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German Pages [456] Year 2012
Literatur und Leben Band 81
Johann Georg Lughofer (Hg.)
Thomas Bernhard Gesellschaftliche und politische Bedeutung der Literatur
B öh l au Ve r l ag Wi e n œKöl n œWe i m ar
Gedruckt mit Unterstützung durch :
Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien
Österreichisches Kulturforum Ljubljana und Freunde der österreichischen Literatur in Ljubljana
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78811-9 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien œKöln œWeimar http ://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung : Michael Haderer Umschlagabbildung : © Thomas Bernhard Nachlaßverwaltung Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck : Generaldruckrei Szeged
Inhalt
Geleitwort 11 Vorwort des Herausgebers 15 Hans Höller Die Kritik der instrumentellen Vernunft in den Romanen Thomas Bernhards 21 Alfred Pfabigan Motive und Strategien der Österreichkritik des Thomas Bernhard 35 Bernhard Sorg Natur und Kunst als Matrix des Protestes 49 Matthias Löwe Erregtes Ich und dezisionistische Ästhetik Die Auseinandersetzung mit der offenen Gesellschaft im Werk Thomas Bernhards 55 Erika Tunner Inwiefern ist und erzeugt Thomas Bernhards Text Holzfällen eine Erregung ? 69 Steve Dowden The Masterpiece Problem in Thomas Bernhard 77
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Inhalt
László V. Szabó „… aber in der Kunst kann alles lächerlich gemacht werden“ Ikonoklasmen in Thomas Bernhards Alte Meister 87 Simon Walsh Das Problem liegt auch im Was Thomas Bernhards Alte Meister im Spiegel des Diskurses von Nachkriegsösterreich als „Land der Musik“ 103 Jason Blake Was hätte Glenn Gould über Bernhards Roman Der Untergeher gesagt ? Die (kanadische) Persönlichkeit in und hinter dem Werk 115 Martin Huber Was war der „Skandal“ an Heldenplatz ? Zur Rekonstruktion einer österreichischen Erregung 129 Jack Davis Gift spritzen Der Heldenplatz-Skandal als mediale Ansteckung 137 Markus Reitzenstein Der unsympathische Jude Rezeptionsästhetische Analyse des Tabubruchs in Thomas Bernhards Heldenplatz 153 Mireille Tabah Thomas Bernhard und die Juden Heldenplatz als „Korrektur“ der Auslöschung 163
Inhalt
Katharina Drobac Die Nazihose des Herrn Bernhard Eigenes und Ererbtes in Thomas Bernhards Reflexionspoetik 173 Katya Krylova Thomas Bernhards Auslöschung : der Umgang mit dem Herkunftskomplex 189 Dania Hückmann Topographie des Schweigens in Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall 201 Katharina Manojlović ∙ Harald Schmiderer Unheimliches Wolfsegg Zum Film Der Italiener von Thomas Bernhard und Ferry Radax 217 Špela Virant Die Abschaffung der Welt Zu Thomas Bernhards Der Weltverbesserer 233 Christine Hegenbart Thomas Bernhards Der Präsident Ein politisches Stück ? 245 Johann Georg Lughofer „Gleich welchem Herren des Staates einer dient, er dient dem falschen“ Der Stimmenimitator als polit-pädgagogisches Projekt 263 Philipp Schönthaler Radikales Denken, radikales Schreiben Bernhard und Baudrillard als Wahlverwandte 285
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Inhalt
Uwe Schütte Ein Lehrer Über W.G. Sebald und Thomas Bernhard 303 Paola Bozzi Vom diskreten Charme der Bourgeoisie und anderen obskuren Objekten der Begierde Zu einigen Parallelen zwischen Thomas Bernhard und Luis Buñuel 321 Matjaž Birk „Ich halte es für besser, zu reden, als zu korrespondieren, denn in der Korrespondenz kreuzen sich seit Jahrtausenden die Missverständnisse, wie Sie wissen“ Der Verleger und sein Autor § Ein Rückblick auf das Jahr 1970 339 Clemens Götze „Die Ursache bin ich selbst !“ Thomas Bernhards inszenierte Autorschaft am Beispiel seiner (Film-)Interviews 357 Neva Šlibar Thomas Bernhard in der Schule ? § Naturgemäß trotzdem ! Mit einer Didaktisierung von Thomas Bernhards Viktor Halbnarr 373 Johann Georg Lughofer „Vordenkopfstoßer“, „Gesprächzusammenschlagerin“ und „Fleischhauerlebensinhalt“ Der heitere Fremdsprachendidaktiker Thomas Bernhard 395 Zusammenfassungen 421
Inhalt
Personenregister 439 AutorInnenverzeichnis 445
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Geleitwort
Erlauben Sie mir, meine Worte mit zwei Zitaten von Thomas Bernhard zu beginnen. Das erste entstammt seinem Werk Goethe schtirbt : … ich träumte von Österreich mit solcher Intensität, weil ich daraus geflohen bin. Aus Österreich als dem häßlichsten und lächerlichsten Land der Welt. Alles, was die Menschen in diesem Land immer als schön und bewundernswert empfunden haben, war nur mehr noch häßlich und lächerlich, ja immer nur abstoßend und ich fand nicht einen einzigen Punkt in diesem Österreich, der überhaupt akzeptabel gewesen wäre. Als eine perverse Öde und eine fürchterliche Stumpfsinnigkeit empfand ich mein Land. Nur grauenhaft verstümmelte Städte, eine nichts als abschreckende Landschaft … es war nicht zu erkennen, was diese Städte so verstümmmelt, dieses Land so verödet, diese Menschen so gemein und niederträchtig gemacht hat … zu wochenlangem Sehen und Hören dieses widerwärtige Österreich war ich verurteilt, müssen Sie wissen, bis ich schließlich aus Verzweiflung über dieses tödliche Hören und Sehen bis auf die Knochen abgemagert gewesen war § ich hatte vor Widerwillen gegen dieses Österreich keinen Bissen mehr essen, keinen Schluck mehr trinken können …
Es folgt ein weiteres Zitat aus Holzfällen stammend : … ich lief tatsächlich mit immer größerer Energie diesem Alptraum davon in die Innere Stadt und dachte während des Laufens, dass diese Stadt, durch die ich laufe, so entsetzlich ich sie immer empfinde, immer empfunden habe, für mich doch die beste Stadt ist, dieses verhaßte, mir immer verhaßt gewesene Wien mir auf einmal wieder doch das beste, mein bestes Wien ist, und dass seine Menschen § die ich immer gehaßt habe … doch die besten Menschen sind, dass ich sie hasse, aber dass sie doch rührend sind, dass ich Wien hasse, dass es aber doch rührend ist, dass ich diese Menschen verfluche und doch lieben muß, dass ich dieses Wien hasse und doch lieben muß und ich dachte, während ich durch die Innere Stadt lief, dass diese Stadt doch meine Stadt ist und immer meine Stadt sein wird und dass diese Menschen meine Menschen sind und immer meine Menschen sein werden …
Soweit also Thomas Bernhard.
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Geleitwort
Die Faszination Thomas Bernhards durch das Phänomen der Katastrophe zählt, wie angenommen werden kann, zu den bekannten Eckpunkten seiner Existenz. Die Bernhard’sche Katastrophe ist durchaus im Sinne des antiken Dramas zu verstehen : nämlich als eine nach aristotelischer Deutung notwendige, abgrundtief ausweglose Seinserfahrung der Hauptakteure. Auch das existenzialistische Deutungsmuster des Lebens im Sinne von Sartres „Hineingeworfensein“ hat bei Thomas Bernhard seinen Platz. Die Unausweichlichkeit der Katastrophe erfahren wir bei Thomas Bernhard in doppelter Weise : nämlich einerseits durch das Hineingeborensein in seine Familie und andererseits aus der Unentrinnbarkeit, als Österreicher geboren zu sein. Wie dem soeben angeführten Zitat zu entnehmen ist, empfand er sich „zu Sehen und Hören dieses widerwärtigen Österreich verurteilt“ § also zu einer durchaus kafkaesken Erfahrung, nämlich ohne Schuld und Anklage eine Verurteilung hinnehmen zu müssen- die Strafe lautet in seinem Falle : Österreich. War es den Helden des antiken Dramas nicht möglich, ihrem Schicksal zu entrinnen, so entwickelte dieser Thomas Bernhard doch erstaunliche Überlebensstrategien, die er im Schreiben an sich erkannte, das ihm § durchaus im Sinne einer Antithese zur Katastrophe § die Möglichkeit bot, dem Hineingeworfensein und dem Ausgeliefertsein eine gestalterische Rolle entgegenzusetzen, die er in ungeahnte Dimensionen weiterentwickelte. Er konnte sich dadurch als Schöpfer von Figuren erleben, die sowohl unverkennbare Züge seiner selbst tragen, als auch als Akteure mit didaktischem Auftrag auf seiner Bühne zu erleben sind. Obwohl er sehr bald erkannte, dass er Weltliteratur § im Sinne von Literatur mit Weltgeltung § schrieb, blieb das Publikum, an das er sich wandte und das er vor Augen hatte, primär stets ein österreichisches. Und Österreich blieb für ihn der verlässlichste Fundus an Katastrophen, die zu beschreiben, darzustellen und aufzudecken er niemals ermüdete. Österreich reagierte vielfach so, wie Thomas Bernhard es geahnt und gewollt hatte § es wehrte sich gegen seine offensichtliche Vivisektion auf paradoxe Weise : die offiziellen wie die inoffiziellen Stimmen, die sich bei Erscheinen nahezu jedes seiner Werke erhoben, boten dem Autor nämlich einen nie versiegenden Quell an neuem Material für weitere Katastrophen und versorgte ihn dergestalt mit einer Fülle von Stoffen für seine unschätzbaren, unverwechselbaren und unerreichten Charaktere und Geschichten. Der herausragende österreichische Literaturwissenschaftler Wendelin SchmidtDengler, der uns 2008 leider so früh verlassen hat, will in der sogenannten „Schimpf-und Scheltrede“ § eine Vorgängerin der bernhardesken Literatur erkannt haben. Diese Schimpf-und Scheltrede, für die Schmidt Dengler u.a. beispielhaft
Geleitwort
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die Predigten des Abraham a Sancta Clara anführt, steht in einer jahrhundertelangen Tradition der deutschsprachigen Literatur. Dennoch bleibt Thomas Bernhard eine singuläre Gestalt, die § trotz der Nähe einiger seiner Theaterstücke zum absurden Theater (nicht selten wird hier Samuel Beckett genannt) kaum Vorgänger kennt und schon gar keine Nachfolger gefunden hat. In dem von mir gewählten Zitat , mit dem Thomas Bernards Roman Holzfällen ausklingt, ist Zuneigung, Versöhnlichkeit, ja Zärtlichkeit und Liebe zu dem vermeintlichen Hassobjekt Österreich spürbar § literarische Erlebnisse, die in Thomas Bernhards Werk ansonsten nur höchst selten zu finden sind. Ob wir Thomas Bernhard gerecht werden, wenn wir dem Sprichwort „Liebe macht blind“ die These gegenüberstellen, dass Liebe auch sehend machen kann und er als Sehender ein Österreich ohne jedwede camouflage erkannte ? Wir wissen es nicht. Der Moralist, der er zweifelsohne gewesen ist, hat in seinem Stück Immanuel Kant diesem ein Denkmal gesetzt, indem er ihn als geistig Verwirrten von den vermeintlich „Normalen“ in eine psychiatrische Klinik einweisen lässt. Für den Moralisten Bernhard war das Drama zwischen Anspruch und Wirklichkeit, das sich ihm beim Anblick Österreichs bot, mit Sicherheit kaum erträglich. Als Gegenpol zur Katastrophe und mögliche Schicksalswendung kannte das antike Drama die Katharsis. Ob wir durch Thomas Bernhards Werk einen Weg zur Katharsis erkennen und finden können ? Auch das bleibt § lange nach seinem Tod § eine Frage. Ich möchte nicht verabsäumen, sowohl der Universität Ljubljana als gastgebender Institution als auch dem Motor des im Februar 2011 stattgefundenen Symposiums, Herrn Doz. Dr. Johann Georg Lughofer aufrichtig dafür zu danken, dass diese Veranstaltung in diesem Rahmen zustande kommen konnte, welche den vorliegenden Band ermöglichte. Ich danke auch allen, die aus vielen Teilen Europas und sogar von außerhalb Europas angereist sind und zu dieser Publikation beigetragen haben, um Österreichs herausragendes literarisches Genie § und § um eine von ihm selbst stammenden Wortschöpfung zu verwenden § großen Geistesmenschen zu ehren und sein Werk sowie seine Wirkung weiter zu bearbeiten. Dr. Christa Sauer Direktorin des Österreichischen Kulturforums Ljubljana
Vorwort des Herausgebers
Thomas Bernhards Werk wurde immer wieder enthusiastisch gefeiert. So begrüßte Ingeborg Bachmann seine Sprachwucht mit den Worten : „In all den Jahren hat man sich gefragt, wie wird es wohl aussehen, das Neue. Hier ist es, das Neue.“ Nach seinem Tod erklärte Elfriede Jelinek, an diesem „toten Giganten“ komme man nicht mehr vorbei. Peter Handke meinte, man brauche nicht von einer Ära Waldheim sprechen, sondern von einer Ära Bernhard. Dabei spielte er auch auf die politische und gesellschaftliche Bedeutung der publikumswirksamen Texte und Skandale des Autors an. „Kurzum, es gelang Bernhard, die Österreicher redend zu machen,“ fasste Wendelin Schmidt-Dengler eine Stellungsnahme zu Thomas Bernhard zusammen. So können also Thomas Bernhard und sein Werk kaum ohne ihre Wirkung in Gesellschaft, Medien und Literatur gedacht werden. In diesem Sinne wollte die vom Österreichischen Kulturforum Ljubljana unter Frau Gesandte Dr. Christa Sauer und der Germanistikabteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana unter Frau Prof. Dr. Marija Javor Briški im Februar 2011 veranstaltete internationale Konferenz zum 80. Geburtstag von Thomas Bernhard ausgehend von diesem Autor u.a. der Frage nachgehen, wie und unter welchen Bedingungen es der Literatur möglich ist, gesellschaftliche Diskussionsprozesse auszulösen und soziale und politische Veränderungen mitzutragen. Die tatsächliche oder vermeintliche gesellschaftskritische Bedeutung der Literatur steht immer wieder im Zentrum literaturwissenschaftlicher Debatten. Um 1968 wurde der Literatur vielfach ein emanzipatorisches Potential zugeschrieben, als ein Katalysator für Änderungen gerade in konservativ erstarrten sozialen Verhältnissen begriffen, was danach zunehmend angezweifelt wurde. Doch nach den stark am Marxismus angelehnten Zugängen der 1970er-Jahre sorgen heute interkulturelle Ansätze, Gender-, Postcolonial- und Queer Studies für eine Aktualität der Fragestellung. Aber auch bei der späten Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs hat die Literatur sicher eine wichtige Rolle gespielt § insbesondere Thomas Bernhard hat in seinem Werk seine Erfahrungen im NS-Staat und die darauffolgende mangelnde Erinnerungsarbeit der Österreicher mit Nachdruck thematisiert.
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Vorwort des Herausgebers
Der Sammelband vereint Beiträge zur gesellschaftlichen Wirkung der Texte Thomas Bernhards und nimmt sich vor allem folgender Fragestellungen an : • Analysen der Texte Thomas Bernhards hinsichtlich ihrer gesellschaftlich provozierenden Wirkung • Soziale und politische Konsequenzen aus Thomas Bernhards Schaffen • Soziale, historische, philosophische und politische Voraussetzungen der Arbeiten Bernhards • Die Rolle der Selbstinszenierung und des Marketings bei Thomas Bernhard • Reaktionen der Medien, des Theaterpublikums, der LeserInnen und NichtleserInnen sowie der Kunst- und Kulturszene • Erinnerungskultur um und bei Thomas Bernhard und Kanonisierung nach dem Tod • Thomas Bernhard im Literatur-, Deutsch- und DaF-Unterricht § die pädagogische Seite der sozialen Wirkung Die einzelnen Beiträge des Bandes nähern sich diesen Fragestellungen aus verschiedenen Richtungen an und lassen so ein facettenreiches Bild des ,kritischen Intellektuellen‘ und Autors Thomas Bernhard entstehen. So entdeckt Hans Höller als Grundlage des Bernhardschen Schreibens in seiner Analyse vielmehr die Sprachkritik der österreichischen Philosophie des 20. Jahrhunderts als die von Bernhard oft erwähnten Philosophen wie Montaigne, Pascal oder Schopenhauer. Dabei stellt Höller den literarischen Texten Bernhards die Kritische Theorie als entsprechende zeitgenössische Philosophie gegenüber. Präzise philosophische Wurzeln gesteht Alfred Pfabigan Bernhards Werk hingegen nicht zu. In seiner Analyse der Österreichkritik bei Bernhard geht Pfabigan über die bekannte Feststellung, dass der Autor gegen das Verschweigen der nationalsozialistischen Verbrechen angeschrieben habe, hinaus, indem er dessen ästhetisch argumentierende Position jenseits des „offiziellen“ Autorenimages sowie die Strategien, mit denen diese Position für einen Teil des Publikums nachvollziehbar geblieben ist, beleuchtet. Mit Frost, dem ersten Roman Bernhards, beschäftigt sich Bernhard Sorg und analysiert dabei die Perspektive der Protagonisten als Geistesmenschen auf Natur und Kunst, welche er als klare Protesthaltung liest. Insbesondere in den Romanen Holzfällen und Alte Meister, und den darin herauszulesenden Plädoyers für ein Leben „in existenzieller Entschiedenheit und höchster todesbewusster Intensität“ zeigt Matthias Löwe Bernhards Abwendung von einer offenen Gesellschaft auf. Parallelen zur politischen Philosophie der nihilistischen Gegenmoderne, des
Vorwort des Herausgebers
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Dezisionismus Carl Schmitts werden stattdessen sichtbar, wobei Löwe eine aufschlussreiche Differenzierung zwischen Bernhards publizistischen und literarischen Äußerungen unternimmt. Der Roman Holzfällen, der mit seiner Beschlagnahmung einen in Österreich einzigartigen Literaturskandal auslöste, wird von Erika Tunner hinsichtlich seines Provokationspotentials und eines vermeintlich darin artikulierten Veränderungswillen untersucht. Der Roman sei geprägt von der Kraft der Erregung. Im Übrigen könne entgegen vieler Einschätzungen Bernhards subversiver Humor ihn sogar vor einer Erstarrung zum Nationalklassiker bewahren, so Tunner. Steve Dowden geht mit Blick auf Bernhard der Frage des literarischen Meisterwerks, des Kanons entlang des Romans Alte Meister nach und analysiert, inwieweit sich das Bernharsche Werk der Kanonisierung entziehen will und kann. Den Bildersturm in dem gleichen Roman behandelt László V. Szabó als bedeutende Reflexion der Postmoderne in seiner karnevalesken und subversiven Form der Entmythisierung und betont dabei dessen Signifikanz im Selbstverständnis des Autors. Ebenso anhand Alte Meister behandelt Simon Walsh die Rolle von Musik als Thema in Bernhards Werk. Walsh kommt dabei zu dem überraschenden Schluss, dass die Darstellung von Musik bei Bernhard keineswegs im Gegensatz zum traditionellen, mit dem Opfermythos eng verbundenen und der Vergangenheitsaufarbeitung wenig dienlichen Musikdiskurs im Österreich der Nachkriegszeit steht. Mit dem kanadischen Musiker Glenn Gould und seiner Darstellung in Der Untergeher beschäftigt sich Jason Blake und zeigt dabei erhellende Übereinstimmungen und Gegensätze auf. Martin Huber rekonstruiert den Skandal um die Uraufführung des Theaterstücks Heldenplatz, der nur durch den einzigartigen historischen und sozialen Hintergrund zu verstehen sei, und kontrastiert ihn mit der fehlenden provozierenden Wirkung der Wiener Neuinszenierung von 2011. Dass bei dieser niemand befremdet ist, wertet Huber positiv : Ein kritischer Blick auf die österreichische Geschichte hat sich inzwischen durchgesetzt. Anhand des Skandals um das Stück verweist Jack Davis auf die Relevanz eines medizinischen und biologistischen Ansteckungsbegriffs einerseits in Bernhards Werk sowie andererseits in den Pressereaktionen. Davis verzeichnet damit eine sprachliche Kontaminierung der österreichischen Gegenwart des ausgehenden 20. Jahrhunderts mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, welche aber letztendlich zu einer Immunisierung und einen Verlust der politischen Sprengkraft einer solcher Sprache geführt habe. Markus Reitzenstein nimmt Heldenplatz, in dem eine traditionelle Täter-Opfer-Schematisierung unterminiert wird, mit rezeptionsästhetischen
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und psychoanalytischen Ansätzen unter die Lupe und erkennt dabei, anhand der interpersonellen Abhängigkeiten der Figuren, die Präsentation einer zutiefst beschädigten Gesellschaft in Folge des nationalsozialistischen Terrorregimes. Die langsame Annäherung Bernhards an das Thema der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Österreich, die mit Heldenplatz ihren Höhepunkt erlangte, zeichnet Mireille Tabah nach und hebt das Theaterstück hinsichtlich seiner gelungenen Bearbeitung des Themas insbesondere vom Roman Auslöschung ab. Vom Ererbten, wozu sie auch die ererbte Sprache zählt, geht Katharina Drobac in ihrer Besprechung der endlosen Spiegelungen und Reflexionen in Bernhards Werk und der Autorenfigur aus. Konkret mit dem historischen Erbe Österreichs in Form des Wolfsegger Besitzes in Auslöschung, wohl Bernhards einziger dezidiert politischer Roman, beschäftigt sich Katya Krylova. Den Schnittpunkt Gedächtnis, Ort und Identität beleuchtet sie anhand eines psychotopographischen Zuganges. Ebenso einen topographischen sowie einen traumatheoretischen Ansatz wählt Dania Hückmann, indem sie, anhand der zum Wolfsegger Gut gehörigen Kindervilla Muraus in Auslöschung, Verfahren des Schreibens gegen das verbrecherische Schweigen der Familie und der Gesellschaft bespricht. Die Unheimlichkeit Wolfseggs und seiner nationalsozialistischen Vergangenheit ist auch Thema der Auseinandersetzung von Katharina Manojlovic´ und Harald Schmiderer mit dem Film Der Italiener, der auf das gleichnamige Erzählfragment zurückgeht. Mit weniger rezipierten Theaterstücken Bernhards beschäftigen sich, hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und politischen Aussage, Špela Virant und Christine Hegenbart § und zwar mit Der Weltverbesserer und Der Präsident. Virant zeichnet dabei auch in der Dramenstruktur nach, dass das erste Stück, trotz der pathetischen Forderung nach einer Abschaffung der Welt eine notwendige Verbesserung der Welt und der Individuen in den Mittelpunkt rückt. Im Gegensatz zu anderen Stimmen klassifiziert Hegenbart Der Präsident als ein politisches Stück, welches durch seine Provokation zur Reflexion aufrufe. Die von der Forschung ebenso weniger berücksichtigte Prosasammlung Der Stimmenimitator wird von Johann Georg Lughofer bearbeitet, wobei eine Lektüre als Text mit pädagogischer und politischer Aussage vorgeschlagen wird. Möglichkeiten politischer und gesellschaftlicher Interventionen der Literatur beleuchtet Philipp Schönthaler anhand des sprachtheoretischen Begriffs der Radikalität nach Jean Baudrillard und deckt Parallelen zwischen dem französischen Philosophen und Bernhard auf. Die Beziehung zu einem anderen Kulturschaffenden untersucht Uwe Schütte, indem er den Einfluss Bernhards auf W.G. Sebalds Texte und dessen Habitus untersucht.
Vorwort des Herausgebers
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Die irritierende und provozierende Wirkung des Werks Bernhards vergleicht
Paola Bozzi mit der des Filmregisseurs Luis Buñuels und weist auf deren Ge-
meinsamkeiten eines karnevalesken Blicks der Kunstschaffenden auf die Gesellschaft hin. Zur Inszenierung von Werk und Person liefert Matjaž Birk einen Beitrag über die Beziehung Bernhards zu seinem Verleger Siegfried Unseld. Clemens Götze verortet Bernhards Interviews im Kontext seines Gesamtwerkes an zentraler Stelle und nimmt dabei eine eigene späte Entwickungsphase Bernhards im literarischen Feld wahr, in der Autorschaft strategisch mit dem Image des Sonderlings entfaltet wird. Die Möglichkeiten, Texte von Bernhard auch im DaF-Unterricht im schulischen Umfeld einzubinden, lotet Neva Šlibar aus und präsentiert ein entsprechendes, auf literarischen Kompetenzen basierendes Didaktisierungsmodell samt Didaktisierung der Erzählung Viktor Halbnarr. Johann Georg Lughofer stellt einen weiteren konkreten Didaktisierungsvorschlag vor, der die Sprache Bernhards ins Zentrum rückt sowie die darin liegenden Provokationen und negativen Einstellungen produktiv nutzt. Herzlicher Dank gebührt allen BeiträgerInnen sowie den Personen und Institutionen, die die Konferenz und den Sammelband ermöglicht haben, insbesondere dem Österreichischen Kulturforum Ljubljana unter Direktorin Dr. Christa Sauer und der Botschaft der Republik Österreich unter Botschafter Dr. Erwin Kubesch. JGL Juli 2011
Hans Höller
Die Kritik der instrumentellen Vernunft in den Romanen Thomas Bernhards
Neben den vielen Veranstaltungen zum 80. Geburtstag von Thomas Bernhard in diesem Februar, in denen es immer wieder um den „öffentlichen“ Theatermacher und Skandalautor geht und die Zeitzeugen mit ihren immer wieder aufgewärmten Anekdoten das mediale Autorbild bestimmen, möchte ich an die verborgene philosophische Dimension in Thomas Bernhards Werk erinnern, an das Gespräch, das seine Bücher mit den kritischen Geistern der Philosophie des letzten Jahrhunderts führen. Es reicht diese philosophische Auseinandersetzung in Bernhards Roman Korrektur sogar in die sonst niemandem zugängliche „höllersche Dachkammer“ hinein, die der humanistische Erzähler-Freund, der ein wenig an Serenus Zeitblom erinnert, als „Denkkammer“ bezeichnet. Dort, im Zimmer an der Aurachengstelle, findet er „den Hegel“ und „den Bloch“, Bücher, die von seinem Freund Roithamer zurück geblieben sind. Man würde diese Philosophen nicht sofort mit Bernhards Werk in Verbindung bringen. Was die Häufigkeit der Nennung ihrer Namen angeht, nehmen Montaigne, Pascal, Schopenhauer und vor allem Wittgenstein, unbestritten den ersten Platz ein, aber Bloch und Hegel sind doch mehr als nur ein Zufall im name dropping. In Korrektur gehören sie zur philosophischen Dimension des Romans, zu jenem „Wissenswürdige[n] im Innern“ des Werks, ohne das es, nach einem Wort von Walter Benjamin, „keine Schönheit gibt“.1 Ich möchte in meinem Vortrag einen Begriff davon geben, wie der narrative Prozess in Bernhards Romanen von Beginn an von Denkmotiven und einer Erzählsprache bestimmt ist, die ihn mit der § avancierten § philosophischen Kritik der Gesellschaft nach der NS-Zeit verbindet. Als Thomas Bernhard in den sechziger Jahren sich literarisch durchzusetzen begann, repräsentierte die Kritische Theorie Theodor W. Adornos die dominierende Form philosophischer Gesellschaftskritik, in der die ästhetische Theorie einen hervorragenden Platz einnahm. Denn der herrschenden instrumentellen Vernunft und dem verdinglichten Bewusstsein stellte Adorno die Literatur und die Musik als gewaltlosen Einspruch gegen die Verfügung über die Menschen und die Dinge entgegen, als die Utopie mimetischer Hingabe und gewaltloser Synthesis. 1 Benjamin, Walter : Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt am Main 1963, S. 202.
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Hans Höller
„Darf ich Sie um ein Geschenk bitten : alles von Ernst Bloch !“ § schreibt Thomas Bernhard am 5. Juli 1970 aus Ohlsdorf an seinen Verleger Siegfried Unseld. Wenn man Korrektur (1975 erschienen) liest, findet man die literarischen Folgen des Buch-„Geschenks“ aus Frankfurt. 2 Im zweiten Teil des Architekturkapitels in Ernst Blochs Prinzip Hoffnung steht die kritische philosophische Formel für das Kegel-Wohnhaus, das Roithamer in Bernhards Roman plant. Der auf der Grundlage mathematischer Logik konstruierte Wohnkegel, den Roithamer genau im geometrischen Mittelpunkt des größten österreichischen Waldes errichtet, nimmt sich bis in Details wie ein Exempel der Bauwerke aus, die für Bloch Ausdruck „der kapitalistischen Kriegswelt“ sind. Ohne „Fenster projektiert, künstlich beleuchtete und entlüftete“ Häuser, deren Konstruktion auf eine, wie es bei Bloch heißt, „verschlossene Lebenssicherheit“ zielten, in der gerade das Leben zum Verschwinden gebracht werde.3 Das Höllerhaus, das zweite ungewöhnliche Gebäude in Korrektur, steht für die § durchaus problematische § Gegen-Utopie einer traditionellen Wohnform als Lebensform. Dieses Haus verdankt sich nicht der abstrakten Logik und nicht der Rationalität der Moderne, sondern, der Blochschen utopischen Phantasie gemäßer, einem „Traum“ seines Erbauers. Es weiß sich mutig gegen die Naturgewalten zu behaupten, verteidigt die Ungleichzeitigkeit des Überholten § und hat so am Wärmestrom gegen die Kälte der Moderne teil, ähnlich wie die von Bloch geschätzte frühromantische Naturphilosophie, deren Attraktion manche Aufzeichnungen Roithamers verraten und auf deren Einfluss wir immer wieder in Bernhards Werk stoßen. Aus den Novalis-Zitaten spricht die romantische Sehnsucht nach einer Aufhebung der getrennten Sphären von Wissenschaft, Kunst und Leben in der „Musik“ § für Roithamer gilt sie als „die der Naturwissenschaft und dem menschlichen Wesen nächste Kunst“, sie „sei im Grunde hörbar gemachte Mathematik“.4
2 Thomas Bernhard : Brief an Siegfried Unseld. Ohlsdorf, 5. 7. 70 [Brief 121], in : Bernhard, Thomas/Unseld, Siegfried : Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt am Main 2009, S. 184f. 3 Bloch, Ernst : Das Prinzip Hoffnung. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1973, S. 859. 4 Bernhard, Thomas : Korrektur. Hg. v. Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Frankfurt am Main 2005(= Werke, Bd. 4), S. 54.
Die Kritik der instrumentellen Vernunft in den Romanen Thomas Bernhards
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„Hegel geht Ihnen zu“. Siegfried Unseld am 26. Februar 1970 an Thomas Bernhard. Der Hegel, den sich Bernhard vom Verleger wünschte und der in das oberösterreichische Dorf abging § übrigens nicht gratis, sondern für den Autor um 50 % verbilligt § hatte, bevor er im Roman Korrektur (1975) wie ein Relikt in der Höllerschen Dachkammer zurück bleibt, schon einmal einen viel repräsentativeren philosophischen Platz in einem Werk Bernhards eingenommen. Hegel kommt im Filmbuch Der Italiener wie in einer barocken Trauerspielszene in einer Variante des „Italiener“-Sujets zu Wort. Unter „Italiener“-Sujet verstehe ich, kurz zusammengefasst, die Geschichte von einem Massengrab aus der NS-Zeit mitten in einem österreichischen Schlossbezirk. Diese Geschichte wird bei einem Begräbnis aufgerollt. Der Vater des Ich-Erzählers hatte sich erschossen, wie uns der Text zu verstehen gibt, um den traumatischen Erinnerungen an das Massaker durch Selbstmord zu entkommen. Man könnte auch, auf den Schauplatz bezogen, von Bernhards Wolfsegg-Sujet sprechen. Es ist thematisch dem Rechnitz-Stück von Elfriede Jelinek verwandt, aber fast ein halbes Jahrhundert davor geschrieben. Der Autor hat dieses Grübelbild der Geschichte in immer wieder neuen Varianten und Genres, von der Erzählung „Der Italiener“,1964, über das „Fragment“ Der Italiener,1969, und den Film, 1971, bis zum Roman Auslöschung, 1986, aufgegriffen. Die Frage des nicht zu tilgenden Traumas der Vernichtung und die Frage des Kulturbruchs, den die Katastrophe der NS-Herrschaft bedeuten, sprechen in dieser Geschichte eines Massakers § um eine Wort aus Walter Benjamins Trauerspiel-Buch zu zitieren § „bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus“.5 Als Thomas Bernhard Ende 1970 die Erzählung Der Italiener in das Filmbuch umschrieb, konnte er auf den ihm aus Frankfurt bereits ‚zugegangenen‘ Hegel zurückgreifen und nun den Italiener an den Rändern des Massengrabs Zitate aus Hegels Geschichtsphilosophie von der „Weltgeschichte“ als „Darstellung des Geistes“ wörtlich zitieren lassen (im Text kursiv gesetzt). Wie in einem barocken Emblem spricht die Titelfigur an einer ‚Schädelstätte‘ der Geschichte die berühmten Hegelschen Sätze, es habe sich „aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des sogenannten Weltgeists gewesen sei“, „daß sie die Darstellung des Geistes sei“ usw. Auf diese längere idealistische Tirade folgt im Drehbuch mit einem harten Schnitt der Bericht des Sohns über das „Massengrab“ auf der 5 Benjamin, Walter : Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 183.
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Hans Höller
Lichtung und über seinen Vater, der „das ganze Leben […] dem Geschrei der im Glashaus an die Wand gestellten Polen nicht entkommen“ ist.6 Diese neue, antihegelianische Schlusswendung hat bei Bernhard eine politische Vorgeschichte, insofern er in der frühesten Fassung des Italiener-Stoffes das „Massengrab“ im österreichischen Schloss in eine geheime Beziehung zu der den Erzähler schmerzenden Erinnerung an die Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung setzte : als würde der in seine politischen Studien versunkene Ich-Erzähler von einem Schmerz geleitet, der nicht weiß, dass er weiß. Aus seiner stummen inneren Rede erfahren wir, dass er sich in seinen politischen Studien „beinahe ununterbrochen“ mit dem „Spartakusbund“ und dem „Rätesystem“ beschäftige, mit „Rosa Luxemburg“, „Karl Liebknecht“ und der „Klara Zetkin“, was ihm, „seit Monaten ungeheuren Schmerz im Gehirn verursacht hatte“.7 Ein seiner selbst vollkommen sicherer Herrschaftsdiskurs Elfriede Jelinek hat in der sprachlichen Form die einzigartige literarische Bedeutung Bernhards gesehen. Jeder „andere Autor“ werde an ihm jetzt „und auch in Zukunft gemessen werden“, weil er „der größte Stilist“ sei und einen „dermaßen selbstgewissen (seiner selbst vollkommen sicheren) Herrschaftsdiskurs“ schreibe.8 Mit „Herrschaftsdiskurs“ meint Jelinek offensichtlich nicht die großen konservativen Tiraden, wie Bernhards Politische Morgenandacht, sondern eher, dass der Autor so souverän über die Sprache der herrschenden Eliten verfügte, sie so virtuos beherrschte wie ein Instrument, dass er auch den großen Raum des Unausgesprochenen, das Vergangene im Gegenwärtigen und das Kontinuum der Herrschaft hörbar machen konnte. Wenn Jelinek von Bernhards einzigartiger Beherrschung des Herrschaftsdiskurses spricht, wäre zu fragen, worin sich jener narrative Widerstand zeigt, den Bernhard in seinem Monolog „Drei Tage“ § seiner wichtigsten poetologischen Selbstreflexion § so vehement für sein Schreiben in Anspruch nimmt und den Widerstand gegen sich selbst, gegen die Sprache, gegen die Literatur über alles stellt.9 6 7 8 9
Bernhard, Thomas : Der Italiener. Ein Film, in : Ders.: Der Italiener. Salzburg 1971, S. 5§94. Bernhard, Thomas : Der Italiener. Fragment, in : Ders.: Der Italiener, S. 12§142, hier S. 142. Jelinek, Elfriede : „Kein Vorbeikommen“, in : Die Presse, 09.02. 2006. „Ich wollte eben diesen ungeheuren Widerstand, und dadurch schreibe ich Prosa …“. § Bernhard, Thomas : „Drei Tage“, in : Ders.: Der Italiener, S. 155.
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Ob arienhaft inszeniert oder ins Brüchige geführt, in den Zerfall der Rede und ins Verstummen, immer werden die Sprache, das Sprechen und das Denken von Bernhards charakteristischer Redeinszenierung verhört. Das sich selber abhörende Denken oder das Hinhören auf die Sprache der andern erhält allein durch die Grammatikalisierung der Denk- und Rede-Situation, durch das ständige „dachte ich“, „sagte ich“, „dachte er“, „sagte er“, „er sagte“ usw. den Akzent des : so sagte er es, auf diese bezeichnende Weise, achte auf den charakteristischen Sprachgebrauch, auf die Form, die Ausdrucksweise. Dadurch wird der souverän beherrschte „Herrschaftsdiskurs“ im Erzählen unterminiert. Es sind eben diese vielfältigen direkten und indirekten Formen der Verfremdung und Infragestellung der herrschenden Rationalität, in welchen Bernhards Widerstand im Schreiben zu finden ist. die „vorgeschriebene Linie des klaren, berechnenden Verstandes“ Mit dem ersten Roman, Frost, 1963, setzt in Bernhards Werk die § wissenschaftliche § Aufmerksamkeit für die Sprache im Insgesamt einer „Lebensform“ ein (Ludwig Wittgenstein). Sein Schreiben scheint von Frost an Wittgensteins Aufforderung zu folgen, die Philosophie als „grammatische“ „Betrachtung“, als „,Analysieren‘ unserer Ausdrucksformen“ zu praktizieren.10 Der Beobachtungsauftrag an den Famulanten in Frost verlangt von dem angehenden Mediziner die „präzise Beobachtung“ eines kranken, in die Vereinsamung eines Dorfs gegangenen Künstlers, „eine präzise Beobachtung, nichts weiter. Beschreibungen seiner Verhaltensweisen, seines Tagesablaufs ; Auskunft über seine Ansichten, Absichten, Äußerungen, Urteile“. Auch die stummen Gesten und Gebärden sollte er beschreiben, „seine Art“, „‚Menschen abzuwehren‘“, „die Handhabung seines Stockes. „Beschreiben Sie die Funktion des Stockes in der Hand meines Bruders, beobachten Sie diese genauestens.“ Der Beobachtungsauftrag wird ihm von seinem vorgesetzten Arzt erteilt, dem feindlichen Bruder des kranken Malers. Über diese persönliche Feindschaft hinaus ist in dem wissenschaftlichen Auftrag ein Element kalter, menschenfeindlicher Rationalität enthalten, das dem Medizinstudenten immer mehr bewusst wird. In seiner Abwehr verfällt er, was von ihm selbst genau registriert wird, in das andere Extrem und verliert die notwendige Distanz zum Objekt seiner Studien. Der drohenden Ich-Auslöschung kann er sich nur durch Flucht entziehen. 10 Wittgenstein, Ludwig : Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main 1967, S. 90.
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Im ersten der sechs Briefe, in denen der Famulant dem Arzt Bericht erstattet § sie sind am Ende des Romans angefügt §, beschreibt er zunächst den erfolgreichen Versuch, wie er schreibt, „in die Existenz Ihres Herrn Bruders systematisch einzudringen, nicht ohne eine gewisse mich selbst erschreckende Rücksichtslosigkeit und Unaufrichtigkeit“. Er geht davon aus, was ihm dann unmöglich wird, „in der Lage“ zu sein, die ihm „vorgeschriebene Linie des klaren, berechnenden Verstandes“ in dem ihm „zugewiesenen Bereich beizubehalten“.11 Wir finden hier die Beschreibung jenes Zwiespalts, der das selbstreflexive Erzählen nicht nur im ersten Romans bestimmt, sondern die entscheidende Beunruhigung in Bernhards Prosa darstellt, man könnte auch sagen, die narrative Verunsicherung des „selbstgewissen (seiner selbst vollkommen sicheren) Herrschaftsdiskurs[es]“. Sie lässt sich bestimmen als die kritische Auseinandersetzung mit der „Linie des klaren, berechnenden Verstandes“ als dem herrschenden Typus instrumenteller Rationalität, wodurch sich sein Schreiben der philosophischen Kritik der Frankfurter Schule an die Seite stellt. Deren beeindruckendstes Werk ist die von Adorno und Horkheimer 1944, beim absehbaren Ende von Krieg und NS-Herrschaft, fertig gestellte Dialektik der Aufklärung, einer der klassischen Texte der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Im Nationalsozialismus sahen die Verfasser dieser Philosophischen Fragmente das Resultat jener um die Menschen nicht bekümmerten Rationalität, deren Folgen für das Philosophieren nach Krieg und Vernichtung der Ausgangspunkt zu sein hätten. Bernhards kritische Beziehung auf den wissenschaftlichen Umgang mit Krankheit und Wahnsinn trifft sich auch mit den frühen Arbeiten von Michel Foucault, die aber erst mit großer Verspätung im deutschsprachigen Raum rezipiert wurden.12 Wenn Bernhard sein Schreiben im Widerstand gegen sich selbst verankert, es als Wendung gegen das naive Geschichtenerzählen versteht und sich als den „typische[n Geschichtenzerstörer“ sieht, richtet sich seine rabiate Kritik gegen die Vorstellung einer unproblematischen Kontinuität der Literatur und gegen eine in Destruktion ausartende wissenschaftliche Logik.13 In einem Traumbild sieht der Famulant in Frost die Konsequenz seines wissenschaftlichen Auftrags, der darin besteht, den kranken Maler, ohne dass ihm 11 Bernhard, Thomas : Frost. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2003 (= Werke, Bd. 1), S. 315. 12 „Folie et déraison“ (Paris 1961) erscheint erst 1969 unter dem Titel Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft ; Naissance de la clinique ± une archéologie du regard médical, 1963, im selben Jahr wie der Roman Frost erschienen, kommt erst 1973 auf Deutsch heraus (Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks). 13 Bernhard : „Drei Tage“, S. 152.
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der Sinn seines Auftrags genauer bewusst würde, von den ‚spitzen und stumpfen Winkeln‘ seiner wissenschaftlichen Distanz aus zu observieren. Im Traum sieht er sich in einem „schlachthausähnlichen, weißgekachelten Raum“ zum Operieren gezwungen, „ohne zu wissen, um welche Operation es sich überhaupt handelt.“ Plötzlich sieht er, dass es der Maler Strauch ist, der „auf dem Operationstisch angeschnallt ist“. Er operiert darauf los, bis „der „Körper gar nicht mehr als Körper erkennbar“ war : „Es war wie ein Fleisch, das ich folgerichtig, tadellos, aber vollkommen verrückt zerschnitten hatte“. Nach dieser Operation, deren Sinn und Zweck er nicht kannte, die aber, wie er bemerkt, „ihre strengsten Methoden“ hatte, sieht er „hoch von der Operationssaaldecke herunter, auf einen Haufen vollkommen verstümmelten Fleisches, das sich unter elektrischen Stößen zu bewegen schien, zu zucken schien, einen Haufen völlig zerstückelten Fleisches“.14 Experimente, Projekte und Studien Der Traum zeigt, ins Grauenhafte verschärft, das latente Unbehagen an den erzählten Experimenten, Projekten und Studien in Bernhards Büchern. Es teilt sich der Sprache mit, die die wahnhafte ‚strengste Methodik‘ solcher Experimente verhört. Im Roman Das Kalkwerk (1970) sind das Konrads verdinglichte Beschreibungen seiner akustischen Experimente, die er mit seiner Frau anstellt : „Sein ganzer Umgang mit ihr“, Konrads Frau, „wäre nur ein einziges Experimentieren gewesen, soll Konrad zu Fro gesagt haben. Zum Baurat : auf der urbantschitschen Methode beruhend, experimentiere ich sie (seine Frau) zu Tode.“15 Der Experimentator, denke er, habe nichts anderes zu tun als zu experimentieren, er frage sich schließlich nicht mehr, warum er experimentiere, er habe sich diese Frage nicht zu stellen, er experimentiere sich zu Tode. 16
Bernhard hat diesen Typus von Wissenschaft, die nach strengsten formalen und instrumentellen Regeln ausgeübt wird und im „Objekt“ nicht mehr den leidenden Menschen sieht, in den Formeln von Konrads Sprache vorgeführt. Er habe die Methode an seiner Frau „bis zur äußersten Perfektion“ entwickelt, es gebe zwar noch mit ihr Defekte : „Aber im großen und ganzen komme ich mit ihr im Zuge der im14 Bernhard : Frost, S. 107§109. 15 Bernhard, Thomas : Das Kalkwerk. Hg. von Renate Langer. Frankfurt am Main 2004 (= Werke, Bd. 3), S. 99. 16 Ebd., S. 101.
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mer noch erweiterten urbantschitschen Methode zu erstaunlichen Ergebnissen.“17 Etwas bis zur „äußersten Perfektion“ entwickeln, dessen Sinn nicht mehr im Hinblick auf den Menschen befragt wird, im „Zuge“ einer Methode „zu erstaunlichen Ergebnissen“ kommen, die auf die physische und psychische Destruktion des Menschen hinaus laufen, in solchen Wendungen zeichnet sich eine verdinglichte Forschung ab, wie sie in den Menschen-Versuchen im NS-Staat zur herrschenden Praxis geworden ist. Im Kalkwerk werden diese historischen Assoziationen hergestellt, wenn Konrad in einer Wut, von der er nicht weiß, woher sie kommt, die Verzierungen von der Fassade des Kalkwerksgebäudes herunterschlägt, damit Sicking, das wir uns in der schönen Fremdenverkehrslandschaft des österreichischen Salzkammerguts gelegen vorstellen müssen, schon von außen „den Eindruck eines Kerkers“ mache, „eines Arbeitshauses, einer Strafanstalt, eines Zuchthauses“. Er, Konrad, habe diesen Eindruck nur noch „zu rücksichtslosem Vorschein“ gebracht.18 Der Roman protestiert gegen das Vergessen der Verbrechen in den Arbeitsund Zwangsstätten, die als Nebenlager von Mauthausen die verschiedenen Winkel des Salzkammerguts säumten. Er hat eine radikale Kunst im Auge, der sich der Autor verbunden fühlte. Im Dachboden des Kalkwerks ließ Konrad als seinen letzten Besitz den „Bacon“ aufbewahren, ein Bild von Francis Bacon, dem Maler, der in seinem Werk den schönen Schein zerstört und den torturierten Menschen und die gequälte Kreatur in den Mittelpunkt stellt. Eine andere erzählerische Variante von Bernhards Kritik der instrumentellen Vernunft findet man in der Geschichte des Wohnkegels in Korrektur (1975). Die Kegelkonstruktion sollte, in der Intention Roithamers, auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen Logik, das absolute Glück für seine Schwester herstellen, aber letztlich wird sie einer lückenlosen und für sie tödlichen wissenschaftlichen Ordnung unterworfen. Der Roman führt diesen Wahnsinn, der auch hier seine „strengsten Methoden“ hat, nicht nur an der freudlosen Kegelarchitektur vor, sondern mehr noch an der Sprache von Roithamers Schriften. An ihr wird sichtbar, wie er die Schwester, für deren Glück er den Wohnkegel baut, zum „Objekt“ seiner Forschung macht § „Das konsequente Studium des einen Objekts (meiner Schwester), die konsequente Bauweise des andern Objekts (des Kegels)“19 §, wie er ihren eigenen Glücksanspruch übergeht § „Eine vollkommene Konstruktion muß einen Menschen, für den sie konstruiert ist, glücklich machen“20 § und wie er, ähn17 18 19 20
Ebd., S. 79. Bernhard : Korrektur, S. 190. Ebd., S. 190. Ebd., S. 196.
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lich den Gehör-Experimenten Konrads im „Kalkwerk“, ihren Tod einkalkuliert ± „ein solches niedagewesenes Bauwerk wie den Kegel bauen für einen Menschen wie meine Schwester“ ist, „wie jeder weiß“, „im Grunde ein tödlicher Prozeß“.21 Die Kritik der instrumentellen Vernunft im Innern der Erzählinstanz Bernhards Wort vom Schreiben als ‚Widerstand gegen sich selbst‘ ist nicht zuletzt Widerstand gegen die destruktive Rationalität als Bestandteil der eigenen Autorschaft. Den Ursprung der Macht des Vivisecteurs und literarischen Berserkers hat der Autor im Gerichtssaal-Journalismus gesehen. Auch in den autobiographischen Erzählungen könnte man dafür Hinweise finden. Doch solche ausschließlich biographischen Erklärungen greifen zu kurz, da der größte Teil der literarischen und der musikalischen Moderne wie unter einem Kälteschock steht und in der Kälte die Voraussetzung zum Schreiben oder zum Komponieren sieht. Zu Krista Fleischmann (1980) hat Bernhard von der „Genugtuung der maßlosen Übertreibung und des Dauernd-über-Leichen-Gehens“ im Journalistenhandwerk gesprochen,22 im Gespräch mit Asta Scheib (1986) sah er „die Wurzeln“ seines Schreibens in den Gerichtsreportagen : „Da hatte ich Blut geleckt am Schreiben. […] Ein unschätzbares Kapital. Ich glaube, da liegen die Wurzeln.“23 In Holzfällen und Auslöschung trägt dieses Kapital, wie man sagen könnte, die schönsten Früchte, wenn das abgewandt in seinem Ohrensessel sitzende Ich die andern beobachtet und sie nach allen Regeln der Kunst ‚auseinandernimmt‘ und der Erzähler nur den einen „Milderungsgrund“ für sich geltend macht, dass er sich selbst nicht „verschonte“ und mit „derselben rücksichtslosen Vorgangsweise“ auch sich „in alle Bestandteile“ zerlegte.24 Schon im ersten Roman, Frost, sieht der Maler „die einzige Wahrheit“ in der „Schlachthauswahrheit“, das „Schlachthaus“ nennt er „das einzige grundphilosophische Schulzimmer“. „Die einzigen Schriften sind Schlachthausschriften !“25 21 Ebd., S. 191. 22 Fleischmann, Krista (Hg.) : Thomas Bernhard. Eine Erinnerung. Interviews zur Person. Wien 1992, S. 270. 23 Scheib, Asta : „Von einer Katastrophe in die andere (1986)“, in : Sepp Dreissinger (Hg.) : Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Weitra 1992, S. 136± 153, hier S. 146. 24 Bernhard, Thomas : Holzfällen. Eine Erregung. Hg. von Martin Huber und Wendelin SchmidtDengler. Frankfurt am Main 2007(= Werke, Bd. 7), S. 53. 25 Bernhard : Frost, S. 271.
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Im letzten Roman, Auslöschung, ist es Franz-Josef Murau, der in seiner Auslöschungsschrift „die Seinigen“ auseinandernimmt, um mit ihnen seinen „Herkunftskomplex“ Wolfsegg abzuschaffen. „Es ist ein durchaus perverser Antrieb, sagte ich mir, dem wir folgen. Tatsächlich bin ich dabei, Wolfsegg und die Meinigen auseinanderzunehmen und zu zersetzen, sie zu vernichten, auszulöschen und nehme mich dabei selbst auseinander, zersetze mich, vernichte mich, lösche mich aus.“26 Dem Autor konnte nicht entgangen sein, dass die radikale Selbstbefreiungsund Abschaffungsschrift „Auslöschung“ mit dem Titelwort unabweisbar auf das epochale Zerstörungswerk der NS-Vernichtung verweist. Muraus Schrift „Auslöschung“ oder seine Herkunft aus „Wolfsegg“, jedes dieser Wörter weckt Assoziationen zu den Verbrechen der Wolfszeit des letzten Jahrhunderts, und mit dem Wort „abschaffen“ kommt der Gedanke einer diabolischen Kontrafaktur zur Schöpfung ins Spiel. „Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen“, hatte Franz-Josef Murau zu Gambetti gesagt, wobei ihm nach dem Tod seiner Eltern und des Bruders „die Furchtbarkeit“ dieses Satzes bewusst wird : „Er hatte auf einmal das Gewicht, das noch kein Satz von mir gehabt hat. Mit diesem Satz kannst du es nicht aufnehmen, sagte ich mir, mit diesem Satz wirst du leben müssen. Diese Feststellung führte urplötzlich zu einer Beruhigung meiner Situation.“27 Die Literatur als Gegenkraft gegen die Exzesse der instrumentellen Vernunft Die resignierende Einsicht Muraus, mit dem Satz von der „Abschaffung“ könne er es nicht aufnehmen, heißt nicht, das schreibende Ich würde sich mit dem Typus einer den Menschen vernichtenden instrumentellen Rationalität abfinden. Die literarische Figur, Franz-Josef Murau im Roman, kann es vielleicht mit diesem Satz nicht aufnehmen, aber der Roman oder das Werk Bernhards können es, sie erschaffen das Gegengewicht einer anderen, um den Menschen und das Leben bemühten Vernunft, jenen anderen Geist der alles bedenkenden und erwägenden Erzählung. In Auslöschung bekommt der verteufelt boshafte und dann wieder berührend komische Murau die ebenfalls in Rom lebende, aus Österreich ± aus Kärnten ± stammende Maria an die Seite gestellt, bei der wir an die von Bernhard geschätzte Dichterin Ingeborg Bachmann denken müssen, obwohl mit dem katholischen Namen ihre protestantische Herkunft und ihr stolzer Agnostizismus ausgelöscht 26 Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 2009 (= Werke, Bd. 9), S. 232. 27 Ebd., S. 15f.
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werden, genauso wie ihre Verherrlichung als Lyrikerin mit der Verdrängung der Prosaautorin einhergeht. Maria nennt Murau im Roman ihren „Auslöscher“ ± er hat den Namen für seine Schrift „Auslöschung“ von Maria, die ihn „einmal einen Auslöscher genannt hat. Ich bin ihr Auslöscher, hat sie behauptet. Und was ich zu Papier bringe, ist das Ausgelöschte.“28 Margot Bender-Säbelkampf hat in ihrer vor kurzem fertig gestellten Klagenfurter Masterarbeit den „literarische[n] Dialog zwischen Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann“ rekonstruiert und dabei im „böhmischen“ Gedicht Bachmanns ± für Franz-Josef Murau der Inbegriff des gelungenen Werks ± die rettende Aufhebung der aggressiven Auslöschungs-Programmatik entdeckt. 29 Sie liegt in der Idee, dass das Ich, das sich ganz zurück nimmt, die Welt ‚ohne sich sieht‘, wie Bachmann das im Gespräch mit Erich Fried 1968 in London sagte, ganz hingegeben und verloren an die Sprache, die Welt offener wahrnimmt. Mit dieser „Frage nach der Möglichkeit von Utopie“, in welcher Bender-Säbelkampf Bachmanns Gedicht und Bernhards Roman verbunden sieht, komme ich, der Titelformulierung entsprechend, endlich bei der „Schönheit des Erzählens“ an. Maria ist ja, was Bender-Säbelkampf betont, nicht einfach Ingeborg Bachmann. Allein ihr Name ist Teil eines fiktiven erzählerischen Spiels, das ihn mehrdeutiger macht. Im katholischen Namen kommt eine religiös-katholische Komponente zum Ausdruck, durch die sich, wie ironisch auch immer, der Name der Dichterin mit der Idee der Rettung des sündigen Menschen verbindet. Maria nennt den mitleidlos beobachtenden Murau im Roman einmal „Den sich am Geist Versündigenden“ ± „Sie hatte nur einen Scherz machen wollen, aber ich nahm diese Äußerung ihrerseits als die bittere Wahrheit.“ Dieser Satz, der so genau auf Bernhards Schreiben und sein männliches Berserkertum zu zielen scheint, ist in Wirklichkeit die Paraphrase einer Briefstelle von Christine Lavant. Er steht in einem Brief an Gerhard Deesen, 27. März 1962, 1978 in einer Lavant-Publikation im Otto Müller Verlag erschienen, so dass Bernhard sie gekannt haben wird : „Überhaupt ist mir das Dichten so peinlich. Es ist schamlos […]. Kunst wie meine, ist nur verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar.“30 28 Ebd., S. 424. 29 Bender-Säbelkampf, Margot : Der literarische Dialog zwischen Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann. Eine intertextuelle Allusion. Masterarbeit. Klagenfurt 2011, bes. S. 53± 61. 30 Christine Lavant an Gerhard Deesen, 27. 3. 1962, in : Wigotschnig, A./Strutz, J.: Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Salzburg 1978, S. 234.
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„Ich bin ein verstümmelter Mensch“, sagt Bernhards Franz-Josef Murau, wenn er sehen muss, dass er sich nicht von Wolfsegg „befreit und nicht unabhängig gemacht habe, sondern im Gegenteil auf die deprimierendste Weise verstümmelt. Ich bin ein verstümmelter Mensch, habe ich gedacht.“ Aber schon in Frost, wo der Traum von der Operation steht, die den Menschen auseinander nimmt und „einen Haufen völlig zerstückelten Fleisches“ zurück lässt, begegnet man auf der ersten Seite des Buchs der Idee einer anderen Wissenschaft, der sich das Schreiben Bernhards verwandt fühlte : Sich mit „außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Etwas Unerforschliches zu erforschen. Es bis zu einem erstaunlichen Grad von Möglichkeiten aufzudecken.“31 Dieser Geist eines anderen Typus der Vernunft und einer anderen Analyse bekommt in Verstörung den Namen „Ursachenforschung“. „Immer könne man von später in einem Menschen eingetretenen Katastrophen auf frühere, meistens sehr frühe Schädigungen seines Körpers und seiner Seele schließen“, sagt der Arzt in Verstörung, und der Autor lässt ihn wörtlich hinzufügen : „‚Die meisten Ärzte treiben auch heute noch keine Ursachenforschung‘“.32 In der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit für das kranke Ich, sein Reden und sein Schweigen, seine Bewegungen und seine Gebärden, und mit seiner kreatürlichen Sympathie wird Bernhards erzählerische „Ursachenforschung“ zum Ereignis der österreichischen Literatur am Beginn der sechziger Jahre und zum Gedächtnis einer verborgenen aufklärerischen Tradition in Österreich, die nicht dem Typus instrumenteller Rationalität verfallen ist. Österreichische Aufklärung Man könnte Bernhards Prosa seit den frühen sechziger Jahren als Gedächtnis der österreichischen Moderne verstehen, eines spezifischen Typus der Aufklärung, und zwar nicht nur auf der inhaltlichen Ebene, in Zitaten und Anspielungen, sondern in der Form der Sprache selbst : in der sprachkritischen Instrumentierung seiner Prosa, in der fortwährenden Thematisierung des Sprechens und Denkens oder dem der Freudschen Psychoanalyse verwandten Erzählen von Symptomen, die auf weit in der Kindheit zurück liegende Katastrophen verweisen. Charakteristisch für Bernhard ist ja die assoziative Rede seiner Figuren, die im 31 Bernhard : Frost, S. 7. 32 Bernhard, Thomas : Verstörung. Hg. v. Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2006 (= Werke, Bd. 2), S.57.
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Text einem wissenschaftlichen Blick ausgesetzt wird, oft ist es der eines Arztes, im späteren Werk immer mehr der Leser selber, dem es abverlangt wird, geistesgegenwärtig das Wie des Gesagten und das Nicht-Gesagte zu erfassen. In dieser intendierten Aufmerksamkeit liegt das von Bernhard geschätzte philosophische Moment seiner Prosa, die Wittgensteinsche „grammatische“ Betrachtung als „,Analysieren‘ unserer Ausdrucksformen“, ein Vorgang, wie es in den Philosophischen Untersuchungen heißt, der „manchmal Ähnlichkeit mit einem Zerlegen“ hat, aber bei Wittgenstein mit der Idee einer philosophischen Therapie der Sprache als „Lebensform“ verbunden ist.33 Es sind nicht die literarischen Gestalten, die vermeintlichen Genies in Bernhards Werken, die sich mit den Repräsentanten der klassischen Moderne messen könnten. Roithamer ist kein Wittgenstein, so viele Biographeme er auch mit ihm gemeinsam hat : Es ist das erzählerische Werk Bernhards, das in Augenhöhe mit Wittgenstein gelesen werden kann und das nicht nur die Tradition der österreichischen Sprachkritik weiter führt, sondern auch, in den vielen Formen der dargestellten Zerrüttung und Gefährdung dieser Gestalten, davon weiß, was mit den Vertretern der österreichischen Moderne geschehen ist. In den sechziger Jahren entwarf Theodor W. Adorno jenen Begriff der Sprachkritik, der gewissermaßen der damals entstehenden jungen österreichischen Weltliteratur das philosophische Zertifikat ausstellte und sie zur Zeitgenossin der Frankfurter Schule machte. In seinen Vorlesungen über „Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft“ erinnerte der Kritiker der instrumentellen Rationalität an die österreichische Tradition der Sprachkritik, für die er in Karl Kraus „ein großartiges Exempel“ sah. Denn es gehe nicht einfach mehr um die Kritik an einem „falschen Inhalt“, sondern um die „Kritik an der Form, in der die Inhalte im gesellschaftlichen Bewußtsein sich niederschlagen“ : „Und deshalb, würde ich denken, ist die Sprachkritik eigentlich heute die fällige oder eine der fälligen Gestalten der Ideologiekritik“ als „Kritik an der heute herrschenden Sprache“. Deren Gestalt sei heute § also Anfang der sechziger Jahre § das, wofür er „den Terminus ‚verdinglichtes Bewußtsein‘“ verwende.34 Das war 1964. 1963 erschien Frost, 1964 Der Italiener, 1967 Verstörung, 1966 kam Peter Handkes erster Roman, Die Hornissen, heraus, 1968 wurde das Kaspar-Stück uraufgeführt. 1961 war Ingeborg Bachmanns Erzählung Alles erschienen. Mit dem Titel Alles spielte sie auf den ersten Satz von Ludwig Wittgensteins Tractatus 33 Vgl. Wittgenstein : Philosophische Untersuchungen, S. 90. 34 Adorno, Theodor W.: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964). Hg. von Tobias ten Brik und Marc Phillip Nogueira. Frankfurt am Main 2008, S. 212.
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an § „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ §, aber mit einer kritischen Akzentuierung, die der Adornos entsprach, insofern es ihr um die Frage der Form ging, „in der die Inhalte im gesellschaftlichen Bewusstsein sich niederschlagen“ : „Und ich wußte plötzlich : alles ist eine Frage der Sprache und nicht nur dieser einen deutschen Sprache […]. Denn darunter schwelt noch eine Sprache, die reicht bis in die Gesten und Blicke, das Abwickeln der Gedanken und den Gang der Gefühle, und in ihr ist schon all unser Unglück.“35 Und doch : Die Kunstwerke aber gehen nicht darin auf, „eine der ‚fälligen‘ Gestalten der Ideologiekritik“ zu sein, sie verweisen in ihrer Sprache auf etwas anderes, was darüber hinausgeht : „Literatur als Utopie“ heißt es in Bachmanns Frankfurter Vorlesungen, „Vorschein“ nennt es Bloch, oder, die Adornosche Variante, die Kunstwerke verweisen allein kraft ihres sprachliches Formgesetzes auf einen Sinn jenseits der Sinnlosigkeit, ein Leben jenseits des herrschenden Falschen.
35 Ebd., S. 143.
Alfred Pfabigan
Motive und Strategien der Österreichkritik des Thomas Bernhard
1988, im heute des Theaterstückes Heldenplatz, hat in Österreich „alles den Tiefpunkt erreicht“,1 gibt es „mehr Nazis in Wien/als achtunddreißig“,2 was insofern verständlich ist, weil schließlich „in jedem Wiener […] ein Massenmörder [steckt]“.3 Dass die Österreicher ein Volk von Schwachsinnigen, auf der Suche nach einem neuen Führer sind und sich derweilen mit einer korrupten und verbrecherischen Regierung abfinden § das sind Konstatierungen, die wohl jedem Kenner der zeitgenössischen Literatur auf den ersten Blick als „typisch“ für Thomas Bernhard erscheinen würden. Friedrich Heer hat bekanntlich den Selbsthass als Bestandteil der österreichischen Identität beschrieben und ihm den Namen „Morbus Austriacus“ gegeben. Tatsächlich ist die Kritik des eigenen Landes eine Spezialität der modernen österreichischen Literatur ; dennoch sind Bernhards negative Artikulationen gegen Österreich in ihrer Intensität § trotz mehrerer Epigonen § ebenso singulär wie die Resonanz, die sie zu ihrer Zeit erfahren haben. Zwanzig Jahre nach seinem Tod hat sich das Konfliktfeld zwischen Bernhard und Österreich § verstanden als Staat, Gesellschaft und meinungsführende Elite § offensichtlich historisiert und entschärft. Die Erben haben das sogenannte Testament mit dem Verbot neuer Aufführungen und Nachlasspublikationen außer Kraft gesetzt, es gibt eine Gesamtausgabe, neue Bücher erscheinen und Stücke werden skandalfrei aufgeführt § und zwar sogar im bürgerlichen Wiener „Theater in der Josefstadt“, von Bernhard nicht sonderlich geschätzt und sicherlich kein Ort der Subversion oder des Skandals. Bei einer dortigen Aufführung des Heldenplatzes, der uns einst einen die Intentionen des Stückes verdunkelnden Skandal bescherte, sei § so eine mürrische Anmerkung Claus Peymanns in einem Interview § mehr gelacht worden als in allen Burgtheater-Aufführungen zusammen. Das kann man wohl auch positiv sehen. Dennoch : Die multimedialen Bernhard-Festspiele aus Anlass des 80. Geburtstages 2011 haben gezeigt, dass „Bernhard“ und „Österreichkritik“ immer 1 Bernhard, Thomas : Heldenplatz, Frankfurt am Main 1988, S. 96. 2 Ebd., S. 63. 3 Ebd., S. 118.
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noch einen synonymischen Charakter haben ; dass es aber in der öffentlichen Rezeption in den verschiedenen kulturellen Milieus des Landes widersprüchliche Einordnungsversuche gibt, die man ernst nehmen muss, die aber alle einige Fragen aufwerfen. Es gibt, idealtypisch verkürzt, das Bild von der gespaltenen Gesellschaft § Stichwort Kurt Waldheim § in der ein „mutiger Dichter“ mit hohem persönlichen Einsatz „ausgesprochen hat, was ist“ und damit eine ungeheure Wirkung erzielt hat ; es gibt das Bild vom geltungssüchtigen, neurotischen oder gar geschäftstüchtigen Provokateur und es gibt schließlich das Wort von der „Bernhard-Falle“ in der alle zappeln, die den Dichter § einen begnadeten Manipulator seines öffentlichen Bildes § allzu wörtlich nehmen. Gehen wir also zurück zum Skandal rund um Heldenplatz : Der lange Schatten der Claus-Peymann Inszenierung im Wiener Burgtheater, die nicht nur für die Pariser Aufführung von Heldenplatz stilprägend war, verdunkelt bis heute die internationale Bernhard-Rezeption. Peymann hat § wie auch in anderen Inszenierungen von Bernhard-Stücken § die Darsteller der Familie Schuster selbst Ungeheuerlichkeiten wie die Behauptung, dass „ein Großteil der Österreicher [wolle]/ dass der Nationalsozialismus herrscht“4 im Tonfall einer ernsthaften Unterhaltung über allgemein bekannte Selbstverständlichkeiten sprechen lassen. Auf der Bühne hatte das Verfahren einen unleugbaren Reiz ; die Folgen im „wirklichen Leben“ sind bekannt : Nachdem Textfragmente zunächst dem Magazin profil und dann der Kronenzeitung zugespielt wurden, brach ein Erregungssturm aus. Sätze wie etwa die Feststellung des Professor Schuster, dass es heute, 1988, für Juden in Wien schlimmer sei als im März 1938 wurden als persönliche Aussagen des Autors ernst genommen. Kaum einer kümmerte sich darum, worum es in dem Stück „wirklich“ ging und die Österreich-Beschimpfungen der Figuren wurden in der puren Zitation doppelt dekontextualisiert : dass es sich bei den Schusters um eine typische Bernhard-Familie handelt, die ihre obligaten Machtspiele diesmal im Diskurs über Österreich abhandelt, wurde ebenso ignoriert wie der Umstand, dass alle Familienmitglieder schon Insassen eines klassischen Ortes der Bernhard-Welt waren, dem psychiatrischen Krankenhaus „Am Steinhof“.5 Die radikalen Österreich-Kritiker in der jüdischen Familie Schuster sind also keine Helden, die endlich Klartext sprechen, sondern verwirrte Menschen, die zudem 4 Ebd., S. 135. 5 Vgl. Pfabigan, Alfred : „Thomas Bernhards Heldenplatz : Artists and Societies Beyond the Scandal“, in : Cherlin, Michael/Filipowicz, Halina/Rudolph, Richard L. (Hg.) : The Great Tradition and its Legacy. The Evolution of Dramatic and Musical Theatre in Austria and Central Europe. New York 2004, S. 112§121.
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jene „Lebensregeln“ missachtet haben, die der Bernhardsche „Gesamttext“ ausarbeitet.6 Natürlich gibt es Antisemiten und NS-Nostalgiker in Österreich ; es sind wenige und doch zu viele. Doch Bernhards Kritik war ohne den Superlativ stumpf § wenn er etwa 1968 Wien beschrieb, dann musste es „die schmutzigste aller Hauptstädte“ sein.7 Das Stück bezieht einen Teil seiner Wirkung aus dem Spannungsverhältnis zwischen der allgemein akzeptierten Kritik an einem beschämenden Zustand und jener hochgespannten „Übertreibungskunst“, auf die der Autor ja stolz war, und mit der er jene „Erregungen“ bezog, die ihm durchaus Freude bereiteten : „Ich schreibe, um zu provozieren. Wo wäre sonst die Freude am Schreiben ?“8 Doch mit diesem Selbstkommentar ist das manchen so liebgewordene Bild von der gespaltenen Gesellschaft und dem engagierten Dichter beschädigt. Ihm liegt zudem eine unvollständige Leseweise zugrunde, die einen heute erreichten Standard im Umgang mit der österreichischen Vergangenheit § etwa in der Restitution von Raubkunst § als selbstverständlich nimmt und Bernhard sozusagen als engagierten Pionier platziert. Hilfreich ist ein Blick auf die soziale Funktion des Wortes „Österreichkritik“ § es schafft ja eine Art Gruppe, ja fast eine narzisstisch hochaufgeladene Volksgemeinschaft der „Guten“, die aber ansonsten recht heterogene Positionen vertreten. Was Bernhard betrifft, ist man sich über seine Mitgliedschaft in dieser Vereinigung einig : „Denn er war unser !“ Doch es scheint, dass Thomas Bernhard seine Desintegration genossen hat § das einengende von Bindungen hat er oft beschrieben, die Kunst des zum richtigen Zeitpunkt „Weggehens“ hat er seine Protagonisten ebenso gerne preisen lassen, wie er die Kosten der Unterlassung aufgelistet hat. Wie sein Minetti im gleichnamigen Stück, der gegen das Publikum spielt, scheint auch er gegen das Publikum, gegen sein Publikum, und eben auch gegen die selbsternannten „Guten“ geschrieben zu haben. Bernhard wollte nirgends dazugehören und wer versucht hat § wie etwa die Grazer Autorenversammlung § ihn einzubinden, der handelte sich Grobheiten, wie etwa das Etikett „untalentierte Arschlöcher“ ein.9 Er war § so H.C. Artmann präzis in seinem Nachruf § ein „Dandy bis in den Tod“, einer „wie Oscar Wilde, keiner im abgewerteten Sinn von heute. Dandy sein ist eine Zeremonie. Der echte Dandy ist 6 Vgl. dazu Pfabigan, Alfred : Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment, 2. Auflage. Wien 2009. 7 Bernhard, Thomas : Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Hg. von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber, Berlin 2011, S. 74. 8 Ebd., S. 232. 9 Ebd., S. 242.
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ein strikter Ästhet § zwar ständig umgeben, aber kein Gesellschaftsmensch. Er düpiert die Leute, die ihm hinten hineinkriechen.“10 Vor allem aber verdunkelt die allzu starke Konzentration auf die Polemik gegen die österreichische Variante dessen, was Ralph Giordano die „zweite Schuld“ genannt hatte, des Verschweigens der Beteiligung von Österreichern an nationalsozialistischen Verbrechen § ein zentrales Thema der Waldheim § Affäre und des „Bedenkjahres“ 1988 § das Spektrum von Bernhards Österreich-Kritik. Die richtet sich ja auch ebenso gegen die Moderne im allgemeinen § Stichwort : „Beton“, Massentourismus und Musikberieselung §, wie gegen den prämodernen zivilisatorischen Rückstand Österreichs § Stichwort : die Toiletten des Musikvereinsaales.11 Einen Ausweg aus der offenkundigen Sackgasse, in die einen Heldenplatz und inhaltlich ähnlich argumentierende Texte gelockt haben, bietet die Konzentration auf folgende Aspekte : auf die Grundstimmung, aus der heraus sich Bernhards Kritik an seiner Heimat speist ; auf jene Bestandteile seines Wertesystems, die nicht zu seinem „offiziellen“ Bild gehören ; auf die „Bausteine“ seiner Erfahrungen und schließlich auf den Modus wie er § ungeachtet zahlreicher Absurditäten § seiner Kritik Kohärenz gab. Dem Verfasser einer Erzählung mit dem Titel Ist es eine Komödie ? Ist es eine Tragödie ? hat der Seiltanz zwischen Komik und Tragik offensichtlich ein hohes Vergnügen bereitet, er hat sich selbst mit Freude verrätselt § hat also seine Intentionen banalisiert, dem gelegentlich ratlosen Publikum den Moralisten ebenso wie den „Altersnarren“ und „Übertreibungskünstler“ gegeben und gelegentlich scheinbar öffentlich eine private Paranoia zelebriert zu haben. Doch damit soll nicht eine Art „Bernhard-Agnostizismus“ propagiert werden, sondern der Versuch eine breite Linie in dem nachzuziehen, was man als Bernhards Österreichkritik bezeichnet, findet einfach unter dieser Prämisse statt. Noch ein Wort zu dem bekanntesten Aspekt, und zwar vor allem zu seiner bemerkenswert langsamen Entwicklung : Man kann im Lebenswerk Bernhards eine langsame Annäherung an die zeitgeschichtliche Schuld Österreichs in und nach der Nazizeit lesen, vom unklaren Geraune der Dörfler im frostigen Weng über die Geschehnisse im „Krieg“, über die Massengräber unter der Lichtung rund um Schloss Wolfsegg im Italiener, um die sich keiner kümmert, bis zu der endgültigen Dechiffrierung dieses Schlosses in Auslöschung als einem Zentrum der österreichischen Kollabo10 Zit. nach Wagner, Karl : „Der Glücksfall“, in : Die Presse, 25.09.2010. 11 Vgl. Pfabigan, Alfred : „,Modern Times‘ in der Prosa des Thomas Bernhard“, in : Huber, Martin/ Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Wissenschaft als Finsternis. Wien 2002, S. 39§50.
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ration und gleichzeitig als Objekt einer den Erben befreienden Buße, die in der Übereignung der Besitzung an den Vorsitzenden der jüdischen Kultusgemeinde liegt. Das ist ein bemerkenswertes literarisches Langzeitprojekt, das sich § beginnend mit den KZ-Passagen aus In der Höhe. Rettungsversuch. Unsinn § über nahezu fünf Jahrzehnte zog. Bernhard lässt seine Figuren allmählich, in einem „trial and error“-Prozess eine intellektuell präzise und moralisch gerechtfertigte Haltung zur österreichischen Realität finden. Er hat diesen Entwicklungsprozess auf mehrere, teilweise einander ähnelnde Personen aufgeteilt, die Assoziation mit Goethes Wilhelm Meister und den Rabbit § Romanen John Updikes stellt sich dennoch ein. Wichtig scheint mir § ungeachtet der „Vorgängerschaft“ von Hans Lebert’s Wolfshaut und dem Fasching von Gerhard Fritsch § dass Bernhard bei diesem Langzeitprojekt eines gesamtösterreichischen Entwicklungsromans über weite Strecken recht einsam war. Jene SchriftstellerInnen, zu deren trademark die Österreich-Kritik später werden sollte, bewiesen zunächst ihre Modernität durch formale Experimente ; als die Österreichkritik in Mode kam hat sich übrigens ein Teil von ihnen mit der politischen Linken assoziiert und aus deren Gesellschaftsanalyse Anregungen für ihre Kritik bezogen.12 Solches hat sich in Bernhards intellektueller Biographie nicht ereignet. Damit stellt sich schon die erste Frage : wie ist er relativ früh auf sein Thema gekommen ? Kritik basiert auf Werten und Bernhard hat die seinen offen dargelegt. Obwohl ihm Victor Suchy in einem köstlich zu lesenden Interview das Geständnis abrang, dass er irgendwo zwischen Schopenhauer und Wittgenstein stehe, 13 haben diese Werte keine präzise philosophische Wurzel. Bernhard war kein Systematiker und es gibt kein Naheverhältnis zwischen ihm und einem kategorischen Imperativ, der auf eine allgemeingültige Maxime abzielt. Schon seine Politische Morgenandacht aus 196614 § jener in der Rezeption unterschätzte Text, der sein Verhältnis zur Politik im Allgemeinen und zur österreichischen im Besonderen thematisierte § stellt klar, dass die künstlerische Praxis und der dazugehörige Diskurs in seiner Werteskala absolute Priorität haben. Hier wird eine „Kunstmoral“ propagiert, wie wir sie unter anderem prominent beim frühen Nietzsche finden § die Existenzberechtigung einer Gesellschaft und ihr Platz in der Hierarchie liegt in der Qualität ihrer kulturellen Hervorbringungen ; 12 Zu Elfriede Jelinek vgl. etwa Pfabigan, Alfred : „Heimat bis Du großer Töchter“, in : Lartillot, Françoise/Hornig, Dieter (Hg.) : Jelinek, une repetition ? ± Jelinek, eine Wiederholung ? Zu den Theaterstücken ,In den Alpen‘ und ,Das Werk‘. Bern 2008, S. 27§51. 13 Bernhard : Wahrheit auf der Spur, S. 61. 14 Ebd., S. 40§45.
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und nicht § sei hinzugefügt § in ihrer politischen Stärke, ihrer wirtschaftlichen Prosperität, ihrer sozialen Gerechtigkeit oder dem schonenden Umgang mit der Umwelt. Hier fehlt, nochmals, das kategorische und die Allgemeingültigkeit der Maxime § nicht nur Bernhards Glenn Gould im Untergeher, sondern auch sein Schöpfer, waren der Meinung, dass die allgemein-kategorischen Moralen oft die gesteigerten Individuen an ihrer Entfaltung hindern und Mediokritäten fördern. Das Schwache soll fallen, denn die „Untergeher“ sind den Glenn Goulds gefährlich. Die Architektur der Bernhardschen Österreichkritik wird mit diesem illustrierenden Vorgriff auf den Kunstbereich ein wenig missachtet, aber er stellt einiges klar. Bernhard denkt § in verschiedener Intensität und mit verschiedenen Konsequenzen § das Politische vom Kunstbereich her. Er hat den, seitdem die nationalsozialistische Agitation in der Weimarer Republik ihn verwendete, diskreditierten Begriff „Staatskünstler“ aufgegriffen, ja ihn sogar zu „Staatspfründner“ ausgeweitet. Staaten schreiben sich den Status eines „Kulturstaates“ häufig durch den Hinweis auf die Existenz oder das Ausmaß staatlicher Kunstförderung zu ; das gilt auch für Österreich. Bernhard dreht diesen populären Ansatz ins Gegenteil um : staatliche Kunstförderung schadet der Kunst, der Staat wird durch sie zum Kunstfeind und letztlich delegitimiert. Dichter und Schriftsteller, so vor allem ab 1980, ab der endgültigen Weigerung Bernhards, Preise anzunehmen, gehören nicht subventioniert. Die Sozialversicherung für Künstler wurde erst nach Bernhards Tod eingeführt und persönlich hat der Kranke in seiner Frühzeit unter dem versicherungslosen Zustand gelitten. Aber sein Wort an junge Schriftsteller aus 1957 hat er nie zurückgezogen : „Was ihr haben müsst, das sind nicht Krankenversicherungen und Stipendien, Preise und Förderungsprämien ; es ist die Heimatlosigkeit eurer Seele und die Heimatlosigkeit eures Fleisches, die tägliche Trostlosigkeit, die tägliche Verlassenheit, der tägliche Frost …“15 Die Kunstwelt hat eine sozialdarwinistische Komponente, die Missachtung derselben hätte aus dem Volk der Dichter und Denker ein Volk der Versicherten gemacht.16 Bernhard hat das später § ein wenig ironisch gegenüber den „Kunstreligionen“ nach Art des George-Kreises § modifiziert : es geht um das unbestimmbare, im Lebensvollzug ambivalente, und dennoch als Triebkraft des Werkes unersetzbare Ideal des „Höchsten“. Gerade seine Unerreichbarkeit, jener „Fehler“, den der „böse Blick“ Regers in den Alten Meistern nach intensivem Studium der Meisterwerke im Wiener Kunsthistorischen Museum findet, ist in diesem Entwurf der 15 Ebd., S. 29. 16 Ebd., S. 31.
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letztlich absurden künstlerischer Motivation Triebkraft zum Meisterwerk § und darum geht es. Und diese Triebkraft schaltet die stattliche Subvention aus und Bernhard ging weiter und hat sich eine Konstellation zurechtgedacht, wo der Staat § der oft dort gemeint ist, wo das Wort „Österreich“ steht § mit seinen finanziellen Mitteln den jeweiligen Mainstream willfähriger Mediokritäten fördert § ein Thema in Holzfällen § und damit Subversion und Innovation ausschaltet ; ja gleichzeitig § via Zensur § eine Schutzgemeinschaft gegen diese bildet. Das klingt paranoid und manche Zensurvorwürfe, die Bernhard erhoben hat, wirken übertrieben. Doch Bernhard konnte sich hier sehr wohl auf persönliche Erlebnisse berufen : etwa auf die erzwungenen Streichungen in der Ursache, wo er einen populären Salzburger Priester der körperlichen Züchtigung von Internatskindern bezichtigt hatte, oder auf die Drohung des ORF-Intendanten Wolf in der Maur wegen Bernhards Kreisky-Kritik Krista Fleischmanns Fernsehporträt nicht zu senden.17 Das heißt, in dieser Österreichkritik werden die ideologischen Staatsapparate zentriert § aber anders als bei Louis Althusser18 nicht als Instrumente zur Verhinderung einer allgemeinen Emanzipation, sondern als der Kunst gegenüber repressive, weil das Meisterwerk verhindernde. Dass van Gogh zu Lebzeiten kein Bild verkaufte, während die hochdotierten „Staatskünstler“ seiner Zeit heute vergessen sind, kann man als Beispiel heranziehen, um Bernhards Position zu verdeutlichen. Doch zurück zur Politischen Morgenandacht, in der eine weitere Konstatierung getroffen wird, die Kontinuität haben wird : die Forderung nach einem kollektiven Bewusstsein, „von was für glänzenden, den ganzen Erdball überstrahlenden und erwärmenden Höhen sie [die österreichische Politik, A.P.] im Lauf von nur einem einzigen halben Jahrhundert in ihr endgültiges Nichts gestürzt ist.“19 Bernhard hat diese Prägung durch das vorrepublikanische Österreich mehrmals thematisiert, in der Rede seiner Figuren, aber auch in Interviews bis zum Gespräch mit De Rambures 1983 : „Vergessen Sie auch nicht das Gewicht der Geschichte. Die Vergangenheit des Habsburgerreichs prägt uns. Bei mir ist das vielleicht sichtbarer als bei anderen. Es manifestiert sich in einer Art echter Hassliebe zu Österreich, sie ist letztlich der Schlüssel zu allem, was ich schreibe.“20 Das ist keine „Habsburg-Nostalgie“, auch wenn sie auf nachfolgende Generationen so wirken mag. Der Verlust eines Imperiums und die damit verbundene Än17 18 19 20
Ebd., S. 332. Vgl. Althusser, Louis : Ideologie und ideologische Staatsapparate, Berlin 1977. Bernhard : Wahrheit auf der Spur, S. 41. Ebd., S. 222.
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derung im Lebensgefühl haben traumatisierenden Charakter und dass Traumata weiter gegeben werden, ist heute allgemein akzeptiert. Die positive Seite dieser vergangenen „Höhe“ lässt sich allerdings nicht herausfiltern. Karl Wagner attestiert Bernhard einen aristokratisch-elitären Habitus und schreibt gleichzeitig ein wenig widersprüchlich über eine Rückkoppelung „an jenes jüdisch-liberale Großbürgertum (…) das die Trägerschicht der Wiener Moderne um 1900 war und vom Nationalsozialismus vernichtet oder vertrieben wurde.“21 Doch in den Alten Meistern kritisiert Reger den schlechten Kunstgeschmack der Habsburger und sucht seiner Frau die „Jugendstilhysterie“ auszutreiben, die von jener Trägerschicht der Moderne § etwa den als Familie kritisierten Wittgensteins § gefördert wurde. Sichtbar wird die „Höhe“ nur im Vergleich mit der heutigen „Tiefe“. Wie auch immer : Zwei Vorwürfe sind konstant § Bernhard hat dem österreichischen Staat seine Kleinheit nicht verziehen und parallel dazu die Glanzlosigkeit seiner politischen Elite. Kanzler und Präsidenten lösen bei ihm und seinen Figuren Erinnerungen an „Naschmarktzuhälter“.22 (Der damalige von der ÖVP gestellte Bundeskanzler war der kriegsversehrte Alfons Gorbach) und „Konsumvereinvorsteher“23 aus. Da gibt es also eine weitere ästhetische Komponente im Staatsverhältnis, die eine hübsche Wortbildung in der Polemik gegen Bruno Kreisky erklärt und diese über den bloßen Status des Witzes emporhebt : der ist eben kein „Sonnenkönig“, denn deren Zeit ist vorbei, sondern bestenfalls ein „Höhensonnenkönig“.24 Ähnliches gilt für eine andere Bemerkung über den Kanzler : Kreisky erreiche nicht einmal die parvenühafte Pracht eines kommunistischen Diktators, sondern sei bestenfalls ein „Walzertito“.25 Für den Verfall der Größe Österreichs werden in der Politischen Morgenandacht Schuldige genannt : die proletarische Weltrevolution, das republikanische Prinzip und die Kulturlosigkeit des Proletariats : „Und dass die Proleten (das muss sein !) keine Kultur haben, und dass Proleten wie Proletariat die Kultur gar nicht wollen, weil die Kultur mit dem Begriff des Proletariats nicht vereinbar ist usf. usf. […]“26 Diese bildungsbürgerlich klingende Feststellung mit ihrem überzogenen Kulturbegriff überrascht insofern, weil es damals noch Reste der austromarxisti21 Wagner : „Glücksfall“, S. IV. 22 Bernhard, Thomas : Frost. Frankfurt am Main 1972, S. 265. 23 Ebd., gemeint ist der Sozialdemokrat Adolf Schärf, vgl. auch Bernhard : Wahrheit auf der Spur, S. 209. 24 Bernhard : Wahrheit auf der Spur, S. 206. 25 Ebd., S. 173. 26 Ebd., S. 43.
