur mein „Verdienst“, das muss ich leider offen sagen. Denn soviel ist mir klargeworden, im Suhrkampverlag habe ich keine Potenz, die für mich da ist, für mich eintritt, das Wort Zusammenarbeit ist ein Hohnwort. Anonyme Sekretärinnen schicken dumme Agenturmeldungen. Rach ist für mich Desinteresse, nichts sonst. Von Hilde Spiel hörte ich gestern, dass Sie in mich gedrungen wären, den sogenannten Csokorpreis doch anzunehmen. Aber ich habe mit Ihnen niemals den geringsten Kontakt, diesen Preis betreffend, gehabt. Und Sie haben einen solchen Kontakt mit mir niemals aufgenommen gehabt. Was stimmt also? Was mein neues Theaterstück, besser Schauspiel, betrifft, muss ich wohl wieder alles im Alleingang unternehmen. Dem Zufall und der Gleichgültigkeit ausliefern, will ich mich nicht mehr. Diese Gedanken könnten fortgeführt werden, aber ich sehe heute keine Notwendigkeit dazu. Wenn wir miteinander reden könnten, wäre es das beste. Ich kenne keinen Menschen, der auf dem sogenannten Literaturmarkt zurückhaltender ist. Aber Sache des Verlags wäre es doch, das seine zu tun. Darf ich Sie abschliessend um eine vollkommen genaue detaillierte Aufstellung meiner Verlagsfinanzen bitten und zwar innerhalb einer Woche, also sehr dringend, um alle Details der Geldbewegungen mich betreffend nach Darlehen und „Normales“ getrennt, ab Salzburger Festspiele und Fernsehaufzeichnung des „Ignoranten“. Diese Papiere brauche ich im Grunde sofort. Mit herzlichen Grüßen Ihr Thomas Bernhard Thomas Bernhard u. Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger, Martin Huber u. a. Frankfurt/M. 2009. S. 301–305. © Suhrkamp Verlag.
Olaf Kramer
Der Übertreibungskünstler als Geschäftsmann – ein Brief Thomas Bernhards an Siegfried Unseld I. Für die Nachwelt?! – Der Briefwechsel zwischen Bernhard und Unseld Mehr als 500 Briefe wurden zwischen dem Autor Thomas Bernhard und seinem Verleger Siegfried Unseld von 1961 bis 1988 gewechselt. Zu den Adressaten des Briefwechsels gehörte schon früh auch die Nachwelt. Unseld schrieb bereits 1968 an Bernhard: „[I]ch stelle mir vor, was künftige Adepten des Studiums von Literatur- und Verlagsgeschichte bei der Lektüre unseres Briefwechsels sagen werden.“1 Die aber sollten eine Überraschung erleben. Wer von Thomas Bernhard erwartet, dass der Autor sein Werk reflektiert, über literarische Probleme schreibt, Meinungen, Stimmungen, Empfindungen thematisiert, wird jedenfalls zur Kenntnis nehmen müssen, dass Bernhard mit Unseld meist ganz andere Themen verhandelt. Es geht in den Briefen vor allem um Verträge, Darlehen, Honorare, Vorschüsse, Erscheinungstermine, Rezensionen, die richtige Vermarktung der Werke etc. Andreas Maiers Vorwurf, der Autor Bernhard betreibe nur ein ästhetisch-rhetorisches Spiel, die Spur existentieller Erfahrungen suche man in seinen Werken vergeblich, scheint auch für die Briefe Gültigkeit zu haben.2 In der Tat ist der Wunsch nach höheren Honoraren und größerer finanzieller Wertschätzung das vorherrschende Anliegen des Briefschreibers Bernhard. Immer wieder stellt er neue finanzielle Forderungen an seinen Verleger; das Erscheinen jedes neuen Buches wird vom Geschacher um ein höheres Honorar begleitet. Unseld hält meist zunächst dagegen und lenkt dann doch am Ende ein. Als Dauerkonflikt steht die Veröffentlichung der autobiographischen Texte Bernhards im Salzburger Residenz Verlag im Hintergrund. Bernhards Beziehungen zu diesem Verlag sind ein ______________ 1 2
Thomas Bernhard an Siegfried Unseld, 24.6.1968. In: Thomas Bernhard u. Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger, Martin Huber u. a. Frankfurt/M. 2009. S. 83–85, hier S. 83. Vgl. Andreas Maier: Es gab eine Zeit, da habe ich Thomas Bernhard gemocht. Über Bernhards Willen zum rhetorischen Effekt. In: Joachim Knape u. Olaf Kramer (Hg.): Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Würzburg 2011. S. 143–147. Außerdem Andreas Maier: Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa. Göttingen 2004. S. 299.
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ständiger Stein des Anstoßes für Unseld, sie verschaffen jenem aber zugleich eine gute Ausgangslage, um seine Forderungen durchzusetzen. Strategisch ist das Spiel mit zwei Verlagen sinnvoll, und strategische Überlegungen spielen in den Briefen Bernhards an seinen Verleger eine große Rolle. Die Drohung, Suhrkamp zu verlassen, klingt in vielen Briefen leise, aber doch unüberhörbar an und gehört offensichtlich zu Bernhards Verhandlungsstrategie. Die Beziehungen zum Residenz Verlag sind es auch, die zum Bruch zwischen Unseld und Bernhard führen. Im theatralischen Finale des Briefwechsels steht Unselds Telegrammausruf „ich kann nicht mehr“3 Bernhards souveräner Konter „ich war sicher einer der unkompliziertesten Autoren, die Sie jemals gehabt haben“,4 entgegen. Wer in Anbetracht der Themen, die Bernhard und Unseld verhandeln, denkt, der Briefwechsel sei von keinem künstlerischen oder literarischen Interesse und insofern auch für die Nachwelt eher belanglos, täuscht sich.5 Die Briefe sind zwar thematisch fast durchgängig in den Bereich geschäftlicher Korrespondenz einzuordnen, aber formal sprengen sie deren Regeln. Bernhard folgt den Regeln künstlerischer Sonderkommunikation,6 kümmert sich wenig um die Usancen des Geschäftslebens. Seine Briefe sind ästhetisch hyperstrukturiert, enthalten rhetorische Figuren, Rhythmisierungen und Wiederholungen in großer Zahl, wie man das auch aus seinen literarischen Werken kennt. Bernhard injiziert in den Bereich geschäftlicher Standardkommunikation Denk- und Ausdrucksweisen, die eigentlich nur im künstlerischen Kontext akzeptiert werden. Damit verstößt er gegen die stilistischen Regeln eines Geschäftsbriefes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in dem Übertreibungen, Wiederholungen und ausufernde, musikalisch ausgestaltete Satzkonstruktionen nichts zu suchen haben. Sicher gehören auch zu einer Geschäftsbeziehung Krisen und Auseinandersetzungen, wie sie im Briefwechsel immer wieder die Beziehung der beiden Autoren trüben, aber man wird eben auch die Gültigkeit getroffener Abmachungen ______________ 3 4 5
6
Siegfried Unseld: Telegramm an Thomas Bernhard, 24.11.1988. In: Bernhard/Unseld: Briefwechsel (Anm. 1), S. 805. Thomas Bernhard: Telegramm an Siegfried Unseld, 25.11.1988. In: Ebd., S. 806. Zum Thema ,Verlegerbriefwechsel‘ vgl. Ernst Fischer: „… diese merkwürdige Verbindung als Freund und Geschäftsmann“. Zur Mikrosoziologie und Mikroökonomie der AutorVerleger-Beziehung im Spiegel der Briefwechsel. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 15 (2006). S. 245–286; ferner Maria Zens: Immer bei Cassa, wenn Apollo anklopft? Autoren und Verleger im Briefwechsel. In: Rainer Baasner (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999. S. 251–279. Zur Differenz von standard- und sonderkommunikativen frame-Erwartungen im Kommunikationskontext vgl. Joachim Knape: Rhetorik der Künste. In: Ulla Fix, Andreas Gardt u. a. (Hg.): Rhetorik und Stilistik. Bd. 1. Berlin, New York 2008. S. 894–927, hier S. 898–906.
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erwarten dürfen, den Versuch eine gemeinsame Basis für gemeinsame Unternehmungen zu sichern. Bernhard nimmt oft harmlose Äußerungen Unselds unerwartet wörtlich, andere unnötig persönlich, neigt zu apodiktischen Urteilen, die sich nicht um Beweggründe des anderen scheren und äußere Zwänge ignorieren. Kurzum: Lizenzen, die dem Künstler gestattet sind, die wir vom Künstler erwarten, nimmt Bernhard sich auch im Briefwechsel mit seinem Verleger. Bernhard bleibt in diesem Briefwechsel Künstler, obwohl er geschäftliche Verhandlungen führt. Er versteht Unselds Briefe wörtlich, wo er will, und er wechselt ganz, wie es ihm passt, immer wieder unmerklich in den ‚Kunstcode‘. Seine Briefe folgen einem Muster, mit dem Bernhard immer wieder die Öffentlichkeit irritiert hat. In Kontexten, in denen es niemand erwartet, etwa in einer politischen Auseinandersetzung oder bei der Annahme eines Förderpreises, reklamiert Bernhard künstlerische Freiheiten für sich und verstößt gegen etablierte Gesprächsregeln. Zugleich sind seine literarischen Texte so angelegt, dass sie nicht nur als Beispiel künstlerischer Sonderkommunikation gelesen wurden, sondern man sie unmittelbar auf die Realität bezog, sie als eine Art Dokument verstand. Die Skandale um Holzfällen, Heldenplatz oder auch um die autobiographischen Texte beruhen auf diesem Prozess der Grenzverwischung zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Diese Grenzverwischung hat freilich gute Gründe, denn Bernhard schätzt den Skandal als Mittel der Kunst und des Künstlers. In den Briefen Bernhards ist das bewusste Verwischen der Grenzen zwischen ästhetischem Spiel und ernstgemeinten Äußerungen, die sich auf die äußere Wirklichkeit beziehen, nicht nur im Fall Unseld zu beobachten, auch manch vergnüglicher Leserbrief Bernhards arbeitet mit dieser Methode.7
II. Verhandlungen im Modus der Übertreibung Bernhards Brief an Unseld vom 18. Oktober 1972 fällt in eine Zeit scharfer Auseinandersetzungen um den Autor. Im August war das Drama Der Ignorant und der Wahnsinnige in Salzburg nach dem Notlichtskandal abgesetzt worden.8 Die Inszenierung von Claus Peymann sah vor, dass am Ende des Stücks vollkommene Dunkelheit im Theater herrschen, dass also auch das Notlicht ausgeschaltet werden sollte. War dies bei der Gene______________ 7 8
Vgl. Joachim Knape: Zur Problematik literarischer Rhetorik am Beispiel Thomas Bernhards. In: Knape/Kramer: Rhetorik und Sprachkunst (Anm. 2), S. 5–24. Vgl. hierzu den Kommentar in Thomas Bernhard: Werke. Hg. v. Wendelin SchmidtDengler u. Martin Huber. Bd. 15. Dramen I. Hg. v. Manfred Mittermayer u. Jean-Marie Winkler. Frankfurt/M. 2004. S. 470–476.