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schen „Kulturbewegung“ rund um den „Neuen Menschen“ gab. Es geht, so lese ich das, hier nicht um Parteien oder um Klassenkampf von oben, sondern um jenen Kulturbegriff, der etwa in der Distinktion Bildung : Ausbildung in Nietzsches Reden Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten verwendet wird und die wahre Kultur einem gesteigerten Menschentypus reserviert. Doch wie immer wir das lesen wollen : die Österreichkritik Bernhards enthält auch ein Element von sozialer Exklusion. Doch wie ist es Bernhard gelungen, jenen Binnen-Universalismus der Negativität auszuargumentieren und sozial akzeptabel zu machen ? Eine vereinfachende Antwort würde wohl so lauten : Bernhard hat persönliche Erfahrungen mit Großgruppen, repräsentativen Einzelfiguren und Institutionen beschrieben, verallgemeinert und damit plausibel gemacht. Als Beispiel diene der im Österreich des vergangenen Jahrhunderts einflussreiche Katholizismus. Im ersten Band der Autobiographie, der Ursache, wird ein zeittypisches Prügelinternat beschrieben, das nach der „Befreiung“ zwar seinen Charakter nicht änderte, in dem allerdings das Hakenkreuz an der Wand gegen ein Kreuz ausgetauscht wurde, ungeachtet der sichtbaren Spuren. Das einprägsame Bild erleichterte es, den Katholizismus pauschal den Kräften des österreichischen Unheils zuzuschlagen. In der Darstellung seiner leidvollen Kindheit hatte Bernhard erkannt, dass diese in die größte Katastrophe der Weltgeschichte eingeschlossen war. Diese Erinnerung an eine persönliche, schmerzhafte Erfahrung erweiterte ihm sein Konstrukt von Österreich : Staatsapparat, Kirche, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus verschmolzen zu einem Konglomerat, das Differenzierungen nicht mehr zuließ. Spott und Zensur, die er erfahren hatte, verstärkten das Gefühl : hier sind alle beteiligt. Die populäre Position, dass man zwischen Bernhards Staats- und Österreich- bzw. Österreicher-Kritik unterscheiden müsse, lässt sich daher nicht konsequent ausargumentieren. Ein Verdichtungspunkt von Bernhards Österreichkritik war Bruno Kreisky. Um zwanzig Jahre getrennt überschneiden sich die Geburtstage des Dichters ebenso, wie die sogenannte „Ära Kreisky“ Schnittflächen mit jener „Ära Bernhard“ hat, die Peter Handke 1992 ausgerufen hat. Es ist eine interessante Beobachtung zum heutigen Österreich, dass die beiden Kontrahenten im Jahr 2011 nahezu zeitgleich gefeiert wurden, ohne dass der Konflikt zwischen ihnen kommentiert wurde. Bernhard hat die heute gefeierte „Ära Kreisky“ äußerst kritisch gesehen : im Gegensatz zum Selbstbild ihrer Protagonisten hat er mit ihrem Beginn ein Einschlafen des Kulturellen registriert. Sein wichtiger § und zensurierter § Beitrag zum Nationalfeiertag 1977, Die Kleinbürger auf der Heuchelleiter, lässt einen solchen „brutalen und skrupellosen Kleinbürger“ als Kanzler auf den Ball-
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hausplatz und einen anderen als Präsidenten in die Hofburg einziehen.27 Das Schimpfwort von den „Kleinbürgern“ war damals ja endemisch verbreitet28 und dass Österreich einen Kanzler hatte, dem eine „großbürgerliche“ Abkunft zugeschrieben wurde, bildete einen noch zu erforschenden positiven Punkt im Selbstgefühl zahlreicher Österreicher. Bernhard hat genau dieses Image Kreiskys als „Großbürger“ attackiert, und ihn als kleinbürgerlichen Ruheständler porträtiert. Die Argumentation des Textes ist nach Bernhards Art übersteigert, wer ihn auf die politische Substanz reduziert, findet verdichtete Erlebnisse des Autors bzw. Gedanken, die mit einer anderen Formulierungsstrategie durchaus im damaligen Mainstream lagen. Etwa : „Wenn wir genauer hinschauen, sehen wir, was wir immer gesehen haben : Die Marionetten sind das schwachsinnige unbelehrbare Volk, und die daran ziehen (die Drahtzieher), die das Volk für dumm verkaufende Regierung.“29 Aus heutiger Sicht liegen Herbert Marcuses Kampf gegen die Manipulation der „Eindimensionalen Menschen“, Adorno/Horkheimers Polemik gegen die verdummende Kulturindustrie und die Auseinandersetzung der STAMOKAP-Theorie mit der politischen Elite inhaltlich gar nicht so weit entfernt von Bernhards Invektiven. In „akademischer“ Diktion war solches durchaus gesellschaftsfähig, der Skandal lag wohl in der Formulierung, nicht im Inhalt. So druckte der Residenz-Verlag, der den Beitrag bestellt hatte, den Text nicht. Es ist das erste Mal, dass wir mit einem häufig auftretenden Effekt konfrontiert werden : die Gegner Bernhards bestätigten durch ihre Reaktion auf seine Angriffe, hier durch Zensur, dessen Behauptungen. Bernhard hat aus diesen Reaktionen viel gelernt und wird in den Folgejahren eine Meisterschaft darin entwickeln, seine Gegner zu Reaktionen zu provozieren, die seine Kritik zu bestätigen schienen. Am Ende erschien der Text mit kräftiger Verspätung in der Hamburger Zeit. Das gilt auch für den nächsten hier zu besprechenden Text, eine „spontane Sache gegen Kreisky“,30 welche die „freundlichen Opportunisten“ von der Zeit allerdings zunächst einmal einige Monate kommentarlos liegen ließen. Bernhards fantastische Übersteigerungen sind auch hier nicht Thema, wichtig sind zwei Vorwürfe, die parallel zum „Kleinbürgertum“ laufen : der Kulturbezug Kreiskys § festgemacht an Musils Mann ohne Eigenschaften“, den der Student Kreisky in die Emigration mitgenommen hatte, und an der Spirale des Malers Friedensreich Hundertwasser, die sein Büro zierte und vor der er oft fotografiert wurde, 27 28 29 30
Ebd., S. 139. Vgl. das nahezu zeitgleich erschienene Kursbuch 45, Wir Kleinbürger, Berlin 1976. Bernhard : Wahrheit auf der Spur, S. 139. Ebd., S. 166.
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sei angemaßt.31 Der Kreisky-Mythos hat § vor allem auf wirtschaftspolitischen Feld angesichts der europäischen Staatsverschuldung § einige Dellen bekommen ; auch das Engagement für obskure politische Figuren im Nahen Osten wird heute kritisch gesehen. Gerade bei den Kreisky-Gedenkfeiern 2011 spielte dessen Rolle als „Kulturkanzler“ als eine der letzten Verteidigungslinien des Kreisky-Mythos eine wichtige Rolle § Thomas Bernhard scheint hier den „Punkt“ getroffen zu haben. Sein zweiter Vorwurf geht dahin, dass der „Kommis Kreisky“ in seinem Laden „nicht ein einziges Sackerl echten unverfälschten Sozialismus“ anzubieten habe.32 Bernhard hat das Wort „Pseudosozialismus“ bzw. „Pseudosozialist“ gerne verwendet ; es ist kommentierungsbedürftig. In den damaligen linken Jahren nach 1968 war es populär, doch Bernhard hat Kreisky sicher nicht im politischen Sinne „von links“ kritisiert. Er war allerdings jemand, der sich in der Geschichte der europäischen Linken gut auskannte § das belegen die Reflexionen des jungen Saurau in Verstörung und die Maxens im Italiener. In beiden Fällen handelt es sich um Vorfälle, in denen sich die Sozialdemokratie aus einer linken Perspektive, für die etwa Rosa Luxemburg steht, blamiert hatte § um die Massenstreikdebatte 1905 bzw. die Revolution 1918. Man kann hier nur spekulieren : ich denke, die „Pseudosozialisten“ sind solche, die das (unerreichbare) „Höchste“, die Revolution, ebenso zurückgestellt haben, wie die „Staatskünstler“. Wenn dem Finanzminister und späteren Bundeskanzler Franz Vranitzky „pseudosozialistische Präpotenz“33 attestiert wird, heißt das wohl, dass der nicht gelebte Sozialismus in Anmaßung umschlägt. Der Konflikt war offenkundig. Die Redaktion der Zeitschrift profil versuchte offensichtlich mit der Einladung an Bernhard, dessen Reaktion ja vorhersehbar war, einen Jubelband mit Fotos Kreiskys von Konrad Müller mit Texten von Gerhard Roth und Peter Turrini zu rezensieren, genau jenen Skandal zu provozieren, von dem sie sich dann distanzieren konnte. Es gibt ja § nicht nur im untergegangenen Ostblock § zahlreiche solcher Bücher über Politiker mit ansprechenden Fotos und Texten willfähriger Schriftsteller. Auch dieses wurde § so Bernhard später in einem Brief an die SPÖ-Mitglieder § an diese unbestellt plus Zahlschein gesandt.34 Das Buch plus den dazugehörigen Texten plus dem Vertriebsmodus passte exakt in den Raster, den Bernhard rund um Kreisky konstruiert 31 32 33 34
Ebd., S. 173f. Ebd., S. 174. Ebd., S. 235. Ebd., S. 211.
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hatte. Neu war, dass der als „Pensionist“ und „schlechter Bundeskanzler“ apostrophierte auch als „kein GUTER Jude“ bezeichnet wurde, mit dem Zusatz : „wir wissen es“.35 Was hat Bernhard da gewusst ? Etwas, worauf er bis dahin nicht Bezug genommen hatte, worüber man also nur spekulieren kann, was aber in das Bernhardsche Österreichbild passt und ihm Kohärenz gibt : die Minderheitsregierung der SPÖ war parlamentarisch von der FPÖ unterstützt worden. Deren Obmann Friedrich Peter war ein ehemaliger SS-Mann § die sogenannte Versöhnung mit dem „Dritten Lager“ gilt heute als eines der historischen Verdienste Kreiskys und der Autor der Auslöschung hat diese „Versöhnung“ kräftig verurteilt. „Versöhnung“ § das illustriert Auslöschung ja mit der angeblich üppigen Pension für ehemalige Gauleiter bei gleichzeitiger Verweigerung einer solchen für ein KZ-Opfer. Wie auch immer : in die erste sozialdemokratische Alleinregierung waren vier ehemalige Nationalsozialisten berufen worden, nur einer trat nach Aufdeckung zurück § auch das passt zu Bernhards Konstrukt. 1975, als die SPÖ nicht sicher war, ob sie bei den anstehenden Wahlen die absolute Mehrheit erreichen würde und informelle Gespräche mit der FPÖ über eine Koalition führte, deckte Simon Wiesenthal auf, dass Friedrich Peter Angehöriger einer Mordbrigade der SS gewesen war ; Peter war seinen eigenen Angaben nach bei den aktenkundigen Gemetzeln auf Heimaturlaub. Kreiskys Unterrichtsminister Leopold Gratz hat Wiesenthals Dokumentationszentrum daraufhin als „private Femeorganisation“ bezeichnet und Kreisky kommentierte „Wiesenthal ist ein jüdischer Faschist“. Es liest sich schön, wie er in der entsprechenden Interviewpassage geradezu einen Bernhardschen Sound hatte : „Der Herr Wiesenthal hat zur Gestapo, behaupte ich, eine andere Beziehung gehabt als ich. Ja, nachweisbar… Meine Beziehung zur Gestapo ist eindeutig. Ich war ihr Gefangener, ihr Häftling. Und war bei Verhör. Seine Beziehung ist eine andere, so glaube ich zu wissen.“ Wiesenthal klagte Kreisky, worauf ihm ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss angedroht wurde. Das letzte Wort hat der Europäische Gerichtshof gesprochen : in einem Urteil bestätigte er, dass es zulässig sei, das Verhalten Kreiskys „unmoralisch, ungeheuerlich und würdelos“ zu nennen.36 War es das, was Bernhard „wusste“ ? Wie auch immer : die Sozialdemokratie hat ihm genügend Anlässe geliefert, sie in seine Österreichkritik einzubeziehen und er hat sich ihren glamourösesten Vertreter als Belegstück ausgewählt. 35 Ebd., S. 207. 36 Vgl. dazu Bretschneider, Rudolf : „Eloge eines Adoranten : Kreiskys dunkle Perioden ausgeblendet“, in : Die Presse, 8.11.2011, S. 27.
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Die Auseinandersetzungen mit dem sozialdemokratischen Kanzler Franz Vranicky („hat, so scheint es, von Kunst und Kultur keine Ahnung“), 37 dem Unterrichtsminister Moritz und seiner berühmten, als Aufforderung zur Psychiatrisierung Berhards gelesenen Bemerkung,38 und vor allem mit dem an Erinnerungslücken leidenden Präsidenten Kurt Waldheim sind im Vergleich zur Kreisky-Kritik nicht so wichtig. Der Tartuffe Waldheim39 fügte sich in gewisser Weise nur in ein Gesamtbild von Österreich ein, das bereits vollendet war. Auch war Bernhard hier nur einer von vielen, und manche der anderen Kombattanten § André Heller oder Peter Turrini § sah er keineswegs als Exponenten eines „Anderen Österreichs“. Ein Teil der Waldheim-Kritiker war an die Linke gebunden, Elfriede Jelinek und Alfred Hrdlicka sogar an die KPÖ. Hier wird eine Einzigartigkeit von Bernhards Österreichschelte sichtbar : dass es ihm in einer Zeit, wo Versatzstücke linker Theorien den kritischen Diskurs über Österreich dominierten, auf das Wort Kapitalismus und die Gleichung Kapitalismus / Faschismus verzichten konnte und sich dennoch eine offensichtlich für einen Teil des Publikums nachvollziehbare österreichische Totalität konstruieren konnte. Auch wenn § oder gerade weil § er den Publikumsliebling Kreisky dafür ge- oder missbrauchte. Literaturverzeichnis Althusser, Louis : Ideologie und ideologische Staatsapparate. Berlin 1977. Bernhard, Thomas : Frost. Frankfurt am Main 1972. Bernhard, Thomas : Holzfällen. Frankfurt am Main 1984 Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main, 1988. Bernhard, Thomas : Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Hg. von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber, Berlin 2011. Bretschneider, Rudolf : „Eloge eines Adoranten : Kreiskys dunkle Perioden ausgeblendet“, in : Die Presse, 8.11.2011, S. 27. Dittmar, Jens (Hg.) : Thomas Bernhard, Werkgeschichte. Frankfurt am Main 2002. Fritsch, Gerhard : Fasching. Reinbek bei Hamburg 1967. Lebert, Hans : Die Wolfshaut. Hamburg, Wien 2001. Pfabigan, Alfred : „Thomas Bernhards Heldenplatz : Artists and Societies Beyond the Scandal“, in : Cherlin, Michael/Filipowicz, Halina/Rudolph, Richard L. (Hg.) : The 37 Dittmar, Jens (Hg.) : Thomas Bernhard, Werkgeschichte. Frankfurt am Main 2002, S. 296. 38 Ebd., S. 298. 39 Bernhard : Wahrheit auf der Spur, S. 290.
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Great Tradition and its Legacy. The Evolution of Dramatic and Musical Theatre in Austria and Central Europe. New York 2004, S. 112§121. Pfabigan, Alfred ; „,Modern Times‘ in der Prosa des Thomas Bernhard“, in : Huber, Martin/Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Wissenschaft als Finsternis. Wien 2002, S. 39§ 50. Pfabigan, Alfred : „Heimat bis Du großer Töchter“, in : Lartillot, Françoise/Hornig, Dieter (Hg.) : Jelinek, une repetition ? ± Jelinek, eine Wiederholung ? Zu den Theaterstücken ,In den Alpen‘ und ,Das Werk‘. Bern 2008, S. 27§51. Pfabigan, Alfred : Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment. 2. Auflage. Wien 2009. Wagner, Karl : „Der Glücksfall“, in : Die Presse, 25.09.2010, Spectrum S. IV. Zeitschrift : Kursbuch 45, Wir Kleinbürger, Berlin 1976.
Bernhard Sorg
Natur und Kunst als Matrix des Protestes Geistesaristokratie in Thomas Bernhards Frost
Weg hinauf hinab § derselbe. Heraklit
1 Der Weg hinauf ist der Weg in die Dunkelheit und das Eis. Der Student, zur Erkundung des Malers Strauch, eines Bruders seines Professors an der Medizinischen Fakultät, in das salzburgische Alpendorf entsandt, fährt hinauf in die Kälte und die Klarheit. Im Zug sitzen außer ihm nur Arbeiter und Bauern. Die Natur ist abweisend ; gleichzeitig jedoch die existentielle Grundlage fast aller. Strauch, der Künstler, lebt allein. Die Arbeiter und Bauern betrachten ihn mit scheuer Verachtung ; sie sind für ihn Objekte misanthropischer Welt-Verzweiflung. Die Welt des Dorfes ist die Welt der Primitivität und einer konsequenten Menschenvernichtung. Weder für Strauch noch für den Studenten, den Ich-Erzähler, ist das Dorf, ist die ländliche Sphäre der Unterwerfung unter die unerbittlichen Gesetze des Biologischen und einer kruden Politik, ein Quell der Rekreation oder eine dezidierte Gegen-Welt zum Städtischen, aus dem beide stammen. Der freiwillige Rückzug Strauchs aus dem zivilisatorischen Kosmos der Möglichkeiten und der Enttäuschungen, die temporäre Anbindung des Studenten an den Künstler oder ehemaligen Künstler § sie erweisen sich nicht als Bedingung der Möglichkeit einer Transzendierung der Pseudo-Moderne der Gegenwart, sondern sind Voraussetzungen einer gesteigerten Einsicht in ihre trostloseste Daseinsform, das zeitgenössische Dorf, zwischen Hochgebirge und proletarischem Broterwerb. 2 Das Bergdorf war nie eine Idylle ; das schien nur naturentfremdeten Städtern so. Wer dort oben sein Leben fristen mußte, kam aus Armut, Dumpfheit und diffusen Sehnsüchten kaum je hinaus. In Thomas Bernhards fiktivem Weng § ähnlich und doch nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Dorf in der Nähe Salz-
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Bernhard Sorg
burgs § leben die Bewohner zwischen agrarischer Mühsal und pseudo-moderner Verfallenheit an die ihre Existenz bestimmende Technik. Die Jugend will weg, die Alten haben sich mehr oder minder widerwillig an die Gegebenheiten angepaßt. Der Maler und der Student gehören nicht dazu, aber sie sehen und begreifen die Verzweiflung der Einheimischen, und sie spüren das abgründige Schweigen der kalten und einschüchternden Natur. Diese Natur ist den Bewohnern Material zum Lebenserhalt, ein sie ständig bedrohender und physisch erschöpfender Gegensatz. Die beiden aus der Stadt kommenden Geistesmenschen erfahren das Dorf als depravierte Zivilisation. Nur weil ihnen, aus vielerlei Gründen, die Natur ein Objekt ästhetischer Anschauung sein kann, sind sie in der Lage, in willensreiner Anschauung diesen Gegensatz nicht nur zu erfahren, sondern auch zu beschreiben, in der Sprache der Kunst und der Philosophie, in der des Pascal und der des Henry James. Es ist die paradigmatische Perspektive des modernen Intellektuellen. Freilich bedeutet dies auch, in der Fremdheit der biologischen Natur ein schlechterdings Anderes zur zivilisatorischen Formung und Ver-Formung zu konzipieren. Natur und Zivilisation treten unversöhnlich auseinander ; während die Dominanz der Technik in der Moderne ihre hierarchische Suprematie logisch fordert und folglich in der großen Erzählung vom „Fortschritt“ ihren ideologischen Triumph feiert, bewahrt die romantische Idee einer vergöttlichten Natur ihr subversives Potential als unhintergehbare Sphäre einer höheren als der kulturellen, der menschengeschaffenen Ordnung. Während für den Bauern die ihn umgebende Natur gleichzeitig feindselig und lebenserhaltend ist § ich spreche von einer Zeit vor den staatlichen und überstaatlichen Subventionen unserer Gegenwart § erhält sie für den Intellektuellen die Würde eines ästhetischen Objekts und eines dämonischen Gegenüber. In keinem Fall ist eine materielle Beziehung damit verbunden. Stattdessen changiert die Natur-Erfahrung des Geistesmenschen zwischen interesselosem Wohlgefallen und einem objektiven Echoraum der subjektiven Verfallenheit an den Abgrund der eigenen Existenz. Aber nur aus der Distanz zum Empirischen entsteht eine Welt der Reflexion und der Kunst, entsteht die Sprache der Poesie im Sinne des von Bernhard so verehrten Frühromantikers Novalis. Eine Sprache der Poesie, die die Sprache von Bernhards erstem Roman zu imitieren intendiert. 3 Die Moderne, die technisch dominierte Zivilisation der Maschinen und des gesellschaftlichen Konformismus, erscheint auch in Frost als Manifestation
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einer Entfremdung von den Quellen des Geistigen. Bernhard verwandelt die ursprünglich religiöse Fundamental-Kategorie der Entfremdung in ein lediglich durch Philosophie und Literatur auszusprechendes misanthropisches Leiden an der Welt, von dem offen bleibt, ob es auch nur tendenziell aufhebbar ist. Entfremdung meinte einstmals, also in religiös grundierten Zeiten, die Distanz des sündigen Menschen von der einzig zu erhoffenden Gnade Gottes. In der Romantik wird es säkularisiert zur Fremdheit des Denkenden gegenüber der nach innerweltlicher Logik funktionierenden Empirie. Die durch Carl Marx zur Fundamental-Kategorie seiner Erlösungs-Theorie der industrie-kapitalistischen Epoche emporgestemmte Entfremdung des Arbeiters von den Produkten und dem Gewinn seiner Arbeit hallt in einem langen Echo bis in unsere Gegenwart nach. In Thomas Bernhards Texten vollzieht sich die Deskription der und das Leiden an der Entfremdung in Gestalt des weltflüchtigen Misanthropen, des alle durchschauenden und alles aburteilenden Beobachters, der nur dann bei sich ist, wenn er sich radikal von den anderen separiert hat. Der Bernhardsche Menschenfeind erfüllt die klassische Aufgabe des literarischen Misanthropen seit Shakespeares Timon of Athens, in einem konsequent dichotomischen Weltmodell die Verfallenheit der Vielzuvielen, deren Zahl schon Frevel ist (eine Formulierung Stefan Georges), an das Seiende als das Falsche zu kontrastieren der intellektuellen Suprematie seiner selbst. Was nicht bedeutet, daß dadurch sein Leiden an der Gesellschaft aufgehoben wäre. Eher im Gegenteil wird es gesteigert zum Ekel an aller Existenz, zum Ekel an der mißratenen Schöpfung. Aber da Bernhards Protagonisten zu sagen in der Lage sind, woran sie leiden, wird aus dem Misanthropen ein Aristokrat der Sprache, der in Begriff und Metaphorik das Werk des Demiurgen in den Grund und Boden seiner künstlerischen Welt zu stampfen den Willen und meistens die Kraft hat. 4 Damit läßt er die Logik des Empirischen unter sich. Malerei war die künstlerische Ausdrucksform Strauchs ; jetzt wehrt er sich gegen die elementar verderbte Gesellschaft mit den Mitteln einer teils präzise beobachtenden, teils poetisch aufgeladenen Sprache. Das Medizinstudium des jungen Mannes ist ein Zeichen jener freilich diffusen Hoffnung, individuelle wie kollektive Krankheiten könnten geheilt werden, eine Hoffnung, deren Scheitern in der Vater-Figur Strauch inkorporiert ist. Die Lektüre von Pascal und Henry James deutet dagegen auf eine
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Sphäre jenseits der innerweltlichen Lösungen oder Lösungsversuche : deutet auf den Kosmos der Theologie, der Philosophie und die der Literatur. Weder Strauch noch der Student § gezeichnet nach den empirischen Vorbildern Johannes Freumbichler und dem jungen Thomas Bernhard § rebellieren in offenem Kampf gegen eine Welt, die sie als kalt, unbarmherzig und beherrscht von Stumpfsinn und Brutalität empfinden. Die Bergbauern, sowieso schon partiell proletarisiert nicht nur durch den Bau eines Staudamms in der Nähe, erhoffen von den geschichtlichen Bewegungen bestenfalls eine minimale individuelle Verbesserung ihrer materiellen und sozialen Lage. Die jahrhundertelange Herrschaft der Salzburger Fürstäbte, bis 1816, und die der Habsburger, noch ein weiteres Jahrhundert, haben den Untertanen das sprichwörtliche Rückgrat gebrochen ; anstelle einer Mentalität der politischen Selbstbehauptung, deren letzte Spuren in der Gegen-Reformation des 17. Jahrhunderts mit beträchtlicher und noch lange nachhaltig wirkender Härte gebrochen wurde, tritt eine individuelle Geducktheit und jene spezifische Mischung aus Mißtrauen, Schweigsamkeit und Hinterhältigkeit, die zwar charakteristisch ist für Bergbauern aller Länder, aber hier verstärkt und zugespitzt ist durch verlorene Kriege, Armut und, entgegen aller politischer Propaganda, Perspektivelosigkeit. Aus der Enge der sozialen, religiösen und sexuellen Zwänge gibt es auch für Strauch keinen lebensweltlichen Ausweg. Es öffnet sich einzig ein Weg in immer höhere Grade der Abstraktion, des Schmerzes und der Einsamkeit. Der ganze Roman handelt von diesem Sturz in die totale Erschöpfung, begleitet von der Einsicht des Studenten, daß es weder für Strauch noch für ihn eine Heilung geben kann. Strauch geht den Weg hinauf in das Eis des Gebirges, in den Tod, hinab in die finale Auslöschung. Dem Studenten bleibt nur die Rückkehr in sein Studium, mit ungewissem Ausgang. 5 Der Gewalt des Kreatürlichen, also der ungezähmten Natur und der ihr ausgelieferten Menschen, kann sich nur entziehen, wer, neben materieller Unabhängigkeit, die Stufe zivilisatorischer Abstraktion in Anschauung und Interpretation der Verhältnisse erklommen hat. So wird oder kann werden aus dem Zwang der Kontingenz eine neue Freiheit aus dem Geist der willensreinen Intellektualität. Es entsteht freilich dadurch kein verändernder Eingriff in die materiellen Zwänge, wohl aber eine temporäre Erleichterung der somatischen, psychischen und sozialen Schmerzen.
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Das Sprechen Strauchs weist bereits hier die Spezifika auch der späteren Prosa Bernhards auf : die eigenwilligen Komposita, die apodiktisch herausgestossenen Urteile, die beinahe allesamt Ver-Urteilungen sind, das Monomanische der WeltPerspektive, und die Unfähigkeit des Künstlers oder ehemaligen Künstlers zu gleichberechtigter Diskussion. Der Zuhörer ist einzig dazu da, um zuzuhören. Das gilt für das gesamte Werk, von Frost bis zu Alte Meister und Auslöschung. Auch in den Theaterstücken gibt es keine genuinen Dialoge ; der jeweilige Antagonist liefert entweder mehr oder minder entbehrliche Stichwörter oder treibt durch seine stumme, verweigernde Haltung den Protagonisten in immer neue Stadien verbaler Uferlosigkeit, man könnte auch sagen : in neue Ausbrüche von Logorrhöe. Der den ganzen Romantext durchziehende Monolog Strauchs § und es ist nur ein einziger, punktuell vom Studenten unterbrochener Redestrom, ähnlich dem Sauraus in Verstörung § wird grundiert von einem manischen Willen zur Poetisierung der prosaischen und objektiv sinnlosen düsteren Weltverhältnisse. Poetisierung bedeutet § ganz im Sinne des ofterwähnten und das Œuvre Bernhards konditionierenden Frühromantikers Novalis § eine intensive Durchdringung von Realität und Phantasie, Empirie und Kunst, ist eine Steigerung des Alltäglichen bei gleichzeitiger Herabziehung der transzendenten Überschreitungen. Mit Poetisierung ist folglich keine Verklärung des Trivialen gemeint, sondern eine Entstehung der Literatur aus dem Geist autonomer Kreativität. Alle Prosatexte Bernhards § die frühen am eklatantesten § stoßen sich ab von der Faktizität und Brutalität einer pragmatischen Logik der Weltbewältigung und finden ihre Kraft in einer eigenständigen Poetik des autonomen Künstlers und seiner Produktivität. Für die Bildlichkeiten der Reden Strauchs, seine Vergleiche und Metaphern, gibt es keine Garantie des Gelingens, seine Entwürfe sind Würfe in einen echolosen Außenraum. Auch deshalb sind die Sätze des jungen Studenten lediglich Ein-Würfe in einer Sprache ohne Gegenüber und ohne Resonanz. Der Überwältigung durch den Künstler § daß Strauch aufgehört hat zu malen, bedeutet in diesem Kontext nichts § entzieht sich der Student, indem er abreist. Es ist seine Reise hinab, und das bedeutet : in den Alltag des Medizinstudiums, einer Wissenschaft, der Strauch als geisteskrank gelten dürfte, zumindest als borderline case. Von einer Natur als Gestalt poetischer Imagination und eines elementaren existentiellen Protestes will die Welt der Natur-Wissenschaften und auch die der Menschen-Wissenschaften nichts wissen, geschweige denn etwas von ihr lernen. Die medizinischen Lehrbücher und die Prosa des Henry James vertragen sich schlecht, stehen beziehungslos nebeneinander.
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6 Keine Poetik des Erzählens, nicht einmal Ansätze davon, findet sich im Roman. Deutlich wird, daß die Kunst im Werk Bernhards keine theoretische Fundierung in irgendeiner Form des Realismus besitzt. Die empirische Außenwelt, das Politische, Soziale und Technische, dienen lediglich als Staffage. Der Kern ist idealistisch ; und das bedeutet : eine Konstruktion aus dem Geist des Geistigen. Was nicht bedeutet, daß die beiden Protagonisten sich der Außenwelt prinzipiell verweigern, wohl aber, daß der Protest gegen das Seiende sich jenseits des Empirischen abspielt, in der Sphäre und der Logik der Kunst. Daran kann man scheitern, so wie Strauch gescheitert ist. Aber Bernhards Text ist der Beweis, daß im Raum der Kunst, im Raum der Literatur, auch Momente eines temporären Gelingens möglich sind. 7 Aristokratie heißt : Herrschaft der Besten. (Man sieht, wie weit sich die heutige Bedeutung von der ursprünglichen entfernt hat.) In Frost entsteht, auch dies in der poetologischen Tradition der Romantik, ein Kosmos des aristokratischen Widerstandes : aus einer Vergeistigung der Natur und einer naturwüchsigen Notwendigkeit des Geistes, hier der Kunst. Die beiden einsamen Intellektuellen in der bäuerlich-proletarischen Welt des Gebirges verkörpern die für Bernhard einzig mögliche Form der modernen Aristokratie, den sogenannten Geistesmenschen. Daß der dann in Verstörung, 1967, ein fiktiver Fürst ist § der Adel wurde bekanntlich in der Republik Deutsch-Österreich 1919 abgeschafft § dürfte sich eher der vergleichbaren Konstellation in Tomaso di Lampedusas Il Gattopardo, 1958, verdanken als einer inneren Notwendigkeit. Wie auch immer : Der namenlose Student und Strauch inkorporieren jene Form des Protestes gegen die zeitgenössische Verfallenheit an das Seiende, die einzig aus einer radikalen Autonomie Kraft zur Selbstbehauptung schöpft. Eine lebensweltliche Balance auf diesen Prämissen herzustellen ist freilich prekär und erweist sich schließlich als unmöglich. Am Ende trennen sich die Wege der beiden : Strauch geht hinauf ins Hochgebirge und in den Tod. Der Student fährt hinab in seine Welt der Wissenschaft und des Alltags. Das Außerordentliche, die Begegnung in Weng, bleibt eine unwiederholbare Ausnahme. Weng bedeutet einen an sich unmöglichen Zusammenfall der Gegensätze, in jeder Hinsicht. Der Roman verbildlicht : Weg hinauf hinab § derselbe. Auch der Weg hinab ist einer in die Dunkelheit und das Eis.
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Erregtes Ich und dezisionistische Ästhetik Die Auseinandersetzung mit der offenen Gesellschaft im Werk Thomas Bernhards
Der Tod ist mein Thema, wie auch Ihr Thema der Tod ist … also rede ich über das Leben, deute ihn an, den Gegenwartsstumpfsinn zum Beispiel, zum Beispiel die katastrophale Unfähigkeit dieser Regierung, diesen ganzen großen Regierungsskandal, den wir jetzt mitmachen…die ganze Absurdität der Demokratien zum Beispiel […]1
Der Tod besitzt für Thomas Bernhard die Qualität einer obersten Evidenz, im Namen derer er seine Umwelt be- und verurteilt. Der Blick auf die Welt durch die Brille des Todes hat daher auch eine politische Dimension, denn er dient Bernhard offenkundig als Einwand gegen eine plurale, demokratisch organisierte Gesellschaft. Ausgehend von der Passage aus der geplanten Anton-WildgansPreisrede soll hier erfragt werden, inwiefern es sich bei der Haltung des ‚memento mori‘ um eine ästhetisch-ideologische Tiefenstruktur von Bernhards Werk handelt, welche politische Haltung sich daran knüpft und mittels welcher Verfahren Bernhard diese literarisiert, eventuell aber auch literarisch problematisiert. Mit einem solchen Erkenntnisinteresse handelt man sich eine erhebliche Schwierigkeit ein, denn Bernhard war darum bemüht, das Beziehen konkreter Standpunkte, insbesondere politischer, tunlichst zu vermeiden, und hat auch die Differenz zu seinen Figuren angemahnt. Gegenüber Werner Wögerbauer gibt er 1986 zu Protokoll : „Ich bin ja nicht meine Figuren […]. Da müßt ich mich ja schon hundertmal umgebracht haben und ein Ausbund an Perversität von fünf Uhr früh bis zehn Uhr Nacht sein.“2 § Aber auch Bernhards Interviews sind nur begrenzt als Quelle konsistenter (politischer) Ansichten brauchbar, denn diese unterliegen bei ihm einer starken Selbststilisierung und kreieren häufig eine be1 Bernhard, Thomas : „‚Der Wahrheit und dem Tod auf der Spur‘“, in : Bayer, Wolfram/Fellinger, Raimund/Huber, Martin (Hg.) : Thomas Bernhard ± Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Frankfurt am Main 2011, S. 71§78, hier S. 75. 2 Bernhard, Thomas : „Leute, die ein Gespräch führen wollen, sind mir verdächtig“, in : Bayer/Fellinger/Huber (Hg.): Thomas Bernhard ± Der Wahrheit auf der Spur, S. 244§264, hier S. 253.
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stimmte Autorimago, nämlich die des politisch-unabhängigen Intellektuellen, der nicht festzulegen und über Parteilichkeit und Staatssubventionen erhaben ist. Einen Anhaltspunkt für die Frage nach der ‚Politizität‘ von Bernhards Texten bietet dagegen eine andere auffällige Werk-Eigenheit : Trotz seiner Warnung vor der Gleichsetzung von Autor und Figuren, unterscheiden sich die Monologe seiner Figuren, insbesondere in den Romanen der 1980er-Jahre, inhaltlich und formal kaum von seinen öffentlichen Äußerungen.3 Zudem nehmen die Hasstiraden gegen den Staat als Kerker und gegen den Stumpfsinn der Österreicher so breiten Raum in seinem Werk ein, dass man nicht umhin kommt, starke weltanschaulichen Parallelen zwischen Bernhard und seinen Protagonisten zu unterstellen. Bei einem Autor, der über Jahrzehnte hinweg und auf tausenden von Seiten monomanische Figuren-Monologe erfindet, muss man wohl von einer nicht unerheblichen Nähe zwischen dem Autor und den Weltdeutungsmustern seiner Protagonisten ausgehen.4 So etwa im Falle der Österreich-Schelte in Alte Meister : Atzbacher und Reger behaupten, dass Österreich ein totalitärer Staat sei, der dem Einzelnen die Freiheit entzieht, in dem es „kein freies Kind“ gibt und in dem „nur Staatskinder“ geboren werden.5 Politik in Österreich sei nichts als ein „ekelerregende[s] Demokratiegefasel“,6 wobei Demokratie und politische Pluralität vor allem mit Verlogenheit identifiziert werden : „[N]icht nur die Regierung ist verlogen und verheuchelt und gemein und niedrig, auch das Parlament ist es“.7 „Noch nie hat es eine so scheußliche und niedrige österreichische Gesellschaft mit einem so scheußlichen und niedrigen Staat in diesem Land gegeben“.8 Das sagt zwar eine Bernhard-Figur, aber der Autor sagt es so oder so ähnlich auch, etwa in Leserbriefen und Feuilletonbeiträgen wie Politische Morgenandacht9 oder 3 So auch Billenkamp, Michael : Thomas Bernhard. Narrativik und poetologische Praxis. Heidelberg 2008, S. 385. 4 Vgl. Petersdorff, Dirk von : „Spaßmacher und Ernstmacher“, in : Béhar, Pierre (Hg.) : Glück und Unglück in der österreichischen Literatur und Kultur. Internationales Kolloquium an der Universität des Saarlandes, 3.± 5. Dezember 1998. Bern et al. 2003, S. 275§292, hier S. 285. 5 Bernhard, Thomas : Alte Meister. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2008 (= Werke, Bd. 8), S. 37. 6 Ebd., S. 133. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 149. 9 „Auf der Öde der Republik herrschen abwechselnd unter den entsetzlichsten und perfidesten Geisteszuständen die Niedertracht und der Stumpfsinn“ § Bernhard, Thomas : „Politische Morgenandacht“, in : Bayer/Fellinger/Huber (Hg.): Thomas Bernhard ± Der Wahrheit auf der Spur, S. 40§45, hier S. 41f. „[A]us einer grandiosen weltpolitischen Verlegenheit der einzelnen sowie
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Die Kleinbürger auf der Heuchelleiter.10 Obwohl Bernhard und seinen Figuren bei ihren Österreich-Invektiven die Superlative besonders leicht von der Hand gehen, bleibt jedoch häufig unausgesprochen, wogegen diese überbordende AustroAversion sich in nuce eigentlich richtet, was denn so unerträglich ist am Österreich der 1970er und 80er. I. Bernhards Verhältnis zur offenen Gesellschaft Mit zunehmender historischer Distanz wird immer deutlicher, dass Bernhard und seine Figuren ein einigermaßen verzerrtes Österreich-Bild vermitteln oder dass ihre Österreich-Invektiven, gemessen am tatsächlichen Zeitgeschehen, zumindest als unverhältnismäßig gelten können : Ein Großteil von Bernhards Texten entsteht in den 1970er- und frühen 80er-Jahren, unter dem SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky. Die Ära Kreisky ist zwar, gerade Anfang der 1980er-Jahre zunehmend von Affären dominiert, in die auch sozialdemokratische Politiker verwickelt waren, dennoch erlebt die ‚Zweite Republik‘ unter Kreisky ihren bis dahin massivsten Modernisierungs- und Demokratisierungsschub.11 Kreiskys langfristig prägendste Reform war seine Justizreform in den 1970er-Jahren : Die Strafandrohung gegen homosexuelle Betätigung wird abgeschafft und die sogenannte ‚Ehestörung‘ entkriminalisiert. Der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate wird straffrei gestellt, das Jugendstrafrecht wird reformiert, ein Schulunterrichtsgesetz eingeführt, das Eltern und Schülern zahlreiche Mitbestimmungsmöglichkeiten einräumt, und das Universitäts-Organisationsgesetz verabschiedet, das die Entscheidungsprozesse an den österreichischen Hochschulen demokratisiert. der Masse heraus, hat sich […] in Österreich eine Gesellschaft der in allen Farben schillernden Dummköpfe etabliert, die im Schutze von tausendfältigen sogenannten demokratischen Blasphemien über Recht und Gesetz entscheidet […]“ § Ebd., S. 44. 10 „[D]ie heutige Zeit ist für mich die abstoßendste, erbarmungsloseste, die jemals auf dieser Welt experimentiert hat […]. Das Parlament des heutigen Österreich ist […] ein luxuriöser und kostspieliger, lebensgefährlicher Wurstelprater, und die Regierung ist eine ebenso teure Dummköpfelotterie“ § Bernhard, Thomas : „Zum österreichischen Nationalfeiertag 1977“, in : Bayer/Fellinger/ Huber (Hg.): Thomas Bernhard ± Der Wahrheit auf der Spur, S. 138§140, hier S. 138f. 11 Vgl. Rathkolb, Oliver : „Die Kreisky-Ära 1970§1983“, in : Steininger, Rolf/Gehler, Michael (Hg.) : Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Bd. 2 : Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Wien, Köln, Weimar 1997, S. 305§353 ; Niederstätter, Alois : Geschichte Österreichs. Stuttgart 2007, S. 250§253.
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Wenn Bernhards Figuren also immer wieder gegen die Niedrigkeit und Scheußlichkeit Österreichs polemisieren, dann formulieren sie damit auch ein Ressentiment gegenüber der massiven Demokratisierung und Modernisierung der ‚Zweiten Republik‘ und gegenüber einer Liberalisierung und Verwestlichung des kulturellen Klimas in Österreich. Bernhard-Figuren zeichnen sich durch eine starke Skepsis gegenüber dem Modell der offenen Gesellschaft aus, wie es gerade mit den Reformen in der Ära Kreisky für breite Bevölkerungsschichten zur Erfahrungstatsache wird. In einer offenen Gesellschaft gibt es kein Sinnmonopol, voneinander unabhängige gesellschaftliche Teilbereiche differenzieren sich aus, z.B. Moral, Wirtschaft und Politik. In offenen Gesellschaften büßen aber auch die Erfahrungen der Einheit und Unverwechselbarkeit der eigenen Person, also die Erfahrungen von Identität und Individualität, ihren Selbstverständlichkeitsstatus ein und werden zum Problem. Das Fehlen gesamtgesellschaftlicher Sinnmonopole verlangt vom Einzelnen die Fähigkeit zum Rollenhandeln innerhalb verschiedener Teilsysteme. Identität ist in der Moderne nicht mehr durch, sondern nur jenseits von gesellschaftlichem Handeln erfahrbar, aber eben auch nicht als permanenter Halt, sondern nur in einem dynamischen Prozess der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Keinem von Bernhards Geistesmenschen gelingt ein solcher versöhnlicher Umgang mit der offenen Gesellschaft. Stattdessen konstruieren sie sich radikale Exklusionsindividualitäten, ziehen sich in Schlösser, Dachkammern, Kalkwerke, Jagdhäuser etc. zurück und führen intellektuelle Außenseiterexistenzen. Zumeist sind sie auch gar nicht auf die Gesellschaft und eine Berufstätigkeit angewiesen, denn viele Bernhard-Figuren haben geerbt oder leben in finanzieller Unabhängigkeit. Sie legen zudem einen ausgeprägten Wahrheitsfanatismus an den Tag und nehmen für sich in Anspruch, im Besitz eines Sinnmonopols zu sein. Einer der zentralen Codes, anhand dessen sie ihre Umgebung beobachten, ist die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit. Im Namen exklusiver Wahrheit prangern sie die Verlogenheit der Gesellschaft an. Wahrheit und Lüge, Sein und Schein, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Genialität und Stumpfsinn etc., das sind tradierte Topoi, mit denen schon viele Intellektuelle um 1900 und in den 20er-Jahren den Modernisierungsschock zu bewältigen versucht haben. Bernhards Figuren reaktivieren insofern die typische, gegen die offene Gesellschaft gerichtete Negations- und Widerstandsrhetorik der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit.12 Eine offene Gesellschaft ohne 12 Bernhard Sorg hat zudem darauf aufmerksam gemacht, dass Bernhards Texte zwar in der unmittelbaren Gegenwart spielen, dass bei den Bernhard-Figuren aber eine „eigentümliche Archaik ihrer
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Sinnmonopol sei fatal, erklärt etwa der Rechtsanwalt Moro in Ungenach : „die Demokratie, in welcher der größte Dummkopf das gleiche Stimmrecht und das gleiche Stimmgewicht hat wie das Genie, ist ein Wahnsinn“. 13 Die plurale Gesellschaft mache krank, denn der Mensch sei nicht dafür gemacht, eine verlogene Rollen-Existenz zu führen und fortwährend Theater zu spielen. Der Österreicher steht bei Bernhard insofern stellvertretend offenbar auch noch für etwas anderes, fungiert als Paradigma des modernen Menschen schlechthin, der in einer Gesellschaft ohne Sinn nur Theater spielt und daran letztlich zugrunde geht. In Alte Meister erklärt Reger : „Der Österreicher ist immer ein gescheiterter Mensch […]. Der Österreicher ist der geniale Vormacher, der genialste Theatermacher überhaupt […], er macht alles vor, ohne es jemals in Wahrheit zu sein, das ist das Allercharakteristischste an ihm“.14 II. Bernhards Dezisionismus Bernhards Ressentiments gegenüber der Moderne und Österreich gehen deutlich über eine reine Kritik am Weiterwirken des Nationalsozialismus in der ‚Zweiten Republik‘ hinaus. Seine Negationsrhetorik erinnert vielmehr an eine bestimmte Denkstiltradition der nihilistischen Gegenmoderne, nämlich an den Dezisionismus. Helmut Rath hat darauf aufmerksam gemacht, dass Bernhards Figuren in ihrer Moderne-Abwehr dem Dezisionismus Carl Schmitts ähneln, ohne dass äußeren Lebenswelt“ auffällt § vgl. Sorg, Bernhard : Thomas Bernhard. 2. neubarbeitete Aufl. München 1992, S. 171§173, hier S. 171. Sorg führt dies auf Bernhards starke Prägung durch seinen Großvater Freumbichler zurück, dessen misanthropisches Weltbild auf einer Ideologie der Tat und radikalen Dichotomien wie Lüge und Wahrheit etc. basiert. Der Enkel Thomas lässt sich von der Radikalität dieses Weltbildes begeistern und bildet in seinen Texten daher nicht nur die weltanschauliche Perspektive des Großvaters ab, sondern auch dessen Lebenswelt, die Welt der Jahrhundertwende und der 1920er-Jahre, den Zeitgeist der Gegenmoderne und des Modernisierungsressentiments : Sorg verweist auf das auffällige Fehlen von moderner Technik in Bernhards Textwelten. Auch die archaischen Familienstrukturen und die pluralisierungskritischen politischen Ressentiments vieler Bernhard-Figuren erinnern eher an das frühe 20. Jahrhundert als an die 1970er- und 80er-Jahre : „Das mythische Jahr 1968 ist spurlos an den Menschen in Thomas Bernhards Werk vorbeigegangen.“ § Vgl. die Präzisierung und Erweiterung seiner These in : Sorg, Bernhard : „Ein kurzgefasster Einwurf als Nachwort“, in : Götze, Clemens : „Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt“. Studien zum Werk Thomas Bernhards. Marburg 2011, S. 193§196, hier S. 195. 13 Bernhard, Thomas : Erzählungen II. Hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2006 (= Werke, Bd. 12), S. 24. 14 Bernhard : Alte Meister, S. 151f.
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man dabei von einem Rezeptionsphänomen sprechen kann.15 Beim Dezisionismus handelt es sich um eine politische Theorie, die sich aus erkenntnistheoretischer Skepsis speist. Eine Letztbegründung, insbesondere von Moral und Recht, ist nicht möglich, weil es sich bei den letzten Gründen nicht um Argumente, sondern um Entscheidungen handelt. Auch der moderne Staat kann sich nicht selbst begründen, denn er beruht auf einer Entscheidung, die man getroffen hat, um den Ausnahme- und Naturzustand, den Kampf aller gegen aller, zu verrechtlichen. Man kann vom Standpunkt des Dezisionismus aus einer säkularen offenen Gesellschaft daher ihre Substanzlosigkeit, ihr verlogenes Gemacht-Sein und ihre Künstlichkeit vorwerfen, da sie ‚von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann‘ (Böckenförde-Diktum).16 Das Verdikt des Stumpfsinns bezieht sich in Bernhards Textwelten also auch auf diejenigen, die die Substanzlosigkeit gesellschaftlichen Handelns verdrängen, die die Gesellschaft ernst und nicht zur Kenntnis nehmen, wie lächerlich und verlogen alles ist. Vom normalen Relativismus unterscheidet sich der Dezisionismus Carl Schmitts und Bernhards allerdings dadurch, dass seine erkenntnistheoretische Skepsis selbst auf einer bestimmten für wahr gehaltenen Norm ruht, nämlich auf der Idee des Ausnahmezustands.17 Vom Standpunkt des Ausnahmezustands kann man die Substanzlosigkeit und das künstliche Gemacht-Sein des Normalzustands behaupten, d.h. der Zivilisation und des Staats. In Hinsicht auf den Ausnahmezustand als Wahrheit ist alles andere nur Lüge. Bei Bernhard bindet sich der Ausnahmezustand seiner Figuren, die radikale „Entschiedenheit ihres Lebensgefühls“,18 ihre kompromisslose Unterscheidung zwischen Freund und Feind, Wahrheit und Lüge, darüber hinaus an eine bestimmte Idee, nämlich die vom ‚Sein zum Tode‘ :19 Wer dem ‚memento mori‘ eine Dauerpräsenz im eigenen Denken einräumt, für den gibt es keinen Normalzustand, für den gibt es kein routiniertes Rollenhandeln, denn wer das Leben nur von seinem tödlichen Ende her denkt, der kann nichts ernst nehmen, weil alles abstirbt. Unter Verweis auf dieses dezisionistische Ideologem existenzieller Entschiedenheit kann man Bernhards Verhältnis zum österreichischen Staat in der Ära Kreisky noch konkreter beschreiben : Bruno Kreiskys Reformen transformieren 15 Rath, Helmut : „Thomas Bernhard und Carl Schmitt“, in : Arnold, Heinz Ludwig (Hg.) : Text+ Kritik. Heft 43 : Thomas Bernhard. 3. Auflage (Neufassung). München 1991, S. 30§41. 16 Böckenförde, Ernst-Wolfgang : Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main 1976, S. 60. 17 Vgl. Rath : Thomas Bernhard und Carl Schmitt, S. 32. 18 Ebd., S. 34. 19 Vgl. ebd.
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Österreich zum Wohlfahrtsstaat, weshalb die Zeitgenossen ihren Regierungschef oft mit einem spätjosephinischen Sonnenkönig vergleichen. Bernhard greift diese zeitgenössische Kreisky-Panegyrik auf, um den Kanzler zu attackieren, und degradiert ihn 1981 in der Zeitschrift profil zum „Höhensonnenkönig“.20 Solche skandalträchtigen Angriffe auf die sozialdemokratische Elite sind offenkundig auch durch Bernhards dezisonistische Ideologeme motiviert, denn diese vertragen sich mit dem unter Kreisky realisierten Modell des liberalen Wohlfahrtsstaats denkbar schlecht : Staatliche Wohlfahrt schläfert ein, erzeugt ‚Stumpfsinn‘ und verhindert ein Leben in höchster todesbewusster Intensität. 21 Schon in seinem Wort an junge Schriftsteller (1957) hatte der gerade einmal 25-jährige Bernhard seine jungen Kollegen zum Verzicht auf staatliche Subventionen aufgerufen : Sie bräuchten keine „Krankenversicherungen und Stipendien, Preise und Förderungsprämien“, sondern „nichts als das Leben selbst“.22 Nur wer im Ausnahmezustand lebt und hinter allen Lebensäußerungen den Tod erblickt, für den ist jeder Augenblick eine existenzielle Entscheidungssituation und er lebt, so behaupten es die Bernhard-Figuren, wahrer und intensiver : „Wir können solange in der höchsten Intensität existieren, als wir sind“23, notiert Roithamer in Korrektur kurz vor seinem Selbstmord. Nicht anders als seine Figur, sieht es auch der Autor Bernhard, der 1977 in seinem Nachruf auf Carl Zuckmayer proklamiert : Der Tod ist das Ziel § in diesem Gedanken intensivieren und motivieren wir unser Leben. Der Tod ist uns die Existenzbestätigung durch die lebenslängliche Unnachgiebigkeit, Unermüdlichkeit, Unbestechlichkeit. Worin wir selbst, auf unser einziges Ziel, auf den Tod bezogen, in Wahrheit und Wirklichkeit existieren ist (zuerst) nichts als die Todesangst, dann die Todesbereitschaft, schließlich das Todesbewußtsein.24
Auch Bernhards Preisreden kreisen immer wieder um das ‚memento mori‘ und das damit verbundene kulturkritische Interesse am Ausnahmezustand. Zu Be20 Bernhard, Thomas : „Der pensionierte Salonsozialist“, in : Bayer/Fellinger/Huber (Hg.): Thomas Bernhard ± Der Wahrheit auf der Spur, S. 204§208, hier S. 206. 21 Vgl. dazu auch den Beitrag von Alfred Pfabigan in diesem Band. 22 Bernhard, Thomas : „Ein Wort an junge Schriftsteller“, in : Bayer/Fellinger/Huber (Hg.): Thomas Bernhard ± Der Wahrheit auf der Spur, S. 29§31, hier S. 29. 23 Bernhard, Thomas : Korrektur. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2005 (= Werke, Bd. 4), S. 318. 24 Bernhard, Thomas : „Verehrte Anwesende“, in : Bayer/Fellinger/Huber (Hg.): Thomas Bernhard ± Der Wahrheit auf der Spur, S. 135§136, hier S. 135.
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ginn seiner skandalträchtigen Staatspreisrede fällt sein wohl bekanntester Satz : „[E]s ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“25 Und bei der geplanten Anton-Wildgans-Preis-Rede handelt es sich nachgerade um eine ‚memento mori‘-Kampfschrift, in der gebetsmühlenartig an das Todesbewusstsein der Zuhörer appelliert wird : „und ich erinnere Sie noch einmal nachdrücklich an den Tod, daran, daß alles mit dem Tode zu tun hat, vergessen Sie den Tod nicht … vergessen Sie ihn nicht, vergessen Sie ihn nicht …“.26 Will Bernhard wirklich, dass wir den Ausnahmezustand zur Regel machen, permanent in der höchsten Intensität leben und unfähig zum routiniert-stumpfsinnigen Rollenhandeln werden, weil angesichts des Todes alles lächerlich ist ? Offenkundig schon, denn gerade in den Preis- und Trauerreden oder in Texten wie der Politischen Morgenandacht und Die Kleinbürger auf der Heuchelleiter fehlen erkennbare Signale, die jene basalen Ideologeme relativieren, auf denen Bernhards Denken beruht. Was er hier sagt, hat er nie widerrufen.27 III. Ästhetik des selbstreflexiven Dezisionismus in Holzfällen und Alte Meister Auffällig ist jedoch ein gewichtiger Unterschied zwischen dem empirischen Autor Thomas Bernhard, der sich publizistisch, in Reden, Leserbriefen, Feuilletons etc. zu Wort meldet, und Bernhard als dem Autor fiktionaler Erzähltexte. In etlichen seiner publizistischen Stellungnahmen fehlen zwar Relativierungsstrategien, der narrativen Vermittlung seiner Prosa verleiht Bernhard dagegen häufig einen ästhetischen Mehrwert, der sich gegen ihre Inhalte, gegen die weltanschaulichen Positionen seiner monologisierenden Figuren behauptet. Ich will dies exemplarisch an Bernhards späten und wohl auch bekanntesten Romanen Holzfällen. Eine Erregung und Alte Meister demonstrieren : Am Schluss des ‚künstlerischen Abendessens‘, von dem Holzfällen berichtet, bricht sich die ‚Erregung‘ Bahn. Der Burgschauspieler lässt sich zu einer Hasstirade gegen die Künstlichkeit und Verlogenheit der Gesellschaft hinreißen : „[W]ir alle sind in der Künstlichkeit aufgewachsen, in dem heillosen Wahnsinn der 25 Bernhard, Thomas : „Verehrter Herr Minister, verehrte Anwesende“, in : Bayer/Fellinger/Huber (Hg.): Thomas Bernhard ± Der Wahrheit auf der Spur, S. 69§70, hier S. 69. 26 Bernhard, Thomas : „Der Wahrheit und dem Tod auf der Spur“, in : Bayer/Fellinger/Huber (Hg.) : Thomas Bernhard ± Der Wahrheit auf der Spur. Reden, S. 71§78, hier S. 78. 27 Zur Kontinuität bestimmter politischer Ansichten bei Bernhard seit der Politischen Morgenandacht vgl. Pfabigan, Alfred : Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment. Wien 1999, S. 75§85.
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Künstlichkeit“.28 Sein Gegenmodell ist der Ausnahmezustand, die radikale Ausnahme-Existenz in der Natur : „In den Wald gehen, tief in den Wald hinein, […] sich gänzlich dem Wald überlassen“.29 Die Passage ist natürlich doppelbödig : Wenn ausgerechnet ein Schauspieler aus der Rolle fällt und die maskenhafte Verlogenheit der Abendgesellschaft anprangert, dann trägt dessen Natürlichkeitspathos wiederum selbst Züge einer theatralen Inszenierung. Zudem taugt der Burgschauspieler auch nur zum dezisionistischen „ Augenblicksphilosophen“,30 denn seine Erregung dauert lediglich einen kurzen Moment. Dann wird er wieder zum „oberflächliche[n] theatralische[n] Mensch[en]“, 31 der sich „auf die höflichste Weise“32 von den Gastgebern verabschiedet. Seine lediglich punktuelle Erregung führt also eigentlich die Aporien einer dezisionistischen Kulturkritik im Namen des Ausnahmezustands vor Augen, da sich der Ausnahmezustand offenbar nicht zur Regel machen lässt. Wie verhält sich dagegen der Ich-Erzähler ? Als habituell Handelnder in der Welt der Figuren bleibt er vollkommen passiv. Die erste Texthälfte verbringt er im Halbdunkel auf dem berühmten Ohrensessel und beobachtet durch die offenstehende Tür die Vorgänge im Musikzimmer „wie auf einer Bühne“.33 Auch während des anschließenden Fogosch-Essens beteiligt er sich kaum an den Gesprächen und echauffiert sich nur in Gedanken über die Verlogenheit und staatsopportunistische Oberflächlichkeit der Anwesenden, integriert seine gesteigerte Intensität aber nicht in den konkreten Lebensvollzug, bleibt für die anderen Anwesen also selbst nur eine „widerliche Figur“34 und wird nicht zum „philosophischen Menschen“35 der Tat. Der Ich-Erzähler ist ein 52-jähriger Schriftsteller36 und der Schluss des Textes suggeriert, dass man das Gelesene als seine nachträgliche Niederschrift auffassen soll, denn nach dem Verlassen der Auersberger-Wohnung beschließt er, über diesen Abend zu schreiben, die ‚Erregung‘ des Burgschauspielers und seine innere zu verschriftlichen. Einmal gibt er sogar unmissverständlich zu verstehen, dass 28 Bernhard, Thomas : Holzfällen. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2007 (= Werke, Bd. 7), S. 187. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 191. 31 Ebd., S. 193. 32 Ebd., S. 194. 33 Ebd., S. 35. 34 Ebd., S. 190. 35 Ebd. 36 Vgl. ebd. S. 68 und 145.
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es sich bei dem, was man da liest, fiktionsintern um einen schriftlichen Text aus seiner Feder handelt : „Wenn ich diese Sätze des Burgschauspielers nicht noch genau im Ohr hätte, ich würde sie ja heute noch nicht für möglich halten, aber der Burgschauspieler hatte sie genauso gesprochen an diesem Abend, wie sie hier stehen“.37 Parallel zu dieser Verschriftlichungsfiktion signalisiert der Text jedoch zugleich, dass man den Ich-Erzähler als extrem unzuverlässig einzustufen hat, dass er die äußeren und inneren Vorgänge des Abendessens nicht erinnert, sondern mehr oder minder erfindet : Die inneren Vorgänge des Erzählers sind aufs Engste mit den äußeren Vorgängen in der Auersberger-Wohnung verknüpft und werden davon immer wieder in eine neue Richtung gelenkt. Schon allein dadurch, dass die Gastgeberin den Bolero auflegt, verändert sich die Stimmung des Ich-Erzählers und damit sein Gedankenfluss.38 Was dem Erzähler an diesem Abend durch den Kopf geht, ist also in der ausufernden Form, wie er es in seinem 200-SeitenMonolog nachträglich verschriftlicht, eigentlich gar nicht erinnerbar. Der Erzähler konnte das nur einmal so denken, nämlich während des ‚künstlerischen Abendessens‘. Tatsächlich schwankt der schreibende Ich-Erzähler auch immer wieder beim Gebrauch der Zeitformen zwischen der Formel ‚dachte ich‘ und ‚denke ich‘. Insbesondere an zwei Stellen benutzt er seitenlang ausschließlich die Präsensform ‚denke ich‘, nämlich während längerer Reflexionen über sein Verhältnis zum Auersberger39 und zu seiner verstorbenen Freundin Joana.40 Gerade bei der Passage über Auersberger wird klar, hier werden nicht nachträglich die Gedanken des im Ohrensessel sitzenden Ich-Erzählers verschriftlicht, sondern was wir hier lesen, denkt der Erzähler in dieser Form erst während der Verschriftlichung zu Hause, etwa bei Passagen wie : „unser rastloser Webern-Nachfolger, denke ich, unser vielgereister trippelnder Auersberger, unser rastloser Webern- und Grafenkopist, unser Snob- und Geckmusikschreiber aus der Steiermark“.41 Er steigert sich mit stakkato-förmigen Beschimpfungen in eine Erregung hinein, die er über die Formel ‚denke ich‘ explizit an die Erzählerjetztzeit der Verschriftlichung bindet. Der erregte Stil des Erzählers ist also kein Nachhall des ‚künstlerischen Abendessens‘, sondern eine künstliche Stimmung, ein Ausnahmezustand gesteigerter Intensität, 37 Ebd., S. 186. 38 Vgl. ebd. S. 167ff, und auch Hens, Gregor : Thomas Bernhards Trilogie der Künste. ,Der Untergeher‘, ,Holzfällen‘, ,Alte Meister‘. Rochester 1999, S. 101f. und 114ff. 39 Bernhard : Holzfällen, S. 61f. 40 Ebd., S. 85ff. 41 Ebd., S. 61.
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der für das Schreiben erzeugt wird. Der schreibende Ich-Erzähler spielt auf dem Papier Theater, schlüpft in die Rolle seines vergangenen Ichs und erfindet sich den Abend noch einmal neu. Auch andere Textsignale reiben dem Leser die Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers förmlich unter die Nase : Explizit betont der im Ohrensessel Sitzende, dass er sich „mit ein paar Gläsern Champagner betäubt“42 hat, also einigermaßen angetrunken ist. Außerdem ist der Ich-Erzähler stark übermüdet, kann teilweise „vor Müdigkeit kaum [s]eine Augen offen halten“, schläft „aus Erschöpfung“ in dem Ohrensessel sogar „fast eine halbe Stunde“43 ein und verpasst daher den Auftritt des verspäteten Burgschauspielers, der schon da ist, als er wieder erwacht. Trotz seines Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizits ist der Ich-Erzähler in der Lage, sich endlos lange Monologe des Burgschauspielers zu merken und sie später zu verschriftlichen. Schließlich gibt der Ich-Erzähler seitenlang sogar die Dialoge der anwesenden Auersberger-Gäste wieder, behauptet also implizit, sich alles Gesprochene gemerkt und später aufgeschrieben zu haben. Es handelt sich hierbei um eine Technik homodiegetischen Erzählens, die man in der Fiktionalitätstheorie als ‚mimetischen Exzess‘ bezeichnet.44 Gemeint ist damit die Darstellung eines Sachverhalts durch eine fiktive Figur und zwar mit einer Ausführlichkeit und Detailfreudigkeit (vor allem bei der Wiedergabe von Dialogen und Monologen), die das menschenmögliche Erinnerungsvermögen eklatant überschreitet. Durch die Erzähltechnik des ‚mimetischen Exzesses‘ erhält der Bericht der fiktiven Vermittlungsinstanz den Anschein einer perspektivisch stark verzerrten Konstruktion, bei der Erinnerung und nachträgliche Einbildung nicht mehr voneinander unterscheidbar sind. Am Schluss verstrickt der Text den Narrator zudem in einen performativen Selbstwiderspruch : Der Ich-Erzähler behauptet zwar, möglichst schnell nach Hause zu müssen, um die nachhallende Erregung schriftlich zu fixieren. Er läuft aber „in die Innere Stadt hinein“, obwohl er genau in die „entgegengesetzte Richtung hätte laufen sollen“,45 um nach Hause zu kommen. Sein körperlicher Zustand hätte es um „vier Uhr früh“46 wohl ohnehin nicht zugelassen, einen stilistisch und sprachrhythmisch so stilisierten Text, wie den vorliegenden, 42 Ebd., S. 49. 43 Ebd., S. 115, S. 108 und S. 109. 44 Zu dieser Technik homodiegetischen Erzählens vgl. Zipfel, Frank : Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, S. 136§138 und S. 236. 45 Bernhard : Holzfällen, S. 198. 46 Ebd.
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zu erstellen. Außerdem hatte er schon im Ohrensessel beschlossen, sich zu Hause gleich hinzulegen, „und dann den ganzen Tag nicht mehr auf[zu]stehen […], auch die folgende Nacht nicht und vielleicht sogar den nächsten Tag auch nicht und die darauffolgende Nacht auch nicht“,47 so erschöpft war er. Zwischen der erzählten Zeit des künstlerischen Abendessens und der Erzählerjetztzeit der Verschriftlichung sind also mindestens ein paar Tage vergangen. 48 Bei dem vorliegenden Text handelt es sich fiktionsintern mithin um ein künstliches Erregungsschauspiel, das der Ich-Erzähler zu Hause am Schreibtisch inszeniert. Der Ich-Erzähler veräußert den Ausnahmezustand, die gesteigerte Intensität seines Lebensgefühls also nur auf dem Papier und um den Preis einer künstlich gemachten nachträglichen Verschriftlichung. Dieser erschriebene Ausnahmezustand, in dem man die Theatralität und Verlogenheit der Welt anprangert, ist damit selbst nur ein theatrales Rollenspiel. Literatur wird hier offenbar als ein Kompensationsmedium reflektiert : Im konkreten Lebensvollzug kommt man nicht umhin, Rollen zu spielen und an künstlich gemachten Normen festzuhalten. Im fiktionalen literarischen Text kann man sich dagegen künstlich ‚erregen‘, indem man zugleich den Konstruktcharakter dieses Ausnahmezustandes mit kommuniziert. Gerade die spezifische Form der narrativen Vermittlung hat in Bernhards Prosa also wesentlichen Anteil an der literarischen Sinnerzeugung. Das sieht man besonders eindrücklich auch in Alte Meister : Hier kommt es ebenfalls zur Verschriftlichung eines Ausnahmezustandes, einer Erregung, nämlich der des Musikkritikers mit dem halbsprechenden Namen Reger, der sich in langen Hasstiraden gegen Österreich, den Staat, die Gesellschaft, die Justiz, die Zeitungen, ja selbst gegen den Zustand der Wiener Toiletten hineinsteigert. Reger, dessen Frau vor einiger Zeit gestorben ist, formuliert in diesem Ausnahmezustand gesteigerter Intensität auch ein dezisionistisches Bekenntnis, nämlich dass man im „lebensentscheidenden Augenblick“,49 in der Konfrontation mit dem Tod, erkennen müsse, wie hinfällig und zwecklos alles sei. Auch in Alte Meister werden Regers Endlos-Monologe narrativ als ‚mimetischer Exzess‘ vermittelt, denn nicht Reger selbst, sondern der neben ihm auf der Bank im Bordone-Saal sitzende Schriftsteller Atzbacher hat sie nachträglich aufgeschrieben. Schon damit erweist er sich natürlich als unzuverlässig, denn mit der Verschriftlichung von Regers Monologen überschreitet er die Grenzen 47 Ebd., S. 54. 48 Vgl. dazu auch Hens : Thomas Bernhards Trilogie der Künste, S. 122ff. 49 Bernhard : Alte Meister, S. 177.
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menschlichen Erinnerungsvermögens. Alte Meister hat aber noch eine weitere narrative Ebene : Atzbacher ist ein Schriftsteller, der nichts veröffentlicht, sondern seit Jahrzehnten an einem Opus magnum arbeitet. Er ist der „geborene Nichtveröffentlicher“,50 „der Inbegriff des Privatmenschen“,51 wie Reger über ihn sagt. Atzbachers narrative Konstruktion von Regers dezisionistischen Philosophemen ist also eigentlich gar keine öffentliche Verteidigung eines bestimmten weltanschaulichen Standpunkts, sondern reine Privatmeinung. Erst ein namenloser heterodiegetischer Erzähler gibt Atzbachers Aufzeichnungen mit der Inquit-Formel „schreibt Atzbacher“52 heraus und macht sie damit zur öffentlichen Stellungnahme. IV. Fazit Bernhards politische Haltung lässt sich in Hinblick auf viele seiner publizistischen Äußerungen, wie Helmut Rath vorgeschlagen hat, als Position eines kulturkritisch-nihilistischen Dezisionismus charakterisieren und als Reaktivierung tradierter Modernisierungsressentiments. Als Autor fiktionaler Texte entwickelt er dagegen die Ästhetik eines selbstreflexiven Dezisionismus. Seine Erzähler entwerfen das Konstrukt des Ausnahmezustandes als Norm, von der aus sie über die Verlogenheit und Künstlichkeit des stumpfsinnigen Normalzustandes richten. Die Verlässlichkeit von Bernhards narrativen Instanzen wird aber häufig vom Text als Ganzem in Frage gestellt. Die Protagonisten und Erzähler seiner Prosatexte stellen der Gesellschaft zwar zivilisationskritische Verfallsdiagnosen, seine Texte kommunizieren aber zugleich, dass man ein solches Urteil nicht auf eine absolut gültige Ordnung der Dinge gründen kann. Schwierig zu entscheiden ist allerdings, inwieweit es sich bei solchen Darstellungsverfahren um ein wirkliches Infragestellen jener Normen handelt, im Namen derer Bernhards Figuren der Gesellschaft ihre Verlogenheit, Maskenhaftigkeit, Substanzlosigkeit und ihr fehlendes Todesbewusstsein vorwerfen. Immerhin schreibt Bernhard seine Romane und Theaterstücke in einer kulturgeschichtlichen Phase, in der sich bestimmte Formen einer Avantgarde-Ästhetik, wie etwa erzählerische Unzuverlässigkeit, längst durchgesetzt und wohl auch zur unausgesprochenen Norm verfestigt haben. Im fortgeschrittenen Stadium der modernen 50 Ebd., S. 110. 51 Ebd., S. 109. 52 Ebd., S. 7 und S. 192f.
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Ästhetik ist daher nicht immer eindeutig zu sagen, ob selbstreflexive literarische Formen der Brechung wirklich die eigenen Normen relativieren sollen oder eigentlich nur als eingebürgertes Gütesiegel moderner Kunst dienen, mit dem man seine Texte nobilitiert.53 Auch wenn sich diese Frage für Bernhard nicht abschließend entscheiden lässt, ist sein Werk dennoch ein gutes Beispiel dafür, dass man mehr sieht, wenn man zwischen einem abstrakten Autor, wie er sich implizit in seinen literarischen Texten zeigt, und dem empirischen Autor methodisch unterscheidet. Während Bernhards publizistische Äußerungen manchmal haarscharf am StammtischNiveau vorbei schrammen und intellektuell nicht selten etwas peinlich sind, weil hier Relativierungsstrategien fehlen oder sich hinter der Provokation nur schwer erkennen lassen, gelingt es ihm in seinen Romanen durch kunstvolle narrative Vermittlungsformen, auch bestimmte Aspekte seines öffentlichen Autorschaftshabitus zum Gegenstand einer literarischen Selbstdistanzierung zu machen.
53 Zu dieser Frage und Bernhards Position innerhalb einer Ästhetik der Moderne vgl. Petersdorff : Spaßmacher und Ernstmacher, S. 282§287.
Erika Tunner
Inwiefern ist und erzeugt Thomas Bernhards Text Holzfällen eine Erregung ?
Der Untertitel von Holzfällen (1984) lautet bekanntlich „Eine Erregung“. Die Frage nach Art und Wirkung dieser Erregung versucht, auf die eventuelle gesellschaftliche und politische Bedeutung bzw. Nicht-Bedeutung von Literatur einzugehen. Damit sind zugleich die Orientierung dieses Beitrags sowie dessen Grenzen angedeutet. Erregung : ein gesteigerter Zustand, in den der Geist oder der Organismus durch äußere Reize oder innere Bedingungen geraten. Wenn Thomas Bernhard in einem Interview mit Krista Fleischmann apodiktisch behauptet „Ohne Erregung is’ gar nix“,1 so bezeichnet er damit, ohne jede Übertreibung, nicht nur eine künstlerische, sondern schlichtweg eine Lebensrealität. „Erregung“ gehört zu jenen Wörtern der deutschen Sprache, die sich in verschiedene Richtungen hin entfalten können : Erregung ist eine Quelle für Neugier, Inspiration und kreatives Schaffen, Erregung kann Ärger, Empörung und Zorn erzeugen oder erotische und sexuelle Wunschvorstellungen hervorrufen, eine reiche Skala, über die Thomas Bernhard virtuos verfügt. Erregung kann sich im Erleben oder in der Niederschrift äußern, oder in einer Mischung von beiden. Erregung ist überdies ein Element des Spielens und Thomas Bernhard war ein genialer Spieler, hatte eine ausgeprägte Tendenz zur spielerischen Verwischung der Grenzen zwischen fiktiver und realer Welt,2 wobei Spiel keineswegs das Gegenteil von Ernst bedeuten muß, Spiel kann das Allerernsteste sein, es gibt ja die sehr ernsten Scherze, zu denen letztlich die Schreibsucht des Autors gehört … Thomas Bernhard wird der Gedanke Schnitzlers am Ende des Paracelsus nicht fremd gewesen sein, dass alles Spiel ist, was wir auf Erden treiben, dass wir immer spielen § klug ist, wer es weiß. 1 In Thomas Bernhard ± Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann, Wien 1991, S. 170. Das Gespräch wurde 1984 in Wien geführt. 2 Vgl. dazu Marquardt, Eva : Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards, Tübingen, Niemeyer 1990, S. 65, und die Rezension dieses Werkes von Erika Tunner, in Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft, hg. von Wolfgang Frühwald und Wolfgang Harms, Tübingen, Niemeyer, 1/1993, S. 121.
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Die zahlreichen Bedeutungen, die in dem Wort „Erregung“ mitschwingen, machen dessen Übersetzung besonders heikel. Im Französischen lautet der Untertitel von Holzfällen : „une irritation“,3 eine leider unumgängliche Einschränkung, welcher u.a. die Komponente der „excitation“ zum Opfer fällt, was sowohl für die Entstehung des Textes wie auch für dessen Interpretation zu einem gewissen Mißverstehen führen kann. Eine szenische Version von Bernhards Holzfällen wurde im Jahre 2006 in Paris aufgeführt (Ateliers Berthiers), mit Hervé Briaux in der Rolle des Erzählers, unter Leitung des bekannten Regisseurs Patrick Pineau : eine sehr geglättete Darstellung, bei der von Erregung schier nichts zu spüren war.4 Hinzukommt natürlich, daß der Blick von außen die Probleme zwar in ähnlicher, aber nicht unbedingt in derselben Weise wahrnimmt wie der Blick des Insiders, ob Leser, Schauspieler oder Kritiker. Doch ist es vielleicht durchaus legitim, Holzfällen, trotz der bestimmenden österreichischen Thematik, etwas allgemeiner als ein theatralisch inszeniertes realistisches (und dennoch zugleich symbolisches) Bild jener beruflichen und persönlichen Machtverhältnisse aufzufassen, die von Eitelkeit, Geltungssucht, Verlogenheit und behaglichem Selbstgefühl geprägt sind, wobei die Sich-Empörenden eben gerade durch die Art ihrer Empörung entlarvt werden. „Ich finde die Figuren und die Situation, in die Bernhard die Figuren stellt, ganz und gar real, deshalb sind sie mir auch gar nicht fremd“, so Bernhard Minetti in einem Gespräch, 1984.5 Bernhard greift sich die Wirklichkeit § ähnlich wie später, in seiner Nachfolge, Werner Kofler (Dopo Bernhard/Nach Bernhard, 1996). Wie stark das teils rücksichtslose teils lächerliche Streben nach Berühmtheit, wie weit die Droge Berühmtheit in unserem aktuellen gesellschaftlichen Leben verbreitet ist, hat die französische Schriftstellerin Catherine David sehr prägnant in ihrem Essay Les violons sur moi. Pourquoi la célébrité nous fascine (Denoël, 2010) aufgezeigt, welcher in der ironischen Frage gipfelt „comment vivre sans vouloir être célèbre ?“ („wie kann man eigentlich leben, ohne berühmt sein zu wollen ?“). In Holzfällen ist das Spielen ein zentrales Motiv, Ausdruck jenes Rollendaseins, das der Erzähler zeitweilig betreibt, sei es, um seine eigene emotionale Erregung zu verbergen, sei es um eine provozierende Wirkung auszuüben, sei es aus purer Lust am Spiel, als Mitspieler oder als Spielverderber, je nachdem. Gleich 3 Bernhard, Thomas : Des Arbres à abattre. Une irritation. Übers. von Bernard Kreiss, Paris 1987. 4 Vgl. dazu Cournot, Michel : „La colère de Thomas Bernhard sous des dehors trop paisibles“, in : Le Monde, 18. 05.2006. 5 In Pittertschatscher, Alfred/Lachinger, Johann : Thomas Bernhard. Materialien. Literarisches Kolloquium Linz 1984. Linz 1985, S. 220.
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eingangs gibt der Erzähler vor, vom Selbstmord seiner Malerfreundin Joana nichts zu wissen, mit der er früher befreundet war und um die er sich angeblich seit zehn Jahren nicht mehr gekümmert hat. Er versetzt so zwei Bekannte, das Ehepaar Auersberg, die sogenannten „Auersbergischen“, denen er in Wien auf dem Graben begegnet, in die begehrenswerte Lage, als plötzliche Unheilsbringer auftreten zu können, während er selbst den von der grauenhaften Nachricht Überfallenen spielt.6 Im Laufe eines sogenannten künstlerischen Abendessen bei den Auersbergischen, das einerseits zu Ehren eines erfolgreichen Burgschauspielers stattfindet, gleichzeitig aber auch als ein Leichenschmaus für die Joana gedacht ist, kommt der Erzähler, in Beobachter-Haltung auf einem Ohrensessel, zu der Einsicht, daß er nicht nur den Auersbergischen, sondern überhaupt „allen alles immer nur vorgespielt“ habe, „ich habe mein ganzes Leben nur gespielt und vorgespielt“ sagt er zunächst zu sich selbst und dann lauter, weil erregter : „du hast nur ein vorgespieltes Leben, kein wirkliches gelebt, nur eine vorgespielte Existenz, keine tatsächliche“.7 Das vorgespielte Leben ist allerdings dennoch ein wirklich gelebtes und die vorgespielte Existenz ist die Voraussetzung der tatsächlichen Existenz, welche die Existenz im Schreiben ist. Nach dem sogenannten künstlerischen Abendessen im Hause Auersperg drängt es den Erzähler, darüber zu schreiben : er läuft in die Innere Stadt von Wien hinein und denkt, daß er sofort etwas über dieses künstlerische Abendessen schreiben werde, ohne zu wissen, was, ganz einfach etwas darüber schreiben, und zwar gleich und sofort und gleich und gleich, bevor es zu spät ist. Denn noch ist diese Erregung vorhanden, welche im Erzähler die Beobachtung der Gäste bei den Auersperg hervorgerufen hat und die beim Schreiben zur Erregung durch die Erinnerungen wird, die man sich vergegenwärtigt. Erregt sei er allerdings immer, auch wenn er etwas Ruhiges schreibe, meint Thomas Bernhard in dem bereits erwähnten Gespräch mit Krista Fleischmann, „Erregung bringt das lahme Blut in Gang, pulsiert, macht lebendig und macht dann Bücher“.8 Gründe zur Erregung gibt es überall genug, in der Politik sowieso, da kommt man mit der Erregung oft gar nicht mehr nach, doch natürlich auch bei gesellschaftlichen Ereignissen, ob bei Preisverleihungen oder bei Künstlertreffen, wie es in Holzfällen der Fall ist, und wenn es in der Gegenwart an Möglichkeiten zur Erregung mangeln sollte, was freilich kaum vorstellbar ist, dann bietet sich immer noch ein reichhaltiger Stoff in der Vergangenheit an. Ob Holzfällen 6 Bernhard, Thomas : Holzfällen. Eine Erregung. Frankfurt am Main 1988, S. 16f. 7 Ebd., S. 105 und S. 106, Hervorhebung im Original. 8 In Thomas Bernhard ± Eine Begegnung, S. 168.
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auch ein Stück Aufarbeitung seiner eigenen Vergangenheit darstelle, wird Thomas Bernhard von Krista Fleischmann gefragt. „Ein Stück meines Lebens, ja, ein entscheidendes Stück“, lautet die Antwort. 9 „(…) ab und zu gestatte ich mir doch eine Erregung / damit ihr nicht glaubt / ich bin schon tot das bin ich nicht im Gegenteil / der Körper ist kaputt aber der Kopf ist jeden Tag neu geboren“, so der Professor Robert Schuster in Heldenplatz.10 „Erregung war immer sein Lebenselixier. Auch wenn er für sein Werk massiv angegriffen, bedroht, auch angeklagt wurde. Er hat sich einerseits in die Kunst geflüchtet, aber zum Schreiben hat er die Erregung gebraucht“, so Peter Fabjan über seinen Bruder Thomas Bernhard in einem Interview für die Kleine Zeitung vom 8. Februar 2011. Angeklagt wurde Thomas Bernhard bekanntlich mehrfach, u.a. auch für sein Prosa-Stück Holzfällen, in dem die Wiener Kunstszene und einige ihrer nicht zu verkennenden Vertreter der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Die Erregung hatte Erregung gezeugt,11 und heftige individuelle und gesellschaftliche Diskussionsprozesse ausgelöst, die zum einen verständlicherweise vorrangig Österreich-bezogen waren und die zum andern keineswegs die explosive Wirkung von expliziten politischen Stellungnahmen erreichen konnten wie etwa das leidenschaftlich erregte Pamphlet J’accuse (1898) von Emile Zola, das entscheidend an der Revision des Dreyfus-Prozesses und darüberhinaus an einer der schwerwiegendsten Krisen der 3. Republik Frankreichs beteiligt war. Oder wie das berühmte Plädoyer von Voltaire Traité sur la tolérance (1765), dem in der Calas-Affäre und in der Anprangerung der Verfolgung der Protestanten durch die Katholiken eine historische Rolle zukommt. Die Waffe eines Schriftstellers ist die Feder, das trifft auch auf Thomas Bernhard zu. Hellsichtig, freilich auch sehr geschickt, versichert der Verleger Siegfried Unseld seinem Autor, „Sie gebrauchen sie (die Feder) genial und wirksam, und dies ist auch Ihr Leben“.12 Allerdings scheint Bernhard Unselds Absicht, ihn mit diesen schmeichelhaften Worten zu beruhigen, durchschaut zu haben, denn er versieht die Briefstelle mit einer negativen Bemerkung.13 So sehr Bernhard an 9 Ebd., S. 162. 10 Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1988, S. 91. 11 Auf die juristische Auseinandersetzung wird ausführlich eingegangen im Anhang von Bernhard, Thomas : Holzfällen, hrsg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2007 (= Werke, Bd. 7). 12 Siegfried Unseld an Thomas Bernhard, 7.8.1985, in Bernhard, Thomas/Unseld, Siegfried : Der Briefwechsel. Frankfurt am Main 2011, S. 730. 13 Ebd., S. 731.
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der Anerkennung seiner Arbeit liegt, so sehr ist ihm auch bewußt, daß er einem Erwartungshorizont, der auf eine gesellschaftliche oder politische Veränderungstendenz durch seine Literatur zielt, nicht unbedingt entsprechen kann, ja nicht entsprechen will. Auf die Frage von Krista Fleischmann „Aber Sie wollen ja etwas mit Ihrer Literatur ? (…) Sie wollen ja etwas bewirken und verändern, das will man doch ?“ antwortet Bernhard : „Eigentlich nein. Sie können gar nichts bewirken und verändern, weil die Welt geht ihren Weg, alles entsteht, vergeht, alles kommt und geht, alles wird weggeputzt, also was sollen Sie verändern wollen ? Sie können Eindrücke aufschreiben (…)“.14 Ähnlich äußert sich Bernhard in der Zeitung Le Monde auf die Frage von Jean-Louis de Rambures, im Februar 1985 : „Hoffen Sie, durch Ihr Werk dazu beizutragen, die Welt zu ändern ?“ „Um Gottes willen“, antwortet Bernhard, „da würde ich ja zum Schweigen verurteilt. Zorn und Verzweiflung sind meine einzigen Antriebe, und ich habe das Glück, in Österreich den idealen Ort dafür gefunden zu haben.“15 Von primordialem Interesse bleiben für Bernhard die „inneren Vorgänge“.16 Bezeichnenderweise wählt Bernhard als Motto für Holzfällen einen Text von Voltaire, der nicht für Voltaires sozial-politisches Engagement steht, sondern für dessen Welteinsicht und philosophische Weltskepsis : „Da ich nun einmal nicht imstande war, die Menschen vernünftiger zu machen, war ich lieber fern von ihnen glücklich“. Auch Bernhards Kunst ist die Form des Abstandhaltens : im literarischen Text und in einer Art von individueller Monomanie gelingt es ihm, die persönlichen und zeitbedingten Grundlagen seiner Schriftstellerexistenz sichtbar zu machen, wobei sich Selbstkritik und Zeitkritik die Waage halten, ohne Zwang zur Veränderung. Bernhard zeigt auf, macht kenntlich, entlarvt : „er ist ein unerbittlicher Mahner und Bloßsteller“, schreibt der Jugendfreund Rudolf Brändle in seinem Buch Zeugenfreundschaft. Erinnerungen an Thomas Bernhard.17 Änderungen in politischen und gesellschaftlichen Denkweisen sind wohl am ehesten durch Heldenplatz zustande gekommen, wo das Thema freilich von besonderer politischer Brisanz ist. Ob man allerdings in dem „mehr als neunzig Jahre alten französischen Juden Stéphane Hessel“ und seiner höchst erfolgreichen Schrift Indignez-vous (Empört euch) (2011) eine Person sehen kann, die „aus Bernhards Stück in die Wirklichkeit herausgestiegen ist“,18 bleibe dahingestellt. Im Gegensatz zu einer 14 Thomas Bernhard ± Eine Begegnung, S. 233. 15 Jetzt in Bernhard, Thomas : Der Wahrheit auf der Spur, hg. von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber, Frankfurt am Main 2011, S. 232. 16 Vgl. Thomas Bernhard ± Eine Begegnung, S. 274. 17 Brändle, Rudolf : Zeugenfreundschaft. Erinnerungen an Thomas Bernhard. Salzburg 1999, S. 11. 18 So Hans Höller in Sprache und Lebensform, in : Der Standard, 4. 02.2011.
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verbreiteten Meinung hat Hessel, gebürtiger Berliner, keine jüdische Mutter und stammt väterlicherseits aus einer zum Protestantismus konvertierten Familie. In bestimmten Kreisen Frankreichs (CRIF = conseil représentatif des institutions juives de France) hat man überdies mit einem gewissen Unmut seine Kritik an Israel und seine Unterstützung des BDS (Boycott, Désinvestissements, Sanctions) zur Kenntnis genommen.19 Holzfällen ist nicht ohne extreme Reaktionen geblieben, die jedoch allmählich zum Kuriosum werden. Was die eigentliche Erregung des Textes ausmacht, ist das ständige Schwanken zwischen Künstlichkeit und Authentizität, ist die Interferenz von Gesellschaftsablehnung und Gesellschaftsabhängigkeit, ist die Dialektik zwischen der Wahrnehmungsart des Erzählers und seinem ambivalenten kommunikativen Verhältnis zum Leser, ist der unverwechselbare, eigenwillige Bernhard-Ton, kurzum alles, was aus Holzfällen ein Kunstwerk macht und es von einem Werk mit ähnlicher Thematik, wie Norbert Gstreins Die ganze Wahrheit, merklich unterscheidet. Holzfällen löste einen Skandal aus, wobei einzelne betroffene Personen wie Jeannie Ebner oder Friederike Mayröcker gelassen bis nobel reagierten. Bei Die ganze Wahrheit blieb der erwartete Skandal aus, es kam von Seiten des Suhrkamp Verlages zu keiner gerichtlichen Klage und somit auch weder zu einem Buchverbot noch zu einem Freispruch. Aber warum schließlich sollte Bernhard die Welt besser machen wollen § nach welcher Moral ? Schöner § nach welchem Geschmack ? Tiefer § nach dem Maßstab welcher Erkenntnisse ?20 Für die kanadische, in Paris lebende Schriftstellerin Nancy Huston gehört Thomas Bernhard zu den „professeurs du désespoir“, zusammen mit Schopenhauer, Beckett, Cioran, Jean Améry, Milan Kundera, Elfriede Jelinek, Michel Houellebecq und Christine Angot. Bei Thomas Bernhard hebt sie seinen unbeirrbaren Eigen-Sinn hervor, seinen Mangel an Gefallsucht : „Ce qui donne à Bernhard sa liberté extraordinaire, c’est qu’il ne cherche pas à plaire“,21 („Bernhard sucht nicht zu gefallen, das macht seine außerodentliche Freiheit aus“), was natürlich gegebenenfalls eine gewisse Berechnung nicht ausschließt, wohl aber die Ablehnung jeder ausgleichenden Diplomatie sowie jedes vielgepriesenen Engagements. 19 Vgl. dazu die Stellungnahmen von Richard Pasquier, Präsident des CRIF, in Le Monde, 27.01. 2011. 20 Vgl. dazu Benn, Gottfried : „Können Dichter die Welt ändern ?“ in Literatur und Gesellschaft. Zur Sozialgeschichte der Literatur seit der Jahrhundertwende, hg. von Beate Pinkerneil, Dietrich Pinkerneil und Victor Zmegac. Königstein im Taunus 1973, S. 181. 21 Huston, Nancy : Professeurs de désespoir, Paris 2004, S. 194.
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Dass Bernhard weder zu seinen Lebzeiten noch heute auf einhellige Zustimmung stößt, hängt mit jener Erregung zusammen, die sein Genie ausmacht, die Inhalt und Form seines Schreibens kennzeichnet und die Rezeption seines Werkes bestimmt. Doch was lehrt uns der weise Hikmet Nameh im Buch der Sprüche des West-östlichen Divan : „Was klagst du über Feinde / Sollten solche je werden Freunde / Denen das Wesen wie du bist, / Im Stillen ein ewiger Vorwurf ist ?“22
Bernhards subversiver Humor erregt Ärgernis, aber er bewahrt ihn vermutlich vor einer Art Erstarrung zum Nationalklassiker.23 Bernhard ist mehr als nur ein großer österreichischer Schriftsteller (was schon sehr viel ist). Sein Werk gehört zur Weltliteratur.
22 Goethe, Johann Wolfgang von : West-östlicher Divan, Buch der Sprüche. Leipzig 1974, S. 56. 23 Vgl. dazu Schütte, Uwe : Karnevalist statt ,Unterganghofer‘, in : Wiener Zeitung, 5./6.02.2011.
Steve Dowden
The Masterpiece Problem in Thomas Bernhard
In 2006 Simon Schama published a book designed to accompany his BBC/PBS television series concerned with art. He called both The Power of Art. In the miniseries and book Schama focuses on old masters and modern masters, Caravaggio being the oldest and Rothko being the most recent. In a section on Picasso he declares the Guernica (1937) to be that painter’s great masterpiece. But what is a masterpiece, exactly ? Schama takes it for granted that we know and generally agree. But the more you think about such words, the muddier they become. Is Michelangelo’s splendid first Pietà (1499) a masterpiece of Renaissance art ? Yes. He was twenty-three years old at the time of its creation. What about his last one, the grim Rondanini Pietà of 1564 ? Is its conspicuous ugliness the sign of declining powers or instead the sign of increased wisdom, deepened insight, and matured powers of creativity ? Is Shakespeare’s Hamlet a masterpiece ? How about Tintoretto’s Man with a White Beard ? Is Picasso’s Guernica a masterpiece of modernist painting ? What about Duchamp’s celebrated “Bride stripped bare by her Bachelors” or his readymades ? Did Austria’s most prominent postwar novelist and playwright write a masterpiece ? What is a masterpiece anyway, and do we want them ? If so, why ? If not, why not ? My presupposition here is that the idea of the masterpiece remains a firmly entrenched part of our vocabulary and conceptual frame of reference. It functions as a regulative concept even when we avoid the term. It reifies the work of art, and Kunstwerk — problematically enough — is itself a historical concept.1 In looking back we may say that Raphael’s Sistine Madonna was a “work of art,” but the concept only gained currency as of the Romantic era. Presumably Raphael thought he was making a painting, and not a “work of art.” And the reification serves to make the masterwork an object, a possession of culture. Bernhard’s writing militates against this idea. The masterpiece of old is no longer possible. The unique and autonomous work of art has become a pretense, an illusion. We do not find much talk of masterpieces before the late eighteenth century. The rise of the autonomous work of art and the parallel transition from artist-as1 In her magisterial study The Imaginary Museum of Musical Works, Lydia Goehr dates the emergence of the concept “work of art” from the eighteenth century.
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academy-trained-craftsman to artist-as-natural-genius conditions the emergence of the masterpiece as the definitive “work of art.” Perhaps we can localize the moment in German cultural history at the Sturm und Drang and its retrospective Genieästhetik : Herder’s celebration of Shakespeare, Goethe’s celebration of Master Erwin’s architectural genius as embodied in his masterpiece, the Strasbourg cathedral. In any case, Beethoven’s contemporaries may have often regarded him as a genius and creator of masterworks, but Michelangelo’s contemporaries did not. He was instead a much-sought-after craftsman. Similarly we might think of Bach’s position in society. His post in Leipzig was not that of resident creative genius. He was a schoolmaster at the Thomasschule. His responsibilities included Latin and music instruction as well as providing two churches with weekly music. A significant faction of the city’s governing board thought he ought to be doing more teaching and less composing. Music in Bach’s world was not autonomous any more than a potter’s pot. Both served a purpose. The contemplation of art was not an end in itself. It was instead a craft integral to the life of the community. This situation soon changed. In celebrating figures such as Homer, Dante, Shakespeare, Raphael and Da Vinci, the Romantics were not exactly subtle in simultaneously advancing (and celebrating) their own decidedly modern vision of art’s autonomous power to express the infinite and by this power transform a now entgötterte, disenchanted world. It was they who had the power to bestow the epithets genius, masterpiece, and old master. This power of naming brings us back to Simon Schama’s television series on old masters. There is a powerful element of self-congratulation at work in this latter day example of Romantic aesthetics, and this aspect of romantic subjectivity remains residually intact in much academic and popular criticism, such as Schama’s Power of Art : in celebrating the old masters he is celebrating his powers of discernment, his power (and by proxy our power) to define and establish this or that universal masterpiece’s standing with and for us. What, then, is a masterpiece ? The Grimms’ dictionary, under the catchword Meisterwerk, attests usage dating from the fifteenth century. It refers to the handiwork of a skilled craftsman, a piece that demonstrates his expertise to members of his guild and so admits him as a peer, a master craftsman. However, the dictionary’s primary reference is to a grand work of art in the sense in which we still use it, as an artist’s transcendent achievement, a work that is unique, incommensurable, inimitable, and ideal. References in this artistic sense to the words Meisterwerk and Meisterstück are drawn from the eighteenth and nineteenth centuries in Grimm, but in the Oxford English Dictionary they reach further back, to the sixteenth century. There is an entry from the year 1658 from a book called Surgeons
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Guid, a translation from the German of Felix Würtz, a Swiss practitioner of the previous century. “Taylors…suffer none to set up his Trade, unless he have made first his Master-piece [Ger. sein Meisterstück]”.2 It is reasonable to assume that our usage of the word “masterpiece” is a meaning that was fixed in the Romantic era but drew on earlier, more mundane usages from the trades and professions. When Goethe refers to Schiller’s Jungfrau von Orleans as a Meisterstück,3 no one is confused. Talk of masterpieces and masterworks has been handed down to us as a simple fact of the artistic world. It is the conventional wisdom that Giotto’s cycle of frescoes at the Arena Chapel in Padua, completed in the early fourteenth century, are his masterpieces. Pre-romantic admirers of these works would not have thought to praise them in this way. What might be gained or lost by thinking in such terms ? Writing in 1933 in an essay called “No More Masterpieces,” Antonin Artaud suggests that masterpieces of the past are good for the past : they are not good for us. We have a right to say what has been said and even what has not been said in a way that belongs to us, a way that is immediate and direct, corresponding to present modes of feeling, and understandable to everyone.4
The familiar rhetoric of radical modernism implies a clearing the way for new art, new work, new artwork — new masterpieces ? Such as Picasso’s Guernica ? Artaud objected that the concept of the fixed masterpiece was an idolatrous impulse of the modern bourgeoisie. In his 1981 book What is a Masterpiece ? The British art 2 Felix Würtz, The Surgeons Guid : or Military and Domestique Surgery Discovering Plainly and Faithfully the Exact Cures of Wounds Made by Gun-Shot, or Otherwise. Wounds, Aposthumes, Ulcers, Fistula’s, Fractures, Dislocations ; with the Most Easie and Safest Wayes of Curing Withered and Consumed Members Without Amputation or Dismembring. Also, the Preparing of All Kinds of Balm’s, Salves, Plaisters, Oyntments, Oyles, Blood-Stenchers, Potions, Tents, Corrosives, Used by Surgeons : with a Guid for Women in the Nursing of Their New-Born Children. Written, by Felix Wurtz, a Famous and Renowned Surgeon in the City of Basell, Printed Twenty Eight Several Times in the German Tongue, and Now Published in the English Tongue for the Good of All Practitioners in Surgery. London : Printed by Gertrude Dawson, and are to be sold by John Garfeild at the Rolling-Press for Pictures, near the Royal Exchange in Cornhil, over against Popes-Head Alley, 1658, p. I. ix. 37. 3 Among the citations in the Deutsches Woerterbuch is this one : „GÖTHE 26, 158 ; es war der thätigkeit Ifflands vorbehalten, .. durch eine glänzende darstellung dieses meisterstücks (der jungfrau von Orleans) sich für alle zeiten in den theater-annalen einen bleibenden ruhm zu erwerben. 31, 120 ; die übertragung der französischen tragischen meisterstücke.” 4 Artaud, Antonin : The Theater and Its Double. Trans. Mary Richards. New York 1958, p. 74.
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historian and BBC television host Kenneth Clark composes a list of masterpieces to illustrate the power of art and its championing of fixed, enduring human values. Above all, he says, Guernica “represents, or symbolizes, a society in the throes of destruction, as convincingly as Raphael’s School of Athens represents society in perfect equilibrium”.5 Renaissance Italy was not a society in perfect equilibrium, and neither was ancient Athens for that matter, but we can see what Clark means, more or less. Still, images of great beauty can be used to mask societal discord. We might think of the National Socialist canon of classical German works and their role in Germany and Austria. The meaning Beethoven’s Ninth changes depending on where it’s played, who is conducting, and who is in the audience : Furtwängler conducting for a large party of high Nazi officials in Berlin is one thing ; Simon Rattle conducting the same work for Shoah survivors at Mauthausen is another (Schmidt). As Adrian Leverkühn once puts it, “die Musik ist die Zweideutigkeit als System.” Hence Artaud’s distrust of masterpieces as the dead hand of the past gripping the present in merely conformist ways. It is a familiar avant-gardist position. In German literature its locus classicus is Thomas Mann’s Doktor Faustus. “So steht es,” says Samiel, the Mephisto of Mann’s novel „das Meisterwerk, das in such geruhende Gebilde, gehört der traditionellen Kunst an, die emanzipierte verneint es“.6 Masterpieces are a curiously insistent feature of Bernhard’s novels. Roithamer’s masterpiece is the conical home he builds for his sister. Conrad’s masterpiece will be the ultimate study of hearing he intends to write. In both cases, the pursuit of perfection is deadly. Similarly, old masters recur in the guise of figures such as the Canadian genius Glenn Gould, or in repeated allusions to figures such as Wittgenstein, Schopenhauer, Pascal and many others. Perhaps nowhere is this concern nearer the surface than in Alte Meister. What has drawn its protagonist, Reger, to the Kunsthistorisches Museum every other day for over thirty years ? He sits and contemplates Man with a White Beard, a painting of about 1570 by the Venetian master Tintoretto.7 The painting found its way into the Kunsthistorisches Museum from the private collection seventeenth-century Archduke Leopold Wilhlem (1614§1662), brother of Kaiser Ferdinand III. These details, not taken up by Bernhard in the novel, are relevant because Reger’s visits to the museum (and to concert halls) are a significant detail of the narrative : the setting is not neutral. Vienna’s great art museum came into existence in 1891 as a part of 5 Clark, Kenneth : What is a Masterpiece ? London 1979, p. 44. 6 Mann,Thomas : Doktor Faustus. Frankfurt am Main 1960, p. 318. 7 http ://bilddatenbank.khm.at/viewArtefact ?id=1569, 15.04.2011.
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the large scale renewal of the Ring begun in the 1850s, which puts it a full century behind the founding of the Louvre as a post-revolutionary public institution (1791).8 Yet the Kunsthistorisches Museum is still a part of the same modern trend. The provenance of the museum as a secular temple for the enshrinement of art as a public right occurs at the same historical moment that the autonomous work of art emerges in tandem with a new aesthetic and cult of genius. The emergence of concert halls for the middle class belongs to the same era as well. Vienna’s Musikverein, also a standard-setting institution, was founded in 1812. Once the exclusive privilege of church and aristocracy, fine music now belonged to all through such institutions. Similarly, private art collections belonging to aristocrats such as Archduke Leopold Wilhelm von Habsburg characteristically found their way into large museums open to the public. Once a symbol of aristocratic and clerical authority, art passed over into another sort of quasi-democratic, state power. In his seductively titled Power of Art, Schama explains that art masterpieces express the old masters’ desire to have their works “acknowledged as noble ; akin to philosophy, poetry, or religion : a human necessity rather than an optional luxury. That impassioned conviction led them to assert the authority and power of art in the place of complacency from the holders of institutional power : popes, aristocrats, bureaucrats, moneyed patricians and their tame critics”.9 The power of art, says Schama, is the power to change the world. On the other hand, we might argue, all these officially sanctioned masterpieces, owned by powerful trusts, corporations, and large museums, appear to be irrelevant when it comes to changing the world. There is a sense in which museums are the mausoleums of art, and masterpieces the corpses. In the setting of a museum or somber concert hall, the “conversionary power” of a masterpiece’s aura is diverted, masking authority rather than challenging it. The museum as an institution may militate against the power of art. This brings us to Reger, a man of eighty-two who spent the war years in London with his parents but returned to Vienna to live after the Second World War (195). He is acutely aware that the museum in which he sits and thinks day after day is a state institution that celebrates the power of the Habsburgs and the current state, both of which he vilifies in the liveliest terms : 8 The Revolution seized the power of French rulers and it seized their art too, transferring both to the French people : “It is as emblem of power that the museum enters the modern consciousness, and not simply as a place to see aesthetically impressive works” writes Arthur Danto of the Louvre’s origins in the French Revolution § Danto, Arthur C.: Encounters & Reflections : Art in the Historical Present. Berkeley 1990, p. 318. 9 Schama, Simon : The Power of Art. New York 2006, p. 10.
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Aber was ist diese Kunst an diesen Wänden anderes, als Staatskunst, denke ich. Reger redet nur von Staatskunst, wenn er über die Kunst redet, und wenn er über die sogenannten Alten Meister redet, redet er immer nur über die alten Staatsmeister.10
Reger freelances as a music critic for the London Times. He is also an art connoisseur, though the tame word “connoisseur” does not properly describe his tempestuous relationship to art any better than “aficionado” or “expert” might. During his long monologue he is above all concerned with two historical masterpieces : Beethoven’s impassioned Sturmsonate of 1802 (op. 31 no. 2 in D minor — ‘Tempest’) and Tintoretto’s portrait of an old man. Probably we are meant to see Reger’s tempestuous inner life reflected in the Beethoven piece he finds such fault with. The wizened old man in the portrait (a Minetti type) perhaps twins Reger in age, and in his challenging, ill-humored gaze at the viewer. However, such linkages notwithstanding, Reger in no way celebrates these artworks as masterpieces. Far from it. His engagement with them is rebarbative, an agon : “Es gibt kein vollendetes Bild und es gibt kein vollendetes Buch und es gibt kein vollendetes Musikstück, sagte Reger …”.11 Reger, along with Bernhard’s other irrational cranks and self-contradictory madmen, has a good deal in common with Doestoevsky’s underground man. The underground man rejects the self-evident truth that twice two makes four much as Reger disparages old masters and finds fault with acknowledged works such as the Sturmsonate, masterpieces being the common currency of the modern, selfcongratulatory, consumerist approach to so-called art appreciation. What pattern of sense might underlie this affinity ? Each has a spiteful disposition, of course, but irritability alone is not enough. Dostoevsky’s Notes from Underground invites us to affirm his underground man’s twice-two-makes-five attitude, as it strikes a blow against the robotic nihilism of his own era’s Crystal-Palace rationalism. Better to be an ill-tempered, fractious individualist than a corporate robot, state functionary, or complacent consumer. And that critique would extend to highbrow purveyors and consumers of art and music. The central event of Alte Meister is the death of Reger’s wife. It happens anterior to the narrative, having occurred over a year before the day his monologue to our narrator, Atzbacher. We gradually learn of the Regers’ thirty years visiting the museum together, of her accidental fall on the way there with him one icy day, and of her subsequent death, according to Reger, at the hands of medical bunglers 10 Bernhard, Thomas : Alte Meister. Komödie. Frankfurt am Main 1985, p. 61 ; cf. 304§306. 11 Ibid, p. 44.
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in the hospital. For six weeks the critic withdraws from life almost entirely. He loses interest in art and food (an important concatenation, since both for him are life-sustaining) and contemplates suicide, only to be drawn back from the brink by reading Schopenhauer — though he makes it clear that nothing in Schopenhauer motivates his return to life after a half a year of withdrawal from life. He regards that reading to have been a willful misappropriation of the philosopher. The act of reading itself and not Schopenhauer’s philosophy brings about his return to food, to music, and to the Kunsthistorisches Museum. Do we have here the transcendent, spiritual power of art to console, transform, or redeem, art in the sense that Simon Schama (my counter-Reger) offers ? No, Reger specifically denies any such power to art. The death of Reger’s wife in this novel brings both the importance and impotence of art into perspective and into focus. Death marks the intrusion of the cruelest reality into our lives. In my view the truest and most beautiful pages Bernhard ever published are to be found in this novel in the section in which he mourns the loss of his beloved wife.12 These pages mark one of Bernhard’s rare (and telling) departures from the cynical posturing that is the signature for his style. The death of a loved one, the prospect of our own death, is a stark bitter truth that nothing can undo — not religion and certainly not mere art, and especially not the religion of art in the concert hall or state-funded museum, university classroom, or the art-saturated lives of our modern electronic media culture. Reger the music critic devotes some lively pages to inveighing against the ubiquitous presence of music in modern life.13 There is no escape : in department stores, on the radio, in elevators, shopping malls, dentists’ offices and everywhere else, including misappropriation of fine music, Beethoven’s Ninth for example as advertising jingles. We all live, he says, mimicking Goebbels, in the age of total music : “In unserer Zeit ist die totale Musik ausgebrochen.” And Reger has in mind not so much low-grade popular tunes as the classics. What is at stake in this tirade ? The inflationary discourse of art in the modern age leads directly to the deflation of art. You can hear Beethoven’s Ninth too often. And when you hear it too much, no matter how fine the performance, you can’t really hear it at all. Masterpieces are everywhere, as perfectly recorded music (digitally retouched to permit of no imperfection), and of perfectly duplicated images of officially acknowledged masterpieces perfectly preserved, like holy relics, in the always perfect and therefore inhuman climate control of state museums, available for sale in the museum store in classy museum-quality facsimile prints. Like big prints of 12 Ibid, p. 246ff. 13 Ibid., p. 275ff.
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Klimt’s Der Küss in college dorm rooms, Art is everywhere. And therefore art is nowhere. Inflation radically diminishes its value. In the novel’s best comic set-piece Reger reports that he came to the museum one day to find an Englishman hogging the spot in the Bordone-Room that Reger regards has his own spot to hog. Gradually it emerges that the Englishman has come to examine Tintoretto’s man with a white beard because he owns one exactly like it. The painting hangs in his bedroom at home in England. Is his a fake ? Is the museum’s painting a forgery ? Are they both originals ? It makes not one bit of difference, except financially. An image is an image. The masterpiece as a single, unique, inimitable piece of art is just an idea, a chunk of ideology, not a painting — moreover the masterpiece idea is an ideological lens that distorts the actual painting. We long ago ceased to be able to see the Mona Lisa and can see in it only the idea of the masterpiece that it still embodies (Belting). Reger relates to art by seeking in it not perfection but imperfection, because he regards perfection as inhuman and therefore lethal. Der menschliche Kopf ist kein menschlicher Kopf, wenn er sich nicht auf die Suche nach den Menschheitsfehlern macht, sagte Reger. Ein guter Kopf ist ein nach den Menschheitsfehlern suchender Kopf, und ein außerordentlicher Kopf ist ein Kopf, der diese Menschheitsfehler findet […]. […] Wer hier in diesem Museum in diesen hunderten von sogenannten Meiserwerken nach Fehlern sucht, der findet auch sie, sagte Reger. Kein Werk in diesem Museum ist fehlerfrei, sage ich.14
Still, art remains crucial and in a way that is not perverse at all but simply takes art on a humanly realistic scale : Solange ich noch Lust habe, über die Sturmsonate zu sprechen oder über die Kunst der Fuge, so lange gebe ich ja nicht auf, sagte Reger. Durch die Musik aus allen Scheußlichkeiten und Widerwärtigkeiten jeden Tag aufs neue herausgerettet, sagte er, das ist es, durch die Musik jeden Tag in der Frühe doch wieder zu einem denkenden fühlenden Menschen gemacht, verstehen Sie ! sagte er.15
It is the imperfection in the Tintoretto painting that draws him. He seeks out the imperfection in Beethoven’s piano sonata, The Tempest. How should one understand this attraction to imperfection ? 14 Ibid., p.44f. 15 Ibid., p. 243.
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Life is not about perfection but imperfection. Such thinking and writing is linked above all to Samuel Beckett, whose “Try again. Fail again. Fail better” might aptly serve as an epigram for Bernhard’s novel.16 Reger is also a cousin in some way to Philip Roth’s Mickey Sabbath of Sabbath’s Theater. Like Alte Meister, Sabbath’s Theater hinges crucially on the death of a beloved woman. What keeps Sabbath alive after the crushing blow of his mistress’s death is not transcendent art but the life-giving perversity of critique. Mickey Sabbath contemplates suicide but does not carry it out : “How could he leave ? How could he go ? Everything he hated was here”.17 And as for art, I will close with a quotation from Thomas Bernhard’s friend and colleague Ingeborg Bachmann : “Die Literatur aber braucht kein Pantheon, sie versteht sich nicht aufs Sterben, auf den Himmel, auf keine Erlösung, sondern auf die stärkste Absicht, zu wirken in jeder Gegenwart, in dieser oder der nächsten”.18 Reger’s sense of critique hews to Bachmann’s line of thought. Works Cited Artaud, Antonin : The Theater and Its Double. Trans. Mary Richards. New York 1958. Bachmann, Ingeborg : Werke. Band 4, Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang : Ingeborg Bachmann in Ton- und Bildaufzeichnungen. Eds. Christine Koschel and Inge von Weidenbaum. München 1978. Belting, Hans : “The Fetish of Art in the Twentieth Century : The Case of the Mona Lisa”, in : Diogenes 183/1998, p. 83§106. Beckett, Samuel : Samuel Beckett : The Grove Centenary Edition. Vol 4, Poems, Short Fiction, Criticism. Ed. Paul Auster. New York 2006. Bernhard, Thomas : Alte Meister. Komödie. Frankfurt am Main 1985. Clark, Kenneth : What Is a Masterpiece ? London 1979. Danto, Arthur C.: Encounters & Reflections : Art in the Historical Present. Berkeley 1990. Goehr, Lydia : The Imaginary Museum of Musical Works : An Essay in the Philosophy of Music. Oxford 1992. Mann, Thomas : Doktor Faustus. Frankfurt am Main 1960. Roth, Philip : Sabbath’s Theater. Boston 1995. 16 Becket, Samuel : Samuel Beckett. The Grove Centenary Edition. Vol. 4, Poems, Short Fiction, Criticism. Ed. Paul Auster. New York 2006, p. 471. 17 Roth, Philip : Sabbath’s Theater. Boston 1995, p. 451. 18 Bachmann, Ingeborg : Werke. Bd. 4, Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang : Ingeborg Bachmann in Ton- und Bildaufzeichnungen. Eds. Christine Koschel and Inge von Weidenbaum. München 1978, p. 260.
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Schama, Simon : The Power of Art. New York 2006. Schmidt, James. “‘Not These Sounds’ : Beethoven at Mauthausen,” Philosophy and Literature 29.1 /2005, p. 146§163.
László V. Szabó
„… aber in der Kunst kann alles lächerlich gemacht werden“ Ikonoklasmen in Thomas Bernhards Alte Meister
Wir mögen die Welt kennen lernen, wie wir wollen, sie wird immer eine Tag- und eine Nachtseite behalten. (Goethe)
In seinem bereits als klassisch geltenden Buch über den „Prozess der Zivilisation“, äußerte Norbert Elias u.a. die Behauptung, der Begriff der „Zivilisation“ selbst bringe das „Selbstbewusstsein des Abendlandes“1 schlechthin zum Ausdruck. Das, was man gemeinhin Zivilisation nennt, ist das Ergebnis eines unabgeschlossenen Prozesses, der im Laufe der Zeit immer neue Deutungsmuster und Verständniskonzepte erlaubt. Die Kultur und die Zivilisation (auf mögliche Überlappungen und Abweichungen in der Semantik dieser zwei Begriffe wollen wir an dieser Stelle nicht eingehen) sind in der Moderne zu einem Moment intensiver Selbstreflexion und Selbstkritik gelangt, die die zuvor als festgeprägt geltenden Begriffe zur Erschütterung gebracht haben. Die Philosophie und die Künste, die Literatur inbegriffen, haben diesen Prozess des Selbstreflexivwerdens mitgemacht, ja vorangetrieben. Die Literatur hat ihrerseits, vermittels ihrer Erfahrung erweiternden und (kultur)kritischen Funktion2 zum einen das Selbstverständnis der Moderne mitgeprägt, zum anderen sich selbst zum Gegenstand der Reflexion und Kritik ausgesetzt. Eine der brennenden Fragen, die sich die Literaten am Anfang der Moderne stellen mussten, war, inwiefern Literatur überhaupt noch einen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben kann, oder ob sie sich in die apollinische Ferne einer Kunst um der Kunst willen zurückzuziehen habe und die Welt ihren Weg § selbst in den Abgrund § gehen lassen sollte. Will man Sándor
1 Elias, Norbert : Über den Prozess der Zivilisation. Band 1. Frankfurt am Main 1976, S. 1. 2 Vgl. Wild, Reiner : Literatur im Prozess der Zivilisation. Zur theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1982, S. 110ff.
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Márai,3 dem ungarischen Schriftsteller, der am Anfang des 20. Jahrhunderts eine längere Zeit in Deutschland und dann in Frankreich verbrachte, glauben schenken, so sind es die französischen Schriftsteller die ersten in Europa gewesen, in denen der Verdacht auftauchte, sie hätten keinen Einfluss mehr auf die sozialen und politischen Entwicklungen ihrer Zeit. Die Rolle und Bedeutung der Kunst, die Frage ihrer Abhängigkeit von und Interdependenz mit anderen „sozialen Feldern“ (Bourdieu) stehen seitdem zur Debatte. Dass Literatur keinen Einfluss auf das Sozialgeschehen hätte, scheint aber aus heutiger Sicht ebenso zweifelhaft wie etwa die Wahrheit einer Behauptung, die die Literatur in einem unbedingten Abstand von der Politik zu definieren wünschte. Das sozialpolitische Engagement der Expressionisten, oder Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands sind nur zwei Beispiele für die sozial-politische Funktion und Rolle der Literatur in der (Post)Moderne. Ob sich die Literatur von sozialpolitischen Phänomenen und Prozessen fernhalten will, oder nicht, sie bildet einen Teil des sozialen Diskurses allemal, den gerade deshalb der politische Diskurs, so vor allem die totalitäre Propaganda im 20. Jahrhundert, zu verdrängen oder gar zu vernichten suchte. Eine offene Politik aber, die sich nicht in den Elfenbeinturm sozialer Unempfindlichkeit einsperren will, ist dazu verurteilt, der Literatur Gehör zu schenken. Die Literatur ist ein Thermometer, der das Fieber einer Gesellschaft messen kann, und zwar häufig gerade an den Körperteilen, die am heißesten sind. Sie stellt ihre eigenen Diagnosen auf, verweist auf Anomalien, bricht soziale Tabus, stellt Phänomene unter die Lupe, die man sonst leicht übersehen kann. Ob sie immer die Wahrheit schlechthin sagt, bleibt zwar fragwürdig, doch zumindest einen Teil der Wahrheit vermag sie immer zur Sprache zu bringen, die von keiner offenen, zur Selbsterkenntnis bereiten Gesellschaft ignoriert werden dürfte. Thomas Bernhards Kunst liefert ein brisantes Beispiel dafür, dass in der Literatur der Moment der Provokation ein Mittel gesellschaftlicher Diagnostik sein kann. Man kann zwar seine zumeist provokativen Äußerungen als unangenehm, störend oder gar als unwahr empfinden, sie sind aber stets ein Grund zur Reflexion und Infragestellung. Seine Gestalten sind in bestimmtem Sinne Narrenfiguren, wie sie die Literatur seit Jahrhunderten kennt, und denen immer die Rolle gebilligt wurde, die oder eine sonst verschwiegene oder tabuisierte Wahrheit auszusprechen. Bernhard hat eine Art Poetik der Narrheit geschaffen, um den provokativen Grad seiner Kunst aufrechtzuerhalten und Wahrheiten in 3 Vgl. Márai, Sándor : Bekenntnisse eines Bürgers. Übers. von Hans Skirecki. Hg. von Siegfried Heinrichs. München, Zürich 2009.
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provokativ-subversiver Form auszusprechen. Denn eine bewusste Narrheit ist eine provokative Wahrheit ; Bernhards Narrenkappe sind seine Worte, die eine besondere Musik der Sprache, einen verbitterten Scherzo zur Schau § d.h. zum Hören stellen. Er greift gleichsam leitmotivisch zu bestimmten Lieblingsthemen und bedient sich der Variation, der Crescendos und sogar der Fuge, die seine Sätze in einen nie enden wollenden Provokationsdiskurs zu treiben scheinen. Bernhards Gereiztheit wollte nie aufhören, egal, welches Thema oder Motiv er gerade aufgriff. Seine Texte verraten einen Grundton, den praktisch all seine Figuren teilen, ob Strauch in Frost, Konrad in Kalkwerk, Reger in Alte Meister oder die vielen Antihelden seiner dramatischen Stücke, und der gleichzeitig gereizt und reizend klingt. Komik und Lebensüberdruss4 haben ein seltsames Bündnis in Bernhards Werk geschlossen ; er hat offenbar die Komik als eine Therapie gegen seinen Lebensekel benutzt und sich in seiner Kunst des Zorns entladen. Er wollte offenbar alles lächerlich machen, um mit dem Lachen § das aber bei ihm seltsam verwandt mit Verdruss und Überdruss ist § die Unerträglichkeit des Lebens zu überwinden. Bernhards ätzende Ironie hat nichts und niemand geschont § selbst die Kunst nicht. Der Satz aus dem als „Komödie“ untertitelten Roman Alte Meister (1985), in der Kunst könne man alles lächerlich machen,5 könnte indessen über dem ganzen Bernard’schen Œuvre als Motto stehen. Diesem ließe sich der pyrrhonische Gestus Bernhards subsumieren, der Kulturphänomene und -träger als Karikaturen erscheinen lässt und schonungslos demaskiert. Auch ein bestimmter subversiver Charakter seiner Kunst ist unverkennbar. Er nimmt soziale und kulturelle Ikone ohne Wahl und Scheu in Anschlag, löst sie in einem ununterbrochenen Redefluss auf, bis sie als völlig nichtig und wertlos erscheinen. Sein Nihilismus ist so radikal, dass man nicht gerade leicht die Frage beantworten kann, welche Werte er über4 Auf den letzteren verweist bereits das dem Tagebuch Kierkegaards entliehene Motto des Buches. Thomas Bernhard zitiert den letzten Satz der folgenden letzten Eintragung in Kierkegaards Tagebuch vom 25. September 1855 (knapp zwei Wochen vor seinem Zusammenbruch) : „Die Bestimmung dieses Lebens christlich. Die Bestimmung dieses Lebens ist : zum höchsten Grad von Lebensüberdruß gebracht zu werden. Derjenige, der, also zu diesem Punkt gebracht, festhalten kann, oder derjenige, dem Gott dazu verhilft, festhalten zu können, dass es Gott ist, der ihn aus Liebe zu diesem Punkt gebracht hat, er macht, christlich, die Prüfung des Lebens, ist für die Ewigkeit reif. Durch ein Verbrechen bin ich entstanden, ich bin entstanden gegen Gottes Willen. Die Schuld, die jedoch in einem Sinne nicht die meine ist, wenn sie mich auch in Gottes Augen zum Verbrecher macht, ist : Leben zu geben. Die Strafe entspricht der Schuld : aller Lust zum Leben beraubt zu werden, zum höchsten Grad von Lebensüberdruß gebracht zu werden.“ 5 Bernhard, Thomas : Alte Meister. Frankfurt am Main 1985, S. 118.
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haupt noch bejaht. Bernhard ist in einer diesseitigen Erscheinungswelt verstrickt, strebt aber nach keiner jenseitigen Flucht § dafür ist er offenbar zu postmodern. Seine mit einer „Verfahrensweise der Weltbewältigung“6 eng verbundene Weltbejahung lässt sich eher ex negativo eruieren : Er bejaht indirekt das Gegenteil davon, was sich in der Welt, in der Gesellschaft und ihren Phänomenen als abstoßend zeigt. Seine Scheltreden gegen alles Bestehende lassen vage ein Wunschbild erkennen, dass die Welt vielleicht auch anders sein könnte, als sie eben ist. Es wäre deshalb falsch, Bernhards Ikonoklasmen7 als leere Vernichtungswut zu deuten. Sie sind zwar Entladungen des Ärgers über das Sosein der Welt und der Umwelt (Österreich), doch schwingt in ihnen auch die Hoffnung mit, eine verkehrte Welt einmal vom Kopf auf die Füße zu stellen, damit sie sich menschlicher zeigt. Sie sind somit keine Bilderzerstörungen um der bloßen Zerstörung willen, sondern verraten einen Wunsch nach Wahrheit jenseits von Konventionen und Automatismen. In diesem Sinn könnte man in Bernhard einen Erben Nietzsches sehen, der mit seinem „Zerbrechen von alten Tafeln“ seinen eigenen Ikonoklasmus vollzog und den Weg für eine Umwertung der tradierten Werte ebnete. Es ist aber sozusagen die Tragikomik der Postmoderne, dass sie in den Scherben der großen Kulturikone der Vergangenheit keine neuen Bilder aufzuzeigen vermag und sich lediglich mit dem Nebeneinader der verschiedenen Bilder von relativem Wert begnügt. In der Tat neigt die Postmoderne mehr zu Ikonoklasmen und Dekonstruktion als irgendeiner Bildkonstruktion. Auch bei Bernhard fehlt jedweder Imperativ ; dem Akt des Ikonoklasmus folgt kein erkennbares Bilder- und Werteschaffen, um die sich herum ein kohärentes Weltbild oder ein kulturelles Leitbild entfalten könnte. Seine Kunst verbleibt also bei einer nihilistischen Poetik,8 die sehr befreiend und genießbar wirkt, aber keine Zukunftsvision durchscheinen lässt. Sie ist eine Kunst ihrer Zeit § und zwar eine der gelungensten. Das ‚Bild‘ als geistig-poetisches Ikon erfüllt in Alte Meister eine vielfache Funktion. Als das Gemälde Tintorettos im Bordone-Saal des Kunsthistorischen 6 Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Stuttgart, Weimar 1995, S. 130. 7 Ikonoklasmus verstehe ich hier weder poetisch als eine Zerstörung eines metaphorischen Bildes, noch etwa religionsgeschichtlich (als Bildersturm), sondern als Negation von verschiedenen tradierten Kulturikonen, deren Gültigkeit von einer bestimmten Kultur oder Gesellschaft als traditionell festgeprägt und anerkannt gilt, im ikonoklastischen Gestus jedoch für wertlos oder nichtig erklärt werden. 8 Zu Thomas Bernhards Nihilismus vgl. Martin, Charles W.: The Nihilism of Thomas Bernhard. Amsterdam/Atlanta 1995, sowie, bezogen auf den Roman Frost, V. Szabó, László : „‚Alles wird Kälte‘. Nihilistische Themen und Motive in Thomas Bernhards Frost“, in : Studia Germanica Universitatis Vesprimiensis 11/2007, S. 169§183.
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Museums, vor dem der „Privatphilosoph“ Reger9 seine „geistesbedingte Absurdität“ des ständigen Sitzens und Beobachtens treibt, ist zunächst ein Chiffre, das den Erzählraum und gleichzeitig den Magnetpunk der (Pseudo-)Dialoge und der Reflexionen über verschiedenste Themen bildet. Zweitens konturiert sich in den Reden von Reger, anfangs auch des Saaldieners Irrsigler, ja sogar des Ich-Erzählers Atzbacher selbst, ein für Bernhard typisches Weltbild, jene in sich konsequente Bernhard-Welt, die in allen seinen Werken unverkennbar vor Augen tritt. Dieses Bernard’sche Weltbild gibt sich seinerseits als ein Gegenbild zu einem tradierten oder konventionell etablierten Kulturbild zu erkennen, das zum Gegenstand wiederholter ikonoklastischer Angriffe wird. Paradoxerweise bildet in Alte Meister gerade ein Gemälde, Tintorettos Weißbärtiger Mann das Instrument des Ikonoklasmus : Indem der Redefluss Regers vom Gemälde ausgeht und zu ihm wiederkehrt, mischen sich in ihn immer wieder Ausführungen über Kunst und Philosophie, über Kultur und Gesellschaft, Leben und Tod. Diese Idee Thomas Bernhards, ein Kunstwerk zum Ausgangspunkt seiner typischen Redekaskaden zu wählen, mag auf seine Lust zum Experimentieren oder einen Fortschritt in seiner Poetik hinweisen,10 sie integriert sich aber gleichzeitig seinem Konzept des Ikonoklasmus, das praktisch all seine Werke, in mehrfacher Variation, kennzeichnet. In seinem Erstroman Frost nicht weniger als in seinem letzten Stück Heldenplatz § das von Alte Meister in manch thematischer Hinsicht vorweggenommen wird § verrät Bernhard eine besondere Freude an Ikonoklasmen aller Art. Er hat dabei die Kunst des Ikonoklasmus zur Meisterschaft gebracht, die selbst für postmoderne Verhältnisse an Grenzen rührt und Grenzen überschreitet, die als unberührbar oder unüberschreitbar galten. Damit wurde seine ikonoklastische Kunst zu einer Provokation, die eine an die Freiheit der Kunst scheinbar gewohnte Gesellschaft wachrütteln konnte. Österreichische Ikone und ihre Scherben Der Skandal, den Bernhard mit seinem Heldenplatz 1988 auslöste, ist nicht nur in Österreich bekannt. Das Geräusch des großen österreichischen Ikonoklasmus auf der Bühne hat man auch in der Nachbarschaft vernommen. Seitdem lässt sich das große Bild Österreichs, das beispielsweise für die Ungarn immer mustergültig 9 AM, 20. 10 Vgl. Hens, Gregor : Thomas Bernhards Trilogie der Künste : Der Untergeher, Holzfällen, Alte Meister. Rocherster, New York 1999, S. 137.
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war, nur schwer ohne seine Scherben denken, die die Kunst Bernhards hinterließ. Ins Bild des hübschen, (schi)paradiesischen Österreichs vermischt sich nunmehr das Bernhard’sche Gelächter. Damit wurde aber Österreich nicht unsympathischer, sondern sein Bild bunter, vielleicht sogar attraktiver. Man weiß heute : Österreich ist nicht nur Wien, Hofburg und Neujahrskonzert, sondern auch Thomas Bernhard, der seinem Land ein bizarr verzerrendes Spiegelbild aufzeigte. Die Musik Mozarts verträgt sich aber ganz gut mit der Bernhard’schen Kakophonie. Bei all seinem Österreichhass bleibt Bernhard ein Österreicher und bereichert das Gesamtbild und die Kultur eines Landes, das durch seine Vielfalt imponiert. Es ist schließlich charmant, dass es solche Skandale in einem Land gibt, wie jene um Thomas Bernhard. Dieser hat in Alte Meister, einige Jahre vor dem Heldenplatz, seine österreichischen Ikonoklasmen zu voller Entfaltung gebracht. Allerdings sorgen hier wie dort die Figuren für die Indirektheit des Ausdrucks. Entsteht im Heldenplatz durch die gattungsbedingte Objektivität eine Mittelbarkeit, die der Meinung des Autors einen relativen Schutz gewährt, so treibt Bernhard in Alte Meister ein narratologisches Versteckspiel, das sich zwischen den Autor und die Semantik des Textes einschiebt. Von einer „literarischen Selbstinszenierung“ Bernhards 11 geht es zwar mehr oder weniger in all seinen Texten, doch vermittelt der Roman, narratologisch betrachtet, mehr als nur die schlichte Hassentladung des Autors : Ein Weltbild, das nach einer dreifachen Lichtbrechung seinen Fokus in der Gestalt von Reger findet. Dieser wird schließlich zu einer Art Reflektorfigur, die nicht nur die ohnehin spärliche Handlung reflektiert, sondern auch eine Reihe von Themen, um die sich herum Bernhards Kunst des Ikonoklasmus entfaltet. Wohl hat Bernhard den Namen Reger nicht zufällig gewählt ; er ist gleichzeitig und gleichermaßen Anreger und Erreger, ein verbaler Provokateur, der mit seinen „Wahrheiten“ zum einen den Textfluss, zum anderen den Leser „erregt“, ihn zum Nachdenken und Lachen anregt. Das Themengeflecht des Textes ergibt eine Symphonie, in der das Thema Österreich eines der Refrains bildet. Es wird zunächst von der Erzählerfigur Atzbacher angestimmt, der in einem plötzlichen Wahrheitsausbruch konstatiert, Reger werde in Wien und Österreich, also in seiner Heimat, nicht wahrgenommen, ja sogar gehasst, womit er das Schicksal eines „wissenschaftlichen Genies“ teile : Genie und Österreich vertragen sich nicht, sagte ich. In Österreich muß man die Mittelmäßigkeit sein, um zu Wort zu kommen und ernst genommen zu werden, ein Mann der 11 Mittermayer : Thomas Bernhard, S. 128.
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Stümperhaftigkeit und der provinziellen Verlogenheit, ein Mann mit einem absoluten Kleinstaatenkopf. Ein Genie oder ja schon ein außerordentlicher Geist wird hier auf entwürdigende Weise über kurz oder lang umgebracht, sagte ich zu Irrsigler.12
In Österreich herrsche ein „Zustand der Herabsetzung und des Hasses, der Unterdrückung und der Ignoration [sic], der allgemeinen geistesfeindlichen Gemeinheit“,13 heißt es weiter, in einem der wenigen Tiraden des Erzählers, bevor er Reger das Wort übergibt. Damit wird aber der Weg für den nur selten unterbrochenen, quasi-inneren Monolog der Reflektorfigur geebnet, in dem auch die ikonoklastischen Angriffe gegen Österreich und die Österreicher ihre würdige Fortsetzung finden. Schon die Bezeichnung „Gedankenvater“14 deutet darauf hin, dass der Perspektivenwechsel des Erzählens keinen Bruch im vermittelten Weltbild, vielmehr nur seine thematische Ausbreitung herbeiführt. Die Gedanken Atzbachers finden in den Ausführungen Regers nur eine breitere Frequenzskala mit größerer Amplitude. Reger ist das Bindeglied zwischen den Räumen der Textwelt, dem Kunsthistorischen Museum als seiner „Geistesproduktionsstätte“15 und dem Hotel Ambassador als seiner „Gedankenaufbereitungsmaschine“,16 und füllt schließlich mit seinem Redefluss praktisch den ganzen Textraum aus. In seinen Monologen geißelt er ohne Wahl österreichische Ikone der Vergangenheit und Gegenwart. So werden zunächst der unmittelbare Raum der „Handlung“, das Kunsthistorische Museum und seine Geschichte in Anschlag genommen. Er stellt das Museum in Wien zum einen hinter die Museen in Spanien und Portugal, zum anderen schließt er aus dem Fehlen an Gemälden von Goya und El Greco auf den „dubiosen katholischen Geschmack“ der Habsburger. 17 Dass die Ikone der katholischen Tradition und des „katholischen Staates“ Österreich und seiner Erziehungsanstalten Bernhard keinen Respekt einflößten, wird spätestens aus diesem Roman deutlich. Dabei werden auch die österreichischen Lehrer als Staatsbedienstete schonungslos angeprangert : Dieser katholische Staat hat keinen Kunstverstand und also haben auch die Lehrer dieses Staates keinen oder haben keinen zu haben, das ist das Deprimierende. Diese Lehrer lehren, was dieser katholische Staat ist und ihnen zu lehren aufträgt : die Engstirnigkeit 12 13 14 15 16 17
Bernhard : Alte Meister, S. 21. Ebd. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd., S. 26. Ebd., S. 32.
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und die Brutalität, die Gemeinheit und die Niederträchtigkeit, die Verworfenheit und das Chaos.18
Unverstand, Unvermögen, Stumpfsinn und Geistlosigkeit werden zu den Attributen des österreichischen Staates, mit dem Bernhard offenbar gerne in Konflikt geriet. Der österreichische Staat ermögliche nur Staatsmenschen und Staatskinder, die Schulen seien nur „Menschenvernichtungsanstalten“, die Menschen nur „Staatsopfer“ und „Staatsfutter“.19 Die Menschheit selbst sei zur „Staatsmenschheit“ degradiert, die stets an ihrer Identität verliert. Gleich werden auch „die sogenannten Alten Meister“ angegriffen, die nichts anderes seien als „Staatskünstler“ im Dienste einer „katholischen Staatskunst“.20 Bernhards Angriffslust macht keinen Halt vor katholischen und traditionellen Werten ; mit dieser antikatholischen Neigung nicht weniger, als mit der beißenden Kritik an der Kunst und den Künstlern oder der Auffassung der Kunst als Lebenssurrogats erinnert er ebenfalls an Nietzsche.21 Der Künstler Bernhards scheute sich nie vor vernichtenden Angriffen gegen Kunst und Künstler : „Die Künstler sind die Verlogensten“, schreibt er, „nicht viel verlogener als die Politiker.“ Zwar meint er damit nicht ausschließlich die österreichischen Künstler § er spricht u.a. auch vom „Ur- und Vor-Nazi Dürer“22 §, doch scheint er gerade an der Zerstörung der österreichischen Kunst- und Kulturikone einen besonderen Genuss zu finden. Nachdem Reger Künstler wie Bach, Händel, Mozart oder Goethe zu den „aufgeblasenen Ungeheuerlichkeiten“ zählt, macht er sich an Adalbert Stifter heran, um einen verbalen Gallenausfluss auszulassen, der diesem kanonisierten Dichter der deutschsprachigen Literaturgeschichte wohl nie sonst zuteil wurde. Er wirft ihm u.a. ein „fehlerhaftes und stümperhaftes Deutsch und Österreichisch“, eine „verschwommene“ Prosa und eine verantwortungslose Kunst „von einer kleinbürgerlichen Sentimentalität und kleinbürgerlichen Unbeholfenheit“23 vor. Stifters Prosa sei nichts anderes „als ein kleinbürgerliches Linzer Machwerk“, der Dichter selbst „kein Genie“, sondern nur 18 19 20 21
Ebd., S. 53. Ebd., S. 58f. Ebd., S. 61. Die folgenden Zeilen im Roman lassen sich zudem als eine Art Fußnote zu Nietzsches MoralLehre lesen : „Das ist ja eines der abstoßendsten Kennzeichen dieser Zeit, daß immer behauptet wird, die sogenannten einfachen und die sogenannten unterdrückten Menschen seien gut, die anderen schlecht, das ist eine der widerlichsten Verlogenheiten […]“ § Ebd, S. 298. 22 Ebd., S. 61. 23 Ebd., S. 74.
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ein verkrampft lebender Philister und ein ebenso verkrampft schreibender muffiger Kleinbürger als Schulmann, der nicht einmal den geringsten Anforderungen an die Sprache entsprochen hat, geschweige denn darüber hinaus befähigt gewesen wäre, Kunstwerke hervorzubringen.24
Selbst die Tatsache, dass Stifter schließlich Selbstmord begangen hat, ändert nichts an Regers Urteil über die „absolute[] Mittelmäßigkeit“ eines Dichters, der „nurmehr noch totes Germanistenpapier“25 sei. Die verbale Aggression, die sich auch hinter einer genuinen Meisterschaft der Sprache verrät, erreicht in der Stifter-Passage des Romans in einer totalen Zerstörung eines österreichischen, aber gleichzeitig auch einer literaturgeschichtlichen und gar „germanistischen“ Ikons, einen Gipfelpunkt. Dabei handelt es sich bei den Angriffen gegen Stifter um keinen Einzelfall ; in einem Atemzug wird etwa der österreichische Komponist Anton Bruckner auf dem Seziertisch eines schonungslosen Sarkasmus zerlegt, um im nächsten Augenblick gemeinsam mit Stifter erledigt zu werden : „Bruckner ist ein genauso schlampiger Komponist wie Stifter ein schlampiger Schriftsteller, diese oberösterreichische Schlampigkeit haben die beiden gemeinsam.“26 Die Blamagen betreffen dabei nicht nur österreichische Künstler, sondern auch den österreichischen Staat und die österreichische Gesellschaft schlechthin, die Gewohnheiten und (politischen) Skandale der Österreicher, ihr „Demokratiegefasel“,27 ihre „katholisch-nationalsozialistische Justiz“,28 usw. Bernhards Kritik grenzt gelegentlich an Derbheit, wenn er die Österreicher und vorzüglich ihre Politiker etwa der „Scheußlichkeiten und Verbrechen“, der Bequemlichkeit und Lüge bezichtigt : Der Österreicher ist alles andere als ein Revolutionär, weil er überhaupt kein Wahrheitsfanatiker ist, der Österreicher lebt seit Jahrhunderten schon mit der Lüge und hat sich daran gewöhnt, so Reger, der Österreicher ist schon jahrhundertelang mit der Lüge die Ehe eingegangen, mit jeder Lüge, so Reger, aber mit der Staatslüge zutiefst und zuallererst.“29
Zwar versäumt es Bernhard nicht, den Scheltreden immer wieder Paranthesen wie „so Reger“ oder „sagte Reger“ zur Versicherung der scheinneutralen Er-Er24 25 26 27 28 29
Ebd., S. 75. Ebd., S. 76. Ebd., Ebd., S. 214. Ebd., S. 216. Ebd., S. 241.
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zählperspektive einzuschieben, dennoch treibt er § hinter der Figurenrede versteckt § sein eigenes subversives Spiel mit dem Leser, hält seine Aufmerksamkeit durch radikale und provokative Äußerungen fest, greift seine festgeprägten Meinungen an und verunsichert ihn darüber, ob Literatur oder Kunst überhaupt noch irgendeinen Wert haben. Allerdings muss gleich zu seiner Ehre gesagt werden, dass seine Ikonoklasmen nicht den Grad eines absoluten ästhetischen Nihilismus erreichen, da ab und zu auch Künstler und Philosophen (einige sogar mehrmals) im Text angeführt werden, auf die ein relativ positives Licht fällt. Bernhard übt eine Art Schwarz-weiß-Malerei, wenn er gegenüber Bruckner Musiker wie Mozart, Händel oder Haydn, gegenüber Stifter Dichter wie Kleist, Novalis („Novalis liebe ich“, heißt es sogar an einer Stelle) 30, Goethe oder den Philosophen Schopenhauer stellt, und seinem Werturteil apodiktisch hinzufügt : „Wer Goethe liebt, kann nicht gleichzeitig Stifter lieben“.31 Tatsächlich hatte auch Bernhard seine Lieblingsdichter und -philosophen, Kleist und Novalis, Montaigne und Pascal, Schopenhauer und Nietzsche, die er gelegentlich paraphrasiert oder zitiert (siehe z.B. das Novalis-Motto im Stück Der Ignorant und der Wahnsinnige oder das Pascal-Motto im Roman Verstörung), auf die er anspielt oder deren Ideen er in seine Texte aufgenommen hat. Einigen wie Schopenhauer § auf den auch in Alte Meister mehrmals hingewiesen wird § ist sein Werk zutiefst verpflichtet.32 Diejenigen aber, die sein Verständnis oder seine Sympathie nicht trafen, konnten seinem ästhetisierten Vernichtungswillen schwer entgehen. So kann sich etwa Martin Heidegger nur darüber freuen, dass er es nicht mehr erlebt hat, ein „nationalsozialistischer Pumphosenspießer“, ein komischer „Kitschkopf“, ein „philosophischer Heiratsschwindler“ oder „philosophischer Marktschreier“ genannt zu werden.33 Heidegger habe „alles Große so verkleinert, daß es deutschmöglich geworden ist“ und sich damit zum „Lieblingsphilosoph der deutschen Frauenwelt“34 gemacht. Damit gehört Heidegger neben Stifter und Bruckner zu jenen Ikonen im Roman, die schonungslos demontiert werden. Das Pikante in dieser Ästhetik der Demontage liegt aber gerade im persönlichen Verhältnis Bernhards zu dieser „Trias“ : Man hat bereits darauf hingewiesen, dass in Bernhards Auseinandersetzung mit Stifter, Bruckner und Heidegger in Alte Meister auch eine „Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit, mit der eigenen 30 Ebd., S. 263. 31 Ebd., S. 77. 32 Vgl. Jurdzinski, Gerald : Leiden an der „Natur“. Thomas Bernhards metaphysische Weltdeutung im Spiegel der Philosophie Schopenhauers. Frankfurt am Main et al. 1984. 33 Bernhard : Alte Meister, S. 88f. 34 Ebd., S. 90.
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Herkunft“35 vorliegt, wie sie auch den Ausführungen Regers über seine ziemlich bizarr anmutende Verwandtschaft mit ihnen zu entnehmen ist. Der ikonoklastische Gestus richtet sich somit auch gegen eigene frühere geistige Idole, gegen frühere Ikone des eigenen Bildungswegs und Kunstverständnisses von Bernhard selbst ! Damit wird der Ikonoklasmus gleichzeitig in den Dienst der eigenen geistig-künstlerischen Selbstwerdung und Selbstdefinition gestellt. Ikonoklasmus impliziert damit bei Bernhard nicht nur die verbale Zerstörung von Fremdbildern, sondern auch eine Selbstzerlegung und sogar § man wird erneut an Nietzsche erinnert § Selbstüberwindung. Letztere resultiert aber weniger aus einem tragischen, als einem § sit venia verbo § tragikomischen Weltgefühl. Ikonoklastische Kunst als postmoderne Sprachkomik Bernhard benutzt die Komik der Sprache, um mit geistigen Ikonen abzurechnen und sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Seine ikonoklastische Kunst ist nicht zuletzt eine maliziöse, er hat sozusagen die Boshaftigkeit selbst zur Kunst perfektioniert. Damit wurde er gleichsam zu einem postmodernen Clown-Künstler und Sprachakrobaten, der von der selbstinszenierten Höhe seines Werturteils alles angeblich Falsche und Kleine verabscheute und auf einen willkürlich zusammengetragenen Kulturmisthaufen warf. Doch machte er es nirgends klar, nach welchen ästhetischen oder sonstigen Kategorien und Prinzipien er seine Urteile fällt, man wird nur mit seinen fertigen, als unumstößlich dargebotenen Sentenzen konfrontiert, wo es dem Leser kein Gegenargument, außer dem Lachen als spontaner Reaktion übrig bleibt. Und dennoch : Trotz der schweren Definierbarkeit von Bernhards ästhetischen Grundsätzen übt sein Schreiben ein besonderes Faszinosum aus, das sich allein mit der „misanthropischen Attitüde“, wie einer seiner Kritiker annahm,36 kaum erklären lässt. Es dürfte vielmehr der charakteristische mitreißende Sprachwirbel sein, dessen Zauber sich der Leser schwer entziehen kann. Dieser Sprachwirbel fegt gleichsam alles weg, was ihm im Wege steht. Es bleiben in seiner Folge wenige Ikone unversehrt stehen. Großes und Kleines werden gleichermaßen aufgesaugt. Nach ihnen bleibt zunächst die Komik, die Bernhard sein Publikum nach wie vor sichert. Sie ergibt sich einerseits aus der Vorliebe für und Zerlegung der Details, aus einer Erzähloptik, der keine Einzelheiten entge35 Mittermayer : Thomas Bernhard, S. 130. 36 Vgl. Dittmar, Jens (Hg.) : Thomas Bernhard : Werkgeschichte. Frankfurt am Main 1990, S. 294.
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hen, andererseits aus der starken Neigung zum Karikieren. Das ist der Fall etwa, wo Reger die Stadt Wien, „wo ja tatsächlich alle Toiletten so verwahrlost sind wie in keiner anderen großen Stadt Europas“,37 von einer kleinlichen Perspektive her in Anschlag nimmt. Plötzlich heißt es, Wien habe keine Toilettenkultur, „selbst in den berühmtesten Hotels der Stadt befinden sich skandalöse Toiletten“, oder : „Wien ist ganz oberflächlich wegen seiner Oper berühmt, aber tatsächlich gefürchtet und verabscheut wegen seiner skandalösen Toiletten.“38 Die Hauptstadt Österreichs und seine Bewohner werden mit einer vernichtenden Ironie abgetan, wobei Bernhard alle möglichen Einzelheiten heranzieht, um eine umfassende Karikatur zu erstellen. Nichts bleibt verschont : weder Abort, noch Bahnhöfe, weder Restaurants, noch Kaffehäuser in Wien, weder Speisen noch Essgewohnheiten der Wiener. In Wien sei es „hundertmal schmutziger als auf dem Balkan“,39 die Wiener Restaurants seien „die schmutzigsten in ganz Europa“,40 die Wiener selbst „die schmutzigsten Leute in Europa“,41 usw. Zur Karikatur bedarf es allerdings der Übertreibung : Auch in diesem Roman bleibt Bernhard seinem Renommee als „Übertreibungskünstler“42 zweifellos treu. Bernhards Vorliebe für die kleinen Details, in denen der Teufel des Karikierens steckt, geht indessen mit seiner Abneigung gegen das Große und Monumentale einher. Damit teilt er natürlich die schielende Optik seiner Zeit, die gerne die Karikatur und die Persiflage, das Spielerisch-Entlarvende und Verzerrende bevorzugt. Die Postmoderne ist auch die Epoche des Postsakralen und Postmonumentalen. Das postmoderne Denken will nichts Großes oder Heiliges anerkennen, und wenn er doch solchen begegnet, greift es schnell zum Instrument des Dekonstruierens und Zerlegens, indem es das Fragmenthafte der Ganzheit vorzieht. In der Einstellung Regers zeigt sich eben die gleiche Tendenz, alles angeblich Vollkommene in Zweifel zu ziehen : Das Ganze und Vollkommene sind für ihn unerträglich, so dass er sich gezwungen fühlt, in jedem angeblich vollkommenen Werk, selbst im hochgeschätzten Tintoretto-Porträt, „einen sogenannten gravierenden Fehler“43 zu entdecken. Dieser schielende Blick macht das
37 38 39 40 41 42
Bernhard : Alte Meister, S. 162. Ebd. Ebd., S. 163. Ebd., S. 165. Ebd., S. 166. Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin : Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard. Wien 1989. 43 Bernhard : Alte Meister, S. 41.
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Ganze zum Fragment,44 das Unerträgliche erträglich. Das Vollkommene, etwa das Kennwort „Meisterwerk“ über einem Gemälde, wird geradezu als bedrohlich empfunden, gegen das sich Reger mit dem Instinkt des Überlebenwollens wehrt : „Erst wenn wir immer wieder darauf gekommen sind, daß es das Ganze nicht gibt, haben wir die Möglichkeit des Weiterlebens.“45 Reger empfindet eine unwiderstehliche Neigung dazu, „die ganze Welt zur Karikatur“46 zu machen. Vor allem Künstler wie Stifter oder Bruckner scheinen ihm geeignet, das „sogenannte Große“ zu demontieren, wobei selbst Shakespare oder Goethe, Beethoven oder Mozart vom „Zerlegungs- und Zersetzungsmechanismus“47 nicht verschont werden. Die sogenannten Großen lösen wir auf, sagte er, zersetzen sie mit der Zeit, heben sie auf, sagte er, die großen Maler, die großen Musiker, die großen Schriftsteller, weil wir mit ihrer Größe nicht leben können, weil wir denken und alles zu Ende denken, sagte er.48
Diese Worte ließen sich geradezu als ein bündiges ästhetisches Manifest der Postmoderne lesen, die mit ihrer scharf-zerlegenden, dekonstruierenden Einstellung keinen Blick mehr für das Große und Ganze hat. Bernhard selbst schöpfte immer Verdacht, wo es um das „Große“ ging, und entwickelte aus dieser Abneigung eine Kunst der Entmonumentalisierung und Entmythisierung. Vor seinem prüfenden Blick blieb, trotz der Beibehaltung des Begriffs des Genies, wenig Heiliges, und noch weniger Katholisches stehen. So heißt es in einem der Monologe Regers : „Wir müssen den Papst von Angesicht zu Angesicht sehen und persönlich feststellen, daß er alles in allem ein genauso hilflos-grotesker Mensch ist, wie alle anderen auch“.49 Doch gerade wegen ihrer Hilflosigkeit scheinen ihm hingegen Montaigne oder Pascal geradezu liebeswürdig. Das Große wird damit ins hilflos-liebevoll Menschliche transformiert. Bernhards ikonoklastischetmonumentalisierende Kunst zerstört und relativiert das Große, um in seinen Scherben das genuin Menschliche aufzufinden. Diese Kunst lässt sich zwar als „postmodern“ bezeichnen, sie ist aber mitnichten eine posthumane. Selbst der 44 Zum Verhältnis zwischen Fragmenthaftigkeit und Subjekt bei Bernhard vgl. noch GreinerKemptner, Ulrike : Subjekt und Fragment ± Textpraxis in der (Post-)Moderne. Stuttgart 1990. 45 Bernhard : Alte Meister, S. 42f. 46 Ebd., S. 117. 47 Ebd., S. 226. 48 Ebd., S. 81. 49 Ebd., S. 43, Hervorhebung im Original.
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Protagonist Reger lässt, trotz seines „Kunstegoismus“, 50 mit der er alle hohe Kunst für sich beansprucht, und trotz der apollinischen Höhe seiner Kunsturteile, durchaus menschliche, empathiewürdige Züge erkennen, spätestens dort, wo er über den Verlust seiner lebensnotwendig geliebten Frau berichtet. In der letzten Instanz des Alleinseins in der Welt hilft die Kunst, helfen die Alten Meister nicht mehr, denn „am Ende sind wir vor allem von diesen sogenannten Alten Meistern alleingelassen und wir sehen, daß wir von allen diesen großen Geistern und Alten Meistern auch noch auf die gemeinste Weise verhöhnt werden“.51 Noch ein letzter Aspekt von Bernhards postmodernem Schreiben in Alte Meister soll zuletzt erwähnt werden : Sein problematisches Verhältnis zur „Wahrheit“. Reger schiebt seinen Deklamationen häufig die Apodiktion „das ist (doch) die Wahrheit“ nach, um gleichsam jedem möglichen Widerspruch vorzubeugen : „Die Welt und die Menschheit sind in einem Höllenzustand angelangt, in welchem die Welt und die Menschheit noch niemals in der Geschichte angelangt waren, das ist die Wahrheit, so Reger.“52 Doch gerade in der Postmoderne erscheint jeder exklusive Wahrheitsan- und -ausspruch in zweifelhaftem Licht. Bernhard muss Nietzsches Traktat Von Wahrheit und Lüge in außermoralischem Sinne gekannt haben und sich über die Brüchigkeit jeder Wahrheitsüberzeugung im Klaren gewesen sein.53 Regers apodiktische Wahrheits-Formel ist somit selbst nur Teil der (Tragi-)Komik. Die Wahrheit § das ist schließlich nur eine Wahrheit. Bernhard hat mit Alte Meister einen (allerdings nicht seinen einzigen) WeltbildRoman geschaffen, dessen „Wahrheit“ eine mögliche Wahrheit, genauer : eine mögliche Wahrnehmung ist. Sein Wahrheitsbegriff balanciert auf der Grenze zwischen Ernsthaftem und Komischem und bildet selbst eine Suche im Dschungel der postmodernen Wahrheiten ab. Er ist nicht unanfechtbar, trägt aber zum Verständnis einer facettenreichen postmodernen Welt bei, in der wir zu leben haben. Literaturverzeichnis Bernhard, Thomas : Alte Meister. Frankfurt am Main 1985. Dittmar, Jens (Hg.) : Thomas Bernhard : Werkgeschichte. Frankfurt am Main 1990. Elias, Norbert : Über den Prozess der Zivilisation. Frankfurt am Main 1976. 50 51 52 53
Ebd., S. 255. Ebd., S. 291f., Hervorhebung im Original. Ebd., S. 211. Zur „Wahrheitsfrage“ bei Nietzsche und Bernhards Roman vgl. Eyckeler, Franz : Reflexionspoesie. Sprachskepsis, Rhetorik und Poetik in der Prosa Thomas Bernhards. Berlin 1995, S. 34§41, S. 139.
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Eyckeler, Franz : Reflexionspoesie. Sprachskepsis, Rhetorik und Poetik in der Prosa Thomas Bernhards. Berlin 1995. Greiner-Kemptner, Ulrike : Subjekt und Fragment ± Textpraxis in der (Post-)Moderne : aphoristische Strukturen in Texten von Peter Handke, Botho Strauß, Jürgen Becker, Thomas Bernhard, Wolfgang Hildesheimer, Felix Ph. Ingold und André V. Heiz. Stuttgart 1990. Hens, Gregor : Thomas Bernhards Trilogie der Künste : Der Untergeher, Holzfällen, Alte Meister. Rocherster, New York 1999. Jurdzinski, Gerald : Leiden an der „Natur“. Thomas Bernhards metaphysische Weltdeutung im Spiegel der Philosophie Schopenhauers. Frankfurt am Main et al. 1984. Márai, Sándor : Bekenntnisse eines Bürgers. Übers. von Hans Skirecki. Hg. von Siegfried Heinrichs. München, Zürich 2009. Martin, Charles W.: The Nihilism of Thomas Bernhard. Amsterdam, Atlanta 1995. Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Stuttgart, Weimar 1995. Schmidt-Dengler, Wendelin : Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard. Wien 1989. V. Szabó, László : „‚Alles wird Kälte‘. Nihilistische Themen und Motive in Thomas Bernhards ,Frost‘“, in : Studia Germanica Universitatis Vesprimiensis 11/2007, S. 169§183. Weiss, Peter : Die Ästhetik des Widerstands. Band 1§3. Frankfurt am Main 1988. Wild, Reiner : Literatur im Prozess der Zivilisation. Zur theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1982.
Simon Walsh
Das Problem liegt auch im Was Thomas Bernhards Alte Meister im Spiegel des Diskurses von Nachkriegsösterreich als „Land der Musik“
In einer neuen Einleitung zur zweiten Ausgabe seines Buches Undertones of Insurrection : Music, Politics, and the Social Sphere in the Modern German Narrative entwirft Marc Weiner eine pointierte Perspektive auf das germanistische Forschungsgebiet der „musical-literary relations“, bei dem es um Studien über Musik in der deutschsprachigen Literatur geht. Nach wie vor bedauert Weiner § der selbst in seiner Studie versucht, musikalisch-literarische Hinweise des frühen 20. Jahrhunderts mit ideologischen und sozialpolitischen Debatten der Zeit zu verknüpfen § die Abneigung des akademischen Fachbetriebs gegenüber gesellschaftlichen und politischen Fragen. Die allermeisten Studien, so Weiner, „[have] either focused their attention on music and the figure of the musician as motives in the literature of the German-speaking countries, deemed it sufficient to simply identify or to point out those passages in the works of the German literary canon that contained discussions of music, or examined primarily technical parallels between specific musical arts, musical forms, and literary works.“1 Diese Bemerkungen treffen auch auf die immer größer werdende Sekundärliteratur zu Thomas Bernhards literarischer Auseinandersetzung mit der Musik zu. Wie bekannt erhielt Bernhard § erst in der Schule als Geiger und später als Sängerstudent am renommierten Mozarteum in Salzburg § eine ausführliche Musikausbildung. Obwohl er sich schließlich für eine literarische Karriere entschied, waren seine Texte von Anfang an durch eine intensive, wiederholte Beschäftigung mit Musik gekennzeichnet. Jedoch stehen bei den meisten Studien, die sich mit dem Thema „Bernhard und die Musik“ beschäftigen, formale und strukturelle Fragestellungen im Vordergrund.2 Bernhard hat selbst den Ton für 1 Weiner, Marc A. Undertones of Insurrection : Music and Cultural Politics in the Modern German Narrative. New Brunswick 2009, S. xxxvii. 2 Dies ist der Fall z.B. bei Monographien der letzten Jahren, die jeweils von Kuhn, Solibakke und Bloemsaat-Voerknecht publiziert wurden. Laut Gudrun Kuhn habe Bernhard „eine Prosa wie Musik“ geschaffen und deswegen gehe sie der Frage nach : „Was aber ist ein musikalischer Text ?“ ± Ein philosophisch-musikalisch geschulter Sänger : musikästhetische Überlegungen zur Prosa Thomas
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eine solche Forschungsausrichtung vorgegeben. In einem vielzitierten Satz (aus den 1980er-Jahren) über das Verhältnis seiner Prosa zur Musik äußerte er sich folgendermaßen : Was mich zum Schreiben treibt, ist ganz einfach die Lust am Spiel. […] Den Stoff im eigentlichen Sinn halte ich für ganz und gar sekundär, es genügt, aus dem zu schöpfen, was um uns ist […]. Um darauf zurückzukommen, wie ich meine Bücher schreibe : ich würde sagen, es ist eine Frage des Rhythmus und hat viel mit Musik zu tun. Ja, was ich schreibe, kann man nur verstehen, wenn man sich klarmacht, dass zuallererst die musikalische Komponente zählt und dass erst an zweiter Stelle das kommt, was ich erzähle. Wenn das erste einmal da ist, kann ich anfangen, Dinge und Ereignisse zu beschreiben. Das Problem liegt im Wie.3
Dementsprechend wird von vielen behauptet, dass Bernhards Prosa eine durchaus musikalische Prosa sei, deren Aufbau sich von musikalischen Strukturen herleiten lasse. Um hier nur ein Beispiel aufzugreifen, wird von Gregor Hens in seiner Studie Trilogie der Künste argumentiert, dass die Bedeutung von Der Untergeher hauptsächlich in der „erzählerischen Form der Strukturen der Musik“ liege.4 Genauer gesagt will Hens in der Prosaerzählung die Manifestierung einer fugalen Struktur sehen und zwar im zweifachen Sinne : erstens deswegen, weil die Persönlichkeiten der drei Protagonisten und der Ablauf ihres künstlerischen Lebens fugenartig ineinandergreifen ; und zweitens darum, weil es nach Hens vier distinkte erzählerische Teile gibt, die ebenfalls fugenartig aufeinander reagieren. Aber selbst wenn in der Forschungsliteratur Musik als konkretes Thema in Bernhards Werk vorkommt, werden selten gesellschaftliche oder politische FraBernhards. Würzburg 1996, S. 7. Mit Blick auf Der Ignorant und der Wahnsinnige interessiert sich Karl Solibakke für die „Literarisierung der Musik aus medientechnischer, kunstästhetischer, sprachphilosophischer, erkenntniskritischer und textanalytischer Perspektive.“ Geformte Zeit : Musik als Diskurs und Struktur bei Bachmann und Bernhard. Würzburg 2005, S. 8. Die „möglichen ,Übernahmen‘ musikalischer Großformen […bei Bernhard sowie…] von musikalischen Kompositionselementen“ bilden einen erheblichen Teil von Lisbeth Bloemsaat-Voerknechts Analyse. Thomas Bernhard und die Musik : Themenkomplex mit drei Fallstudien und einem musikthematischen Register. Würzburg 2006, S. 11. 3 Interview für „Le Monde“ von Jean-Louis de Rambures (1983), zitiert nach „Ich behaupte nicht, mit der Welt gehe es schlechter.“ FAZ vom 24.2.83 4 Hens, Gregor : Thomas Bernhards Trilogie der Künste : Der Untergeher, Holzfällen, Alte Meister. Rochester, New York 1999, S. 18.
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gen akzentuiert. Zusammenfassend könnte man sagen, dass diese Literatur Musik eher als eine in sich geschlossene, wenn auch in gewissem Maße ästhetisch übertragbare Form implizit behandelt, die wenig mit der Außenwelt zu tun hat. Man könnte natürlich die Frage stellen, warum sollten wir von der Musik erwarten, dass sie etwas mit der Außenwelt zu tun haben sollte ? An dieser Stelle möchte ich mich auf eine Diskussion über zwei Arten von musikalischer Bedeutung berufen § inhärente und darstellende Bedeutung (auf Englisch : inherent und delineated meaning) §, die Lucy Green in ihrem Buch Music, Gender, Education erörtert.5 Inhärente Bedeutung weist auf die materielle Klänge selbst sowie die Beziehung zwischen den Teilen eines Musikstückes, die wir, je nach Erfahrung und Ausbildung, wahrnehmen können. Diese Art von musikalischer Bedeutung, die man vielleicht mit der Bezeichnung „Musik-an-sich“ umschreiben könnte, lässt sich umstandslos verbinden mit jener Umgangweise mit Musik, die in der Forschungsliteratur zu Bernhard und die Musik vorkommt. Green betont jedoch, dass sich musikalische Bedeutung auch auf die kontextuellen Assoziationen bezieht, die ein musikalisches Erlebnis metaphorisch darstellen oder skizzieren kann. Green erläutert : These contexts are not merely extra-musical appendages, but they also, to varying degrees, form a part of the music’s meaning during the listening experience […]. When we listen to music, we cannot separate our experience of its inherent meaning entirely from a greater or lesser awareness of the social context that accompanies its production, distribution or reception.6
Als Beispiele für eine solche Skizzierung nennt Green die Identifizierung bzw. Ablehnung von den subkulturellen Werten, die wir bei einem Publikum in einem Konzert gemeinsam zu sehen glauben. Manche der Überzeugungen und Gedanken, die jene Werte ausmachen, seien so sehr mit der Musik selbst verbunden und so sehr akzeptiert von allen Mitgliedern unserer Gesellschaft, dass wir wohl sagen können, dass die Musik dazu fähig geworden sei, genau diese Werte darzustellen oder gar zu bedeuten. Zwischen den beiden Ebenen gibt es eine dialektische Beziehung, „such that neither can exist without the other insisting on its own presence“.7 Green beschäftigt sich auch mit der Umsetzung beider Ebenen in verschiedenen Diskursen über Musik. Entscheidend ist dabei, dass musikalische 5 Green, Lucy : Music, Gender, Education. New York 1997, S. 7. 6 Ebd., S. 7. 7 Ebd., S. 9.
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Darstellungen, wie Green schreibt, „are in some respects separate from the listening experience, circulating instead in the discourse on music.“8 Was hat das alles mit dem Thema Thomas Bernhard und die Musik zu tun ? Ich würde behaupten, dass man im Werk Bernhards eine Schilderung von Musik identifizieren kann, die sich mit einem kulturellen Diskurs über Musik, die im Nachkriegsösterreich weitverbreitet war, vereinbaren lässt. Dieser Diskurs lässt sich in so beliebten Stichworten wie „Land der Musik“ oder „Musikland Österreich“ fassen. (Im Hinblick auf Wien manchmal auch „Stadt der Musik“.) Für die Analyse dieser Epitheta kann man sich auf mehrere Publikationen der vergangenen Jahre stützen, die explizit der gesellschaftlichen Rolle von Musik in Österreich der Nachkriegszeit nachgegangen sind.9 Die Bezeichnung von einem „Land der Musik“ ist vor allem mit zwei Argumentationsketten verbunden. Die erste betont das sogenannte „musikalische Erbe“ Österreichs, also die Leistungen einiger „Tonheroen“ aus der Vergangenheit, die eine österreichische Musikalität verkörpern sollen. Im Zentrum dieser Argumentation stehen Komponisten der Wiener Klassik (Mozart, Haydn, Beethoven), ergänzt durch Repräsentanten der Romantik (Schubert, Brahms, Bruckner und Mahler). Der zweiten Argumentationskette zufolge haben die Österreicher eine fast eingeborene Neigung zur Musik. In einer offiziellen Broschüre des Bundespressedienstes, die 1984 unter dem Titel „Österreich : Land der Musik“ publiziert wurde, lautet der allererste Satz : „Die europäische Kultur hat in den Schöpfungen der Musik einen besonderen charakteristischen Ausdruck gefunden, die Musik Österreichs steht an so zentraler Stelle, dass ,Musik‘ und ,Österreich‘ fast als gleichbedeutend gelten.“10 Mayer-Hirzberger hat darauf hingewiesen, dass die beide Argumentationsketten ineinander greifen : „Es herrscht die Meinung vor, dass die Großen der Musikgeschichte aus dem musikalischen Ambiente hervorgehen und gleichsam Spiegelbild der Bevölkerung und des Landes sind.“11 8 Ebd., S. 10. 9 Siehe z.B. Szabó-Knotik, Cornelia : „Mythos Musik in Österreich : die Zweite Republik“, in : Bruckmüller, Ernst/Steckl, Hannes (Hg.) : Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten. Wien 2004, S. 243§70. „Selbstinzeinierung und Handelsbilanz. Die (Re)Konstruktion Österreichs nach 1945 mittels Musik,“ in Schweiger, Dominik/Staudinger, Michael/Urbanek, Nikolaus (Hg.) : Musik-Wissenschaft an ihren Grenzen. Manfred Angerer zum 50. Geburtstag. Frankfurt am Main, Berlin 2004, S. 355§82, sowie Eickhoff, Thomas : „,Mit Sozialismus und Sachertorte …‘ § Entnazifizierung und musikpolitische Verhaltensmuster nach 1945 in Österreich“, in : Riethmüller, Albrecht (Hg.) : Deutsche Leitkultur Musik ? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust. Stuttgart 2006, S. 85§101. 10 Goertz, Harald : Österreich : Land der Musik. Wien 1984, S. 5. 11 Mayer-Hirzberger, Anita : ,… ein Volk von alters her musikbegabt.‘ Der Begriff ,Musikland Österreich‘
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Es liegt mir fern, die Realität der musikalischen Tradition Österreichs oder die stabilisierende Funktion, die Musik für die Zweite Republik gespielt hat, zu leugnen. Für ein Land, das 1945 vor der Aufgabe stand, seinen eigenen Weg als Nation zu gehen, war es wahrscheinlich sinnvoll, eine modernisierte Identität um die handgreifliche Musiktradition zu bauen. Aber wie die einschlägige Forschungsliteratur belegt, war es auch zweifellos der Fall, dass die Art und Weise, über Musik zu sprechen und mit ihr umzugehen, einem Identitätsmodell gedient hat, das mit dem sogenannten Opfermythos eng verbunden war. „Der mit dem Topos der Opferrolle Österreichs und seiner Wiederauferstehung behauptete Bruch mit der unmittelbaren, traumatisierten Vergangenheit“, schrieb erst vor kurzem SzaboKnotik, „wird in den [nach 1945] folgenden Jahren und Jahrzehnten allgemein mit der Anspielung auf die besondere Tradition österreichische Kunstmusik unterstützt, die auf eine zurückliegende, glorreiche Vergangenheit verweisen soll.“12 Zusammenfassend könnte man sagen, dass die häufige Anspielung auf Österreichs Vermächtnis und Errungenschaften im Bereich Musik Österreich dazu verhalf, sich allzu leicht über seine Nazi-Vergangenheit hinwegzubegeben, und zwar im doppelten Sinne. Erstens, weil dieses Konstrukt als eine Art kulturelles Ablenkungsmanöver funktionierte ; und zweitens weil sie uns von der zentralen Rolle, die Musik selbst in den Nazijahren gespielt hat, ablenkte. An dieser Stelle möchte ich nun am Beispiel der Prosaerzählung Alte Meister klären, inwieweit das Musikbild, das von Bernhard und seiner Hauptfigur Reger entwickelt wird, eine Reaktion auf das, was den Inhalt des Diskurses zum „Land der Musik“ ausgemacht hat, darstellt. Erschienen 1985 gehört Alte Meister zu der Spätprosa Bernhards. Matthias Konzett hat darauf hingewiesen, dass es Bernhard erst in seinem Spätwerk völlig gelungen ist, die seine Figuren quälende Resignation, Isolation, und Nihilismus zu überwinden, indem er sie als Agenten in der Gesellschaft und deren Öffentlichkeit verlegt hat.13 Es ist deshalb wahrscheinlich kein Zufall, dass dieses Werk in den 1980er-Jahren entstand, also in dem Jahrzehnt, in dem sich die Waldheim-Affäre abspielte, die bekanntlich zu einer offenen, wenn auch sehr verspäteten öffentlichen Auseinandersetzung über Österreich in der NS-Zeit geführt hat. In Bernhards Prosa-Erzählung lässt Reger seine Wut an seinen Landsleuten aus : „Die Österreicher, als die geborenen Opportuim Ständestaat. Frankfurt am Main 2008, S. 23. Das zweite Kapitel „Zum ‚Musikland Österreich‘“ gibt einen Überblick über die Verwendungsweisen des Begriffs bis zum heutigen Tag. 12 Szabó-Knotik : „Mythos Musik in Österreich,“ S. 249. 13 Konzett, Matthias. The Rhetoric of National Dissent in Thomas Bernhard, Peter Handke, and Elfriede Jelinek. Rochester, New York 2000, S. 23.
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nisten, sind Duckmäuser […] und sie leben vom Vertuschen und Vergessen.“14 Reger kritisiert auch die aktuelle politische Verhältnisse : „Wenn wir die Zeitung aufmachen, haben wir wieder einen politischen Skandal“,15 und diagnostiziert dazu Österreichs moralischen Untergang : „[V]ierzig Jahre nach Kriegsende haben die österreichischen Verhältnisse wieder ihren finsterten moralischen Tiefpunkt erreicht“.16 Auch wenn diesen fiktionalen Aussagen das Spezifische fehlt, spiegeln solche kennzeichnende Bemerkungen Regers das Klima der politischen und persönlichen Verantwortungslosigkeit der Vergangenheit gegenüber wider, die damals geherrscht hat, und nehmen auch die öffentlichen Skandale um die Waldheim-Affäre vorweg (die dann wichtige Impulse für das Schauspiel Heldenplatz gegeben hat). Wie der Erzähler Atzbacher in Alte Meister dem unkultivierten Museumswärter Irrsigler mitteilt, ist Reger „eine in der ganzen musikwissenschaftlichen Welt hochgeachtete Persönlichkeit.“17 Seine musikalische Autorität wird auf der ersten Seite bestätigt, indem Atzbacher eine Reihe von Komponisten und Stücken erwähnt, über die Reger am Tag zuvor im Kunsthistorischen Museum zwei Vorträge gehalten hat : erstens eine Art von privatem Vortrag über Beethovens Sturmsonate, der nur für Atzbacher bestimmt ist ; und zweitens eine öffentliche Rede über die Fuge als historische musikalische Form. Also in seiner Funktion als prominenter, urteilender Musikkritiker bzw. Musikwissenschaftler nimmt Reger eine gesellschaftliche Stellung ein, die mit der Rolle Österreichs als Musikland durchhaus vereinbar ist. Gegen diese Behauptung spricht keineswegs die Tatsache, dass Reger angeblich in seinem Heimatland nicht anerkannt ist. Der Wirkungsgrad des Diskurses von einem „Land der Musik“ hing auch davon ab, wie ernst sie von der Außenwelt genommen wurde. Und in der Nachkriegszeit war es stets wichtig, Ausländer mit dem Ansehen eines musikalisch begabten Österreichs vertraut zu machen, nicht nur um Touristen zu gewinnen, sondern auch deswegen, damit Nichtösterreicher imstande wären, dieses Image weiterzupflegen und weiterzugeben. Nun ist anscheinend in Alte Meister das britische Interesse an das österreichische Musikleben so groß, so nachhaltig, dass die Zeitung Times es seit über dreißig Jahren für notwendig ansieht, einen in Wien wohnenden Musikkritiker zu bestellen, der für eine britische Leserschaft von Konzerten berichtet, die im Musikverein stattfinden. Wir wissen auch, dass es sich bei diesen „musikphiloso14 15 16 17
Bernhard, Thomas. Alte Meister. Frankfurt am Main 2008, S. 146. Ebd., S. 148. Ebd., 164. Ebd., S. 20.
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phischen Aufsätzen“, wie sie an einer Stelle genannt werden, nicht um ein paar Zeilen handelt, sondern um dreieinhalb Spalten, die ungefähr vier Verfertigungsstunden bedürfen18. In diesem Zusammenhang ist auch der unerwartete Besuch des Engländers, der sich eines Tages zu Reger im Bordone-Saal setzt, von Bedeutung. Er erzählt Reger von einem Neffen, der während eines Aufenthaltes in Wien Tintorettos Weißbärtiger Mann im Kunsthistorischen Museum gesehen hat. Dem Engländer zufolge ist der Neffe nur ins Museum gegangen, „weil er nicht jeden Tag in das Konzerthaus gehen hat wollen.“19 Der Engländer selbst hat sich, wie er dann gesteht, nie für Wien interessiert, „denn ich bin ja auch kein Musikkenner, nicht einmal ein Musikliebhaber.“20 Also schildern die beiden Besucher Wien so, als ob es kulturell gesehen nichts zu bieten hätte § außer Musik. Doch was das sogenannte musikalische Erbe Österreichs betrifft, zeigt sich Reger äußerst enttäuscht, wie seine bombastische Kritik berühmter österreichischer Komponisten demonstriert : Viel Kitsch sei in die Musik Mozarts eingeflossen. Beethoven und seine Musik seien von einem Marschmusikstumpfsinn sowie einer chronischen Hilflosigkeit gekennzeichnet. Mahler sei der am meisten überschätzte Komponist des ganzen Jahrhunderts, der sich schon allein durch seinen Versuch, 50 Streicher auf einmal in einer Symphonie einzusetzen, lächerlich gemacht habe. Und Bruckner, der das Objekt von Regers hartnäckigster und nachhaltigster Verachtung ist, habe eine Musik komponiert, die konfus, unklar, und stümperhaft sei, voller Sentimentalität und verlogener Pompösität. Reger kann auch die stereotypische Verkoppelung von Musik und Österreich nicht unkommentarlos stehen lassen. In der wohl längsten von den vielen Tiraden, die er in Alte Meister abliefert, wettert er gegen die angebliche Unreinlichkeit der öffentlichen Wiener Toiletten. Nach einigen Seiten gipfelt sich die Tirade in einer schonungslosen Schilderung der Toiletten im Musikverein. „[D]er Abort im Musikverein, also in dem obersten aller obersten Wiener Musentempel, [spottet] jeder Beschreibung“.21 Diejenigen, die in jüngster Zeit in Wien waren, werden vielleicht bei dieser Schilderung unwillkürlich an die sogenannte „Opera Toilet“ denken, die heutzutage in der U-Bahn Station Karlsplatz am Ausgang zur Oper zu sehen ist. Für 60 Cent darf man die Einrichtung betreten und, begleitet von Schlagern der Opernwelt, seine Notdurft verrichten. Jedenfalls sieht sich Reger dazu gezwungen, den beklagenswerten Zustand der Musikvereintoiletten 18 19 20 21
Ebd. S. 110. Ebd., S. 96. Ebd., S. 97. Ebd., S. 105.
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ausgerechnet in seiner Zeitungskolumne zu erwähnen : „Wien ist die Stadt der Musik, habe ich einmal in der Times geschrieben, aber auch die Stadt der ekelerregendsten Toiletten und Aborte.“22 Wie lassen sich solche boshaften Bemerkungen erklären ? Will Reger bloß seine Autorität als Kunstrichter bestätigen und behaupten ? Anscheinend versucht er auch, sich von der Aura, die von diesen berühmten Komponisten ausgeht, zu befreien. Dies ist eine Aura, die in den Wiener Konzertsälen gepflegt und wach gehalten wird, weswegen Reger § der als langjähriger Musikkritiker alles hautnah betrachtet hat § auch das Konzertwesen mit Verachtung straft, und sich dann als Musikfanatiker statt Konzertfanatiker bekennt. Was ihn also bei Konzertbesuchen am meisten stört, ist die leere Bewunderung, die häufig den Spielern und Stücken von den Konzertgängern entgegengebracht wird. „Sie gehen in ein Konzert und die Leute bewundern, das ist abstoßend.“23 Im Konzertsaal bekommt man außerdem nur „Abgestandenes, Abgedroschenes gespielt […] immer wieder diese […] auf die Nerven gehenden Mozartkonzerte und Brahmskonzerte und Beethovenkonzerte“.24 Und die Touristen, die nach Wien strömen, „suchen die grauenhaftesten Konzerte auf und klatschen sich die Hände durch“.25 Ich glaube, dass Reger sich hier im Bereich der Karikatur oder Phantasie bewegt. Eine Musikkultur, die sich auf ein beschränktes Komponistenpantheon stützt, dessen Musik bei dem Publikum Bewunderung hervorruft und die Touristen nach Österreich lockt § das alles steht in Einklang mit dem Bild, das von der kritischen Forschungsliteratur zur gesellschaftlichen Rolle von Musik im Österreich der Nachkriegszeit herausgearbeitet worden ist. Nun würde ich trotzdem behaupten, obwohl Reger sich nicht direkt zum Thema Musik, Österreich und seiner Vergangenheit äußert, dass er an manchen Stellen einen großen Schritt in diese Richtung geht. Es fragt sich z.B., warum Reger sich so sehr mit Bruckner beschäftigt. Wie bekannt war Bruckner einer von Hitlers Lieblingskomponisten. Dank Hitlers Engagement hat Bruckner einen öffentlichen Beliebtheitsgrad erreicht, den er nie zuvor genossen hat, und dementsprechend wurde seine Musik im Nazi-Deutschland häufig gespielt.26 In einer der wenigen Passagen, in der Musikalisches und Politisches in direkte Ver22 23 24 25 26
Ebd., S. 106. Ebd., S. 77. Ebd., S. 112. Ebd., S. 114. Siehe, z.B. Leibnitz, Thomas. „Anton Bruckner : ,Deutscher‘ oder ,Österreicher‘ ? Deutungen, Vereinnahmungen, Hintergründe“, in : Hilscher, Elisabeth/Antonicek, Theophil (Hg.) : Österreichische Musik ± Musik in Österreich : Beiträge zur Musikgeschichte Mitteleuropas. Tutzing 1998, S. 463§476.
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bindung zueinander stehen, kommentiert Reger wie folgt : „wenn ich bedenke, wie die Staatsoberhäupter beim Anhören einer Brucknersymphonie in Tränen ausbrechen, wird mir übel“.27 Könnte es also sein, dass Reger in der Gestalt Bruckners ein höchst ironisches und musikalisches Symbol für das Weiterleben des Nazismus in Österreich sieht ? Ebenfalls von Relevanz ist ein auf den ersten Blick rätselhaft wirkender Kommentar Regers über Irrsigler als ein völlig unmusikalischer Mensch, der angeblich Qualen leide, wenn er Musik hören müsse. „Jeder Andere“ § sagt Reger § „setzte sich auch dann, wenn es ihm eine Qual ist, im Musikverein in die dritte oder vierte Reihe, um die Fünfte von Beethoven anzuhören, weil da wie nirgends sonst alles der Eitelkeit des Menschen entgegen kommt“.28 Warum denn diese Verbindung zwischen der Fünften von Beethoven und der Eitelkeit des Menschen ? Hier fühlt sich der Bernhard-Leser an das Stück Vor dem Ruhestand erinnert, in welchem die Altnazis Vera und Rudolf Höller den Geburtstag des SS-Reichführers Heinrich Himmler feiern, und sich dabei an den Klängen der Fünften Symphonie Beethovens ergötzen. Wie Solibakke in seinen Bemerkungen zu dieser Szene anmerkt, wurde diese Symphonie im Rahmen der ideologisch gefärbten Kunstpolitik der Naziherrschaft zur „‚Symphonie der nationalen Erhebung‘“ gekürt.29 Reger beschreibt also ein zwielichtiges Musikerlebnis, in dem ausgerechnet ein Stück, das eine Kette von Assoziationen an die Nazi-Vergangenheit hervorruft, eine von selbstgefälliger Begeisterung geprägte Atmosphäre schafft, in der vertiefte bzw. wohldurchdachte Überlegungen jedweder Art nicht möglich sind. Allgemeiner betrachtet, scheint Bernhard eine Parallele zwischen Musik und Stumpfsinnigkeit ziehen zu wollen, die dann eine bestimmte Einstellung der Vergangenheit gegenüber gefördert hat. Es geht hier um Regers wiederholte Behauptung, dass Musik, im Gegensatz zu Malerei und Literatur Beifall bei den Habsburgern gefunden hat, weil erstere als ungefährlich galt. Laut Reger blühte Musik so gut unter den katholischen Habsburgern, „gerade weil sie so geistlos gewesen sind.“30 Dieser Gedanke wird später von seinem Nachfolger Murau in Auslöschung weiterentwickelt und verfeinert, diesmal unter Berufung auf die Bezeichnung von einem „Land der Musik“ :
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Bernhard : Alte Meister, S. 50. Ebd. S. 144. Solibakke : Geformte Zeit, S. 42. Bernhard : Alte Meister, S. 189.