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ralprobe noch der Fall, blieb das Licht bei der Premiere an. Daraufhin verweigerten die Künstler weitere Auftritte und Bernhard schlug sich öffentlich auf die Seite Peymanns. In schneller Folge hatten sich Bernhard und Unseld daraufhin ausgetauscht, um zu klären, wie nun weiter zu verfahren sei. Beiden ging es dabei weniger um den künstlerischen Sinn der Verdunkelung des Zuschauerraums als um mögliche finanzielle und juristische Folgen der Absetzung des Stücks. Überraschend formuliert Bernhard – nicht lang nach diesem regen Austausch zwischen Autor und Verleger – am 18. Oktober einen bitteren Klagebrief, in dem er massive Kritik an der Arbeit des Verlags übt und vor allem über fortlaufende „Nichtbeachtung“ (S. 377) klagt. Schon die Datumzeile bedarf der Interpretation. Bernhard schreibt 18.11.72 statt 18.10.72, wie es korrekt wäre, man darf dies wohl als ein erstes Indiz für den Grad seiner Erregung sehen. Der Brief selbst beginnt mit einem Donnerhall: Lieber Herr Doktor Unseld, wenn ich den Grad der Vernachlässigung, dem meine schriftstellerische Arbeit seit längerer Zeit im Suhrkampverlag ausgesetzt ist, bestimmen soll, muss ich sagen, er ist der grösste; zurückgenommen ausgedrückt, ist es eine mir schmerzliche, allzu unübersehbare Nichtbeachtung (S. 377).
Bernhard selbst war durchaus bewusst, dass solche Anschuldigungen für Aufsehen sorgen würden, als er den Brandbrief gen Frankfurt schickte. Wie Karl Ignaz Hennetmair berichtet, hat er anders als sonst einen Durchschlag erstellt, weil er schon beim Schreiben ahnt, dass über diesen Brief noch viel zu sprechen sein wird.9 Der Effekt der ersten Zeilen wird drastisch gewesen sein, gleichwohl sollte man sie nicht als eine blinde Wuteruption deuten. Sprachlich sind diese Zeilen aufwändig durchkomponiert, so dass sie eben durchaus auch einen sprachästhetischen Reiz haben. Nachdem zunächst von größter Missachtung die Rede ist, nimmt der Autor sich nämlich scheinbar zurück („zurückgenommen ausgedrückt“; S. 377), was folgt ist aber – fast wie bei einer praeteritio, in der man ankündigt von etwas zu schweigen, nur um die Sache doch anzusprechen – eine weitere Übertreibung. Bernhard spricht von „unübersehbare[r] Nichtbeachtung“; ein Oxymoron, das auch durch seine wortspielerische Qualität einnimmt. Abschließend stellt Bernhard der gegenwärtigen Situation auch noch antithetisch entgegen, „wenigstens Beachtung“ (S. 377) dürfe er doch erwarten. Womit schon wieder in Superlativen gedacht wird, so dass eine stark konturierte Antithese entsteht. Blinde Wut würde kaum so wohlkomponierte Sätze hervorbringen; offensichtlich war Bernhard ______________ 9
Vgl. Karl Ignaz Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972. Salzburg, Wien 2000. S. 466.
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zwar erregt und erbost, hat an seiner Anklage aber sorgsam gefeilt. Mit diesem Auftakt kann Bernhard sich der Aufmerksamkeit für seinen Brief jedenfalls sicher sein, das attentum parare scheint geglückt. Das Erringen von Wohlwollen und Herstellen einer positiven Atmosphäre, die ebenso zur Exordialtopik eines Briefes gehören, scheint Bernhard hingegen nicht zu interessieren. Zu dem Brief vom 18. Oktober hat sich ein Briefentwurf in den Papieren Bernhards erhalten, der es erlaubt, die Genese des Briefes nachzuvollziehen und zu klären, welche sprachästhetischen, aber auch strategischen Ziele er verfolgt. Der Briefentwurf fügt sich zunächst in die üblichen Floskeln des Geschäftsbriefs. Am Beginn heißt es: Lieber Herr Doktor Unseld, die Fragen dieses Briefes bitte ich Sie, mir so bald als möglich zu beantworten […]. Zuerst bitte ich, innerhalb einer Woche, also sehr dringend um eine genaue detaillierte Aufstellung meiner Finanzen.10
Daraufhin werden fünf Kritikpunkte genannt: Neben der Forderung nach einer Aufstellung der finanziellen Situation geht es um einen fehlerhaften Nachdruck des Ignoranten, Nachlässigkeiten bei der Sammlung und Übersendung von Rezensionen durch den Verlag, die mangelhafte Vermarktung von Bernhards Theaterstücken und schließlich um die Annahme des Csokorpreises. Bereits der Entwurf enthält jedoch viele Übertreibungen, Bernhard liebt die Hyperbel. Der Nachdruck des Ignoranten sei von „fürchterlichen Druckfehler[n]“11 durchzogen, aus dem Suhrkamp Verlag erhalte Bernhard nur „unbedeutende, lächerliche“12 Nachrichten, von den Rezensionen würden nur „die dümmsten“13 weitergereicht. Bernhard stellt bohrende Fragen: „Wie kann passieren, was passiert ist?“, „Wozu aber habe ich dann einen Verlag im ‚Hintergrund’?“14 Der Entwurf endet mit der Androhung des Bruches mit Unseld und Suhrkamp: „Ich möchte sagen, auf dieser Basis der Schlamperei und der Kopflosigkeit und der Gleichgültigkeit will ich nicht mit dem Verlag weitermachen.“15 Im Vergleich zum abgesandten Brief ist der Entwurf eine rhetorische Nullstufe, von der aus Bernhard mit verschiedenen amplifizierenden und ästhetisierenden Techniken den endgültigen Brief gestaltet und vor allem strategisch weiter schärft. Auf die direkte Drohung mit dem Verlag zu brechen zum Beispiel verzichtet Bernhard, schränkt sie vielmehr auf ein ______________ 10 11 12 13 14 15
Bernhard/Unseld: Briefwechsel (Anm. 1), S. 305. Ebd., S. 306. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 307.
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einzelnes Werk ein, die Korrektur nämlich, indem er ankündigt, wenn sich nichts ändere, komme es „ganz einfach nicht heraus“ (S. 377). Bernhard ist sich darüber klar, dass Suhrkamp die erste Adresse ist, der Residenz Verlag oder andere Alternativen einen Rückschritt bedeuten würden. Das Risiko, dass Unseld Reisende nicht aufhalten mag, will er nicht eingehen. Auch relativiert er Ärger und Anschuldigungen im abgesandten Brief vielfach, indem er sie konkretisiert. Es wird nicht mehr so häufig vom völligen Versagen gesprochen, vielmehr werden einzelne konkretere Probleme angesprochen, etwa wenn es um Nachlässigkeiten Rudolf Rachs, des Leiters des Suhrkamp Theaterverlages, bei der Übersendung von Rezensionen geht. Bernhard richtet den Brief also so aus, dass seine Verärgerung deutlich spürbar ist, das Tischtuch mit Unseld aber doch nicht vorsätzlich zerschnitten wird. Auch im abgesandten Brief lässt Bernhard nicht von Steigerungen und Übertreibungen ab. Bisweilen werden diese sogar noch weiter ausgeführt als im Entwurf. Heißt es etwa zunächst über den Csokorpreis: „Von Hilde Spiel hörte ich gestern, dass Sie ihr gesagt haben, Sie hätten mich zur Annahme des Csokorpreises überredet“,16 so wird daraus später: „Von Hilde Spiel hörte ich gestern, dass Sie in mich gedrungen wären, den sogenannten Csokorpreis doch anzunehmen.“ (S. 379.) Die neue Variante ist stärker, aus dem Überreden wird massiver Drang. Der Stil folgt Bernhards Gewohnheiten auch, indem aus dem „Csokorpreis“ ironisch spöttelnd der „sogenannte Csokorpeis“ wird. Für jeden erfahrenen Bernhard-Leser tritt damit aber auch ein ästhetisch-spielerischer Zug hervor, weiß er doch, wie oft Bernhard mit dem Adjektiv ‚sogenannt‘ sein Spiel treibt. Mit der Auseinandersetzung über die finanzielle Situation zwischen Autor und Verlag ist der Streit um den Erscheinungstermin der Korrektur verknüpft. Bernhard wünscht sich ein Erscheinen im Herbst aus – wie es im typischen Übertreibungsstil heißt – „verschiedene[n], alle schwerwiegende[n] Gründe[n]“ (S. 377). Wenn er schreibt, er wolle das Buch „‚erscheinen‘ sehen“ (S. 377), wird, wie die Anführungszeichen andeuten, ein Begriff aus dem Verlagswesen wörtlich genommen und also nicht im üblichen Sinne verwendet, womit sich wiederum zeigt, dass Bernhard Kunst-, nicht Geschäftskommunikation betreibt. Gerade die Diskussion um den Erscheinungstermin ist ein Beispiel dafür, wie sich mit rein sprachlichen Mitteln Realität erzeugen lässt. Bernhard will Vor- und Nachteile des Erscheinungstermins gar nicht diskutieren, er setzt lieber Behauptungen in die Welt, die damit zunächst Geltung haben, zumindest solange niemand widerspricht. Man kann beinahe an Gorgias denken, der die Leistung der Sprache in ähnlicher Weise ______________ 16
Ebd.
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beschrieben hat.17 Es geht Bernhard darum, wie Manfred Mittermayer formuliert, durch Sprache Wirklichkeit in den Griff zu bekommen.18 Die Behauptung steht in der Welt und wirkt allein, indem die Aussage gemacht wurde. Es ist dann an Unseld, diese Behauptung, die keinen Widerspruch duldet, zu rationalisieren, zu prüfen und zu korrigieren, kurz: sich zu rechtfertigen, kommunikativen Aufwand zu betreiben. Ein Instrument strategischer Steuerung sind auch die Fragen Bernhards, die sehr grundlegend nach Sinn und nach Ursachen forschen: [W]ie kann der Verlag eine Neuauflage des „Ignoranten“ machen mit allen vorherigen Druckfehlern, mit Druckfehlern, die entscheidend abstossend, sinnentstellend und das ganze Buch in Frage stellend, sind. […] Wozu existiert ein Büro, wie das von Rach, wenn ich nichts erfahre, was mich betrifft, nichts über Proben, Besetzung in Zürich, Wien, Berlin, München. (S. 378 f.)
Diese Fragen, die nicht durch Fragezeichen gekennzeichnet sind, enthalten wiederum starke Übertreibungen. Scheinbar sind die Fragen offen, in Wirklichkeit aber versucht Bernhard mit ihnen seine Sichtweise der Dinge als einzig gültige zu etablieren. Im Hintergrund des Briefs spielen Bernhards Beziehungen zum Residenz Verlag auch bei diesem Konflikt eine Rolle. Bernhard verschiebt den Erscheinungstermin für den geplanten ersten Erinnerungsband. Bei Unseld gehen in diesem Moment wohl die roten Lichter an, weil er diesen Band unbedingt für Suhrkamp sichern will, Bernhard längst aber an den Residenz Verlag denkt. Bernhard spricht den Konflikt freilich nicht an, denn er will die Beziehung zum Suhrkamp Verlag eben nicht abbrechen, sondern sucht nach einer guten Ausgangslage, um finanzielle Forderungen durchzusetzen. Er eröffnet wiederholt Nebenkriegsschauplätze, indem er Versäumnisse des Suhrkamp Verlags auflistet: Ein von Unseld selbst geplanter Querschnitt durch Bernhards Werk sei nie erschienen, auf die Idee Bernhards den Notlicht-Skandal zu dokumentieren, sei man nicht eingegangen etc. Die Liste von Bernhards Anklagepunkten ist so aufgebaut, dass er Absätze wiederholt mit parallelen Konstruktionen einleitet: „In diesem Augenblick fällt mir ein“ (S. 378), „Zugleich fällt mir ein“ (S. 378). Hier zeigt sich wieder ein ästhetischer Gestaltungswille. Solche Wiederholungsstrukturen sind bei Bernhard häufig zu finden, zugleich sind die Formulierungen aber interessant, weil Bernhard, wie das für viele Briefschreiber gilt, Spontaneität nur suggeriert. In Wirklichkeit bringt er keine spontanen Einfälle unmittelbar zu Papier, sondern geht wohlüberlegt vor, folgt sowohl einem ästhetischen als auch einem strategischen Kalkül, denn ______________ 17 18
Vgl. Gorgias: Lobrede auf Helena. In: Hermann Diels u. Walther Kranz (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Bd. 2. Berlin 1960. S. 291–293. (Nr. 82 B 11.) Vgl. Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Stuttgart 1995. S. 182.
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suggerierte Unmittelbarkeit des Gesprächstons im Brief ist immer das Ergebnis von Fiktionalisierung.19 Bernhard steigert sich in seinem Zorn bis an die Grenze des Sagbaren: „Aber ich muss überhaupt sagen, dass Rach mich in einer Weise enttäuscht, die nicht zu formulieren ist.“ (S. 378) Wie in der antiken Rhetorik soll auch hier der Topos der Unsagbarkeit die höchstmögliche Steigerung bewirken. Bernhard hofft, der Adressat werde sich den Grad seiner Enttäuschung selbst ausmalen. Gerade Andeutungen können – wie Bernhard verstanden hat – die Reaktion des Adressaten herausfordern. Entsprechend endet der Brief: „Diese Gedanken könnten fortgeführt werden, aber ich sehe heute keine Notwendigkeit dazu.“ (S. 379) Ein rhetorischer Taschenspielertrick: Ohne auch nur eine weitere Anklage zu konkretisieren, stehen so viele weitere mögliche Anklagepunkte im Raum. Statt konkrete Probleme lösungsorientiert zu verhandeln, geht Bernhard manipulativ vor. Offensichtlich hofft er so, die Position des Verlegers zu schwächen, ihn zu Zugeständnissen zu bewegen. Dabei scheint, wenn man Hennetmairs Dokumentation des Jahres 1972 anschaut, im Hintergrund des Kampfes um eine bessere Honorierung eher eine Petitesse zu stehen: Bernhard fürchtet, ein Nachbar könne eine Mastanlage direkt neben seinem Vierkanthof errichten, und braucht daher dringend Geld, um diese Planungen mit Hilfe einer Ausgleichszahlung zu verhindern.20 Das Ende des Briefes erinnert stilistisch an einen gewöhnlichen Geschäftsbrief. Bernhard fordert eine Aufstellung seiner Verlagsfinanzen an, eine Forderung, die im Briefentwurf noch ganz am Anfang stand. Die Umstellung kann als dramaturgisch wie strategisch geschickt gelten. Konnte man die Anforderung der Finanzübersicht im Briefentwurf noch für einen üblichen geschäftlichen Vorgang halten, muss diese sehr formale Forderung am Ende des Briefes nach all den Anklagen und Beschwerden, die formuliert oder auch nur angedeutet wurden, eine drastische Wirkung auf Unseld gehabt haben. Das Vertrauensverhältnis zwischen Unseld und Bernhard wird auf einen rein geschäftlichen Kontakt reduziert. An die Stelle vertrauensvoller Zusammenarbeit tritt die Forderung nach einem Zahlenwerk. Die herzlichen Grüße, die danach noch folgen, klingen eher wie Hohn. Auf den ersten Blick scheint Bernhards Wunsch im Rahmen des Üblichen zu liegen. Doch die Wochenfrist, die Bernhard zunächst setzt, wird sofort wieder aufgehoben: „Diese Papiere brauche ich im Grunde sofort.“ (S. 379) Durch die Unerfüllbarkeit der Forderung verliert sie gleich wieder ihren Sinn, aufrichtig kann sie jedenfalls nicht gemeint ______________ 19 20
Wolfgang G. Müller: Art. ‚Brief‘. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Tübingen 1994. Sp. 60–76, hier Sp. 61. Vgl. Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard (Anm. 9), S. 449.
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sein. Eine im Geschäftsbrief übliche Floskel geht in ästhetischem Spiel auf, wird Teil der Übertreibungskunst Bernhards,21 aber auch seiner Strategie, denn zur Zermürbung des Gegenüber kann sie durchaus einen Beitrag leisten. Hennetmair, dem Bernhard seinen Brief an Unseld zeigt, bevor er ihn auf die Post gibt, merkt an: „Nur, sagte ich, wirst du auf diesen Brief kaum eine Antwort bekommen“.22 In der Tat ist der Brief als Geschäftsbrief zunächst einmal ungeeignet, der Verfasser hält sich nicht an getroffene Vereinbarungen, zerstört systematisch die gemeinsame Basis mit Unseld, statt auf einer solchen aufzubauen, um konkrete Lösungen zu entwickeln. Hier wird im Modus der Übertreibung verhandelt. Das heißt aber, es wird destruktiv verhandelt, Probleme löst man so eigentlich nicht, wie man von den Autoren des Harvard-Modells lernen kann.23 Aber: Unseld erträgt Bernhards destruktive Vorhaltungen. Bernhard hat die Situation rhetorisch offensichtlich ganz richtig analysiert, das heißt, er hat verstanden, dass Unseld ihm die Kommunikationsweise eines Künstlers auch in wirtschaftlichen Fragen zugesteht. So war sich Bernhard sicher, dass Unseld in irgendeiner Form reagieren werde. Wenn man wie Unseld den Autor Bernhard im Verlag halten will, bleibt einem eben nichts anderes übrig als zu antworten. Durch diese Rücksichten Unselds ist aus heutiger Sicht mit dem Briefwechsel ein Drama in unendlich vielen Aufzügen entstanden, das monomanisch um wenige Themen kreist, wie man das aus Bernhards Bühnenstücken gewöhnt ist. Über einige Zwischenstationen kommen Bernhard und Unseld nach dem Brandbrief doch wieder zusammen. Unseld hat in dem Brief, der den Zwist beilegt, eine schöne Formulierung für die wohl einzig mögliche Art der Einigung gefunden, die mit Bernhard zu erreichen ist: „Wir stimmen überein bei gegenseitiger Wahrung unserer Positionen.“24 Das ist eine Einigung ohne wirkliche Verständigung. Sie beruht auf dem Entgegenkommen Unselds, aber auch darauf, dass der Übertreibungskünstler Bernhard sich nach einiger Zeit doch kompromissbereit zeigt, bereit ist „unklare Gedanken zu klären, Verwirrendes zu entwirren“.25 Die Beziehung zwischen Autor und Verleger funktioniert, weil Bernhard und Unseld dies wollen, einander brauchen und bewundern, wie das letzte Zusammentref______________ 21 22 23 24 25
Bernhard ist verschiedentlich als Übertreibungskünstler beschrieben worden. Vgl. neuerdings Andreas Dorschel: Lakonik und Suada in der Prosa Thomas Bernhards. In: Thomas-Bernhard-Jahrbuch 2007/2008 [2009]. S. 215–233. Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard (Anm. 9), S. 458. Vgl. Roger Fisher u. a.: Das Harvard-Konzept. Sachgerecht verhandeln – erfolgreich verhandeln. Frankfurt/M. 2002. Bernhard/Unseld: Briefwechsel (Anm. 1), S. 338. Ebd., S. 323.
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fen der beiden, das Unseld in seiner ‚Chronik‘ beschreibt, eindrücklich dartut.26 Unseld zählt den Künstler Bernhard zu den größten, Bernhard, der selbst über Geschäftssinn verfügt, bewundert den seines Verlegers und lässt diesem bisweilen entsprechendes Lob zuteil werden: „Wenn Shakespeare der größte Dichter und Minetti der größte Schauspieler ist, dann ist Unseld der größte Verleger.“27
III. „Auf dem sogenannten Literaturmarkt“ – die Tücken entschleunigter Briefkommunikation Schon früh beschrieben Briefsteller Briefe als eine Form dialogischer Kommunikation mit einem abwesenden Gesprächspartner. Daraus leitet sich häufig der Hinweis ab, ein Brief solle sich stilistisch am Gespräch orientieren.28 Bernhards Brief an Unseld erfüllt dieses Kriterium als ein ästhetisch hyperstrukturiertes Textgebilde scheinbar nicht. Schließlich liefert der Brief Beispiele für Bernhards musikalisch-rhetorischen Stil, für seine Übertreibungskunst etc. Wer allerdings Bernhard in Interviews zuhört, der weiß, dass ihm diese Art zu reden und zu denken in Fleisch und Blut übergegangen war. Die Gespräche mit Krista Fleischmann beispielsweise haben den gleichen Duktus wie der Brief an Unseld, auch sie sind auf der Oberfläche sorgsam durchkomponierte Beispiele für Übertreibungskunst. Insofern hält sich Bernhard dann doch an den Rat, den Brief wie einen Gesprächsbeitrag zu gestalten, allerdings eben in dem ihm eigenen ungewöhnlichen Stil. Freilich kann auch Bernhards Brief nur ein Surrogat für ein Gespräch sein, weil er anders als ein Dialog nicht spontan sein, man im Brief eben nicht unmittelbar auf den anderen reagieren kann. Thomas Bernhard ist sich dieser Problematik sehr bewusst: „Wenn wir miteinander reden könnten, wäre es das beste“ (S. 379), schreibt er in der Hoffnung, dass eine Klärung im Gespräch eher gelingen könne als in Briefen. Stärker als beim Gespräch werden in einem Briefwechsel Positionen fixiert, während sie sich in einem Gespräch fortentwickeln können, Missverständnisse sofort geklärt werden können. Das weiß Bernhard, denn ein Misstrauen dem Medium Brief gegenüber hegt er schon länger: „Ich halte es für bes______________ 26 27 28
Vgl. ebd., S. 806–813. Thomas Bernhard: Unseld. In: Der Verleger und seine Autoren. Siegfried Unseld zum sechzigsten Geburtstag. Frankfurt/M. 1984. S. 52–54, hier S. 52. Vgl. Müller: Brief (Anm. 19), Sp. 61.