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Das Land der Musik sind wir ja nur, weil bei uns der Geist immer völlig unterdrückt worden ist Jahrhunderte […]. [I]n dem Maße, in welchem uns durch den Katholizismus der Geist ausgetrieben worden ist, haben wir die Musik aufkommen lassen […]. Aber in meinem Sinne ist es durchhaus nicht […] dass wir zwar Mozart, aber keinen eigenen Kopf mehr haben, Haydn, aber das Denken verlernt und beinahe zur Gänze aufgegeben haben, Schubert, aber alles in allem doch stumpfsinnig geworden sind. Das hat es in keinem anderen Land gegeben.31
Übertragen auf die Nachkriegszeit und mit Hinblick auf das, was Reger über die beklagenswerte politische Situation in Österreich zu sagen hat, würde meine Deutung lauten, dass die übertriebene Betonung auf Musik ein öffentliches Nichtdenkenwollen gefördert hat, welches somit wiederum eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verhindert hat. Zum Schluss möchte ich auf meine Herangehensweise zum Thema „Bernhard und die Musik“ zurückkommen. Am Beispiel Alte Meister habe ich hier betont, dass man es bei Bernhard nicht nur mit rein strukturellen oder ästhetischen Fragen zu tun hat, sondern auch mit einer gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung anhand der spezifischen Rolle, die Musik im Nachkriegsösterreich gespielt hat. Zusammenfassend lässt sich somit folgendes feststellen. Als autoritativer Musikkritiker und selbstbeschriebener Musikfanatiker, der Musik einer ganz zentralen Rolle in seinem Leben zugewiesen hat, fungiert Reger, wenn auch auf indirekter Weise, als ein Repräsentant der etablierten und gefeierten österreichischen Musiktradition. Auf der anderen Seite, ist er einer der größten Kritiker der Art und Weise, wie sich diese Tradition nach 1945 auf gesellschaftlicher und politischer Ebene manifestiert hat. Anders gesagt scheint Reger oft die Musik loshaben zu wollen, bleibt aber dennoch irgendwie in ihrem Kraftfeld befangen. (Ist es also auch bei Reger der Fall, frage ich hier in Klammern, dass er, wie Professor Schuster in Heldenplatz, nur wegen der Musik nach Wien zurückgegangen ist ?) „Bernhard kritisiert den Kontext dieser Musikszene radikal und lässt die Musik als Lebenshalt doch zugleich gelten“32 § so heißt es in einer aktuellen Auseinandersetzung mit dem Thema Musik in Der Untergeher, die man vielleicht auch auf Alte Meister übertragen könnte. Ich finde die Formulierung jedoch ziemlich problematisch, weil sie, um noch mal mit Lucy Green zu sprechen, eine 31 Bernhard, Thomas : Auslöschung. Frankfurt am Main 1986, S. 145. 32 Gruber, Gernot. „Die Metaphern von Musik und musikalischem Virtuosentum in Der Untergeher und Der Ignorant und der Wahnsinnige“, in : Kolleritsch, Otto (Hg.) : Die Musik, das Leben und der Irrtum. Thomas Bernhard und die Musik. Graz 2000, S. 188.
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Trennung zwischen inhärenter und darstellender Bedeutung in der Musik postuliert, die es in Bernhards Schilderung wohl so gar nicht gibt. Mit Reger, möchte ich abschließend behaupten, hat Bernhard eine Figur geschaffen, die, obwohl er sich selbst der Musik verpflichtet fühlt, zugleich ein Bewusstsein für die Verwicklung der Musik in die dunkle Seite der jüngsten Vergangenheit Österreichs hat. Genau deshalb ist an Reger eine Ambivalenz der Musik gegenüber festzustellen, die er letzten Endes wohl mit anderen Figuren Bernhards teilt, die sich mit der Musik beschäftigen. Literaturverzeichnis Bernhard, Thomas : Alte Meister. Frankfurt am Main 2008. Bernhard, Thomas : Auslöschung. Frankfurt am Main 1986. Bloemsaat-Voerknecht, Lisbeth : Thomas Bernhard und die Musik : Themenkomplex mit drei Fallstudien und einem musikthematischen Register. Würzburg 2006. Eickhoff, Thomas : „‚Mit Sozialismus und Sachertorte …‘“ ± Entnazifizierung und musikpolitische Verhaltensmuster nach 1945 in Österreich“, in : Riethmüller, Albrecht (Hg.) : Deutsche Leitkultur Musik ? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust. Stuttgart 2006, S. 85± 101. Goertz, Harald : Österreich : Land der Musik. Wien 1984. Green, Lucy : Music, Gender, Education. New York 1997. Hens, Gregor : Thomas Bernhards Trilogie der Künste : Der Untergeher, Holzfällen, Alte Meister. Rochester, New York 1999. Interview für „Le Monde“ von Jean-Louis de Rambures (1983), zitiert nach „Ich behaupte nicht, mit der Welt gehe es schlechter.“ FAZ vom 24.2.83 Konzett, Matthias : The Rhetoric of National Dissent in Thomas Bernhard, Peter Handke, and Elfriede Jelinek. Rochester, New York 2000, Kuhn, Gudrun : Ein philosophisch-musikalisch geschulter Sänger : musikästhetische Überlegungen zur Prosa Thomas Bernhards. Würzburg 1996. Leibnitz, Thomas : „Anton Bruckner : ‚Deutscher‘ oder ‚Österreicher‘ ? Deutungen, Vereinnahmungen, Hintergründe“, in : Hilscher, Elisabeth/Antonicek, Theophil (Hg.) : Österreichische Musik ± Musik in Österreich : Beiträge zur Musikgeschichte Mitteleuropas. Tutzing 1998, S. 463± 476. Mayer-Hirzberger, Anita : „,… ein Volk von alters her musikbegabt.‘ Der Begriff ,Musikland Österreich‘ im Ständestaat. Frankfurt am Main 2008. Solibakke, Karl : Geformte Zeit : Musik als Diskurs und Struktur bei Bachmann und Bernhard. Würzburg 2005. Szabó-Knotik, Cornelia : „Mythos Musik in Österreich : die Zweite Republik“, in : Bruckmüller, Ernst/Steckl, Hannes (Hg.) : Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten. Wien 2004, S. 243± 270.
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Szabó-Knotik, Cornelia : „Selbstinszinierung und Handelsbilanz. Die (Re)Konstruktion Österreichs nach 1945 mittels Musik“, in Schweiger, Dominik/Staudinger, Michael/ Urbanek, Nikolaus (Hg.) : Musik-Wissenschaft an ihren Grenzen. Manfred Angerer zum 50. Geburtstag. Frankfurt am Main, Berlin 2004, S. 355± 82 Weiner, Marc A.: Undertones of Insurrection : Music and Cultural Politics in the Modern German Narrative. New Brunswick 2009.
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Was hätte Glenn Gould über Bernhards Roman Der Untergeher gesagt ? Die (kanadische) Persönlichkeit in und hinter dem Werk
Der Titel dieses Beitrags ist zum Teil ironisch gemeint, denn natürlich können wir nicht wissen, wie der 1982 gestorbene kanadische Pianist auf Bernhards Untergeher reagiert hätte. Sinn der folgenden Anmerkungen ist es nicht, Glenn Gould Worte in den Mund zu legen ; schließlich ginge ein solches Unternehmen in die Richtung eigener Fiktion, oder mindestens einer Variation auf Bernhards GouldPorträt. In diesem Beitrag geht es vor allem um Folgendes : Gould als kanadische Klassik-Ikone zu betrachten ; Goulds ungewöhnliche Ansichten zum für den Roman so wichtigen Wettbewerb aufzuweisen und diese in Verbindung mit der Horowitz-Figur im Untergeher zu setzen ; über kulturelle Sehnsucht nach Europa und kanadische kulturelle Minderwertigkeitskomplexe zu schreiben. Vom Roman ist deutlich herauszulesen, dass Bernhard Gould als Persönlichkeit wenig kannte und noch weniger den kulturellen und sozialen Hintergrund des Pianisten. Für einen Biographen wäre das freilich kein guter Anfang. Aber Der Untergeher ist ein Roman, eine Fiktion, die dreißig Jahre nach seinem Erscheinen besser wird. Während Bernhard im Untergeher schreibt, „Von Glenn ist tatsächlich nichts erhalten, Glenn hat keinerlei Aufzeichnungen gemacht“,1 gibt es eine Unmenge an Goulds Schriften, Notizen, Werken für das Radio, Interviews und so weiter. Gould hat sich zu fast allem (außer Politik) schriftlich und mündlich geäußert, aber mit Ausnahme von seinen Liner Notes für seine Schallplatten und seine wenigen Artikel für Zeitschriften wie High Fidelity und The Piano Quarterly waren seine Überlegungen außerhalb Kanadas kaum bekannt. Schon zu seiner Lebzeit hieß ein Kapitel einer frühen Gould-Biographie : „Talking Nonsense On Anything Anywhere.“2 Fußend auf diesem ausgiebigen Material kann man eigentlich leicht ahnen, was Gould über Bernhards fingiertes Gould-Porträt und dessen Kunstauffassung gesagt hätte.3 1 Bernhard, Thomas : Der Untergeher. Mainz 1988, S. 54. 2 Der Titel des Schlusskapital von Geoffrey Payzants Glenn Gould : Music and Mind. Toronto 1978 stammt nicht von Payzant sondern von einer Rezension zu einer von Goulds Radiosendungen. 3 In Partita pour Glenn Gould. Musique et forme de vie. Montreal 2007 geht Georges Leroux mutig
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Dazu gibt es Reaktionen auf den Roman von Goulds Freunden. Die waren beleidigt von Bernhards Umgang mit den Fakten und fanden es unverschämt, dass so ein Roman nur wenige Monate nach Goulds Tod erscheinen durfte. In den Notizen zu seiner Gould-Biographie Glenn Gould : A Life and Variations erwähnt Otto Friedrich den Untergeher als Nicht-Quelle. Dort schreibt er, dass er diesen Quasi-Roman („a novel of sorts“) absichtlich nicht zitiert, weil das Werk „keinen Realitätsbezug hat“ („no relation to reality“).4 Auch Bernhard-Forscher haben die Ungereimtheiten zwischen Fiktion und Realität aufgelistet.5 Francis Michael Sharp spricht von „freely adjusted biographical reality“,6 und Michael Olson erwähnt mit vorzüglichem Understatement, dass Bernhard die Wahrhaftigkeit irgendwie entwendete oder stahl („purloined the veracity of Gould’s biography“).7 Auch wenn Bernhard eine persönliche Neigung zu Gould hatte, ist es ein Glücksfall für den Roman, dass er gerade den Pianisten bevorzugte, denn Glenn Gould ist ein Unikum unter den zeitgenössischen Pianisten. Seit seinem frühen Tode scheint es immer mehr Glenn Gould zu geben. Ein Sony Music Geschäftsführer meinte sogar, „Zu sterben war ein bedeutender Karrieresprung für ihn“8 und eine Goldgrube für Sony. Andere Pianisten, wie etwa Wilhelm Kempff und Sviatoslav Richter, werden durch CDs und ab und zu eine Biographie posthum gefeiert. Anders Gould. Zusätzlich zu den neuesten alten CD-Aufnahmen oder Re-issues, hat es in den letzten zwanzig Jahren ein Dutzend Gould-Biographien gegeben (und sogar ein ganzes Buch über sein Verhältnis zu seinem Lieblings-
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der Frage nach, was Gould gedacht hätte § Gould hatte nichts gegen Rollenspiele, und hätte Bernhards Doppelgänger begutachtet („personnage de Gould qu’il [Gould] aurait sans doute apprécié“) ; anderseits gefiele ihm nicht die Absage an soziale Ideale („Bernhard a déjà renié trop de [Goulds] convictions sociales“) und das Ausschließen von anderen Menschen („Gould ne se serait pas reconnu dans cette arrogance qui l’excluait des autres“) § S. 91 und S. 93. Friedrich, Otto : Glenn Gould : A Life and Variations. Toronto 1990, S. 335. In Paul Wibornys 2009er Diplomarbeit „Glenn Gould in ‚Der Untergeher‘ von Thomas Bernhard“ gibt es einen sehr überschaubaren und ausführlichen Vergleich zwischen Gould und Bernhards Gould (S. 18§49). Seine Nebeneinanderstellung mit Biographie und Roman wirkt wie ein Paralleltext für ein Opernlibretto. Zum Beispiel : „Glenn las beinahe gar nichts, er verabscheute Literatur, was ganz zu ihm paßte. Nur was meinem eigentlichen Zweck dient, sagte er einmal, meiner Kunst“ (Bernhard, S. 60) vs. „Bücher verschlinge ich buchstäblich. Alles was ich von Thomas Mann und Kafka greifen kann, und alle Russen“ (zit. Nach Wiborny, S. 39). Sharp, Francis Michael : „Thomas Bernhard : Literary Cyrogenics or Art on Ice“, in : Modern Austrian Literature. 21, 3§4/1988, S. 210. Olson, Michael : „Thomas Bernhard, Glenn Gould, and the Art of Fugue : Contrapuntal Variations in Der Untergeher“, in : Modern Austrian Literature. 24, 3§4/1991, S. 77. Bazzana, Kevin : Glenn Gould. Die Biografie. Übers. von Isabell Lorenz. Mainz 2006, S. 1.
Was hätte Glenn Gould über Bernhards Roman Der Untergeher gesagt ?
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klavier, einem Steinway § A Romance on Three Legs ; der maßgebende Artikel über Goulds Haustiere befindlich ich in moderndog, einer Zeitschrift für Hundelieber : „One need not be a dog to be a Glenn Gould devotee“) ; und sämtliche GouldBildbände für den Kaffeetisch. Gerade als es schien, dass es nichts Neues über Gould geben konnte, hat man vor Kurzem seine Liebeleien entdeckt. Vorher waren fast alle von der Asexualität dieses Menschen überzeugt, der eine zurückgezogene, fast hermetische Existenz führte. Eine Goulds weniger zitierten Theorien lautete, „for every hour that you spend in the company of other human beings you need X number of hours alone“.9 So eine Einstellung erhofft wenig von einer Beziehung ; dass Gould ständig von Frauen und Männern bedrängt wurde, ohne darauf zu reagieren, schien die These seiner Asexualität zu beweisen. Und jedoch haben wir 2010 § in einem Buch (Michael Clarksons The Secret Life of Glenn Gould : A Genius in Love) und einem Film (Michèle Hozer und Peter Raymonts Genius Within : The Inner Life of Glenn Gould) § erfahren, dass Gould jahrelang eine Beziehung mit einer verheiraten Frau führte, dass er ein guter Liebhaber gewesen sei und dass er ihr sogar einen Heiratsantrag machte. Soviel zum „letzten Puritaner“ (Goulds Selbstbeschreibung zu Ehre von George Santayanas vergessenen Roman The Last Puritan von 1935). Bettgeflüster und posthume Details über das intime Leben Goulds sind weniger interessant und weniger fruchtbar als die vielen Kunstwerke, die Glenn Gould als Ansporn zur Kreativität nehmen. 1992 hat David Young das Schauspiel Glenn geschrieben ; 1993 war François Girards Spielfilm 32 Short Films about Glenn Gould im Kino zu sehen § eine Anspielung auf Bachs Goldberg-Variationen, die so wichtig für Bernhards Untergeher sind. 2007 hat Michael Stegemann sein Hörspiel The Glenn Gould Trilogy : Ein Leben auf Deutsch veröffentlicht. Diese drei Werke sind zum größten Teil Pastischen aus Goulds Schriften und Interviews. In allen dreien Werken wurden wortwörtliche Zitate von Gould genommen und kaleidoskopmäßig zusammengefügt, bis eine halbwegs lineare Diskussion daraus kam. Insofern sind sie kunstvolle Biographien, die einen gewissen Wahrheitsanspruch haben. Die Fakten stimmen. Meines Wissens war Thomas Bernhard der erste, der Gould in seine Fiktion eingesetzt hat.10 Der Untergeher erschien 1983 und war spektakulär inso9 Cott, Jonathan : Conversations with Glenn Gould. Chicago 1984, S. 103. 10 Vorausgesehen, man betrachtet nicht Goulds eigene Selbstinzenierungen als Halbfiktionen § wie z.B. sein Tragen komischer Kostüme oder sein Selbst-Interview in High Fidelity „Glenn Gould Interviews Glenn Gould about Glenn Gould“ (1974). Dort interviewt Glenn Gould I Glenn Gould II, bis man nicht mehr deutlich erkennen kann, welche Interview-Figur dem echten Gould näher ist.
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fern, dass der Bernhard-Gould weniger mit dem echten Glenn Gould als mit dem echten Thomas Bernhard zu tun hat. Wie Gudrun Kuhn bemerkt, „dieser Glenn Gould [trägt] eindeutig die Züge einer typischen Bernhard-Figure“.11 Und jedoch scheint es sich bei Der Untergeher um eine vertrauenswerte Biographie zu handeln § wenn auch in der Form eines Romans. Fast alles, was wir lesen, hätte sein können :12 „Glenn soll mitten in den Goldbergvariationen vom Schlag getroffen worden sein“13 und später : er sei „tot umgefallen am Klavier“.14 Das ist nicht wahr, und doch gibt es einen Hauch von Echtheit hier, denn schließlich hat Gould 1981 die Goldberg-Variationen nochmals aufgenommen, also 26 Jahre nach seinem Aufnahmedebüt bei Columbia Records mit dem selben Stück und so wurden die Variationen tatsächlich zum Schwanengesang. Bernhards Beschreibung von Goulds berühmtem Rückzug vom Konzertleben stimmt, aber folgender Satz ist eine Verdrehung von Goulds Auffassung : „Er war der einzige weltbedeutende Klaviervirtuose, der ein Publikum verabscheute und sich auch von diesem verabscheuten Publikum tatsächlich und endgültig zurückgezogen hat“.15 Gould fand Live-Auftritte altmodisch und zog sich zurück vom Konzertleben, weil seiner Meinung nach die Technologie bessere Resultate im Studio ermöglicht und weil Schallplatten ein besseres Hörerlebnis zu Hause bieten. Zu Hause kann man richtig zuhören, mit einer idealen Akustik und ungestört von den schnarchenden Businessmännern oder Musikbegeisterten, die im Konzertsaal mitsingen. Von Publikumshass darf keine Rede sein. Bruno Monsaingeon spricht im Gegenteil von Goulds „affection […], tendresse pour le publique“ (Le privilège). Dieses Distanzieren vom Publikum, dieses Vermeiden der Bühne, fördere echte Beteiligung und reduziere die Spalttiefe zwischen dem Zuhörer und dem Starpianisten. Gould bleibt der Vorzug für Live-Konzerte rätselhaft gegenüber der Möglichkeiten der Ausbesserung einer Aufnahme durch Ein11 Kuhn, Gudrun : ,Ein philosophisch-musikalisch geschulter Sänger‘ ± Musikästhetische Überlegungen zur Prosa Thomas Bernhards. Würzburg 1996, S. 13. 12 Als Beispiel sei die italienische Biografieserie I Magnifici erwähnt, die Bernhards Roman anscheinend für eine bare Münze nahm. Was Bernhard schreibt, „Von seiner mütterlichen Großmutter habe er, Glenn, Deutsch gelernt, das er, wie ich schon angedeutet habe, fließend gesprochen hat“ § Bernhard: Untergeher, S. 34 §, erfährt man in der italienischen Gould Dokumentarserie La nonna gli insegnò il tedesco parola per parola … (Die Serie hieß Il recluso und wurde März 2007 von Radio24 gesendet). 13 Bernhard : Untergeher, S. 33. 14 Ebd., S. 169. 15 Ebd., S. 35.
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mischen eines Tontechnikers („I see nothing wrong in making a performance out of two hundred splices, as long as the desirable result is there“).16 Anders gesagt war für ihn die Zukunft der Musik auf engster Weise mit Technologie verbunden. Goulds Faszination für die Technik wird von Bernhard nicht aufgenommen, was eine Art Unterlassungssünde ist.17 Schon im ersten Romansatz begegnen wir dem ersten „Fehler“ § oder besser § der ersten absichtlichen Verzerrung der Fakten : „Auch Glenn Gould ist nur einundfünfzig geworden, dachte ich beim Eintreten in das Gasthaus.“18 Gould war erst 50 Jahre alt, als er starb (was Bernhard sicherlich wusste ; dafür war Bernhard im Oktober 1982 51 Jahre alt). Kurz danach beschreibt der namenslose Erzähler ein späteres Zusammenkommen mit Gould und dem „Untergeher“ Wertheimer, die sich 1953 in Salzburg kennen gelernt haben. Sie besuchten Gould Jahre später in New York, wo er eine Wohnung habe ; dann lesen wir, dass Gould etwas auf Deutsch sagt. Hier hat der Leser zwei Vorausdeutungen auf Details, die nicht stimmen und die für den Roman nicht unwichtig sind : der Kanadier hat nie in New York gewohnt, und, selbst wenn er seine Texte und Konversationskunst beinahe fetischistisch mit deutschen Lehnwörtern wie „Gemütlichkeit“ und „Zeitgeist“ schmückte, konnte er kein Deutsch.19 Freilich ist es notwendig für den Roman, dass die drei jungen Pianisten und Protagonisten sich mühelos unterhalten können. Diesbezüglich reichte ein einfacher Satz aus : „Glenn sprach Deutsch.“ Aber Bernhard nimmt diese für die Handlung nötige Kleinigkeit als Anlass zur übertriebenen Kritik : „[Gould] sprach besser deutsch als unsere Mitstudenten aus der österreichischen Provinz“ ;20 ein paar Seiten später spitzt er die Beleidigung zu : „Er beschämte mit seiner Aussprache alle unsere deutschen und österreichischen Mitschüler, die eine völlig verwahrloste deutsche Sprache gesprochen haben …“21 16 Zit. nach Payzant : Gould, S. 125. 17 Wie es von Bernhard Sorg im Rahmen des Ljubljanaer Bernhard-Symposium erwähnt wurde, spielt die Technik keine Rolle in Bernhards Werken. Diesbezüglich ist es kein Wunder, dass Bernhard die Technikbegeisterung Goulds im Untergeher nicht erwähnt. 18 Bernhard : Der Untergeher, S. 7. 19 Trotz seines musikalischen Ohres und trotz seiner Fähigkeit, Akzente genau geographisch zu bestimmen, konnte Gould keine Fremdsprachen. Filmemacher Bruno Monsaingeon meint, Gould habe absolute keine Fähigkeit zum Sprachenlernen (der Kanadier sollte auf Französisch in einem Dokumentarfilm lesen, aber sein Vorlesen war leider unverständlich). Allerdings hat er 1971 einen Aufsatz über Bach vorgelesen, und zwar auf Deutsch : „das Ergebnis war fürchterlich“ § schreibt der Biograph Kevin Bazzana : Gould, S. 201. 20 Bernhard : Der Untergeher, S. 16. 21 Ebd., S. 34.
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Hier sieht man deutlich, dass Bernhard seine Gould-Figur zu seinen eigenen Zwecken nutzt § für eine Österreich-Beschimpfung. Immer noch auf der ersten Seite lesen wir, wie die drei Romanhelden zusammengekommen sind : Alle haben „bei Horowitz studiert“22 auf einem Meisterkurs in Salzburg. Gould hat nie an einem solchem Kurs teilgenommen und behauptete immer, dass er so gut wie nichts von seinen Klavierlehrern gelernt habe. Aber dass Bernhard gerade Vladimir Horowitz als Lehrer gewählt hat, ist höchstinteressant, vor allem in Verbindung mit Gould-Goulds äußert negativen Meinungen über den Wettbewerb § und letztendlich geht es im Untergeher um eine Art Wettbewerb unter den drei Protagonisten. Die zwei Österreicher hören auf, Klavier zu spielen, wenn sie nicht Nummer eins sein können : „Wir studieren ein Jahrzehnt lang auf einem Instrument, das wir uns ausgesucht haben und hören dann, nach diesem mühseligen, mehr oder weniger deprimierenden Jahrzehnt, ein paar Takte eines Genies und sind erledigt.“23 Der Erzähler gibt auf, verschenkt seinen Steinway, der jetzt wie Samuel Taylor Coleridges Albatrosse an dem Ex-Pianisten hängt, und widmet sich der Philosophie ; Wertheimer flieht in die Geisteswissenschaften, „ohne zu wissen, was diese Geisteswissenschaften sind“.24 Wie Reinhild Steingröver schreibt, gehen die beiden Gould-Bewunderer an ihrer Anbetung des Genies zu Grunde, und damit hat Genie Goulds eine verheerende Auswirkung : „his genius destroys other virtuosos rather than serving to up-lift fellow pianists and audiences with his brilliant art“.25 Vor allem Wertheimer hat eine wettbewerbsbedingte Auffassung der Musikkunst. An den „so genannten Vortragsabenden“ am Mozarteum zeigt sich Wertheimer „unfähig zum Zusammenspiel“ und, so der Erzähler, „hatte sich während des ganzen Konzerts durchsetzen wollen und damit das Konzert gründlich zerstört“.26 Wer „brillieren“ will, beschädigt die Kunst. Ob bewusst oder un22 Ebd., S. 7. 23 Ebd., S. 122. 24 Ebd., S. 144. Als kuriose Parallele sei folgende Anekdote wiederholt : Als Gould aufwuchs, gab es ein Torontoer Lokaltalent, das an eine Karriere als Virtuosin dachte. „Then, one horrible year, […] she came to understand that there was a boy four or five years younger, who was not just a little better than she but many, many times better § and that he lived on her street. She was like Christopher Marlowe suddenly discovering that Shakespeare had moved into the neighbourhood. […] Happily, she survived this trauma and became a distinguished professor of literature“ § Fulford, Robert : „The Genius Who Lived Next Door“, in : Best Seat in the House. Toronto 1988, S. 42. Im Leben wie im Werke bleiben die Geisteswissenschaften offen für versagende Künstler. 25 Steingröver, Reinhild. „‚The most sharp-witted fool‘ : The Genius, Glenn Gould, and Schopenhauer in Thomas Bernhard’s Prose.‘ In Seminar : A Journal of Germanic Studies, 39, 2/2003, S. 139. 26 Bernhard : Untergeher, S. 135.
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bewusst gibt Bernhard Goulds Meinungen über Wettbewerbe wider, denn für Gould war der Wettbewerb die Wurzel allen Übels. Unter „Competition“ verstand Gould internationale Musik-Wettbewerbe, aber auch individuelle Sportarten, öffentliche Konzerte, und selbst die Klavierkonzertform. In seiner Rezension von Geoffrey Payzants Glenn Gould, Music & Mind, begutachtet Gould (in der dritten Person, als ob es nicht um seine Person ginge) Payzants Beschreibung von „the pianist’s aversion to a peculiarly musical form of competition : the virtuoso concerto“.27 Was hat das mit Horowitz zu tun ? Wohl viel : „Horowitz hatte alle unsere Professoren null und nichtig gemacht“28 § genauso wie Gould Wertheimer und den Erzähler durch sein geniales Spielen vernichtet. Gould hätte dieses „Null und nichtig“-Machen entsetzlich gefunden und jedoch hat Bernhard genau den richtigen Lehrer gewählt ; obwohl Gould nie was Schlechtes über andere Pianisten gesagt hat, war ihm Horowitz ein Dorn im Auge. Schließlich war dieser russischamerikanische Virtuose, dieser Showman, der Gegensatz zum kühlen intellektuellen Gould.29 Und Gould-Goulds Reaktion über Horowitz’ Feuerwerke am Klavier war kindisch : er meinte, dass der russisch-amerikanische Virtuose beim Spielen bluffe, und dass er selber viel besser sei als Horowitz § sonst war er immer bescheiden. Also kann man glauben, dass Gould-Gould folgende Textstelle gefallen hätte : „[Es] war … klar, daß Glenn schon der bessere Klavierspieler war als Horowitz selbst …“.30 Weil Bernhard offensichtlich keine Ahnung von Goulds schwacher Stelle, also von seinem Horowitz-Neid, hatte, ist es unheimlich und treffend, dass er gerade Horowitz als Lehrerfigur verwendete. Dass Bernhard Gould nur durch seine Schallplatten kannte, ist kein Frevel, da der Nicht-Musiker Gould außerhalb Kanadas relativ unbekannt war. In der Vergangenheit hat es zwei Glenn Goulds gegeben : einen für das Ausland und einen für Kanada. Seine Fans im Ausland kannten ihn nur als Pianisten, der aus dem Norden kam.31 Dagegen bezeichnete sich Gould als „Schriftsteller und 27 Gould, Glenn : „A Biography of Glenn Gould“, in : The Glenn Gould Reader, S. 445. 28 Bernhard : Untergeher, S. 7. 29 Das Netteste, was Gould über Horowitz sagte, war in einem Telefon-Interview mit einem Horowitz-Biographen : „Es gab nur eine kurze Phase in meinem Leben § eine sehr kurze Phase, als ich etwa fünfzehn war, die rasend schnell vorüberging … in dem ich Horowitz wie verrückt nachahmte ; danach habe ich das nie mehr gemacht § so viel ich weiß“ § Bazzana : Gould, S. 80. Das Zitat erschien nicht in der Biographie, und überhaupt erst nach Bernhards Tode. 30 Bernhard : Untergeher, S. 8. 31 Seine Heimat wurde im Marketingmaterial der Columbia Records bewusst benutzt, und der Film Genius Within zeigt ein 1959er Gespräch zwischen einem neckenden New Yorker Produzenten
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Rundfunksprecher, der … zufälligerweise Klavier in seiner Freizeit spielt“ („writer and broadcaster who happens to play the piano in his spare time“).32 Erst nach seinem Tode und kurz vor Bernhards Tode fing man an, Goulds viele Schriften als Bücher zu publizieren § The Glenn Gould Reader gibt es inzwischen auch auf Deutsch. Die Gould-Fans im Ausland konnten sich glücklich schätzen, denn in Kanada war er ständig auf der Canadian Broadcasting Corporation zu hören, leider nicht nur am Klavier. Das kanadische Glückskind Gould durfte alles tun, was er wollte. Er verkleidete sich z.B. als deutscher Komponist, der mit starkem MontyPython-mäßigen Akzent über norddeutsches gegen süddeutsches Schweigen philosophiert, oder als Musikkritiker in Lederjacke, der in einem New Yorker Kauderwelsch spricht. Gould sprach ebenso über die Musik, aber allzu oft in einem fast unverständlichen, verschachtelten Englisch. Im Untergeher fragt Bernhards Gould entsetzt, „Aber wie kann ein Künstler kein Gefühl für seine Muttersprache haben ! hat Glenn oft gesagt“.33 Mancher hat Gould genau genau dies vorgeworfen.34 „It is difficult to understand why Mr. Gould is allowed to write his own script“ sagte ein Fernseh-Kritiker einmal.35 Wieso durfte er das ? Weil Gould als lebender Beweis für eine existierende kanadische Hochkultur galt. Ein österreichischer oder US-amerikanischer Pianist wäre nie derart verwöhnt und kriegte nie eine carte blanche im nationalen Fernseher, bloß weil er ein guter Klavierspieler was. Gould tauchte genau zur richtig Zeit in der kanadischen Kulturgeschichte auf. Vor Gould galt Kanada als kulturloses Ödland. Der Romancier Hugh MacLennan schrieb „Boy Meets Girl in Winnipeg and Who Cares ?“, ein Zitat, das indirekt darauf hinweist, dass Kanadier nach den USA schauen mussten, wenn sie ihr Brot als Künstler verdienen wollten. Auch die 1951 erschiene Royal Commission on National Development in the Arts, Letters and Sciences, deren Aufgabe es war, die Gründe für Kanadas damalige erbärmliche kulturelle Produktivität zu erforschen, stellte fest,
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und dem jungen Gould, in dem Gould „a smalltown hick“ und jemanden, der „a Mountie uniform or something“ tragen sollte, beschrieben wird. „Introduction to The Last Puritan by Bruno Monsaingeon.“ http ://www.collectionscanada. gc.ca/ glenngould/028010§502.15-e.html 2.2.2010, 20.02.2011. Bernhard : Untergeher, S. 34. Es gab aber auch herrliche Sendungen von Gould, besonders seine erfolgreichen experimentalen mit „Contrapuntal Radio“, so seine „Solitude Trilogy“ über den kanadischen Norden, über Neufundland und über die Mennoniten in Kanada. Friedrich : Gould, S. 208. Über Goulds schlechtes Schreiben, vgl. Blake, Jason : „Pianist Glenn Gould’s often Dismal Writing“, in : Acta neophilologica. 42, 1§2/2009, S. 123§135.
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dass kanadische Musiker auswandern mussten. Bernhards Gould tat das, Glenn Gould nicht ; und damit konnte Kanada endlich sagen : „Wir haben auch Musik !“ Im Untergeher sind Gefühle der kanadischen kulturellen Inferiorität natürlich gar nicht relevant, wichtig ist nur, dass Gould nicht aus Österreich kommt. Bernhards Erzähler spricht über Goulds „rücksichtslose, aber durch und durch offene kanadisch-amerikanische Weise“ § Gould sagt, was die beklemmten Europäer nur denken, weil ihnen die „heilsame amerikanisch-kanadische Art nicht eigen ist …“36 In der Interpretation des Philosophen Georges Leroux ist der BernhardGould ein „bon sauvage“, ein edler Wilder, „seul[] capable de fournir une antidote à la décadence de Salzbourg“.37 Auch wenn Bernhard willkürlich „kanadischamerikanisch“ und „amerikanisch-kanadisch“ synonym verwendet, ist die Sehnsucht nach dem Nicht-Österreichischen unverkennbar. Dafür schauen Kanadier mit einer unglaublichen kulturellen Sehnsucht nach Europa, mit einem Verlangen, das an Verballhornung grenzt. Erst als Gould in Amerika, und kurz danach in Europa anerkannt wurde, glaubte man in Kanada, dass er der wahre Jakob war. Denn damals, in den 50er-Jahren, hieß es in Kanada, dass nur Europäer was von Musik verstanden. Erfolg in Amerika, im Lande des Musicals und Hollywoods, war zwar toll, aber doch ein wenig fragwürdig und bei weitem keine Bestätigung von echtem Talent. Dafür braucht man das Land der Musik § Österreich. In Bernhards Untergeher werden Österreich und Mozarts Geburtstadt schnell abgetan : „Zuerst habe [Glenn] gedacht, wie schön es sei, hier aufzuwachsen, aber schon zwei, drei Tage nach seiner Ankunft erschien es ihm als ein Albtraum … Dieses Klima und diese Mauern töten die Sensibilität ab.“38 Gould hat nie herablassend über Salzburg geredet. Anders natürlich Bernhard : „Salzburg ist eine perfide Fassade“ lesen wir in seiner biographischen Ursache, „hinter der das (oder der) Schöpferische verkümmern und verkommen und absterben muss“.39 Der fiktive junge Kanadier durchschaut das Trugbild des Musikmekkas sofort und zeigt damit, dass er Österreich und seine reiche Kulturgeschichte nicht unkritisch (also nicht typisch nordamerikanisch) betrachtet. Goulds Fähigkeit, kulturelle Stereotypen nach zwei oder drei Tagen wegzufegen, bedeutet eine Fähigkeit zur Entwicklung, und gerade diese Fähigkeit ist es, was dem österreichischen Erzähler sowie dem österreichischen Wertheimer fehlt. Der Fremde Gould leidet nicht 36 37 38 39
Bernhard : Untergeher, S. 210. Leroux, Georges : Partita pour Glenn Gould. Musique et forme de vie. Montreal 2007, S. 74. Bernhard : Der Untergeher, S. 20. Bernhard, Thomas : Die Ursache. München 1994, S. 11.
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unter der Last jeglicher europäischen Kulturgeschichte oder Umgebung, weil es nicht seine Geschichte, nicht seine Welt ist. Gould ist ganz und gar Individuum, Außenseiter auch in der „Geistesfreundschaft“,40 die er mit den anderen zwei Protagonisten genießt. Den ganzen Roman hindurch zeigt Gould wenig Achtung für seine österreichischen Freunde. Er mag zwar mit ihnen in Kontakt bleiben, aber er ist natürlich nicht auf sie fixiert. Darüber hinaus gibt es keine Spuren von Hilfsbereitschaft von Seiten Goulds. Der kanadische Pianist bezeichnet Wertheimer als „Untergeher“, womit er auf gewisser Weise den Todesdrang des jungen Österreicher erkennt, und trotzdem sieht man keinen Beistand und keinerlei Unterstützung für den späteren Selbstmörder. Selbst die Tatsache, dass Gould Wertheimer den Spitznamen „Untergeher“ verleiht § einen Namen, der auch eine harte Kritik dem schlechteren Pianisten gegenüber ausdrückt § steht im krassen Gegensatz zum biographischen Gould. Gould ging relativ frei mit Lob um und behielt negative Meinungen über lebende Pianisten für sich selbst (er schielte auf Mozart und andere verstorbenen). Ein viel sagendes Beispiel ist folgendes : als der Journalist und Gould-Freund Robert Fulford eine von Gould stammende private Bemerkung über einen prominenten Bach-Pianisten wiederholte, war das der Anfang vom Ende der Freundschaft.41 Am Anfang habe ich erwähnt, dass Goulds Freunde beleidigt waren von Bernhards Roman. Wie steht es jetzt, zweiundzwanzig Jahre nach Bernhards Tode und fast dreißig Jahre nach Goulds Tode ? Inzwischen haben die Gemüter sich beruhigt, und zwei Biographen (Georges Leroux und Kevin Bazzana) sprechen jetzt nur positiv über Bernhards Roman („Le portrait de Thomas Bernhard a beaucoup déplu aux amis de Gould, et pourtant il tentait de dire quelque chose de vrai“)42 § „A more ‚accurate‘ or ‚respectful‘ portrayal of Glenn Gould could not do him greater honour“.43 Ein dritter, der Philosoph Mark Kingwell, geht gar nicht auf die Frage der Faktizität ein und meint einfach, dass Thomas Bernhards Roman „the best“ von allen Gould-Fiktionen sei.44 Als Gould starb, konnte Bernhard nicht wissen, dass die Gould-Euphorie derart zunehmen würde. Vorher habe ich folgendes aus dem Roman zitiert : „Von 40 41 42 43 44
Bernhard : Der Untergeher, S. 13. Fulford : „Genius“, S. 45. Leroux : Gould, S. 110. „The Loser Reviewed“ http ://www.thomasbernhard.org/loserreviewbazzanagg.shtml, 2.2.2011. Kingwell, Mark : Glenn Gould. Toronto 2009 (= Extraordinary Canadians), S. 27.
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Glenn ist tatsächlich nichts erhalten …“ Das stimmt nicht, und das stimmte nicht zur Zeit, als der namenlose Erzähler nach Traich ging. Natürlich ist Goulds wichtigster Nachlass sein musikalischer Nachlass, ein Erbe, das im Gould-Mythos allzu oft auf seine zwei Goldbergvariationenaufnahmen reduziert ist. Im gewissen Sinne auch im Untergeher, denn der Roman endet so : „Ich bat den Franz, mich für einige Zeit in Wertheimers Zimmer allein zu lassen, und legte mir Glenns Goldbergvariationen auf.“45 Das ist ein letztes Symbol von Wertheimers Gould-Besessenheit. Wie Michael Olson schreibt, „One of Gould’s two masterful versions of the Goldberg Variations lies on the stereo turntable [im Wertheimers Jagdhaus], indicating Wertheimer’s lasting preoccupation with Gould“. 46 Eine tiefe Beschäftigung mit Gould ist an sich nicht schlecht, aber der Erzähler und Wertheimer scheinen ob dessen kein eigenes Leben zu führen. Dabei bleiben sie unkritisch und unaufmerksam, wenn es sich um den genialen Pianisten geht. Als die drei in New York zusammenkommen, bemerkt der Erzähler, „sein Spiel war jetzt genauso perfekt wie damals [in Salzburg]“.47 Mag sein, und dennoch ist dieses ein steriles Bewundern, denn es gibt wohl keinen geglückten Versuch, Goulds Genie zu erklären oder sein perfektes Spiel zu beschreiben.48 Der Erzähler kennt beide von Goulds Studio-Aufnahmen der Goldbergvariationen, zwei Interpretationen, die auch für Laien und Uneingeweihten leicht zu unterscheiden sind. Der Erzähler, ein gelehrter Musiker, „stellt[] keinen Unterschied fest“ zwischen dem jungen Gould, den er in Salzburg hörte, und dem älteren Gould : „Glenn hatte schon vor achtundzwanzig Jahren die Goldbergvariationen so gespielt wie auf diesen Platten, die er mir übrigens zu meinem fünfzigsten Geburtstag geschickt hatte …“49 (Bernhard selber besaß beide Gould-Aufnahmen von Bachs Golbergvariationen, die zu seiner Lebzeit auf dem Markt waren). Dies ist nicht nur „preoccupation“ sondern auch Stagnieren § schließlich ist die Arie in der 1981er Aufnahme fast doppelt so lang. Der Erzähler hat eine Art platonischen Gould im Kopfe ; aber dafür verliert er den entwickelten Gould. Als Glenn Gould sich in einem Interview über die beiden Goldbergvariationen aussprach, hatte er wenig Gutes über die vielleicht berühmteste Klassik-Aufnahme des letzten Jahrhundertes zu sagen. Das Anhören seiner eigenen Interpretation 45 Bernhard : Untergeher, S. 243. 46 Olson, Michael : „Thomas Bernhard, Glenn Gould, and the Art of Fugue : Contrapuntal Variations in Der Untergeher“, in : Modern Austrian Literature, 24, 3§4/1991, S. 79. 47 Bernhard : Untergeher, S. 36. 48 Vgl. Steingröver : „Gould and Schopenhauer“. 49 Bernhard : Untergeher, S. 56.
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von 1955 sei eine „rather spooky experience“, nicht zuletzt, weil es „seemed like some other spirit“ saß am Klavier. Der inzwischen fünfzigjährige Pianist erkannte sich kaum in dem jungen Künstler § im Sinne von Hugo von Hofmannsthals viel zitiertem Satz „Mein ich von gestern geht mich so wenig an wie das Ich Napoleons oder Goethes.“50 Das fiktive Ich Goulds geht den beiden anderen Protagonisten nahe, aber das in einer versteinerten Form. Sie stagnieren bis in den Tod anhand ihrer Gould-Verehrung. Literaturverzeichnis Bazzana, Kevin : Glenn Gould. Die Biografie. Übers. von Isabell Lorenz. Mainz 2006. Bernhard, Thomas : Der Untergeher. Mainz 1988. Bernhard, Thomas : Die Ursache. München 1994. Blake, Jason : „Pianist Glenn Gould’s often Dismal Writing“, in : Acta neophilologica. 42, 1§2/2009, S. 123§135. Cott, Jonathan : Conversations with Glenn Gould. Chicago 1984. Friedrich, Otto : Glenn Gould : A Life and Variations. Toronto 1990. Fulford, Robert : „The Genius Who Lived Next Door“, in : Best Seat in the House. Toronto 1988, S. 36§51. Gould, Glenn : „Glenn Gould Interviews Glenn Gould about Glenn Gould“, in : The Glenn Gould Reader, S. 315§332. Gould, Glenn : „A Biography of Glenn Gould“, in : The Glenn Gould Reader, S. 444§448. Kingwell, Mark : Glenn Gould. Toronto 2009 (= Extraordinary Canadians). Kuhn, Gudrun : ,Ein philosophisch-musikalisch geschulter Sänger‘ ± Musikästhetische Überlegungen zur Prosa Thomas Bernhards. Würzburg 1996. Leroux, Georges : Partita pour Glenn Gould. Musique et forme de vie. Montreal 2007. Olson, Michael : „Thomas Bernhard, Glenn Gould, and the Art of Fugue : Contrapuntal Variations in Der Untergeher“, in : Modern Austrian Literature. 24, 3§4/1991, S. 73§83. Payzant, Geoffrey : Glenn Gould : Music and Mind. Toronto 1978. Sharp, Francis Michael : „Thomas Bernhard : Literary Cyrogenics or Art on Ice“, in : Modern Austrian Literature. 21, 3§4/1988, S. 201§215. Steingröver, Reinhild : „‚The most sharp-witted fool‘ : The Genius, Glenn Gould, and Schopenhauer in Thomas Bernhard’s Prose“, in Seminar : A Journal of Germanic Studies, 39, 2/2003, S. 135§152. Wiborny, Paul : Glenn Gould in ‚Der Untergeher‘ von Thomas Bernhard. Diplomarbeit. Wien 2009. http ://othes.univie.ac.at/7613/, Zugriffsdatum : 2.02.2011. 50 Hofmannsthal, Hugo von : Aufzeichnungen, hg. von Herbert Steiner. Frankfurt am Main 1973 (= Werke, Bd. 1), S. 93.
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„Introduction to The Last Puritan by Bruno Monsaingeon“, in : http ://www.collectionscanada. gc.ca /glenngould/028010§502.15-e.html, Zugriffsdatum : 2.02.2010. Le privilège de connaître Gould, in : http ://archives.radio-canada.ca/arts_culture/musique/ clips/1624/, Zugriffsdatum : 2.02.2011. „The Loser Reviewed“, in : http ://www.thomasbernhard.org/loserreviewbazzanagg.shtml, Zugriffsdatum : 2.02.2011.
Martin Huber
Was war der „Skandal“ an Heldenplatz ? Zur Rekonstruktion einer österreichischen Erregung
Stell Dir vor, es ist Heldenplatz, und das wohlsituierte Publikum inklusive Bundespräsident klatscht wohlwollend Beifall. Das ist natürlich nicht Wien am 4. November 1988, sondern Wien, genauer Theater in der Josefstadt, am 9. September 2010. Und wenn Sie heutigen, meist erst nach der Uraufführung von Heldenplatz geborenen und Sie dann leicht ungläubig anblickenden Studentinnen und Studenten vom damaligen sogenannten Heldenplatz-Skandal erzählen, an den sie sich selbst noch erinnern können (oder sich das zumindest einreden), als wäre er gestern passiert, dann kommen Sie sich vor wie ein Historiker, der von einer längst vergangenen Schlacht, etwa jener bei Dürnkrut und Jedenspeigen, berichtet. Um heute noch zu verstehen, wieso das Stück schon im Vorfeld für solch großes Aufsehen sorgen konnte, muss man sich die gesellschaftliche und politische Situation jener Jahre noch einmal vor Augen führen und natürlich auch die Geschichte der zahlreichen Skandälchen und Skandale, die Bernhards Werk von Anfang an begleitet haben und im Heldenplatz-Skandal ihren Höhepunkt gefunden haben. Um bei ersterem zu beginnen : 1986, als Peymann seine Direktionszeit in Wien begann, wurde Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten gewählt, wobei seine Wahl von heftigen Auseinandersetzungen um sein Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus, seine Rolle während des Zweiten Weltkriegs bzw. seine damalige Rechtfertigung (er hätte nur seine „Pflicht“ erfüllt) begleitet war. Wegen des Ausgangs der Wahl trat Bundeskanzler Fred Sinowatz zurück, Franz Vranitzky wurde sein Nachfolger. Die Regierung setzte eine internationale Historikerkommission ein, diese attestierte Waldheim in ihrem im Februar 1988 vorgelegten Bericht zwar kein persönliches schuldhaftes Verhalten und keine Beteiligung an Kriegsverbrechen, stellte jedoch fest, dass Waldheims eigene Darstellung lückenhaft und teilweise falsch war. Im September 1986 wurde Jörg Haider auf dem Innsbrucker Parteitag zum Obmann der Freiheitlichen Partei Österreichs gewählt § der Beginn seines Aufstiegs, der ihn schließlich zum Kärntner Landeshauptmann werden ließ und seine Partei bei den Nationalratswahlen im Jahr 1999 auf den zweiten Platz und dann in die Regierung führte.
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Das Jahr 1986 wird heute von Historikern als Umbruchsjahr im Geschichtsbewusstsein vieler Österreicher in der Zweiten Republik angesehen. Lange Zeit nach 1945 sah sich Österreich § zumindest in der offiziellen Version § als das erste Opfer Hitler-Deutschlands, wofür sich völkerrechtliche Gründe und etwa die Moskauer Deklaration anführen ließen. Die große Begeisterung vieler Österreicher über den „Anschluss“, der Jubel, der Adolf Hitler am 15. März 1938 bei seiner Rede am Heldenplatz entgegenschlug ebenso wie die Teilnahme vieler Österreicher an den Verbrechen des Nationalsozialismus, wurden dabei ausgeblendet. Gerade in der Literatur wurde diese Geschichtsklitterung früher als in der breiteren Öffentlichkeit thematisiert (man denke etwa an Hans Lebert, Albert Drach, Gerhard Fritsch u. a.) § und auch Thomas Bernhard hat diesen Teil der österreichischen Geschichte schon früh zum Thema gemacht, etwa im ItalienerFragment vom Anfang der 1960er-Jahre, das er dann Anfang der 1980er-Jahre zu seinem großen, gerade 1986 publizierten Roman Auslöschung ausbaute, der mit der „Abschenkung“ von Wolfsegg, das man wohl als pars pro toto für Österreich lesen kann,1 an die Israelitische Kultusgemeinde endet. Den Bernhard-spezifischen Kontext der Heldenplatz-Erregung stellt natürlich die lange, sich steigernde Reihe von Skandalen und Skandälchen dar, die sich an Bernhards publizistischem und literarischem Werk entzündet haben (wie sie jetzt der Band Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons dokumentiert). Das beginnt mit einer gerichtlichen Auseinandersetzung über einen Furche-Artikel Bernhards zum Salzburger Landestheater von 1955 (Salzburg wartet auf ein Theaterstück), in dem er heutiges, lebendiges Theater statt Operetten-Geschmacklosigkeiten fordert und als letzte Medizin ein Lexikon der Theaterliteratur empfiehlt, in dem sich Namen fänden wie Williams, Faulkner, Eliot oder Miller ; findet seinen ersten Höhepunkt im Skandal um die Staatspreisverleihung 1968 (nachzulesen in Meine Preise) ; setzt sich u. a. fort bei den Salzburger Festspielen mit dem sogenannten Notlichtskandal bei der Uraufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige 1972 und dem Nicht-Zustandekommen von Die Berühmten („Ich brauch die Festspiele nicht“) ; auf dem politischpublizistischen Feld mit Bernhards Invektive im Nachrichtenmagazin profil gegen Bundeskanzler Bruno Kreisky (bzw. das Kreisky-Buch von Gerhard Roth und Peter Turrini : Der pensionierte Salonsozialist, 1981), seine Auseinandersetzungen mit Franz Vranitzky (damals noch Finanzminister) oder Herbert Moritz (damals Unterrichtsminister) ebenfalls in den 1980er-Jahren. Den vor Helden1 Vgl. dazu Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiografie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995.
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platz sowohl für Bernhard und sein Verhältnis zum „Staat Österreich“ als auch für die Öffentlichkeit signifikantesten Vorfall stellt sicher die Beschlagnahme des Romans Holzfällen im Sommer 1984 dar (vgl. dazu den Briefwechsel mit Siegfried Unseld und die genaue juristische Darstellung im Nachwort des entsprechenden Werkausgaben-Bandes). Vor diesem Hintergrund diagnostizierte Sigrid Löffler im profil vom 1. August 1988 (also noch während der Theaterferien) einen Kulturkampf in Österreich als „Weiterführung der Waldheim-Auseinandersetzung und des ‚Bedenkjahr‘Streits“, der u.a. um das Burgtheater ausgetragen würde, wo alle schon auf das neue Bernhard-Stück Heldenplatz lauerten. Dass sie sich ein Exemplar des sonst bis zur Uraufführung unter Verschluss gehaltenen Stücks besorgen konnte (oder ihr ein solches zugespielt wurde), machte ihr profil-Artikel vom 19. September deutlich, in dem sie einerseits eine Inhaltsangabe von Heldenplatz lieferte und sich andererseits zur Prophezeiung verstieg : „Aus dem von Claus Peymann so liebevoll geplanten Skandal wird wohl nichts werden. […] wg. erwiesener Harmlosigkeit von Bernhards Theater-Suada“.2 Damit sich die Leser selbst ein Bild von dieser Harmlosigkeit machen konnten, wurden in einer eigenen Spalte mehrere aus dem Zusammenhang gerissene Textstellen aus Heldenplatz ohne Angabe der Figur, die sie im Stück äußert, untereinander gestellt. Es dauerte danach noch knapp drei Wochen, bis die Erregung auf die breitere Öffentlichkeit übergreifen konnte, was vor allem daran lag, dass sich neben der Wochenpresse nun mit der Kronen Zeitung die auflagenstärkste österreichische Boulevardzeitung des Themas annahm und am 7. Oktober unter dem Titel „‚Österreich, 6,5 Millionen Debile‘“ Textausschnitte aus dem Stück brachte, natürlich ebenfalls aus dem Zusammenhang gerissen, ohne Angaben der Figuren und mit Passagen, die sich besonders gut für eine Skandalisierung eigneten : die 6,5 Millionen Debilen, Wien als Alptraum, mehr Nazis als 1938, Österreich als geist- und kulturlose Kloake, der größenwahnsinnige Sozialismus, die Sozialisten als katholische Nationalsozialisten, der Bundespräsident als Lügner (woraus dann schließlich „ein verschlagener verlogener Banause / und alles in allem deprimierender Charakter“ wurde), der Kanzler als Börsenspekulant (später „ein pfiffiger Staatsverschacherer“), die ahnungslosen Universitätslehrer etc.3 Auf dieser Basis konnte man sich nun ausgezeichnet über ein großteils noch immer unbekanntes Stück erregen, wobei sich diese Erregung zunächst in den Zeitungen (zunehmend auch auf den Leserbriefseiten), dann auch in Radio und Fernsehen 2 Löffler, Sigrid : „Platz für Helden“, in : profil, 19.9.1988. 3 N. n.: „Österreich, 6,5 Millionen Debile !“, in : Neue Kronen Zeitung, 7.10.1988.
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abspielte. Bald meldete sich die Politik § vom Bundespräsidenten abwärts § zu Wort, ursprünglich oft von den Zeitungen, etwa der Kronen Zeitung, zu Stellungnahmen aufgefordert. Jörg Haider § um nur den lautesten Politiker jener Jahre herauszugreifen § bewies seine profunden Literaturkenntnisse und forderte (auf Peymann gemünzt) : „Hinaus aus Wien mit dem Schuft !“4 Es entwickelten sich Subdebatten, etwa, ob ein subventioniertes Bundestheater eine „ÖsterreichBeschimpfung“ spielen könne/dürfe/solle, oder die Debatte über eine vorzeitige Ablöse Peymanns. Der im Vorjahr verstorbene Herausgeber der Kronen Zeitung, Hans Dichand (der heute § dies nur als Marginalie zu dieser österreichischen Geschichte § wie Thomas Bernhard und Wolfgang Gasser, der Hauptdarsteller der Heldenplatz-Uraufführung, am Grinzinger Friedhof begraben liegt), sah unter dem Pseudonym Cato für den Fall, dass „wir Österreicher uns diese unflätigen Beleidigungen von Peymann und Bernhard gefallen lassen“, Österreich als ein Land, „in dem die Sonne unterzugehen droht“.5 Am Tag der Uraufführung warb die Kronen Zeitung mit einer Fotomontage, die das brennende Burgtheater zeigte, und der Zeile : „… uns ist nichts zu heiß !“.6 Peter Sichrovsky forderte im Standard : „Stürmt den Heldenplatz !“, weil er in Bernhards Theaterstück die Juden missbraucht sah, und erinnerte daran, dass in Frankfurt die Aufführung von Rainer Werner Fassbinders Die Stadt, der Müll und der Tod erfolgreich verhindert worden sei.7 Kurz : Noch bevor sich der Vorhang zur Uraufführung hob („unter Polizeischutz“, wie die Zeitungen schrieben und begleitet von einer Fernseh-Berichterstattung in den Haupt-Nachrichtensendungen, der sich üblicherweise kein Theaterstück erfreuen kann), hatte ein Großteil des Stücks „Heldenplatzskandal“ bereits stattgefunden, hatten sich viele bereits zur Kenntlichkeit entstellt, wie es Wendelin Schmidt-Dengler formulierte.8 Thomas Bernhards Verleger Siegfried Unseld schildert die Uraufführung in seiner Chronik ausführlich : Welch ein Tag ! Vormittags bei Marianne Fritz. Sie tadelt mich gleich, weil ich Bernhard als einen Übertreibungsspezialisten bezeichnet habe, was doch Bernhards eigenes Wort ist. Bernhard untertreibe, meinte sie. Die Wiener Verhältnisse seien viel schlimmer, als 4 5 6 7 8
Kindermann, Dieter : „Hinaus aus Wien mit dem Schuft“, in : Neue Kronen Zeitung, 12.10.1988. Cato [= Dichand, Hans] : „Vor Sonnenuntergang“, in : Neue Kronen Zeitung, 11.10.1988. Neue Kronen Zeitung, 4.11.1988. Sichrovsky, Peter : „Stürmt den Heldenplatz !“, in : Der Standard, 4.11.1988. Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin : „Bernhards Scheltreden. Um- und Abwege der BernhardRezeption“, in : Ders.: Der Übertreibungskünstler. Zu Thomas Bernhard. 4. erw. Aufl. Wien 2010, S. 129§147, hier S. 145.
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Bernhard sie darstelle. Das war gewissermaßen das Wort am Morgen zur Aufführung am Abend. […] Als Ulla und ich an der Burg ankommen, eine riesige Menschenmenge und Leute der Rechten, die Mist abladen wollen. […] Die Aufführung findet unter Polizeischutz statt. […] Pünktlich am Vormittag fuhr unsere Auslieferungsstelle Mohr-Berger den Band in der B[ibliothek] S[uhrkamp] an Wiener Buchhandlungen aus. Nun erst konnten also Freunde und Gegner den Text kennenlernen. […] Beginn der Aufführung um 19 Uhr. Es ist auffallend ruhig, scheinbar entspannt. Aber als in der […] ersten Szene Anneliese Römer als Wirtschafterin Zittel auftrat und die erste kritische Bemerkung zu Wien und Österreich machte, da gab es eine Pfeif-Orgie wie wohl nie in der Burg. Die Pfeif-Orgie rief nun den Beifall auf offener Szene hervor und je höher die PfeifOrgie sich steigerte, umso mehr steigerte sich der Beifall zum Orkan und im Duell des Protestes und der Zustimmung siegte besonders durch eine wohlkomponierte und vom Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann schön gestaltete zweite Szene das Ganze zu einem Triumph für Bernhard und Peymann. Statt zweieinhalb Stunden dauerte das Ganze fast fünf Stunden. In der Pause große Diskussionen, am Schluß Diskussionen, aber im Grunde genommen war alles erleichtert. Die Protestierenden wie die Sympathisanten. Am Schluß Ovationen für Schauspieler, für Peymann und für den zum ersten Mal und völlig überraschend auf die Bühne kommenden Thomas Bernhard. Es war auch für ihn ein bewegender Augenblick. Ein Schriftsteller wurde zum Repräsentant des Landes. / Das Stück mag Schwächen haben, […], aber was geboten wurde, war doch großartiges Theater. Ich sagte es am Schluß im Österreichischen Fernsehen : ein Triumph für das Stück und den Autor, ein Triumph für Peymann, aber auch ein Triumph für dieses Wiener Publikum. / Die Sonntags- und Montagszeitungen hatten nur ein Thema : PeymannBernhards Wiener Welttheater.9
Benjamin Henrichs z.B. schloss seine Rezension in der Zeit mit dem Resümee : Vorhang. Unendlicher Jubel, wütender Protest. Nach etwa zwanzig Minuten Tumult verbeugt sich auch der Dichter. Die vielleicht verrückteste Machtergreifung der Theatergeschichte war vollzogen : In dieser Minute war Thomas Bernhard der Burgtheaterkönig geworden.10
Bernhard selbst zeigt sich gut zwei Wochen nach der Uraufführung in einem Brief an seinen Verleger zufrieden mit der Aufführung (die in der Direktionszeit 9 Bernhard, Thomas/Unseld, Siegfried : Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt am Main. 2009, S. 803f. 10 Henrichs, Benjamin : „Heldenplatzangst“, in : Die Zeit, 10.11.1988.
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Claus Peymanns bis 1999 über einhundert Mal gezeigt werden und sich damit zu einem Burgtheater-„Klassiker“ entwickeln sollte) § und mit seinem Stück : Was Heldenplatz betrifft, sind sämtliche Vorstellungen ausverkauft und die Abende verlaufen in aller Ruhe mit der grössten Aufmerksamkeit des Publikums, das am Ende jedesmal den grösstmöglichen Beifall auf die Bühne schickt. Leider sind alle Kritiken Blödsinn, weil die Leute sich nie die Mühe machen, das Buch zu lesen, sie schauen ja nicht einmal wirklich hinein ; aber das bin ich gewohnt. Die Zukunft wird gerade dieses Stück als ein ganz besonderes erkennen und mir in allen Punkten rechtgeben. Schon jetzt enthüllt sich sein Wahrheitsgehalt abendlich auf die schönste Weise. Ganz abgesehen davon, dass es auch, was meine ‚künstlerische‘ Arbeit betrifft, seinem Erzeuger Freude macht.11
Gerade weil der sogenannte Heldenplatz-Skandal die Rezeptionsgeschichte wesentlich gesteuert hat, ist es wichtig, einen Schritt dahinter zurück zu machen und einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des Stücks zu werfen, auch und gerade um einige Klischees zu hinterfragen, die sich seither etabliert haben, etwa jenes von der wohlkalkulierten Kampagne, die die Marketing-Profis Peymann und Bernhard in Szene gesetzt hätten. Für Peymann, in dessen Auftrag das Stück zum 100. Jahrestag des Wiener Burgtheaters an der Ringstraße, andererseits als Beitrag zum „Bedenkjahr“ 1988, also zu 50 Jahre „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland im März 1938 entstand, mag dies nicht so unzutreffend sein (in diesem Zusammenhang müssten auch sein Zeit-Interview und darauf folgende Rollenzurücklegungen näher behandelt werden, was im Hinblick auf Bernhards Rolle aber nicht entscheidend ist). In den Nachlassmaterialien zu Heldenplatz, die sich erhalten haben und heute im Gmundner Thomas-BernhardArchiv zugänglich sind, findet sich jedenfalls ebenso wenig wie in der Korrespondenz mit seinem Verleger Siegfried Unseld ein Hinweis darauf, dass Thomas Bernhard an einem Skandal-Masterplan beteiligt gewesen wäre. Nur einige Bruchstücke aus der Entstehungsgeschichte von Heldenplatz, die dann im Nachwort zu Band 20 der Werkausgabe, der noch 2011 erscheinen wird, ausführlich dargestellt werden : das Stück ist wohl im Herbst/Winter 1987 in Ottnang geschrieben worden (also im Jahr nach dem Erscheinen des Prosa-„Opus magnum“ Auslöschung), im September 1987 lässt Bernhard den Verlag den Titelschutz für Heldenplatz erwirken, Anfang Jänner 1988 kündigt er Burgel Zeeh telefonisch die Übersendung des Typoskripts an. Er fordert und erwirkt von Unseld, dass der 11 Bernhard § Unseld. Der Briefwechsel, S. 802f.
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Text nur an Claus Peymann geschickt wird, er soll auf keinen Fall vorher bekannt werden, damit das Stück bei der Uraufführung unmittelbar wirken könne. (Nun kann man natürlich unterstellen, dass Berhard damit gerechnet habe, damit nur die Neugier zu schüren, bzw. dass das Stück schon seinen Weg zur Presse finden werde etc. § aber man kann natürlich alles unterstellen.) Als thesenartiges Resümee möchte ich also zur Diskussion stellen : § Heldenplatz konnte eine solche, in der Literaturgeschichte der 2. Republik wohl einmalige, provozierende Wirkung nur aufgrund der Mitte der 1980erJahre in einer breiten Öffentlichkeit virulent gewordenen Frage nach Österreichs Rolle im Dritten Reich und seinen Umgang mit dieser Geschichte in den Jahren und Jahrzehnten danach und vor dem Hintergrund der Bernhard„Skandale“/„Provokationen“ entfalten. Und es war ein gemachter österreichischer Zeitungsskandal in Unkenntnis des Stücks : Bei genauer Betrachtung sieht man, dass sich zunächst (bevor der „Skandal“ seine volle Eigendynamik gewann) viele Politiker nicht von sich aus zu Wort gemeldet haben, sondern vor allem von der Kronen Zeitung suggestiv befragt wurden, ob „man“ es sich bieten lassen könne, dass die Österreicher „auf Kosten des Steuerzahlers“ beschimpft würden, worauf dann viele dumm genug waren, die gewünschte Antwort zu geben ; bzw. andere, die sich auf einen Standpunkt „Freiheit der Kunst“ zurückziehen wollten, dann in den Glossen entsprechend geprügelt wurden ; ein „Skandal“, bei dem es, um nochmals Wendelin Schmidt-Dengler zu zitieren, tatsächlich vielen Akteuren gelang, sich zur Kenntlichkeit zu entstellen. § Dass Heldenplatz heute keine wie immer geartete „provozierende“ Wirkung mehr entfaltet, ist evident, das muss man aber nicht beklagen § eine möglicherweise „provozierend positive“ These zum Schluss : heute, ja eigentlich schon ab der zweiten Aufführung, ist der Kontext, der zuvor aus dem Zusammenhang gerissenen Stellen klar : dass hier eine Theater-Figur spricht, dass sich dieser Professor Robert Schuster „noch einmal eine Erregung gestattet“,12 obwohl er sich eigentlich nicht mehr aufregen möchte, weil er sich arrangiert hat ; dass sein Bruder, der Selbstmord begangen hat, keineswegs nur Opfer, sondern auch ein Haustyrann war etc. Und (trotz eines Politikers wie H.C. Strache und seinen noch immer bzw. wieder beängstigenden Wahlerfolgen) : der kritische Blick auf die österreichische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat sich inzwischen durchgesetzt (ist vielleicht sogar Mehrheitsmeinung geworden ?) § man muss sich also nicht darüber erregen, dass sich niemand mehr über Heldenplatz erregt ! 12 Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1988, S. 91.
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Literaturverzeichnis Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1988. Bernhard, Thomas : Erzählungen I [In der Höhe, Amras, Der Italiener, Der Kulterer]. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2004 (= Werke, Bd. 11). Bernhard, Thomas : Alte Meister. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2008 (= Werke, Bd. 8). Bernhard, Thomas : Auslöschung. Hg. von Hans Höller. Frankfurt am Main 2009 (= Werke, Bd. 9). Bernhard, Thomas : Meine Preise. Frankfurt am Main 2009. Bernhard, Thomas : Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Hg. von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Berlin 2011. Burgtheater Wien (Hg.) : Heldenplatz. Eine Dokumentation. Wien 1989 [darin enth. die Zeitungs-Rezensionen, aus denen zitiert wurde und die in den Fußnoten entsprechend angeführt sind]. Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiografie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995. Schmidt-Dengler, Wendelin : Der Übertreibungskünstler. Zu Thomas Bernhard. 4. erw. Aufl. Wien 2010. Bernhard, Thomas/Unseld, Siegfried : Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt am Main 2009.
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Gift spritzen Der Heldenplatz-Skandal als mediale Ansteckung
1. Bernhards Spritze Am 22. Oktober 1988, zur Zeit der heftigen medialen Auseinandersetzung um Thomas Bernhards Stück Heldenplatz, erscheint eine Karikatur von Ironimus in Die Presse, die ausschlaggebend für die These dieses Essays ist.1 Mit langen Krallen ausgerüstet, sitzt Thomas Bernhard am Schreibtisch, Feder in der linken Hand, übergroße Spritze in der rechten, schreibend an einem neuen Stück namens Hawličekplatz.2 Die Karikatur zeigt Bernhard in seiner bekannten Rolle als Störenfried, vor dessen Schimpfkunst Verteidiger (wie Hawliček) sowie Feinde sich hüten mussten. Meines Erachtens ist die Spritze mehr als bloß eine Vergegenständlichung der sprichwörtlichen Eigenschaft des Polemikers „Gift“ zu spritzen. Vielmehr ist sie bildliche Kristallisation eines vielschichtigen Komplexes, der im Zusammenhang mit der Pressereaktion zu Heldenplatz ans Licht kam, in dem sich Krankheitsmetaphorik, Theaterrezeption und umstrittenen Erinnerungspraktiken verdichten. Die Spritze § ein medizinisches Instrument, welches Heilung oder Tod herbeiführt § verkörpert die Ambivalenz dieser Metaphorik. In der Karikatur ist zugleich eine andere Metapher enthalten, die zum journalistischen Klischee in Verbindung mit Heldenplatz wurde : Bernhard als Dramatiker, dessen Stück auf der Bühne der österreichischen Wirklichkeit aufgeführt wird. Diese zwei Metaphern § auf der einen Seite, Österreich als ein Theater voll von unfreiwilligen Schauspielern, auf der anderen Seite Bernhards Kunst als Spritze, welche die „giftige“ Vergangenheit in die Gegenwart injiziert, konvergieren in der Figur der Ansteckung. Im Folgenden postuliere ich die Ansteckung als theoretischer Knotenpunkt, wo die Zusammenkunft textimmanenter Prozesse im 1 Ironimus : „Der Kunstbericht“, in : Burgtheater (Hg.) : Heldenplatz. Eine Dokumentation. Wien 1989, S. 137. 2 Der Name des fiktiven Stückes spielt auf Unterrichtsministerin Hilde Hawliček an, die Bernhards Recht auf künstlerische Freiheit in Sache Heldenplatz verteidigte, obwohl sie „als Dramatiker das Stück nicht geschrieben und als Theaterdirektor es nicht aufgeführt“ hätte. § Burgtheater Wien (Hg.) : Heldenplatz. Wien 1989, S. 36.
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Werk Bernhards mit der performativen Wirkung seiner Schriften auf die Öffentlichkeit sichtbar wird. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht hat der Begriff der Ansteckung in letzter Zeit zunehmend an Bedeutung gewonnen. In ihrer Einleitung zum Band Ansteckung : zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, beschreiben Mirjam Schaub und Nicola Suthor den spezifischen Anwendungsbereich dieses Terminus, den sie dem Begriff der Rezeption gegenüberstellen : Der Begriff der Ansteckung schlägt [im Gegensatz zur Rezeption] ein weniger intellektgeleitetes, als vielmehr ein körperlicheres Modell von Einflußnahme vor. Wir haben nicht die Wahl, wir können uns nicht bewußt für oder gegen das „Angesteckt-“, „Fasziniert-“‚ „Berührt-Werden“ entscheiden. Ansteckung im Sinne eines unvermittelten Affiziert-Werdens findet statt (oder auch nicht statt) […]. Die Zufälligkeit, die Unmittelbarkeit, die Plötzlichkeit, aber auch die innere Notwendigkeit, die Unvermeidlichkeit müssen in der Begriffsbildung mitgedacht sein.3
Das „unvermittelt[e] Affiziert-Werden“ im theatertheoretischen Kontext erinnert an den vertrauten Begriff der Katharsis, der seit der Antike die Diskurse von Theater und Medizin verbindet.4 Dennoch ist der Ansteckung, wie Erika FischerLichte in ihrem Beitrag zum selben Band betont, als komplementärem aber unterschiedlichem Begriff, ebenfalls ein beträchtlicher Platz in Theatertheorien von Augustin bis Artaud einzuräumen.5 Sowohl Katharsis als auch Ansteckung, so Fischer-Lichte, beschreiben „einen Zustand des Übergangs“ : vom kranken zum gesunden Körper (im Falle der Katharsis) oder vom gesunden zum kranken Körper (im Falle der Ansteckung), einen „Schwellenzustand“, der wiederum in einen neuen Heilungsprozess oder den „Tod“ umschlagen kann.6 Daher ist der Begriff der Ansteckung durchaus ambivalent. Er wird in der Geschichte der Theaterkritik mal positiv, mal negativ besetzt.7 Während Ansteckung im Zuge der Entwicklung des Autonomieanspruchs der Kunst im späten 18. und im 19. Jahrhundert 3 Schaub, Mirjam/Suthor, Nicola : „Einleitung“, in : Schaub, Mirjam/Suthor, Nicola/Fischer-Lichte, Erika (Hg.) : Ansteckung : zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München 2005, S. 9§21, hier S. 9. 4 Fischer-Lichte, Erika : „Zuschauen als Ansteckung“, in : Schaub, Mirjam/Suthor, Nicola/FischerLichte, Erika (Hg.) : Ansteckung : zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München 2005, S. 35§50, hier S. 35. 5 Ebd., S. 36§37. 6 Ebd., S. 35. 7 Ebd., S. 38§39.
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als schädlich angesehen wird,8 wird sie im Sinne von einer Kontamination der verschiedenen Künste unter- und miteinander (z.B. Malerei und Theater) seit den 60er-Jahren als eine Bereicherung angesehen.9 Laut Fischer-Lichte setzen alle historischen Diskurse über Ansteckung auf dem Theater das körperliche Zusammensein von Zuschauern und Spielern voraus. Ohne „leibliche Ko-Präsenz,“ gibt es also keine Ansteckung im theatralisch-ästhetischen Sinne.10 Bereits zur Zeit des Heldenplatz-Skandales wurde die mediale Auseinandersetzung um das Stück, vor allem wegen der emotionalen Betroffenheit der Beteiligten, als Infektion beschrieben, wenn auch nur ironisch : im FAZ-Artikel von Andreas Razumovsky : „Ausländische Infektion : Die Ausweitung des Burgtheater-Skandals“. Ich behaupte, dass Razumovsky hier auf ein nachvollziehbares Phänomen in Österreich hinweist. Es gilt hier, die weiteren Implikationen dieser Metapher auszuarbeiten. Sigrid Löffler veröffentlichte die ersten Auszüge aus dem Heldenplatz-Text in ihrem Profil-Artikel von 01.08.1988. Darauf reagierte die österreichische Medienwelt zunächst gar nicht. Löfflers Artikel enthielt bereits die rhetorischen Gründzüge der darauffolgenden Debatte : Österreich als Bühne, Politik als Theater und Theater als „Stellvertreterkrieg“ für die gespaltene österreichische Gesellschaft.11 Doch erst nach einer „Inkubationszeit“ wurden die Folgen dieser Veröffentlichung sichtbar. Als analytisches Konzept steht Ansteckung in diesem Zusammenhang jedoch unter dem Zeichen eines zentralen Paradoxes : während theatralische Ansteckung auf Kontakt, Kontamination, Unmittelbarkeit basiert, wurde die Erregung um Heldenplatz hauptsächlich durch die Medien verursacht, also durch die Zeitungen vermittelt. Die Auflösung dieses Paradoxes erfolgt nur, wenn wir das Klischee von „Österreich als Bühne“ ernst nehmen, und den Skandal um Heldenplatz als medialisierte Performance analysieren, welche durch die Wechselwirkung zwischen Text und gesellschaftlicher Empfindlichkeit verursacht wurde.12 Dies bedeutet auch einen Schritt hinaus über die herkömmliche Theater-Metaphorik (z.B. Politiker als Schauspieler), die Alexandra Millner in ihrer Analyse des Heldenplatz-Skan8 9 10 11 12
Ebd., S. 41. Ebd., S. 45. Ebd., S. 37. Burgtheater (Hg.) : Heldenplatz, S. 4. Für ein knappes Resümee der Bühnen- und Theatermetaphorik in der Beschreibung der Wiener bzw. österreichischen Öffentlichkeit siehe Bentz, Oliver : Thomas Bernhard -Dichtung als Skandal. Würzburg 2000, S. 27§28.
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dals erwähnt.13 Der Begriff der Ansteckung erlaubt uns eine Verbindungslinie zwischen der für Fischer-Lichtes Aufwertung des Ansteckungsbegriffs unabdingbarer Kunst der 60er-Jahre und Bernhards medialer Performance-Kunst zu ziehen.14 Durch Heldenplatz hat Bernhard die Medien mit dem Theater, die Gegenwart mit der Vergangenheit kontaminiert. Gleichzeitig schließt die konkrete Ansteckungsmetaphorik, die sich sowohl in Bernhards Œuvre als auch in der öffentlichen Auseinandersetzung mit ihm findet, auf frappierende Weise an die Besessenheit der Nationalsozialisten mit biologisch fundierten Theorien der Kunst und Gesellschaft an § allerdings mit eigentümlichen Verschiebungen und Umkehrungen.15 In diesem Zusammenhang ist die Körperlichkeitsmetaphorik, die in meiner Analyse ans Licht kommt, von einer Unheimlichkeit gekennzeichnet : das Stück Heldenplatz, welches an das Fortbestehen von nationalsozialistischem Gedankengut in Österreich erinnert, wird selber als Krankheit empfunden, und zwar auf eine Weise, die zum Teil an die Propaganda der 30er-Jahre erinnert. Diese Unheimlichkeit ist also für die Bernhardsche „Ansteckung“ konstitutiv. Wenn wir aber Krankheitsmetaphern im Zusammenhang mit Thomas Bernhard erwähnen, müssen wir sein Gesamtwerk in Betracht ziehen. Der Themenkomplex um Krankheit in Bernhard ist schon Gegenstand einer umfangreichen Sekundärliteratur.16 Krankheitsbezüge innerhalb Bernhards Œuvre sind omnipräsent und diffus auf eine Weise, die sich gegen eine konsequente Auslegung sperren.17 Dahingegen hat der Ansteckungsbegriff bei Bernhard, mit wichtigen 13 Millner, Alexandra : „Theater um das Burgtheater. Eine kleine Skandalogie“, in : Schmidt-Dengler, Wendlin/Sonnleitner, Johann/Zeyringer, Klaus (Hg.) : Konflikte ± Skandale ± Dichterfehden in der österreichischen Literatur. Berlin 1995, S. 248§266, hier S. 249§250. 14 Fischer-Lichte : „Zuschauen als Ansteckung“, S. 50. 15 Siehe hierzu u.a. Atze, Marcel : Unser Hitler. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen 2003, S. 153 : „Hitler verfolgte die Taktik, furchterregende Dinge (Bazillen, Erreger, Gift) metaphorisch zu gebrauchen um das Entsetzen auf die § mittels Metapher § gleichsam neu definierten Gegenstände zu übertragen“. Auch Thomas Cousineau hat Parallelen zwischen den rhetorischen Strategien von Mein Kampf und Bernhards Werk hervorgehoben : Cousineau, Thomas. Three Part Inventions. The Novels of Thomas Bernhard. Cranbury, New Jersey 2008, S. 93. 16 Siehe Strowick, Elisabeth : Sprechende Körper ± Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik. Paderborn 2009, S. 290 (Fußnote), für eine Auflistung fast aller Quellen zum Thema Krankheit in Bernhard. 17 Siehe Kohlhage, Monika : Das Phänomen der Krankheit im Werk von Thomas Bernhard. Herzogenrath 1987, S. 122 : „Kaum meint man, durch die dargestellte ubiquitäre Morbidität das leidende Subjekt gefunden zu haben, taucht das eben noch betroffen machende Krankheitsmotiv neuerlich,
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Ausnahmen, bisher nur begrenzte Aufmerksamkeit gefunden. In ihrem Buch Sprechende Körper. Poetik der Ansteckung widmet Elisabeth Strowick der Ansteckung als erzählerisches Konzept in Bernhards autobiografischer Prosa ein umfangreiches Kapitel. Sie untersucht die poetologischen Strategien, welche den kranken Körper in der Autobiografie erscheinen lassen.18 Hélène Francoual macht einen großen Schritt in dieselbe Richtung in ihrem Artikel „Das Imaginäre des Übels oder die Bernhardsche ‚Anthropologie‘ der Krankheit“, der sich ebenfalls mit Bernhards autobiografischen Schriften beschäftigt.19 In Bernhards Prosa ist aber ein anderer Übertragungsvorgang (und hier kommen wir wieder in die Nähe des Heldenplatz-Skandals) von erheblicher Bedeutung : die zwischenmenschliche „Ansteckung“ durch Sprache.20 Indem wir die Einsichten von Francoual und Strowick hinsichtlich Bernhards Autobiografie kombinieren und sie auf seine weitere Prosa übertragen, erkennen wir einen roten Faden, der sein Œuvre durchzieht. Frost, der Text, mit dem Bernhard seinen literarischen Durchbruch erzielte, erzählt, grob gesagt, die Geschichte einer „Ansteckung“ durch Sprache. Der Maler Strauch, den der Protagonist des Romans beobachten soll, spricht eine Sprache die als krankmachend und physisch wirksam beschrieben wird, und steckt den Famulanten letzten Endes damit an.21 Spätere Romane wie Verstörung und Korrektur thematisieren gleichfalls den Ausbruch einer sprachlichen Pathologie und deren Übertragung von einer Figur auf eine andere. Es ließe sich weitere literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Bernhard
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aber vollkommen lächerlich auf : neben einer organischen Todeskrankheit erschient plötzlich auch das Zeitunglesen als Krankheit und die Leidenschaft, ins Kaffeehaus zu gehen, wird ebenfalls als Krankheit tituliert“. Strowick : Sprechende Körper, S. 291. Francoual, Hélène : „Das Imaginäre des Übels oder die Bernhardsche ‚Anthropologie‘ der Krankheit“, in : Huber, Martin (Hg.) : Thomas Bernhard Jahrbuch, 2003, S. 235§251. Hier meine ich nicht die Literatur als ansteckendes Material oder eine bestimmte Strategie des Erzählens (siehe Strowick : Sprechende Körper), sondern das Transfer von Sprache von einer Figur zur anderen. Siehe auch Francoual : „Das Imaginäre des Übels“, S. 246, wo die Ansteckungsangst in der Beziehung zwischen Strauch und dem Famulanten in einer Fußnote angemerkt wird, jedoch ohne die Sprache zu erwähnen. Zwei von vielen Beispielen der Metapher der „giftigen“ oder „ansteckenden“ Rede im Text : der Maler spricht über seine Tätigkeit als Hilfslehrer (der Famulant protokolliert) : „Die Elternbeschwerden, die seinetwegen in den diversen Direktionen immer wieder eintrafen, bezogen sich auf ‚anstößige Ansichten‘ die er ‚wie ein Medikament seinen Schülern einzugeben‘ beschuldigt wurde“. § Bernhard, Thomas : Frost. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2003 (= Werke, Bd. 1), S. 186. Dieses „Medikament“ wirkt auch auf den Erzähler, der immer tiefer in der Sprache des älteren Mannes versinkt : „Ich bin nicht mehr ich. […] Ich ertappte mich hilflos ausgeliefert in den Sätzen und Ansichten Strauchs […]“. § Bernhard : Frost, S. 299.
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heranführen, die sich ebenfalls § sei es bewusst oder unbewusst § der Metaphorik der Ansteckung bedienen.22 Der Topos von Bernhards ansteckender Sprache ist sogar zum interliterarischen Phänomen geworden : der französische Schriftsteller Hervé Guibert hat in seinem autobiographischen Roman Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat Bernhards schriftstellerischen Einfluss auf seinen Text mit dem HIV-Virus gleich gesetzt.23 Ich behaupte, dass die Sprengkraft der Analyse der Ansteckung bei Bernhard in der gesellschaftlichen Wirkung seiner Schriften besteht. Hier wird die textimmanente Ansteckungsthematik auf unheimliche Weise auf die Öffentlichkeit übertragen und in Verbindung mit der NS-Vergangenheit in Österreich gesetzt. Der nun folgende Teil dieses Essays wird näher auf diese konkreten Zusammenhänge eingehen. 2. Heldenplatz als mediale „Infektion“24 Ich werde mich im Folgenden hauptsächlich auf die vom Burgtheater herausgebrachte Sammlung Heldenplatz. Eine Dokumentation beziehen, trotz der vermeintlichen Parteilichkeit im Auswahlprinzip dieses Bandes. 25 Auch wenn die Artikelsammlung in der Dokumentation keinen Anspruch auf ein umfassendes Bild der Pressereaktion erheben kann, sind die Tendenzen, die ich untersuchen möchte, darin reichlich belegt. Das Ergriffen-Sein der Medien und Politiker, die vermeintliche Kongruenz zwischen Bernhards Text und der österreichischen Realität, lassen sich vielfach in der Rhetorik der österreichischen Zeitungen nachweisen. Hier kommt das „unmittelbar Affiziert-Werden“ der Kolumnisten nicht selten in Körperlichkeitsoder Krankheitsmetaphern zum Ausdruck. Ich werde sie als „Symptome“ einer medialen „Infektion“ lesen. Diese Metaphern markieren, etwas vereinfacht ge22 Siehe z.B. Maier, Andreas : Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa. Göttingen 2004, S. 269 : „Bernhards Prosa will, daß ich ihre rhetorischen Strukturen übernehme, daß ich die Welt auf ihre Weise sehe, kurz, daß ich diese Struktur reproduziere“. 23 Guibert, Hervé : Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Übersetzt von Hinrich SchmidtHenkel. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 156, 205§208. 24 Zum Thema der medialen „Infizierung“ siehe auch Rushkoff, Douglas : Media Virus ! Hidden Agendas in Popular Culture. New York 1994. 25 Siehe z.B. Maria Fialik im Gespräch mit Sigrid Löffler : „Das Werk hat ja auf wunderbare Weise triumphiert“, in : Fialik, Maria : Der konservative Anarchist. Thomas Bernhard und das Staats-Theater. Wien 1991, S. 17.
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sagt, zwei Wege : einerseits die Pathologisierung von Bernhard als Autor26 (und demzufolge ebenfalls seiner Texte), andererseits die Vorstellung von Bernhard als Arzt, der mit seiner theatralischen Medizin Österreich zu heilen trachtet. Doch zu diesen zwei Haupttendenzen gesellt sich eine dritte, welche Krankheit und Gesundheit, Gift und Medizin verbindet : die Metaphorik der Impfung. Diese letzte Metapher, welche die zwei anderen integriert und aufhebt, ist für meine Auslegung des Heldenplatz-Skandals entscheidend, da sie den Ausgang dieser „Erkrankung“ vorwegnimmt. Die Tendenz, Bernhards Werk zu pathologisieren, scheint in den meisten Fällen eine unreflektierte Reaktion zu sein. Man liest zum Beispiel von : „pathologisch klingenden Schimpforgien“27 oder von Bernhards „(fast pathologisch[en]) Abneigung“ gegen Österreich.28 Sogar Drohbriefe an das Burgtheater haben ähnliche Inhalte : „Thomas Bernhard ist ein Psychopath“.29 Der berühmt-berüchtigte rechtsstehende Kolumnist Staberl von der Kronen Zeitung schreibt : „Die ordinären Behauptungen [im Heldenplatz-Text] wollen wir erst gar nicht zurückweisen. Dafür ist der Psychiater zuständig.“30 Auf der anderen Seite steht die Metapher von Bernhard als Arzt. Hier sind einige Beispiele besonders hervorzuheben. Der Filmemacher Ferry Radax schreibt über Bernhard : Mit der Sonde seines Geists ortet er, wie ein guter Internist, mit geradezu prophetischdiagnostischem Blick, wo immer noch die Metastasen des Faschismus wuchern, die in seinen Augen immer noch den Österreicher zu einem verseuchten Charakter machen.31
Hier ist Bernhard eher ein Diagnostiker, der die Therapie anderen überlässt. Der Faschismus ist ein Krebs, dessen Rückstände ermittelt werden müssen. In seinem Falter-Artikel zum (nicht fiktiven) Heldenplatz als Gedächtnisort verwendet Leonhard Schmeiser ein ähnliches aber entscheidend aktiveres Bild von Bernhards gesellschaftlicher Rolle : 26 Hélène Francoual hat schon diese erste Tendenz in allgemeinen Begriffen umrissen, indem sie diesen Verteidigungsmechanismus in der österreichischen Öffentlichkeit als „cordon sanitaire“ bezeichnet § Francoual : „Das Imaginäre des Übels“, S. 248. Meine Beobachtungen in dieser Hinsicht stützen sich auf ihre Analyse. 27 Burgtheater (Hg.) : Heldenplatz, S. 18. 28 Ebd., S. 22. 29 Ebd., S. 54. 30 Ebd., S. 70. 31 Ebd., S. 130.
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Auf den analytischen Eingriff Bernhards reagiert der Patient präventiv mit der Forderung nach stärkerer Zensur, zur Rettung der eigenen durch angestrengtes Vergessen erworbenen Identität.32
Bernhard ist hier Chirurg, der den widerborstigen Patienten § die österreichische Öffentlichkeit § operiert. Während Radax und Schmeiser Bernhard nicht für bedrohlich halten, wurzeln ihre therapeutischen Bilder dennoch im Bereich der Medizin. Zumindest in dieser Hinsicht gehen diese positiven Auffassungen von Bernhards gesellschaftlicher Wirkung mit den kritischen Hand und Hand. Ebenfalls biologisch-medizinisch fundiert sind andere, negative Metaphern. Dem Bild von Bernhard als Onkologe setzt Hans Haider in Die Presse eine andere Krebsmetapher entgegen : von Heldenplatz als Tumor. In einem Artikel, der die Armut sowohl des österreichischen Theaters als auch der österreichischen Politik beklagt, zitiert er die Bernhard-Figur Professor Guggenheim (aus dem Stück Elisabeth II), der vom Charakter her als Vorgänger des Heldenplatz-Protagonisten Professor Robert Schuster betrachtet werden könnte. Dazu schreibt er : „Das war wohl die Keimzelle der ‚Heldenplatz‘-Wucherung. Staatsgedenktaggemäß wählte Bernhard einen jüdischen Professor als Hauptfigur […]“33 Nicht Faschismus, sondern die theatralische Auseinandersetzung mit Faschismus wird hier mit Krebs verglichen. Dies aber, weil Bernhard sich, rhetorisch gesehen, gefährliche Vorbilder gewählt hat : [Bernhard] schreibt die Heroisierung des von Kulturverlustängsten geplagten Geistesmenschen fort, mit der die Literatur nach dem Ersten Weltkrieg auf den Zusammenbruch der alten Ordnung reagierte (und der oft genug dem Faschismus vorbetete).34
Bernhards Theater ist also die Fortwucherung einer präfaschistischen literarischen Krankheit. Heldenplatz erscheint hier als eine Frühversion jener Metastasen, die Bernhard als „Onkologe“ (bei Radax) ausfindig machen sollte. Metaphern von Krankheit und Heilung kollidieren miteinander. Zwei Artikel von Peter Sichrovsky zur Heldenplatz-Debatte verflechten Krankheitsmetaphern, jedoch ohne die therapeutischen Szenarien von Autoren wie Radax. Sichrovsky wirft der Kulturkritik von Bernhard und seinem Regisseur Claus Peymann vor, sie ließe „[h]istorisch entstandenes Unheil“ als „blinde Not32 Ebd., S. 191. 33 Ebd., S. 222. 34 Ebd.
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wendigkeit“ erscheinen, und entschuldige diese damit implizit. Hier vervielfachen sich die medizinischen Metaphern : Nichts Schlimmeres könnte dem Theater geschehen, würde der Ruf nach absoluter Freiheit der Kunst erhört. Der wütend bellende Hund, auf den man mit Gleichgültigkeit regiert, ist auf kurz oder lang ein Fall für das psychiatrische Tierheim. Die Kritik und die Empörung über ein Theaterstück ist wie ein Therapievorschlag von einem Kranken. Aber die Künstler sollen sich um Gottes willen nicht plötzlich als die ‚Götter im weißen Mantel‘ sehen.35
Sichrovsky kombiniert also den pathologisierenden Ansatz von Kolumnisten wie Staberl (obwohl er sich im Vergleich mit dem Krone-Kolumnisten als weitaus einsichtiger im Verständnis literarischer Formen erweist) mit der Arztmetaphorik von Radax und Schmeiser, schließt aber die Reaktion auf Heldenplatz als Teil der Krankheit mit ein. In Sichrovskys Auffassung, setzt Bernhard seine eigene Krankheit gegen die Krankheit der Gesellschaft ein. Doch einige Tage später schließt sich Sichrovsky den Empörten an, die er zuvor zu den Kranken zählte, indem er unter dem Titel „Stürmt den Heldenplatz“ die Verhinderung des Fassbinder-Stückes Der Müll, die Stadt und der Tod in Frankfurt als mögliches Vorbild für eine Publikumsaktion zur HeldenplatzPremiere vorschlägt. Er verurteilt das „hysterisch[e], dumpf[e], undifferenziert[e], neurotisch[e] Geschrei“, das Bernhard seiner jüdischen Figur Schuster in den Mund legt.36 Sichrovsky macht sich Sorgen, dass das Stück Antisemitismus fördern könnte : „Der Jude war für die meisten Österreicher vor dem Krieg der Fremde, und blieb es nach dem Krieg. Was in dem Stück von ihm bleibt ist die dumpfe, psychopathische Wut eines Fremden“.37 In diesem Artikel pathologisiert Sichrovsky die Wut der Bernhard-Figuren, nicht Bernhard als Autor. Er impliziert aber gleichzeitig eine Kongruenz zwischen der Verurteilung des Antisemitismus auf der Bühne und der Anstachlung des Antisemitismus in der Realität. Er argumentiert also für die unmittelbare Wirksamkeit von Bernhards Bühnensprache. Günther Nennings Heldenplatz-Kommentar in Die Zeit, unter dem Titel „Peymanns Wiener Welttheater“, ist hingegen positiv. Er erkennt die Tatsache, dass es im „Stück im Stück im Stück“ (also die politische und mediale Ausein35 Ebd., S. 115. 36 Ebd., S. 187. 37 Ebd.
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andersetzung um Heldenplatz) um die zeitgenössische österreichische Identität geht. Hier taucht der Begriff der Impfung auf, die einen möglichen Ausgang eines Ansteckungsprozesses repräsentiert : Heimito von Doderer erzählt, das staatliche Institut, wo Impfstoff gegen Tollwut erzeugt wurde, habe amtlich geheißen „Bundesanstalt für Wut.“ Also das ist jetzt das Burgtheater. Dr. Bernhard erzeugt aus Wut Impfstoff. Ebendrum ist Thomas Bernhard jetzt unser österreichischer Nationaldichter, der einzige, den wir derzeit haben.38
Die Impfstoff-Metaphorik ist deutlich ambivalenter als das Bild von Bernhard als Onkologe oder Chirurg, so positiv die Rezension auch ist. Ein Impfstoff funktioniert dadurch, dass er einen gesunden Körper mit einem geschwächten Krankheitserreger infiziert, um Immunität herbeizuführen. Nennings Bildwahl impliziert also, dass die ansteckende Wut der Bernhard-Figuren, die in den Zeitungen auf heftige Abwehr stieß, im Endeffekt eine Immunisierung herbeiführen wird. Die Metapher der Impfung stellt also eine Homologie zwischen Krankheit und Therapie auf. Andere Zeitungsbeiträge merken diese Beziehung, ohne sie „Impfung“ zu nennen. Die Nähe von Robert Schusters Sprache zu den Sprüchen des FPÖPolitikers Jörg Haider wird zum Beispiel mehrfach hervorgehoben. In einer Karikatur im Kurier wird die Frage gestellt : „Hat der Bernhard etwa beim Haider abg’schrieben ?“39 In einem Brief an das Burgtheater heißt es : „Mir scheint der [Bernhard] mit seinem kleinbürgerlichen Geschimpfe sehr in die Nähe des Jörg Haider zu kommen, womit er genau jenen Tendenzen Vorschub leistet, die er doch bekämpfen will.“40 Nach der Premiere schrieb Hubert Wachter im Kurier : Manchmal habe ich den Eindruck, dass Thomas Bernhard vielleicht doch der „Ghostwriter“ von Jörg Haider ist. Der Unterschied : Haider artikuliert seine politische Kritik natürlich bei weitem nicht so scharf und vor allem nicht beleidigend.41
Diese Ansichten werden aber noch einen Schritt weiter getrieben ; der Abstand zwischen Kunst und Politik, zwischen „Gift“ und „Medizin“ wird immer geringer. Bernhards Schimpftiraden werden mit dem Stammtischgerede verglichen, das 38 39 40 41
Ebd., S. 192. Ebd., S. 63. Ebd., S. 41. Ebd., S. 212.
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wesentlich zum Aufstieg des Faschismus beigetragen haben soll : in Die Presse heißt es zum Beispiel : „[z]uvorderst der Biertischösterreicher, der so schimpft wie der Bernhard-Dichter, hat seinen nachgewiesenen Anteil an Faschismus : in seiner Undifferenziertheit, seiner Tabula-rasa-Gier“.42 Diese und andere Feststellungen über die Ähnlichkeiten zwischen der Sprache der Bernhard-Figuren und der Rhetorik der rechtspopulistischen Stammtischen und Politikern repräsentieren die schwächere Form eines Topos, welcher sich bis zur Gleichsetzung von Bernhard und Peymann mit Nazis steigern kann. Die „giftige“ Sprache des Theaters wird neben die „giftige“ Sprache der Geschichte gestellt. Der Vizekanzler Alois Mock leistet dieser Tendenz Vorschub, indem er Heldenplatz mit der Wiederbelebung nationalsozialistischer Tätigkeiten in Verbindung bringt : „Kein Freiraum, auch nicht der der Kunst, ist grenzenlos. Hawlicek müsste auch einschreiten, wenn ein Stück unter das Wiederbetätigungsverbot fällt“.43 Obwohl der Wortlaut seiner Äußerung zunächst eine Symmetrie zwischen der Beleidigung von Österreichern und nationalsozialistischer Wiederbetätigung aufstellt, wird diese Äußerung später variiert auf eine Weise, die das Stück als Wiederbetätigung konstruiert. Davon ist ein Brief an die Direktion des Burgtheaters nur das gröbste Beispiel : Hätten ihn [Hitler] die Menschen damals in eine Heilanstalt gebracht, wäre uns viel Leid erspart geblieben. Leider hat er aber mit seinem Wahnsinn Andere [sic] angesteckt. […] Man sollte mit Thomas Bernhard machen, was man mit Hitler versäumt hat […] Hitlers gesprochenes Wort und Bernhards geschriebenes Wort löst [sic] die gleichen Empfindungen aus […].44
Laut dem Brief trägt Bernhards Sprache dieselbe Ansteckungsgefahr in sich wie damals die Sprache Hitlers. Diese Radikalisierung von Mocks Aussage macht die Ängste sichtbar, die sich in Metaphern der Ansteckung artikulieren. Sie zeigt aber zugleich die Engführung des Theaters mit der Wirklichkeit, die Kontamination von der Gegenwart mit der Vergangenheit. 42 Ebd., S. 36. Siehe auch Norbert Tschuliks Beitrag zur Wiener Zeitung : „Indem der Autor seine ganz persönliche […] manische Österreichattacke, die nun förmlich in einen primitiven Biertischton verfällt, einem jüdischen Heimkehrer in den Mund legt, so könnte dies § weil Volk und Regierung verallgemeinernd als zutiefst mies apostrophiert § zu einer Anstachelung antisemitischer Gefühle beitragen, die wir ja doch nicht wollen“. Ebd., S. 72. 43 Ebd., S. 45. 44 Ebd., S. 124.
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Diese Ängste, da sie mit der Autonomie der österreichischen Identität zu tun haben, richten sich auch auf den (deutschen) Burgtheater-Direktor Claus Peymann, der seinerseits mit Nazis oder Hitler verglichen wird. Kurt Seinitz schreibt in der Kronenzeitung vom „Normalbürger im Ausland“, der nicht versteht, warum Österreich Peymanns „ruhrgermanisches Besatzungsregime an der Burg“ duldet.45 In einem Kurier-Artikel dehnt Jens Tschebull dieses Bild weiter aus. Auch wenn er keine medizinischen Begriffe verwendet, auch wenn der Ton scherzhaft ist, ist die Angst vor der Kontamination von Außen offenbar : Ich vertrete den Standpunkt, man könnte die vielschichtige Angelegenheit auch so sehen : Da marschiert ein nordischer Vetter aus Dingsda § ich glaube Bochum war der Name §, von lokalen Kollaborateuren gerufen und bejubelt, mit einer disziplinierten Leibgarde aus eindrucksvollen Schauspielern und raffinierten Regisseuren in Wien ein und besetzt alle wichtigen Posten mit seinen Leuten, wie die Preußen anno 1938.46
Weitere Beispiele beschreiben Peymanns kompromissloses öffentliches Auftreten oder Arbeitsweise als faschistisch.47 Diese Vergleiche sind mit Infektionsangst insofern verwandt, als sie die Quelle der infektiösen Bedrohung ins Ausland verlegen. Indem sie Peymann mit Hitler identifizieren (also einen Deutschen in die Rolle eines Österreichers setzen), rekapitulieren sie den Mythos von Österreich als das „erste Opfer“ Nazi-Deutschlands. 3. Der Ausgang des Skandals : von „Ansteckung“ zur „Impfung“ Die hier vorgelegte Analyse der Reaktion auf Heldenplatz hat gezeigt, wie die „mediale Ansteckung“, die aus der Veröffentlichung des gestohlenen HeldenplatzTexts hervorging, sich in konkreten Krankheitsmetaphern oder in der Angst vor der Verletzung einer organischen nationalen Ganzheit artikuliert hat. Erstaunlich ist nicht nur der Ausmaß an solchen Metaphern, die alle in ihrer je unterschiedlichen Spezifik auf ein körperliches Fundament verweisen, sondern auch die Art, auf die sich die textimmanente Ansteckungsthematik in Bernhards Œuvre in der 45 Ebd., S. 80. Siehe auch Millner : „Skandologie“, S. 253. 46 Burgtheater (Hg.) : Heldenplatz, S. 143. 47 Zum Beispiel, ein Leserbrief an Die Presse : „Wie bei einer Orchesterprobe wurde gleich zu Beginn der Ton angegeben. Peymanns : ‚… da werden sich die Wiener daran gewöhnen müssen‘ rief die fatale Erinnerung an die ‚österreichischen Schlappschwänze‘ aus dem Vokabular der braunen Machthaber aus Berlin wach, die 1938 Österreich beglückten“. § Ebd., S. 170.
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öffentlichen Wirkung seines Heldenplatz-Texts niederschlägt. Dieser Anschluss zwischen dem Werk Bernhards und seiner öffentlichen Wirkung klingt bereits im Artikel von Helénè Francoual an. Wie Nenning, bedient sie sich der biologistischen Metapher der Impfung, jedoch ohne den Verweis auf Heldenplatz. Bernhard biete sein Werk als „Heilmittel“ an, […] insofern als er § wie ein Impfstoff, der durch das Einbringen einer Mikrobe in den Körper eines Menschen Immunität gegen die Krankheit erzielt § die alten Dämonen der österreichischen Gesellschaft aufweckt und somit hofft, ihre Immunabwehr so zu fördern, daß sie selbst ihre eigenen Antikörper erzeugt, um sich gegen eine Reinfektion des Virus zu schützen.48
Dass viele Heldenplatz-Gegner (aus allen politischen Richtungen) in Bernhards theatralischem Insistieren auf dem Fortbestand des Faschismus in der österreichischen Gegenwart eine „Wiederkehr“ des Faschismus sahen, ist auf erhellende Weise mit der Metapher der Impfung vereinbar, bei der schließlich ein Negatives eingesetzt wird, um einem ähnlichen aber größeren Unheil vorzubeugen. Gerade indem sie unheimliche Anklänge an die Sprache Haiders oder Hitlers hervorrief, trieb Bernhards Sprache die österreichische Medienwelt in den ambivalenten Bereich der Ansteckung hinein. Bernhard schien diesen Prozess selber zu erkennen in einem berühmt gewordenen Zitat aus dem einzigen Interview, den er während des Heldenplatz-Skandals gegeben hat : Ja, mein Stück ist scheußlich. Aber das Stück, das jetzt drumherum aufgeführt wird, ist genauso scheußlich. Der Unterschied ist nur, dass das eine Kunst sein soll, und das andere ist Wirklichkeit. So nah liegen sie beisammen.49
Scheußlichkeit löst Scheußlichkeit aus, aus dem Theater ergibt sich Theater. Ein fragmentarischer Text des Künstlers, der vorgab, eine Arbeit über Brecht und Artaud geschrieben zu haben,50 löste eine medial-theatralische „Kontra-Infektion“51 im Sinne Artauds aus.
48 49 50 51
Francoual : „Imaginäre des Übels“, S. 249. Burgheater (Hg.) : Heldenplatz, S. 67. Siehe Fialik : Anarchist, S. 9. Fischer-Lichte : „Zuschauen als Ansteckung“, S. 43.
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Aber wenn Heldenplatz eine „Impfung“ sein sollte, war es nicht, wie Francouals Analyse implizieren würde, eine Impfung gegen die Wiederkehr des Faschismus in Österreich. Für diese „Krankheit“ müssten „Antikörper“ bereits vorhanden sein. Vielmehr hat sich die österreichische Presse mit Bernhards Schimpftiraden gegen eben diese Tiraden geimpft. 52 Die österreichische Medienwelt erwies sich nur vorübergehend als anfällig für Bernhards Provokationen § in diesem Sinne resultierte die „Ansteckung“ tatsächlich in einer „Immunisierung“. Vielleicht deshalb hat Bernhards politische Sprengkraft in Österreich mit den Jahren nachgelassen. Statt als Fremdkörper behandelt zu werden, wird er jetzt gefeiert. Dennoch sind die Verteidigungsmechanismen, die meine Analyse des Heldenplatz-Skandals ans Licht bringt, nicht ohne historische Beispiele. Bereits ein anderes berühmtes österreichisches Theaterstück, nämlich Schnitzlers Reigen, wurde gleichfalls als pathologisch beschimpft und mit Krankheitsmetaphern beschrieben.53 Auch in diesem Sinne hat Bernhard ferne Erinnerungen an die 30er-Jahre in Österreich erweckt § also das „Gift“ der Vergangenheit in die Gegenwart gespritzt. Literaturverzeichnis Atze, Marcel : Unser Hitler. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen 2003. Bentz, Oliver : Thomas Bernhard ± Dichtung als Skandal. Würzburg 2000. Bernhard, Thomas : Frost. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2003 (= Werke, Bd. 1). Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1988. Burgtheater Wien (Hg.) : Heldenplatz. Eine Dokumentation. Wien 1989. Cousineau, Thomas : Three Part Inventions. The Novels of Thomas Bernhard. Cranbury, New Jersey 2008. Fialik, Maria : Der konservative Anarchist. Thomas Bernhard und das Staats-Theater. Wien 1991. Fischer-Lichte, Erika : „Zuschauen als Ansteckung“, in : Schaub, Mirjam/Suthor, Nicola/ 52 Wie Mirjam Schaub und Nicola Suthor schreiben : „Es gibt nur eine bestimmte Phase, in der ein Erreger virulent ist“. § Schaub/Suthor : „Einleitung“, S. 10. 53 Siehe : Lazardzig, Jan/Nowalk, Silke : „Theatrum syphilidis. Irritation und Infektion bei Arthur Schnitzler“, in : Schaub, Mirjam/Suthor, Nicola/Fischer-Lichte, Erika (Hg.) : Ansteckung : zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München 2005, S. 73§100, hier S. 96§97.
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Fischer-Lichte, Erika (Hg.) : Ansteckung : zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München 2005, S. 35§50. Francoual, Hélène : „Das Imaginäre des Übels oder die Bernhardsche ‚Anthropologie‘ der Krankheit“, in : Huber, Martin (Hg.) : Thomas Bernhard Jahrbuch, 2003, S. 235§251. Guibert, Hervé : Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Übers. Von Hinrich Schmidt-Henkel. Reinbeck bei Hamburg 1991. Kohlhage, Monika : Das Phänomen der Krankheit im Werk von Thomas Bernhard. Herzogenrath 1987. Lazardzig, Jan/Nowalk, Silke : „Theatrum syphilidis. Irritation und Infektion bei Arthur Schnitzler“, in : Schaub, Mirjam/Suthor, Nicola/Fischer-Lichte, Erika (Hg.) : Ansteckung : zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München 2005, S. 73§100. Maier, Andreas : Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa. Göttingen 2004. Millner, Alexandra : „Theater um das Burgtheater. Eine kleine Skandalogie“, in : SchmidtDengler, Wendelin/Sonnleitner, Johann/Zeyringer, Klaus (Hg.) : Konflikte ± Skandale ± Dichterfehden in der österreichischen Literatur. Berlin 1995, S. 248§266. Rushkoff, Douglas : Media Virus ! Hidden Agendas in Popular Culture. New York 1994. Schaub, Mirjam/Suthor, Nicola : „Einleitung“, in Schaub, Mirjam/Suthor, Nicola/FischerLichte, Erika (Hg.) : Ansteckung : zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München 2005. Strowick, Elisabeth : Sprechende Körper ± Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik. Paderborn 2009.
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Der unsympathische Jude Rezeptionsästhetische Analyse des Tabubruchs in Thomas Bernhards Heldenplatz
Thomas Bernhards Literatur war in der Vergangenheit bekanntlich des Öfteren für kleinere und größere Skandale verantwortlich : So zum Beispiel beim Prozess um die Figur des Auersbergers im Roman Holzfällen, in der ein Wiener Komponist sich allzu offensichtlich porträtiert sah. Neben Vorfällen wie diesen diente als Anlass zur Aufregung jedoch vor allem die von den Figuren geäußerte Kritik an Österreich, seinen Bewohnern und seiner Regierung. Eines jener Werke ist Heldenplatz, das in dieser Hinsicht bereits vor der Uraufführung im Jahr 1988 für medialen und kulturpolitischen Trubel sorgte. Mit der Einführung einer post mortem beschriebenen unsympathischen jüdischen Hauptfigur stellt Bernhard den Rezipienten jedoch zusätzlich vor eine Herausforderung. Der durch Suizid aus dem Leben geschiedene Professor Schuster wird in den Dialogen der übrigen Figuren als Tyrann, Sexist und sadistischer Zwangscharakter kenntlich. Dies sind Züge, die man in der Literatur nach 1945 eher vom faschistoiden Typus erwarten würde als von einer Figur auf der Opferseite. Wie Jan Süselbeck bemerkt, nehmen in Bernhards Stück die Opfer die Sprache der Täter an.1 Dies löst beim Zuschauer Irritation aus. So konstatiert Márta Müller : „Überall herrscht in seinen Werken die gleiche Weltauffassung, die Behauptungen von den österreichischen Umständen sind austauschbar.“2 Im Folgenden werde ich versuchen, die Funktion dieser unsympathischen jüdischen Figur im Gesamtkontext des Stücks zu beleuchten. Dazu werden zunächst die Beziehungsstrukturen psychologisch analysiert, sodann wird aus rezeptionsästhetischer Perspektive die mögliche Wirkung des Inszenierten auf den Leser ergründet. 1 Süselbeck, Jan : Das Gelächter der Atheisten. Zeitkritik bei Arno Schmidt und Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 2006, S. 490. 2 Müller, Márta : „Österreich als Thema bei Thomas Bernhard § unter besonderer Berücksichtigung der Aufführung seines Stückes Heldenplatz im Jahre 1988“, in : Filológiai közlöny, 47/2001, S. 58§ 76, hier S. 58.
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Wie Alfred Pfabigan,3 Wolfgang Bender4 und Eike Muny5 gezeigt haben, entzündete sich die Diskussion um Heldenplatz vor allem an jenen Aussagen der Figuren, die das österreichische Publikum der Achtziger scheinbar unmittelbar auf sich beziehen musste. In Wien gebe es 1988 mehr Nazis als 1933, heißt es da.6 Eben diese Aussagen werden jüdischen Figuren in den Mund legt. Insofern könnte man zunächst schließen, die Sympathieverteilung sei somit geregelt : Von der Bühne klagen die Opfer der Judenverfolgung und des Holocaust die österreichische Bevölkerung in ihrer Täterschaft an. Das Publikum, meint man, soll sich tunlichst getroffen fühlen und die eigene moralische Position gegenüber dem Gesagten überprüfen. Doch bei genauerer Überlegung unterminiert Bernhard diese Lesart radikal. Eine Täter-Opfer-Schematisierung entsprechend der Opposition von Figuren auf der einen Seite und den Zuschauern auf der anderen hält einer genauen Lektüre nicht stand. Träfe eine an die österreichische Bevölkerung gerichtete Kritik nicht umso besser, je mehr jene Figuren, die Kritik äußern, als moralisch tadellose Menschen oder still leidende Opfer präsentiert würden ? Beinhaltet die Gestaltung des Stücks auf die oben beschriebene Weise vielleicht die Chance einer Relektüre, die über die bloße Wahrnehmung einer ans Publikum gerichteten Provokation hinausgeht ? Zunächst soll Bernhards Vorgehen mit zwei weiteren Varianten der Darstellung jüdischer Figuren in der Nachkriegsliteratur kontrastiert werden, um die Besonderheit des Stücks herauszustellen. Die erste Variante der Darstellung jüdischer Figuren ist die des schuldlosen Opfers, das unter antisemitischer Verfolgung zu leiden hat. Der Rezipient erhält damit die Möglichkeit, sich über emotionale Identifikation in diese Rolle hineinzuversetzen. Die Holocaust-Literatur bietet in ihrer Bemühung um realistische Darstellungen des Leidens zahlreiche Beispiele, erinnert sei an dieser Stelle an Bruno Apitz’ Roman Nackt unter Wölfen.7 3 Vgl. Pfabigan, Alfred : „Thomas Bernhard’s Heldenplatz. Artists and Societies beyond the Scandal“, in : Cherlin, Michael (Hg.) : The Great Tradition and its Legacy. New York 2003, S. 112§120, hier S. 112. 4 Vgl. Bender, Wolfgang F.: „Thomas Bernhard : Heldenplatz. Nachlese zur publizistischen Rezeption eines ‚Skandalstücks‘“, in : Godé, Maurice (Hg.) : La volonté de comprendre. Hommage à Roland Krebs. Bern 2005, S. 255§267, hier S. 256f. 5 Vgl. Muny, Eike : „Drama der Identität. Einschnitte in Thomas Bernhards ‚Die Jagdgesellschaft‘ und ‚Heldenplatz‘“, in : Kohns, Oliver (Hg.) : Einschnitte. Identität in der Moderne. Würzburg 2007, S. 169§184. 6 Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1995, S. 63. 7 Vgl. Apitz, Bruno : Nackt unter Wölfen. München 1995.
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Variante zwei, die meines Erachtens etwas später in Mode kommt, ist die provokative. Hier werden, wie beispielsweise in Maxim Billers Harlem Holocaust,8 jüdische Figuren eingeführt, die zum Zweck der Provokation, des Sichtbarmachens von Vorurteilen, ganz bewusst sämtlichen negativen jüdischen Klischees entsprechen. Billers jüdischer Professor Gary Warszawski ist zudem ein Nutznießer des schlechten deutschen Gewissens, das er für seine persönlichen Vorteile auszubeuten weiß. Der wohl intendierte Skandal bleibt hier allerdings aus, weil Billers Erzählung allzu offensichtlich auf Provokation ausgerichtet ist. Damit unterminiert sie in ihrer Durchschaubarkeit unfreiwillig den eigenen provokanten Impetus. Die Texte über jüdische Figuren kann man also zum großen Teil in diese zwei Gruppen § in zwei unterschiedliche literarische Modelle § einordnen. Das erste will den Rezipienten über Mitgefühl und Nacherleben zur Besinnung über den Gräuel der Massenvernichtung bringen. Das zweite Modell will schlechtestenfalls lediglich provozieren und bestenfalls unbewusst bestehende rassistische Klischees der bewussten Reflexion zugänglich machen. Bernhards Drama entspricht weder dem einen, noch dem anderen gängigen Modell. Seine literarische Strategie erschöpft sich weder im Verweis auf jüdische Opferfiguren, die vom Zuschauer bemitleidet werden, noch in der Inszenierung typisch jüdischer Negativbilder. Denn sowohl was den Gesamtkontext des Stücks betrifft als auch den werkübergreifenden Figurenvergleich, wird schnell deutlich, dass Bernhards Figuren dazu neigen, ob Jude, Nazi oder nichts davon, immer die gleiche höchst subjektive kritisch-grantelnde Position einzunehmen. Dennoch geht es in Heldenplatz natürlich um jüdische Bürger im Wien der achtziger Jahre. Welche Perspektive bietet das Stück im Bezug auf diese Thematik also seinen Rezipienten ? In der ersten Szene kommt es durch die nur durch wenige Einschübe Hertas unterbrochenen Monologe der Frau Zittel zur Fremdcharakterisierung Schusters. Der jüdische Professor erscheint als sadistischer, zwanghafter und kleinkarierter Arbeitgeber, der von Frau Zittel bedingungslose Unterwerfung auch unter scheinbar sinnlose Befehle verlangt. So zum Beispiel das akkurate Zusammenlegen von Hemden, wie Frau Zittel es beschreibt : wie die Hemden zusammenzulegen sind hat er mir erklärt er zeigte mir wie die Hemden einzuwickeln sind beim Zusammenlegen 8 Vgl. Biller, Maxim : Harlem Holocaust. Köln 1998.
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sie zeigt es Herta, die sich nach ihr umgedreht hat So siehst du legte er das Hemd zusammen dann riß er es in die Höhe und legte es wieder zusammen […] das konnte ich nicht meine Hände zitterten so9
Auf diese Frau Zittel einschüchternde Demonstration folgt sogleich die Aussage des Professors, er sei nicht verrückt, sondern nur genau.10 Für den Rezipienten allerdings entsteht schnell der Eindruck, der Professor, wie er von Frau Zittel beschrieben wird, müsse zwar nicht verrückt, aber ein sadistischer Zwangscharakter gewesen sein, der es genießt, auf willkürliche Weise Macht über finanziell Abhängige auszuüben. Dieser Eindruck bestätigt sich in Frau Zittels weiteren Aussagen, beispielsweise, wenn sie Herta die Konsequenzen veranschaulicht, die dieser gedroht hätten, wäre sie mit Schuster wie geplant verreist : Da hättest du nur seinen Wintermantel hinter ihm hergetragen und du hättest im Erzherzog Johann in einem finsteren Loch übernachten müssen mit einem Fenster in den Küchenschacht da kannte der nichts da wärst du dann fast erstickt er selber hat das beste Zimmer im ganzen Haus gehabt der Professor war ja ein Egoist durch und durch11
Und wie er seine Angestellten quälte § so wird es von Frau Zittel berichtet § quälte er auch seine Kinder und seine Frau.12 Nun wäre die zu erwartende Reaktion der räumliche und emotionale Rückzug von einem solchen Arbeitgeber, Vater und Ehemann. Doch wie in fast allen 9 10 11 12
Bernhard : Heldenplatz, S. 25f. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 18f. Vgl. ebd., S. 15 und S. 35.
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Dramen Bernhards findet eine solche Distanzierung nicht statt. Frau Zittel sucht sich keinen neuen Arbeitgeber, sie harrt aus bei dem Professor und schnüffelt sogar bedauernd an seinem Anzug, nachdem sie vom Tyrannen befreit ist.13 Bernhard inszeniert eine interpersonelle Abhängigkeit zwischen Frau Zittel und ihrem Arbeitgeber, die sich nicht allein aus Frau Zittels ökonomischer Situation erklären lässt und aus der sie sich sogar nach dem Tod des Professors nicht ohne weiteres lösen kann. Dieses eigentümliche Phänomen lässt sich am besten unter Zuhilfenahme eines psychoanalytischen Modells abhängiger interpersoneller Bindungen erläutern : dem sogenannten Kollusionkonzept von Jürg Willi. Der Begriff Kollusion ist definiert als unbewusstes Zusammenspiel zweier Individuen mit gleichem problematisch besetztem Grundthema. Dieses beiden gemeinsame Grundthema agieren die Parteien in der Beziehung miteinander aus § was der unbewusste Anlass ist, sich überhaupt zusammenzutun. Es sorgt dafür, dass beide Individuen zunächst zusammenpassen wie Schlüssel und Schloss. Die vier Kollusionstypen sind benannt nach Freuds Entwicklungsstufen des Kindes. Bei jeder Kollusion steht entweder das orale, um Versorgung kreisende, das narzisstische, sich um Bewunderung drehende, das anale, mit Macht befasste, oder das phallisch-ödipale, um Geschlechterrollen zirkulierende Thema für beide Partner im Vordergrund. In der anal-sadistischen Spielart finden zwei Individuen zusammen, die das gemeinsame Thema Macht im Sinne von „Herrschen und Beherrschtwerden“ miteinander inszenieren. Zu einer Kollusion kommt es laut Willi zwischen zwei Partnern, die dieses Thema in diametral entgegengesetzten Extremen ausagieren : Der eine will in jeder Situation herrschen, den Ton angeben ; der andere will sich möglichst in jeder Situation unterordnen. Der unmittelbare Vorteil liegt für beide zunächst in der Vermeidung einer differenzierten, bewussten Auseinandersetzung mit dem problematisch besetzten Macht-Thema, da scheinbar mühelos eine definitive Lösung gefunden wurde. So kommt es längerfristig aber statt zu einer gesunden Bindung zu einer pathologischen mit abhängigen Strukturen. Die Beziehung wird einzig um das Thema „Macht“ kreisen und daher keine Chancen für Entwicklungen beinhalten.14 Eine solche anal-sadistische Kollusion liegt zwischen Frau Zittel und Professor Schuster vor. Dies ist nicht nur plausibel aufgrund von Frau Zittels zunächst 13 Vgl. ebd., S. 11f. 14 Vgl. Willi, Jürg : Die Zweierbeziehung. Spannungsursachen, Störungsmuster, Klärungsprozesse, Lösungsmodelle. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 62 und S. 111§114.
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unlogisch wirkendem Verhalten dem Professor gegenüber. Ein weiterer Hinweis auf ihre masochistische Struktur erhält der Rezipient in den Berichten über die Interaktion mit ihrer Mutter : die Mutter duldete ja auch keinen Widerspruch heute ist das ja anders heute tut jede was sie will damals war das ganz anders außer Befehle hat es nichts gegeben und die Befehle sind ausgeführt worden15
Das Beziehungsmuster, das Frau Zittel mit dem Professor lebte, ist also auf dem Weg der Sozialisation entstanden. Es wurde eingeübt am Beispiel der Mutterbindung Frau Zittels. Diese Bindung hat sie primär als Unterwerfung unter den unerbittlichen Willen der Mutter wahrgenommen. Was sie bei Professor Schuster in zwischenmenschlicher Hinsicht findet, bringt ihr die gewohnte und deshalb im Grunde beruhigende Bindungsform an die Mutter zurück. Professor Schuster wiederum besitzt die psychische Komplementärstruktur : Er ist ebenso wie seine Angestellte mit dem Thema „Macht“ beschäftigt, lediglich in der entgegengesetzten Rolle : der des Unterwerfenden. So passen Angestellte und Arbeitgeber auf die oben beschriebene Schlüssel-Schloss-Weise zusammen und bilden eine anal-sadistische Kollusion. Dass die kollusiven Ausprägungen von Unterwerfendem und Unterworfenem prinzipiell umkehrbar sind, wird am Beispiel der Beziehung Frau Zittels und Hertas deutlich. So, wie der Professor Frau Zittel behandelte, geht Frau Zittel selbst mit Herta um, die in der Hierarchie unter ihr steht. Wie der Professor Frau Zittel minutiös das richtige Hemdenzusammenlegen beibrachte, bleut diese Herta nun ebenso pedantisch das Schuheputzen ein. Sie reproduziert dabei mit umgekehrter Rollenverteilung jene Strukturen, die sie selbst zuerst mit der Mutter, dann mit dem Professor lebte.16 Im Bezug auf den Rezipienten fragt sich, was sich aus einem derlei pathologische, abhängige Beziehungsmuster inszenierenden Stück schließen ließe. Meiner Ansicht nach gibt ein Drama wie Heldenplatz Aufschluss über zwei reale Zusammenhänge. Erstens, wie oben am Beispiel der Kollusionskette von Professor Schuster, Frau Zittel und Herta demonstriert, über psychologische Me15 Heldenplatz, S. 45f. 16 Vgl. ebd., S. 18, S. 34f. und S. 36.
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chanismen, in diesem Fall : über das Phänomen, das Jürg Willi als anal-sadistische Kollusion bezeichnet. Zweitens § und dies ist hier der entscheidende Punkt § bleibt Bernhard nicht beim Aufzeigen interpersoneller Mechanismen stehen, ist also nicht einfach Illustration psychologischer Theoreme. Vielmehr inszeniert Bernhard individuelle Beziehungsmuster dezidiert als Resultate überindividuellen historisch-politischen Geschehens. Von der psychologischen kommt Bernhard so zur gesellschaftsdiagnostischen Ebene. Dies wird bei Heldenplatz vor allem deutlich an der Figur des post mortem beschriebenen Professors Schuster. Als Jude war er gezwungen, Wien in den dreißiger Jahren zu verlassen. Die daraus resultierenden psychischen Schäden vermitteln sich dem Rezipienten über die von Frau Zittel kolportierten Aussagen des Professors § jene Aussagen, die das Stück bereits vor der Uraufführung zum Skandalereignis machten : Ich kann doch die Wohnung nicht aufgeben nur weil du dieses Geschrei vom Heldenplatz hörst hat er immer wieder gesagt das hieße ja daß mich dieser Hitler zum zweitenmal aus meiner Wohnung verjagt17
An dieser Stelle wird deutlich, dass das initiale Moment, welches die private Kollusionskette und abhängige Beziehungsstruktur auslöst, keineswegs privater Natur ist. Auslöser ist die historische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts : Die Judenverfolgung und -vernichtung des Nationalsozialismus. Jene politische Unterdrückung, die Vertreibung aus dem Heimatland, die Verfolgung durch die österreichischen Mitbürger, ist es, die beim Patriarchen die psychische Deformation auslöst, welche ihn für eine anal-sadistische Kollusion überhaupt erst prädestiniert. Die Erfahrung der politischen Unterdrückung gibt Professor Schuster § als politisch machtloser Mensch § im privaten Bereich an seine Frau, seine Töchter und seine Angestellten weiter. Diese durchleiden dann ähnliche Erfahrungen der Unterdrückung, um sie wiederum am nächstschwächeren Glied der Kette unter umgekehrten Vorzeichen § als Unterdrücker § auszuagieren. Heldenplatz kann auf diese Art also gelesen werden als Reflexion über politische Unterdrückung und ihre möglichen Auswirkungen auf die interpersonellen Bindungen der Opfer, die bei Bernhard im Gegenzug zu Tätern werden. Das 17 Ebd., S. 29.
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Stück demonstriert, wie politischer Machtmissbrauch interpersonelle Bindungen zu kollusiven, abhängigen Beziehungen umstrukturiert. Damit mag Bernhard durchaus eine gewagte implizite These aufstellen. Indem er aber seine jüdischen Figuren nicht als leidende Märtyrer gestaltet, entgeht er der Gefahr, dem Leser eine mitleidende Identifikation mit den Opfern zu ermöglichen. Zwei Jahre vor der Uraufführung von Heldenplatz weist Gerhard Zwerenz auf die Gefahren einer auf Identifikation und Mitleiden abzielenden Dramaturgie hin : Wir sind, auch als Aufgeklärte oder Atheisten, tief befangen im Gestrüpp der Vorzeitmythen. In der Kunst, im Roman, auf der Bühne und im Bild rührt uns das tragische Geschehen zu Tränen § denn wir haben von frühester Kindheit an gelernt, nicht nur fügsam zu sein, sondern auch fügsam zu leiden. Wer stellvertretend für andere leidet, ist unser Heiliger, mit welchen Mustern wir zu masochistischer Schmerzlust trainiert werden.18
Provokation geschieht aus dieser Perspektive in Heldenplatz nicht wie im oben genannten Beispiel Maxim Billers primär um der Provokation willen. Erstens sorgt sie hier für eine Durchkreuzung jener von Zwerenz bemängelten Einfühlungsästhetik, und somit geht, wie Ulrich Dronske schreibt, die „Intentionalität [der Bernhardschen Stücke ; M.R.] nicht in den von ihnen erzielten Publikumsreaktionen auf.“19 Zweitens konstatiert Bernhards Drama mit der Inszenierung beschädigter Figuren sowohl auf Täter- als auf Opferseite die generelle Fürchterlichkeit einer Welt nach 1945, von deren Beschädigung auf psychischer, sozialer und auch kommunikativer Ebene weder Täter noch Opfer ausgenommen sind. Literaturverzeichnis Apitz, Bruno : Nackt unter Wölfen. München 1995. Bender, Wolfgang F.: „Thomas Bernhard : Heldenplatz. Nachlese zur publizistischen Rezeption eines ‚Skandalstücks‘“, in : Godé, Maurice (Hg.) : La volonté de comprendre. Hommage à Roland Krebs. Bern 2005, S. 255§267. Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1995. 18 Zwerenz, Gerhard : Die Rückkehr des toten Juden nach Deutschland. München 1986, S. 47. 19 Dronske, Ulrich : „Helden platzen. Zwei Inszenierungsvorschläge zu Bernhards Heldenplatz“, in : Huber, Martin/Mittermayer, Manfred/Schmidt-Dengler, Wendelin/Vidulic, Svjetlan Lacko (Hg.) : Thomas-Bernhard-Jahrbuch 2004. Wien 2005, S. 155§162, hier S. 157.
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Biller, Maxim : Harlem Holocaust. Köln 1998. Dronske, Ulrich : „Helden platzen. Zwei Inszenierungsvorschläge zu Bernhards Heldenplatz“, in : Huber, Martin/Mittermayer, Manfred/Schmidt-Dengler, Wendelin/Vidulic, Svjetlan Lacko (Hg.) : Thomas-Bernhard-Jahrbuch 2004. Wien 2005, S. 155§162. Müller, Márta : „Österreich als Thema bei Thomas Bernhard § unter besonderer Berücksichtigung der Aufführung seines Stückes Heldenplatz im Jahre 1988“, in : Filológiai közlöny, 47/2001, S. 58§76. Muny, Eike : „Drama der Identität. Einschnitte in Thomas Bernhards ‚Die Jagdgesellschaft‘ und ‚Heldenplatz‘“, in : Kohns, Oliver (Hg.) : Einschnitte. Identität in der Moderne. Würzburg 2007, S. 169§184. Pfabigan, Alfred : „Thomas Bernhard’s Heldenplatz. Artists and Societies beyond the Scandal“, in : Cherlin, Michael (Hg.) : The Great Tradition and its Legacy. New York 2003, S. 112§120. Süselbeck, Jan : Das Gelächter der Atheisten. Zeitkritik bei Arno Schmidt und Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 2006. Willi, Jürg : Die Zweierbeziehung. Spannungsursachen, Störungsmuster, Klärungsprozesse, Lösungsmodelle. Reinbek bei Hamburg 2005. Zwerenz, Gerhard : Die Rückkehr des toten Juden nach Deutschland. München 1986.
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Thomas Bernhard und die Juden Heldenplatz als „Korrektur“ der Auslöschung
Die Affinität von Bernhards Protagonisten zu jüdischen Figuren, deren Leben in Österreich von der Erfahrung der nationalsozialistischen Judenverfolgung belastet ist, lässt sich als Pendant zum legendären Hass des Autors auf sein Land als Hort des Nationalsozialismus deuten. Sie verweist auf eine bisher wenig beachtete, unterschwellige Ursache für diesen Hass, die jedoch erst in Bernhards letztem Werk und literarischem Testament Heldenplatz explizit zum Ausdruck kommt. Von den Spätschäden der Shoah ist hier die Rede. Zwar ist die assimilierte, großbürgerliche, jüdische Wiener Familie Schuster nicht der Barbarei der Lager ausgesetzt worden, doch der österreichische Antisemitismus in der Zeit des Nationalsozialismus, das Exil und die aus begreiflichem Grund gesteigerte Empfindlichkeit der Schusters für judenfeindliche Ausschreitungen im Österreich Kurt Waldheims und Jörg Haiders haben die personalen Beziehungen in und außerhalb der Familie zerrüttet und die Eltern Josef und Hedwig Schuster in den Tod getrieben, dem sie dreißig Jahre zuvor entwichen waren. Den für einen nichtjüdischen deutschen oder österreichischen Autor mit Gefahren gepflasterten Weg der Darstellung der Folgen der Shoah und des Exils bei jüdischen Überlebenden hat Bernhard langsam und über Abwege beschritten. Nur eine, erstaunlich frühe, albtraumhafte Konzentrationslager-Vision ist im Werk des Autors zu finden : in dem um 1957§1959 entstandenen, kurz vor Bernhards Tod veröffentlichten Prosaband In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn. plötzlich das Bild, in dem alle erstickt sind, […] zu Tausenden, Zehntausenden, Millionen, nackt […], mit Striemen auf den Rücken, auf den Brüsten : das Gas hat ihre Köpfe aufgeblasen, ihnen die Gehörgänge verstopft : eine richtige Riesenschaufel schiebt die tote Masse dieser Menschen in einen riesigen Ofen hinein : die Hitze ist so groß, dass alles zu Staub zerfällt, […]1
1 Bernhard, Thomas : In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn. Frankfurt am Main 1997, S. 60§61.
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An die Realität der Lager hat sich der Autor erst wieder in der „Komödie von deutscher Seele“ Vor dem Ruhestand, auch hier mit der gebührenden Vorsicht herangewagt. Die grausame Maskerade, zu welcher der ehemalige Lagerkommandant und gegenwärtige, hoch angesehene Gerichtspräsident Rudolf Höller beim Geburtstag Himmlers seine Schwester Clara zwingt § sie muss eine gestreifte KZHäftlingsjacke anziehen und sich die Haare scheren lassen §,2 wird im Stück nur zitiert, nicht gezeigt. Bernhard maßt sich nicht an, die von einem nicht-jüdischen, dazu österreichischen Autor, der die Lager nicht erlebt hat, kaum nachvollziehbaren Leiden jüdischer Lagerinsassen unmittelbar auf der Bühne darzustellen. Ihm geht es darum, auf das Fortleben des nationalsozialistischen Antisemitismus hinzuweisen § allerdings noch nicht in Österreich, sondern in Deutschland : Der gute Deutsche verabscheut was hier in diesem Land vorgeht Verkommenheit Verlogenheit allgemeine Verdummung Das Jüdische hat sich überall festgesetzt Es ist schon wieder überall und in jedem Winkel3
Bereits in In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn stellte Bernhard die Verdrängung der Shoah in Zusammenhang mit dem Fortbestehen nationalsozialistischer Mentalität : Seinen neuen Chauffeur hat der Wirt des Gasthauses, in das sich der Ich-Erzähler zurückgezogen hat, genau deshalb eingestellt, weil er bei der SS war : „und gerade so ein Mann bekommt keinen Posten !, er hat mir leid getan, ich habe ihn aufgenommen, aus freien Stücken und zufällig ! […]“4 In Verstörung (1967) und in Der Italiener (1971) hat Thomas Bernhard unmittelbare Opfer des Nationalsozialismus, nichtjüdische und jüdische, in sein Werk einbezogen. Ihr Schicksal verfolgt in beiden Texten den Ich-Erzähler und begründet in der späteren Prosa dessen § vergebliche § Anstrengung, sich vom Trauma, dem Volk der Täter anzugehören, zu befreien und die geerbte Schuld wieder gut zumachen. Im Roman Verstörung begleitet der Ich-Erzähler seinen Vater auf dessen Krankenbesuchen zu einem „gewissen Bloch“,5 mit dem der Vater Freundschaft geknüpft hat und philosophische Gespräche führt. Bloch ist ein österreichischer Jude, dessen Vater von den Deutschen umgebracht wurde und der wohl deshalb seit Jahren an „entsetzlichen“ Kopfschmerzen6 und andauernder Schlaf2 3 4 5 6
Bernhard, Thomas : Vor dem Ruhestand, in : Ders.: Stücke 3. Frankfurt am Main 1988, S. 46. Ebd., S. 74. Bernhard : In der Höhe, S. 68. Bernhard, Thomas : Verstörung. Frankfurt am Main 1979, S. 22. Ebd., S. 24.
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losigkeit leidet. Wird in Verstörung nur am Rande auf die nationalsozialistischen Gräueltaten als Ursache für das Leiden des Juden Bloch angespielt, so bilden sie dagegen den Schluss und die Klimax, auf die der ganze Text des Drehbuchs bzw. der Fragment gebliebenen Erzählung Der Italiener hinausläuft. Durch das Gespräch des Sohnes mit dem italienischen Gast auf ihrem Weg zum Lusthaus von Schloss Wolfsegg, in dem der Vater aufgebahrt ist, erfährt der Leser, dass dieser sehr wahrscheinlich Selbstmord begangen hat, weil er die Erinnerung an die Ermordung von vierundzwanzig Polen durch deutsche Soldaten gerade im Lusthaus zwei Wochen vor Kriegsende nicht mehr ertragen konnte. „Wirklich gesehen hat die Erschossenen nur Vater“, aber das Schreien der Polen an dem Mordtag hat auch der Sohn vom Lusthaus heraus gehört und hört es seitdem „überall in der Welt“.7 Um das Massengrab, in dem die Ermordeten verscharrt wurden, hat sich bis heute keine Behörde gekümmert. Nur in der Erinnerung des Sohnes, der den Italiener jetzt zum Mitwisser gemacht hat, sind die Toten noch gegenwärtig. Wie er mit dieser Erinnerung umgehen wird, bleibt offen. Im viel späteren Roman Auslöschung, dessen Schauplatz ebenfalls Schloss Wolfsegg ist, bemüht sich Murau, der nun 20 Jahre älter gewordene Sohn, das Schweigen über die nazistischen Gräuel zu brechen, das mit dem Fortleben faschistischer Denkweisen bis in die neunzehnhundertundachtziger Jahre einhergeht. In Auslöschung geht es darum, die über vier Jahrzehnte verdrängte Mitschuld Österreichs an den nationalsozialistischen Verbrechen beim Namen zu nennen. Aber es geht auch um viel mehr. Murau verspricht sich, in der von ihm geplanten Abrechnung mit der Vergangenheit von den Qualen zu schreiben, die der mit ihm befreundete Bergmann Schermair in Strafanstalt, Gefängnis und einem niederländischem Konzentrationslager zu erleiden hatte,8 weil er den Schweizer Sender gehört hatte und von einem Nachbarn angezeigt wurde.9 Schermair wurde niemals dafür entschädigt und noch heute wagt er nicht darüber zu sprechen. Deshalb erachtet es Murau als seine Pflicht, in der Auslöschung auf Schermaier aufmerksam zu machen stellvertretend für so viele […], die das nationalsozialistische Denken auf dem Gewissen hat, das nationalsozialistische Verbrechertum, das heute noch totgeschwiegen wird, nachdem es so viele Jahrzehnte gründlich verdrängt worden ist. 10 7 8 9 10
Bernhard, Thomas : Der Italiener. Frankfurt am Main 1989, S. 74. Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 1986, S. 457. Ebd., S. 446. Ebd., S. 457§458.
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Von den Leiden der Opfer ist in der Schrift Auslöschung, die Murau kurz vor seinem Tod ein Jahr später fertig gestellt hat, jedoch nur auf den kurzen drei Seiten die Rede, die dem nicht jüdischen Schermair gewidmet sind. Den realen Schermair und seine Frau hat Bernhard dabei zu erstaunlich politisch bewusstlosen Gestalten „eines […] märchenhaften Österreichromans“ stilisiert, wenn man bedenkt, dass das Bergbaugebiet des oberösterreichischen Hausruckviertels ein Kerngebiet der österreichischen Arbeiterbewegung war, „in dem der Widerstand von 1934 bis 1945 die mutigste und entschiedenste politische Form angenommen hatte.“11 Nicht nur steht in Auslöschung kein Wort über die Shoah, auch vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist in Bernhards Roman nicht die Rede. Die Stilisierung des Nicht-Juden Schermaier zu einem „unschuldige[n] politische[n] Opfer des Naziterrors, eine[em] gute[n] Gärtner, der in die Kerker der bösen Jäger geraten ist […], das ist, so Höller, „Romantik nach Auschwitz“. 12 Anders als in Verstörung und in Der Italiener wird die Schuld in Auslöschung nicht mehr auf die Deutschen abgeschoben ; Österreich darf sich nicht länger „auf seinen Opferstatus berufen.“13 Dennoch getraut sich Bernhard noch nicht, das problematische österreichisch-jüdische Verhältnis zu thematisieren. In Auslöschung weicht er vielmehr dem Thema aus, indem er Murau Schloss Wolfsegg, das Emblem österreichischer Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen, an die von seinem Freund und Lehrmeister Eisenberg geleitete jüdische Kultusgemeinde in Wien verschenken lässt. Über das Schicksal des Rabbiners und seiner Familie während und nach der Shoah findet sich im Roman kein Wort. In Verstörung bewunderte der Vater des Erzählers in seinem jüdischen Freund Bloch einen trotz der Ermordung seines eigenen Vaters und der ihn weiterhin ausgrenzenden österreichischen Judenfeindlichkeit „nicht die Beherrschung Verlierenden“.14 Ihm geistig verwandt ist in Auslöschung der Rabbiner Eisenberg, „ein härterer Mensch mit einem noch viel klareren Kopf“ als die „große Dichterin“ Maria,15 ein jüdischer Geistesmensch mit offenbar eisernem Willen, der im Gegensatz zu Murau sich beherrschen und sein Schicksal wie das seiner 11 Höller, Hans : „Menschen, Geschichte(n), Orte und Landschaften“, in : Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiografie. Thomas Bernhards ‚Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 217§234, hier S. 226f. 12 Ebd. 13 Heidelberger-Leonard, Irene : „Auschwitz als Pflichtfach für Schriftsteller“, in : Höller, Hans/ Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiografie. Thomas Bernhards ‚Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 181§196, hier S. 184. 14 Bernhard : Verstörung, S. 26. 15 Bernhard : Auslöschung, S. 234.
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Gemeinde bei allen Anfeindungen § siehe die Traumsequenz in Südtirol16 § zu meistern weiß. Kein Wunder, dass Murau Wolfsegg zwei Tage nach dem Begräbnis gerade an Eisenberg verschenkt, möchte er doch gleichzeitig die Wiedergutmachung, die er, wie er schon weiß, Schermair nicht wird gewähren können, durch das nächstliegende Mittel durchführen und das verhasste Wolfsegg möglichst schnell und auf welchem Weg auch immer loswerden : ein aus jüdischer Perspektive „vergiftetes Geschenk“, wie Irene Heidelberger zu Recht meint.17 Denn damit werden nicht nur die Leiden der Juden wieder einmal „totgeschwiegen“, sondern die eigentliche Wiedergutmachung der nationalsozialistischen Verbrechen wird den Opfern selbst überantwortet : Der Erbe der Täter entledigt sich seiner Aufgabe und schiebt sie auf die Juden ab. Murau übergibt Wolfsegg gerade dem „harten“ Eisenberg im Bewusstsein, dass der Rabbiner das Geschenk so verwalten wird, wie er, Murau, es eben nicht tun könnte : zur konsequenten Zersetzung und „Auslöschung“ des Schweigens Österreichs über seine Kollaboration mit dem Nationalsozialismus und über die Leiden der „vernichtet weiterleb[enden]“18 Opfer. Keine stellvertretende Geste der Versöhnung also, wohl aber, über die exemplarische Gestalt Eisenberg, die Vision eines selbstbewussten, sich zur Wehr setzenden Judentums, das den Verbrechern und ihren Komplizen den Spiegel vorhält und an ihrer Stelle die Aufarbeitung der Nazivergangenheit leistet, zu der die Erben der Täter nicht den Mut haben § so jedenfalls Muraus entlastendes Wunschbild. In dieser Logik muss der Rabbiner auf die Rollenumkehrung eingehen und das Geschenk annehmen. Allerdings wird die Utopie einer jüdischen Wiedergutmachung dadurch ironisiert, dass Murau trotz der Abschenkung ein Jahr später stirbt. Jenes idealisierte Judenbild, das sich letztendlich als fragwürdige ‚philosemitische‘ Kehrseite des Antisemitismus herausstellt, hat Bernhard in Heldenplatz einer „Korrektur“ unterzogen. Dem nun verstorbenen Bergmann Schermair wird in Bernhards letztem Werk politischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus zuerkannt und erneut ein Andenken gesetzt. Nur aus Dankbarkeit Hertas Großeltern, eben Schermair und seiner Frau, gegenüber19 hat sich nämlich Frau Zittel für das aus ihrer Sicht untüchtige Dienstmädchen bei Joseph Schuster eingesetzt. Zittel war bereits als junges Mädchen in England Angestellte der Schusters, hat 16 Ebd., S. 224§226. 17 Heidelberger-Leonard : „Auschwitz als Pflichtfach“, S. 186. 18 Bachmann, Ingeborg : Drei Wege zum See, in : Dies.: Werke II. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München 1978, S. 394§486. 19 Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1989, S. 34.
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also ein der jüdischen Familie ähnliches Emigrantenschicksal erlebt, was auf den Widerstand ihrer eigenen Familie gegen das Naziregime schließen lässt. Darin mag auch ein Grund für das besondere Verhältnis Josef Schusters zu seiner österreichischen Haushälterin liegen. Indem aber Bernhard ansonsten Frau Zittel als ebenso wenig sympathisch wie ihren autoritär patriarchalischen Arbeitgeber und dessen kapitalistische Frau darstellt, gelingt es ihm der Gefahr vorzubeugen, den unsympathischen jüdischen Exilanten „gute“ Österreicher aus dem einfachen Volk entgegenzusetzen, die ein vergleichbares Los getroffen hat. Die Bagatellisierung der nationalsozialistischen Judenverfolgung und der andauernden Traumatisierung der Überlebenden, die solch hierarchisierender Vergleich mit enthält, hat Bernhard vermieden. Die Gestalt des Josef Schuster hat nun bereits vor der Auslöschung einen Vorläufer in der Figur Wertheimer aus dem 1983 erschienenen Roman Der Untergeher. Wie sein älteres Pendant aus Heldenplatz hat der 51-jährige Jude Wertheimer aus Verzweiflung über die ausweglose seelische Lage, in die nicht zuletzt die nationalsozialistische Katastrophe ihn und seine großbürgerliche Familie getrieben hat, Selbstmord begangen. Wertheimers lebenslange Depressivität äußert sich zwar nicht wie bei Josef und Robert Schuster durch bittere Hasstiraden gegen die „katholisch-nationalsozialistische“, sprich hier : antisemitische Gesinnung, die im Österreich Kurt Waldheims und Jörg Haiders herrsche. Doch sein Untergang lässt sich ohne jeden Zweifel auf seine von ihm selbst verdrängte jüdische Herkunft zurückführen : Darüber hat der Ich-Erzähler erst nach Wertheimers Selbstmord § immerhin an exponierter Stelle zum Schluss des Romans § durch den Holzknecht Franz Näheres erfahren. Der 1930 § so lässt sich die Chronologie rekonstruieren § geborene Wertheimer und seine Schwester, vor dem Anschluss „noch fröhlich[e] […], lustige Kinder“,20 haben die Nazizeit mit ihren Eltern im englischen Exil verbracht. Nach ihrer Rückkehr zuerst nach Wien und später, wohl aufgrund der sie dort umgebenden Judenfeindlichkeit, in ihr Jagdhaus in Traich, haben die Eltern „sich ganz auf sich selbst zurückgezogen“ und „keinen Kontakt mit der Umgebung mehr aufgenommen.“21 Die Schuld an der Katastrophe aber, die Wertheimers glücklicher Kindheit ein endgültiges Ende setzte und ihn in ein lebenslanges Unglück trieb, hat der Untergeher von Anfang an den nun verstorbenen Eltern und seiner Schwester zugeschoben,22 die er dafür zwanzig Jahre lang tyrannisierte. Die frühe Erfahrung der nationalsozialistischen Juden20 Bernhard, Thomas : Der Untergeher. Frankfurt am Main 1988, S. 231. 21 Ebd., S. 232. 22 Ebd., S. 63§64.
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verfolgung und des Exils ist also die „Ursache“ für die Verzweiflung, die von da an Wertheimers Existenz beherrschte, ohne dass er sie als solche artikulieren konnte, bis er sich schließlich nur noch durch Selbstmord zu retten wusste. Die Parallele nicht nur zu den Brüdern Schuster, sondern überhaupt zu Bernhards fiktiven Alter Egos ist auffallend. Dazu gehören die vergebliche Flucht in Musik und Philosophie, die ebenso nutzlose Projektion des eigenen Leides auf nächste Verwandte vor allem weiblichen Geschlechts und der Tod. Mit der Anwendung seiner Leitthemen auf jüdische Opfer des österreichischen Nationalsozialismus setzte sich der „Nestbeschmutzer“ Bernhard nun auch dem Verdacht aus, sich jüdisches Leid zur Vermittlung seiner eigenen Verzweiflung an Österreich und an der menschlichen Existenz angeeignet zu haben § eine Aneignung, die, so Irene Heidelberger, den realen Opfern „Hohn spricht“.23 Wohl gemerkt, Bernhard vermeidet es im Untergeher wie auch in Heldenplatz, die von NichtJuden, insbesondere von deutscher und österreichischer Seite undarstellbaren Leiden der Juden in den Konzentrationslagern anzusprechen. Dass im Untergeher der Ich-Erzähler, in dem man eine Projektion des Autors sehen darf, den verstorbenen jüdischen Freund für seine eigenen Zwecke instrumentalisiert, wird vom Erzähler selbst mit Schuldgefühlen erkannt.24 Schlechten Gewissens geht er nach Traich, um nach womöglich hinterlassenen Bruchstücken der von Wertheimer geplanten Autobiographie mit dem Titel Der Untergeher zu suchen, die ihm als Material für ein eigenes Buch über den Freund dienen sollten. Dabei geht es ihm weniger darum, dem Toten ein Andenken zu setzen als, nach dem bereits 1978 in Ja erprobten Erzählmuster, sich beim Schreiben über den Untergang eines noch unglücklicheren Menschen selbst wieder aufzurichten. Der Projektionsmechanismus führt also nicht zu selbstmitleidiger Aneignung und „unglückssüchtiger“25 Identifikation mit jüdischem Leid, sondern zur Abgrenzung von eben diesem Leid, in dem „bedrohliche Selbstaspekte“26 wiedererkannt werden. Anders gesagt : der Tod des Juden bedeutet die Rettung des Erzählers § ein klassisches, im Untergeher trotz der Bedenken des Erzählers von ihm reproduziertes Muster des Antisemitismus, dem Bernhard, wie gesehen, drei Jahre später in Auslöschung ein ebenso problematisches ‚philosemitisches‘ Modell entgegensetzen soll. Heldenplatz stellt einen weiteren Versuch dar, zwischen beiden Übeln einen Weg zu finden. In seinem letzten Werk vollbringt Bernhard eine echte Perfor23 24 25 26
Heidelberger-Leonard : „Auschwitz als Pflichtfach“, S. 190. Bernhard : Der Untergeher, S. 80. Ebd., S. 93. Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Stuttgart, Weimar 1995, S. 123.
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manz im Sinne Judith Butlers : eine verstörende Reartikulation27 des Bildes vom „bösen“ Juden, die dieses Bild gerade durch seine unübliche Reinszenierung in Zusammenhang mit den Spätschäden der nationalsozialistischen Judenverfolgung kritisch ausstellt. Die Schusters repräsentieren eine extreme Form der Assimilation jüdischer Intellektueller an das altösterreichische Großbürgertum § eine Perversion des Freiheits- und Toleranzideals der jüdischen Aufklärung, die bei den Familienmitgliedern in einer reaktionären Denkweise mündet und Josef Schuster, so Dirk Jürgens, gar zur „Imitatio Hitlers“28 verleitet hat ; eine Perversion, die sich aber auch als ein demaskierendes jüdisches Spiegelbild der Mentalität der österreichischen Intelligenzija lesen lässt, der die Schusters sich völlig assimiliert haben. Josef Schuster ist ein exemplarischer Vertreter des „jüdischen Selbsthasses“ à la Otto Weininger. Wenn er die Schuld an der Vernichtung seiner Existenz durch die nationalsozialistische Judenverfolgung, die Zwangsemigration und die ständige Angst vor Ausbrüchen des immer noch latent vorhandenen Antisemitismus auf seine Kinder und insbesondere auf seine Frau projiziert und ihr Leben ein zweites Mal zerstört hat, so wohl deshalb, weil er ursprünglich sich selbst, genauer die Opferrolle nicht akzeptieren konnte, in die der österreichische Antisemitismus ihn hineingezwungen hat. Am Anfang der mörderischen Kette, die Josef und Hedwig Schuster in den Tod getrieben hat, steht die Judenfeindlichkeit österreichischer Prägung, die der „Übertreibungskünstler“ Bernhard noch überspitzt, um sie umso besser zu entlarven. So unmenschlich die Überlebensstrategie Josef Schusters gewesen ist, ist sie indes im Hinblick auf Bernhards Gesamtwerk doch nicht spezifisch für den jüdischen Geistesmenschen, sondern die § auch hier scheiternde und in Frage gestellte § Reaktion eines unter seiner Herkunft leidenden Menschen. Die „Ressentiments“ § im Sinne Jean Amérys29 § des jüdischen Remigranten, die er an seiner Familie abreagiert, weil er aus gutem Grund der österreichischen Politik misstraut, sind in ihrem doppelten geschichtlichen Kontext § der Anschluss und seine Folgen, der Aufstieg der österreichischen extremen Rechten in den 1980er Jahren, in denen das Stück zeitlich angesiedelt ist § nachvollziehbar. Im Zusammenhang mit der nazistischen Judenverfolgung und den aktuellen antisemitischen Ausbrüchen (nicht nur) in Österreich gewinnt die Bernhard’sche Dia27 „Performance/Performativer Akt“, in : Kroll, Renate (Hg.) : Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Stuttgart, Weimar 2002, S. 304. 28 Jürgens, Dirk : Das Theater Thomas Bernhards. Frankfurt am Main et al. 1999, S. 154. 29 Améry, Jean : „Jenseits von Schuld und Sühne“, in : Heidleberger-Leonard, Irene : Jean Améry. Werke, Bd.2, hg. Von Gerhard Scheit, Stuttgart 2002, S. 118§148.
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lektik von realer Ohnmacht einerseits, kompensatorischer Macht in der Familie und pauschaler Verdammung Österreichs andererseits eine politisch zwar nicht „korrekte“, aber größere Prägnanz als ähnliche historisch-psychologische Konstellationen in Bernhards sonst katholisch-nationalsozialistischem und nur nebenbei antisemitischem Österreich. Indem Bernhard in der Gestalt Josef Schusters ein jüdisches Opfer, das nicht wie Robert Schuster vor der Realität des Antisemitismus resigniert hat, als reaktionären Familientyrannen darstellt, und zwar indirekt wie auch kritisch durch den Mund dritter Personen, hat er auch auf die Gefahr hin, als Antisemit abgestempelt zu werden, zwischen Skylla und Charybdis, zwischen der ‚philosemitischen‘ Verklärung eines selbstsicheren Judentums und der selbstgefälligen Identifikation mit den jüdischen Leiden einen schmalen Weg gefunden. Literaturverzeichnis Améry, Jean : „Jenseits von Schuld und Sühne“, in : Ders.: Werke Bd.2, hg. von Gerhard Scheit, Stuttgart 2002, S. 118§148. Bachmann, Ingeborg : Drei Wege zum See, in : Dies.: Werke II. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München 1978, S. 394§486. Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 1986. Bernhard, Thomas : Der Italiener. Frankfurt am Main 1989. Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1989. Bernhard, Thomas : In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn. Frankfurt am Main 1997. Bernhard, Thomas : Der Untergeher. Frankfurt am Main 1988. Bernhard, Thomas : Verstörung. Frankfurt am Main 1979. Bernhard, Thomas : Vor dem Ruhestand, in : Ders.: Stücke 3. Frankfurt am Main 1988. Heidelberger-Leonard, Irene : „Auschwitz als Pflichtfach für Schriftsteller“, in : Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiografie. Thomas Bernhards ‚Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 181§196. Höller, Hans : „Menschen, Geschichte(n), Orte und Landschaften“, in : Höller, Hans/ Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiografie. Thomas Bernhards ‚Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 217§234. Jürgens, Dirk : Das Theater Thomas Bernhards. Frankfurt am Main et al. 1999. Kroll, Renate (Hg.) : Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Stuttgart, Weimar 2002. Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Stuttgart, Weimar 1995.
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Die Nazihose des Herrn Bernhard Eigenes und Ererbtes in Thomas Bernhards Reflexionspoetik
„Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.“1 § Keine ‚eigenen‘ Worte stehen hier am Anfang, sondern ein Satz aus den Pensées von Blaise Pascal2, der Thomas Bernhards Roman Verstörung als Motto vorangestellt ist.3 Das hier aus subjektivem Blickwinkel formulierte Empfinden des Menschen im Raum bringt Pascal an anderer Stelle seiner Schriften generalisierter und in erweiterter Perspektive zum Ausdruck. Er beschreibt den Menschen als „[e]in Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts […]“4 und konstatiert : „Auf einer unermeßlichen Mitte treiben wir dahin, immer im Ungewissen […] und von einem Ende gegen das andere gestoßen.“5 Diese Verortung des Menschen weist mehrere bedeutsame und für die Werke Thomas Bernhards relevante Aspekte auf. Zum einen wird die menschliche Existenz räumlich-topographisch gefasst : Kennzeichnend für den Menschen und Bedingung seines Daseins ist seine Position im und sein Verhältnis zum umgebenden Raum. Zum anderen erscheint dieses Verhältnis als sprachlich gefasstes und damit problematisches : Der Raum als umgebende Welt wird als beängstigend und schaudern machend erlebt, weil er nicht zum Menschen ‚spricht‘. Drittens schließlich wird diese Position charakterisiert als ein Dazwischen : Im „Ungewissen“ treibend, erkennt der Mensch keinen stabilen und konsistenten Anhalts1 Pascal, Blaise : Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), übertr. u. hg. von Ewald Wasmuth, 5. vollst. neu bearb. u. textl. erw. Aufl. Heidelberg 1954, Fragment (206), S. 115. 2 Pascal ist bekanntlich einer der ‚geistigen Väter‘ Thomas Bernhards und wird in dessen Werken mehrfach genannt und zitiert. Bereits in seinem ersten Roman Frost hat der Maler Strauch „nichts als [s]einen Pascal“ § Bernhard, Thomas : Frost, hg. von Martin Huber und Wendelin SchmidtDengler. Frankfurt am Main 2003 (= Werke, Bd. 1), S. 22 § zu lesen bei sich. Zitate aus Pascals Pensées sind außer dem Roman Verstörung auch der frühen Erzählung Der Schweinehüter, den Dramen Der Berg und Am Ziel sowie Teil 3 der Autobiographie, Der Atem, vorangestellt. 3 Zur Bedeutung der Philosophie Pascals für Thomas Bernhards Werk vgl. etwa Klug, Christian : Thomas Bernhards Theaterstücke. Stuttgart 1991, S. 39§57. Klug stellt dabei besonders die verbindende Auffassung einer paradoxen menschlichen Existenz heraus. 4 Pascal : Pensées, Fragment 72, S. 43. 5 Ebd., S. 46.
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punkt ; der schweigende Raum verschließt sich einem verstehenden Zugang und jeder Sinnzuschreibung. Pascals Skepsis begründet sich in der Auffassung eines Allzusammenhangs : [D]ie Teile der Welt stehen alle derart in Zusammenhang, sind so miteinander verflochten, daß ich es für unmöglich halte, einen ohne den andern und ohne das Ganze zu verstehen. Der Mensch zum Beispiel steht in Beziehung zu allem, was er kennt. […] Da also alle Dinge verursacht und verursachend sind, bedingt und bedingend, mittelbar und unmittelbar, und da alle durch ein natürliches und unfaßbares Band verbunden sind, das das Entfernteste und Verschiedenste umschlingt, halte ich es weder für möglich[,] die Teile zu kennen, ohne daß man das Ganze kenne, noch für möglich, daß man das Ganze kenne, ohne im Einzelnen die Teile zu kennen.6
Die Erfahrung unendlicher Verflechtungen und Verweisungen im Raum zwischen dem „Nichts“ und dem „Unendlichen“, des „Spiel[s] der Differenzen, […] der Verräumlichung7, mittels derer sich die Elemente aufeinander beziehen“,8 machen auch die Protagonisten der Werke Thomas Bernhards. Der Erzähler in Verstörung etwa bezeichnet es als seine „unglückliche Art […], niemals nur einen, nämlich nur den Menschen zu sehen, den ich anschaue, sondern alle, mit welchen er möglicherweise zusammenhängt. […] Wie ich auch jede Sache in Zusammenhang mit allen möglichen anschaue, anschauen muß.“9 Als Condition humaine erweist sich also, wie in den Pensées angedeutet, die Existenz im Raum,10 der zwar § im Sinne Wittgensteins § in der Sprache abgebildet werden kann, der wahren Erkenntnis jedoch niemals absolut zugänglich ist.11 6 Ebd., S. 48. 7 Hier und in allen folgenden Zitaten gilt : Hervorhebungen im Original. 8 Derrida, Jacques : Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta, hg. von Peter Engelmann. Graz et al. 1986, S. 67f. § Hierbei handelt es sich bekanntlich um eine Definition Derridas des von ihm geprägten Begriffs der „différance“. 9 Bernhard, Thomas : Verstörung, hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2003 (= Werke, Bd. 2), S. 62. 10 Zum Raumaspekt im Werk Thomas Bernhards vgl. bisher Meister, Christoph : Ein Roman und sein Schauplatz. Die Logik des erzählten Raums bei Thomas Bernhard. Bern u.a. 1989 ; Betz, Uwe : Polyphone Räume und karnevalisiertes Erbe. Analysen des Werks Thomas Bernhards auf der Basis Bachtinscher Theoreme. Würzburg 1997 ; Vogt, Steffen : Ortsbegehungen. Topographische Erinnerungsverfahren und politisches Gedächtnis in Thomas Bernhards ,Der Italiener‘ und ,Auslöschung‘. Berlin 2002, und neuerdings Nienhaus, Birgit : Architekturen und andere Räume. Raumdarstellung in der Prosa Thomas Bernhards. Marburg 2010. 11 Vgl. „Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist.“ Wittgenstein, Ludwig : „Tracta-
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Bekanntermaßen sind Bernhards Figuren Gehende und Denkende, unruhige Suchende ;12 sie streben nach einem Ort (im weiteren Sinne) : nach einer perfekten Studie, nach einem vollendeten Kunstwerk, nach einem idealen Bau. Das „Schweigen“ des Raumes soll gebrochen, seine Rede soll verstanden und dem haltlosen Spiel der Differenzen soll eine Präsenz entgegengesetzt werden, doch stets wird der Mensch auf seine Identität als „Teil des Ganzen“ zurückverwiesen. In Pascals Worten : [W]ir brennen vor Gier[,] einen festen Grund zu finden und eine letzte beständige Basis, um darauf einen Turm zu bauen, der bis in das Unendliche ragt ; aber all unsere Fundamente zerbrechen, und die Erde öffnet sich bis zu den Abgründen.“13 Eine solche gewissermaßen babylonische Architektur ist beispielsweise Hochgobernitz, Sitz des Fürsten Saurau im Roman Verstörung, das, auf das biblische Babylon anspielend, als „Zentrum des reinen Vergnügens“14 beschrieben wird, in welchem sich „die allerberühmteste Virtuosität versammelt“15 habe und „[z]u gewissen Zeiten […] alle Sprachen der Welt gesprochen worden“16 seien. Die Hybris des Fürsten steht der babylonischen in nichts nach, wenn er feststellt : „Das hier ist ein eigener Staat. Hier herrschen, sage ich, eigene, die saurauschen Naturgesetze […].“17 Und an anderer Stelle : „[I]ch bin der Vater !“18 Der geographische und architektonische Raum, dem der Fürst ‚im Namen des Vaters‘ seine Herrschaftsordnung eigenmächtig oktroyiert und das bezeichnenderweise „unter einem Verfinsterungseinfluß […], andauernd unter den Burgschatten“19 liegt, spiegelt also auch ein geistiges Herrschaftsgebiet, einen logozentrischen Anspruch wider : „[I]ch schließe immer von mir, von meinem Gehirn aus, wie von einem geistigen Hochgobernitz aus sozusagen […].“20 Wenn
12 13 14 15 16 17 18 19 20
tus logico-philosophicus“, in : Ders.: Werkausgabe, Bd. 1. Frankfurt am Main 1984, S. 7§85, hier aus Satz 3.221, S. 19. Zur „Unruhe“ als anthropologischem Merkmal auch bei Pascal vgl. etwa Pascal : Pensées, Fragment 127, S. 74, oder ebd., Fragment 139, S. 77. Ebd., Fragment 72, S. 47. Bernhard : Verstörung, S. 190. Ebd. Ebd. Ebd., S. 97. Ebd., S. 123. Ebd., S. 76. Ebd., S. 124. § Im Namen „Hochgobernitz“ selbst klingt die Adverbgruppe „hoch oben“ an sowie der auf das lateinische „gubernare“ zurückgehenden Wortfamilie zugehörige Wörter wie „to gouvern“. Ein geistig wie topologisch hoch gelegener Standpunkt und ein damit verbundener Machtanspruch sind hier bereits impliziert.
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der Fürst vor seiner versammelten Familie „dozierend seziert“21 und dabei den Anspruch erhebt, dass er „alles aufkläre, die Natur aufkläre, und das Aufgeklärte erkläre, denn alles, was aufgeklärt ist, muß auch erklärt werden“22, verkörpert er, der Gesetzgeber von Hochgobernitz, auf groteske Weise einen ‚aufgeklärten Absolutismus‘. Der Herrschaftsanspruch erweist sich jedoch als ebenso brüchig und mit ebenso „schütteren Stellen“23 versehen § wie es in Bernhards Gehen heißt § wie dessen allegorische24 Spiegelung, die von Hybris zeugende Architektur, in deren Mauern der Fürst Saurau schon hört, „wie sich die Risse vergrößern, sich den vollkommenen Einsturz der Phantasie der Welt ankündigen“25. Das erfährt auch Konrad im Roman Das Kalkwerk, der zum Zwecke einer Studie über „Das Gehör“26 ein stillgelegtes Kalkwerk zu einem für ihn idealen Ort, einem „sogenannten freiwilligen Arbeitskerker“27 mit „festvergitterte[n] Fenster[n]“28 umgestaltet. So abgeschieden und isoliert wie dieses Bauwerk ist, so soll auch seine Studie als isoliertes, singuläres Werk alle bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten negieren und gewissermaßen ‚absoluten‘ und letztgültigen Status erhalten. Doch Kalkwerk und Studie als utopische Entwürfe scheitern. „[E]r gehe […] durch das ganze, ihm tatsächlich in solchen Zuständen und an solchen Tagen endlos erscheinende Kalkwerk und versuche, zum Ende des Kalkwerks zu kommen, komme aber zu keinem Ende, denn das Kalkwerk könne man durchgehen und durchlaufen und durchkriechen […] und es nehme kein Ende […].“29 Ganz analog wird der Horror beschrieben, den die ins Dystopische gewandelten Denk-Räume auslösen : „Wie leicht sei das früher gewesen, in einen Gedanken hineinzugehen, mein Gehirn fürchtete sich nicht, jetzt fürchtet sich das Gehirn vor jedem Gedanken und es gehe nur unter den größten Anherrschungen hinein und naturgemäß komme es gleich darin um, das sei ganz natürlich.“30 21 Ebd., S. 122. 22 Ebd., S. 123. 23 Bernhard, Thomas : „Gehen“, in : Ders.: Erzählungen II, hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2006 (= Werke, Bd. 12), S. 141§227, hier bes. S. 202f. 24 Zur Allegorie bei Thomas Bernhard vgl. etwa Damerau, Burghard : Selbstbehauptungen und Grenzen. Zu Thomas Bernhard. Würzburg 1996, S. 95§99 u.a. 25 Bernhard : Verstörung, S. 190. 26 Bernhard, Thomas : Das Kalkwerk, hg. von Renate Langer. Frankfurt am Main 2004 (= Werke, Bd. 3), S. 25. 27 Ebd., S. 29. 28 Ebd., S. 21. 29 Ebd., S. 84. 30 Ebd., S. 127.
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Die Analogie von äußerem und innerem Raum, von Bewegung und Denken, Körper und Geist sowie der Zusammenhang zwischen diesen räumlichen Figurationen und dem Machtanspruch, der auf letztgültige Erkenntnis abzielt, wird auch im Verhältnis Konrads zu seiner Frau deutlich. Unter Bezugnahme auf Foucault und seine Analysen des gesellschaftlich und historisch relevanten Konnexes von Raum, Körper, Wissen und Macht lässt sich Konrads Zugriff auf seine Frau beschreiben als der einer disziplinierenden „Macht, welche die Individuen sowohl als Objekte wie als Instrumente behandelt und einsetzt“31. Auch das ‚System‘ Konrad unterwirft, ähnlich wie das absolutistische und mit eigenen Gesetzen versehene System des Fürsten Saurau, den anderen Menschen für seine Ziele : [E]r, Konrad, habe seine Frau […] gerade weil sie krank und verkrüppelt, also […] die Hilfsbedürftigste gewesen war, […] geheiratet, eine Frau, […] die mich einerseits braucht, haben muß, ohne mich nicht existieren kann, oder wenigstens glaubt, ohne mich nicht existieren zu können, die mir andererseits aber bedingungslos für meine Zwecke, und das heißt, für meine Wissenschaft, zur Verfügung steht, die ich, wenn es sein muß, wenn es […] die wissenschaftlichen Umstände erfordern, mißbrauchen kann.32
Zum Zwecke von Wissens- und damit Machtgenerierung und -erhalt wird das Individuum in Abhängigkeit gehalten. Wie in jedem Machtsystem gehört dazu ein entsprechender Raum, der den Zugriff auf den Körper des Individuums gewährleistet und reguliert. Foucaults Beschreibung des Panopticons als Modell eines solchen Disziplinarraums lässt sich ohne Weiteres auch auf den „Kerker“ Konrads anwenden, in dem er seine Frau gegen deren Willen33 zu leben zwingt und mit ihr stundenlange, einer Folter ähnliche Experimente „bis zum Zusammenbruch“34 vornimmt : Das Panopticon, als Kaserne, Schule, Werkstatt, Klinik oder eben Gefängnis gedacht, „ist ein bevorzugter Ort für Experimente an den Menschen“35, „ein Laboratorium der Macht“36, „ein wissenschaftliches Gefängnis“37. 31 Foucault, Michel : Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1977, S. 220. § Die strukturellen Ähnlichkeiten in Bernhards Darstellung und Foucaults Analysen von Raum, Macht, Körper und Wissen können an dieser Stelle nur kursorisch und insofern sie für das Thema dieses Beitrags von Relevanz sind, erfasst werden. 32 Bernhard : Das Kalkwerk, S. 228. 33 Vgl. etwa ebd., S. 18f. 34 Ebd., S. 80. 35 Foucault : Überwachen und Strafen, S. 262. 36 Ebd., S. 263. 37 Ebd., S. 264.
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Die nicht näher diagnostizierte Lähmung der Frau erscheint so zum einen als Effekt, den Konrads Machtanspruch auf sie als körperliches Wesen hat. Ihr disziplinierter Leib ist auf das Hören und die Wiedergabe des Gehörten beschränkt.38 Doch ihre Bewegungsunfähigkeit reflektiert zugleich das Scheitern des analog gedachten Gehens und Denkens Konrads. Der Körper seiner Frau ist anatomischer Ausdruck und geradezu allegorische Spiegelfigur einer sich vergeblich als räumlich und geistig unabhängig deklarierenden Selbstermächtigung. Karikiert wird Konrads Bestreben auch, indem bei den grotesken Hörexperimenten an seiner Frau statt einer idealen und letztgültigen Studie ein sinnloser, ein fragmentierter Text entsteht, der selbst in seinen endlosen Wiederholungen und Variationen keinen absoluten, in der Studie zu verschriftlichenden Sinn enthüllt. Dem schweigenden Raum ist dieser trotz Konrads angeblicher und geradezu mystischer39 „Hellhörigkeit“40 nicht abzutrotzen. Obwohl Bernhards Protagonisten auf ihrem Machtanspruch beharren und hartnäckig verkünden : „Das ist die Wahrheit“,41 sind sie sich selbst der „schütteren Stellen“, der Brüchigkeit ihrer Wahrnehmungen und apodiktischen Urteile, deren Relativität und unausweichlichen Perspektivität bewusst : „Wahrscheinlich ist aber alles, was ich denke, ganz anders als ich es denke, dachte ich […]“,42 überlegt der Erzähler in Verstörung. Und Murau in Auslöschung gewahrt die Problematik des ‚Sich-ein-Bild-Machens‘, als er die Fotografien seiner Familie betrachtet. Die Fotos, die er einerseits als „heimtückische perverse Fälschung“43, andererseits 38 Foucault spricht in seinen Ausführungen über die Einflussnahme der Macht auf den menschlichen Körper auch La Mettries Homme-machine und die darauf referierenden Ideen eines Automatenmenschen an § Foucault : Überwachen und Strafen, S. 174f. Die Vorstellung eines gänzlich von automatisierter Vernunft (fremd-)gesteuerten Wesens findet sich bei E.T.A. Hoffmann und Kleist (Über das Marionettentheater) § Autoren, auf die wiederum in Thomas Bernhards Werk Bezug genommen wird. In Auslöschung etwa zieht sich das Motiv der Puppen und damit zusammenhängend das Motiv der Verstümmelung als roter Faden durch den ganzen Text. Ein ebenso zentrales und damit zusammenhängendes Motiv in Bernhards gesamtem Werk ist auch das der „Künstlichkeit“, vgl. weiter unten im Text. 39 Zur Mystik bei Bernhard vgl. etwa Gamper, Herbert : „Über dem ‚Wissenschaftsabgrund‘“, in : Huber, Martin/Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Wissenschaft als Finsternis ? Jahrbuch der Thomas-Bernhard-Privatstiftung in Kooperation mit dem Österreichischen Literaturarchiv. Wien et al. 2002, S. 51§63. 40 Bernhard : Das Kalkwerk, S. 70. 41 Z.B. mehrfach in Bernhard, Thomas : Alte Meister, hg. von Martin Huber und Wendelin SchmidtDengler. Frankfurt am Main 2008 (= Werke, Bd. 8), S. 37 u.a. 42 Bernhard : Verstörung, S. 62. 43 Bernhard, Thomas : Auslöschung, hg. von Hans Höller. Frankfurt am Main 2009 (= Werke, Bd. 9), S. 22.
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wiederum als „ungeheuer charakteristisch“44 einschätzt, zeigten trotz allem „hinter der Perversität und der Verzerrung doch die Wahrheit und die Wirklichkeit […], weil ich mich nicht um die Fotos kümmere und die darauf Dargestellten nicht, wie sie das Foto […] zeigt, sehe, sondern wie ich sie sehe“45. Durch die Fotos hindurch blickt Murau gewissermaßen in einen Spiegel zurück auf sich selbst, auf seine eigene Perspektive. In diesem Zusammenhang wird der bei Bernhard häufige Topos ‚Erben‘ relevant und die Relation ‚Eigenes und Ererbtes‘ in ihrer Wechselbeziehung : die § oben behandelten § Versuche der Protagonisten zur machtvollen Setzung einer, wenngleich eigenen, Wahrheit gegen das „Spiel der Differenzen“ auf der einen Seite, die räumlich-materielle wie geistige Erbschaft und Determination auf der anderen. Protagonisten wie Konrad haben eine „riesige weitverzweigte Erbschaft [zu] machen und diese Erbschaft den Rest [ihres] Lebens [zu] verwalten“ 46, wobei diese Erbschaft jeweils nicht nur „weitverzweigt“, sondern auch vielschichtig ist und materielle wie ideelle ‚Realitäten‘47, Wohngebäude wie Denkgebäude, umfasst. Die Analogie zwischen dem architektonischen und topographischen Raum zum einen und dem Raum des Logos, also dem des Denkens und der Sprache zum anderen greift auch hier. Dabei erweisen sich Denken und Sprache ebenso wenig als genuin Eigenes wie die Häuser und die Landschaften, in denen man lebt, beziehungsweise verschwimmen die Grenzen zwischen der eigenen und der übernommenen Sprache. Dieses Phänomen des Zitierens, also der sozusagen ‚ererbten Rede‘, bildet sich in der narratologischen Konstruktion der Werke Bernhards unmittelbar ab. Die diegetischen Ebenen des Textes werden zumeist durch über mehrere Stufen vermittelte Figurenrede gebildet. Nicht selten führt dies zu höchster Komplexität und Verschachtelungen, wenn beispielsweise Oehler dem Erzähler § welcher die Inhalte selbst wiederum weiter vermittelt § von einem Gespräch mit dem Arzt Scherrer berichtet : Jetzt bemerkte ich zum erstenmal ganz deutlich Anzeichen von Verrücktheit, sage ich zu Scherrer, worauf Scherrer sofort notiert Oehler (also ich !) sagt in diesem Augenblick : zum erstenmal ganz deutlich Anzeichen von Verrücktheit, wie ich sehe, sagt Oehler, weil ich alles 44 45 46 47
Ebd. Ebd., S. 25. Bernhard : Das Kalkwerk, S. 53. Vgl. dazu etwa Hoell, Joachim : Der ,literarische Realitätenvermittler‘. Die ,Liegenschaften‘ in Thomas Bernhards Roman ,Auslöschung‘. Berlin 1995.
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sehe, was Scherrer notiert, während ich rede, beobachte ich nicht nur wie Scherrer reagiert, ich beobachte auch, was und wie Scherrer notiert.48
Neben der Frage nach ‚Originalität und Fälschung‘ § möglicherweise sind diese Ausführungen Oehler durch den Erzähler nur in den Mund gelegt § zeichnen sich Stellen wie diese durch ein hohes Maß an Fragwürdigkeit aus : Die Aussage Oehlers, er sähe „alles“, was Scherrer notiert, ist schlichtweg eine § nicht sehr wahrscheinlich anmutende § Behauptung. In dieser ‚ererbten Rede‘ wird dieselbe zudem häufig selbst ad absurdum geführt, beispielsweise wenn Murau in Auslöschung seinen Eltern zum Vorwurf macht, sie hätten nur „nach den ihnen von ihren Vorgängern vorgeschriebenen Gesetzen“49 gelebt, das negative Bild seiner Familie jedoch selbst von seinem eigenen Vorbild oder „Vorgänger“, dem Onkel Georg, übernommen zu haben scheint.50 Wesentlich ist nun auch, dass die Darstellung und Beschreibung von Topographie, Architektur und räumlichen Konstellationen ihrerseits nicht durch einen gewissermaßen ‚objektiven‘ Erzähler vermittelt wird, sondern ebenso über Vermittlungsebenen beförderte Figurenrede ist. Authentische und originäre Rede erscheinen unmöglich, innerer wie äußerer Welt ist jene grundsätzliche Fragwürdigkeit inhärent ; wie die Hosen im Rustenschacherschen Laden weisen sie „schüttere Stellen“ auf. So formuliert der Fürst Saurau in Verstörung : „[W]ir sind eingeschlossen in eine fortwährend alles zitierende Welt, in ein fortwährendes Zitieren, das die Welt ist […].“51 Die Welt ist alles, was Zitat ist, was Sprache ist § so ließe sich Sauraus Aussage mit Wittgenstein paraphrasieren § und die Sprache ist Abbild oder Spiegel der Welt.52 Der bei Pascal im eingangs angeführten Zitat formulierte Allzusammenhang erscheint also als Spiegelung, die zum einen als unendlich, zum anderen und damit zusammenhängend als unhintergehbar, als § darauf verweist das Partizip 48 Bernhard : Gehen, S. 200f. 49 Bernhard : Auslöschung, S. 37. 50 Oder er legt diese Ansichten seinerseits Onkel Georg in den Mund § wobei wiederum die Fragwürdigkeit aller Positionen deutlich wird. Den Vorwurf an die Familienmitglieder, nur nach Vorgaben zu leben, erhebt nicht nur Murau, sondern auch bereits Onkel Georg, vgl. Bernhard : Auslöschung, S. 42 : „[D]ein Vater ist niemals ein selbständig denkender Mensch gewesen […].“ Beispiele dieser Art ließen sich zahlreich anführen. 51 Bernhard : Verstörung, S. 150. § Performativ und selbstreflexiv heißt es in Gehen : „Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert, ist auch ein Satz von Karrer […].“ Bernhard : Gehen, S. 157. 52 Vgl. „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit.“ Wittgenstein : Tractatus logico-philosophicus, Satz 4.01, S. 26.