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ser, zu reden, als zu korrespondieren, denn in der Korrespondenz kreuzen sich seit Jahrtausenden die Missverständnisse, wie Sie wissen.“29 Gleichwohl ist das Bekenntnis zum Gespräch nach all den Anschuldigungen gegenüber dem Verlag merkwürdig. Bernhards Brief ist zunächst ein Angriff auf die für ein Gelingen des Gesprächs erforderliche Grundlage auf der Beziehungsebene. Wer so miteinander redet wie Bernhard an Unseld schreibt, wird sich kaum je auf etwas einigen können. Bernhards Gesprächswunsch rückt aber auch die Anschuldigungen zurecht, die er in seinem Brief formuliert. Es zeigt sich, dass die extremen Äußerungen, die Übertreibungen und destruktiven Andeutungen zu Bernhards Strategie gehören. Er will gar nicht die Beziehung zu Unseld zerstören und beenden. Er will mit seinem Brief vielmehr seine finanzielle Situation verbessern, über Werbemaßnahmen und Erscheinungstermine ins Gespräch kommen und keinesfalls das Tischtuch zerschneiden, auch wenn das zunächst ganz anders aussieht. Bernhards Brief entpuppt sich als Geschäftskorrespondenz im ästhetisch-rhetorischen Gewand, dem mit der intendierten Zermürbung des Adressaten fraglos ein geschäftliches Kalkül zu Grunde liegt. Auf einer Metaebene schließlich kann man den Brief als ein Beispiel dafür lesen, dass ein ästhetisches Spiel trotz vieler logischer Widersprüche und grotesker Übertreibungen kommunikativ wirksam ist, der Adressat großen Aufwand treiben muss, um bizarre Anschuldigungen, die einmal in der Welt sind, rational zu überprüfen. Siegfried Unseld nimmt den Brief als einen strategischen Schachzug auf, er antwortet mit einem Telegramm zum Zeichen seiner Gesprächsbereitschaft und seines Interesses an der Fortsetzung der Zusammenarbeit. Ein erstes Telegramm, das schon am 20. Oktober bei Bernhard eintrifft, sorgt wegen seiner Kürze allerdings erneut für Missverständnisse. Dieser hält es zunächst irrtümlich für eine Antwort, doch bezieht es sich auf eine früher getroffene Verabredung in Frankfurt am Main und ist ganz zufällig gerade in jenen Tagen abgeschickt worden.30 Am 25. Oktober kommt dann die wirkliche Telegrammantwort mit der Ankündigung, Rach und Unseld würden nach Ohlsdorf reisen, um Bernhard zu treffen. Der antwortet noch am gleichen Tag wiederum mit einem Telegramm und stimmt zu. Unseld kommt dann freilich doch nicht selbst nach Ohlsdorf zu Bernhard, lässt vielmehr Rudolf Rach einen Brief überbringen und kündigt an, telefonisch in einem Hotel in Zürich erreichbar zu sein. Damit erweist sich auch Unseld als geschickter Stratege. Mitarbeiter Rach soll zunächst einmal die Situation klären, bevor er selbst tätig wird. So sichert ______________ 29 30
Bernhard/Unseld: Briefwechsel (Anm. 1), S. 112. Vgl. Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard (Anm. 9), S. 462.
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Unseld sich zusätzliche Handlungsoptionen, wenn sich der Konflikt nicht gleich beseitigen lässt. Es handelt sich also um sinnvolle Entschleunigung, um ein strategisches Aufschieben von Kommunikation. Grundsätzlich ist die Entschleunigung aber ein Defizit des Mediums Brief, das im 20. Jahrhundert verstärkt als Problem betrachtet wird, weil schnelle Alternativen wie das Telefon zur Verfügung stehen. Das Bedürfnis nach Beschleunigung ist auch im Brief an Unseld spürbar, man denke an Bernhards kuriose Fristsetzung. Auch während der Krise nach der Absetzung des Ignoranten haftet vielen Briefen das Defizit der Langsamkeit an, sie halten mit den Ereignissen kaum noch Schritt. Gerade geschäftliche Entwicklungen verlangen offenbar nach schnellen Entscheidungen. Da wird es zum Problem, dass Bernhard allenfalls über Dritte telefonisch erreichbar ist. Das Wirtschaftssystem, zu dem der „Apparat[ ]“ (S. 379) Suhrkamp Verlag gehört, duldet wenig Aufschub (wie ja auch Bernhard Eile hat, weil er wegen der Streitigkeiten mit seinem Nachbarn schnell Gewissheit über seine finanzielle Situation will). Bernhards Brief an Unseld zeigt, dass ihm bewusst ist, dass künstlerischer Erfolg auch ein Marktphänomen ist. Er schreibt, er sei „aufs Äusserste mit der Materie des Verlags, des Geschäftes und des gemachten Erfolges oder Mißerfolges vertraut“ (S. 377). Hier klingt wieder Bernhards Übertreibungskunst an, doch auch das Wissen, dass Kunst immer in einem Wettbewerb steht.31 Zum Künstleragon der Moderne gehört die Bewährung am Kunstmarkt. Insofern spricht Bernhard zu Recht vom „gemachten“ Erfolg oder Misserfolg der Bücher, fordert endlich ein „Einzelinserat in einer der wichtigsten Zeitungen“ (S. 377). Bernhard geht es in seinem Brief durchaus um seine Kunst, das schließt das Interesse an Breitenwirksamkeit (und die sich daraus ergebenden Mehreinnahmen) schließlich ein. Bernhard möchte sicher gehen, über gute Inszenierungen an großen Theatern, Rezensionen in wichtigen Zeitungen und Werbung als bedeutender Schriftsteller dargestellt und wahrgenommen zu werden. Fernsehrechte und -übertragungen, Anzeigenwerbung und gut gewählte Erscheinungstermine sind nicht nur Marketinginstrumente, sondern sorgen dafür, dass ein Künstler im Kunstdiskurs wahrgenommen wird. Insofern mischt sich Bernhard mit seinem Brief aus guten Gründen in das Geschäft Unselds ein. Bernhard stellt dabei freilich nur seine Sicht der Dinge dar, versucht gar nicht erst, die Karte der Interessengemeinschaft zwischen Autor und Verleger zu spielen. Sein Brief ist im wahrsten Sinne des Wortes strategisch, das heißt kriegerisch. Thomas Bernhard kann nicht aus seiner Übertreibungskunst heraustreten, nicht weg vom Entweder – Oder der Antithesen und Hyper______________ 31
Vgl. Knape: Rhetorik der Künste (Anm. 6), S. 909–912.
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beln, die sich oft nicht um die Wirklichkeit scheren, aber ein unterhaltsames ästhetisches Spiel generieren, mit dem er trotzdem ganz konkrete Absichten verfolgt. Vielleicht konnte Unseld sogar schmunzeln, wenn Thomas Bernhard am Ende seines Brandbriefes in einer Hyperbel, die nur literarisches Spiel sein kann, von sich selbst behauptet: „Ich kenne keinen Menschen, der auf dem sogenannten Literaturmarkt zurückhaltender ist.“ (S. 379)
Zwei Familienbriefe über die deutsch-deutsche Grenze hinweg, 16. Juli und 7. November 1980 Lpz., 16.7.80 Liebe Erika u. Hubert!1 Wir haben am 11.7. den lange erwarteten Brief von Dir, lb. E. bekommen und wollen ihn Dir am 15.7., wenn wir den Juli halbieren, beantworten, zumal wir sicher annehmen, daß Hubert von seiner Wiesbadener Kur zurück ist. Hoffentlich hat er trotz der katastrophalen Witterung (wir haben ja einen verregneten Sommer wie nie) mit der Kur Erfolg gehabt. Heute – wir denken daran – hatte Rita ja auch die erste ihrer mündl. Prüfungen, nachdem sie die schriftlichen mit einer „1“ bestanden hat. Unsere letzten Briefe, mit denen wir Eure Endorfer Post bestätigt hatten (vom 10.5.) – nach Endorf vom 6. u. 10.5.80, stellen die Verbindung zu unserer heutigen Post her. Doch ehe ich zu uns komme, wollen wir erst einmal hören, wie Hubert die Kur bekommen ist, denn es ist schön, wenn er bis zur Rente jedes Jahr eine Kur bekommt (ich habe ja bis zu meiner Rente ganze 2 Vorbeugungskuren bekommen). Auch Euer abschl. Urteil über Endorf könnt Ihr uns schreiben. E.s Brief war in 6 Punkte eingeteilt. 1.) Das Wetter war golden gegenüber Juni/Juli/Aug. 2.) Ihr seid beide viel mit Bewegungsbädern behandelt worden, denen Massagen folgten. Diese Therapie ist uns hier wenig geläufig. 3.) Vom Quartier seid ihr hoch befriedigt gewesen, habt sogar Farbfernseher in diesem gehabt (bei uns ist die Vorstellung davon schon unmöglich). Am Ende stand: Hubert sagte: RWE steigt wieder auf! Das entspräche leider nicht den Tatsachen, denn RWE verspielte den Aufstieg zur Bundesliga bereits im Karlsruher Hinspiel. Es ist doch eigenartig, daß die bedeutende Stadt Essen es nun schon jahrelang nicht fertig bringt, einen Club in die Bundesliga zu entsenden. Essen ist die 4.größte Stadt der BRD, bezw. die 2.größte von WD. 4.) Betr. Wahlmodus anl. der Landtagswahl in Nordrh.Westf. Ihr habt also noch in Essen wählen können, der Wahlausgang selbst bildete für mich keine Überraschung, höchstens, daß die FDP verschwand (was nicht bedeutet, daß sie bei der Bundestagswahl verschwinden muß). Es fehlten ihr in Nord. Westf. nur 3000 Stimmen an den 5 %. Bundestagswahlen am 5.10.: ich halte an meiner Prognose, die ich in Gegenwart von Hubert vor 5 Jahren aufgestellt habe, fest: Keine der beiden großen Parteien bekommt die absolute Mehrheit. Die SPD wird wieder mit der FDP koalieren. Also bleibt alles beim Alten. Für die Union ist die Lage noch schwieriger als vor ______________ 1
Die Personen sind anonymisiert.
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vier Jahren. Strauß als „Ur-Bayer“ ist für die Mehrheit der Bevölkerung nördl. der Mainlinie unakzeptabel, abgesehen davon, daß Schmidt auch persönlich gegenüber Strauß im Vorteil ist, also es kommt zu einer Persönlichkeitswahl, u. wenn die SPD wieder zur Macht kommen wird, ist es am allerwenigsten das Verdienst der Partei, sondern eher der FDP! Und, nebenbei: Carter wird in den USA kaum wieder gewählt, evt. wird ihm der Iran das Genick gebrochen haben, denn wer weiß, ob er seine Geiseln je wieder sieht, zumal sein offenbarer Befreiungsversuch an den untauglichen Mitteln gescheitert ist. Abgesehen vom Iran, hat Carter schon von Beginn seiner Präsidentschaft an völlig versagt. Also Reagan (oder Andersson?). Und was geschieht in Frankreich nächstes Jahr? Ich halte es längst noch nicht für ausgemacht, daß Guiscard wieder gewählt wird. Wenn nein, o weh, Schmidt: – zur Frage: Olympia schreibt Erika: Schade. Ich bin anderer Ansicht, Schmidt konnte garnicht anders handeln, wenn er nicht in seinem Verhältnis zur USA, auf die er in vieler Hinsicht angewiesen ist, etwas sehr Böses riskieren wollte. Aber abgesehen von der Politik: Ich bin der Ansicht, daß die olympische Idee schon seit langem entwürdigt worden ist. Möglicherweise sieht Moskau überhaupt die letzten derartigen Spiele. In 4 Jahren sind in Los Angeles (USA) Spiele angesetzt. Und wird sich die SU nicht für Moskau revanchieren wollen? Bekanntlich waren die olymp. Spiele s. Zt. ins Leben gerufen worden mit der Parole: Die Teilnahme ist das Wichtigste, nicht der Sieg. Wenn Ihr die jetzigen tatsächlich betrachtet, werdet Ihr nicht ohne weiteres mehr sagen: schade. Und denkt an die Berliner Olympischen Spiele 1936, waren sie nicht für Hitler eine sehr brauchbare Plattform für seinen Krieg 3 Jahre später! Und haben die olymp. Väter nicht selbst gegen obigen Grundsatz verstoßen, als sie Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zweimal nicht teilnehmen ließen? 5.) Lb. Erika, du gehst darin auch auf unsere persönliche Lage ein. Wir haben viel durchgemacht und vieles steht uns noch bevor. Gewiß hatte der Todesfall mit Edelgards Mutter zur Folge, daß wir die unerwünschten Folgen (überstürzte Heirat unseres „Großen“) dadurch abwenden konnten, indem ja das Wohnungsamt zu uns niemand mehr hineinsetzen konnte, in dem [sic] das ungleiche Paar vor dem Todesfall (ausschließl. den Bemühungen von Edelgard zu verdanken) eine eigene Wohnung zugewiesenen bekam. Denn zu uns hätten sie nicht hingekonnt, das hätte Mord und Totschlag geben! Es wird Dir das hiermit Gesagte weitestgehend unverständlich erscheinen. Da hilft nur: Persönlich erörtern, also komme bezw. kommt bald wieder nach Berlin! Die jetzige Situation ist trotzdem noch unangenehm genug, denn die Wohnung der beiden liegt nur 5 Min. von uns entfernt! Was noch mehr erschwert wird, da der „Große“ noch
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1 Jahr Militär vor sich hat. Denn seine Frau ist unmöglich, und der Kreis, aus dem sie kommt, noch unmöglicher. Das „kleine Würmchen“ (Erika!) ist nicht bei seiner Mutter, sondern z.Zt. im Krankenhaus und gedeiht offensichtlich nicht zur ärztl. Zufriedenheit. Es handelt sich doch hier um eine Frühgeburt (10 Wo.) Wir werden also in absehbarer Zeit nicht zur Ruhe kommen. Wir hatten übrigens einen „Freizeithandwerker“ (Kumpel vom „Großen“) in der Wohnung. Dieser hat für 4 Räume von Ostern bis jetzt vor 3 Wochen gebraucht. Das ging doch nicht so, wie bei euch, wo Hubert kurz vor seiner Kur Küche u. Balkon gestrichen hat. Bei uns sind jedoch ganz andere Verhältnisse: denn einen „normalen“ Handwerker bekommt man ja wohl, aber wann? Vielleicht, wenn ich gestorben bin, aber nie kurzfristig vor einer Kur. Und was nimmt der? Gerade an diesem Beispiel seht ihr am besten, wie weit Ost u. West entfernt sind. Und nun kommt Erikas Brief vom 06.07. Der war sehr abwechslungsreich und interessant (für mich, weil ich Münster und auch Osnabrück vom Kriege her kenne). Jedenfalls konnte ich mich trotz der langen Zeit doch noch an verschiedenes von Münster erinnern. Eines haben wir in Deinem Brief allerdings vermißt: Eure Stellungnahme zum „Sing, mei Sachse, sing!“ (Ich hatte euch doch eine Abschrift geschickt!) Nach Berlin zu fahren, hätte sich unsretwegen schon gelohnt. Wir haben doch so viel zu besprechen. Aber mit Blick auf Rita hast Du freilich recht. Du wärest in ihrer Prüfungszeit zumindest doch nur allein herumgelaufen. Rita erlebt in diesen Wochen gewissermaßen den Höhepunkt ihres Berliner Aufenthalts (oder wird Berlin vielleicht ihre 2. Heimat? Wo will sie sonst mit ihrem Japanisch2 hin? Berlin ist doch gerade das passende Gelände!) Der Satz in Deinem Brief war gerade zu klassisch „Und so was von Schwarzseher liebt die Rita“. Nur ist nicht ganz klar: liebt sie ihn oder liebt er sie, oder lieben sie sich beide? Und ist es eine hochgradige tiefe Liebe oder eine nur mäßig temperierte? Das sind doch wichtige Fragen! Übrigens, das Thema ihrer schriftl. Arbeit hätte ich auch ganz gerne einmal gelesen, wobei mich allerdings 121 DIN A 4 Seiten schockieren, denn ich rechne im Geiste die Zeit, die für mich nötig wäre, diese „Doktorarbeit“ zu verdauen. Jedenfalls ich kann mir nicht denken, daß Rita anderswo als in Berlin Aussicht hat, dieses Spezialgebiet „japanisch“ zu verwerten. Schade, daß ich Eure Tante Lotte nicht kenne (u. auch nicht mehr kennen lernen werde). Und den 73-jähr. Freund der Cousine auch. Vitale Menschen, wie geschildert kenne ich hier nur einen, – ich nehme das jedenf. an. Erika erwähnt Langebrück (Pfingstaufenthalt). Ja, wir waren zufrieden. Es war jedenfalls für mich wieder einmal ein Stück Heimat. Aber Ruhe u. dergl. haben wir dort nicht gesammelt ______________ 2
Angabe hier und im Folgenden aus Gründen der Anonymisierung geändert.