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„eingeschlossen“ § Kerker, als Unfreiheit empfunden wird. Die Protagonisten wie Murau versuchen sich von dieser ‚Erblast‘ durch „Auslöschung“ zu befreien. Sie setzen der ‚Gefangenschaft‘ das Bemühen um eine selbstbestimmte Identität und Selbstschöpfung, aber auch um eine selbstgewählte Historizität, eine Geschichte des Geistes, entgegen. Die dem Menschen eigene Position in einem bei Pascal eingangs beschriebenen Dazwischen, in einem räumlichen und geistigen Zustand zwischen einer postulierten freien und einer determinierten, ‚eingeschriebenen‘ Identität, zeigt sich auch hier. Murau, der mit den Fotografien seiner Familie auch sein eigenes Erbe in den Blick nimmt, ist sich der Problematik eines Urteilens über die Familie und die Geschichte, der Problematik einer Befreiung daraus und einer unabhängigen Selbstwerdung durchaus bewusst. Dennoch ist er in Bezug auf seine geplante „gültige Schrift über Wolfsegg“53 der Überzeugung, man habe „einen großen Bericht abzugeben von dem, woraus wir schließlich entstanden und gemacht und von welchem wir die ganze Zeit unserer Existenz geprägt sind“54. Die herabwürdigende Darstellung Wolfseggs und seiner Familie reflektiert Murau an vielen Stellen durchaus selbstkritisch. So habe er eigentlich „keinerlei Ursache, fortwährend über Wolfsegg als über eine Katastrophe zu reden“55 ; er tue es aber „[m]öglicherweise […] doch aus einem Schuldgefühl heraus, aus dem einfachen Grund, unabhängig zu sein aus Wolfsegg, wie es ist, mit einer, wie ich zugeben muß, ziemlich ausgeprägten Rücksichtslosigkeit“56. Dabei trifft er letztlich (auch) sich selbst : „Tatsächlich bin ich dabei, Wolfsegg und die Meinigen auseinanderzunehmen und zu zersetzen, sie zu vernichten, auszulöschen und nehme mich dabei selbst auseinander, zersetze mich, vernichte mich, lösche mich aus.“57 Im Ergebnis wird mit der Schrift über die Auslöschung beziehungsweise mit deren Herausgabe Wolfsegg in der determinierten Perspektive der Reflexion Muraus in dessen Schreiben gerade erhalten. Die Werke der Bernhard’schen Protagonisten, die als Ausbruch aus Historizität und Diskursivität, aus dem Spiegelkabinett des Zitierens und ‚Erbens‘, als ‚absolute‘ und autarke Werke gedacht sind, werden durch ihre Vertextung in eben diesen Raum der permanenten Verweisung zurückgeführt § welchem man ergo nicht entkommen kann. 53 54 55 56 57
Bernhard : Auslöschung, S. 157. Ebd., S. 158. Ebd., S. 83. Ebd. Ebd., S. 232.
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Konsequenterweise bleibt die in den literarischen Texten Bernhards aufgewiesene Relationalität zwischen dem inneren Denk-Raum und dem äußeren topographischen Raum, die Spiegelung zwischen Schreib-Welt und Lebens-Welt, also die Struktur des ‚Erbens‘, über die engeren Textgrenzen der Fiktionalität hinaus bestehen. So beschreibt Bernhard etwa in dem Interview Drei Tage, wie er sich an „[d]ie Leute vor mir, meine Vorfahren“58, erinnert. Dies sei : der Zustand, wenn man im Theater sitzt, und der Vorhang geht auf, und man sofort die Leute, die man oben auf der Bühne sieht, einteilt in gute, schlechte § und nicht nur in gute und schlechte Charaktere oder Menschen und Personen, sondern in gute und schlechte Schauspieler. Und ich muß sagen, es ist durchaus ein Vergnügen, diese Vorstellung von Zeit zu Zeit immer wieder anzuschauen.59
Bernhard verarbeitet diese Thematik der theatralen Existenz wiederum in seinen Werken auf verschiedene Weise, auch § selbstreferentiell § in den Theaterstücken. So heißt es etwa in einem langen Monolog der Vera in Vor dem Ruhestand : „Wir haben unser Theaterstück einstudiert / seit drei Jahrzehnten sind die Rollen verteilt / jeder hat seinen Part / […] / Zu gewissen Zeiten sehe ich mich tatsächlich / auf einer Bühne […]“.60 Und schließlich wird der Topos des Theatrum mundi auch auf Politik, Staat und Gesellschaft bezogen. Bernhard schreibt in seinen in der Zeit abgedruckten Gedanken Zum österreichischen Nationalfeiertag 1977 : „Wenn der Vorhang des Staates aufgeht, sehen wir an jedem österreichischen Tag […] ein Lustspiel für Marionetten. […] Die Marionetten sind das schwachsinnig unbelehrbare Volk, und die daran ziehen (die Drahtzieher), die das Volk für dumm verkaufende Regierung.“61 Sowohl die eigene Genealogie als auch die politisch-gesellschaftliche Realität, das ‚Erbe‘ des privaten wie des sozialen Menschen, werden in Dimensionen der Fiktionalität, des künstlichen Spiels wahrgenommen ; umgekehrt finden sich aber auch Elemente, die Bernhard in solchen faktualen Texten als seiner ‚realen‘ 58 Bernhard, Thomas : „Drei Tage“, in : Ders.: Der Italiener. Salzburg 1971, S. 144§161, hier S. 148. 59 Ebd., S. 149. 60 Bernhard, Thomas : „Vor dem Ruhestand“, in : Ders.: Dramen 4, hg. von Bernhard Judex und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2007 (= Werke, Bd. 18), S. 7§133, hier S. 43f. 61 Bernhard, Thomas : „Zum österreichischen Nationalfeiertag 1977. Was Österreich nicht lesen soll. Die Kleinbürger auf der Heuchelleiter“, in : Ders.: Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons, hg. von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Frankfurt am Main 2011, S. 138§140, hier S. 139.
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Lebenswelt zugehörig markiert, in den fiktionalen Texten wieder. Das Spiegel„System Bernhard“62 umgreift somit dessen gesamte sprachlich vermittelte Existenz und lässt ihn selbst als ‚Kunst-Figur‘ erscheinen : ein Individuum, in das sich zum einen ‚Welt‘ einschreibt, das wie seine Protagonisten eine ‚determinierte‘ oder § um ein bei Bernhard häufiges Wort zu gebrauchen § ‚künstliche‘ Figur ist, und das zum anderen aus diesem ‚Erbe‘ heraus Kunst, Literatur, schafft. Roland Barthes charakterisiert den Text als „vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen“63 und an anderer Stelle als „Volumen sich verschiebender Spuren“64. Ebenso wird der Leser als Raum begriffen, „in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben“65. Am Werk Thomas Bernhards lässt sich ein solches poststrukturalistisches spatiales Verständnis von Text beziehungsweise textuelles Verständnis von Raum aufzeigen. Die Figuren und ihre Sprache sowie Bernhard selbst erweisen sich im „System Bernhard“ gewissermaßen als Räume hinter dem Spiegel : Sie sind „Erben“, sie sind ‚Lesende‘ ihrer Welt und reflektieren diese, und zwar aus einer spezifischen, je eigenen Perspektive. Doch sie selbst sind Elemente weiterer Spiegelungen ; der Text erscheint als endloser, sich selbst in allen Elementen reflektierender Raum. „Der Raum der Schrift kann durchwandert, aber nicht durchstoßen werden“,66 schreibt Roland Barthes, und man ist dabei erinnert an Pascals „unendliche Räume“ sowie an Konrads Beschreibung seiner Gänge durch das kein Ende nehmende Kalkwerk und seine Gedanken. Im Interview Drei Tage formuliert Thomas Bernhard : „Mein Haus ist auch eigentlich ein riesiger Kerker“,67 und weiter : „Die Bücher, oder was ich schreib’, sind wie das, worin ich hause. […] Tatsächlich gleichen Wand und Buchseite sich vollkommen.“68 Die Innenwelt der Außenwelt ist die Außenwelt der Innenwelt, so ließe sich dies auf eine Formel bringen, und die Kunstfigur Bernhard erscheint als Teil einer endlosen Spiegelung, einer Mise en abyme : Die Prägung durch das Äußere, das ‚Buch der Welt‘, wird im Schrei62 So formulierte Heiner Müller ; zitiert in Beil, Hermann : „Der Dichter der Weltkomödie Österreich“, in : Mittermayer, Manfred/Huber, Martin (Hg.) : ,Österreich selbst ist nichts als eine Bühne.‘ Thomas Bernhard und das Theater. Wien 2009, S. 87§90, hier S. 90. 63 Barthes, Roland : „Der Tod des Autors“, in : Jannidis, Fotis et al. (Hg.) : Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 192. 64 Barthes, Roland : Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main 1988, S. 11. 65 Barthes : „Der Tod des Autors“, S. 192. 66 Ebd., S. 191. 67 Bernhard : „Drei Tage“, S. 152. 68 Ebd., S. 153.
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ben fortgeführt und der Text wird umgekehrt zur Behausung, zur fiktionalisierten Lebenswelt. Bernhards Werke § um die Spiegelreihe fortzusetzen § reflektieren und thematisieren genau diese Wechselwirkung und Abfolge von Ererbtem und (postuliertem) Eigenem, Kontinuität und Identität. Wohl nicht zufällig beim bekennenden Novalis-Leser Bernhard ist man hier an die Idee der frühromantischen „Transzendentalpoesie“69 erinnert als eine sich selbst reflektierende „Poesie der Poesie“.70 Wenn Thomas Bernhard nun die Figuren seiner Werke über ihre engere Lebenswelt wie Wolfsegg urteilen lässt oder sich selbst über seine zeitweilige Heimatstadt Salzburg oder Österreich im Ganzen abfällig äußert, so ist dies in dem beschriebenen Zusammenhang zu betrachten. Der Denk- und Sprachraum sowie der topographische Raum als politischer, historischer, kultureller Raum, innerhalb dessen sich Bernhards Schreiben formiert und der sich darin selbst einschreibt, ist das Erbe, gegen welches Bernhard zugleich anschreibt und dem er wie seine Protagonisten ein Urteil als etwas Eigenes entgegensetzt. Wie seine Protagonisten geht auch Bernhard „rücksichtslos“ und mit teils drastischer Deutlichkeit vor, er ist diesen Urteilen jedoch selbst mit unterworfen, indem sie Teil seines „Systems“ sind. Dies zeigt sich geradezu überdeutlich im Dramolett Der deutsche Mittagstisch. Hier mahnt die Figur „Herr Bernhard“ zu einem Gedenken der (eigenen) Geschichtlichkeit : „Denkt an eure Mutter / und an deren Mutter / und an die Mutter der Mutter / eurer Mutter“.71 Zugleich erwehrt er sich eines wirklichen historischen Bewusstseins und protestiert dagegen, in jeder Suppe Nazis zu finden. Schließlich entlarvt er sich jedoch selbst als ein solcher § ‚man ist, was man isst‘ § durch die Hose, die er trägt. Frau Bernhard weist am Ende des Dramoletts die Schuld an der eingebrockten und wieder und wieder auszulöffelnden Nazisuppe von sich : „Schließlich habt ihr ja alle / den Nationalsozialismus mit / dem Löffel gegessen“.72 Sie konstatiert damit eine tradierte Geisteshaltung, welche die Gesellschaft über Generationen hinweg buchstäblich nährt, und zwar in doppeltem Sinne : als in der Gesellschaft aktiv vorhanden einerseits, als zu bewältigendes Erbe, als von anderen eingebrockte Suppe, die auszulöffeln sei, andererseits. Für 69 Schlegel, Friedrich : „Athenäums-Fragmente“ (1798), in : Ders.: Kritische Schriften und Fragmente (1798§1801), hg. von Ernst Behler und Hans Eichner, Band 2. Paderborn et al. 1988, S. 105§156, hier Fragment 238, S. 127. 70 Ebd. 71 Bernhard, Thomas : „Der deutsche Mittagstisch“, in : Ders.: Dramen 3, hg. von Martin Huber und Bernhard Judex. Frankfurt am Main 2010 (= Werke, Bd. 17), S. 330§333, hier S. 330. 72 Ebd., S. 333.
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diese Feststellung wird sie von ihrer Familie umgebracht ; Täter und Opfer tragen denselben Namen § Bernhard.73 Thomas Bernhards Österreich-Beschimpfungen würden missverstanden, interpretierte man sie als selbstgerechte Äußerungen eines Intellektuellen oder aber als pure Provokation. Zwar geben sie sich als von einem Pascal’schen Turm, von einem „geistigen Hochgobernitz“ herab gefällte Urteile, als geltendes Gesetz und mit dem Anspruch : „Das ist die Wahrheit“. Doch sie zeugen, im Gesamtsystem der beschriebenen Reflexionspoetik betrachtet, sehr wohl vom Bewusstsein des eigenen Betroffenseins und der möglicherweise ungerechten Perspektivität. „Objektivität gibt es nicht“,74 sagt Bernhard in einem Interview. So nimmt er gewissermaßen die Rolle des Narren ein. Das Motiv des Narren findet sich öfter in seinen Texten und auch seinen Urteilen über die Welt eignet mit den häufig grotesken Übertreibungen und Zuspitzungen ein ‚närrischer‘ Ton. So halten die Kunstfigur Bernhard und die Kunstfiguren Bernhards der närrischen Welt den Spiegel vor und strecken, bildlich gesprochen, § wie Murau in Auslöschung75 § sich und der Welt die Zunge heraus. Wenn Bernhard in dem bereits zitierten Artikel Zum österreichischen Nationalfeiertag 1977 über die österreichischen Regierungen der letzten Jahrzehnte schreibt, sie hätten „die Gemeinheit und die Brutalität schließlich zu der einzigen Kunst gemacht, die sie beherrschen und die sie bewundern und in die sie tatsächlich vernarrt sind“76, wenn nun Murau in Auslöschung sich in sehr ähnlichen Worten über Österreichs Regierende als „Auslöscher unseres Staates und also unseres Landes“77 auslässt, seinerseits jedoch zum „Auslöscher“ seines Erbes und der Lebensgrundlage seiner Schwestern wird, sich in reflektierter Selbsterkenntnis seiner Gemeinheit und Brutalität der Familie gegenüber bewusst ist und diese gewissermaßen zur Kunst, nämlich der Auslöschung als literarischem Text, macht § dann wird die Komplexität der Spiegelungen im „System Bernhard“ deutlich. Wirkmächtig kann Literatur sein, indem sie gesellschaftliche und politische Fragen nicht nur thematisch aufgreift, sondern auf grundsätzliche Bedingtheiten im Verhältnis von Individuum und Welt verweist. Indem die außerliterarische Realität literarisiert und in das Sprach-Spiegelkabinett eines transzendentalpoetischen Reflexionskontinuums einbezogen wird, führt Bernhard performativ die 73 Vgl. Krammer, Stefan : „redet nicht von Schweigen …“. Zu einer Semiotik des Schweigens im dramatischen Werk Thomas Bernhards. Würzburg 2003, S. 170. 74 Bernhard : Der Wahrheit auf der Spur, S. 218. 75 Vgl. Bernhard : Auslöschung. S. 337. 76 Bernhard : „Zum österreichischen Nationalfeiertag 1977“, S. 139. 77 Bernhard : Auslöschung, S. 92.
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Existenz in einer zitierten und fragwürdigen Welt als eine buchstäblich reflexive vor, als Element einer endlosen Spiegelung, zwischen dem Unendlichen und dem Nichts. Literaturverzeichnis Barthes, Roland : Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main 1988. Barthes, Roland : „Der Tod des Autors“, in : Jannidis, Fotis u.a. (Hg.) : Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185§193. Beil, Hermann : „Der Dichter der Weltkomödie Österreich“, in : Mittermayer, Manfred/ Huber, Martin (Hg.) : ,Österreich selbst ist nichts als eine Bühne.‘ Thomas Bernhard und das Theater. Wien 2009, S. 87§90. Bernhard, Thomas : „Drei Tage“, in : Ders.: Der Italiener. Salzburg 1971, S. 144§161. Bernhard, Thomas : Frost, hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2003 (= Werke, Bd. 1). Bernhard, Thomas : Verstörung, hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2003 (= Werke, Bd. 2). Bernhard, Thomas : Das Kalkwerk, hg. von Renate Langer. Frankfurt am Main 2004 (= Werke, Bd. 3). Bernhard, Thomas : Alte Meister, hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2008 (= Werke, Bd. 8). Bernhard, Thomas : Auslöschung, hg. von Hans Höller. Frankfurt am Main 2009 (= Werke, Bd. 9). Bernhard, Thomas : „Gehen“, in : Ders.: Erzählungen II, hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2006 (= Werke, Bd. 12), S. 141§227. Bernhard, Thomas : „Der deutsche Mittagstisch“, in : Ders.: Dramen 3, hg. von Martin Huber und Bernhard Judex. Frankfurt am Main 2010 (= Werke, Bd. 17), S. 330§333. Bernhard, Thomas : „Vor dem Ruhestand“, in : Ders.: Dramen 4, hg. von Bernhard Judex und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2007 (= Werke, Bd. 18), S. 7§133. Bernhard, Thomas : „Zum österreichischen Nationalfeiertag 1977. Was Österreich nicht lesen soll. Die Kleinbürger auf der Heuchelleiter“, in : Ders.: Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons, hg. von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Frankfurt am Main 2011, S. 138§140. Bernhard, Thomas : Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons, hg. von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Frankfurt am Main 2011. Betz, Uwe : Polyphone Räume und karnevalisiertes Erbe. Analysen des Werks Thomas Bernhards auf der Basis Bachtinscher Theoreme. Würzburg 1997. Damerau, Burghard : Selbstbehauptungen und Grenzen. Zu Thomas Bernhard. Würzburg 1996.
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Thomas Bernhards Auslöschung : der Umgang mit dem Herkunftskomplex
Bernhards umfassendster Roman Auslöschung, der im August 1986 publiziert wurde, war das letzte Prosa-Werk, das noch zu Bernhards Lebzeiten erschienen ist, ein Werk, das er seit der Konzipierung des Projektes 1971 immer als sein opus magnum verstand.1 Das Werk, das allen Aussagen nach hauptsächlich in den Jahren 1981§1982 geschrieben worden ist und das ganz bewusst vom Autor selbst als opus summum und als eine Art literarisches Testament konzipiert wurde, bildet im Genre Roman die Apotheose von Bernhards langjähriger Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Erbe Österreichs, vor allem mit der des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Zufällig oder vielleicht auch ganz bewusst entschied sich Bernhard während eines Treffens im April 1986, einen Monat nach Beginn der Waldheim Affäre, das Manuskript endgültig an seinen Verleger Siegfried Unseld zu übergeben.2 Zwangsläufig, auf Grund der Thematisierung der mangelhaften Vergangenheitsbewältigung Österreichs, ist Auslöschung als Bernhards „Beitrag zur Waldheim-Affäre“ gelesen worden,3 oder laut Ulrich Weinzierl als sein „einziges dezidiert politisches Buch“.4 Joachim Hoell nennt Auslöschung „das politisch ätzendste Prosastück des Moralisten Bernhard § eine bittere Kriegserklärung an alle Kurt Waldheims und Jörg Haiders in Österreich“.5 Wie immer polarisierte Bernhards Roman die Kritik. Während einige Kritiker in dem Werk einen „neuen“ Bernhard entdeckten, meinten an1 Höller, Hans : „Kommentar“, in : Bernhard, Thomas : Auslöschung. Frankfurt am Main 2009 (= Werke, Bd. 9), S. 511§573, hier S. 512. 2 Bernhard, Thomas/Unseld, Siegfried : Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt am Main 2009, S. 747§750. 3 Harald Hartung zit. nach Schlichtmann, Silke : Das Erzählprinzip ,Auslöschung‘ : zum Umgang mit der Geschichte in Thomas Bernhards Roman ,Auslöschung, ein Zerfall‘. Frankfurt am Main 1996, S. 49. 4 Ulrich Weinzierl : „Bernhard als Erzieher : Thomas Bernhards ,Auslöschung‘“, in : Lützeler, Paul Michael (Hg.) : Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Frankfurt am Main 1991, S. 192. 5 Joachim Hoell : Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbte Alptraum. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Berlin 2000, S. 37.
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dere, dass die Länge von Bernhards Roman dessen einzige Weiterentwicklung darstelle.6 Während Bernhards Prosa und sein dramatisches Werk in den 80er-Jahren zunehmend Wien als Mittelpunkt hatten, vollzog Auslöschung die Rückkehr des Schauplatzes in die österreichische Provinz, in das österreichische Herz- und Heimatland, das der zentrale Schauplatz seiner früheren Werke war. Obwohl Ungenach (1968) bereits eine Auseinandersetzung mit der zentralen Thematik persönlicher und kollektiver Geschichte durch den Topos des ererbten familiären Grundstücks, dessen Auflösung und Abschenkung, darstellt, radikalisierte das Wolfsegg-Thema diesen Topos eines melancholischen Lamentos über die Fehlentwicklungen der österreichischen Geschichte zu einer Untersuchung des nationalen ererbten Alptraums, die unwiderruflich in der Landschaft und Architektur eingeschrieben bleibt. Anhand eines psychoanalytisch konstruierten Begriffs der Psychotopographie wird in meinem Beitrag der zentralen Bedeutung psychotopographischer Figuration in Auslöschung und der Frage nachgegangen, was sie zur Interpretation des Textes beiträgt. Der Begriff der Psychotopographie konstituiert die psychische Veranlagung von Gesellschaften und Individuen als durch die Erfahrung von Ort und Raum konditioniert. Landschaften und Städtetopographien sind geprägt von Projektionen, sowohl auf der kollektiven als auch auf der persönlichen Ebene. Freud hat bekanntlich eine Theorie der psychischen Topographie in Das Unbehagen in der Kultur (1929) formuliert, in der er darüber spekuliert, ob die Topographie einer Stadt, konkret Rom, mit der Topographie der menschlichen Psyche verglichen werden kann, indem er eine Schichtung der Stadtlandschaft durch verschiedenen Epochen postuliert, in der frühere, mittlerweile verschüttete historische Gebäude neben modernen, bestehenden wahrgenommen werden könnten, und das Kolosseum etwa neben Neros Domus Aurea betrachtet werden kann, wobei nur ein Wechsel der Position oder Perspektive erforderlich wäre, um die verschiedenen Gebäuden zu erkennen. Diese Analogie verwirft Freud schließlich als „fantastisch“, aufgrund der Tendenz, dass vergangene Epochen einer Stadt im Prozess von Bau, Abriss und Umbau, der alle Städte charakterisiert, komplett verschwinden. Freud schließt mit der Feststellung, dass es unmöglich sei, historische Zeitepochen räumlich auf diese Weise nebeneinander zu stellen.7 6 Hans Höller, „Rekonstruktion des Romans im Spektrum der Zeitungsrezensionen“, in Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Anti-autobiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 53§70, hier S. 54. 7 Freud, Sigmund : Das Unbehagen in der Kultur, in : Ders.: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Re-
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In dem scheinbaren Scheitern dieser Analogie liegt aber ein brauchbareres psychotopographisches Modell. Dabei geht es nicht um eine Kartographie älterer und jüngerer Epochen im Sinne einer historischen Progression, sondern darum, die scheinbare architektonische Auslöschung und Demontage, die beständig in Städten wie auch in Landschaften stattfindet, als etwas Positives zu begreifen, im Sinne Freuds als Vorstellung der psychischen Struktur, als etwas, „in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist“.8 Der Gebrauch des Wortes untergehen kann hier auf zweifache Art verstanden werden : als Verschwinden und § vielleicht noch bedeutender § als Versinken. Das was einmal entstanden ist (auf einer psychischen, oder physischen Ebene), verschwindet nicht, sondern taucht stattdessen bloß unter (es wird Teil des Unbewussten einer Stadt, jener topographischen Struktur, mit der Freud die Psyche konzeptualisierte,) um später in Folge eines psychischen Auslösers wieder aufzutauchen. Das Werk Walter Benjamins liefert ein weitaus breiter entfaltetes topographisches Modell sowohl im Passagen-Werk als auch in den autobiographischen Projekten der Berliner Kindheit um neunzehnhundert und der Berliner Chronik, wie auch in seiner grundlegenden Studie Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928). Insbesondere im Passagen-Werk versucht Benjamin die Gegenstände und Spuren der Vergangenheit, die die moderne Gesellschaft zu tilgen droht, aufzudecken und aufrechtzuerhalten. Für Benjamin kann der Wahrheitsgehalt eines Objektes sich nur offenbaren, wenn der Kontext, in dem es ursprünglich existierte, verschwunden ist. Geschichte entsteht erst durch diese Errettung von Ruinen und Überbleibseln der Vergangenheit. In Ursprung des deutschen Trauerspiels konzipierte Benjamin Geschichte als topographisch in der Naturlandschaft eingeschrieben, numismatisch auf den Grund aufgedruckt.9 Die untrennbare Verbindung von Topographie und persönlicher Identität wurde oft betont.10 Häufig wird die Suche nach einer stabilen Identität von einer Suche nach einem Ursprungspunkt begleitet, der das Subjekt als Garant seiner eigenen Identität wahrnimmt. Dieser konstruierte Ursprungspunkt ist primär ligion. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt am Main 1974 (= Studienausgabe, Bd. 9), S. 202. 8 Ebd., S. 202. 9 Benjamin, Walter : Ursprung des deutschen Trauerspiels, in : Ders : Abhandlungen : Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik ; Goethes Wahlverwandschaften ; Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1974 (= Gesammelte Schriften, Bd. 1), S. 353. 10 Vgl. Carter, Erica/Donald, James/Squires, Judith : Space and Place : Theories of Identity and Location. London 1993, S. xii.
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topographisch in der Wahrnehmung des Subjekts verwurzelt. Der Versuch, zu diesem Ursprungspunkt zurückzugelangen, führt zu einer besonders problematischen Art der topographischen Erfahrung, ein Prozess, der häufig auch noch von Melancholie und Nostalgie gebrochen wird. Diese unsichere Suche nach einem Ursprungsboden ist, wie Benjamin überzeugend darstellt, eine, die a priori unzulänglich sein muss. In seiner Studie zum deutschen Trauerspiel (1928), konzipierte Benjamin den Ursprung als einen räumlich-zeitlichen, dynamischen Prozess und nicht als einen konkreten Punkt der Entstehung.11 Dieses Konzept des Ursprungs bietet sich an für eine Untersuchung von Phänomenen der Melancholie und Nostalgie in Bezug auf persönliche und kollektive Identität und dafür, diese Untersuchung mit einem topographischen Rahmen zu verknüpfen. Mein Essay wird zeigen, wie das Projekt der ‚Auslöschung‘ des Protagonisten kontinuierlich zwischen einem Verlangen nach Restauration (oder einer Rückkehr zu einem Ursprungspunkt) auf der einen Seite und einer Auslöschung eines topographischen Erbes auf der anderen Seite oszilliert. Ich werde außerdem der Frage nachgehen, wie anhand des bewusst topographischen Ansatzes des Romans, der Protagonist sich in einer Dialektik von topographischer Auslöschung und Aufhebung befindet, eine Aufhebung, die versucht, die wenigen positiven Reste eines untilgbaren historischen Erbes zu retten. Wolfsegg als Ursprungsort Am Anfang des Romans Auslöschung wird die essentielle Handlung mit radikaler Ökonomie dargestellt. Franz Josef Murau, österreichischer Privatlehrer der deutschen Literatur in Rom, erfährt über den Tod seiner Eltern und Brüder in einem Autounfall durch ein Telegramm, das er in seiner römischen Wohnung erhält. Der Erzähler wird mit der Tatsache konfrontiert, dass der Tod seiner Eltern und seines ältesten Bruder ihn zum Universalerben des Großgrundbesitzes Wolfsegg gemacht hat. In dem ersten Teil des Romans, der sich in buchstäblichem Sinne vollkommen in Muraus römischen Wohnung abspielt, versucht der Erzähler sich mit dem Tod seinen Eltern und seinen „Ursprungsort“12 abzufinden, in einem Bewusstseinsstrom, der zwischen Rom, Wolfsegg, einem Alpental in Südtirol und Wien oszilliert und vor allem durch die Linse von realen oder 11 Benjamin : Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 226. 12 Bernhard : Auslöschung, S. 14.
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imaginierten Gesprächen mit Muraus römischen Schüler und Freund, Gambetti, erzählt ist. Das Wolfsegger Grundstück wird in Muraus Ansichtsweise als ein „Herkunftskomplex“13 figuriert, der sowohl eine persönliche Neurose in Hinblick auf seine Familiengeschichte als auch ein Chronotopos des Hauses Österreichs darstellt, sowohl eine architektonische Schichtung von Epochen als auch eine laterale Kondensation von verschiedenen Aspekten der österreichischen Identität. Die Kindervilla in Wolfsegg steht für Österreichs theatralische und barocke Traditionen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die Orangerie mit ihrer Pflege von exotischen Pflanzen wird mit aristokratischen Kosmopolitismus assoziiert, das Jägerhaus und die Meierei repräsentieren ländliche Kultur, während das Gärtnerhaus Gedankengut aus dem neunzehnten Jahrhundert über die regenerierenden Effekte des österreichischen Landleben (eine Andeutung womöglich auf Stifters Rosengarten in Der Nachsommer) symbolisiert. Muraus Einstellung Wolfsegg gegenüber könnte in einer ähnlichen Weise kartographiert werden. Er ist bezaubert von dem Kosmopolitismus und Theatralität, die in der Kindervilla und Orangerie konkretisiert sind, wie auch von der Erhaltung der österreichischen Landschaft durch die Gärtner, während seine Einstellung anderen Gebäuden des Grundbesitzes gegenüber, wie dem Jägerhaus oder dem „wolfseggeigenen“ Schlachthaus14 und dessen symbolischer Bedeutung, weniger positiv ist. Die Figurierung des Grundbesitzes als Ganzes, mit der hochliegenden Position der „Festung“15 über dem Dorf Wolfsegg, findet sein Vorbild in der Figurierung von diesen Oppositionen von oben und unten, innen und außen in Kafkas Das Schloß. Das Ort Wolfsegg ist, wie das Dorf in Kafkas Roman, ebenso „Besitz des Schlosses“,16 und der Blick des Erzählers „vom Ort aus“17 illustriert die topographische Unterwerfung des Dorfs unten von dem Schloss oben. Muraus Beschreibung des Schlosses fängt immer „von unten“ an, mit seinem Blick immer „in die Höhe“18 gerichtet, was die Position sowohl von K. in Kafkas Roman wiederspiegelt, der überwältigt und eingeschüchtert von dem Schloss ist, das er zu erreichen versucht, als auch Muraus eigene Unterwerfung zu und Distanz von dem Gebäudekomplex, der seine Heimat konstituiert. Muraus Position in Wolfsegg stellt ihn mit den Bergarbeitern, Handwerkern und Landarbeitern im 13 14 15 16 17 18
Ebd., S. 158. Ebd., S. 464. Ebd., S. 128. Franz Kafka : Das Schloß. Frankfurt am Main 2008, S. 9. Bernhard : Auslöschung, S. 128. Ebd.
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Dorf gleich, die auf die „Festung“ oben für ihr Überleben angewiesen sind, aber in sehr seltenen Fällen Zugang zu ihr erhalten. Ganz ähnlich zu den Fällen des Machtmissbrauchs, die in Kafkas Das Schloß dokumentiert werden, illustriert der Fall Schermaier in Auslöschung, die Wechselfälle des Feudalismus der in Wolfsegg perpetuiert wird. Der Bergmann und Freund des Protagonisten, der in Kropfing direkt „unterhalb Wolfsegg“19 wohnt, wurde während des Krieges von seinem besten Schulfreund für das Hören des Schweizer Radiosenders denunziert und darauffolgend in einer Strafanstalt in Holland für zwei Jahre geschickt, dessen Nachwirkungen er für sein ganzes Leben austragen muss.20 Schermaiers Schicksal wird explizit mit dem eines Gauleiters kontrastiert, der zum Begräbnis der Muraus eingeladen wird, ein Mann, der gerade für die Strafanstalten und Konzentrationslager verantwortlich ist, in denen Menschen wie Schermaier interniert worden sind. So wird ein direkter Zusammenhang hergestellt zwischen Opfer und die Täter, die die Murau-Familie begünstigt. Wie Muraus Betrachtungen über Wolfsegg zeigen, ist die Topographie des Grundstücks eine, die unwiderruflich dem weitergehenden Erbe der Ideologie eingeschrieben ist, die das Leben von Schermaier und Millionen Anderer ruiniert hat. Es sind diese negativen Aspekte der Wolfsegger Topographie, die Murau gerne verschwinden lassen würde. Es ist dies eine dialektische Herangehensweise, die zwischen dem Bewahren bestimmter topographischer Merkmale und der Auslöschung anderer oszilliert. Topographie und Tropographie verschmelzen in Muraus Wahrnehmung von dem Jägerhaus als unheimlich : „allein bei dem Wort Jägerhaus ist mir die nationalsozialistische Zeit gegenwärtig“.21 Es ist eine Auffassung, die auch von Muraus Verdacht verstärkt wird, dass seine Eltern ihre nationalsozialistischen Gesinnungsgenossen nicht nur in der Kindervilla versteckt hatten, sondern auch in den verschiedenen Jägerhäusern, die über ihr Land verstreut sind. Die Unanfechtbarkeit der Jagd in der österreichischen ländlichen Kultur und die architektonische Gestaltung der Jägerhäuser (die nahtlos in die Topographie einblenden), ermöglicht in Auslöschung die Tarnung der NaziTäter in der österreichischen Landschaft. Ähnlich wie etwa bei Jelinek wird bei Bernhard die Jagd untrennbar mit dem Faschismus in Zusammenhang gebracht. Weiterhin unterstreicht der Exkurs des Protagonisten über das „wolfseggeige-
19 Ebd., S. 349. 20 Ebd., S. 350. 21 Ebd., S. 154.
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nen Schlachthaus“22 § das schwerfällige neologistische Adjektiv lädt geradezu zu einer Fehlablesung als ‚wolfseigenen‘ § die Mechanismen der Brutalität und Gewalt, die in Wolfsegg herrschen, in denen die Grundstückserben schon als Kinder eingewiesen werden. Murau erinnert sich, wie er als Kind dem Schlachter bei seiner Arbeit zusah, eine Erfahrung, die seine traumatische Wiederkehr in Muraus Träumen findet, die „immer von Tieren bevölkert waren, die mich überfallen und aufgefressen haben“.23 Auf dieser Art wird Gewalt in die Wolfsegger Topographie eingeschrieben, und bildet Teil des architektonischen Rahmens des Grundstücks. Vor allem ist es die Wolfsegger Kindervilla, in der Muraus ganze Ambivalenz in Hinblick auf seiner Heimat zum Ausdruck kommt. Die Kindervilla, zusammen mit den Wolfsegger Bibliotheken, die zur gleichen Zeit erbaut worden sind, bleibt für Murau eine topographische Kennzeichnung einer Erbschaft, die von unwürdigen Erben verschleudert worden ist, eine melancholische Ruine (die Fenster der Kindervilla sind eingebrochen) und Überbleibsel einer verschütteten Geschichte. Als solches symbolisiert die Kindervilla Muraus melancholische Bindung zu einem Ideal Wolfseggs, ein Aspekt der Wolfsegger Topographie, den Murau gerne erhalten sehen möchte, im Gegensatz zum Jägerhaus, zum Beispiel. Der Verfall der Villa, jedoch, kann zu einer Zeit zurückgeführt werden, als Muraus Eltern die Kinder nach ihren ersten Kinderjahren aus der Kindervilla verbannt haben, vorgeblich unter dem Vorwand, dass sie sie von theatralischen Beschäftigungen fernhalten möchten. In der Tat folgt der Vertreibung der Kinder aus der Kindervilla der Einzug erst der Hitlerjugend und dann zweier Gauleiter. Somit wird die Villa dem Nationalsozialismus quasi ausgeliefert. Die Instrumentalisierung der Kindervilla von einer brutalen Ideologie auf dieser Art stellt für Murau das „allertraurigste Kapitel“ der Wolfsegger Geschichte dar.24 Die tragische Geschichte von Wolfsegg wird für Murau in dem Gebäude konkretisiert, das zu einem psychotopographischen Emblem für seine Kindheit wird. Die Kindervilla darf als eine melancholische Ruine betrachtet werden, wo die Geschichte physisch in den Schauplatz hinein gewandert ist, nach dem Modell der Naturgeschichte in Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels.25 Weiterhin ist Muraus geplante Restauration der Kindervilla von einem Verlangen geprägt, zurück zu einem Punkt der persönlichen und kollektiven Identität zu gelangen, 22 23 24 25
Ebd., S. 464. Ebd. Ebd., S. 146. Benjamin : Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 353.
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wobei hier die Unmöglichkeit einer Rückkehr zu einem Ursprungspunkt veranschaulicht wird, die in Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels zum Ausdruck kommt. Muraus Wunsch, die Kindervilla „von Grund auf […] wie sie vor ihrer Erniedrigung gewesen ist“26 wiederherzurichten, entpuppt sich als ein Verlangen für eine unmögliche Rückkehr zum persönlichen und kollektiven Punkt des topographischen Ursprungs oder der Grundlage. Unauslöschlich befleckt von seiner Besetzung von Nazi- Gauleitern, nimmt Murau die Kindervilla als unheimlich wahr : „aber bis heute ist mir, obwohl ich sie immer geliebt habe, die Kindervilla wegen ihrer Beschmutzer immer unheimlich geblieben“.27 Jedoch, der Grund, warum die Kindervilla ein solches Gefühl des Unheimlichen provoziert, kann nicht nur den Nazi-Beschmutzern zugeschrieben werden, sondern auch der Tatsache, dass das Gebäude auch die unheimliche Urszene von Muraus Zeugung bildet, wo er „für den äußersten Notfall erzeugt“ wurde „an einem Sommerabend in der Kindervilla. Widerwillig wie meine Mutter oft gesagt hat“.28 Muraus Oszillieren in seinen Gefühlen der Kindervilla gegenüber ist symptomatisch für die klassische freudsche Definition des Unheimlichen als die Wiederkehr verdrängter Kindheitserlebnisse, vor allem, was der Körper der Mutter betrifft.29 Mit seiner Zeugung in ehelicher Gewalt, ist Murau zeitlebens ein unerwünschtes und ungeliebtes Kind geblieben, ein „Ersatzerbe“ nach Ansicht seiner Mutter.30 Sein Anliegen, die Kindervilla wiederherzustellen und seine Kindheit „von Grund auf“ zu renovieren,31 ist im Grunde ein Verlangen seine Kindheit, gar seine Zeugung, wieder gut zu machen. Muraus projizierte Rückkehr zu einem Ursprungspunkt der eigenen Identität durch die Wiederherstellung der Kindervilla ist deshalb unmöglich, da die eigentliche Schändung der Kindervilla schon diejenige vordatiert, die von den Nazis vollzogen worden ist. Es kann keine Unterbringung in der Kindervilla und deshalb in Wolfsegg geben, wie Murau erkennt. Es gibt kein Ursprungspunkt, zu dem man rückkehren könnte, da die Kindervilla bereits den Schauplatz von Brutalität und Nötigung gebildet hat noch vor ihrer Besetzung von den Gaulei26 27 28 29
Bernhard : Auslöschung, S. 361. Ebd., S. 436. Ebd., S. 227. Freud, Sigmund : Das Unheimliche in : Ders : Psychologische Schriften. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt am Main 1970 (= Studienausgabe, Bd. 4), S. 271. 30 Bernhard : Auslöschung, S. 227. 31 Ebd., S. 467.
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tern. Diese Schändung der Kindervilla ist eng mit Murau verknüpft, der selbst ‚verstümmelt‘ worden ist („ein verstümmelter Mensch“32), nicht so sehr durch die Nötigung von Wolfsegg von draußen (von den Nazis), sondern von drinnen, durch die kontinuierliche Brutalität und Gewalt, dass der Erzähler als alles durchdringenden in Wolfsegg wahrnimmt. Das geplante Restaurationsprojekt der Kindervilla ist ein Versuch, zu einem Gefühl von Heimlichkeit zu gelangen, auf irgendeiner Art in dem Herkunftskomplex oder in der oberösterreichischen Landschaft unterzukommen, ja sogar ins ersehnte Haus Österreich zurückzukehren. Die Vertreibung aus dem Heimlichen und Familären, und die darauffolgende symbolische Degradierung desselben heißt, dass die architektonischen und topographischen Räume, die ehemals als heimlich (oder sogar als Ursprungspunkte) wahrgenommen worden sind, nur mehr noch als unheimlich wahrgenommen werden können. Es ist Muraus Enttäuschung über das verfehlte Wiederherstellungsprojekt der Kindervilla und die Erkenntnis der Unmöglichkeit einer Rückkehr zu einem Punkt der persönlichen oder kollektiven Identität, die dieses Projekt noch anstrebte, das ihn zu folgender Schlussfolgerung bringt : jegliche Unterbringung in dem Familiengrundstück als neuer Erbe ist unmöglich. Der Wolfsegg Komplex kann nicht durch eine Art dialektischer Auflösung durchgearbeitet werden, die die problematischen Aspekte der Topographie zu tilgen und jegliche positive Aspekte zu erhalten sucht, ein Impasse, das schließlich Murau dazu leitet, das Grundstück abzuschenken, vor allem auf Grund seines eigenen erfolglosen Versuches, auf ihm unterzukommen. Eine Orts-Wegschreibung ‚Auslöschung‘ bildet sowohl den Titel des geplanten kreativen Textes Muraus als auch den seiner Plänen für die Annihilation des Wolfsegger Erbes. Zusammen mit dem Untertitel des Romans (Ein Zerfall) bildet das Wort Auslöschung einen programmatischen Rahmen für das Erzählen, das sich im Rückwärtsgang bewegt, um Wesenheiten oder Ideen in ihrer Bestandteile aufzuspalten, um jegliche ursprünglichen Ideen, die noch rettenswert und erhaltenswert sein mögen, zu erretten, und die restlichen Elemente zu annullieren. Es ist ein Modus, der anscheinend dem dekompositionellen Ansatz von Adornos Negativer Dialektik folgen würde. Für Adorno sollte die Dialektik rückwärts gearbeitet werden, um 32 Ebd., S. 265.
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zu beweisen, was die Wahrheit nicht ist, auch wenn keine Alternative angeboten wird. Jedoch, während Muraus Projektkonzeption dieses Modell anscheinend begünstigen würde, würde sein Verlangen nach einer Errettung des Wolfsegger Erbes durch die Kindervilla darauf hinweisen, dass es ihm an rationaler Herangehensweise fehlt, die sezierende und dekompositionelle Logik, die er so bewundert, auch in die Praxis umzusetzen. Auf den ersten Blick scheint Muraus Projekt der Auslöschung vor allem durch Verdrängung motiviert, von dem Verlangen, einen problematischen Aspekt seiner Identität zu tilgen oder auszulöschen. Muraus programmatisches Projekt der ‚Auslöschung‘ deutet auf eine Form von topographischer Vernichtung hin, ein Aus-Schreiben von einem Ort. Muraus Projekt der Auslöschung wird ausdrücklich mit Abänderungen wiederholt, was dazu beiträgt, auf der Erzählebene die Impulse von topographischer Erhaltung und Löschung aufzuheben : Erhaltung durch das kompulsive Niederschreiben und kathartische Aufarbeitung des „Herkunftskomplexes“ (A, 158), der Murau Zeit seines Erwachsenlebens beschäftigt hat ; Tilgung durch die völlige Vernichtung der Wolfseggthematik, die sein Projekt anstrebt. Muraus Geschenk Auslöschung endet mit der radikalsten Abschenkung in Bernhards ganzen Prosawerk ; die Verschenkung des Wolfsegger Grundstücks an die Israelitische Kultusgemeinde Wien. Auch wenn die Entscheidung das Grundstück an die Israelitische Kultusgemeinde zu vererben, nicht als beliebig angesehen werden kann (wie es vor allem die Thematisierung der Gauleiter zeigt), gibt es keine anhaltende Thematisierung des Holocausts und dessen Folgen in Auslöschung, um die Geste des Schadenersatzes an die Opfer des Nationalsozialismus zu bekräftigen. Vor allem markiert der Tat das Impasse von Muraus Auseinandersetzung mit dem Wolfsegger Erbe. Dies wird durch die Formulierung des Geschenkes an den Rabbiner Eisenberg als „ganz Wolfsegg, wie es liegt und steht, und alles Dazugehörende“ (A, 508) deutlich. Der ausdrückliche Schwerpunkt ist weniger auf das Geschenk von „ganz Wolfsegg“ als auf „alles Dazugehörende“, die symbolische Grundstückslast von Wolfsegg, nämlich seine „fürchterlichen Geschichtsabgründe“ (A, 46), die Murau nicht fähig ist zu ertragen. Das ist der Grund dafür, dass Murau nach seiner unversehrten Rückkehr nach Rom nach der Beerdigung sich bei Eisenberg für die Annahme des Geschenkes bedankt (für die Tatsache, dass er ihm Wolfsegg aus den Händen nimmt).
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Muraus Abschenkung Wolfseggs und die Entscheidung, nichts mehr mit dem Grundstück zu tun zu haben, postuliert eine radikale Zäsur in der Geschichte des Grundbesitzes. Jedoch wird der Grundbesitz nicht dem Erdboden gleichgemacht und bleibt architektonisch aufrechterhalten. Die Abschenkung bewirkt jedoch eine Einebnung der Topographie. Es hebt die Opposition von oben und unten, Dorf und Schloss, das Städtische und das Ländliche auf. Mit der Abschenkung des Grundbesitzes an einer kulturellen Organisation verfällt dessen feudalistische Bedeutung. Weiterhin : das Geschenk von Wolfsegg an die Israelitische Kultusgemeinde Wien dient zur Etablierung einer Verbindung zwischen Metropole und Land, die die geschichtliche Opposition zwischen Städtischem und Ländlichem in der österreichischen Kultur aufhebt. In seinem Hergeben eines Teils der österreichischen Landschaft an die Israelitische Kultusgemeinde Wien symbolisiert Muraus Abschenkung eine Kenntnisnahme der geschichtlichen Ausgrenzung österreichischer Juden auf Seiten der österreichischen ländlichen Kultur und deren Opposition zur Wiener ‚jüdischen‘ Moderne.33 Während die Abschenkung deshalb als eine dialektische Lösung von Wolfseggs sehr problematischem geschichtlichen Erbe gesehen werden kann, ist es klar, dass das gesamte Geschenk von Wolfsegg und der österreichischen Geschichte an die Opfer des Nationalsozialismus im besten Falle eine sehr problematische Lösung darstellt, eine, die seine „fürchterlichen Geschichtsabgründe“ (A, 46) aufhebt. Das Geschenk kann weniger als eine dialektische Lösung als eine Hegelsche Aufhebung verstanden werden, die sowohl Muraus widersprüchliche Einstellungen dem Grundbesitz gegenüber als auch die widersprüchliche Geschichte von Wolfsegg selbst aufrechterhält. Auslöschung veranschaulicht, dass die topographische Bedeutung eines Orts nicht getilgt werden kann. Noch weniger kann ein Ort umgestaltet werden um das Unterkommen des Subjekts in ihm zu ermöglichen, da das kollektive und persönliche Gedächtnis, das in dessen Architektur und Topographie eingeschrieben wird, sich häufig als erdrückend erweist. Auslöschung betont, wie dieses Unterkommen nicht vorgehen kann. Es kann nicht durch irgendeine Art von Richtung zu einem Ursprungspunkt gelangen, noch durch einen Versuch, die inhärente Widersprüche in der Topographie aufzulösen. Ein Unterkommen in einer Topographie, die mit den Spuren eines traumatischen geschichtlichen Erbes eingeschrieben ist, kann eventuell durch ein topographisches Verfahren gelingen, 33 Vgl. dazu Steven Bellers Erörterung über den Gegensatz zwischen Wiener Modernismus und österreischische Heimatkultur in der Zwischenkriegszeit, in : Ders.: A concise history of Austria. Cambridge 2006, S. 214§219.
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das rückwärtsgerichtet nach den versäumten Gelegenheiten und Fehlentwicklungen der Geschichte zurückblickt und diese in der Gegenwart zurückzuerobern sucht, durch die Neuzuschreibung und Neuzuordnung von Topographie (wie es mit der Abschenkung von Wolfsegg der Fall ist). Am Ende bleibt Wolfseggs Geschichte bestehen sowohl durch architektonische wie auch physische Markierungen, um vom Standpunkt künftiger Generationen hinsichtlich seiner topographischen Bedeutung neu interpretiert zu werden. Literatur Adorno, Theodor : Negative Dialektik : Jargon der Eigentlichkeit. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997 (= Gesammelte Schriften, Bd. 6). Benjamin, Walter : Ursprung des deutschen Trauerspiels, in : Ders : Abhandlungen : Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik ; Goethes Wahlverwandschaften ; Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1974 (= Gesammelte Schriften, Bd. 1). Bernhard, Thomas : Auslöschung. Hg. von Hans Höller. Frankfurt am Main 2009 (= Werke, Bd. 9). Bernhard, Thomas/Siegfried Unseld : Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt am Main 2009. Beller, Steven : A concise history of Austria. Cambridge 2006. Carter, Erica/Donald, James/Squires, Judith : Space and Place : Theories of Identity and Location. London 1993. Freud, Sigmund : Das Unheimliche in : Ders : Psychologische Schriften. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt am Main 1970 (= Studienausgabe, Bd. 4). Freud, Sigmund : Das Unbehagen in der Kultur, in : Ders.: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt am Main 1974 (= Studienausgabe, Bd. 9). Hoell, Joachim : Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbte Alptraum. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Berlin 2000. Höller, Hans : „Rekonstruktion des Romans im Spektrum der Zeitungsrezensionen“, in : Anti-autobiografie : Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Hg. von Hans Höller und Irene Heidelberger-Leonard. Frankfurt am Main 1995, S. 53§70. Kafka, Franz : Das Schloß. Frankfurt am Main 2008. Schlichtmann, Silke : Das Erzählprinzip ,Auslöschung‘. Zum Umgang mit Geschichte in Thomas Bernhards Roman ,Auslöschung, ein Zerfall‘. Frankfurt am Main 1996. Weinzierl, Ulrich : „Bernhard als Erzieher : Thomas Bernhards ,Auslöschung’“, in : Lützeler, Paul Michael (Hg.) : Spätmoderne und Postmoderne : Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Frankfurt am Main 1991, S. 186§196.
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Topographie des Schweigens in Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall
Auf dem Weg zur Beerdigung seiner Eltern und seines Bruders, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, beginnt Franz Josef Murau, der Protagonist und Icherzähler in Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall, das Familiengut Wolfsegg und seine Familie zu beschreiben. Muraus Bericht zielt darauf ab, „das in ihm Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe“.1 Diese Intention ist selbst für einen von Bernhards Erzählern extrem, die sich generell einer radikalen bis brutalen Rhetorik bedienen, um ihr Umfeld zu beurteilen bzw. zu verurteilen. In Muraus Darstellung soll Sprache nicht allein darstellen, provozieren, angreifen, sondern zerstören. Etwas dadurch zu zerstören, dass es aufgeschrieben wird, das mutet zunächst paradox an. Wie kann man etwas durch Schreiben zerstören, ohne es dabei gleichzeitig zu dokumentieren und damit zu bewahren ? Eine Analyse von Muraus Beziehung zu der zu Wolfsegg gehörenden Kindervilla gewährt Einblick in sein paradoxes Projekt, das Familiengut und dessen Geschichte auszulöschen, indem er sie in Form der uns vorliegenden Auslöschung aufschreibt. In der Kindervilla haben die Eltern nach dem Krieg § ohne das Wissen ihrer Kinder § ehemalige Gauleiter versteckt und so verhindert, dass diese strafrechtlich verfolgt werden konnten. Ich lese die Kindervilla als Chiffre für Muraus Auseinandersetzung mit dem familiären, gesellschaftlichen und auch mit seinem eigenen Schweigen. Betrachtet man Auslöschung als einen Text, mit dem sich Murau gegen das individuelle und kollektive Schweigen richtet, dann verliert sein Projekt, die Geschichte Wolfsegg durch Schreiben auszulöschen, an Paradoxität. Berücksichtigt man jedoch, dass Murau erst nachträglich davon erfuhr, dass die Eltern in der Kindervilla Verbrecher versteckten, eröffnet sich eine neue Problematik : Murau berichtet von Ereignissen, die zwar in seiner Gegenwart stattgefunden haben, die er aber nicht bewusst erfahren hat. Liest man Muraus Beschreibung der Ereignisse in und um die Kindervilla als Zeugnis, wie ich hier 1 Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 1988, S. 199.
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vorschlagen möchte, dann muss zunächst geklärt werden, welches Verständnis von Zeugenschaft diesem Ansatz zugrunde liegt. Muraus Ich erinnert an das von Ingeborg Bachmann in ihren Frankfurter Vorlesungen beschriebene „Ich ohne Gewähr.“2 Das Ich kann, so Bachmann, „Vorbildliches nur als Zeuge leisten,“ indem es „das selbst Gesehene, selbst Erlebte und das wovon man dem Ich erzählt hat“ zurückbringt.3 Für Bachmann berichtet ein Zeuge also nicht ausschließlich von der eigenen Erfahrung ; ein Zeugnis kann vielmehr auch die Geschichten anderer mit einschließen. Wenn Murau in Auslöschung etwa die Geschichte seines Onkels Georg oder die seines Bekannten Schermaier in seinen Text mit einbezieht, entspricht er Bachmanns Verständnis eines Zeugen. Wie sich zeigen wird, hängt das Vermögen, die Ereignisse in der Kindervilla in der Nachkriegszeit zu rekonstruieren, von den Aussagen anderer ab § Murau allein könne sie nicht wiedergeben, da sie sich zum Teil seiner Erfahrung entziehen. Denn Murau hat erst im Nachhinein erfahren, dass die Eltern nach dem Krieg gesuchte Gauleiter in der Kindervilla versteckt hatten. Als Kind hat er ihre Präsenz nicht bemerkt. Seine eigene Wahrnehmung erweist sich im Nachhinein als fehlerhaft und damit als nicht der Realität entsprechend. Murau ist paradoxerweise ein Augenzeuge, der nichts gesehen hat. Im ersten Teil von Auslöschung erzählt Murau seinem Schüler Gambetti von der „geliebten Kindervilla“, die vor etwa zweihundert Jahren allein „für die Kinder gebaut worden“ ist.4 Er berichtet dann auch entrüstet von Versammlungen, die die Nationalsozialisten während des Krieges in der Kindervilla abgehalten haben ; dass die Villa nach dem Krieg als Versteck für die Gauleiter diente, bringt er Gambetti gegenüber jedoch nicht zur Sprache. Indem er diesen Tatbestand ausklammert, wird deutlich, dass Muraus Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von Nachträglichkeit und Aufschub gezeichnet ist. Murau beschreibt Gambetti gegenüber die Kindervilla als „das schönste Gebäude weit und breit im ganzen Land,“5 dessen Decken mit Szenen aus Lessings Nathan der Weise oder Schillers Räuber verziert waren. Umgeben von diesen klischeehaft bis kitschig anmutenden Repräsentationen des kulturellen Erbes spielten die Kinder Theaterstücke, die sie sich selbst ausgedacht hatten, „bis es uns verboten worden ist, weil wir mehr lernen, weniger Theater spielen sollten.“6 Diese Aussage reflektiert die Perspektive des 2 Bachmann, Ingeborg : „Das Schreibende Ich,“ in : Frankfurter Vorlesungen. Probleme Zeitgenössischer Dichtung. München 1980, S. 61. 3 Ebd., S. 55, Hervorhebung DH. 4 Bernhard : Auslöschung, S. 184, Hervorhebung im Original. 5 Ebd., S. 185. 6 Ebd., S. 185, Hervorhebung im Original.
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Kindes, das noch nicht wusste, dass sich hinter dem Verbot ein Geheimnis verbirgt. Das Verbot, Theater zu spielen wird für Murau erst retrospektiv zum Indiz dafür, dass die Eltern den Kindern verheimlichten, was sich tatsächlich in der Kindervilla abspielte. Um das Versteck der Gauleiter zu tarnen und diese so vor der strafrechtlichen Verfolgung zu bewahren, benutzen die Eltern ihre unwissenden Kinder als Teil der Kulisse dieser kriminellen Inszenierung. Wenn Murau Gambetti gegenüber davon spricht, dass er „über die Wolfsegger Verhältnisse, über ihr Unglück und über ihre Gemeinheit, über ihre Hinfälligkeit und ihre Charakterlosigkeit, über alles, das sie mir vorgeführt haben“ berichten will, dann verweist die Formulierung, dass ihm dort „alles“ nur „vorgeführt“ wurde bereits implizit auf das Versteckspiel der Eltern, ohne das die Lesenden an dieser Stelle bereits davon wissen können.7 Das kindliche Rollenspiel auf der Bühne der Kindervilla erhält ein negatives Pendant in den politischen Inszenierungen der Erwachsenen, hinter deren Rollenspiel sich eine Vorspiegelung falscher Tatsachen verbirgt. Das Theatermotiv beinhaltet damit immer auch einen Verweis auf den von Murau erfahrenen Bruch mit seinen Kindheitserinnerungen, der sich in der Kindervilla als Chiffre des familiären und kulturellen Erbes abzeichnet.8 Dass die Kindervilla nicht nur ein Ort schöner Kindheitserinnerungen ist, deutet sich bereits an, wenn Murau Gambetti gegenüber erwähnt, die Villa sei „ein ganz und gar trauriges, aber interessantes Kapitel unserer Wolfsegger Geschichte, […], vielleicht ist es das allertraurigste überhaupt.“9 Es dauert dann jedoch weitere zweihundertfünfzig Seiten bis Murau tatsächlich den Grund benennt, warum die Kindervilla jahrelang nicht betreten werden durfte : „die Eltern hatten in den Nachkriegsjahren in der Kindervilla ihre nationalsozialistischen Freunde versteckt gehabt. Sie hatten es gut verstanden, die Kindervilla als völlig unbewohnt erscheinen zu lassen, sie verfallen lassen nach außen hin“.10 Murau erfährt erst Jahre später durch einen der Gauleiter, der die Familie besucht, von der Zweckentfremdung der Kindervilla und von seiner eigenen Rolle als Statist im Versteckspiel seiner Eltern : Aber natürlich haben sie ihr Geheimnis auch nicht lebenslänglich bewahren können, eines Tages war alles offensichtlich gewesen, als nämlich einer der Gauleiter nach Wolfsegg 7 Ebd., S. 197, Hervorhebung DH. 8 Das Theater erweist sich als Leitmotiv des zweiten Teils von Auslöschung. Zur Bedeutung des Theatralischen in Bezug auf die Beerdigung siehe etwa : Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Stuttgart 1995, S. 118ff. 9 Bernhard : Auslöschung, S. 185. 10 Ebd., S. 441.
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gekommen ist und schon im Vorhaus unten angefangen hat, von der Zeit in der Kindervilla zu sprechen, den schönsten Jahren seines Lebens, wie er sich ausgedrückt hat in meiner Gegenwart.11
Der damals 15-Jährige Murau „stand daneben und hatte zur Kenntnis zu nehmen,“ dass er als Kind wesentliche Ereignisse auf Wolfsegg nicht wahrgenommen hat und somit unwissend zum Komplizen der Eltern geworden ist.12 Er wird also erst verspätet zum Zeugen der eigentlichen Geschichte der Kindervilla und des Schweigens seiner Eltern. Vor dem Hintergrund der Erzählung des Gauleiters erweist sich das von ihm selbst Erlebte als lückenhaft : Die „geliebt[e]“ Kindervilla ist von da an „unheimlich“13 geblieben. In Das Unheimliche schreibt Sigmund Freud : Das „Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist“ und es sei Schellings Definition folgend etwas, „was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.“14 Die Kindervilla ruft Assoziationen mit dieser Terminologie des Heimischen hervor, des vertrauten Ortes, der, wenn er in den Erzählungen des Gauleiters wiederkehrt, unheimlich wird. In Auslöschung wird dieses Unheimlichwerden jedoch nicht als „Prozeß der Verdrängung“ präsentiert § Murau fehlt es ja gerade an Erinnerungen an den Aufenthalt der Gauleiter. Im Fall von Murau sind es nicht verdrängte Erinnerungen, die in ihm hochkommen ; der Gauleiter evoziert vielmehr ein Bild der Kindervilla, das Muraus eigenes Bild von ihr negiert und diese dadurch unheimlich erscheinen lässt. Indem das Unheimlichwerden der Kindervilla vielmehr an das Heimliche bzw. an das elterliche Verheimlichen der versteckten Gauleiter geknüpft wird, wechselt Bernhard von Freuds psychoanalytischem Lexikon der Verdrängung zu einem politischen des Schweigens. Kurz, das Verschweigen der Eltern hat strukturell denselben Effekt wie die Verdrängung nach Freud : das Vertraute erscheint unheimlich. Wenngleich der Titel Auslöschung von seiner Freundin Maria stammt, so ist es doch die Kindervilla, die ihn „auf diesen absurden Gedanken gebracht hat. Auslöschung, habe ich auf dem Weg von der Kindervilla zurück zur Meierei gedacht, warum nicht.“15 Muraus Bericht kann also als Reaktion auf das Unheimlichwer11 12 13 14
Ebd., S. 445, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 445. Ebd., S. 442. Freud, Sigmund : „Das Unheimliche“, in : Psychologische Schriften. Studienausgabe Bd. IV. Frankfurt am Main 1997, S. 264. 15 Bernhard : Auslöschung, S. 612f.
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den der Kindervilla gelesen werden. Diese Reaktion kann mit Bernhard Sorg als Ausdruck einer „Sehnsucht nach einer Heim-Zahlung“ gelesen werden, „mit der sich der Gequälte und Gedemütigte an denen rächt, die ihm eine Erfahrung von Heimat verweigert haben, also Familie und Staat.“16 Murau schreibt gegen die Aussage des Gauleiters an, durch die sich die Geschichte des Nationalsozialismus in seine Kindheit eingeschrieben und dabei die eigene Erinnerung an die geliebte Kindervilla überschrieben hat. Diese Krise der Wahrnehmung legt die traumatischen Strukturen in Muraus Verhältnis zu seiner Vergangenheit offen. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass Muraus Trauma doch vor allem auf die physische Gewalt und die psychologische Zurückweisung zurückzuführen sei, die er während seiner Kindheit durch seine Eltern erfahren hat. Im Hinblick auf die Kindervilla zeichnet sich jedoch eine andere Konzeption von Trauma ab : es ist keine konkrete Erfahrung, sondern die Aussage des Gauleiters, die auf den 15-Jährigen Murau einen traumatisierenden Effekt hat. Dass Murau während des Krieges der Zutritt zur Kindervilla versagt war, erhält durch die Erzählung des Gauleiters über seine Zeit in der Kindervilla eine erschütternde Bedeutung : der verbotene Zugang zur Kindervilla wird zum Zeichen dafür, dass ihm die Topographie seiner Kindheit nur bedingt zugänglich war und ist. Dieses Erlebnis, keinen Zugang zu seiner eigenen Geschichte zu haben, erinnert an Cathy Caruths Beschreibung von Trauma : „Zum Zeitpunkt des Geschehens wird das Ereignis nicht vollkommen ins Bewusstsein eingelassen oder in seiner Ganzheit erfahren.“17 Dass Murau das „Ereignis“ § das Versteck der Gauleiter in der Kindervilla § „nicht vollkommen ins Bewusstsein“ einlassen oder „in seiner Ganzheit erfahren“ konnte, markiert die traumatischen Strukturen dieses Erlebnisses. In Muraus Fall ist es jedoch, wie gesagt, kein persönliches Trauma aus der Kindheit, das zurückkommt und ihn erschüttert, sondern die Realisierung des 15-Jährigen, dass seine Eltern ihm Wissen über die Topographie seiner Kindheit verschwiegen haben. Damit weicht sein Trauma strukturell von dem seines Bekannten Schermaier ab, der in einem Konzentrationslager interniert war. Den Traumaforschern Bessel van der Kolk und Onno van der Hart folgend kann ein Trauma nicht einfach in bestehende sinnstiftende Erfahrungs- und Denkmuster integriert werden und liegt in Form von Erinnerungsfragmenten vor.18 In Muraus 16 Sorg, Bernhard : Thomas Bernhard. München 1992, S. 130. 17 Caruth, Cathy : „Trauma als historische Erfahrung : Die Vergangenheit einholen“, in : Baer, Ulrich (Hg.) : ‚Niemand zeugt für den Zeugen‘. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt am Main 2000, S. 85. 18 Van der Kolk, Bessel/van der Hart, Onno : „The Intrusive Past : The Flexibility of Memory and the Engraving of Trauma“, in : Caruth, Cathy (Hg.) : Trauma. Explorations in Memory. Baltimore 1995, S. 170ff.
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Fall hat die Abwesenheit einer jeglichen Erinnerung denselben Effekt : die bisher auf seine Kindheit angewandten Denk- und Erinnerungsmuster versagen. Der Effekt, den die Erzählung des Gauleiters auf den 15-Jährigen Murau hat, ist strukturell mit dem eines traumatischen Erlebnisses deckungsgleich : seine Wahrnehmung der Kindervilla wird von einer fundamentalen Krise erfasst. Die vom Gauleiter vorgebrachten Informationen über dessen Aufenthalt in der Kindervilla stellen keine Ergänzung von Muraus Kindheitserinnerung dar ; im Gegenteil, diese Informationen negieren seine Erinnerung daran. Das Trauma des 15-Jährigen Murau besteht dann in der Leerstelle seiner Erfahrung, die entsteht, weil er die Präsenz der versteckten Verbrecher nicht wahrgenommen hat. Für Murau ist das aus dem Schweigen resultierende Nichtwissen die Katastrophe. Vor dem Hintergrund dieser Wahrnehmungskrise in Auslöschung verlangt Bachmanns pointierte Formulierung, derzufolge sich das Ich „nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern dass sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält“19, nach einer Präzisierung : Die Geschichte in Muraus Ich ist eine traumatische und damit, laut Cathy Caruth, eine „unmögliche Geschichte“, die der Traumatisierte „nicht gänzlich in Besitz nehmen kann.“20 Bernhard parodiert gewissermaßen den Gedanken, dass man die Vergangenheit in Besitz nehmen kann, wenn er Murau zum Alleinerben Wolfseggs macht : Murau kommt damit zwar buchstäblich in den Besitz seiner Kindervilla § doch deren Vergangenheit, in der sich die eigene und die Geschichten anderer verzahnen, widersetzt sich einer Aneignung. Murau trägt zwar die Erinnerung an die Kindervilla in sich, aber durch sein nachträgliches Wissen um die Präsenz der Versteckten in der Villa, wird ihm die eigene Kindheit entfremdet, um nicht zu sagen enteignet. Wolfsegg im Allgemeinen und die Kindervilla im Besonderen sind dabei nicht schlicht als Symbol für Muraus Familiengeschichte zu lesen oder allein als Referenz auf das in Oberösterreich gelegene Schloß Wolfsegg ; Höller folgend stellt „das literarische Wolfsegg Thomas Bernhards“ vielmehr „eine „andere Wirklichkeit dar, nämlich das Wolfsegg, das wir mit uns herumtragen, die Landschaft einer Kindheit, der ,Geschichte im Ich‘ und das ,Haus Österreich‘ in diesem Jahrhundert.“21 Wolfsegg und die Kindervilla stehen also immer auch für das kulturelle Erbe Österreichs und für den destabilisierenden Effekt, den dieses Erbe auf das Ich haben kann. 19 Bachmann : „Das schreibende Ich“, S. 54, Hervorhebung im Original. 20 Caruth : „Trauma als historische Erfahrung“, S. 86. 21 Höller, Hans : „Politische Philologie des Wolfsegg-Themas“, in : Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 38.
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Der Satz des Gauleiters markiert nicht nur einen Bruch in Muraus Wahrnehmung seiner Kindheit § er bricht auch das Schweigen der Eltern und macht dieses so erst lesbar. Diese Lesbarmachung des Verschweigens der Eltern ist die Voraussetzung für Muraus Projekt der Auslöschung : um Schweigen zu zerstören, es wegzuschreiben, muss es zunächst registriert und erfasst werden. Auf diese sprachlich vollzogene radikale Zäsur, die die Aussage des Gauleiters bedeutet, reagiert Murau schriftlich § mit Auslöschung. Die Aussage des Gauleiters markiert auch einen Bruch in Muraus Verhältnis zu seinen Eltern, denn „über alle diese Unheimlichkeiten hatten [s]eine Eltern immer geschwiegen“.22 Indem Murau zunächst selbst die Vergangenheit der Kindervilla verheimlicht, stellt er die eigene Erfahrung nach, in der ihm die Kindervilla als geheimnisvoller Ort erschien, um dann mit diesem Anschein zu brechen. Wie er zunächst die Rolle der Kindervilla im Nationalsozialismus verschleiert, ist auch seine Beschreibung der Position seines Vaters zum Nationalsozialismus zunächst von Verdrängung geprägt. Anfangs argumentiert Murau gegenüber Gambetti, es seien die Jäger und seine Mutter gewesen, die seinen „Vater zum Nationalsozialismus sozusagen erpresst“23 hätten, um Gambetti dann doch letztlich zu gestehen, sein Vater sei kein „erpresster Nazi gewesen, sondern ein überzeugter“24 § die Gauleiter waren seine „Lebensfreunde“.25 Erst wenn Murau seine Geschichte an ein Gegenüber richtet bzw. es in Auslöschung schriftlich dokumentiert, werden die Spuren der Nachträglichkeit sichtbar, die Muraus Auseinandersetzung mit seiner Geschichte charakterisieren. Die Kindervilla veranschaulicht Muraus „Herkunftskomplex“26, denn sie ist, wie Höller und Matthias Part herausstellen, einer von Bernhards „semantische[n] Komplexen“:27 „poetische Vergegenständlichungen von Geschichte und geschichtlicher Erfahrung, des Ortes der Kindheit, des Alpdrucks der Vergangenheit und der vergangenen Generationen, des Gewichts von Tradition und der Kunst oder vielmehr der Unfähigkeit zu erben“.28 Die Kindervilla repräsentiert also einen Komplex § im dreifachen Sinne, nämlich als architektonisches, psycho22 23 24 25 26 27
Bernhard : Auslöschung, S. 442. Ebd., S. 192. Ebd., S. 193. Ebd., S. 440. Ebd., S. 201. Höller, Hans ⁄Part, Matthias : „Auslöschung als Antibiographie. Perspektiven der Forschung“, in : Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 105. 28 Ebd., S. 105.
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logisches und vieldeutiges Phänomen § in dem sich individuelle, historische und kulturelle Aspekte verdichten. Die Ereignisse auf Wolfsegg stehen immer auch exemplarisch für die Ereignisse in Österreich. Verdichtung bedeutet hier insofern eine Ästhetisierung als Bernhard den realen Ort Wolfsegg als Folie benutzt,29 auf der verschiedene Bedeutungsebenen enggeführt werden. Dass die Kindervilla sowohl in Muraus Erinnerung als auch in der des Gauleiters eine zentrale Stellung einnimmt, zeigt, dass die Bedeutungsdichte des Ortes mit konfliktreichen Spannungen durchsetzt ist. Doch gerade diese Verdichtung im Sinne einer Ästhetisierung, beinhaltet die Möglichkeit, von der historischen, persönlichen und kulturellen Bedeutungsdichte eines Ortes Zeugnis abzulegen. Dieses Zeugnis lässt die Kindervilla als Ort sichtbar werden, der die Verunsicherung der Kindheitswahrnehmung repräsentiert, die zwar am Kommentar des Gauleiters festgemacht werden kann, deren Effekt sich jedoch netzwerkartig durch den ganzen Text zieht. Muraus Auseinandersetzung mit der Kindervilla teilt die Erfahrung, die Richard Alewyns in der Aussage formuliert : „Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald.“30 In Alewyns Beschreibung fallen ähnlich wie in Auslöschung räumliche und kulturelle Topographie zusammen. Die topographische Lage Buchenwalds in der Nähe von Goethe und Schillers Weimar markiert die Unmöglichkeit, bruchlos an die kulturelle Vergangenheit anzuknüpfen oder ein ungebrochenes Verhältnis zu ihr aufrecht zu erhalten. In Auslöschung ist es die Aussage des Gauleiters, die Muraus idyllische Kindheitserinnerungen an die Kindervilla nachhaltig kontaminiert, oder, anders gesagt, zwischen Murau und der Kindervilla steht die Erzählung des Gauleiters. Alewyns Formulierung folgend führt die Nähe von Weimar und Buchenwald zu einer unüberbrückbaren Distanz zwischen uns und der kulturellen Vergangenheit, die Weimar verkörpert. Da wir in Auslöschung einem Ich begegnen, für das Nichtwissen eine Katastrophe bedeutet, zeichnet sich der Effekt des Nationalsozialismus als ein innerer Zusammenbruch der eigenen Wahrnehmung ab. Wie die meisten Erzähler Bernhards, ist auch Murau ein unzuverlässiger Erzähler : Er widerspricht sich unentwegt, übertreibt, untertreibt, zweifelt. Doch gerade diese Merkmale machen ihn zu einem ‚glaubwürdigen‘ Zeugen eines Traumas, denn, wie etwa Judith Hermann anmerkt, „people who have survived 29 Zum Verhältnis der Darstellung Wolfseggs in Auslöschung zur empirischen Vorlage siehe : Höller, Hans : „Menschen Geschichte(n) Orte und Landschaft“, in : Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 217§ 234. 30 Alewyn, Richard : „Goethe als Alibi“, in : Hamburger Akademischen Rundschau, 3, 1948/50, S. 685.
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atrocities often tell their stories in a highly emotional, contradictory, and fragmented manner which undermines their credibility and thereby serves the twin imperatives of truth-telling and secrecy.“31 Eben diese Unbeständigkeit veranschaulicht, dass der Inhalt des Berichteten die Art des Berichtens kontaminiert. Muraus unzuverlässige Erzählstimme kann mit Hermann als Effekt seiner Geschichte oder vielmehr der Geschichte und des Schweigens über sie und in ihr gelesen werden. Der Bann, den die Geheimnisse um die Kindervilla ausüben, zeichnet sich auch in Muraus Erzählhaltung ab : Während er seine Beschreibung der geliebten Villa an Gambetti richtet, ist die Entlarvung, dass in der Villa nach dem Krieg Nationalsozialisten versteckt wurden, zunächst ein Nacherzählen seiner Gedanken. Im Gegensatz zu den Aussagen, die Murau an Gambetti richtet, markiert das in den Bericht über die Villa als Versteck eingeflochtene denke ich zunächst ein Schweigen. Erst indem Murau seine Gedanken verschriftlicht, wird sein eigenes Schweigen gegenüber Gambetti weggeschrieben, ausgelöscht. Als Verfahren besteht die Auslöschung Wolfseggs also darin, Schweigen und Tabus zu evozieren, um sie dann schriftlich zu fixieren. Für diesen Prozess verwendet Murau eine radikale Rhetorik, die sich jedoch auch gegen ihn selbst wendet. Wenn er seine Familie und Wolfsegg analysiert, „nehme [ich] mich dabei selbst auseinander, zersetzte mich, vernichte mich, lösche mich aus.“32 Diese „Selbstzersetzung“ schlicht als Prozess zu lesen, in dem sich Murau seines eigenen Potentials zur Verdrängung bewusst wird, der dann mit einer „Selbstauslöschung“ erfolgreich abgeschlossen wäre, würde zu kurz greifen.33 Gerade sein Umgang mit der Kindervilla verdeutlicht ja wiederholt, wie anfällig Murau selbst für Verdrängung ist. Bernhards Charakter ist damit auf ganz eigene Weise von dem bedroht, was Bachmann mit Bezug auf Beckett das „Verlangen nach Schweigen“ nennt, das droht, das Ich „auszulöschen, zu vernichten.“34 Für Bachmann bedeutet Auslöschung des Ich, dass es in Schweigen verfällt. In Muraus Fall scheint es zunächst, als würde er in erster Linie gegen das Schweigen seines Umfeldes anschreiben, welches ihn schon „seit Jahrzehnten“ beschäftigt.35 Doch das „den Hals zuschnürend[e] Wolfsegg“36 hat Murau geprägt. 31 Hermann, Judith : Trauma and Recovery. The aftermath of violence ± from domestic abuse to political terror. New York 1992, S. 1. 32 Bernhard : Auslöschung, S. 296. 33 Ebd., S. 296. 34 Bachmann : „Das schreibende Ich“, S. 59, Hervorhebung DH. 35 Bernhard : Auslöschung, S. 197. 36 Ebd., S. 299.
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Die Erinnerung an die geliebte Kindervilla erweist sich als ausgesprochen hartnäckig. Murau hängt an seinem Lieblingsgebäude und will aus ihm „wieder die Kindervilla […] machen, die sie einmal gewesen ist uns Kindern“.37 Die Kindervilla wird zum Vehikel der Fantasie, die Vergangenheit wiederherzustellen, als hätte der Nationalsozialismus keine Spuren hinterlassen, als könnte man ihn einfach wegrenovieren, als läge zwischen uns und Weimar nicht Buchenwald. Mit der Wiederherstellung der Kindervilla imaginiert Murau eine Rückkehr in die Zeit vor den „schönsten Jahren“ des Gauleiters und verfällt dabei selbst dem Verdrängungsprozess gegen den sich sein Bericht wendet und den er an seiner Familie und an der Gesellschaft so harsch kritisiert. Murau gesteht sich letztlich ein : „die Kindheit läßt sich nicht mehr herrichten“ : „Die Kindervilla zeigt dir schonungslos, daß die Kindheit nicht mehr möglich ist“38 § „die Kindervilla ist auf einmal ein Alptraum.“39 Muraus als Renovierungswunsch getarnte Verdrängungsfantasie wird hier von der Erkenntnis eingeholt, dass die Kindheit unweigerlich verloren ist. Die Kinder wuchsen in einer Art Parallelwelt auf, die von Schweigen geprägte war. Murau schreibt nun gegen diese Geheimnisse, gegen seine fiktiv gewordene Kindheit an und bedient sich dabei auch der Fiktion, um die „gähnende Leere“ zu dokumentieren § die Lücke in seiner Erfahrung §, als die ihm die Kindheit nun erscheint. Murau zeigt die unterschiedlichen Formen und Facetten des Schweigens auf, die er wegschreiben will. Die Kindervilla tritt dabei auch exemplarisch als ein dem Rechtssystem entzogener Ort hervor : Die Eltern haben Verbrecher versteckt, „die vor Gericht gestellt gehörten und abgeurteilt. Natürlich mit der Todesstrafe bestraft“ ; der Staat lasse „diese tausendfachen Mörder frei herumlaufen“.40 Das Schweigen innerhalb der Familie hat ein Pendant in dem des Staates : „Dieser Staat ist wie meine Familie, die geradezu geschaffen ist für das nationalsozialistische Verbrechertum.“41 Murau hebt hier die rechtliche Dimension des Verschweigens hervor § es verhindert eine juristische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Murau fächert die unterschiedlichen Instanzen des Schweigens noch weiter auf, wenn er vom Schweigen der Gesellschaft spricht. An den im Dorf lebenden Schermaier denkend, sagt Murau zu seinen Schwestern : 37 38 39 40 41
Ebd., S. 597, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 600, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 601. Ebd., S. 459. Ebd., S. 460.
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Der beste Schuldfreund hat ihn angezeigt, sagte ich, […] ihn aufs gemeinste denunziert, ins Konzenterationslager gebracht, das ginge mir nicht aus dem Kopf, in Rom läge ich sehr oft auf meinem Bett und hätte darüber nachzudenken, daß sich unser Volk Tausender, ja Zehntausender solcher gemeinen Verbrechen schuldig gemacht habe und sie verschweige. Das Schweigen unseres Volkes über diese tausende und zehntausende Verbrechen ist von allen diesen Verbrechen das größte, sagte ich zu den Schwestern. Das Schweigen dieses Volkes ist das Unheimliche, sagte ich. Das Schweigen dieses Volkes ist das Entsetzliche, dieses Schweigen ist noch entsetzlicher als die Verbrechen selbst, sagte ich. Wenn ich daran denke, daß ich diese Mörder empfangen muss, sagte ich. 42
Muraus hyperbolische Formulierung, derzufolge das Schweigen „entsetzlicher“ sei als die Verbrechen, klingt befremdlich. In dieser Passage zeichnet sich jedoch ein signifikanter temporaler Wechsel ab : Murau beschreibt die Geschichte Schermaiers und seine konstante Beschäftigung mit ihr in der Vergangenheitsform, wechselt dann in den Präsens, um das gesellschaftliche Schweigen zu beschreiben und richtet schließlich seine Perspektive auf die ihm bevorstehende Begegnung mit den Mördern in der Zukunft. Indem seine Ausführungen über das Schweigen im Präsens verfasst sind, erscheint dessen Zeitlichkeit ambivalent und es bleibt offen, ob sich Murau auf das die Verbrechen verbergende Schweigen in der Nachkriegszeit oder auf das Schweigen während des Nationalsozialismus bezieht. Murau evoziert hier eine nicht-lineare Zeitlichkeit § die für ein Trauma symptomatische Gegenwärtigkeit des Vergangenen §, die ich als traumatisches Präsens bezeichnen möchte. Unter traumatischem Präsens verstehe ich die Anwendung des Präsens, um ein vergangenes Ereignis zu beschreiben, das als gegenwärtig empfunden wird ; die Unmöglichkeit, dieses Ereignis in eine lineare Zeitlichkeit zu integrieren, wird damit grammatikalisch fixiert. Liest man Muraus Formulierung durch das Tempus des konventionellen Präsens, dann beziehen sich seine Worte schlicht auf das gegenwärtige Schweigen der Gesellschaft über vergangene Verbrechen. Vor dem Hintergrund des traumatischen Präsens eröffnet sich jedoch eine alternative Lesart : das einstige Schweigen über die Verbrechen, das komplizenhafte Verschweigen, wird strukturell als gegenwärtig präsentiert. Es ist dieses Schweigen, das kriminelle Verschweigen, das auch die Eltern betrieben haben, gegen das sich Auslöschung dezidiert richtet und das hier mittels grammatikalischer Strukturen evoziert und dokumentiert wird. 42 Ebd., S. 459.
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In Bezug auf Jean Amérys Schriften hat Jan Philipp Reemtsma darauf aufmerksam gemacht, dass die Art und Weise, wie die Gesellschaft einem Trauma gegenübersteht, Einfluss darauf hat, wie der Traumatisierte die erlebte Katastrophe verarbeitet. Reemtmas Aussage kann auch für Auslöschung geltend gemacht werden : „Ein Trauma entfaltet oft erst dann seine zerstörerische Kraft ganz, wenn die Gesellschaft oder Gemeinschaft sich weigert, das Erleidnis zu erkennen und anzuerkennen, und, im hier in Rede stehenden Fall, die Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.“43 Dass in Auslöschung die Rolle und der Effekt des gesellschaftlichen wie des eigenen Schweigens dargestellt wird, markiert einen wesentlichen Unterschied zu Bernhards früherem Text, Der Italiener. Wie Höller herausstellt, stehen in Auslöschung, anders als in Der Italiener, die Österreicher nicht mehr auf Seiten der Opfer : „Die Schloßleute befinden sich im frühen Erzählfragment auf der Seite der Opfer, während in Auslöschung die katholischnationalsozialistische Komplizenschaft der Wolfsegger Herrschaft ins Zentrum rückt.“44 Wenn Murau die verschiedenen Instanzen des Schweigens durchdekliniert, nähert sich Auslöschung damit Amérys Verständnis von der „Kollektivschuld“ eines Volkes an, die Améry als „Summe individuellen Schuldverhaltens“ definiert, die sich aus „Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld“ zusammensetzt.45 Indem Murau die nationalsozialistische Gesinnung nicht als vergangen, sondern als bis in die Gegenwart hineinreichende betrachtet, weitet er Amérys Gedanken auf die folgenden Generationen aus. Noch ein anderes Schweigen beschäftigt Murau § das der Opfer. Er erzählt von dem im Dorf lebenden Schermaier, der nie über seine Erlebnisse in einem Konzenterationslager gesprochen hat. Mit Auslöschung will Murau Schermeier, „wenn schon nicht das ihm von dieser Gesellschaft gezollte Recht, so doch Aufmerksamkeit verschaffen.“46 Murau schließt also die Möglichkeit aus, dass die Gesellschaft den Opfern Recht widerfahren lassen würde. Vor diesem Hintergrund erscheint auch Muraus Schenkung am Ende nicht als eine Geste, die versucht, Recht oder eine Form der Wiedergutmachung zu etablieren. Gegenüber den Schwestern kann gewiss von Zurückzahlen oder gar Rache gesprochen werden, wie etwa Irene Heidelberger-Leonard vorschlägt,47 doch dieses Bedürfnis 43 Reemtsma, Jan Philipp : „172364 : Gedanken über den Gebrauch der ersten Person Singular bei Jean Améry“, in Steiner, Stephan (Hg.) : Jean Améry [Hans Maier]. Frankfurt am Main 1996, S. 80. 44 Höller, Hans : „Politische Philologie des Wolfsegg-Themas“, S. 41. 45 Améry, Jean : „Ressentiment“, in : Gerhard Scheit (Hg.) : Jean Améry, Werke, Bd. II. Stuttgart 2002, S. 135. 46 Bernhard : Auslöschung, S. 458. 47 Siehe : Heidelberger-Leonard : „Auschwitz als Pflichtfach für Schriftsteller“, in : Höller, Hans/
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nach Vergeltung bezieht sich allein auf den Familienkontext. Gerade indem Murau illustriert, dass sich das Schweigen in unterschiedlichen Instanzen manifestiert § Familie, Staat, Opfer, Selbst §, erscheint der Gedanke einer erfolgreichen Auslöschung des Schweigens unmöglich. Bei der Darstellung des Schweigens der Opfer lässt Bernhard, wie Daniel Steuer argumentiert, der Aufmerksamkeit eine wesentliche Rolle zukommen : „Er unterscheidet zwischen Opfern, denen Aufmerksamkeit zukommt, und solchen, denen sie nicht zukommt.“48 Diese Unterscheidung korrespondiert wiederum mit der Fähigkeit der Betroffenen, über das Erlebte zu sprechen. Da Schermaier über das, was ihm widerfahren ist, schweigt, sieht es Murau als seine „Pflicht“ an, darüber zu schreiben, um „auf die aufmerksam zu machen, stellvertretend für so viele, die über ihre Leiden während der nationalsozialistischen Zeit nicht sprechen“.49 Es geht Murau nicht darum stellvertretend für Schermaier Zeugnis abzulegen § ein Zeugnis ist singulär und unersetzbar §, sondern auf die Hintergründe von Schermaiers Schweigen aufmerksam zu machen. Murau gibt einen kurzen Abriss über Schermaiers Erlebnisse, ohne dass wir dabei Einblick in dessen Inneres erhalten. Die Erfahrung Schermaiers bleibt uns verborgen. Indem Murau somit nur die Eckdaten von Schermaiers Geschichte und dessen Schweigen über die tatsächlichen Ereignisse dokumentiert, bleiben Schermaiers Erlebnisse als eine Art Leerstelle zurück. Schermaiers Schweigen, das Ausdruck seines Traumas ist, steht damit in harschem Kontrast zu dem Schweigen von Muraus Eltern und der Gesellschaft, das Murau eindeutig als ein kriminelles versteht. Als Augenzeuge, der nichts gesehen hat, dokumentiert Murau das Schweigen des traumatisierten Schermaiers und das kriminelle seiner Eltern § und skizziert die Umrisse der Ereignisse, wie sie ihm mitgeteilt wurden. Er nimmt damit die spezifische Position ein, die Bachmann dem Zeugen zuschreibt und die ein Zeugnis nicht auf das Bezeugen der eigenen Erfahrung beschränkt. In Bezug auf die Ereignisse der Kindervilla und die Geschichte Schermaiers erweist sich diese Haltung als notwendig bzw. als einzige Möglichkeit, Zeugnis abzulegen. Was die Kindervilla betrifft, ist das Gehörte gar ,realitätsnaher‘ als die eigene Erinnerung, Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antibiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 192. 48 Steuer, Daniel : „Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall. Zum Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung, Autobiographie und Roman“, in : Durrani, Osman/Preece, Julian (Hg.) : Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Reisende durch Zeit und Raum, Der deutschsprachige historische Roman, Bd. 51. Amsterdam 2001, S. 71. 49 Bernhard : Auslöschung, S. 457.
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in der die versteckten Gauleiter nicht registriert wurden. In Auslöschung erfährt die Haltung ,ich habe nichts gewusst‘, die bis heute eine gängige Redewendung der Verdrängung darstellt, eine radikale Neuinterpretation. Murau wird gerade durch die Tatsache, dass er nichts wahrgenommen, nichts gewusst hat, in eine fundamentale Krise gestürzt. Muraus Krise der Wahrnehmung verweist dabei auch auf eine Krise der Zeugenschaft. Wir haben es, wie gesagt, mit einem unzuverlässigen Zeugen zu tun, der Bachmanns Verständnis des Zeugen folgend, ein Mosaik aus Erlebtem, Gehörtem und Vorgestelltem aufschreibt. Mit dieser fiktionalisierten Inszenierung eines Zeugnisses nähert sich Bernhards Text Jacques Derridas Ansatz in Bleibe an, in dem Derrida die strikte Unterscheidung von Zeugnis und Fiktion als fragwürdig erklärt : Und dennoch ist, auch wenn das Zeugnishafte sich de jure nicht auf das Fiktionale zurückführen läßt, das, was nicht strukturell in sich die Möglichkeit der Fiktion, des Simulacrums, der Verhehlung, der Lüge und des Meineids impliziert § das heißt auch der Literatur, der unschuldigen oder verderbten Literatur, die sich unschuldig gibt, um alle diese Unterscheidungen zu verderben §, kein Zeugnis. Wenn diese Möglichkeit, die das Zeugnis scheinbar untersagt, wirklich ausgeschlossen wäre, wenn das Zeugnis folglich zum Beweis, zur Information, zur Gewissheit oder zum Archiv geriete, würde es seine Funktion als Zeugnis verlieren.50
Derrida folgend würde ein Zeugnis in dem Moment aufhören, Zeugnis zu sein, in dem es einen verifizierbaren Status, wie etwa den eines Beweises oder einer Information einnehmen würde. Ein Zeugnis muss, laut Derrida, zumindest die „Möglichkeit […] der Literatur“ beinhalten.51 In Auslöschung repräsentiert Muraus Bericht nicht nur die Möglichkeit oder die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sein Zeugnis fiktiv ist § er selbst ist Fiktion. Doch bedeutet dies, dass Auslöschung jeglicher Zeugnischarakter abzusprechen ist ? Dem ist zu entgegnen, dass Bernhard in Auslöschung in gewisser Weise das Problem von Zeugenschaft generell inszeniert : ihr Potential fiktiv zu sein. So eröffnet Bernhard aus der Literatur heraus die Möglichkeit, das Verhältnis von Zeugenschaft und Fiktion nicht als widersprüchliches, sondern als komplementäres zu denken. Auslöschung inszeniert sich als Zeugnis eines Ich, das nicht mehr den Unterschied zwischen Fiktion und Zeugnis, zwischen Inszenierung und Erinnerung garantieren kann. Wenn Muraus Ich, dieses Ich ohne Gewähr, vom und 50 Derrida, Jacques : Bleibe, Wien 2003, S. 28. 51 Ebd., S. 28, Hervorhebung im Original.