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(s. oben): – was die Wiedertäufer in Münster betr., so wurden m.E. nur der eigentl. Führer derselben Johann v. Leyden mit seinem Scharfrichter und seinem Kanzler, nach dem sie lebendig ergriffen und tödlich gefoltert worden waren als Leichname in eisernen Käfigen am Turm der Lambertikirche aufgehängt. Das ist nun ein langer Brief geworden. Viele derartige Briefe kann ich sicher nicht mehr schreiben, denn mein persönlicher Zustand sowohl wie der der Schreibmaschine sind zu schlecht. Ich mache es nur, weil Edelgard viel zu selten Zeit hat, an ihrer Dienstmaschine Briefe zu schreiben. Evtl. bestätigen wir sonst Eure eingegangene Post sofort nach Eingang durch Karte und lassen die ausführliche Beantwortung, bis Edelgard dazu kommt, einen anständigen Brief zu schreiben. Mit meiner Maschine kann man tatsächlich nichts mehr anfangen. Ich muß jede einzelne Zeile mit der Hand nachziehen, weil der Transporter u. vor allem die Walze nicht mehr normal funktionieren, – aber als armer Rentner kann ich mir keine neue Reisemaschine für ca. 500,– kaufen, außerdem kann man die Maschine nur durch Zufall erwischen. Wir hoffen, daß Ihr diesen Brief recht schnell erhaltet und bitten um baldige Antwort. Jetzt in der Ferienzeit klappt auch die Postzustellung nicht reibungslos. Evtl. Verzögerungen haben darin ihren Grund. [Handschriftlicher Zusatz auf der Rückseite des Blatts:] Den Schlußsatz zu Herberts Brief schreibe ich rasch mit der Hand. Auf Deinen ganz reizenden „Gammelbrief“ gehe ich sicher bald mal von Frau zu Frau ein, sobald unsere Terminarbeit erledigt ist. Aber für heute viele liebe Grüße, bleibt schön gesund und seit [sic!] vielmals herzlich gegrüßt Eure Buchen-Familie Essen, den 7.11.80 Liebe Edelgard! Gestern kam nun endlich der seit einiger Zeit versprochene von Frau-zuFrau-Brief hier an. Es lag diesesmal nun wirklich nicht an der Post, daß Ihr seit Juli nichts von mir hörtet. Die beiden Briefe von Herbert vom 16.7. u. 1.10. enthielten soviele sportliche, politische u. andere negative Passagen, daß ich einfach den Dreh zum Beantworten der Briefe nicht bekam. Von der politischen Seite her, seid Ihr allem Anschein nach besser informiert als wir u. sportlich gesehen; was hat es damit zu tun, daß Essen, die 2. größte Stadt von WD ist, u. keinen Club in die Bundesliga bringt? Ich glaube, wir Essener Bürger haben andere Sorgen. Auch stimmt es nicht, daß Herbert bis zur Rente jedes Jahr eine Kur bekommt Zwischen der Kur in Brückenau u. Wiesbaden lagen fast 3 Jah-
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re. Die Kur in Endorf hatte „ich“. Sie wurde nur zum Teil von der Betriebskrankenkasse finanziert. Der Rest ging zu unseren Lasten. Auch hatten wir keinen Handwerker so kurz vor der Wiesbadener Kur bekommen. Hubert hat Küche u. Balkon mit eigener Hände Arbeit, trotz Schmerzen in Rücken u. Beinen renoviert. Das ist nun ein kleiner Unterschied, ob man es mit viel Fleiß u. Mühe selber macht. Denn „nehmen“ tuen es die Handwerker hier auch. Über die Politik will ich mich schon gar nicht auslassen, denn da verstehe ich nicht genug davon, obwohl ich auch nicht mit verbundenen Augen durch die Weltgeschichte laufe. Mein Leben bestand darin, Frau u. Mutter zu sein. Lassen wir also die Politik u. befassen uns mit anderen Dingen. Wir leben nun mal in einer Welt, in der das Menschenrecht mit Füßen getreten wird; in einer Welt, in der Menschen im Unfrieden, Unfreiheit u. Armut leben. Wir haben immer u. immer wieder versucht, von dem was wir hatten, mit offener Hand Freude zu bereiten u. abzugeben an die, die weniger haben als wir. Hüben wie drüben. Hubert legte, wenn er konnte eine Sonntagsschicht ein u. die Kasse stimmte wieder. Von den hiesigen Teuerungsraten werdet ihr über’s Fernsehen gewiß informiert sein. Hubert ist kaum noch in der Lage Überstunden u. Sonntagsschichten zu machen. Seine Krankheit läßt das nicht mehr zu. Und es kommen schon wieder Sorgen auf uns zu. Rita hat zwar alle Prüfungen, 4 an der Zahl, mit einer 1 beziehungsw. einmal mit 1+ in japanol. mündl. bestanden u. kann sich nun Magister der Japanologie nennen. Aber davon bekommt sie nichts in den Magen. Arbeitslosenunterstützung steht ihr nicht zu. Wovon auch, sie hat als Studentin ja keine Sozialabgaben geleistet. Gerade, daß sie ihre Krankenversicherung selber bezahlt hat. Sie hält sich mit Übersetzungsarbeiten über Wasser. Für November ist ihr wieder ein Film versprochen worden. Wir können nur hoffen, daß sie das Stipendium bekommt. Den Antrag kann sie im Dezember stellen. Also ist sie immer noch auf unsere finanzielle Hilfe angewiesen. Da ist es in der DDR anders. Da bekommt doch wenigstens jeder, der seine Ausbildung abgeschlossen hat, auch Arbeit. Nach Berlin werden wir in absehbarer Zeit nicht kommen. Die lange Fahrt ist für uns immerhin sehr strapaziös. Da schicken wir lieber der Rita mal eine Fahrkarte nach „Essen“. Denn sie kommt ja doch gerne mal in die Heimat. Ein Besuch in Ost-Berlin ist unter diesen Umständen augenblicklich für uns doch nicht drin. 90,– DM Eintrittsgeld3 für drei Personen, ist doch sehr happig. Denn die 5,– DM Visagebühren pro Person kommen ja auch noch dazu. Am ärgsten betroffen sind wieder die kleinen ______________ 3
Zwangsumtausch von D-Mark in DDR-Mark, der bei Besuchen aus der BRD von der DDR erhoben wurde.
400
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Leute. Die da alle noch mit ihren West-Wagen in der DDR herum fahren haben bestimmt Sehnsucht nach lieben Angehörigen; die lieber das Eintrittsgeld bezahlen u. dabei die Faust in der Tasche machen. Die Reise von Nichtrentnern nach hier, ist doch völlig unmöglich, was bleibt da anders übrig, wenn man Eltern u. Geschwister wiedersehen will, als „rüber“ zu fahren. Das ist doch auch ein Kapitel von sozialer Menschlichkeit. Die Politiker in der DDR, werden schon wissen, warum sie’s tun. Liebe Edelgard, Du schreibst, daß es Dir u. Gerd im Urlaub gut gefallen hat u. daß Ihr, dank Eurer Freifahrscheine, auch Besichtigungsfahrten an Wochenenden unternehmt. Bedenken hast Du aber schon, was Gerd macht, wenn er nach seiner Ausbildung nicht mehr auf den Freifahrschein reisen kann. Ich denke, daß er, wenn er nach der Ausbildung eine Anstellung bekommt, in seinem Beruf so viel verdient, daß er sich die Fahrkarte kaufen kann. Die Reichsbahn befördert ihre Kunden relativ billig, gegenüber der Bundesbahn. Hier steht schon wieder eine Preiserhöhung von 9% ins Haus. Siehst du, das sind so kleine Probleme, die auch wir haben. Das Problem zur Goldbeschaffung für einen Grabstein haben wir Gott sei Dank nicht, denn wir haben auf keinem Grab einen Grabstein. Die Steine sind hier so teuer, daß wir schlicht gesagt, das Geld nicht hatten, um einen zu erwerben. Gold gibt es hier zwar, aber fragt nicht was es kostet. Jetzt hätte ich doch fast vergessen Dir mitzuteilen, daß Deine große Ansichtskarte aus der sächsischen Schweiz vom 18.9.80 auch hier angekommen ist. Wir hatten im September ein Kalenderblatt vom Harz zur Ansicht. Ich mußte beim Betrachten des Bildes an Euch denken. Ich stecke es in einen Umschlag u. sende es Dir gesondert. Vielleicht kommt es ja in der Müllerstraße an. Heute nacht hat es hier tüchtig geschneit. Mein Tagewerk begann mit Schneeschaufeln. Hubert hat gemeckert, als ich schon um 7 Uhr damit anfing. Wenn ich länger warte, kommen um ½ 8 die Schulkinder auf dem Weg zur Schule u. treten den Schnee fest. Dann ist die Arbeit viel schwerer als um 7 Uhr. Die Hauswirtin hat aber geholfen, so brauchte ich nicht die Arbeit alleine machen. Unser unmöglicher Nachbar, kümmert sich um nichts. Angeblich sucht er sich eine andere Wohnung. Wenn er die nur schon hätte. So, nun hast Du wieder ein Lebenszeichen von mir bekommen u. weißt, daß wir noch da sind. Dir auch vielen Dank für die Blümchen am Briefkopf, von dem das eine ein Usambara Veilchen ist, das andere kenne ich aber nicht. Ich betrachte sie stellvertretend für einen ganzen Blumenstrauß. Sei herzlich gegrüßt von Deiner Erika Privatarchiv Ina Dietzsch.
Ina Dietzsch
Grenzen überschreiben? Ein deutsch-deutscher Gemeinschaftsbriefwechsel1 Die beiden hier vorgestellten Briefe sind Teil einer Korrespondenz zweier Familien in Leipzig und Essen. Sie begann mit einem Weihnachtspaket und einem Brief, mit denen Hubert Schneider aus Essen 1958 wieder Kontakt zu seinem ehemaligen Freund Herbert Buch in Leipzig aufgenommen hatte,2 und hielt bis 1991 an. Es existieren noch 533 Briefe und Postkarten.3 Auch wenn es sich um das Wiederanknüpfen an eine Freundschaft handelt, wird in dieser Korrespondenz ein Charakteristikum deutlich, durch das sich sehr viele deutsch-deutsche Briefwechsel über die Grenze hinweg auszeichneten. Es ging weniger um die Aufrechterhaltung einer Beziehung, die vorher in ähnlicher Weise schon bestanden hätte, als vielmehr um eine Beziehung, die durch die Teilung erst ihren spezifischen Charakter erhielt und die zugleich bestimmte biografische Funktionen erfüllte, auf die noch einzugehen sein wird. Die auf diese Weise etablierten Beziehungen zwischen Ost und West, die häufig nur in Form des Briefwechsels und ohne die Möglichkeit persönlicher Begegnungen bestanden, waren in hohem Maße auf Regeln und Konventionen angewiesen. Die Einhaltung dieser Regeln wurde durch ‚Sicherungssysteme‘ gewährleistet, die allgemein dafür sorgten, dass die Briefkommunikation funktionierte – auch ganz pragmatisch in dem Sinne, dass man sich gegen Unregelmäßigkeiten des durch Zensur und Kontrolle bestimmten Postverkehrs zu schützen suchte. Die Briefe wurden nach verschiedenen Systemen nummeriert, es wurden Durchschläge geschrieben, Ausgangsbücher geführt, und die Dankesformeln zu Beginn eines Briefes wurden ergänzt durch eine exakte Aufzählung aller Briefe, versehen mit genauem Empfangsdatum. Abweichungen bzw. Verstöße gegen diese Regeln wurden thematisiert und sanktioniert. Die Anfangs- und
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Dieser Text geht in wesentlichen Zügen zurück auf meine Dissertation, die 2004 unter dem Titel Grenzen überschreiben? Deutsch-deutsche Briefwechsel 1948–1989 im Böhlau Verlag erschienen ist. Ich habe die Interpretation von damals übernommen, weil ich der Meinung bin, dass sie, auch wenn ich sie heute anders angehen würde, in den Hauptpunkten nach wie vor gültig ist. Die Personen sind anonymisiert. Der hier ausgewertete Briefwechsel wie auch alle weiteren, die für die Dissertation verwendet wurden, befindet sich in meinem Privatarchiv. Weitere von mir gesammelte und nicht verwendete Korrespondenzen befinden sich im Museum für Kommunikation in Berlin.
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Schlusssequenzen der beiden hier wiedergegebenen Briefe zeigen diese Sicherungssysteme sehr deutlich: Penibel werden die eingetroffenen und abgeschickten Briefe der letzten Monate aufgezählt: Wir haben am 11.7. den lange erwarteten Brief von Dir, lb. E. bekommen […]. Unsere letzten Briefe, mit denen wir Eure Endorfer Post bestätigt hatten (vom 10.5.) – nach Endorf vom 6. u. 10.5.80, stellen die Verbindung zu unserer heutigen Post her (S. 395),
schreibt Herbert Buch zu Beginn seines Briefs vom 16. Juli 1980. In der Schlusspassage wird die Erwartung einer baldigen Antwort geäußert und werden mögliche Störfaktoren der postalischen Beförderung reflektiert: Wir hoffen, daß Ihr diesen Brief recht schnell erhaltet und bitten um baldige Antwort. Jetzt in der Ferienzeit klappt auch die Postzustellung nicht reibungslos. Evtl. Verzögerungen haben darin ihren Grund. (S. 398)
Eine weitere Konvention, die eine reibungslose Briefkommunikation erleichtert, ist, dass vom Gegenüber angesprochene Themen im Antwortbrief wieder aufgenommen werden. Dabei ist Herbert Buch in seinem Brief fast akribisch, indem er sogar die Nummerierung von Erika Schneider übernimmt und die Punkte aus ihrem Brief ausführlich abhandelt. Auf den ersten Blick wirkt sein Brief dann auch durchaus empathisch. So nimmt Herbert Buch Anteil an der mündlichen Magisterprüfung der Tochter Rita Schneider („wir denken daran“; S. 395); um sein Interesse am Gegenüber zu artikulieren, stellt er sogar die Illusion mündlicher face-toface-Kommunikation her: „Doch ehe ich zu uns komme, wollen wir erst einmal hören, wie Hubert die Kur bekommen ist“ (S. 395). Trotz dieser auf Kontinuität, Austausch und Verständigung zielenden Maßnahmen kommt es aber gerade mit diesem Brief vom 16. Juli 1980 zu einer Krise innerhalb der Briefkommunikation zwischen den beiden Familien. Herbert Buchs Brief blieb fast vier Monate lang unbeantwortet, erst am 7. November antwortete Erika Schneider und nannte auch gleich den Grund für das Stocken des Briefverkehrs: Es lag diesesmal nun wirklich nicht an der Post, daß Ihr seit Juli nichts von mir hörtet. Die beiden Briefe von Herbert vom 16.7. u. 1.10. enthielten soviele sportliche, politische u. andere negative Passagen, daß ich einfach den Dreh zum Beantworten der Briefe nicht bekam. (S. 398)
Die aufgetretene Kommunikationsstörung ist eng mit einem weiteren Aspekt verbunden, der für viele langjährige persönliche Korrespondenzen über die deutsch-deutsche Grenze hinweg charakteristisch ist und der im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll: Es handelt sich nicht um die Kommunikation zwischen zwei Einzelpersonen, sondern um eine Briefgemeinschaft, aus deren Größe und Zusammensetzung sich Folgen für die inhaltliche Gestaltung, die Vertraulichkeit der Mitteilungen oder die Tabuisierung von bestimmten Themen ergaben. Davon, wer in welchem
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Maße angesprochen wurde oder wer selbst schrieb, hing ab, welche Themen verhandelt werden konnten und welche Erwartungen man an die Form der Korrespondenz hatte. Von den Kindern erwartete man vor allem Dankes- und Glückwunschbriefe, von einer als schreibfaul geltenden Person keine ausführlichen und von einer schreibungeübten keine poetisch formulierten Zeilen. Während in der Briefbeziehung zwischen den Familien Schneider und Buch zu Beginn die Männer noch aushandelten, wer wieviel in die Beziehung investiert, begannen zugleich die Ehefrauen, sich parallel über ‚Frauenthemen‘, wie sie es ausdrücklich selbst nannten, auszutauschen. Sie schrieben über Probleme, die sie mit ihrer Arbeit oder der Familie hatten, und plauderten über das Gedeihen der Kinder. Organisatorisch realisierten die Briefautorinnen und -autoren die Trennung, indem die Korrespondenz über längere Zeit tendenziell in Frauen- und Männerbriefe (oder -briefabschnitte) unterteilt wurde. Zugleich waren aber alle nächsten Angehörigen als Lesende einbezogen, Kinder schickten gelegentlich kleine Dankesbriefe mit, und die Tochter der Familie Schneider blieb auch nach ihrem Auszug aus dem Elternhaus bis 1991 mit Frau Buch in Leipzig in Kontakt. Von zentraler Bedeutung für diese wie für zahllose andere deutschdeutsche Korrespondenzen ist somit ihr Charakter als Gemeinschaftsbriefwechsel. Ein methodisches Instrumentarium für die Analyse solcher Briefe haben William I. Thomas und Florian Znaniecki bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Bezug auf Auswandererbriefe mit dem Begriff bowing letter angedacht.4 Darunter verstehen die Autoren nicht nur Familienbriefe, sondern generell Gemeinschaftsbriefe, die als solche insbesondere mittels Grußformeln, mit denen alle gemeinsamen Bekannten bedacht werden, markiert sind. Das Aufrechterhalten einer Gemeinschaft über eine räumliche Distanz hinweg ist den Autoren zufolge die wichtigste Funktion von Auswandererbriefwechseln. Damit verbunden ist als weitere Funktion der Briefe ihr Stellvertretercharakter, d. h. die Gegenwart abwesender Gruppenmitglieder wird so ersetzt, dass sie ihrer sozialen Rolle in der Gemeinschaft mit Hilfe der schriftlichen Kommunikation weiterhin gerecht werden können. Um eine überzeugende Präsenz der Abwesenden für alle Gemeinschaftsmitglieder herzustellen, ist, wer zur Gemeinschaft gehört, auch berechtigt die Briefe zu lesen. Das Verständnis von Briefwechseln als Austausch von Gemeinschaftsbriefen mit mehr als zwei Beteiligten ist bedeutsam für deren Analyse. So wird schon in den unterschiedlichen Anreden und Schlussformeln
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Vgl. William Isaac Thomas u. Florian Znaniecki: The Polish Peasant in Europe and America. Monograph of an Immigrant Group. Bd. 1. Boston 1918. S. 303.
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der beiden Briefe ein Konflikt deutlich: Während Herbert Buch in seinem Brief vom 16. Juli 1980 die Anrede „Liebe Erika u. Hubert!“ (S. 395) verwendete und der Brief mit „Eure Buchen-Familie“ (S. 398) unterzeichnet ist, ist der Gegenbrief nur an die „Liebe Edelgard“ (S. 398) adressiert und mit „Deine[ ] Erika“ (S. 400) unterschrieben. Herbert machte seine Position als Familienoberhaupt und Repräsentant der „Buchen-Familie“ geltend, indem er auf beiden Seiten die gesamte Familie einbezog. Erika hingegen legte Wert auf einen „Frau-zu-Frau-Brief“ (S. 398) und schrieb auch selbst einen solchen, in dem sie sich dann sowohl über Herberts unsensible Art des Schreibens als auch über ihren eigenen Mann oder den „unmögliche[n] Nachbar[n]“ (S. 400) beschweren konnte. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass sie damit rechnete, dass der Brief trotzdem von allen gelesen wird. Vielmehr war der Briefwechsel, wie aus weiteren Briefen deutlich wird, für die beiden Frauen ein Ort, an dem Anerkennung und Aufmerksamkeit für alltägliche Sorgen und Nöte verhandelt werden konnten. Dass sie den Briefwechsel als einen Familienbriefwechsel führten, in dem alle mitlesen und mitschreiben konnten, hatte so beispielsweise den Effekt, dass sie über ihn auch Einfluss auf die Geschehnisse innerhalb der eigenen Familie nehmen konnten. Wenn die Familie Schneider einen Brief von Edelgard Buch erhielt, die darin Erikas Geschicklichkeit bei Handarbeiten bewunderte oder ihr für ihre Tüchtigkeit ein Hausfrauen-Diplom verleihen wollte, wurde diese Anerkennung familienöffentlich und von allen anderen Haushaltsmitglieder wahrgenommen. Ähnliches kann auch für gesundheitliche Probleme festgestellt werden. Wenn Erika Schneider Edelgard ermahnte, sie solle wegen ihrer Zahnbeschwerden nicht mehr länger warten, sondern einen Arzt aufsuchen, kann davon ausgegangen werden, dass dies auch Teil des Familiengesprächs der Familie Buch wurde. Die (auto-) biographische Arbeit, die in der Regel charakteristisch für das Briefschreiben ist, fand in einer solchen Konstellation unter ganz besonderen Bedingungen statt. Sie ist eng verbunden mit dem Status einzelner Personen innerhalb der Briefgemeinschaft, die als Ehepaar oder Eltern und Kinder auch in anderen Bereichen des Alltags miteinander interagierten. Damit ist eine weitere Eigenschaft dieser Briefwechsel angesprochen: In Korrespondenzen, die über viele Jahre hinweg erfolgreich aufrechterhalten werden, ohne dass sich die Briefpartnerinnen und -partner regelmäßig begegnen, erschaffen sich die Mitglieder der Briefgemeinschaft gemeinsam eine eigene Vorstellungswirklichkeit. Im Laufe der Zeit entsteht eine Welt, in der Regeln gelten, die nicht mehr ohne weiteres auf
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andere Situationen im Alltag übertragbar sind. Durch „Realitätsfiktion“5 bleibt die Briefwirklichkeit dennoch mit anderen Wirklichkeiten jenseits der Korrespondenz inhaltlich wie auch sprachlich verbunden. Der Glaube an die Authentizität der Person wird u. a. aufrechterhalten, indem sich die Interaktionspartnerinnen und -partner in Briefwechseln ähnlich wie im face-to-face-Umgang miteinander als ‚Identitäten‘ wahrnehmen, also immer davon ausgehen, dass der/die mit dem gleichen Namen Bezeichnete von heute auch noch der/die aus dem letzten Brief ist. Das wiederum motiviert die Schreibenden zu einem Streben nach einer tendenziell kohärenten Erzählung von sich selbst, in der Differenzierungen außen vor gelassen werden und die eher bestätigenden Charakter hat. Statt Identität jedoch als analytischen Begriff zu gebrauchen, spreche ich präziser von Images im Sinne Goffmans: „Image ist ein in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild, – ein Bild, das die anderen übernehmen können.“6 Es ist nur eine Anleihe von der Gesellschaft; es wird entzogen, es sei denn man verhält sich dessen würdig. Anerkannte Eigenschaften und ihre Beziehung zum Image machen aus jedem Menschen seinen eigenen Gefängniswärter; dies ist ein fundamentaler Zwang, auch wenn jeder Mensch seine Zelle gerne mag.7
In einem längere Zeit andauernden Briefkontakt entstehen mehr oder weniger verbindliche soziale Beziehungen, die für die von beiden Seiten gemeinsam aufgebauten und anerkannten Images Kontinuität und Kohärenz erzwingen. Damit wird der alltägliche, langjährige Briefwechsel zu einem wichtigen Teil des gesamten autobiographischen Prozesses eines Schreibers oder einer Schreiberin. Dieser Prozess vollzieht sich prinzipiell in jeder interaktiven Situation, in der eine Person von sich spricht oder schreibt. Doch existieren verschiedene institutionalisierte Formen der Selbstthematisierung, die diesen Prozess strukturieren und unterstützen. Alois Hahn zählt dazu z. B. die Beichte, die Autobiographie, das Tagebuch, das psychoanalytische Gespräch, das mit wissenschaftlichem Interesse geführte biographische Interview.8 Sie zeichnen sich alle durch einen gewissen Grad der Formalisierung aus, sie regeln Maß und Form, in denen das Selbst thematisiert werden kann, und sie unterstützen die Konstruktion und Aufrechterhaltung (kohärenter) Selbstbilder. In den Gemein-
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Vgl. Jerome Bruner: The Reality of Fiction. In: MCGill Journal of Education 40 (2005), H. 1 (unpag.) Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt/M. 1971. S. 10. Ebd., S. 15. Vgl. Alois Hahn: Identität und Selbstthematisierung. In: Alois Hahn u. Volker Kapp (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt/M. 1987. S. 9–24.