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gegen das Schweigen Zeugnis ablegt, dann beinhaltet dies, dass er von einer Art Leerstelle in der eigenen Erfahrung berichtet. Die traumatische Geschichte in Muraus Ich konstituiert sich aus dem gesellschaftlichen, familiären und eigenen Schweigen. Für Murau ist das Nichtwissen um die Gauleiter in seiner Kindervilla die Katastrophe. Sein Verfahren der Auslöschung, das darauf abzielt, das unheimliche Schweigen wegzuschreiben, zu zerstören hängt dabei nicht nur von den Erzählungen anderer ab § es wäre ohne Fiktion ganz unmöglich. Literaturverzeichnis Alewyn, Richard : „Goethe als Alibi“, in : Hamburger Akademischen Rundschau, 3, 1948/50, S. 685§687. Améry, Jean : „Ressentiments“, in : Gerhard Scheit (Hg.) : Jean Améry, Werke, Bd. II. Stuttgart 2002, S. 118§148. Bachmann, Ingeborg : „Das Schreibende Ich“, in : Frankfurter Vorlesungen. Probleme Zeitgenössischer Dichtung. München 1980, S. 41§61. Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 1988. Caruth, Cathy : „Trauma als historische Erfahrung : Die Vergangenheit einholen“, in : Baer, Ulrich (Hg.) : ‚Niemand zeugt für den Zeugen‘. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt am Main 2000, S. 7§34. Derrida, Jacques : Bleibe. Wien 2003. Freud, Sigmund : „Das Unheimliche“, in : Psychologische Schriften. Studienausgabe Bd. IV. Frankfurt am Main 1997, S. 241§274. Heidelberger-Leonard, Irene : „Auschwitz als Pflichtfach für Schriftsteller“, in : Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antibiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 181§196. Hermann, Judith : Trauma and Recovery. The aftermath of violence ± from domestic abuse to political terror. New York 1992. Höller, Hans/Part, Matthias : „ Auslöschung als Antibiographie. Perspektiven der Forschung“, in : Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 97- 115. Höller, Hans : „Menschen Geschichte(n) Orte und Landschaft“, in : Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 217§234. Höller, Hans : „Politische Philologie des Wolfsegg-Themas“, in : Höller, Hans/Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.) : Antiautobiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 38§52. Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard, Stuttgart 1995. Reemtsma, Jan Philipp : „172364 : Gedanken über den Gebrauch der ersten Person Singu-
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lar bei Jean Améry“, in : Steiner, Stephan (Hg.) : Jean Améry [Hans Maier]. Frankfurt am Main 1996, S. 63§86. Sorg, Bernhard : Thomas Bernhard. München 1992. Steuer, Daniel : „Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall. Zum Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung, Autobiographie und Roman“, in : Durrani, Osman/Preece, Julian (Hg.) : Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Reisende durch Zeit und Raum, Der deutschsprachige historische Roman, Bd. 51. Amsterdam 2001, S. 61§77. Van der Kolk, Bessel/van der Hart, Onno : „The Intrusive Past : The Flexibility of Memory and the Engraving of Trauma“, in : Caruth, Cathy (Hg.) : Trauma. Explorations in Memory. Baltimore 1995, S. 158§182.
Katharina Manojlović ∙ Harald Schmiderer
Unheimliches Wolfsegg Zum Film Der Italiener von Thomas Bernhard und Ferry Radax
1. Das Filmexperiment Der Italiener Das Filmexperiment Der Italiener, dem ein gleichnamiges Fragment aus dem Jahr 1964 zugrunde liegt, welches Thomas Bernhard zu einer Art Drehbuch ausarbeitete, zu einer „von dem Fragment zwar stark abweichende[n], im Grund aber doch in jeder Beziehung auf das Fragment zurückzuführende[n], wie ich beabsichtigt gehabt habe, annähernd präzise[n] Vorlage“,1 wurde 1971 im Auftrag des WDR durchgeführt. Die Idee, gemeinsam mit Ferry Radax an einem Filmprojekt zu arbeiten, entstand in Hamburg, wo Radax im Sommer 1970 mit Bernhard das Filmportrait Drei Tage drehte. Das daraufhin vom Regisseur geplante Vorhaben, auch Bernhards Romane Verstörung und Frost zu verfilmen, scheiterte allerdings am Widerstand des Autors. Mit dem Italiener-Projekt gelang Radax dann aber schließlich nicht nur die meisterliche Umsetzung der literarischen Vorlagen, sondern die erfolgreiche Vermittlung zwischen zwei semiotischen Systemen, die unseren Blick auf den Wolfsegg-Komplex in Bernhards Werk zu schärfen und zu erweitern vermag. Ebenso faszinierend und nicht weniger erhellend als die Filmanalyse gestaltet sich für das Verständnis des Themas die Lektüre der Bernhard’schen Filmvorlage, welcher dieser auf Basis des bereits erwähnten Erzählfragments schrieb. Angemerkt worden ist dazu bereits wiederholt, dass es sich dabei nicht um ein Drehbuch im klassischen Sinn handelt ; Höller/Schmied verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff des „Treatment“, um sich der Form von Bernhards Filmtext anzunähern.2 Wenngleich offen bleiben muss, ob Bernhard aus mangelnder Fachkenntnis an der Textsorte Drehbuch vorbeigeschrieben („Wie soll man DAS 1 „Notiz“ von Thomas Bernhard zum Filmprojekt, in : Bernhard, Thomas : Der Italiener. Salzburg 1971, S. 163. 2 Höller, Hans/Schmied, Georg : „Fragment § Filmerzählung § Film. Ein Film von Ferry Radax nach Thomas Bernhard“, in : Radax, Ferry : Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard (Begleitheft). Berlin 2010 : S. 37. Der Aufsatz von Höller/Schmied im Begleitheft zur Suhrkamp-DVD enthält die bislang ausführlichste Schilderung des Entstehungskontexts, sowohl hinsichtlich der Stellung des Films in Bernhards Gesamtwerk, als auch der Zusammenarbeit von Bernhard und Radax.
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verfilmen ?“, empörte sich Radax, der die Filmvorlage gemeinsam mit dem Kameramann Gerard Vandenberg zu einem brauchbaren Drehbuch umschrieb) 3 oder diese bewusst gemieden hat, ist jedenfalls zu sagen, dass gerade die Beschäftigung mit dem Filmbuch lohnt § nicht zuletzt deshalb, weil es aus formaler und rezeptionsästhetischer Sicht eine Sonderstellung im Werk des Autors einnimmt ; und wiewohl der Text zwar als Vorlage für Regisseur und Kameramann geschrieben wurde, lässt er sich ebenso gut als literarischer Text lesen, welcher verschiedene Merkmale mit anderen Texten Bernhards teilt, (wenn auch auf einer anderen, filmsprachlichen, Ebene sozusagen), die von Bernhards Reflexion des Mediums Films bzw. seiner Codes zeugen. Besonders augenfällig wird dabei Bernhards scharfsichtige Beobachtungsgabe, die § und das ist ein besonderes Charakteristikum des Filmbuchs § sich immer wieder in eine akribische Beschreibung der Dinge und ihrer Oberflächen steigert, wie sie einem auf diese Weise und mit dieser Beharrlichkeit sonst in Bernhards Texten nicht begegnet. Bernhard gibt § bei gleichzeitiger interpretatorischer Offenheit gegenüber den zu verfilmenden Bildern § erstaunlich genau vor, wie was auszusehen habe oder aus welchen Materialien die Filmrequisiten, Kleidung beispielsweise, zu sein hätten. Zwar handelt es sich um keine klassischen Regieanweisungen, dennoch (oder vielleicht gerade deshalb) lassen die Textvorgaben bei der Leserin den Eindruck enstehen, sie sähe den Film so, wie der Autor ihn imaginierte. Die Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur und dem Autor sollte allerdings nicht immer reibungslos verlaufen, wie Ferry Radax rückblickend feststellen musste : „Bernhard erschien in unserer Abwesenheit auf dem Drehort Schloß Wolfsegg in Oberösterreich, verwüstete die Dekoration der Küche, riß sie von den Wänden und telegrafierte dem Sender WDR nach Köln : ,Aufnahmen sofort stoppen. Regisseur total unfähig, hat nichts begriffen. Nun, soviel hatte ich begriffen, daß dieser Autor absolut unfair war, zu jeder Zusammenarbeit unfähig und immer darauf aus, andere in Kalamitäten zu bringen.“4 Nur widerwillig, so Radax, habe er den Film dennoch fertiggestellt. Nachdem Bernhard aber den fertig geschnittenen Film schließlich zum ersten Mal im Synchronstudio sieht, meint er „selbstironisch“ (wie Martin Wiebel in seinem Tagebuchbericht über ein Wagnis festhält), „daß es um jede Mark schade sei, die Radax zu wenig zur Verfügung gehabt hätte.“5 3 Vgl. Radax, Ferry : „Thomas Bernhard und der Film“, in : Pittertschatscher, Alfred (Hg.) : Thomas Bernhard. Literarisches Kolloquium Linz 1984. Linz 1985, S. 205. 4 Ebd., S. 204. 5 Wiebel, Martin : „Tagebuchbericht über ein Wagnis“, in : Radax, Ferry : Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard (Begleitheft). Berlin 2010, S. 55.
Zum Film Der Italiener von Thomas Bernhard und Ferry Radax
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2. Wolfsegg als literarischer Chronotopos Wolfsegg ist der Chronotopos, um welchen Bernhards gesamtes Werk bis hin zu Auslöschung jahrzehntelang kreist. In unserem Aufsatz wollen wir der Frage nachgehen, wie der Chronotopos des literarischen Textes in jenen des Films übersetzt wird und welche filmische Mittel es sind, die die Konstruktion dieses Ortes noch weiter zu erweitern und voranzutreiben vermögen. Radax, der Verstörung für Bernhards besten Text hielt,6 intensiviert im Film insbesondere die unheimlichen, oft geradezu unerträglichen Irritationen, die der Autor auf Wolfsegg ansiedelte und deren Ursachen in die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs und noch weiter zurückreichen. Wie in anderen Texten erweist sich Bernhard in Der Italiener als Porträtist einer posttraumatischen Landschaft, in der Krieg und Vernichtung ihre Blutspuren zurückgelassen haben. Sein Schreiben ist nichts anderes als „die literarische Erkundung des historischen Raums nach einer Katastrophe.“7 Bernhards „Ursachenforschung“ kam bereits früh vom Pfad des realistischen Erzählens ab und die subversive Abweichung von traditionellen Erzählchronologien und Handlungsverläufen sollte sich der selbsternannte „Geschichtenzerstörer“ im Verlauf seines literarischen Schaffens zum Markenzeichen machen.8 Er entwickelte ein Verfahren, das die Handlung der sinnlichen Intensität der sprachlichen Form und der erzählten Orte unterordnet. Bernhards poetisches Universum verdichtet sich umso mehr, je abstrakter und künstlicher der Erzählraum wird. Der Autor betont, dass es ihm nie nur um die Darstellung des äußeren Geschichtsverlaufs oder die Kritik an diesem zu tun war : „In meinen Büchern ist alles künstlich, das heißt, alle Figuren, Ereignisse, Vorkommnisse spielen sich auf einer Bühne ab, und der Bühnenraum ist total finster. […] § langsam kommen aus dem Hintergrund, aus der Finsternis heraus, Wörter, die langsam zu Vorgängen äußerer und innerer Natur, gerade wegen ihrer Künstlichkeit besonders deutlich zu einer solchen werden.“9 Auch auf Wolfsegg bildet das Theater ein Gravitationszentrum. Als der Schlossherrnsohn mit dem Italiener durch das Lusthaus stöbert, erkunden die beiden seine Requisiten, welche freilich, wie das Schloss selbst, „exemplarischen Charakter“ haben : wer von der Geschichte Wolfseggs erzählt, erzählt von der Geschichte Österreichs.10 6 Radax : „Bernhard und der Film“, S. 207. 7 Höller, Hans : „Sprache und Lebensform“, in : DerStandard/Album, 5./6. Februar 2011. 8 Thomas Bernhard im Filmporträt „Drei Tage“, abgedruckt in : Bernhard, Thomas : Der Italiener. Salzburg 1971, S. 152. 9 Ebd., S. 151. 10 Höller, Hans : Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 49.
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Vom Postboten bis zum Zimmermädchen, von der Köchin bis zum Fleischhauer sind auch die Personen des Films arrangiert wie eine Volkstheaterbesetzung § ein weiteres Zeugnis für den großen Einfluss, den das Theater auf Bernhards stets hatte. Erkennbar wird auch die Lust des Theatermachers Bernhards über seine Bühne zu regieren : „(…) all the men and women merely players / They have their exits and their entrances“11 § und auch in Bernhards Entwurf ist jeder klar an seinem Kostüm erkennbar. „Zuerst zeigte ich ihm die Kostüme der Reichen. Dann die Kostüme der Armen. Dann die Kostüme der Erhabenen. Dann die Kostüme der Lächerlichen.“12 Und nicht zuletzt die Überlagerungen von Theaterbühne und Aufbahrungshalle sind es, die uns § im Film durch zahlreiche Montagen impliziert § ans barocke theatrum mundi erinnern. Schloss Wolfsegg ist ein Ort, an dem das kollektiv Verdrängte wieder hervorbricht. Das Grab der von den Nazis erschossenen polnischen Soldaten auf einer Lichtung im Wolfsegger Wald hätte, gemäß der offiziellen Österreich-Doktrin und dem Motto des Ich-kann-mich-nicht-Erinnerns, im Verborgenen und am besten für immer verdrängt bleiben sollen. Doch die Verdrängung misslingt. Bereits im Erzählfragment aus den 60er-Jahren glaubt der Schloßerbe „dem Geschrei der an die Wand gestellten Polen nicht mehr entkommen zu können.“13 Seit mehr als zehn Jahren sei er nicht auf der Lichtung gewesen, erzählt er dem Italiener. Erst der Selbstmord des Vaters und die nach und nach auf Wolfsegg eintreffenden Begräbnisgäste hätten ihn dort wieder hingeführt. Entspricht dieser Sachverhalt nicht genau der Analyse Freuds, „daß das Unheimliche das Heimliche-Heimische ist, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist“ ?14 Auf das Unerträgliche, das verdrängt wird und als Unheimliches zurückkehrt, wollen wir uns in unserer Analyse der Film-Akustik und -Optik konzentrieren und dadurch zeigen, wie das Unheimliche mit filmischen Mittel inszeniert und die Verdrängung des Unerträglichen augenscheinlich gemacht wird. Das Unheimliche machte Sigmund Freud zum Thema eines vielbeachteten Aufsatzes : „Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und 11 „All the world’s a stage / And all the men and women merely players (…)“, beginnt der Monolog des Lord Jacques in Shakespeares Stück As you like it. 12 Bernhard, Thomas : „Der Italiener. Fragment“, in : Ders.: Der Italiener, Salzburg 1971, S. 132. 13 Ebd., S. 141. 14 Freud, Sigmund : „Das Unheimliche“, in : Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1919), S. 315.
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Gespenstern zusammenhängt.“15 So banal diese Aussage im Kontext des Gruselkinos und diverser Spätabendprogramme zunächst erscheinen mag, so politisch brisant und so unerhört ist sie im Zusammenhang mit der Erinnerungspolitik Österreichs, dessen offizielle Repräsentaten zum Zeitpunkt der Verfilmung alle österreichische Beteiligung und Schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen leugneten und sich bekanntlich noch in den späteren 80er-Jahren oft an nichts (mehr) zu erinnern vermochten. Daher müssen das Fragment und der Film Der Italiener § wie beispielsweise Steffen Vogt in seiner umfangreichen Analyse betont § als Bernhards literarische Reaktion „auf die Problematik des individuellen wie kollektiven Umgangs mit der NS-Vergangenheit in Österreich“ gelesen und gesehen werden.16 Julia Kristeva zufolge ist, in Anlehnung an Freud, das Unheimliche „zunächst Schock, Erfahrung von Ungewöhnlichem, Erstaunen ; und selbst wenn Angst hinzukommt, erhält das Unheimliche jenen Teil des Unbehagens, der das Ich, über die Angst hinaus, zur Depersonalisation führt.“17 Wir können also sagen, das Unheimliche ist eine Irritation, eine Verstörung, die ein Unbehagen auslöst, weil ihre Bedrohung von solcher Potenz ist, dass sie uns auszulöschen droht. Bernhard und Radax bewerkstelligen diese Irritation, indem sie die Orientierung in vertrauten Bewegungsumgebungen verweigern und uns eine verzerrte, verfremdete, bedrohliche Welt zumuten. Das Unheimliche, das Bernhard mit sensiblem Gespür auf Schloß Wolfsegg dingfest machte, führt im letzten großen Roman bis zur Auslöschung, bis zur Verabschiedung einer nicht länger erträglichen, von der Familie ererbten, österreichischen Identität, nach deren Auslöschung sich der befreite Protagonist neu erfinden muss. 3. Kurze filmtheoretische Überlegungen Für unsere Analyse des Bernhard-Radax-Films Der Italiener erweisen sich die Arbeiten des französischen Philosophen Gilles Deleuze als besonders geeignetes filmtheoretisches Gerüst. Filmgeschichtlich konstatiert und beschreibt der filmbegeisterte Deleuze in seinen beiden Bänden zum Kino einen epochalen cut, der mit dem italienischen Neorealismus und dessen Milieustudien zusammen15 Ebd., S. 318. 16 Vogt, Steffen : Ortsbegehungen. Topographische Erinnerungsverfahren und politisches Gedächtnis in Thomas Bernhards ,Der Italiener‘ und ,Auslöschung‘. Berlin, Bielefeld, München 2002, S. 220. 17 Kristeva, Julia : Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main 1990, S. 204.
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fällt und sich filmsprachlich durch das Anwachsen rein optischer und akustischer Situationen auszeichnet. „Rein optische und akustische Situationen können zwei Pole haben : einen objektiven und einen subjektiven, einen realen und einen imaginären, einen physischen und einen mentalen.“18 Das neorealistische Kino entwickelte Deleuze zufolge also ein filmsprachliches Vokabular, in dem Außenwelt und Innenwelt im andauernden Dialog sind § so wie auf Wolfsegg oder in Weng die Kälte und der Frost niemals nur die äußeren Naturerscheinungen, sondern stets auch die mentalen Zustände der Protagonisten und der Gesellschaft insgesamt beschreiben. Der Italiener passt nach unserer Auffassung in diese Tradition der italienischen Avantgarde, welche, mit den Begriffen von Deleuze gesprochen, das Zeit-Bild dem Bewegungs-Bild vorzieht und durch zwei spezifische Umkehrungen charakterisiert wird. Erstens konstituieren im Zeit-Bild nicht die Bewegungen die Zeit, sondern umgekehrt. Die Zeit-Bilder sind keine Handlungsbehälter, sie generieren Bewegungen. Der Wald-Spaziergang des Italieners mit Max, der sie wie zufällig hin zum Massengrab führt, ist hierfür das beste Beispiel. Max hat seine Souveränität eingebüßt gegenüber der übermächtigen Wiederkehr des Verdrängten und die Spaziergänger gelangen wie magnetisch angezogen auf die Lichtung mit den begrabenen Soldaten. Es ist also die Vergangenheit, deren virtuelle Präsenz § der Film blendet ja niemals in sie zurück § die unheimliche Atmosphäre des Orts erzeugt : der unkontrollierbare Sog der einander überlagernden Zeitschichten erfasst seine hilflosen Protagonisten.19 In den Zeit-Schichten, aus denen der Film sich aufbaut, ist das unerträgliche Grauen der Vergangenheit sedimentiert und verdichtet. Zweitens findet im Zeit-Bild eine Verdoppelung des Sehens statt : „die Figur wird selbst gewissermaßen zum Zuschauer“.20 Im Gegensatz zum BewegungsBild, bei dem die Bewegung des Geschehens unvermittelt auf uns trifft, werden wir im Zeit-Bild nur indirekt mit dem Geschehen konfrontiert. Zuseher und Zuhörerinnen sehen und hören, wie bereits weiter oben angedeutet, vermittelt durch andere, durch die Figuren des Films. In beiden Fällen wird durch Brüche im Sprechen und Denken eine „Verfremdung der Sprache“ 21 erreicht und 18 Deleuze, Gilles : Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main 1997, S. 21. 19 Deleuze bezieht sich mit seiner Theorie der virtuellen Anwesenheit der Vergangenheit auf den französischen Philosophen Henri Bergson. Für diesen ist jeder Augenblick ein „doppelter“ Augenblick, da er sich zugleich aus einer aktuellen Gegenwart und einer virtuellen Vergangenheit zusammensetzt. 20 Deleuze : Zeit-Bild, S. 13. 21 Höller : Bernhard, S. 74.
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eine Vermengung von inneren und äußeren Vorgängen, die die „intellektuelle Unsicherheit“22 dem Philosophieren mit exakten Begriffen vorzieht ; vieles auf Schloß Wolfsegg erscheint daher wie halluziniert. Das Verfahren wirkt wie ein Filter, der die Zuseher auf Distanz hält und daran hindert, ins Filmgeschehen hineinzukippen : wenn die Kamera durch den Schleier eines Begräbnisgasts blickt, wenn sie den Blick der um das Schloss tollenden Ministranten oder des vom Balkon beobachtenden Spaniers annimmt, wenn sie in einen Landvermesser schlüpft. Das indirekte Sehen und Hören im Film entspricht der indirekten Rede, dem durch seine Vermitteltheit gebrochenen Bericht, den wir aus Bernhards monologischer Prosa kennen. Schon in der allerersten Einstellung, wie sie Bernhard in seiner Filmvorlage imaginiert, tritt ein Landvermesser im Hubertusmantel auf und „beobachtet vollkommen unbeweglich, wie Landvermesser immer, wenn sie durchs Objektiv schauen, den Leichenwagen nach Wolfsegg hinauf.“23 Im Gegensatz zu Kafka erweckt bei Bernhard das Schloss den Eindruck, es sei von den Landvermessern bereits eingenommen worden ; sogar auf dem Dach des Herrenhauses befindet sich ein Stativ. Ihre Autorität, der sich selbst der Schlossherr fügen musste, gründet in ihrer Technik des Sehens, Beobachtens und Erspähens, ähnlich der Kunst derjenigen Schriftstellerinnen, welche die Gesellschaft durch ihr poetisches Panoptikon betrachten. Nur die junge Generation, deutet Bernhard an, vermag jedoch mit denen zu sympathisieren, die überall genau hinsehen : „Der Sohn zum Italiener : seit Jahren wird hier alles vermessen. Überall Stative, wohin man schaut, Stative. Aber das beunruhigt mich nicht. Mich nicht, meinen Vater hat das beunruhigt.“24 So als ob die Landvermesser etwas Verborgenes ans Licht bringen könnten. 4. Anmerkungen zur Filmoptik und Filmakustik Optisch ist zunächst die allgemeine Verdunkelung auf Schloss Wolfsegg festzuhalten, die dem Schweigen über die Nazi-Kriegsverbrechen korreliert. „Die Finsternis, die hier herrscht“,25 erschrickt der Italiener im Erzählfragment, eine 22 23 24 25
Freud : „Das Unheimliche“, S. 319. Bernhard : Der Italiener, S. 5. Ebd., S. 52. Bernhard : Fragment, S. 142.
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Finsternis, die in Szene zu setzen sich der Film besonders gut eignet. In Der Italiener sind Einflüsse des expressionistischen Kinos unübersehbar, das sich die Verwendung von Hell-Dunkel-Kontrasten zunutze machte, um virtuelle Dimensionen (lauernde Gefahren, schleichende Krankheiten usw.) ins Bild zu holen. Über Wolfsegg liegt ein Schatten, die Menschen frieren und verkriechen sich hinter Mauern, die Farben sind erbleicht, die Winterlandschaft ist karg und trostlos. Eine Landschaft, durch die erst vor kurzem der Tod gewandert sein mag. Schloss Wolfsegg und seine Umgebung können als Zustandsmetapher der österreichischen Seelenlandschaft nach der historischen Katastrophe des Nationalsozialismus angesehen werden, ist doch die Konsequenz des Bernhard-Radax-Verfahrens diejenige, dass Körperliches und Mentales voneinander ununterscheidbar werden. Schon Peter Handke notierte in einer Beobachtung über den Fürsten Saurau, dass, „was er von der Außenwelt erwähnte, (…) nur ein Zeichen seiner Innenwelt [war].“26 Das gilt auch für Wolfsegg. Die Kameraführung lässt die Bewegungsabläufe auf Schloss Wolfsegg aus den Fugen geraten und generiert verstörende Bewegungsmuster, für die jene Szene, in der in der Schlossküche das Frühstück für die Gäste zubereitet wird, als besonders gelungenes Beispiel dienen mag. Maschinenhaft arbeiten die Küchengehilfinnen an der Vorbereitung des Frühstücks, ein groteskes Procedere, das fremdgesteuert, unmenschlich und dadurch beängstigend wirkt. Was an Schloss Wolfsegg so unheimlich ist, wird wiederholt durch solche Erschütterungen alltäglicher Bewegungen und Wahrnehmungen und den filmästhetischen Bruch mit vertrauten Sehgewohnheiten erzeugt : Die Irritationen sind von einer verdrängten Vergangenheit regiert, deren virtuelle Anwesenheit die Welt der Gegenwart brüchig werden lässt.27 Im Film finden sich zahlreiche Zeit-Bilder im Sinn von Deleuze, da die Zeit des Nationalsozialismus natürlich stets präsent ist. Das Schlossgebäude selbst setzt sich aus mehreren Zeitschichten zusammen, die auch aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus stammen, alte Gemäuer und Wappen etwa, oder mittelalterliches Kriegsgerät. Von der nationalsozialistischen Vergangenheit des Schlosses erfahren wir nicht, indem der Film dorthin zurückblendet, sondern allein aus diesen vorhandenen Zeitschichten und schließlich aus den spärlichen Dialogen der Darsteller. Ein Kriegerdenkmal erinnert an die Gefallenen aus vergangenen 26 Handke, Peter : „Als ich Verstörung von Thomas Bernhard las“, in : Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Aufsatzsammlung. Frankfurt am Main 1972, S. 213. 27 Weitere Anmerkungen zur Kameraführung, die sich weitgehend mit unserer Interpretation decken, finden sich bei Höller/Schmied : „Fragment § Filmerzählung § Film“.
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Kriegen, „selbst in den Dingen ist die Erinnerung an die Gewalt enthalten.“28 In einer Einstellung, in der dichter schwarzer Rauch aus dem Schlosskamin steigt, so als geriete die Welt noch einmal in Brand, wird die Zeitschicht des Holocaust besonders bedrohlich. Das erinnerungspolitisch ohne Zweifel bedeutendste Zeit-Bild, das sich in Bernhards Werk auch an anderen Stellen findet und gleichsam den Nabel des Wolfsegg-Chronotopos bildet, ist aber jene Lichtung im Wald, auf der gegen Ende des Krieges eine Gruppe polnischer Soldaten erschossen wurde : „Ich konnte sogar in der Finsternis die Umrisse des Massengrabes, den ,hellen Fleck‘ im Gras sehen“.29 Höller/Schmied weisen darauf hin, dass gerade dieser Fleck im Gras auf die Gedächtnisthematik hindeutet und man ihn als „Kontrafaktur auf das ,sprichwörtliche Gras des Vergessens‘ verstehen“ kann.30 Die Exekution hat in der Landschaft ein Mal hinterlassen, sie bleibt virtuell anwesend und nur in den Köpfen der Zuseherinnen spulen sich die grauenhaften Szenen der Erschießung ab, während Max und der Italiener still durch den Wald spazieren. Auch im Kopf seines Vaters und Schlossherrn, deutet Max an, hätten sich die grausamen Szenen so lange wiederholt, bis dieser sich vor Verzweiflung in den Kopf schoss. Der Film verdeutlicht drastisch, dass über die nationalsozialistischen Verbrechen nicht so schnell Gras wachsen wird, selbst wenn manche dies gerne wollten. Manche Zeit-Bilder, wie jene Einstellungen, die den Spanier zeigen, enthüllen sich erst auf den zweiten Blick als solche. In der Klassifikation der Zeit-Bilder, die Deleuze vornimmt, definiert er eine der Bildkategorien dadurch, dass die Zeit-Bilder, die zu dieser Kategorie zählen, keine konkreten Erinnerungsbilder in uns wachzurufen vermögen. Diese Gruppe von Zeit-Bildern, zu denen wir wohl den Spanier zählen müssen, verrät sich in Form unabhängiger, entfremdeter, seelisch gestörter und in gewisser Weise larvenartiger Persönlichkeiten, befremdend aktiver, radio-aktiver Fossilien, die in der Gegenwart in der sie entstehen, unerklärbar bleiben und deshalb um so gefährlicher und eigenständiger sind. Nicht mehr um Erinnerungen, sondern um Halluzination handelt es sich. Der Wahnsinn und die gespaltene Persönlichkeit zeugen nun für die Vergangenheit.31
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Ebd., S. 31. Bernhard : „Fragment“, S. 139. Höller/Schmied : „Fragment § Filmerzählung § Film“, S. 31. Deleuze : Zeit-Bild, S. 151.
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Erscheint uns der in seinem Waffenrausch delirierende Spanier vielleicht deshalb so unheimlich, weil er uns § obzwar wir ihm keinerlei konkrete Erinnerung zuordnen können § dennoch mit etwas ganz und gar Unerträglichem konfrontiert ? Ist dieser, wie besessen mit Patronen und Gewehren jonglierende Waffennarr nicht weit unheimlicher, als ihn jede Verwicklung ins brutale Franco-Regimes erscheinen ließe ? Und gilt nicht für ihn auch Bernhards Vermutung aus einem späteren Interview : „Alle Menschen sind Monster, sobald sie ihren Panzer lüften.“32 So vage und unbestimmbar der Grund für das Vorhandensein des Spaniers bleiben muss, so unmöglich ist es, sich an alle Grauen und Schrecken der Vergangenheit im Detail zu erinnern : Bernhard und Radax denken die Zeit hier als gewaltsame und schreckenerregende Materie, als eine Mord- und Schlachtmaschine, die nicht mehr erinnert, sondern nur noch halluziniert werden kann. Kann es aus dem posttraumatischen Schock, in dem Bernhard die Gegenwart erstarrt sah, aber einen anderen Ausweg geben als den Wahnsinn ? Da wir diese Frage letztlich unbeantwortet lassen müssen, erscheint uns die Definition von Deleuze äußerst treffend. Alltäglicher und dabei dennoch viel Schockpotential in sich bergend erscheint uns hingegen der Vorgang einer anderen Einstellung § jener der Schlachtung einer Kuh. Der Film bildet detailgenau ab, was Bernhard in seiner Vorlage vorgibt : man solle sehen, wie schnell aus einem lebenden Tier Fleisch gemacht wird, „man sieht jetzt, man kann in einer knappen halben Stunde eine Kuh töten und aufhängen und zerlegen und aufbereiten, mit einem solchen geübten Fleischer haben wir es zu tun“.33 Auch diese Szene wird beherrscht von einer Vermitteltheit des Sehens : Das Filmpublikum wird Zeuge einer Schlachtung § in der Vorlage ist es die ziemlich genaue Beschreibung des Vorgangs durch den Autor, im Film ist es die reale Schlachtung eines Rindes durch einen Fleischer, der dabei gleichzeitig die Filmrolle des Dorffleischhauers übernimmt § und sieht sie durch den Blick zweier Ministranten, welche es dabei beobachtet, wie sie, heimlich durch die Tür der Fleischhauerei spähend, gefesselt dabei zusehen, „wie unter dem Schuß des Schlachtschußapparats eine Kuh zusammenbricht“.34 Das unmittelbar darauf folgende Auskehren und Säubern der Fleischerei („die Kamera zeigt das Rinnsal des Blutwassers“35) wird auch in den Film übernommen und mutet an wie das 32 Bernhard, Thomas : „Aus zwei Interviews mit Thomas Bernhard. Aufgenommen von Jean-Louis de Rambures“, in : Höller, Hans (Hg.) : Antiautobiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 16. 33 Bernhard : Der Italiener, S. 13. 34 Ebd., S. 12. 35 Ebd., S. 16.
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Saubermachen nach einem Mord § so wird „die Brutalität des Massenmordes [veranschaulicht]“.36 Katharina Dittes zieht in ihrer filmhistorischen Analyse der Szene einen Vergleich zu Sergej Eisenstein, der, um die Brutalität der Niederschlagung Streikender zu verdeutlichen, in seinem Film Streik ebenfalls Bilder einer Rinderschlachtung zwischen die Bilder der Niederschlagung montierte. Die Frage der Montage oder Bildfolge wurde von Jean-Luc Godard als die entscheidende Herausforderung des Filmemachers bezeichnet § wie werden zwei Einstellungen aneinandergereiht, damit ein Drittes aus dem Dazwischen dieser Einstellungen entsteht ? Diesen Umstand reflektierte auch Deleuze, indem er den Zwischenräumen zwischen den Bildern besondere Aufmerksamkeit schenkte. Ronald Bogue bemerkt dazu : „In the modern cinema the gap takes on a value of its own. A rational cut between shots gives way to an irrational cut, a cut that privileges the space between shots. The principle that governs the composition of film in the modern cinema is one of selecting images that produce gaps.“37 In Der Italiener werden gaps gezielt eingesetzt : sie destablisieren die herrschenden Verhältnisse und unterbrechen die rationale Ordnung. Die Bilder springen hin und her zwischen dem Zeremoniell des Begräbnisses und der Requisitenkammer des Lusthauses, zwischen dem Italiener und dem Spanier, zwischen dem scherzenden Taxi-Fahrer und dem im Wald spazierenden Philosophen usw. Die gaps zwischen den Bildern erlauben es oftmals nicht, Fixierungen vorzunehmen, denn so wie der Film Brüche zwischen dem Akustischen und dem Visuellen nutzt, um uns zu irritieren, nutzt er die Bildfolge, um Unsicherheiten ins Spiel zu bringen, nicht entscheidbare Streitgespräche zwischen dem Karnevalesken und dem Geistesaristokratischen, zwischen dem Feinsinnigen und dem Brutalen. Die Welt wird in Bruchstücken geliefert, an denen man sich nicht festhalten kann, um einen heilen Blick auf das Ganze zu erlangen. Wiewohl diese gaps der ästhetischen Idee Bernhards sicherlich entgegenkommen, auch indem sie die sinnliche und dingliche Intensität der einzelnen Einstellungen steigern, sind sie zum größten Teil ein Ergebnis der Arbeit von Radax und seinem Team. In Bernhards Vorlage finden sich nämlich nur wenige Instruktionen zur Bildfolge, die in Der Italiener fast immer eine ganz andere ist als die in der Vorlage angedeutete, der die Dynamik des Films aber zu einem 36 Dittes, Katharina : „Der leibhaftige Tod. Die ,Fleischereiszene‘ in Thomas Bernhards ,Der Italiener‘ im kunst- und filmhistorischen Kontext“, in : Thomas Bernhard Jahrbuch 2007/08. Wien, Köln, Weimar 2009, S. 137. 37 Bogue, Ronald : „Gilles Deleuze“, in : Livingstone, Paisley/Plantinga, Carl (Hg.) : The Routledge Companion to Philosophy and Film. New York 2009, S. 374.
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großen Teil geschuldet ist. Äußerst detailliert schildert Bernhard hingegen die Geräusch- und die Dingwelt auf Wolfsegg. Die Geräuschkulissen des Films sind durchwegs irritierend und nicht ins Bild einzuordnen, weshalb Deleuze auch in diesen Fällen von gaps spricht, gaps zwischen Bild und Ton. Sie sind gleichsam das verstörende Eigenrauschen Wolfseggs, eine Irritation, die die Figuren immer wieder aufschauen und aufhorchen lässt, und haben oft maschinenhaften Klang : beispielsweise hört man, während einer Szene, in welcher die Leichenbestatter Kränze und Kissen ins Schloss bringen, kurz eine Kreissäge aufheulen, man hört eine ins Stocken geratene Lokomotive und ein unheimliches, mechanisches Geräusch ist auch zu hören, wenn der Spanier seine behandschuhte Prothese im Gelenk zurechtdreht. Das akustische Markenzeichen des Films sind allerdings die Schüsse, die immer wieder durchs Bild hallen. Unschwer ist erkennbar, dass die akustischen Zeichen des Films eine integraler Bestandteil der Zeit-Bilder sind, in denen die Vergangenheit mitschwingt. Von diesen, in der Filmvorlage genau beschriebenen Geräuschen abgesehen, wollte Bernhard, dass „in diesem Film immer nur die Geräusche in der Natur, von Natur aus, wenn nicht ausdrücklich anders angemerkt, sonst nichts“ vorkommen.38 Er beschreibt alltägliche Geräusche als überdeutlich hörbar, die Geräusche des Gehens etwa, oder das Zuschlagen einer Autotür will Bernhard „auffällig kräftig und dadurch auffallend laut“ umgesetzt wissen. 39 Im Fall der Akustik war sich Bernhard wohl bewusster als bei den Bildfolgen, welch unheimliche Effekte sich mit ihr erzielen lassen. Die folgende Pfarrerszene liefert ein gutes Beispiel für die Nutzung des Zusammenspiels von Bild und Ton, wie Bernhard sie vorsah. Das Medium Film und dessen akustische Möglichkeiten werden von ihm optimal genutzt und das, was im Text nur beschrieben werden kann, spüren wir im Film noch intensiver und unmittelbarer § obwohl es durchaus Szenen gibt, in denen Bernhards konsequente, literarische Verarbeitung des akustischen Codes nicht so intensiv umgesetzt werden konnte, wie sie in seiner Vorlage auf uns wirkt : Ist der Pfarrer an der Mariensäule, plötzliches Aufschreien von Hunderten von Schweinen rechts im Hintergrund, das sich zunehmend zu einem furchtbaren Schweinegebrüll wie von Tausenden von Schweinen steigert, in Schüben, während die Kamera unbeweglich auf dem leeren Dorfplatz bleibt und den leeren Dorfplatz immer eindringlicher, wenn auch immer noch unbeweglicher, starrer, zeigt, das Schweinegebrüll bekommt eine In38 Bernhard : Der Italiener, S. 5. 39 Ebd., S. 6.
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tensität, wie es sie nur in riesigen Mastanstalten, (oder in St. Marx) wo Tausende wenn nicht Zehntausende von Schweinen gleichzeitig gehalten werden, bekommen kann, es ist, hört sich an, als wenn plötzlich Zehntausende von Schweinen gleichzeitig gefüttert werden.40
Weitere für Verstörung sorgende Merkmale der Akustik sind die Überlagerung verschiedener Tonspuren § etwa wenn sich in die klassische Musik des Italieners das Geläute von Kirchenglocken oder Hühnergackern mischen § und die musikalischen Kontraste zwischen Bartók und dem dörflichen Trauermarsch. Die klassische Musik, die aus dem Plattenspieler strömt, übertönt immer wieder das Geschehen und streitet gegen den holprig vorgetragenen Trauermarsch an, der in einem Dorfgasthaus eingeübt wird, in dem während der Marschprobe die Spuren eines Festes, wohl eines Faschingsfestes, beseitigt werden und das deshalb, wie die Schlossküche, als ein Pol des Karnevalesken, das in Der Italiener an mehreren Stellen auftaucht, betrachtet werden kann. Die gesprochene Sprache wird auf ein Minimum beschränkt. Interessant und bezeichnend ist allerdings, wo gesprochen wird, denn analysiert man den Film dahingehend, wird deutlich, dass, wenn gesprochen wird, es sich, bis auf einige wenige Dialoge § vor allem den Dialog des Italieners mit Max §, fast ausschließlich um Anweisungen und einige dialektale Einsprengsel handelt : „schautsweidakemmts“.41 Die Sprache bildet die Hierarchien, die unverrückbar scheinen und das gesamte Personengefüge strukturieren, noch einmal ab. Beim Gesprochenen handelt es sich entweder um Anweisungen der Herrschaft gegenüber dem Personal oder um Befehle zwischen den Angestellten ; jemand schafft an oder wird zurechtgewiesen. In einem der wenigen Dialoge wird dieses Gesellschaftsgefälle explizit thematisiert, wenn ein Gast einem anderen darlegt, dass es verschiedene Kategorien von Gästen gebe : die erste, die im Schloss untergebracht sei, die zweite, die im Dorfhotel wohne und zu der sie sich selbst zählen und lachend festhalten, es gebe ja sogar noch eine dritte. Das einzige Mal, wo der Pfarrer im Film spricht, schimpft er mit den über die Gasse laufenden Kindern. Lediglich der grobschlächtige Hausbursch widersetzt sich den starren Hierarchien ; so sieht die Schwester des Verstorbenen nur ohnmächtig zu, als er sich Obst von der Festtagstafel in die Taschen steckt und seine Zigarette in einem Sektglas ausdämpft. Die Köchen bezeichnet ihn als „Vieh“, als er ein abgehacktes Hühnerbein zwischen den Frühstückstassen tanzen lässt und dazu tierische 40 Ebd., S. 14. 41 Ebd., S. 13.
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Geräusche nachäfft, und mehrmals als „Drecksau“. Sein Widerstand gegen die Herrschaft und die Befehle der anderen steht für ein weiteres karnevaleskes Moment des Films, der gesellschaftliche Emanzipation völlig ausblendet. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang § wenn hier auch nicht mehr näher darauf eingegangen werden kann § ist schließlich, dass Frauen fast durchwegs dienende Rollen innehaben, von der Schwester abgesehen, die selbst permanent mit dem Aufrechterhalten einer Fassade beschäftigt ist und beim Herrichten des Leichnams einzig und penibel darauf achtet, dass alles perfekt wirkt. Im Film wirken diese Frauenfiguren, nicht zuletzt durch die Farblosigkeit der Kulisse, durch die sie eilen, noch trister und verlorener, wie etwa Fanny, das Hausmädchen, wenn sie, mit einem Wäschekorb über die Wiese eilend, stürzt und sich am Handgelenk verletzt. Eine genauere Analyse der Frauenrollen im Film würde sich lohnen. Freuds Begriff des Unheimlichen, der auf der Verdrängung des Unterträglichen aufbaut, erweist sich, resümierend, als treffliche Kategorie, um die Zustände auf Schloss Wolfsegg zu erfassen. Wir meinen in unserer Filmanalyse eine Reihe von Verfahren identifiziert zu haben, mit denen das Unheimliche und die Verstörung filmisch inszeniert werden. Insbesondere die von Deleuze in die Filmtheorie eingeführte Kategorie der Zeit-Bilder, in denen, wie sich herausstellte, die nationalsozialistische Vergangenheit Wolfseggs sich abgelagert hat und virtuell weiterhin präsent ist, sowie die irritierenden Bildfolgen und Geräuschkulissen, die die gesamte Atmosphäre des Films charakterisieren, machen die Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen sinnlich spürbar. Das Fehlen von Dialogen intensiviert die Bildsprache und die Geräuschwelt des Films zusätzlich und steigert die sinnliche Dimension des Unheimlichen. 5. Der schwache Trost der „Augenblicksutopien“42 Wenn wir bedenken, dass Franz Josef Murau, der Schlosserbe in Bernhards Roman Auslöschung, nach Rom ausgewandert ist, um der unerträglichen Atmosphäre Wolfseggs zu entfliehen, so können wir am Ende dieses Aufsatzes nicht umhin, im Italiener des Films eine Art von Verführer zu erblicken. Denn ist nicht er es, der Max nach Italien einlädt, ihn dort zu besuchen ? Der Italiener durchbricht den stumpfen Trott der Marschmusikprovinz, betritt als „Geistesmensch“ die Bühne, der über die Bestimmung des Weltgeists philosophiert und sich außerhalb des Schlosses wohler fühlt als im Inneren inmitten der geladenen Trauergäste. 42 Höller : Bernhard, S. 79.
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Der Italiener ist eine Gegenutopie, kunstsinnig, leicht, wie es die Bartók-Musik andeutet, die ihn umgibt, und wie es auch die Atmosphäre zwischen Max und ihm ist. Allerdings wirkt auch der Italiener auf Wolfsegg verloren ; seine gescheiten, hegelianischen Exkurse werden schlagartig dort unterbochen, wo Max über den Massenmord an den Polen erzählt oder § eine der vielen gelungenen Beifügungen des Regisseurs Radax § von dem Jagdhaus, in dem sich alle paar Jahre ein Jäger erschießt, Selbstmorde, die rätselhaft und erklärungsbedürftig bleiben und ohne ersichtliche Gründe geschahen. Die Figur des kunstsinnigen Italieners, der in der finsteren Waldumgebung, während er gelehrig Philosophie doziert, eine Orange schält, dekonstruiert den italienischen Mythos eher, denn dass sie einem Repräsentanten aus Goethes gelobtem Land gleicht. Die Bildmontage springt von den zu Boden gefallenen Orangenschalen, die wir dort vor unserem geistigen Auge schon verwesen sehen, zu den Patronenhülsen des Spaniers : ein gap, der die Brüchigkeit, man könnte meinen, Geschwätzigkeit der intellektuellen Welterklärungen an einem Ort wie Wolfsegg deutlich macht. Der Rückzug in die Ästhetik scheint zu misslingen, der (von Radax hinzugefügte) Aufruf zur Lebenslust : „Andiamo vivere !“ führt nicht weiter als von der Aufbahrungshalle aufs Massengrab. Am Ende bleibt auch der Italiener entgeistert zurück, auch er weiß (im Fragment) „kein Mittel, sich selbst zu entfliehen“,43 und greift sich (im Film) am Ende an den Kopf, „als ob er keinen Gedanken hätte.“44 Radax, der in Der Italiener lieber einen konventionellen, denn einen experimentellen Film sehen will,45 scheint mit der Bernhard’schen Geistesaristokratie noch schonungsloser umzugehen, als der Autor selbst, der der intellektuellen Selbstkritik keineswegs abgetan war und der Möglichkeit des Scheiterns im Denken, in der Kunst, im Schreiben gegenüber nicht blind, dies vermocht hätte. Die intellektuelle Ausweglosigkeit ist eine letzte Unheimlichkeit Wolfseggs, aber vielleicht bei weitem nicht die geringste. Literaturverzeichnis Bernhard, Thomas : Der Italiener. Salzburg 1971. Bernhard, Thomas : „Der Italiener. Fragment“, in : Ders.: Der Italiener. Salzburg 1971, S. 129§142. 43 Bernhard : „Fragment“, S. 142. 44 Bernhard : Der Italiener, S. 94. 45 Radax : „Bernhard und der Film“, S. 205.
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Bernhard, Thomas : „Drei Tage“, in : Ders.: Der Italiener. Salzburg 1971, S. 144§161. Bernhard, Thomas : „Fragment, in : Ders.: Der Italiener. Salzburg 1971, S. 162§163. Bernhard, Thomas : „Aus zwei Interviews mit Thomas Bernhard. Aufgenommen von JeanLouis de Rambures“, in : Höller, Hans (Hg.) : Antiautobiographie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 13§18. Bogue, Ronald : „Gilles Deleuze“, in : Livingstone, Paisley/Plantinga, Carl (Hg.) : The Routledge Companion to Philosophy and Film. New York 2009, S. 368§377. Deleuze, Gilles : Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main 1997. Dittes, Katharina : „Der leibhaftige Tod. Die ,Fleischereiszene‘ in Thomas Bernhards ,Der Italiener‘ im kunst- und filmhistorischen Kontext“, in : Thomas Bernhard Jahrbuch 2007/08. Wien, Köln, Weimar 2009, S. 137§151. Freud, Sigmund : „Das Unheimliche“, in : Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1919), S. 297§324. Handke, Peter : „Als ich Verstörung von Thomas Bernhard las“, in : Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Aufsatzsammlung. Frankfurt am Main 1972, S. 211§216. Höller, Hans : Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 2000. Höller, Hans : „Sprache und Lebensform“, in : DerStandard/Album, 5./6. Februar 2011. Höller, Hans/Schmied, Georg : „Fragment § Filmerzählung § Film. Ein Film von Ferry Radax nach Thomas Bernhard“, in : Radax, Ferry : Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard (Begleitheft). Berlin 2010, S. 16§44. Kristeva, Julia : Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main 1990. Vogt, Steffen : Ortsbegehungen. Topographische Erinnerungsverfahren und politisches Gedächtnis in Thomas Bernhards „Der Italiener“ und „Auslöschung“. Berlin, Bielefeld, München 2002. Wiebel, Martin : „Tagebuchbericht über ein Wagnis“, in : Radax, Ferry : Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard (Begleitheft). Berlin 2010, S. 46§55.
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Die Abschaffung der Welt Zu Thomas Bernhards Der Weltverbesserer
„Und es ist eine Narrheit sondergleichen, Sich einzumischen, um die Welt zu bessern.“1
Diese Warnung lässt Molière in seinem Stück Der Menschenfeind von Philinte aussprechen. So wird schon in der Exposition die Hauptfigur Alceste als Menschenfeind, Weltverbesserer und Narr charakterisiert. Diese Charakterisierung könnte auch für Bernhards Hauptfigur in seinem Stück Der Weltverbesserer zutreffend sein. Der Unterschied zwischen Menschenfeind und Weltverbesserer ist, wenn man die Theatertradition beachtet, nicht so groß, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. So überrascht es auch nicht, wenn es in dem medial vermittelten Bild Bernhards anlässlich seines 80. Geburtstags zu einer Verschiebung kommt und er nicht mehr vor allem als Nestbeschmutzer und Menschenfeind, sondern als ein Weltverbesserer dargestellt wird.2 Überraschend hingegen ist, dass das Bild des Weltverbesserers in populistischen Darstellungen zwar bedient wird, es aber trotz Unmengen an Sekundärliteratur zu Bernhards Werk kaum ausführliche literaturwissenschaftliche Studien zu diesem Stück gibt. Eingehend wissenschaftlich bearbeitet sind einzelne Romane oder sein gesamtes dramatisches Werk, Studien zu den einzelnen Stücken § ausgenommen zu Heldenplatz § sind jedoch rar. Der folgende Artikel soll einerseits dazu beitragen, diese Lücke zu schließen, andererseits soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass Bernhards Positionen in Bezug auf soziale und politische Fragen nicht ausschließlich aus der Figurenrede erschlossen werden können, sondern auch andere Aspekte der Texte wie Struktur und Genre berücksichtigt werden sollten. Bei dramatischen 1 Molière : Der Menschenfeind. Stuttgart 1993, I/1. 2 Wenn Peter Laemmle im Jahr 1974 Bernhard unhinterfragt als „Misanthrop“ bezeichnete, bezeichnete Martin Esslin im Jahr 1981 in seinen Bemerkungen zum Stück Der Weltverbesserer Bernhard zwar als Menschenfeind, führte die Bezeichnung jedoch auf Bernhards öffentliche Selbstdarstellung zurück. Vgl. Laemmle, Peter : „Stimmt die ,partielle Wahrheit‘ noch ? Notizen eines abtrünnigen Thomas Bernhard-Lesers“, in : Text+Kritik, 43, Juli 1974, S. 45§49, S. 49 ; Esslin, Martin : „A Drama of Disease and Derision : The Plays of Thomas Bernhard“, in : Modern Drama 23, 4, 1981, S. 367§384, S.382.
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Texten mag das eine Selbstverständlichkeit sein, doch gerade Bernhards Stücke, die oft von der weitgehend monologischen Rede einer Figur dominiert werden, können Probleme aufwerfen, da diese Figurenrede allzu leicht mit der Stimme des Autors gleichgesetzt wird.3 Doch gerade das suspekte Weltverbesserungskonzept von Bernhards Weltverbesserer lässt eine derartige Interpretation nicht ohne weiteres zu. So stellte schon Dirk Jürgens im Zusammenhang mit diesem Stück fest : „Der Protagonist verkündet nicht etwa die ‚Aussagen‘ des Textes oder gar seines Autors.“4 Wendelin Schmidt-Dengler hat in seinem Artikel zur Typologie der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard festgestellt, dass innerhalb der Literaturwissenschaft eine „[a]bsolute Hilflosigkeit (des Denkens)“ 5 über das Werk von Bernhard herrscht. Trotz guter Gründe für diese Hilflosigkeit, die er in seinen Forschungsarbeiten anführt, wirkt seine Feststellung nicht entmutigend. Sich aber weiterhin mit Bernhards Werk zu beschäftigen, bedeutet seitdem auch, sich weiterhin die Frage zu stellen, warum es immer wieder zu dieser Hilflosigkeit kommt. Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre : Es ist so schwer über Bernhards Werk nachzudenken, weil es in seinem Werk immer um das Denken selbst geht. Also um die Frage, wie lässt sich das Denken denken ? Und weiter : Wie lässt sich das Denken aussprechen ? Oder gar : Wie lässt sich das Denken des Denkens aussprechen ? Im Gespräch mit Krista Fleischmann sagte Bernhard : „Innere Vorgänge, die niemand sieht, sind das einzige Interessante an der Literatur überhaupt. Alles Äußere kennt man ja.“6 Aber auch da ist Bernhard wählerisch und anspruchsvoll : BERNHARD […] Ich weiß ja nicht, was in Ihnen jetzt vorgeht, das wär’ ganz interessant, wenn’s etwas Besonderes ist, wenn’s etwas Simples ist, hat’s auch keinen Sinn. Wenn S’ jetzt denken, ‚wo trink ich gern eine Milch jetzt ?‘, das wird auch kaum jemanden interessieren, aber wenn Sie jetzt denken, ‚wo trink ich jetzt gern eine Milch und verschaff ’ mir ein Sprengmittel, um den Prado in die Luft zu jagen ?‘ […] Das ist toll, das interessiert die Leute. 3 Früh schon wurden auch Bernhards Theatertexte als Aussagen des Autors gelesen. So verurteilte ihn Mennemeier gerade deshalb : „Formal ästhetisch zwar, nicht jedoch inhaltlich vermag Bernhard sich selber zu transzendieren.“ § Mennemeier, Franz Norbert : Modernes Deutsches Drama 2. München 1975, S. 307 4 Jürgens, Dirk : Das Theater Thomas Bernhards. Frankfurt am Main, Wien 1999, S. 226. 5 Schmidt-Dengler, Wendelin : Der Übertreibungskünstler. Wien 2010, S. 236.ff. 6 Bernhard, Thomas : Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Frankfurt am Main 2006, S. 151.
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[…] fleischmann Denken Sie solche Sachen ? BERNHARD Na sicher. Ich bin ja ein denkender Mensch. Das sind interessante Sachen.7
Schwierig wird es, weil Bernhard nicht nur interessiert, was gedacht wird, sondern auch, wie es gedacht wird. Wie das Denken voranschreitet, wie es sich in Endlosschleifen verfängt, in Widersprüche verstrickt, zu sich selbst kommt und wieder voranschreitet. Doch um bei dem Was zu verbleiben : Was ist interessant ? Interessant ist sicher, wenn das Denken auf Politik trifft ? Welche Folgen könnte das Denken für die Politik und die Gesellschaft haben ? Und weiter, welche Folgen könnte ein reflektiertes, um sich selbst wissendes Denken für Politik und Gesellschaft haben ? Der erste, spontane Gedanke dabei wäre wohl nicht nur bei Bernhard, an ein Sprengmittel, der Gedanke, etwas in die Luft zu jagen. Schon in den frühen 1970er-Jahren wurde Bernhard des „anarchischen Konservativismus“ 8 bezichtigt, wobei das damals durchaus apologetisch gemeint war und sich auf seine frühe Ablehnung der „proletarischen Weltrevolution“ bezog, die er als „verheerende und vernichtende Menschheitsentwicklung“9 bezeichnet hatte. In den 1970erJahren, als es im Westen unter Literaten und Literaturwissenschaftlern Mode war, der kommunistischen Partei beizutreten (um in den 1980er-Jahren wieder auszutreten), wurde eine solche Apologie notwendig. Inzwischen verbindet man den Gedanken an Sprengstoff nicht mehr mit Anarchismus, sondern eher mit dem fundamentalistischen Terrorismus. Aber auch das zeigt, Bernhard hatte recht : Es ist immer noch ein interessanter Gedanke. Weniger explosiv, aber dennoch höchst politisch und überaus interessant ist auch der Gedanke an die Verbesserung der Welt. Im Stück Der Weltverbesserer lässt Bernhard seine Hauptfigur, der er keinen anderen Namen gibt als den Spitznamen Weltverbesserer, darüber nachdenken. Er macht es ihm jedoch nicht leicht. Auf einer Ebene lässt er ihn über die Weltverbesserung nachdenken. Auf der zweiten Ebene lässt er ihn dieses Denken beobachten, 7 Ebd., S. 151f. 8 Schweikert, Uwe : „Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert“, in : Text+Kritik, 43, Juli 1974, S. 1§8, hier S. 1. 9 Bernhard,Thomas : „Politische Morgenandacht“, in : Wort in der Zeit 12, 1966, H. I, S. 11§13, hier S. 11.
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also über das Nachdenken über die Weltverbesserung nachdenken. Und um es noch spannender zu machen, lässt er ihn ständig zwischen diesen zwei Ebenen lavieren. „Wenn wir denken / sind wir stark“, so denkt er über das Denken, also auf der Ebene des das Denken beobachtenden Denkens, und weiter denkt er wieder auf der ersten Ebene, „wenn wir handeln / unfähig / es gelingt uns nichts“.10 Bernhards Weltverbesserer widmete sich also dem Gedanken an die Weltverbesserung und schrieb dazu ein Traktat, in dem er jedoch feststellen musste : „Wir können die Welt nur verbessern / wenn wir sie abschaffen“.11 Betrachtet man die Geschichte der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts, muss man feststellen, dass ihre Weltverbesserungsprojekte beinahe in eine Weltvernichtung führten. Zwar fällt es heute schwer, im Nationalsozialismus einen Weltverbesserungsgedanken zu sehen, doch für die Mengen, die sich für Arier hielten, war dieser Gedanke wohl durchaus ersichtlich und überzeugend. Im Initialgedanken der „proletarischen Weltrevolution“ ist dieser Ansatz noch eher zu erkennen, aber Bernhard lehnte auch diesen Weg ab. Konsequent zu Ende gedacht, führten beide Gedanken zur Katastrophe. Oder, wie der Weltverbesserer es formuliert : „Alle Wege führen unweigerlich / in die Perversität / und in die Absurdität“.12 Dass Bernhard den Nationalsozialismus in Österreich kritisierte, wurde so oft erwähnt, dass es andere Dimensionen seines Schreibens in den Schatten gestellt und seine Rezeption über die Grenzen Österreichs und des deutschen Sprachraums lange erschwert hat, da es als spezifisch österreichisches Phänomen als Nischenprodukt geführt wurde. Deshalb sollte man betonen, dass er nicht nur den Nationalsozialismus kritisiert, und zwar nicht nur wegen der aus der Geschichte ersichtlichen Folgen, sondern dass er alle Ideologien kritisiert, die den Anspruch einer Weltverbesserung erheben, und zwar weil er in diesem Gedanken schon im Ansatz die gleichzeitige Anwesenheit seines Gegensatzes entdeckt : Der Gedanke an Weltverbesserung kann in sich schon den Ansatz des Gedankens an Weltvernichtung bergen. Der innere Konflikt des Weltverbesserers wird im Stück durch ein besonderes Ereignis sichtbar gemacht : Die Universität will ihm für seinen Traktat den Ehrendoktor verleihen. Nun fragt er sich, ob die ehrenwerten Herren ± der Rektor, der Dekan und die Professoren ± ihn verstanden haben. „Mein Traktat will nichts 10 Bernhard,Thomas : Stücke 3. Frankfurt am Main 1988, S. 168. 11 Ebd., S. 177. 12 Ebd.
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anderes / als die totale Abschaffung / nur hat das niemand begriffen“ und später : „Oder glaubst du sie haben meinen Traktat verstanden“.13 Beides wäre gleichermaßen schrecklich, pervers und absurd. Wenn sie ihn nicht verstanden haben, dann sind diese hellsten Köpfe der bürgerlich institutionalisierten Klugheit nicht klüger als die perversen Ideologen jeglicher Couleur, weil sie nicht einmal seinen im Traktat bereits entfalteten Gedanken nachvollziehen können. Andererseits wäre es nicht weniger schrecklich, wenn sie ihn verstanden hätten und ihn trotzdem auszeichnen wollten. Das hieße entweder, sie sind so pervers, dass sie die Verbesserung der Welt um den Preis ihrer Abschaffung akzeptieren, oder sie sind so pervers, dass sie in dem Traktat den Beweis für die Sinnlosigkeit der Versuche, die Welt zu verbessern, sehen und den Traktat so als intellektuelle Entschuldigung ihrer inerten Haltung nutzen. Es ist gleichermaßen abscheulich, wenn man die Welt verbessern will, trotz des Wissens, dass dies zu ihrer Vernichtung führt, wie auch, wenn man alle Verbesserungsversuche unterlässt, weil man um die Undurchführbarkeit solcher Bestrebungen weiß, und einfach zusieht, wie die Welt sich selbst abschafft. Alle drei Positionen der Bernhardschen Professoren sind abschaffungswürdig, deshalb sagt der Weltverbesserer auch : „Ich will sie abschaffen / und sie zeichnen mich dafür aus“.14 Bernhards Stück lässt sich so als Kommentar auf die historischen Verhältnisse lesen, als Analyse der Rezeption von Hitlers Traktat im gebildeten Bürgertum der Vorkriegszeit. Dass sich Bernhard davon distanziert, stellt Dirk Jürgens fest, indem er auf „die Brüche, die in der Werkstruktur angelegt sind“ verweist,15 und Interpretationen, die in dem Stück „eine literarische Ideologie der Menschheitsauflösung“16 oder „die Anti-Utopie schlechthin“17 sehen, verwirft. Jürgens sieht in dem Stück eine „Kritik an der Rezeption der Kritischen Theorie“ durch die bürgerlich-liberalen Schichten in den 1970er-Jahren.18 Doch der Text ist komplexer, geht über die historischen Aspekte hinaus und stellt Fragen, die grundsätzlich sind und die jeweilige Gegenwart und Zukunft betreffen, obwohl es eigentlich heißt : „Wir haben keine Zukunft“.19 Kann und 13 14 15 16 17
Ebd. Ebd. Jürgens : Theater Bernhards, S. 226. Struck, Volker : „menschenlos“. Frankfurt am Main 1985, S. 160. Görner, Rüdiger : Gespiegelte Wiederholungen. Zu einem Kunstgriff von Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 1997, S. 121. 18 Jürgens : Theater Bernhards, S. 227. 19 Bernhard : Stücke 3, S. 168.
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soll man angesichts dessen, dass wir keine Zukunft haben und dass sich die Welt nicht verbessern lässt, darüber nachdenken ? Und wenn ja, wie ? So wie der Weltverbesserer zwischen verschiedenen Ebenen des Nachdenkens wechselt, schwankt er auch zwischen Resignieren und Insistieren : „Ich glaube nicht / daß es gehen wird“, „Aber ich gebe nicht auf/niemals“.20 Auch dabei beobachtet er sich und sieht beides, also das Resignieren und Insistieren, in einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit : „wenn wir aufgeben / sind wir tot / Ich bin ein Gespenst / […] / Aber ich gebe nicht auf“.21 Er sieht sich also wegen der Resignation als bereits gestorben, sein Insistieren jedoch lässt seinen Tod nicht zu, wodurch das Bild eines Gespensts entsteht, eines Untoten, in dem das Aufgeben und das Nicht-Aufgeben sich vereinen. Die zitierte Stelle aus der zweiten Szene, in der das Gespenst seinen inneren Widerspruch verbildlicht, bezieht sich gestisch auf das Gehen, das er während des Sprechens, mit Hilfe der Krücken, gestützt von der Frau, durchzuführen versucht. In der fünften Szene, in Anwesenheit der Delegation, spricht er wieder über das Aufgeben, doch bezieht es sich nun unmittelbar auf das Denken, und zwar auf das Denken im Allgemeinen und im Besonderen auf das Denken, „wie die Welt zu verbessern sei“.22 Der Rektor führt die erste Person Plural ein, der Weltverbesserer übernimmt sie und formuliert eine Art ethischen Imperativ : „Wir dürfen nicht nachlassen/und wir dürfen nicht aufgeben“. „Auch wenn wir immer wieder zutiefst verzweifeln“.23 Sein Standpunkt bleibt eindeutig. Der Weltverbesserer lässt, trotz temporärer Verzweiflung, keinen Zweifel an der Notwendigkeit des Denkens zu. Die Beantwortung der Frage nach dem Wie, also der Art und Weise des Denkens, überlässt Bernhard an dieser Stelle den Gelehrten : REKTOR Wir müssen einen einzigen Gedanken Zu unserem zentralen Gedanken machen Und diesen Gedanken ausdenken DEKAN wiederholt Ausdenken PROFESSOR und BÜRGERMEISTER zusammen Ausdenken24 20 21 22 23 24
Ebd., S. 138f. Ebd., S. 139. Ebd., S. 181. Ebd. Ebd.
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Der Abschnitt dient in erster Linie einer ironischen Charakterisierung der Gelehrten, die in den Wissenschaften grundsätzlich sprachliche Doppeldeutigkeiten meiden sollten, sie hier aber der universitären Hierarchie entsprechend unterwürfig wiederholen. Die Wiederholung hebt die Doppeldeutigkeit hervor, da sie eine stilistischen Nachlässigkeit oder einen Versprecher der Schauspieler bei einer Aufführung ausschließt. So erscheint ein konsequent zu Ende gedachter Gedanke als etwas Erfundenes, also in gewisser Weise als Fiktion. Da es die Gelehrten sind, die das zu Ende Denken und gleichzeitig das Erfinden von Gedanken fordern, stellt sich ihre Wissenschaft als das Wissen über die Welt in Frage.25 Der Weltverbesserer widerspricht ihnen nicht. Auch sein Gedanke über die Welt hebt sich auf, wenn er sich, zu Ende gedacht, als referenzlos der Gedankenwelt zugehörig erkennt. Der Gedanke über eine Verbesserung der Welt durch ihre Abschaffung schafft sich selber ab, ohne in der Welt etwas aus- oder anzurichten, wenn er weit genug entwickelt ist. Ein um sich wissendes Denken über die Welt ist sich also bewusst, dass es zur Ordnung der Gedanken und nicht zur Ordnung der Welt gehört. Die Frage aber bleibt, welcher Ordnung der Denkende zugehört. Hier setzt Bernhards Subjektkritik an, die erst aus dem Textganzen unter Berücksichtigung seiner Figuren, der dramatischen Struktur und des Genres erschließbar ist. Die Eigenheiten von Bernhards Stück werden im Vergleich mit Molières klassischen Komödien deutlich. So wie in den Gedanken der deklarierten politischen Weltverbesserer des 20. Jahrhunderts etwas Menschenverachtendes steckte, so steckt im literarisch deklarierten Menschenfeind eine Sympathie für den Menschen. Der Mensch ist zwar „unmenschlich“,26 widerwärtig und infam, aber er ist „nicht unsterblich“,27 was ihn wiederum menschlich und bemitleidenswert macht. Eine Erlösung gibt es nicht. Der Weltverbesserer kann weder die Welt retten noch den Menschen vor dem Tod bewahren, er kann am Ende des Stücks nur einer Maus das Leben und die Freiheit schenken § bis sie in die nächste Falle läuft. Nicht der Hass ist für Bernhards Weltverbesserer primär, sondern das Leid. Das verbindet ihn mit Molières Menschenfeind Alceste. Beide leiden beim An25 Vgl. Lederer, Otto : „Syntaktische Form des Landschaftszeichens in der Prosa Thomas Bernhards“, in : Botond, Anneliese (Hg.) : Über Thomas Bernhard, Frankfurt am Main 1979, S. 42§67 : „Die spezifische Information I in der Prosa Bernhards besteht in der Darstellung der Absurdität des Erfahrens, des Erkennens und der aus ihr resultierenden besonderen Prozesse in dem von der Unmöglichkeit der Erkenntnis wissenden Denken.“ S. 65. 26 Bernhard : Stücke 3, S. 190. 27 Ebd., S. 176.
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blick der Menschen, wegen ihrer Verlogenheit und Hinfälligkeit und wegen ihrer eigenen Unfähigkeit, etwas daran zu ändern. Es ist bei Molière „un chagrin profond“ und „une humeur noire“,28 was bei Bernhard sowohl zur schwarzen Galle der Melancholie wie auch zum schwarzen Humor wird. Der Hass und die Nörgelei sind sekundär, sie dienen zur Abwehr und Verschleierung des Leidens. Bernhards Weltverbesserer scheint aber auch mit Molières eingebildetem Kranken verwandt zu sein. Er leidet und schluckt wahllos Pillen, die er in einem Einsiedeglas ständig zur Hand hat. Die meiste Zeit sitzt er mit seinem Hörrohr jammernd und wie gelähmt in seinem Sessel und lässt sich von der Frau bedienen. Nur einmal vergisst er sich und steht auf : steht plötzlich, als ob er gar keine Hilfe nötig hätte, auf, entsinnt sich aber sofort seiner Lähmung und läßt sich von der Frau zu einem der Fauteuils führen und setzt sich hinein Hat uns auch niemand gesehen Kein Mensch29
Wenn Molières Menschenfeind auch als „Der griesgrämige Verliebte“ bezeichnet wird, so erscheint er bei Bernhard krank und alt, wodurch er sich in die Reihe alter Männer einzureihen scheint, die Bernhard so oft in seinen Stücken auf die Bühne stellt.30 Im zitierten Abschnitt entlarvt sich der Weltverbesserer jedoch als durchaus gesund und vital, seine Hinfälligkeit vorgetäuscht oder eingebildet. Die Frau erweist sich zwar nicht als die begehrte Geliebte, aber auch nicht mehr nur als gequälte Krankenpflegerin, sondern als Komplizin und Mitspielerin in seiner Komödie.31 Auch der Weltverbesserer wird, wie der eingebildete Kranke, schließlich von einer Delegation der Universität zum Doktor gemacht und geheilt. Zwar nicht zum Doktor der Medizin wie Argan, sondern zum Ehrendoktor, und geheilt 28 Molière : Le Misanthrope ou l’Atrabilaire amoureux. Paris 1971, I/1. 29 Ebd., S. 170. 30 Vgl. Höller, Hans : „Alte Männer auf der Bühne“, in : Mittermayer, Manfred/Huber, Martin (Hg.) : Thomas Bernhard und das Theater. Wien 2009, S. 53§57. 31 Rachel Freudenburg sieht die weibliche Figur in diesem Stück als anschauliches Beispiel für Bernhards Frauenfiguren, die sie als „passive objects of male domination“ beschreibt. § Freudenburg, Rachel : „Masculinity as Performance in the Plays of Thomas Bernhard“, in : DeMeritt, Linda C./ Lamb-Faffelberger, Margarete (Hg.) : Postwar Austrian Theater. Text and Performance. Riverside 2002, S. 114§132, hier S. 123. Der oben zitierte Abschnitt deutet jedoch darauf hin, dass in diesem Stück die männliche Dominanz von der Mitspielbereitschaft der Frau abhängt, wodurch ihre Rolle als passives Objekt relativiert wird.
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wird er nicht von der Hypochondrie, sondern von der Verachtung für die Akademiker, zu denen er nun selbst gehört, da er nicht die Kraft hat, die Ehrung abzulehnen. Das Stück endet mit der Verabschiedung der Delegation, und zwar mit „allerergebenste[r] Hochachtung“.32 Doch es wäre kein Stück von Bernhard, wenn nicht ein Nachspiel mit einem Rückfall folgen würde. Diese Verachtung ist obsessiv und unheilbar. Der Weltverbesserer ist also eine Art eingebildeter Menschenfeind. Zwar erweisen sich intertextuelle Bezüge öfters als falsche Fährten, worauf die Bernhard-Forschung schon hingewiesen hat,33 doch geht es bei der Verwandtschaft zwischen Bernhards Stück Der Weltverbesserer mit Molières Stücken nicht um den Nachweis von wörtlich übernommenen Textpassagen oder um die Erörterung einer möglichen Beeinflussung, also weder um Parallelstellenjagd noch um Einflusshermeneutik, die von Wendelin Schmidt-Dengler zu Recht in Frage gestellt wurden.34 Es geht dabei auch nicht um die Frage nach der Lektüre von Bernhard, da Molières Stücke immer noch gespielt, also vorwiegend durch das Theater und nicht durch Lektüre vermittelt werden. Gespielt werden sie wegen ihrer hohen Bühnenwirksamkeit. Als solche haben sie Modellcharakter und dienen Generationen von Stückeschreibern als Vorbild. Die Frage ist also gar nicht, ob Bernhard sich in seinem Stück unmittelbar auf Molières Stücke bezieht, sondern vielmehr, inwieweit er das an der klassischen französischen Dramatik sich orientierende Dramenmodell aufgreift und wie er es transformiert. Aufschlussreich sind dabei die Aspekte der Figurengestaltung, der Struktur und des Genres. Die Verwandtschaft des Weltverbesserers mit Molières Figuren macht seinen widersprüchlichen, doppelten Charakter deutlicher sichtbar. Er ist gleichzeitig melancholisch und aggressiv, er leidet in den Augen der anderen Figuren und auch in den Augen der Zuschauer an einer Art Besessenheit, einer Art „Krankheit“. Das ganze Stück ist um und auf dieser zentralen Figur aufgebaut, auf ihrer charakterlichen Besonderheit. So wird durch den Bezug zur klassischen Komödie auch das Genre von Bernhards Stück besser erkennbar. Molière thematisiert diesen Kunstgriff indirekt, wenn er Alcestes Freund Philinte die Warnung aussprechen lässt :
32 Bernhard : Stücke 3, S. 186. 33 Vgl. Klug, Christian : Thomas Bernhards Theaterstücke. Stuttgart 1991, S. 130. Schmidt-Dengler : Übertreibungskünstler, S. 241. 34 Ebd., S. 242.
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Ihr Eifer wird die Welt gewiß nicht ändern ; Und da Sie Offenheit so reizvoll finden, Sag ich ganz offen, daß Sie diese Krankheit, Wo Sie auch sind, zum Komödianten macht, Und dass Ihr Wüten gegen heutige Sitten Den meisten Menschen lächerlich erscheint.35
Intensive Bemühungen, die Welt zu verändern, bei gleichzeitiger offenkundiger Unmöglichkeit der Hoffnung auf Erfolg dieser Bemühungen ist Molières offen dargelegtes Rezept für eine gute Charakterkomödie, wie es auch im Original heißt : „Je vous dirai tout franc que cette maladie, / Partout où vous allez, donne la comédie“.36 Bernhard verzichtet auf alle anderen möglichen Verwicklungen, in die eine solche „Krankheit“ die Hauptfigur treiben könnte, steigert aber dieses grundlegende Moment der Komik ins Extreme. Bernhards Stück ist eine Charakterkomödie, nicht weil der Charakter der Hauptfigur diese in komische Situationen brächte, sondern weil das Widersprüchliche in ihrem Charakter hervorgehoben und bis zur Lächerlichkeit gesteigert wird : Er selbst weiß um die Unmöglichkeit, die Welt zu verändern, doch anstatt zum Komödianten wird er zum Ehrendoktor gemacht. Wichtiger als die Konzeption der Figur ist jedoch Bernhards Umgang mit der dramatischen Struktur. Er übernimmt, so reduziert das Personal und die Handlung auch sein mögen, die traditionelle geschlossene Form. Er beendet das Spiel mit einem Finale, in dem er alle Figuren auftreten und die Feier gelingen lässt. Dem Finale lässt er jedoch noch eine Szene folgen, die er als „Nachspiel“37 betitelt, womit er die tradierte Geschlossenheit der Komödie zwar bestätigt § weil es kein Akt, kein Bestandteil im Ganzen des Schauspiels ist §, aber gleichzeitig auch aufbricht, öffnet und das vermeintliche, glückliche Ende samt Auflösung, die Versöhnung und Läuterung suggeriert, in Frage stellt. Die Repetition sprachlicher und gestischer Muster im Nachspiel deutet auf Kontinuität hin, darauf, dass sich nach dem eben stattgefundenen besonderen Ereignis nichts geändert hat und dass sich auch in Zukunft nichts an seiner Denk- und Lebensweise ändern wird. Die Berücksichtigung der strukturellen Eigenheit des Stückes lässt zwar erkennen, dass der Weltverbesserer seinem Charakter treu bleibt und auch im Nachspiel das Genre der Charakterkomödie bedient, doch die Wiederholung 35 Molière : Der Menschenfeind, I/1. 36 Molière : Le Misanthrope, I/1. 37 Bernhard : Stücke 3, S. 187.
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der aus den ersten Szenen bekannten Muster an durch Nachstellung hervorgehobener Position in der Gesamtstruktur impliziert, dass es bei den gleichen sprachlichen und gestischen Elementen nun, strukturell bedingt, zu einer Bedeutungsverschiebung kommt. Diese mag zwar die Konsistenz der komödiantischen Hauptfigur nicht gefährden, sie kann jedoch die Interpretationsansätze des gesamten dramatischen Textes verändern und zur Beantwortung der Frage nach dem Denken über Weltverbesserung beitragen. Der Weltverbesserer ist in mehrerlei Hinsicht komisch : Erstens, weil er als arroganter Nörgler, der von seiner Außenseiterposition die Gesellschaft kritisieren und sich über sie erheben kann, selbst diese Position aufgibt § „man bringt sich um alles“ §,38 dann aber weiter nörgelt. Wenn er nun weiter über die Gesellschaft spottet, spottet er auch über sich selbst als Teil dieser Gesellschaft. Und zweitens, er macht eine ähnliche Wendung im Abstrakten, indem er sich als denkendes Subjekt zum Objekt des Denkens macht. Eben dieser Prozess, durch den der Weltverbesserer sich denkend und spottend selbst zum Objekt des Denkens und des Spottes macht, impliziert auch die Antwort auf die Fragen nach der Verbesserung der Welt. Das Problem der großen Weltverbesserungsprojekte wäre demnach ein doppelter Denkfehler, der einerseits die Unterscheidung der Ordnungen der Gedanken und der Welt nicht berücksichtigt, andererseits das komplexe Verhältnis von Subjekt und Objekt reduziert. Das denkende Subjekt kann sein Denken über die Welt verbessern, wenn es sein Denken reflektiert und so seinen Subjektstatus dem Denken unterwirft. Will es jedoch die Ordnung wechseln, statt über das Denken nachzudenken, die Welt selbst zu seinem Objekt machen, sie handelnd verändern, dann müsste es selbst die Ordnung wechseln, sich als Teil der zu verbessernden Welt erkennen und sich selbst zum Objekt der Verbesserung machen. So endet auch Bernhards Stück mit dem Versuch des Weltverbesserers, sich zu bessern : „ich will ein gutes Werk tun“. Das gute Werk, das er zu vollbringen vermag, ist dann zwar nur die Befreiung einer verängstigten Maus, aber immerhin, „wir dürfen nicht aufgeben“.39
38 Ebd., S. 186. 39 Ebd., S. 181.
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Literaturverzeichnis Bernhard, Thomas : Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Frankfurt am Main 2006. Bernhard, Thomas : Politische Morgenandacht, in : Wort in der Zeit 12, 1966, H. I, S. 11§13. Bernhard, Thomas : Stücke 3. Frankfurt am Main 1988. Esslin, Martin : „A Drama of Disease and Derision : The Plays of Thomas Bernhard”, in : Modern Drama 23, 4, 1981, S. 367§384. Freudenburg, Rachel : „Masculinity as Performance in the Plays of Thomas Bernhard”, in : DeMeritt, Linda C./Lamb-Faffelberger ; Margarete (Hg.) : Postwar Austrian Theater. Text and Performance. Riverside 2002, S. 114§132. Görner, Rüdiger : Gespiegelte Wiederholungen. Zu einem Kunstgriff von Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 1997. Höller, Hans : „Alte Männer auf der Bühne“, in : Mittermayer, Manfred/Huber, Martin (Hg.) : Thomas Bernhard und das Theater. Wien 2009, S. 53§57. Jürgens, Dirk : Das Theater Thomas Bernhards. Frankfurt am Main, Wien 1999. Klug, Christian : Thomas Bernhards Theaterstücke. Stuttgart 1991. Laemmle, Peter : „Stimmt die „partielle Wahrheit“ noch ? Notizen eines abtrünnigen Thomas Bernhard-Lesers“, in : Text+Kritik, 43, Juli 1974, S. 45§49. Lederer, Otto : „Syntaktische Form des Landschaftszeichens in der Prosa Thomas Bernhards“, in : Botond, Anneliese (Hg.) : Über Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 1979, S. 42§67. Mennemeier, Franz Norbert : Modernes Deutsches Drama 2. München 1975. Molière : Der Menschenfeind. Stuttgart 1993./Le Misanthrope ou l’Atrabilaire amoureux. Paris 1971. Schmidt-Dengler, Wendelin : Der Übertreibungskünstler. Wien 2010. Schweikert, Uwe : „Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert“, in : Text+Kritik, 43, Juli 1974, S. 1§8. Struck, Volker : „menschenlos“. Frankfurt am Main 1985.
Christine Hegenbart
Thomas Bernhards Der Präsident Ein politisches Stück ?
I. Der Präsident,1 Thomas Bernhards fünftes abendfüllendes Theaterstück, ist weniger bekannt und durchforscht als andere Stücke Bernhards.2 1975 wurde es in Österreich und Deutschland fast zeitgleich uraufgeführt : im Wiener Akademietheater am 17. Mai 1975 und im Württembergischen Staatstheater Stuttgart nur vier Tage später, am 21. Mai 1975.3 Im Rückblick erscheint die deutsche Erstaufführung unter der Regie von Claus Peymann wesentlich bedeutsamer 4 und auch für den Autor Bernhard hatte diese Aufführung Priorität.5 Das größere mediale Echo bestätigt diese Einschätzung. Das Datum der Stuttgarter Produktion war öffentlichkeitswirksam gewählt : der Eröffnungstag des Baader-Meinhof-Prozesses in Stuttgart/ Stammheim. In der Folge entzündete sich eine Diskussion um den politischen Gehalt des Stücks, wobei in der Tagespresse die kritischen Stimmen eindeutig überwogen. Peter Iden schrieb beispielsweise in der Frankfurter Rundschau : „Das Stück ist […] weit davon entfernt, sich auf irgendeine politische Wirklichkeit 1 Bernhard, Thomas : Der Präsident, in : Ders.: Stücke 2. Frankfurt am Main 1988, S. 7§116. 2 Warum das Stück nicht zu den erfolgreichsten Bühnenstücken zählt, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Rolf Michaelis kritisierte jedoch anlässlich der Uraufführung, dass Der Präsident bloß eine Variante der Stücke Der Ignorant und der Wahnsinnige und Die Jagdgesellschaft sei. Vgl. Michaelis. Rolf : „Die sich selbst zerstörende Wortmaschine“, in : Süddeutsche Zeitung, 30.05.1975. 3 Bisher wurde es im deutschsprachigen Raum nur sechs weitere Male inszeniert ; zuletzt in der Spielzeit 89/90 im Theater Der Keller in Köln. 4 Dieses Urteil teilen auch die Herausgeber der gesammelten Werke Thomas Bernhards im Kommentar. Vgl. Mittermayer, Manfred und Winkler, Jean-Marie : „Kommentar zu Der Präsident“, in : Thomas Bernhard : Dramen 2. Frankfurt am Main 2005, S. 379§390, hier S. 379. 5 So schreibt Bernhard am 20. Januar 1975 an Rudolf Rach : „[M]ir ist an einer solchen Wiener Uraufführung nichts gelegen […]. Stuttgart muss stattfinden.“ Bernhard, Thomas/Unseld, Siegfried : Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt am Main 2009, S. 458.
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einzulassen. Es ist wieder, wie alle Stücke Bernhards vorher, ein Kunst-Stück.“6 Die Kritik, die hier geäußert wird, ist geprägt durch eine ganz bestimmte Vorstellung von politischem Theater : Seit Mitte der 1960er-Jahre wird die „Frage nach der Funktion der Literatur in ihrem Verhältnis zu einer außerliterarischen Realität“7 zumeist mit der Forderung nach literarischem Engagement seitens der Autoren beantwortet. Entsprechend dieser Erwartungshaltung sollte sich politisches Theater einerseits auf die Wirklichkeit beziehen und andererseits an ihrer Veränderung arbeiten.8 Der Kunst-Charakter von Der Präsident wird demgemäß negativ bewertet. In eine ähnliche Richtung zielten auch die Kritiken von Otto F. Beer und Peter von Becker in der Süddeutschen Zeitung. Beer konstatiert : „Daß er [Bernhard] ein so brisantes politisches Thema analysiert, bewältigt und dramatisch in den Griff kriegt, wird man von ihm kaum erwarten.“9 Für von Becker ist Der Präsident ein „Fehl-Beitrag ,zur aktuellen Terrorismus-Diskussion‘“.10 Allein Rolf Michaelis legt einen anderen Maßstab das Politische betreffend an und sieht in der Stuttgarter Inszenierung eine scharfe „Zeitkritik“, die tief in der Form des Stücks verwurzelt sei, jedoch ohne Partei zu ergreifen und sich auf den tagespolitischen Diskurs einzulassen.11 Vielfach wurde Der Präsident als politisches Stück bezeichnet, doch in der bisher vorhandenen Forschungsliteratur wurden die Einschätzungen nie systematisch untersucht.12 Diese Forschungslücke soll mit dem vorliegenden Aufsatz geschlossen werden. Dies wird in einer Analyse geschehen, die sich schlaglichtartig auf gewisse paradigmatische Aspekte konzentriert.
6 Iden, Peter : „Für überhaupt nichts mehr“, in : Frankfurter Rundschau, 23.05.1975. 7 Dujmić, Daniela : Literatur zwischen Autonomie und Engagement. Zur Poetik von Hans Magnus Enzensberger, Peter Handke und Dieter Wellershoff. Diss. Konstanz 1996, S. 24. 8 Das sozialkritische Drama der 70er Jahre kam beispielsweise diesen Forderungen nach und gab konkrete Handlungsanweisungen. Vgl. Judex, Bernhard : Thomas Bernhard. Epoche ± Werk ± Wirkung. München 2010, S. 86. 9 Beer, Otto F.: „Anarchismus auf manieristisch“, in : Süddeutschen Zeitung, 21.05.1975. 10 Becker, Peter von : „Die große, ehrliche Geschwätzoper“, in : Süddeutschen Zeitung, 24./25.05.1975. 11 Michaelis : Wortmaschine. 12 Vgl. dazu z.B. Hannemann, Bruno : „Satirisches Psychogramm der Mächtigen. Zur Kunst der Provokation in Thomas Bernhards ‚Der Präsident‘“, in : Maske und Korthun 23/1977, S. 147§158 ; Gamper konzentriert sich in seinem Essay auf die politische Allegorien : vgl. Gamper, Herbert : Die auf den Hund gekommene Allegorie. Essay über Bernhards ‚Präsident‘“, in : Theater heute, 8, 16/1975, S. 28§31.
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II. ‚Politisch‘ ist, wie bereits angedeutet, eine in der Germanistik und anderen Geisteswissenschaften sehr umstrittene Kategorie. Der Begriff ist eng verbunden mit Herrschaft, Macht und Staat.13 Er umfasst aber auch soziale, ökonomische und religiöse Aspekte.14 Oft wird ‚politisch‘ gleichgesetzt mit ‚(gesellschafts)kritisch‘. Zudem gibt es keine allgemein anerkannte Definition von ‚Politischem Theater‘.15 Eine recht brauchbare Begriffsbestimmung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, hat Brigitte Marschall in ihrem Buch Politisches Theater nach 1950 geliefert : „Politisches Theater behandelt gesellschaftliche Phänomene, historische Ereignisse und aktuelle politische Konflikte. Zum Selbstverständnis dieses Theaters gehört eine spezifische Ästhetik, die den Zuschauer zur Reflektion seiner politischen Positionen zwingt.“16 Marschall zieht hier zur Definition politischen Theaters Inhalt und Funktion heran. Essentiell ist jedoch noch eine dritte Kategorie : die Form.17 Inhalt, Form und Funktion schlägt auch Graham Holderness in seiner Einleitung zu Politics of Theater and Drama18 aus dem Jahre 1992 vor, um Dramentexte auf ihre politischen Elemente hin zu untersuchen. Unter ‚politics of content‘ fasst Holderness die Reflexion der ökonomischen und politischen Struktur der Gesellschaft zusammen. Die politische Realität, d.h. der Staat, das Verwaltungs- und Rechtssystem werden inhaltlich angesprochen 13 Vgl. z.B. Fischer, Bernhard : „Politische Dichtung“, in : Fischer Lexikon Literatur. Bd. 3. Hg. v. Ulfert Ricklefs. Frankfurt am Main 2002, S. 1538§1556, hier S. 1538. 14 Laut Carl Schmitt verliert im 20. Jahrhundert der Staat durch die Demokratie das Monopol auf das Politische ; durch die gesellschaftlichen Kräfte wird in den Begriff ‚politisch‘ auch z.B. soziale, ökonomische, religiöse Aspekte mitgedacht. Vgl. Schmitt, Carl : Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin 1979, S. 23f. 15 Hier ist kein Raum für eine kritische Auseinandersetzung. Eine eingehende Diskussion findet man z.B. bei Langemeyer, Peter : „‚Politisches Theater‘. Versuch zur Bestimmung eines ungeklärten Begriffs § im Anschluß an Erwin Piscators Theorie des politischen Theaters“, in : Aspekte des politischen Theaters und Dramas von Calderón bis Georg Seidel. Deutsch-französische Perspektiven. Hg. von Horst Turk, Jean-Marie Valentin in Verbindung mit Peter Langmeyer. Bern et al. 1996, S. 9§46. 16 Marschall, Brigitte : Politisches Theater nach 1950. Wien, Weimar, Köln 2010, S. 17. 17 Vgl. dazu. z.B. Adorno : „Gesellschaftlich entscheidet an den Kunstwerken, was an Inhalt aus ihren Formstrukturen spricht“. §Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1990, S. 342. 18 Holderness, Graham : „Introduction“, in : Ders.: The Politics of Theatre and Drama. New York 1992, S. 1§17. Der von Holderness präsentierte Ansatz hat v.a. in den nordischen Ländern größere Beachtung gefunden. Vgl. z.B. Nielsen, Ken/Jørgsen, Lisbet : „Introduction“, in : Political Theatre : Revisited and Redefined, S. 5§11.