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schaftsbriefwechseln mussten – anders als im Fall der Zweierbeziehung – Images entworfen werden, die zwischen den verschiedenen Wirklichkeitsebenen, dem kontinuierlichen face-to-face-Kontakt innerhalb der jeweiligen Familie und dem schriftlichen Austausch über die Grenze hinweg, vermittelbar blieben. Im Briefwechsel zwischen den Familien Buch und Schneider werden die Verhandlungen um die jeweilige Position innerhalb der Briefgemeinschaft mit den Positionen in den Familien besonders anschaulich: Herbert Buch thematisiert sich selbst als geschlagenen Mann, dessen Gesundheit und körperliches Wohlbefinden nach dem Krieg dauerhaft geschädigt blieb und der alles, was zuvor seine gesellschaftliche Anerkennung ausgemacht hatte, verloren hat. Unter diesen Umständen vermittelte er bereits in seinen Briefen Anfang der 1950er Jahre, dass er sich mit Ende 30 alt fühle. In dieser als besonders schwierig wahrgenommenen Lage suchte er nach Unterstützung in einer Männerfreundschaft, von der er Zuspruch, Anerkennung und Verständnis erwartete. Diese Hoffnung gab er lange nicht auf und nutzte den Familienbriefwechsel, den im wesentlichen Erika Schneider mit der Familie Buch führte, trotzdem so, als gäbe es die Männergemeinschaft und damit die Möglichkeit, in diesem Rahmen in langen Erzählungen sein Leben zu evaluieren und über seine Krankheiten zu berichten. Er deutete sein Älterwerden und seine Krankheiten als Folge schlechter Lebensbedingungen nach dem Krieg und band sie zudem autobiographisch in eine Geschichte von Schicksalsschlägen ein, die ihn jeden Halt verlieren ließen. Diese Geschichte führte er bis in die 1980er Jahre fort, eine Geschichte des Scheiterns als Mann, als Vater und Ehemann, die er seinem Freund nahe zu bringen versuchte. Für solche intimen Belange nutzte er den Schutzraum der Männerfreundschaft, der ihm vermeintlich zur Verfügung stand. Zu Beginn schrieb er konsequent in der Anrede an Hubert Schneider, obwohl dieser nie selbst antwortete. Dann nahm er eine Unterscheidung in Frauen- und Männerbriefe vor, die von den Frauen akzeptiert und übernommen wurde, und unterstrich zugleich, nicht unmittelbar an einer Familienfreundschaft interessiert zu sein, sondern seine Briefe nach wie vor direkt an den Freund adressieren zu wollen. Allmählich übernahm er dann die Familienanrede. Nachdem Herbert Buch einen Schlaganfall erlitten hatte und Invalidenrentner wurde, erwuchs aus dieser Konstellation 1980 ein Konflikt. Der Brief vom 16. Juli 1980 zeichnet sich in diesem Sinne eben nur auf den ersten Blick durch Empathie und Verständnis für das Gegenüber aus. Die interessierte Frage nach Huberts Kur beispielsweise dient dazu, die eigene Alltagssituation derjenigen des Freundes in konfrontativer Weise gegenüberzustellen: „es ist schön, wenn er [Hubert] bis zur Rente jedes Jahr eine Kur bekommt (ich habe ja bis zu meiner Rente ganze 2 Vorbeu-
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gungskuren bekommen).“ (S. 395) Die Debatte um die Renovierung der eigenen Wohnung funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip. Herberts Argumentation „Gerade an diesem Beispiel seht ihr am besten, wie weit Ost u. West entfernt sind“ (S. 397), ist hier sehr offensichtlich unpassend als Indiz für eine bessere Versorgungslage im Westen gewählt. Schließlich hatte Hubert ja selbst, wie Edelgard betont, die zügige Renovierung der Schneiderschen Wohnung bewerkstelligt. Herberts Klagen in seinem Brief vom 16. Juli 1980 gipfeln schließlich darin, dass er am Ende Störungen in der Briefkommunikation ankündigt, die nun nicht mehr äußerlich in der unsicheren Briefzustellung über die Grenzen hinweg, sondern in der eigenen schlechten gesundheitlichen Verfassung (und der Tatsache, sich ‚als armer Rentner‘ keine neue Schreibmaschine leisten zu können) begründet seien: „Viele derartige Briefe kann ich sicher nicht mehr schreiben, denn mein persönlicher Zustand [… ist] zu schlecht.“ (S. 398) Auf diesen Brief hin reagierte Erika Schneider fast vier Monate lang nicht. Offensichtlich war sie nicht mehr bereit, das Phantom des Männerbriefwechsels weiter mit zu tragen. Erst auf Nachfragen von Edelgard Buch schrieb sie wieder, nun eindeutig an die Brieffreundin gerichtet. Ihr Brief vom 7. November 1980 enthält ebenfalls einige ‚Verstöße‘ gegen die Regeln (Jammern, das Aufzählen von Unterschieden zwischen Ost und West nach der Manier ‚uns geht es schlecht, Euch geht es gut‘). Jedoch scheinen sie als Reaktion auf Herbert Buchs Kommunikation legitimiert. Um den Konflikt nicht in einer Spirale von gegenseitigen Regelverletzungen eskalieren zu lassen, versuchte Edelgard Buch zu vermitteln. Sie schrieb: Am 13.11. kam das lang erwartete Lebenszeichen von Dir hier an. Einerseits waren wir froh, daß nichts verloren gegangen ist. Andererseits war Herbert sehr bekümmert über das, was er mit seinen zwei Schreiben angerichtet hat. Ich darf Dir versichern, daß es keineswegs in seiner Absicht lag, Euch in irgend einer Weise zu kränken oder zu kritisieren. Er hat eine Nacht nicht geschlafen, weil ihm die ganze Sache so nahe ging. [...] Mündlich könnten sie [die Männer] sich natürlich darüber austauschen und dann wäre sicher auch ein Mißverständnis vermeidbar. Schriftlich sieht es immer etwas anders aus. Also, wie gesagt, er wollte Euch nicht ärgern.
Die Vermittlung gelang und Herbert Buchs Image wurde in der Briefgemeinschaft gemeinsam umgeschrieben. Als ewig nörgelnder, alter Mann, dem man seine Fehltritte verzeiht, wurde von nun an seine Meinung nicht mehr in dem Maße ernst genommen, dass sie die Beziehung hätte gefährden können. Eine solche Position konnte sowohl von ihm selbst als auch von den Frauen mit den psychischen Folgen seines Schlaganfalls gerechtfertigt und damit ohne Gesichtsverlust anerkannt werden.
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Die Frauen hatten sich mit ihren Interessen durchgesetzt und definierten den Briefwechsel so um, dass kein Platz mehr für ‚Männerprobleme‘ blieb. Sie eigneten sich den Raum der Briefgemeinschaft nun vollkommen an und besetzten ihn mit den für sie interessanten Themen. Statt Fußball und weltpolitischer Probleme wurden Hausarbeit, Kinder und Edelgard Buchs Erfahrungen in ihrem Arbeitskollektiv verhandelt. Zugleich konnte Erika Schneider ihr eigenes Image und das ihrer Familie aufrechterhalten: Mein Leben bestand darin, Frau u. Mutter zu sein. […] Wir haben immer u. immer wieder versucht, von dem was wir hatten, mit offener Hand Freude zu bereiten u. abzugeben an die, die weniger haben als wir. Hüben wie drüben. Hubert legte, wenn er konnte eine Sonntagsschicht ein u. die Kasse stimmte wieder. (S. 399)
Das positive Image der eigenen Familie wurde auf die selbst erbrachte Leistung zurückgeführt und damit Herberts Argumentation zurückgewiesen, der Familie Schneider gehe es aufgrund der äußeren Umstände im Westen besser. Zugleich kehrte Erika Schneider die Argumentation um, indem sie ihrerseits Stereotype über das Leben in Ost und West aufrief: Während in der DDR Bahnfahrten günstig seien und jeder nach der Ausbildung Arbeit finde, leide man in der Bundesrepublik unter hohen Teuerungsraten und Arbeitslosigkeit: „Siehst du, das sind so kleine Probleme, die auch wir haben“ (S. 400). Die Antithesen in der Darstellung der beiden deutschen Staaten, die sich ähnlich auch bei Herbert Buch fanden, werden von Edelgard Schneider also unter umgekehrtem Vorzeichen fortgeführt. Hierin zeigt sich das charakteristische Paradoxon der Ost-West-Korrespondenzen, dass die Briefe einerseits von der Konstruktion von Gemeinschaft handeln (und dies sowohl auf der Ebene der konkreten Beziehungen als auch auf der nationalen, familiär gedeuteten Gemeinschaft der ‚Brüder und Schwestern in Ost und West‘). Zugleich fand durch sie andererseits die Differenz der Lebensbedingungen und eine politisch gesetzte Trennung Eingang in den Alltag der Menschen auf beiden Seiten. Im unter den Frauen ausgehandelten Modell einer Briefgemeinschaft ließ sich dieses Paradoxon deutlich erfolgreicher handhaben und die Kommunikation, nun als Korrespondenz zwischen Frauen, die doch zugleich weiterhin ein Gemeinschaftsbriefwechsel blieb, konnte noch bis 1991 fortgeführt werden. Nach der Wende brachen für diesen Briefwechsel genauso wie für viele andere Ost-West-Beziehungen die Bedingungen ihrer Existenz zusammen oder ihre autobiographisch positionierende Funktion hatte sich erfüllt. Die gesellschaftliche Konstruktion der Ost-West-Differenz verla-
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gerte sich von nun an zunehmend auf Medienereignisse und öffentliche Debatten.9 Privater Briefverkehr war dafür kein adäquates Medium mehr.
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Vgl. Ina Dietzsch: Die Erfindung der Ostdeutschen. In: Eva Schäfer u. a (Hg.): Irritation Ostdeutschland. Geschlechterverhältnisse seit der Wende. Münster 2005. S. 92–106.