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oder Themen wie beispielsweise Revolution, ökonomische Unterdrückung, Krieg und Klassenkampf aufgegriffen.19 ‚Politics of form‘ bezieht sich nach Holderness auf die äußere Gestalt des Dramas, u.a. in Bezug auf die Sprache und die Struktur. Als besonders politisch nennt Holderness die Verfremdung sowie die Selbsteflexivität der Form.20 Mit ‚politics of function‘ ist die Positionierung des Stücks im institutionellen Raum der dramatischen Produktion gemeint. Daher müsse es in politischem Theater zum Beispiel um die Destabilisierung der konventionellen Beziehungen zwischen dem Zuschauer und der Aufführung, die Zerstörung der Erwartungen des Publikums an die erzählerische und ästhetische Kohärenz oder das Hinterfragen der gewohnte kulturellen Form des Theaters gehen.21 Wenn diese Kriterien auch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben, sind sie doch aussagekräftig, um die politische Dimension eines Theaterstücks aufzuzeigen : Ist ein Bühnenwerk auf allen drei Ebenen als politisch einzustufen, ist es auch als Ganzes politisch. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist das Verständnis des Politischen in Der Präsident nicht im Eingreifen in die Wirklichkeit oder eine aktuelle Debatte zu suchen, wie von den zeitgenössischen Kritikern vielfach gefordert wurde. Es geht vielmehr darum „bestehende Sozial- und Herrschaftsstrukturen [wenn auch] verfremdet ab[zu]bilde[n]“22 und kritisch zu hinterfragen. Dadurch wird die „wahre gesellschaftliche Wirkung […, nämlich die] Teilhabe an dem Geist, der zur Veränderung der Gesellschaft in unterirdischen Prozessen beiträgt“,23 offenkundig. Wie sich in Inhalt, Form und Funktion das Politische manifestiert und wie stark sich das Politisch in den drei Kriterien durchdringt, steht im Fokus der folgenden Ausführungen. III. Inhalt
In den meisten Stücken Bernhards geht es im weitesten Sinne um Macht und Herrschaft.24 In Der Präsident sind diese Themen vom familiären bzw. privaten in 19 20 21 22 23 24
Ebd., S. 6f. Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 13. Jürgens, Dirk : Das Theater Thomas Bernhards. Frankfurt a. M. u.a. 1999, S. 38. Adorno : Ästhetische Theorie, S. 359. Vgl. Mittermayer, Manfred : „Das schönste Theater der Welt. Thomas Bernhard und Salzburg“,
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einen vorwiegend politischen Kontext gerückt : Die diktatorische Herrschaft des Präsidenten wird vom Volk in Frage gestellt. Zehntausende sind in einer Massendemonstration vor den Präsidentenpalast gezogen. Das Leben des Präsidenten ist durch Anarchisten bedroht. 19 seiner Getreuen sind schon Attentaten zum Opfer gefallen. Die Zustände erinnern bereits an eine Revolution. Die anarchistische Gewalt stiftet ein allgegenwärtiges Klima der Angst, das den gesamten Theatertext durchdringt. Er steht unter dem Eindruck des jüngsten Attentats auf den Präsidenten, dem der Oberst, der engste Vertraute des Präsidenten, und der Hund der Präsidentin zum Opfer gefallen sind ; es wird vermutet, dass sich der Präsidentensohn den anarchistischen Attentätern angeschlossen hat. Auch das Leben der Anarchisten ist in akuter Gefahr. Denn die Antwort auf die anarchistische Gewalt ist Gegengewalt : „Aber bevor sie mich beseitigen / werde ich viele von den Anarchisten beseitigen / beseitigen / beseitigen“.25 Die staatlichen Mittel, die der Präsident für seinen Machterhalt einsetzt, sind zum einen die instrumentalisierte Justiz26 und zum anderen ein brutaler Polizeiapparat.27 Beide haben keinen rechtsstaatlichen, sondern willkürlichen Charakter. Schon einmal ist es dem Präsidenten gelungen einen Aufstand niederzuschlagen.28 Doch die Aufständischen lassen sich nicht mehr einschüchtern und lehnen sich gegen die Unterdrückung auf. Neben der Bedrohung der Macht des Staats bzw. seiner Vertreter durch anarchistischen Terror und einen Volksaufstand werden in Der Präsident auch Machtund Besitzverhältnisse im politisch-historischen Kontext thematisiert. Der Präsident und seine Frau sind Vertreter des Großbürgertums : Sie ist eine reiche Industrielle, er ein politischer Entscheidungsträger ; der Aufstieg des Präsidenten begann bereits zur Zeit des Austrofaschismus ; so gehört das Präsidentenehepaar zur gesellschaftlichen Elite, die sich nach 1945, schnell wieder etablieren konnten. Die Anarchisten wenden sich gegen diese restaurativen Tendenzen. Ihren hohen Status nutzt das Präsidentenehepaar unverhohlen aus. Am deutlichsten
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in : „Österreich selbst ist nichts als eine Bühne“. Thomas Bernhard und das Theater. Hg. von Manfred Mittermayer und Martin Huber. Wien 2009, S. 9§30, hier S. 20. Bernhard : Präsident, S. 92. „Mit den Anarchisten wird jetzt/kurzer Prozeß gemacht“, „dann gibt es jeden Tag Hunderte Exekutionen“ § Ebd., S. 30, S. 36. „Dann ist Gewalt angewendet worden/Gewalt angewendet“ und es gab Verhaftungen § Ebd. S. 35. „Die Massen sind hermarschiert / auf den Palast zu/[…] Mit Steinen haben sie uns die Fenster eingeschlagen / Viele sind hingerichtet worden […] / Dann war Ruhe/Lange Zeit war Ruhe“ § Ebd., S. 36.
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wird dies zum einen am brutalen Umgang mit den Anarchisten, zum anderen an der Beziehung der Präsidentin zu ihrer Dienerin Frau Fröhlich, die die Herrschsucht und Machtüberlegenheit vielfach zu spüren bekommt. Der gesellschaftliche Rahmen ist also klar durch ökonomische und politische Unterdrückung abgesteckt : Eine kleine Führungssicht hat die alleinige Entscheidungsgewalt inne. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Bernhards Präsidenten-Drama […] in großem Maße von Terroristen und Anarchisten [handelt] ; Terroraktionen bilden gleichsam den Rahmen, in dem sich das Geschehen […] abspielt.“29 Das Stück setzt sich „mit der fragwürdigen sowie gefährlichen Macht gesellschaftlich etablierter Herrscherfiguren“30 kritisch auseinander. Indem sie dabei nicht in repräsentativer Pose, sondern im privaten Umfeld gezeigt werden, offenbart sich ihre Einsamkeit und Isolation.31 Die politische Dimension des Stücks entfaltet sich allerdings erst dadurch, dass sich das Politische des Inhalts in Form und Funktion spiegelt. Form
Wichtige, für die politische Dimension relevante, formale Elemente, sind der Monolog, die Figurenkonstellation und die Sprache sowie Bezüge zur Satire. Diese werden im Folgenden untersucht. Thomas Bernhards Dramatik wird getragen von Sprache. „Language is the true chief protagonist of any Bernhard play, but not theatrical language or its attendant conventions. Bernhard knows that the most equivocal and deceitful aspect of theatrical convention involves language“.32 Formal schlägt sich dies im fast vollständigen Fehlen einer dramatischen Handlung und in der Dominanz der monologischen Form nieder. Die ersten beiden Szenen sind ein fast durchgehender Monolog der Präsidentin, die sich für die Beerdigung des Oberst ankleidet und schminkt. Sie verleiht darin immer wieder ihrer Angst vor einem neuen Anschlag der Anarchisten Ausdruck. Kontrastiert wird diese Angst durch alltägliche Themen wie die Kleiderwahl, das Weihnachtspiel, in dem sie mitwirken soll, oder ihre Beziehung zu ihrem verstorbenen Hund, zum Fleischhauer und zum Kaplan. Die sprachlichen 29 30 31 32
Hannemann : Satirisches Psychogramm, S. 156. Judex : Thomas Bernhard, S. 138. Hannemann : Satirisches Psychogramm, S. 151. Meyerhofer, Nicolas J.: „The Laughing Sisyphus : Reflections on Bernhards (Self-)Dramatist in Light of His Der Theatermacher“, in : Modern Austrian Literature, 21, 1988/3§4, S. 107§115, hier 111f.
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Äußerungen der monologisierenden Figur gehen so als „[i]nnere[…] Realitätsfragmente […], weder auf Raum, Zeit, noch Gesprächspartner Rücksicht nehmend […], durcheinander“.33 Ähnliches gilt für die zwei darauf folgenden Szenen, in deren Mittelpunkt der Präsident steht. Er betrinkt sich in der dritten Szene mit seiner Geliebten, einer Schauspielerin, bzw. spielt in der vierten in einem Casino Karten mit seiner Entourage. Auch er spricht fast ununterbrochen : Über seine gescheiterte Ehe, sein Machtstreben, die Verbindung zwischen Kunst und Politik und § unvermeidlich § über den anarchistischen Terror, der ihn bedroht. Die monologische Form und deren sprachliche Merkmale verweisen auf die „generelle Unfähigkeit zur Diskussion“. 34 Zugleich wird gezeigt, wie sehr die Figuren, „die nur noch im verzweifelten Sprechen zu existieren scheinen, zum Opfer ihrer eigenen Sprache geworden sind.“35 Das ewige Kreisen um die immer selben Themen lässt die Szenerie extrem statisch wirken und deutet zugleich auf die Ausweglosigkeit der Situation hin. Dabei stützen Inhalt und Form des Monologs sich gegenseitig. Rolf Michaelis bringt die politische Funktion des Monologs treffend auf den Punkt : Ist aber Bernhards Zeitkritik nicht viel schärfer, und gesellschaftlich keineswegs bedeutungslos, wenn er sich weigert, über einen faschistischen Diktator als Titelfigur ein ‚normales‘ Stück mit Dialog und argumentierender Wechselrede auf die Bühne zu bringen § weil es unter solchem Regime ja Gegenrede, überhaupt nicht gibt ? Ist der Autor nicht künstlerisch konsequent, wenn er totale Vereinsamung und Entfremdung der Herrschenden bloßstellt, indem er sie monologisieren lässt ? Die beiden Repräsentanten der Macht können ihre Angst nur noch in endlosen Selbstgesprächen betäuben.36
Konsequenterweise steht am Ende der Tod : Den vier in Monologen gehaltenen Szenen folgt ein fünfter, „als ‚Nachspiel‘“ :37 Die Prasidentin, Regierungsmitglie33 Hannemann : Satirisches Psychogramm, S. 149. 34 Gropp, Eckhard : Thomas Bernhards „Heldenplatz“ als politisches Theater. Postmoderne Literatur im Deutschunterricht. Bad Honnef, Zürich 1994, S. 53. 35 Krammer, Stefan : „Die furchtbaren stummen Rollen. Zu Thomas Bernhards Dramaturgie des Schweigens“, in : ,Österreich selbst ist nichts als eine Bühne‘. Thomas Bernhard und das Theater. Hg. von Manfred Mittermayer und Martin Huber. Wien 2009, S. 62§65, hier S. 63. 36 Michaelis : Wortmaschine. 37 Michaelis, Rolf : „Kunstkrüppel vom Übertreibunsspezialisten. Notizen zu Thomas Bernhard Theaterstücken der Jahre 1974 bis 1983“, in : Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderheft Thomas Bernhard. 43/1982, S. 25§45, hier S. 40.
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der und das Volk ziehen am aufgebahrten Präsidenten vorbei und nehmen von ihm Abschied ; die Todesursache bleibt unklar. Die immer um sich selbst kreisenden Monologe, in denen kein Spannungsaufbau stattgefunden hat, finden ihr einzig mögliches Ende. Die schier endlosen Monologe in Der Präsident gestalten dabei die Figurenkonstellation entschieden mit und es werden kommunikative Situationen entworfen „in denen die Figuren nach unbewussten Interaktionsmustern miteinander umgehen und z.B. verzweifelt an Rollen, die immer ein Gegenüber brauchen, festhalten.“38 In den ersten beiden Akten steht der Präsidentin ihre Dienerin, Frau Fröhlich, als schweigende Figur gegenüber. Ihr ‚Monolog‘ ist über weite Strecken an sie gerichtet.39 Der Gegensatz zwischen Sprachgewalt und -ohnmacht ist dabei charakteristisch für die Beziehungs- und Machtstruktur. Frau Fröhlich führt fast wortlos die oft sinnlosen Befehle ihrer Herrin aus und nimmt ihre brutalen Übergriffe hin. Der Widerspruch besteht darin, dass die Präsidentin das Schweigen der Diener einfordert40 und sich doch davon gepeinigt fühlt.41 Im Schweigen liegt das Widerstandspotential der stummen Figur.42 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Frau Fröhlich ein abgelegtes rotes Kleid der Präsidentin trägt ; dies verweist darauf, dass sich nach einer erfolgreichen Revolution, die Herrschaftsverhältnisse umdrehen könnten. In den darauf folgenden beiden Akten wird der Präsident durch ebenfalls schweigende Figuren kontrastiert ; diese sind bloß Stichwortgeber und konspirative Zuhörer. In beiden Fällen sind es „durch Sprache organisierte und gestützte Machtbeziehungen“43 die zur Aufrechterhaltung der Herrschaftsstrukturen dienen. Die Beziehung des Präsidentenehepaars ist geprägt durch eine „zwischenmenschliche Eiseskälte“.44 In den ersten beiden Szenen stehen die Eheleute teilweise zusammen auf der Bühne, jedoch sprechen sie kaum miteinander. Sie 38 Ochs, Martina : Eine Arbeit über meinen Stil/sehr interessant. Zum Sprachverhalten in Thomas Bernhards Theaterstücken. Frankfurt am Main 2006, S. 27. 39 Zum einen ist die Ansprache in den Regieanweisungen vielfach vermerkt, entweder „Zur Fröhlich“ oder „Der Fröhlich ins Gesicht“, zum anderen spricht die Präsidenten Frau Fröhlich ständig namentlich an. 40 Bernhard : Präsident, S. 21. 41 Ebd., S. 40. 42 Konfliktlinien zeigt z.B. Ochs auf, in : Ochs : Arbeit über meinen Stil, S. 27. 43 Schütte, Uwe : Thomas Bernhard. Köln, Wien, Weimar 2010, S. 86. 44 Bernhard : Präsident, S. 98.
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machen sich gegenseitig das Leben zur Hölle. Beide sind fixiert auf die Opfer des letzten Attentats, „auf den Oberst als ‚erste Instanz‘ des Präsidenten, bzw. den Hund als ‚erste Instanz‘ der Präsidentin.“45 Zudem haben beide außereheliche Beziehungen, der Präsident zu einer Schauspielerin, die Präsidentin zu ihrem Geistesliebhaber, dem Kaplan, und ihrem Körperliebhaber, dem Fleischhauer.46 Wie diese Ausführungen zeigen, wird kein positives Beziehungsmodell dargestellt ; die zwischenmenschlichen Beziehungen sind entfremdet. Laut Gamper sind dies die Beziehungsstrukturen, die „die kapitalistische Gesellschaft produziert.“47 Das Mantra, das die Präsidentin in regelmäßigen Abständen wiederholt, „Ehrgeiz / Hass / sonst nichts“48 bezieht sie folgerichtig auf alles und jeden. Hier ist bereits eines der augenfälligsten sprachlichen Merkmale, die Wiederholung, angesprochen. Man findet sie in unterschiedlichsten Variationen : kurz aufeinanderfolgend oder zyklisch wiederkehrend als Motiv-, Phrasen- und Wortwiederholung. Dabei werden die jeweiligen Themenkreise wortwörtlich bzw. mit Synonymen oder mittels syntaktischen Variationen umkreist. Die Wiederholungen dienen den „geschwätzigen, tyrannischen Herrscher[n]“49 dazu „ihre Scheinwelt zu festigen“50. Zugleich verweisen sie, im Zusammenspiel mit den ständigen gedanklichen Brüchen, auf den fraglichen Geisteszustand der Sprecher, die existenziell Wichtiges neben Banales stellen. „Es ergibt sich eine fast unmerkliche Vermischung von Dimensionen.“51 Besonders hervorzuheben sind zudem die Widersprüche, die ständig im Text zu finden sind. Die Figuren nehmen das Gesagte immer wieder zurück oder postulieren Gegenpositionen. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist die gegensätzliche Charakterisierung der Anarchisten : „Der Kaplan sagt / es handelt sich um Verrückte / junge Menschen / die in einer auswegslosen Situation sind / in ihrem Kopf“52 oder aber „Der Zeitpunkt ist da / in welchem alles umgedreht wird / sagt der Kaplan / In einem jeden Menschen ist ein Anarchist / ist ein Kopf ein klarer Kopf / ist es ein anarchistischer Kopf“.53 Aus den Zitaten geht hervor, dass im Stück kein eindeutig negatives oder positives Bild der Anarchis45 46 47 48 49 50 51 52 53
Mittermayer/Winkler : „Kommentar“, S. 389. Bernhard : Präsident, S. 94. Gamper : Allegorie, S. 30. Bernhard : Präsident, S. 11, 30, 37, 43, 44, 47, 66, 73 u.a. Ochs : Arbeit über meinen Stil, S. 27. Ebd. S. 32. Gropp : ,Heldenplatz‘ als politische Theater, S. 52. Bernhard : Präsident, S. 55. Ebd., S. 71.
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ten produziert wird. Es werden unterschiedliche Perspektiven auf die Wirklichkeit dargestellt.54 „Bei Bernhards ‚Einerseits/Andererseits-Methode‘ [, in der die erste Aussage durch die zweite negiert oder relativiert wird,] geht es nicht zuletzt um die Infragestellung gängiger Denkmuster und sozialer Mechanismen, die vom Individuum eine Einordnung in eine von zwei Schablonen erwartet, denn tertium non datur.“55 Die Konstruktion der Gegensätze verweist zugleich auf die ambivalente Haltung zur bedrohten Ordnung.56 Die Alternative, die die Anarchisten durch den Sturz des Diktators anstreben, wird dabei nicht positiv bewertet. „[U]nter ‚Anarchie‘ [wird] die der Ordnung innewohnende Konsequenz zum Untergang“ verstanden und tritt „in Revolution und Terror offen zutage“ ;57 beides sind bloß Symptome des Zerfalls der bestehenden Ordnung. Auch stößt man im Text auf eine Vielzahl von Analogien. Beispielsweise wird Ordnung mit Geld und Macht gleichgesetzt. Auch wird die bevorstehende Vernichtung des Staats bzw. seiner Machthaber durch die Anarchisten in Analogie gesetzt zu einem Naturvorgang : „Und bald sterben sie zu Hunderten / sagt der Kaplan / die weltlichen / und die kirchlichen Würdenträger / Weil die Natur ihr Recht fordert / Erntezeit / sagt der Kaplan / Erntezeit“.58 Die Analogien sind dabei oft schief und relativieren sich wechselseitig ; damit leisten sie einem Denken Vorschub, das in unauflöslichen Widersprüchen gefangen ist.59 Diese Widersprüche entziehen dem Denken jeden festen Anhalt. Dies führt, wie Herbert Gamper bemerkt, „zur konsequenten Auflösung aller Begriffe“.60 Sie sind also Ausdruck der sprachskeptischen Haltung des Autors. Es ist „eine[…] Sprachskepsis, die sich an den Defiziten des Sprachpotentials, der unzureichenden sprachlichen Vermittlung von Erkenntnissen oder sogar ‚Wahrheit‘ entzündet.“61 54 Vgl. Judex : Thomas Bernhard, S. 142. 55 Schütte : Thomas Bernhard, S. 13. 56 Vgl. Mittermayer/Winkler : „Kommentar“, S. 389. Diese ist besonders prägnant, da die Worte durch die Zitation dem Kaplan zuzuschreiben sind : Ihm hat Bernhard Teile der eigenen Biographie mitgegeben. 57 Gamper : Allegorie, S. 31. 58 Bernhard : Präsident, S. 74f. 59 Vgl. ebd. S. 28. 60 Ebd. S. 82. 61 Streutziger, Inge : „Zu einem Sprachspiel gehört eine ganze Kultur.“ Wittgenstein in der Prosa von Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Freiburg im Breisgau 2001, S. 249.
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Formal ist im Stück zudem die Tendenz zur Satire zu erkennen :62 Die Vertreter der politischen und ökonomischen Elite werden satirisch ins Licht der Bühne gerückt. Das Präsidentenehepaar wird nicht in einer repräsentativen Pose, sondern in der intimsten Privatsphäre, im Bade- und Ankleidezimmer gezeigt oder beim Stelldichein mit der Geliebten ; zu der körperlichen Blöße kommt ein unaufhörliches „entblößendes Plappern“.63 Ein wichtiges Mittel der Satire ist die Übertreibung ; so holt der Präsident beispielsweise zum Rundumschlag aus : Durch den politischen wie durch den künstlerischen Unrat gehen / immer durch den Unrat gehen / Die Welt ist ein Unrat / sonst nichts / Und durch diesen Unrat gegen wir wie durch eine große Bewußtlosigkeit / gehen und gehen und gehen mein Kind / Die Welt ist ein Sauhaufen / mein Kind / ein Sauhaufen / nichts als ein Sauhaufen / Schweinerei / nichts als Schweinerei64
„Die maßlos übertriebenen Beschimpfungen wollen sowohl zum Widerspruch provozieren als auch zum kritischen Nachdenken anregen“.65 Ein weiteres satirisches Element ist Liebe des alternden Präsidenten zu der viel jüngeren, wohl eher zweitklassigen Schauspielerin. Er turtelt mit ihr in einem Hinterzimmer und spricht sie durchwegs mit „mein Kind“66 an. Auch bezeichnet er seine junge Geliebte als seine „Duse“67 und lobt ihr Können auch in Gesellschaft übermäßig. Auch der Abschluss der beiden Szenen des Präsidenten, in denen das Liebespaar sich gegenseitig Champagner ins Gesicht kippt bzw. der Präsident sein Glas an die Wand schmeißt, entbehren nicht der grotesken Komik. Hier wird das „Umkippen von tragischem [bzw. pathetischen] Gestus in irres Gelächter“68 überdeutlich. Indem der Präsident sich lächerlich macht, werden auch seine brutalen Herrschaftsmethoden desavouiert. Die Präsidentin hingegen ist auf den Hund gekommen : Sie wendet ihre Monologe nicht nur an Frau Fröhlich, sondern auch an ihren toten Hund ; dabei 62 Die Satire zählt neben der Komik zu den „zwei sprachlich-dramatische Haupttendenzen“ der Stücke Bernhards. Vgl. u.a. Höller, Hans : Thomas Bernhard. Reinbeck 1993, S. 115f. 63 Hannemann : Satirisches Psychogramm, S. 149. 64 Bernhard : Präsident, S. 87, S. 100. Hier triumphiert der Weltekel ; die Politik kann nichts mehr ausrichten. vgl. Hannemann : Satirisches Psychogramm, S. 155. 65 Schütte : Thomas Bernhard, S. 9. 66 Bernhard : Präsident, S. 80 u.a. 67 Ebd., S. 101. 68 Michaelis : Kunstkrüppel, S. 32.
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spielt sie permanent den leeren Hundekorb an.69 Der Hund ist, wie bereits oben erwähnt, ihre „allerhöchste Instanz“.70 Darin zeigt sich, wie weit die zwischenmenschliche Entfremdung fortgeschritten ist. Es gibt deutliche Hinweise auf die Selbstentfremdung des Individuums : Die Präsidentin, darauf verweist schon der fehlende Name, ist ihrer Individualität beraubt und festgelegt auf die Rolle der Präsidentengattin. Darüber hinaus spielt sie ihr eigenes Spiegelbild an, um sich ihrer Macht zu vergewissern ;71 dabei streckt sie sich selbst immer wieder die Zunge heraus. Dies zeichnet ein satirischens Bild der Präsidentin. Der Vorgang des Ankleidens und Schminkens für das Staatsbegräbnis des Oberst ist zugleich ein „in die Rolle […] schlüpfen“72 für das Staatstheater. Durch dieses Theater im Theater § in dem auch noch ein Weihnachtsspiel geprobt wird § begründet sich die Selbstreflexivität des Stücks. Das ‚Private‘ hinter der Bühne ist nur das bizarre Spiegelbild des Staatsakts, den der Zuschauer nicht vorgeführt bekommt ; jedoch wird ein Reflexionsraum, geöffnet, der die beiden Ebenen verbindet. Beides, das vor und das hinter der Bühne, erscheint dadurch absurd. Die satirischen Elemente in Bernhards Stück Der Präsident sind daher also gesellschaftskritisch und politisch. Es werden die Missstände verspottet § beispielsweise die Massivität der staatlichen Gewalt, die Entfremdung der Machthaber und die Ambivalenz der herrschenden Ordnung. Funktion
Die provokative Wirkung, die in den vorangehenden Ausführungen kurz angesprochen wurde, war wohl intendiert und verweist auf die Funktion des Stücks und damit seine Positionierung im institutionellen Raum der dramatischen Produktion. Der Präsident wurde in Wien und Stuttgart vor den Premieren als „hochaktuelles Stück“, das sich „mit der Bedrohung durch Anarchisten auseinandersetzt“, 73 lanciert und dadurch politisch aufgeladen. Man kann davon ausgehen, dass es Thomas Bernhard bewusst war, dass diese Einschätzung vom Großteil der Kritiker und Zuschauer nicht uneingeschränkt geteilt werden würde. So kam es zu einem Bruch der Erwartungen der Zuschauer, der seinen Ausdruck sowohl auf der inhalt69 70 71 72 73
Allein im ersten Akt kommt 22 Mal die Regieanweisung „Schaut in den leeren Hundekorb“. Bernhard : Präsident, S. 41. Ebd., S. 15. Ebd., S. 19. Vgl. z.B. die Ankündigung des Österreichischen Verkehrsbüros, zit. nach Gamper : Allegorie, S. 28.
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lichen als der formalen Ebene des Stückes findet. Die Anarchisten und Attentäter gehören nicht zu den dramatis personae, auf der Bühne stehen die Herrscherfiguren. Deren Darstellung in ihrer „radikalen Isoliertheit und pathologischen IchBezogenheit“74 ist zudem nicht durchweg negativ. Auch sind die Bezüge zur realen politischen Situation recht spärlich. Einen despotischen Präsidenten,75 der von anarchistischem Terror bedroht ist, hat es in jüngerer Vergangenheit in Österreich, in dem die ersten beiden Akte spielen, nicht gegeben.76 Bei der Wahl der ästhetischen Mittel seines Bühnenwerks nahm Bernhard keine Rücksicht auf den Publikumsgeschmack. Die monologische Form des Dramas, die mit dem völligen Verzicht auf eine dramatische Handlung einhergeht, widerspricht „dem ursprünglichen, den dramatischen Dialog suchenden Formprinzip“77 und unterläuft den „Unterhaltungsmechanismus“,78 der dem Theater gewöhnlich inne wohnt. Dies wurde als „Zumutung“79 empfunden. „So ist Der Präsident“, laut Hannemann, „zugleich ein Spiel von der Unmöglichkeit des traditionellen Dramas“.80 Auch die Pauschalisierungen, Wiederholungen und Übertreibungen, die irrationalen Attacken und Schimpftiraden riefen Entrüstung hervor. Bei der Uraufführung in Wien gab es „[a]m Schluß Buh-Rufe gegen den Regisseur wohl in Stellvertretung des Autors ?“81 „[S]elbstverständlich, das war zu erwarten, verließen einige Leute unter Protest die Aufführung“.82 Die Vielzahl von Verrissen und bösen Kritiken belegen die provozierende Wirkung ebenfalls. Die Provokation ist seine politische Strategie : Bernhard wollte mit seinem Stück provozieren und dadurch auch zum Denken anregen § dies „vermag […] als Vorschule jeglicher Veränderung verstanden werden.“83 74 Hannemann : Satirisches Psychogramm, S. 150. 75 In der Literatur auf Alfred Maleta, den langjährigen Präsidenten des österreichischen Nationalrats, als Vorlage verwiesen, doch die biographischen Übereinstimmungen sind insgesamt eher gering. Vgl. Mittermayer/Winkler : Kommentar, S. 381. 76 Der Präsident herrscht über ein kleines Land in Mitteleuropa. Als konkreter Schauplatz der ersten beiden Szenen ist Wien zu identifizieren § z.B. wird auf den „Zentralfriedhof“ und das „Heeresmuseum“ verwiesen. § Bernhard : Präsident, S. 58. 77 Hannemann : Satirisches Psychogramm, S. 150. 78 Judex, Bernhard : „Auf dem Weg zu Heldenplatz. Anmerkungen zur Politik in Thomas Bernhards Theaterstücken“, in : ,Österreich selbst ist nichts als eine Bühne‘. Thomas Bernhard und das Theater. Hg. von Manfred Mittermayer und Martin Huber. Wien 2009, S. 58§61, hier S. 57. 79 Gamper : Allegorie, S. 35. 80 Hannemann : Satirisches Psychogramm, S. 150. 81 Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 470. 82 Ebd., S. 469. 83 Schütte : Thomas Bernhard, S. 105.
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Zugleich lässt sich am Text ein Misstrauen des Autors gegenüber dem Theater bzw. der Aufführungspraxis festmachen : Bernhard hat in peniblen Regieanweisungen des Nebentextes, die Szenerie arrangiert und das Verhalten der Schauspieler festgeschrieben. Jeder Blick, jede Geste und jeder Handgriff sind beschreiben. Man hat den Eindruck, dass das Theater für Bernhard der ‚Anarchist‘ ist, der die ‚Ordnung‘ seines Stücks zerstören könnte. Der Autor versucht so nicht nur mittels der Sprachakte seiner Figuren, sondern auch in der gesamten Bühnenpräsentation das Stück nach seinen Vorstellungen zu gestalten. So ist die Zwanghaftigkeit der Figuren bereits in der Form des Textes angelegt. VI. Wie die vorangegangene Untersuchung zeigt, ist Der Präsident auf allen drei von Holderness vorgeschlagenen Analysekategorien, Inhalt, Form und Funktion, als politisch zu bewerten.84 Besonders die enge Verschränkung der drei Ebnen gestaltet dabei die politische Dimension des Stücks. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass inhaltlich die wirtschaftliche und politische Unterdrückung des einfachen Volks durch die Machthaber problematisiert und die brutalen Herrschaftsmethoden des Diktators, wenn auch indirekt, kritisiert werden. Beides geschieht ohne klaren Wirklichkeitsbezug oder Blick auf die Tagespolitik. Diese Abstraktheit hat den Vorteil, dass dadurch die Macht- und Verhaltensstrukturen auf andere Bereiche übertragbar werden.85 Trotzdem verbirgt sich hinter der Kritik ein wahrer Kern. Berücksichtigt man die besondere Ausprägung des politischen Systems in Österreich, so erkennt man, dass Bernhard auf jene gesellschaftlichen Vereinbarungen [zielt], die sich im Österreich der Zweiten Republik im Konzept der ‚Sozialpartnerschaft‘ verfestigt hatten. Diese repräsentiert einen hinter geschlossenen Türen stattfindenden Interessensausgleich […] mit dem Ziel, soziale Konflikte partnerschaftlich durch eine außerparlamentarische Konsenspolitik zu lösen. Sie verunmöglicht damit tiefgreifende politische Reformen und erzeugt gesellschaftliche Stagnation.86 84 Einzig das von Holderness als besonders politisch bezeichnete formale Element, die Verfremdung, ist in der Präsident nicht ohne weiteres aufzuspüren. 85 Und nicht nur auf Österreich und Portugal. In diesem Zusammenhang ist Interessant, dass Der Präsident im März 2011 in Italien uraufgeführt wurde. 86 Schütte : Thomas Bernhard, S. 10f.
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Wenn also Bernhard in Der Präsident auf die Einschränkung der Freiheit und die fehlende Einflussnahme der Bevölkerung hinweist, hat dies einen realen Hintergrund. Besonders hervorzuheben ist die ambivalente Haltung zur Ordnung, der in der widersprüchlichen Charakterisierung der Anarchisten Ausdruck verliehen wird. In dem Bühnenwerk wird kein positives Gegenmodell zur aktuellen Ordnung, die auf Unterwerfung unter die Gewaltstrukturen der diktatorischen Herrschaft des Präsidenten beruht, präsentiert. Die gesellschaftliche Stagnation und Alternativlosigkeit spiegelt sich dabei auch im Bühnentext wieder, nämlich in der „dramatische[n] Statik aufgrund mangelnder Handlungsentwicklung.“87 Zudem finden sich in Der Präsident auch politische Aspekte die eng mit Gesellschaftskritik verbunden sind. Die Herrschenden werden in ihrer Vereinsamung und Entfremdung bloßgestellt, indem sie in Anwesenheit von schweigenden Figuren monologisieren und sie, unter anderem durch sprachliche Mittel, satirisch ins Licht der Bühne gesetzt werden. Die Machthaber werden so in ihrer sozialen Deformation preisgegeben. Es wird offenkundig, dass „[d]ie kritische Substanz des Bernhard’schen Theaters [auch …] in seiner Diagnose der pathologischen Kommunikationsstruktur [liegt], die die moderne Gesellschaft durchzieht.“88 Zugleich wird dadurch das System hinterfragt, das das Präsidentenehepaar repräsentiert. Aufgrund des hohen Abstraktionsgrads dieser politischen Aspekte wurde Bernhards Kritik „Unverbindlichkeit und Wirkungslosigkeit“89 vorgeworfen. Die zeitgenössische Forderung, Kritik klar auf die politische Wirklichkeit zu beziehen und an ihrer Veränderung zu arbeiten, wurde dabei nicht erfüllt. „In der Tat wäre es verfehlt, im Stück Der Präsident ein Zeitstück über die Rote-Armee-Fraktion sehen zu wollen“.90 Der Präsident, als „hochaktuell[es]“ Stück, das sich „mit der Bedrohung durch Anarchisten“91 auseinandersetzt, lanciert, enttäuscht so die Erwartungshaltung des Publikums und schafft sich eine spannungsgeladene Position im institutionellen Raum des Theaterbetriebs.
87 88 89 90
Schütte : Thomas Bernhard, S. 10f. Judex : Thomas Bernhard, S.143. Jürgens : Theater Bernhards, S. 119. Winkler, Jean-Marie : „Rezeption und/oder Interpretation. Zum problematischen Verständnis von Thomas Bernhards Bühnenwerk“, in : Wissenschaft als Finsternis ? Jahrbuch der Thomas-BernhardPrivatstiftung in Kooperation mit dem Österreichischen Literaturarchiv. Wien, Köln, Weimar 2002, S.162§180, hier S.170. 91 Österreichisches Verkehrsbüro (Hg.), Saison in Wien, 5/1974, zit. nach Gamper: Allegorie, S. 28.
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Die öffentlichen Reaktionen auf die Ur- bzw. Erstaufführung des Stücks belegen jedoch, dass Bernhards Dramenkonzept politischer Darstellung, das auf einer Ästhetik der Provokation beruht,92 funktionierte. Die Provokation[…] führt nicht zum zeitkritischen Engagement, geschweige denn zur politischen Lehre. Die Geste der Provokation ist zwar eine politische, zumal die Aufführung des Stücks an der öffentlichen Diskussion teilhat ; doch bleibt dem Zuschauer keine eindeutige Moral.93
Diese muss er aus sich selbst heraus entwickeln. Hier wird die Forderung Brigitte Marschalls erfüllt, politisches Theater müsse durch eine „spezifische Ästhetik […] den Zuschauer zur Reflektion seiner politischen Positionen [zu] zwing[en].“94 Durch die öffentliche Diskussion über Der Präsident geschah eben dies.95 Hält man die Kriterien von Holderness und die Definition von Marschall für stichhaltig, so muss Der Präsident als politisches Stück bezeichnet werden. Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1990 (= Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan BuckMorss und Klaus Schultz. Bd. 7). Becker, Peter von : „Die große, ehrliche Geschwätzoper“, in : Süddeutschen Zeitung, 24./ 25.05.1975. Beer, Otto F.: „Anarchismus auf manieristisch“, in : Süddeutschen Zeitung, 21.05.1975. Bernhard ,Thomas/Unseld, Siegfried : Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt am Main 2009. Bernhard, Thomas : Der Präsident. In : Ders.: Stücke 2. Frankfurt am Main 1988, S. 7§116. Dujmić, Daniela : Literatur zwischen Autonomie und Engagement. Zur Poetik von Hans Magnus Enzensberger, Peter Handke und Dieter Wellershoff. Diss. Konstanz 1996.
92 Vgl. Götze, Clemens : Die eigentliche Natur und Welt ist in den Zeitungen. Geschichte, Politik und Medien im dramatischen Spätwerk Thomas Bernhards. Marburg 2009, S. 32. 93 Winkler : Rezeption und/ oder Interpretation, S.170. 94 Marschall : Politisches Theater, S. 17. 95 Hier wird auch offensichtlich, dass die Provokation als politische Strategie klar auf einen politisch-historischen Kontext bezogen ist. Ob dies auch heute, mehr als 35 Jahre nach der Entstehung des Stücks greift ist fraglich. Dies könnte auch ein Grund dafür sein, warum das Stück kaum noch gespielt wird.
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Fischer, Bernhard : „Politische Dichtung“, in : Fischer Lexikon Literatur. Bd. 3. Hg. von Ulfert Ricklefs. 1. Aufl. Frankfurt am Main 2002, S. 1538± 1556. Gamper, Herbert : „Die auf den Hund gekommene Allegorie. Essay über Bernhards ‚Präsident‘“, in : Theater heute, 8, 16/1975, S. 28± 31. Götze, Clemens : Die eigentliche Natur und Welt ist in den Zeitungen. Geschichte, Politik und Medien im dramatischen Spätwerk Thomas Bernhards. Marburg 2009. Gropp, Eckhard : Thomas Bernhards „Heldenplatz“ als politische Theater. Postmoderne Literatur im Deutschunterricht. Bad Honnef, Zürich 1994. Hannemann, Bruno : „Satirisches Psychogramm der Mächtigen. Zur Kunst der Provokation in Thomas Bernhards ‚Der Präsident‘“, in : Maske und Korthun 23/1977, S. 147± 158. Holderness, Graham : „Introduction“, in : Ders.: The politics of Theatre and Drama. New York 1992, S. 1± 17. Höller, Hans : Thomas Bernhard. Reinbek 1993. Iden, Peter : „Für überhaupt nichts mehr“, in : Frankfurter Rundschau, 23.05.1975. Judex, Bernhard : „Auf dem Weg zu Heldenplatz. Anmerkungen zur Politik in Thomas Bernhards Theaterstücken“, in : ,Österreich selbst ist nichts als eine Bühne‘. Thomas Bernhard und das Theater, hg. von Manfred Mittermayer und Martin Huber. Wien 2009, S. 58± 61. Judex, Bernhard : Thomas Bernhard. Epoche ± Werk ± Wirkung. München 2010. Jürgens, Dirk : Das Theater Thomas Bernhards. Frankfurt am Main et al. 1999. Krammer, Stefan : „Die furchtbaren stummen Rollen. Zu Thomas Bernhards Dramaturgie des Schweigens“, in : ,Österreich selbst ist nichts als eine Bühne‘. Thomas Bernhard und das Theater, hg. von Manfred Mittermayer und Martin Huber. Wien 2009, S. 62± 65. Langemeyer, Peter : „‚Politisches Theater‘. Versuch zur Bestimmung eines ungeklärten Begriffs ± im Anschluß an Erwin Piscators Theorie des politischen Theaters“, in : Aspekte des politischen Theaters und Dramas von Calderón bis Georg Seidel. Deutsch-französische Perspektiven. Hg. von Horst Turk, Jean-Marie Valentin in Verbindung mit Peter Langmeyer. Bern et al. 1996, S. 9± 46. Marschall, Brigitte : Politisches Theater nach 1950. Wien, Weimar, Köln 2010. Meyerhofer, Nicolas J.: „The Laughing Sisyphus : Reflections on Bernhards (Self-)Dramatist in Light of His Der Theatermacher“, in : Modern Austrian Literature, 21, 1988/3± 4, S. 107± 115. Michaelis, Rolf : „Die sich selbst zerstörende Wortmaschine“, in : Süddeutsche Zeitung, 30.05.1975. Michaelis, Rolf : „Kunstkrüppel vom Übertreibunsspezialisten. Notizen zu Thomas Bernhard Theaterstücken der Jahre 1974 bis 1983“, in : Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderheft Thomas Bernhard. 43/1982, S. 25± 45. Mittermayer, Manfred/Winkler, Jean-Marie : „Kommentar zu Der Präsident“, in : Bernhard, Thomas : Dramen 2. Frankfurt am Main 2005, S. 379± 390 (= Werke, Bd. 16). Mittermayer, Manfred : „Das schönste Theater der Welt. Thomas Bernhard und Salzburg“,
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„Gleich welchem Herren des Staates einer dient, er dient dem falschen“ Der Stimmenimitator als polit-pädgagogisches Projekt
I. Der Stimmenimitator wurde nie zu einem Schwerpunkt der Bernhardforschung. Wohl zu Unrecht, Manfred Mittermayer nennt sie gar ein „Konzentrat typischer Bernhard-Erzählungen und Stücke“1 bzw. eine „Art Experimentallabor von Bernhards literarischer Werkstatt“,2 Schmidt-Dengler sieht darin die Trennungslinie im Werk Bernhards, einen Wendepunkt vom Tragischen und Beklagenswerten, vom Schrecken und Jammer, wo das Denken an den Tod im Vordergrund steht, hin zu einer humorvollen Kritik.3 Mittlerweile setzen sich immerhin einige Artikel mit der Sammlung von 104 Kurzgeschichten auseinander. Hervorzuheben ist vor allem die Arbeit Wendelin Schmidt-Denglers mit dem Titel „Verschleierte Authentizität“, welche die titelgebende Geschichte als poetologischen Schlüssel und in Folge die Sammlung als Versuche Bernhards, seine klassische Schreibweise zu verlassen und fremde Stimmen nachzuahmen, begreift. Gattungstheoretisch fasst Schmidt-Dengler die Geschichten als Anekdoten, weist auf deren etymologischen Hintergrund hin § „,Anekdota‘, eigentlich das ,Unveröffentlichte‘, stellt die Korrektur zur überlieferten Geschichte her.“4 § und zeigt weiterhin, wie die Anekdoten, unterstützt von Paradoxie und Übertreibung, eine „Gegen-Authentizität“ gegen anerkannte Meinungen aufbauen. „Wahrscheinliches, Unwahrscheinliches“ hätte der Band heißen sollen. Das Spiel mit Authentizität, Fiktion und Realität, bei dem reale Personen und Lokalitäten eine bedeutende Rolle spielen, wird immer wieder an der Klage der Tochter 1 Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 2006, S. 98. 2 Zit. nach Schütte, Uwe : Thomas Bernhard. Köln, Weimar, Wien 2010, S. 31. 3 Schmidt-Dengler, Wendelin : „,Komödientragödien‘. Zum dramatischen Spätwerk Thomas Bernhards“, in : Gebesmair, Franz/Pittertschatscher, Alfred (Hg.) : Bernhard-Tage Ohlsdorf 1994. Materialien. Weitra 1996, S. 74§98, hier S. 94. 4 Schmidt-Dengler, Wendelin : „Verschleierte Authentizität. Zu Thomas Bernhards ,Der Stimmenimitator‘“, in Ders.: Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard. Wien 2010, S. 64.
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des Gerichtspräsidenten Dr. Reinulf Zamponi gegen die phantasievolle Erwähnung ihres Vaters festgemacht. Laut Schmidt-Dengler wird dabei sichtbar, daß Bernhard mit Personen und Örtlichkeiten etwas vorhat, allerdings belastet er alles Authentische durch Übertreibung, entstellt das Vertraute durch das Groteske, läßt kein Festes ohne ein Ver-Rücktes gelten und beschwört die Grauzone zwischen dem Glaublichen und Unglaublichen oder Wahrscheinlichen und Unwahrscheinlichen.5
Diese Feststellung ist für diesen Beitrag von großer Bedeutung. Wenn Bernhard auch Realität nicht konkret abbilden will, wählt er seine Realitätspartikel doch nicht zufällig und will bestimmte Assoziationen auslösen. Willi Huntemanns Interpretation geht in eine ähnliche Richtung wie SchmidtDenglers, indem sie die im Stimmenimitator offengelegten Unterschiede zwischen berichteten Schicksalen und den Darstellungsperspektiven der Medien unterstreicht. Abweichend räumt Huntemann dem Werk jedoch eine selbstparodistische Haltung ein. Franz M. Eybl deutet die titelgebende Geschichte ebenso poetologisch ; die Sammlung wird zum „Echo anderer Stimmen, auf die Resonanz fremder Rede in der eigenen, auf den Zusammenhang des Textes mit dem, was um ihn herum gesprochen wird.“6 Den Bezug der Geschichtensammlung zu Bernhards Prosawerk sieht er in dessen Umkehrung, eine negative Selbstparodie. II. Diesen Ansätzen keineswegs widersprechend, sondern ergänzend, soll in diesem Beitrag ein weiterer Lektürevorschlag vorgebracht werden : Der Stimmenimitator als durchaus politisches Buch. Dies wurde bisher kaum angedacht. Dabei wird nicht der Versuch gemacht, Bernhards Werk eine einzig geltende Interpretation zu unterlegen § die Sammlung ist sicher nicht dahingegehend konzipiert, einen Inhalt und einen Sinn zu übermitteln. Einerseits kann allein die bereits mehrfach besprochene Kenntlichmachung der verschwimmenden Grenze zwischen Gerücht, Realität und Zeitungsbe5 Ebd., S. 70. 6 Eybl, Franz M.: „Thomas Bernhards ,Stimmenimitator‘ als Resonanz eigener und fremder Rede“, in : Payer, Wolfram (Hg.) : Kontinent Bernhard. Zur Thomas Bernhard-Rezeption in Europa. Wien, Köln, Weimar 1995, S. 31§43, hier S. 32.
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richten als medienpädagogisches Projekt angesehen werden. Mit dem Stimmenimintator kritisiert Bernhard die Zeitungswelt. Der begeisterte Zeitungsleser Bernhard zeigt darin nicht einmal ein „ambivalentes Verhältnis zur Presse“, die Clemens Götze einerseits als massenbeeinflussendes und verdummendes Medium, andererseits auch als Demonstration von Opposition bei Bernhard erörtert.7 Der Stimmenimitator zeigt durchwegs die Verzerrung und Verleugung der tatsächlichen Vorfälle in den Medien auf. Anzumerken ist dabei, dass bei Bernhard immer wieder eine sprachskeptische Haltung auftaucht ; die Wahrheit entzieht sich für ihn unseren sprachlichen Äußerungen. Die Medien werden darüber hinaus als realitätsbestimmend und überaus anziehend dargestellt. Insofern besteht der Wunsch der Menschen, zum Gegenstand der Berichterstattung zu werden ; doch viele Menschen bringt nur ein besonderes Unglück wie ein außergewöhnlicher Tod in die Zeitung. So erzählt ein Steinmetzgehilfe, er wäre beinahe von der Kirchturmspitze in Tamsweg gefallen und dadurch fast in die Zeitung gekommen.8 Auch sonst scheint es für Unbekannte fragwürdig begehrenswert, in den Medien zu erscheinen. Ein Stubenmädchen, dass aufgrund ihrer erfolglosen Anklage einer versuchten Vergewaltigung durch einen französischen Professor mit Bild und der Unterschrift „Eine infame Kitzbühlerin“ in die Zeitung gekommen ist, geht sofort in den Inn.9 Gerüchte wirken sich mehrfach tödlich aus. So streut ein Konkurrent die Unwahrheit, dass sich ein Ebenseer Fotograf an eine Jugendliche vergangen hat, zerstört damit sein Geschäft und treibt ihn in den Selbstmord.10 Doch nicht nur die Zeitungen lügen : nicht einmal auf Grabsteinen steht die Wahrheit11 und Prospekte versprechen falsches Urlaubsglück.12 Ein Auflehnen gegen die Medienmacht scheint sinnlos, so verbraucht ein Koblenzer Kaufmann sein ganzes Vermögen, um mit Inseraten und auf Plakaten vor der enttäuschenden Reise zu den Pyramiden in Gizeh zu warnen, und erreicht damit offenbar nur die Verdoppelung der Ägyptentouristen.13 Der Stimmenimitator kann als Lehrstück zur Bewusstmachung der eklatanten Unterschiede verschiedener Perspektiven auf ein und dieselbe Sache verstanden 7 Götze, Clemens : Die eigentliche Natur der Welt ist in den Zeitungen. Geschichte, Politik und Medien im dramatischen Spätwerk Thomas Bernhards. Marburg 2009, S. 129. 8 Bernhard, Thomas : Der Stimmenimitator. Frankfurt am Main 1987, S. 28. 9 Ebd., S. 38. 10 Ebd., S. 69. 11 Ebd., S. 75. 12 Ebd., S. 15f. 13 Ebd., S. 60.
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werden. Und dies gilt ganz buchstüblich. So kann etwa ein Blick durch das Fernrohr auf dem Großglockner jemanden erfreuen, doch gleich darauf jemand anderen nach einem gellenden Schrei „tödlich getroffen“ zu Boden stürzen lassen.14 Erste Eindrücke führen auf falsche Fährten : so kam der größte Beifall für eine Kammermusikvereinigung im alten Schloß am Attersee ausgerechnet von Taubstummen.15 Ein und derselbe akademische Vortrag kann § jeweils „stichhaltig begründet“ § als scharfsinnig und als schwachsinnig bezeichnet werden. 16 Ein „anerkannter“ Professor schimpft über einen Kollegen oder lobt ihn § je nachdem, ob er es mit dessen Freunden zu tun hat.17 Gerade die „Demontage von Autoritäten“18 scheint ein Ziel der Geschichtensammlung zu sein, der Schein deckt sich „naturgemäß“ nicht mit dem Sein : Ein Theaterschriftsteller reist zu einer Aufführung zum Düsseldorfer Schauspielhaus, „das damals als eine der ersten Bühnen gegolten hat, was naturgemäß nicht heißt, daß das Düsseldorfer Schauspielhaus damals auch tatsächlich ein erstes Theater in Deutschland gewesen ist“.19 Ein anderer Theaterschriftsteller sichert seinen Erfolg, „weil er im Gegensatz zu seinen erfolglosen Kollegen ehrlich genug sei, seine Komödien immer als Tragödien, seine Tragödien aber immer als Komödien auszugeben.“20 Sein Versuch, einmal eine Tragödie als solche zu präsentieren, führt sofort zum Misserfolg. Der sprachliche Stil der Anekdoten Bernhards unterstreicht die Problematik des Wahrheitsanspruchs der Medien : Er ähnelt den Stil der Zeitungsmeldungen und des amtlichen Deutsch, kontrastiert dies aber mit zahlreichen Einschüben mündlicher Erzählungen. In 80 Geschichten tauchen Sprechende auf § im Gasthaus, an der Bar und vor allem im Gericht.21 Der Zeitungsstil wird mehrfach gebrochen, Genres gemischt. So klingen karikierend selbst Märchentöne an. In dem „Anti-Märchen“22 „Im Frauengraben“ bleibt ein Mann spontan zehn Jahre bei einer verkrüppelten Frau und heiratet sie : „Es wird gesagt, daß sie glücklich sind.“23 14 15 16 17 18 19 20 21
Ebd., S. 43. Ebd., S. 52. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Stuttgart, Weimar 1995, S. 100. Bernhard : Stimmenimitator, S. 115. Ebd., S. 117. Rohrbacher, Imelda : Tempussetzung in Thomas Bernhards ,Der Stimmenimitator‘. Wien : unpubl. Diplomarbeit 1998, S. 97. 22 Mittermayer : Bernhard 1995, S. 100. 23 Bernhard : Stimmenimitator, S. 87.
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Wie in Sage oder Märchen fällt eine Königin aufgrund eines falschen Tones in Ohnmacht. Sänger und Chor werden enthauptet, weil sie nie wieder erwacht. Darauf folgt wieder der Ton der Berichterstattung : „Jahrhundertelang waren in Brügge keine musikalischen Messen mehr zu hören gewesen.“24 Bernhard verweist so auf die Unmöglichkeit die Wahrheit in Form von Medien zu berichten. Die Grenze von vermeintlichen Tatsachenberichten zu Gerüchten, Plaudereien und sogar dem Märchen bleibt unklar. Bernhard benutzt die Anekdoten um die Aufmerksamkeit nicht nur auf Prominente und großartigskurrile Fälle zu lenken, sondern auch Banalitäten und Alltäglichkeiten der ,einfachen‘ Personen einzubeziehen. Dabei fördert er neue, unbekannte Blickwinkel auf die Gesellschaft zu Tage, eine Aufgabe, an der Uwe Schütte den politischen Schriftsteller Bernhard festmacht : Das Aussprechen des Verleugneten, die Anklage des Verdrängten, das Hervorheben des Vergessenen § sowohl was konkret gesellschaftliche und politische Probleme, wie philosophisch-existentielle Fragen betrifft § sah Bernhard als eine Aufgabe der Literatur, und insbesondere seiner Literatur.25
III. Dass es sich im Stimmenimitator um ein medienkritisches, pädagogisches Projekt handelt, könnte der weitgehende Verzicht auf Bernhards typischen Stil belegen, auch wenn durchaus die aus der Bernhard-Lektüre geläufigen verschachtelten Relativsätze mit Übertreibungen und Superlativen vorkommen. Doch auf Wiederholungen, Neologismen und Nominalstil wird weitgehend verzichtet. Damit sowie mit der Kürze und dem Humor der einzelnen Anekdoten wurde das Buch lesbarer gemacht. In Anbetracht des ulkig-kauzigen Tons des Buches vermutet Schmidt-Dengler sogar einen möglichen Substanzverlust : „Hat hier ein Autor nicht sich selbst verleugnet, bloß um eine Kost zu bieten, die besser mundet ?“26 Diese Frage könnte auch dahingehend beantwortet werden, dass Der Stimmenimitator einen Versuch darstellt, mehr und andere Leser zu erreichen. Die Sammlung ist weniger verwirrend als sie es manchmal gerade für Bernhardkenner scheint. Die oftmals festgestellte Vielstimmigkeit, das „Stimmen24 Ebd., S. 90. 25 Schütte : Bernhard, S. 107. 26 Schmidt-Dengler : „Authentizität“, S. 61.
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gewirr“,27 ist eigentlich klar gekennzeichnet. Die Sprecher werden benannt. Das erzählende Wir, seltener ist es nur eine Erzählstimme, scheint in allen Anekdoten stets ähnlich oder identisch § aus einer höchst gebildeten und wohlhabenden Schicht, aus dem Großbürgertum oder dem Adel stammend. Auch wenn sie sich zu den Holzknechten setzen, gehören sie nicht zu ihnen.28 Sie sind Mitglieder der Chirurgischen Gesellschaft, Gast bei Professoren und Akademiemitgliedern und laden Gelehrte ein, reisen nach Oslo auf Hamsuns Spuren, lieben Ausflüge im Voralpenraum, erholen sich „lesend und in den umliegenden Wäldern spazieren gehend“,29 ziehen sich im Vinschgau (Sulden) für mehrere Wochen zurück, besuchen von Linzer Ärzten empfohlene Restaurants, werden verehrten Schriftstellern vorgestellt,30 machen in Graubünden (Maloja) die Bekanntschaft eines Pariser Tänzers,31 im Warschauer Schauspielklub die der Übersetzerin des Zauberbergs, einer der gebildetsten Damen Polens, bevorzugen das Hotel Timeo in Taormina und in Warschau selbstverständlich das Hotel Saski vor dem Bristol oder Europejski.32 Die Erzählerstimmen sind sehr homogen, nahezu deckungsgleich. Der Eindruck einer unübersichtlichen Polyphonie lässt sich angesichts dessen gerade nicht bestätigen. Dabei blitzt eine autornahe Position auf, insbesondere bei der Geschichte des ehemaligen Gerichtsberichterstatters.33 Auch in den Perspektiven und berichteten Angewohnheiten der reichen Schichten dürfte Erlebtes eingeflossen sein. Bernhard hatte schon früh durch seinen „Lebensmenschen“ Hedwig Stavianicek Einblick ins Leben des Döblinger Großbürgertums, hatte am Tonhof von Maja und Gerhard Lampersberg Umgang mit Angehörigen der Aristokratie. Später freundete er sich mit Gerda Maleta, der Frau des österreichischen Nationalratspräsidenten, an und war wiederholt Gast in ihrem Haus. Als erfolgreicher Autor konnte er bald eine große Zahl Angehöriger der österreichischen Aristokratie zu 27 28 29 30 31 32 33
Eybl : „Bernhards ,Stimmenimitator‘“, S. 32. Bernhard : Stimmenimitator, S. 86 und 103. Ebd., S. 20. Ebd., S. 171. Ebd., S. 76. Ebd., S. 80. Ebd. S. 29. Bernhard hat schon beim der Sozialdemokratie nahestehenden Demokratischen Volksblatt bei seinen Gerichtsberichten mit Fakten und Fiktion gespielt. Sein zuständiger Redakteur § und als späterer Minister für Unterricht und Kunst sein Gegenspieler § Herbert Moritz erinnert sich an Bernhards Phantasie, die dieser „auch in vielen seiner Berichte über konkrete Gerichtsverhandlungen unkümmert um Sachverhalte und Richtigkeit frei schweifen ließ und damit die Beschwerden und Proteste der Betroffenen heraufbeschwor.“ Zit. nach Mittermayer : Bernhard 2006, S. 32.
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seinen Bekannten und Freunden zählen.34 Selbst seinen eigenen Bauernhof in Ohlsdorf bestückte er mit erlesenen Möbeln, Urkunden und Bildern, die an den Sitz eines Landadeligen erinnern. Anthentizität vermittelnd und dynastisches Familienbewusstsein unterstreichend werden viele Anekdoten in der vermögenden Verwandtschaft verortet : „unser Onkel“ besaß eine Tabakfabrik und ein Lusthaus in Stams,35 der Großvater kaufte „Anfang des Jahrhunderts einem Fürsten Liechtenstein eine Jagdhütte“ ab,36 eine opernenthusiastische Freundin der Mutter will sich auf mehrere Wochen nach Montenegro zurückziehen,37 und ein bekannter Maler ist der geflohene „Mann der [noch im hohen Alter Le Monde lesenden] Schwester meines Großvaters“, dem vom Urgroßvater ein sensationelles Atelier über dem Wallersee eingerichtet wurde.38 Es könnte sich also bei der Erzählstimme durchaus monophon um die aus vielen Bernhardtexten bekannten Landadeligen mit kosmopolitischer Ausrichtung handeln, die dem Bauernstand aber so fern nicht sind § gerade in der Geschichte um den Maler bezeichnet die Erzählinstanz die „Bauern der Gegend [… als] alle auf irgendeine Weise mit uns verwandt“.39 Dass die Perspektive der Reichen, die Perspektive von oben aber nicht zum Glück führt, bezeugen nicht nur viele Selbstmörder und Wahnsinnige in den Anekdoten, sondern metaphorisch auch die Geschichte der drei ausgezeichneten britischen Persönlichkeiten, welche ihren Bergführer aufgrund eines fehlenden schönen Ausblicks von oben in den Abgrund stoßen, worauf sie sich selbst richten und springen. Zwei Erzählungen scheinen ein direkter Angriff gegen die Oberschicht zu sein, die sich gerne auf Cocktailparties aufhält und Kutschenausflüge genießt, welcher an engagierte linksgerichtete Literatur erinnert : In „Vorurteil“ lassen die Erzähler einen Verletzten im Schnee zurück, der ihre Kutsche bremsen wollte, 34 „Seine persönlichen Freunde waren […] der Graf Alexander von Üxküll, bei dem Bernhard in Brüssel 1966 an Verstörung geschreiben hat, die Gräfin Stolberg, mit der er Anfang der sechziger Jahre nach Heerlen gefahren war, der Graf Clam, die Altenburgs, die Baronin Teufl, die O’Donnels in Hochkreut, herrschaftliche Häuser, in denen er gelegentlich vorbeischaute“. Höller, Hans : Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 60. 35 Bernhard : Der Stimmenimitator, S. 19. 36 Ebd., S. 34. 37 Ebd., S. 74. 38 Ebd., S. 150 und S. 153. Bernhards Großvater Johannes Freumbichler hatte tatsächlich eine Schwester Maria, welche in Wien den Kunstmaler Ferdinand Russ heiratete, der um 1912 in Petropolis in Brasilien gestorben sein dürfte, doch nicht als Größe des südamerikanischen Kunstlebens, sondern ohne Spuren zu hinterlassen. Vgl. Höller : Bernhard, S. 103f. 39 Ebd., S. 154.
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weil sie meinen, er wäre ein entsprungener Häftling. Danach erfahren sie, dass so „der beste Arbeiter und der treueste Mensch, den mein Onkel jemals gehabt hatte,“ erfroren ist. „Wir hatten naturgemäß nicht von unserem vorabendlichen Erlebnis verlauten lassen und bedauerten die Witwe des auf so tragische Weise ums Leben gekommenen.“40 An einem Empfang des französischen Botschaftsrats in Kairo plaudert man in der Anekdote „Zurückgetreten“ hauptsächlich über Baudelaires Fleurs de mal. Es wird nicht darauf eingegangen, warum sich soviele Leute vor dem Lift im sechsten Stockwerk drängen. Das Erzähler-Wir tritt zurück, weil sie „Zeit gehabt haben“. Nachdem der Aufzug § „dem alten dramatischen Gesetz der Fallhöhe entsprechend“41 § in die Tiefe rast und zerschmettert, bleibt alles still : Erst als die ersten Schreie zu hören gewesen waren, getrauten sie [=die Zurückgebliebenen, darunter die Erzähler] sich aus ihrer Starre zu lösen, aber sie waren unfähig gewesen, etwas Vernünftiges zu tun. Sie wollten jetzt nicht hinuntergehn und zogen sich in die Wohnung des Botschaftsrates zurück. Auch wir waren in die Wohnung des Botschaftrates zurückgegangen, weil wir genauso wie die andern nicht fähig gewesen waren, hinunter zu gehen. Erst drei Stunden nach dem Vorfall hatten wir, zusammen mit den Anderen, die Wohnung des Botschaftsrates verlassen, als uns gesagt worden war, daß die Leichen aller in dem Aufzug Getöteten weggeschafft seien.42
Kleist, Torberg und Hebbel wurden als Bezugspunkte der Sammlung festgemacht, doch nie Bertolt Brecht, obwohl ein zusammenfassendes Kommentar Schmidt-Denglers die Moritat von Mackie Messer, die darauf aufmerksam macht, dass man die im Dunkeln nicht sieht, wörtlich streift : „Indem Bernhard die Berühmten mit denen, die im Dunkel sind, konfrontiert, erreicht er durch diese polare Paarung wieder eine Perspektive, durch die ein gesellschaftliches Totale in den Blick kommen kann.“43 Diese Anekdoten scheinen einen Einfluss Brechts nahezulegen. Schon als Journalist hat Bernhard Brecht gegen Friedrich Torberg verteidigt.44 Geplant und kolportiert wurde auch eine Abschlussarbeit Bernhards am Mozarteum zu Brecht und Artaud, die er wohl nie verfasste.45 40 Ebd., S. 35 und S. 35f. 41 Höller : Bernhard, S. 59. Dabei bezieht er sich auf Bernhards Satire Elisabeth II., wo er die hocharistokratische Gesellschaft mitsamt dem Balkon der Ringstraßenwohnung stürzen lässt. 42 Ebd., S. 147f. 43 Schmidt-Dengler : „Authentizität“, S. 75. 44 Vgl. Höller : Bernhard, S. 51. 45 Ebd., S. 52.
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IV. Die Anstrengung, welche das Reisen für die Menschen immer wieder bedeutet und auf welche explizit hingewiesen wird, weist auch auf die Erzählerperspektive einer älteren, gehobenen Schicht hin. Die winterliche Reise zum Wohnort Goethes in Weimar macht zwei Philosophen „die größten Schwierigkeiten“,46 einem Salzburger Ehepaar in Rente ist die Reise nach Zell am See „doch sehr anstrengend“. 47 Sogar bei einem ehemaligen Begleiter eines Wanderzirkus wird bei seiner Reise an seinen Geburtsort Reindlmühle von einer Strapaze gesprochen.48 Es bleibt oft eine inhaltliche Leerstelle, wie gereist wird, erwähnt sind nur eine Kutschfahrt und zwei Zugfahrten.49 Umso auffallender ist dies, da Bernhard ein begeisterter Autofahrer war. Hier sei auf Bernhard Sorgs Interpretation hingewiesen, dass Bernhard eigentlich stets die Welt seines Großvaters, die Welt des 19. Jahrhunderts, darstellt,50 welche hier nur bestätigt werden kann. Entsprechende Tätigkeiten und Berufe finden sich in den Kurzgeschichten : Feuerwehrleute, Studenten, Postbeamte, Möbeltischler, Gerichtsaalberichterstatter, Gemeindearbeiter, Totenansager, Transportunternehmer neben Pflasterermeister, Schriftsetzer, Fleischhauer, Steinmetzgehilfen, Holzknechten, Büchsenmacher, Holzzieher, Blochzieher (= beides Holzarbeiter) und eine Weißnäherin (= auf Stickereien und Verzierungen weißer Textilien spezialisierte Näherin). Die Antiquiertheit und lokale Verortung mancher Berufe und Bezeichnungen war dem Autor bewusst, wenn er etwa den Begriff Auszügler eigens erklärt „also ein ehemaliger Bauer, der seinen Hof schon an seinen Sohn übergeben hat“.51 In früherer Literatur so beliebte zirkus- und jahrmarktnahe Figuren wie Stimmenimitator, Hypgnotiseur, Wahrsager und Magnetiseurin tauchen ebenso auf. Nicht einmal Prinzessin und Fürst fehlen in diesem Reigen der Vergangenheit. Mit diesem Panorama aus einer anderen Zeit unterstreicht Bernhard sein Interesse an allgemeingültigen und nicht tagesaktuellen Belangen.
46 47 48 49
Bernhard : Stimmenimitator, S. 11. Ebd., S. 15. Ebd., S. 68. Ebd., S. 34f. (Ein Landauer, eine viersitzige und vierrädrige Kutsche, in der „die Erzähler“ sitzen, verletzt den Holzarbeiter und führt zu dessen Erfrierungstod.), S. 41 und S. 93. 50 Sorg, Bernhard : „Ein kurzgefasster Einwurf als Nachwort“, in : Götze, Clemens : ,Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt‘. Studien zum Werk Thomas Bernhards. Marburg 2011, S. 193§196. 51 Bernhard : Der Stimmenimitator, S. 91.
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V. Ein weiterer zentraler Punkt, der sich im systemkritischen Fokus der Sammlung befindet, ist die Rechtssprechung, wo sich die Mehrschichtigkeit der Realität skandalös auswirkt. Mehr als zehn Geschichten handeln oder enden bei Gericht. Ironisch behandelt wird die Reaktionszeit der Juristen (Wenn aufgrund eines falschen Rezepts eines neuangestellten Apothekers 180 Personen sterben, kommt jener „möglicherweise“ noch vor Weihnachten vor Gericht.52) sowie deren Vorsicht. (Als zwei tote Soldaten im verriegelten Silo gefunden werden, sei ein „Verbrechen […] jedenfalls nicht auszuschließen, meinen sie.“53) Mit skurril-philosophischen und tiefgehenderen Fragestellungen kann sich das Gericht nicht auseinandersetzen : So muss der Theaterschriftsteller ins Irrenhaus statt vor Gericht, weil er auf Herausgabe seines Stückes § nicht nur von den Schauspielern, sondern auch vom Publikum klagt.54 Nach dem Selbstmord dreier Philosophen haben die Familien eine Klage gegen den Staat in Erwägung gezogen, weil sie der Meinung gewesen waren, der Moralund Geistesbankrott des Staates habe die drei in den Tod getrieben, haben eine solche Klage aber dann doch nicht eingebracht, weil sie die Sinnlosigkeit einer solchen Klage eingesehen haben.55
VI. Die Anekdotensammlung geht aber über die genannten systemkritischen Aspekte hinaus, wenn auch manche dezidiert politischen und herrschaftskritischen Geschichten nicht als solche anerkannt wurden. Schmidt Dengler kommentiert sogar die Geschichte „Doppelgänger“ zum jugoslawischen Präsidenten lapidar : „Nicht um eine Kritik an den politischen Zuständen in Jugoslawien geht es in diesem Text.“56 Dass Schmidt-Dengler in dieser Geschichte nur die Mechanik erkennt, „die Naht zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen unkennt52 53 54 55 56
Ebd., S. 50. Ebd., S. 127. Ebd., S. 116. Ebd., S. 161. Schmidt-Dengler : „Authentizität“, S. 78.
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lich zu machen“, greift zu kurz, wenn man sich den Text durchliest und dabei das Erscheinungsjahr 1978 mitten im Kalten Krieg und kurz nach dem Höhepunkt des Terrorismus der Roten Armee Fraktion in Erinnerung ruft, wodurch der Blick auf realsozialistische Länder intensiv geprägt wurde : Ein Mann aus Trebinje, der dem jugoslawischen Präsidenten tatsächlich zum Verwechseln ähnlich gewesen war, hatte der Staatskanzlei in Belgrad angeboten, sich für besonders anstrengende Aufgaben des Präsidenten Jugoslawiens zur Verfügung zu stellen, nicht ohne eine genau Liste jener Aufgaben anzuführen, die er, wie er glaubte, ohne weiteres anstelle des Präsidenten ausführen könne, für die ihm der derzeitige Präsident aber körperlich schon viel zu schwach erscheine. Es sei ihm ein Ehre, anstelle des Präsidenten der sogenannten jugoslawischen Volksrepublik Aufgaben zu übernehmen, die der Präsident nicht unbedingt persönlich auszuführen habe und er verlange für seine angebotenen Dienste nichts. Da der Mann, der Belgrad schon vor drei Jahren das Angebot gemacht hat, von damals bis heute abgängig ist, glauben viele Leute nicht nur in Trebinje und Umgebung, sondern inzwischen in ganz Jugoslawien, daß er längst seinen Dienst in der jugoslawischen Hauptstadt angetreten hat. Die Leute, die ihre Vermutung äußern, werden als Verleumder bezeichnet. Jene, die wissen wollen, der Mann sei ins Gefängnis geworfen oder in eine Irrenanstalt eingeliefert oder längst liquidiert worden, werden genauso als Verleumder bezeichnet. Demnach sind alle Jugoslawen Verleumder.57
Natürlich geht es hier auch um eine Kritik an dem System Jugoslawiens, der „sogenannten Volksrepublik“. Nicht umsonst wurde die Geschichte dort angesiedelt : Menschen, die in Listen denken ; ein System, das Dissidenten gnadenlos verfolgt und dem dennoch nicht geglaubt wird. Dass es sich bei den Ungläubigen um das ganze Volk handelt, erinnert nicht nur an das Paradox des Epimenides,58 sondern vielmehr an Brechts Gedicht Die Lösung mit dem Aufruf an die kommunistische Partei, einfach ein anderes Volk zu wählen.59 Eybl betont zu Recht den Sammlungscharakter und den Zusammenhang der Geschichten und zeigt Strukturgesetze auf : Dass bei Personal, Schauplatz oder 57 Bernhard : Der Stimmenimitator, S. 155f. 58 Daran erinnert Schmidt-Dengler : „Authentizität“, S. 77. 59 „Nach dem Aufstand des 17. Juni / Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands / In der Stalinallee Flugblätter verteilen / Auf denen zu lesen war, daß das Volk / Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe / Und es nur durch verdoppelte Arbeit / Zurückerobern könne. Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes ?“ Buckower Elegien, 1953, in : Brecht, Bertolt : Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Dritter Band : Gedichte 1. Frankfurt am Main 1997, S. 404.
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Themen Parallelen auftreten und kein Inhaltsverzeichnis vorhanden ist, wertet er als Hinweise darauf, die Sammlung sei als ganze zu lesen.60 Dies kann auch noch weiter belegt werden, so verweisen die Geschichten sogar auf vorhergehende und heben z.B. an : „Ein anderer Theaterschriftsteller“61 oder „Demselben Maler, von welchem ich gerade berichtet habe“.62 Den Zusammenhang wahren auch politische Themen. So handeln einige Geschichten direkt vor „Doppelgänger“ ebenso in damals kommunistisch regierten Ländern. Das Buch erschien während des Kalten Kriegs und die Assoziationen waren klar, wenn eine größere Zahl von Anekdoten in den Moskauer Satellitenstaaten angesiedelt wurden. In der Geschichte „Die Königsgruft“, in der Menschen in Krakau, „in welchem, wie bekannt ist, seit dem sogenannten Zweiten Weltkrieg der sogenannte Kommunismus herrscht,“63 aus dem Sarkophagen der polnischen Könige die Königshymne hören. Die erste Person darunter wurde „in den Kerker geworfen“,64 bei Strafe wurde es verboten, auf den Wawel zu gehen, die Königsgruft ist geschlossen worden. Natürlich ist auch hier die Frage nach der Authentizität aufgeworfen, insbesondere mit dem Abschluss „und kein Mensch erinnert sich mehr dieser Begebenheit.“65 Doch ebenso reflektiert es den Repressionsmechanismus im Staat, wenn sich vor einem ausländischen Besucher niemand an eine so kurz zurückliegende und außerordentliche Geschichte erinnern will. Ebenso reagieren die Warschauer, wenn der Erzähler sie mit den Zeugenbericht seines Freundes, des Satirikers Lec,66 konfrontiert, dass unter der Nowy Swiat „die gefährlichsten [und ermordeten] Gegner des derzeitigen Regimes verscharrt seien“ : „Immer wenn ich andere Leute gefragt habe, was sie zu dieser Behauptung von Lec zu sagen hätten, war ich nur mit Kopfschütteln konfrontiert gewesen und ohne Antwort geblieben. Aber Lec hat immer die Wahrheit gesagt.“67 Dass gerade ein Satiriker in seiner Narrenfunktion „immer die Wahrheit“ sagt und sagen kann, mag ebenso auf die sonstige Brutalität des Systems verweisen. Auch die darauffolgende Geschichte beschäftigt sich mit dem „Widerspruch“ zwischen Idee und Realität der Kommunisten, wenn auf einem Empfang des 60 61 62 63 64 65 66
Eybl : „Bernhards ,Stimmenimitator‘“, S. 34. Bernhard : Der Stimmenimitator, S. 117. Ebd., S. 153. Ebd., S. 136. Ebd. Ebd., S. 137. Der reale satirische Lyriker und Aphoristiker Stanisław Jerzy Lec (1909§1966) war übrigens auch 1949 und 1950 polnischer Presseattache in Wien. 67 Bernhard : Stimmenimitator, S. 135.
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deutschen Botschafters in Lissabon der italienische Exkönig Umberto und der ihm gegenüber unterwürfige Kommunistenführer Cunhal Freundschaft schließen. „Mitten in der Nacht auf meinem Heimweg durch Lissabon, war der Schrei der aufgebrachten Massen ein pervers-politischer Widerspruch.“68 Kommunisten erscheinen verlogen, die realsozialistischen Länder tragen das Antlitz des „Reichs des Bösen“. Es mangelt zwar nicht an Todesfällen in den Anekdoten, über 60 Geschichten behandeln Todesfälle, die sich insgesamt auf 6500 summieren,69 doch die erschreckendste unterlassene Hilfeleistung und die extremste Menschenverachtung wird den Regierenden Rumäniens angelastet. Die Geschichte „Entscheidung“ soll aufgrund ihrer Drastik angeführt werden : Nach vorsichtigen Schätzungen sind bei dem letzten Erdbeben, das Bukarest heimgesucht hat, zweieinhalbtausend Menschen ums Leben gekommen, die genauen Berechnungen haben aber ergeben, daß an die viertausend Menschen unter den Trümmern getötet worden sind. Diese Zahl wäre um mindestens fünfhundert geringer, wenn, die Stadt gegen die ausdrückliche Anordnung des dafür zuständigen Beamten der Bukarester Verwaltung, die Trümmer jenes vollkommen zerstörten Hotels einzuebnen und nicht wegzuräumen, gehandelt und die Trümmer weggeräumt hätte. Noch eine Woche nach dem Erdbeben haben Leute aus den Trümmern das Schreien Hunderter Verschütterter gehört. Der Beamte der Stadtverwaltung hat aber das Gebiet um das Hotel abriegeln lassen solange, bis ihm berichtet worden war, daß sich unter den Trümmern überhaupt nichts mehr rührte und aus den Trümmern auch kein Laut mehr zu hören sei. Erst zweieinhalb Wochen nach dem Erdbeben ist es den Bukarestern wieder gestattet gewesen, den Trümmerhaufen zu besichtigen, welcher in der dritten Woche vollkommen eingeebnet worden ist. Der Beamte soll aus Kostengründen auf die Rettung von ungefähr fünfhundert verschütteten Gästen des zerstörten Hotels verzichtet haben. Die Rettung hätte etwa tausendmal mehr gekostet, als die Einebnung, wenn noch nicht einmal die Tatsache in Betracht gezogen worden ist, daß aus den Trümmern wahrscheinlich Hunderte Schwerverletzte zutage gefördert worden wären, die der Staat dann lebenslänglich hätte erhalten müssen. Der Beamte hatte sich naturgemäß der Zustimmung der rumänischen Regierung versichert, wie gesagt wird. Seine Beförderung auf einen höheren Regierungsposten stehe unmittelbar bevor.70
68 Ebd., S. 138. 69 Gezählt wurde dies von Hochmair, Andreas : Die ambivalente Struktur des Komischen in Thomas Bernhards ,Stimmenimitator‘. Wien : unpubl. Diplomarbeit 1998, S. 71. 70 Bernhard : Stimmenimitator, S. 142f.
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Die kalte Kalkulation wurde nicht zufällig in das menschenverachtende System Rumäniens gelegt, 1977 war dort tatsächlich ein verheerendes Erdbeben. Darüber hinaus zeigte sich, nach der anfänglich innen- wie außenpolitischen Popularität (auch im Westen), Nicolae Ceauşescus Terrorregime in den 70ern in aller Deutlichkeit. Dessen Geheimpolizei überwachte alles, unterzog Bukarest sogar mit einem Tunnelsystem, um jederzeit überall eingreifen zu können. Der Diktator ließ sich Conducător, Führer, nennen und übertrug den Personenkult aus China und Nordkorea auf sein Land. Er exportierte rücksichtslos über seine hungernde Bevölkerung hinweg Lebensmittel, um die Staatsschulden abzubauen, und ließ nach dem Erdbeben einen Teil Bukarests zerstören, um seinen Parlamentspalast zu bauen ; von bizarren „Dorfzerstörungs“- und Einwohnerzahlmaximierungsprojekten ganz zu schweigen. Ceauşescus Paranoia drückte sich nicht nur in der Ausschaltung möglicher Gegner und Kritiker aus, sondern auch in Absurditäten wie die Weigerung, ein gleiches Kleidungsstück zweimal anzuziehen. Es verwundert so auch nicht, dass folgende Geschichte in Mitteleuropa angesiedelt wurde, wobei der zeitgenössische Leser wohl automatisch an die realsozialistischen Staaten Mitteleuropas dachte und weniger an deutschsprachige Länder. Die exemplarische „Staatsgeschichte“ wird anhand eines dort angesiedelten Landes, „in welchem die Staatspräsidenten heute jeden Augenblick um ihr Leben fürchten müssen und das mit Recht“,71 erklärt : Der Präsident eröffnet seinem Vertrauten seinen Plan, „der es dem Staatspräsidenten über Nacht ermögliche, den Staat, den er, wie auch alle anderen Staatspräsidenten in Mitteleuropa den ihren, naturgemäß folgerichtig in den absoluten Ruin geführt hat, unter Mitnahme eines derartig großen Vermögens im Stich zu lassen, daß ihm ein, gleich wie langes und sicheres und luxuriöses Leben in einem dazu ideal geeigneten Ausland sicher sei.“72 Trotz eines höchst großzügigen Angebots zum ebenso sorglosen und luxuriösen Leben tötet der Vertraute den Präsidenten, ruft sich selbst zum Staatspräsidenten aus und liquidiert alle Anhänger seines Vorgängers. Deren größter Mörder wird jedoch zu seinem Vertrauten ; der neue Präsident, der nun das „Urbild der Staatsgeschichte“ kennt, will sich zwar seiner entledigen, doch : „Er hatte aber zu langsam gehandelt.“73 Bei der antikommunistischen Stoßrichtung in Der Stimmenimitator merkt man nichts von Bernhards immer wieder auftauchenden Sympathien für die Idee 71 Ebd., S. 158. 72 Ebd., S. 158. 73 Ebd., S. 159.
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des Sozialismus, den Murau in der Auslöschung als Ehrenwort bezeichnet74 und den er immer wieder vom parteipolitischen „Pseudosozialismus“ abgrenzt.75 VII. Diese klare Absage an den real existierenden Sozialismus gewinnt an Brisanz, wenn man sich andere Anekdoten der Sammlung vor Auge führt, die in Österreich handeln sowie in Deutschland, das ein Jahr vor den Erscheinen der Geschichtensammlung im Deutschen Herbst den Höhepunkt des RAF-Terrorismus erleben musste : 1977 wurde Hanns Martin Schleyer entführt und ermordet sowie die Lufthansa-Maschine „Landshut“ gekidnappt. Aufgrund der fehlgeschlagenen Befreiung begingen Andreas Baader, Gudrun Esslin und Jan Carl Raspe in Stammheim Selbstmord. Die Repressionsmaßnahmen des Staats und die Medienhetze stehen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, und Literaten reagieren mehrfach. Daran musste der zeitgenössische Leser denken,76 wenn Geschichten von einem übermächtigen deutschen Staatsapparat handeln, der Kritiker entfernt wie in der Geschichte „Staatsdienst“ : Ein deutscher Bibliothekar wurde aus Marburg an der Lahn an den persischen Golf versetzt. „Er habe in einer in Frankfurt erscheinenden wissenschaftlichen Zeitung einen Aufsatz gegen die deutsche Rechtsordnung veröffentlicht und sei aus diesem Grunde an den persischen Golf versetzt worden.“ Zuerst schien er sich damit abgefunden zu haben, doch das Klima ließ ihn angeblich tödlich erkranken. „Sein größter Fehler sei es gewesen, in den sogenannten Staatsdienst einzutreten, das habe für ihn nichts als seine systematische Zerstörung bedeutet, zuerst seine geistige und schließlich auch seine körperliche Zerstörung. Wer in den Staatsdienst eintrete, gleich aus wel74 Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 1988 [1986], S. 118. 75 Z.B. Professor Robert Schuster in Heldenplatz : „dieser größenwahnsinnige Sozialismus / der mit Sozialismus schon seit einem halben Jahrhundert / nichts mehr zu tun hat / was die Sozialisten hier in Österreich aufführen / ist ja nichts als verbrecherisch / aber die Sozialisten sind ja keine Sozialisten mehr / die Sozialisten heute sind im Grunde nichts anderes / als katholische Nationalsozialisten / den Sozialismus haben die österreichischen Sozialisten / schon in den frühen fünfziger Jahren umgebracht / seither gibt es in Österreich keinen Sozialismus mehr / nur noch diesen ekelerregenden Pseudosozialismus“. Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1989 [1988], S. 97. 76 Lediglich Eybl weist § nur nebenbei § auf diese zeitliche Übereinstimmung hin : „Bernhards ,Stimmenimitator‘“, S. 35.
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chen Gründen und gleich in welche Position, werde zerstört und vernichtet, sagte er uns.“ Trotz hunderter Gesuche musste der Gelehrte am Golf bleiben : „Er sei ganz bewusst von dem Staat, dem er hatte dienen wollen, den ein einzigesmal zu kritisieren er sich aber erlaubt hatte, in den Tod getrieben worden.“ Die Erzählerstimme kommentiert den Tod kurz nach dem Besuch am Krankenbett und die Todesanzeige der deutschen Regierung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einem klaren Schlussstrich : „Der Staatsdienst vernichtet jeden, der in ihn eintritt. Gleich welchem Herren des Staates einer dient, er dient dem falschen.“77 Doch trotz der Staatskritik ist der Text in Sachen Drastik kaum zu vergleichen mit den Geschichten der menschenverachtenden Regimes in Osteuropa. Die Parallele der Staatssanktion offenbart einen großen Unterschied : ein Regime verscharrt seine Kritiker, ein anderes schickt sie auf einen Posten ins Ausland. Die Absurdität der gewaltsamen Opposition in Westeuropa zeigt sich in „Unerfüllter Wunsch“, wo skurriler Weise in Atzbach, einer Gemeinde mit wenig mehr als 1000 Einwohnern im Hausruckviertel Oberösterreichs, eine Frau von ihrem Mann erschlagen wurde, weil sie das falsche Kind aus dem Feuer gerettet hatte, nämlich die Tochter und nicht den Sohn, mit welchem der Vater „etwas besonderes vorgehabt hatte“ : „Als der Mann vor dem Welser Kriegsgericht gefragt worden war, was er denn mit seinen Sohn vorgehabt habe, der im Feuer vollkommen verbrannt ist, hatte der Mann geantwortet, einen Anarchisten und dikatur- und also staatsvernichtenden Massenmörder.“78 VIII. Ein Wunsch nach Revolution und Staatsvernichtung wie bei diesem Protagonisten ist in den Texten jedoch sonst keineswegs festzumachen. Von Revolutionen erwartet sich der Erzähler keine Besserung, so die Geschichte „Glück“ : Wenn die Mächtigen in ihren Staaten zu mächtig werden und durch die lange Dauer ihrer Macht nicht nur das gesamte Volksvermögen, sondern auch das ganze Geistesvermögen in ihrem Staate aufgebracht haben, wundern sich in vielen Staaten immer noch viele Leute, daß da und dort über Nacht und naturgemäß sehr oft auf die grausamste Weise die Mächtigen umgebracht werden und Anarchie herrscht. Wir können von Glück reden, 77 Bernhard : Stimmenimitator, S. 144, S. 145, S. 145 und S. 146. 78 Ebd., S. 121.
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sagte jener Professor aus jenem Staate zu mir, aus welchem er flüchten hatte können und in dem vorige Woche der Ministerpräsident umgebracht worden ist. Wie der Professor aber wieder in sein Land zurückgekommen ist, war er sofort an der Grenze verhaftet und in den Kerker geworfen worden, obwohl in der Zwischenzeit ein neuer Ministerpräsident und absoluter Gegner des Ermordeten an der Macht gewesen war.79
Die politischen Geschichten sind vor allem in Mittel- und Osteuropa angesiedelt. Länder wie Großbritannien und Frankreich interessieren Bernhard nicht, anscheinend hat er Sympathien für die schon lange Zeit funktierenden repräsentativen Demokratien. Doch beschäftigt er sich mit seinem geliebten Portugal, jenem Land der letzten linksgerichteten und antikolonialistischen Revolution in Europa, welche in großer zeitlicher Nähe zur Publikation stattfand. Direkt vor der Geschichte über das Bukarester Erdbeben behandelt „Abgefunden“ fiktive Revolutionen in Portugal § Bernhard transformiert die übrigens beinahe unblutige Nelkenrevolution 1974, nach welcher der faschistische Kolonialstaat „Estado Novo“ von der Armee zur Demokratie umgewandelt wurde, in ein grausames Spiel von Revolution und Gegenrevolution : In der Universität von Coimbra, der ältesten Universität von Portugal, von welcher ich zu einer Vorlesung eingeladen worden war, hat mich ein Professor für Rechtsgeschichte, mit dem ich nach meiner Vorlesung in einem kleinen Weinlokal zum Abendessen gewesen war, gesagt, daß am Tage der sogenannten Ersten Revolution alle Kollegen seiner Fakultät im sogenannten Naturgeschichtskabinett der Universität aufgehängt worden sind, weil sie sich mit den damaligen Revolutionären nicht solidarisch erklären wollten. Zwei Jahre später, am Tage der sogenannten Zweiten Revolution, sind in eben demselben Naturgeschichtskabinett jene aufgehängt worden, die zwei Jahre vorher seine Kollegen aufgehängt hatten. Auf meine Frage, warum er selbst denn noch heute am Leben sei, antwortete er, er habe alles, was er mir gerade berichtet habe und das tatsächlich auf Wahrheit beruhe, in einem Traum vorausgesehen. Er habe gewußt, daß der Traum, den er schon ein Jahr vor den tatsächlichen Ereignissen gehabt habe, Wirklichkeit werden wird und habe eine auf vier Jahre befristete Einladung an die Universität Oxford in England, die ihm ein dort schon seit vielen Jahren lehrender Freund vermittelt habe, angenommen. Naturgemäß empfinde er es als bedrückend, noch heute am Leben zu sein und wieder an der Universität von Coimbra zu lehren, aber er habe sich mit dieser ununterbrochenen Bedrückung längst abgefunden.80 79 Ebd., S. 157. 80 Ebd., S. 141.
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IX. Obwohl gerade in der angespielten portugiesischen Revolution die Bedeutung der Kunst nicht zu unterschätzen ist § immerhin wurde mit einem Lied im katholischen Rundfunk das Signal zum Ausrücken der aufständischen Soldaten gegeben und José Afonsos Grândola, Vila Morena wurde zum Kampflied der Bewegung,81 wird im Anekdotenband der Kunst wenig revolutionäre Kraft zugestanden. Sie scheint im Gewirr der Medien missverstanden zu werden. So jagt ein „eigenwilliger Autor“ „immer jenen Zuschauer einen tödlichen Schuß in den Kopf […], welcher seiner Meinung nach, an der falschen Stelle gelacht hat“,82 und tötet so allesamt. Gemalte „eigenwillige“ Vorstellungen von Jesus Christus auf riesigen Leinwänden enden als Wagenplachen, „wozu sie sich, wie man sich denken kann, vorzüglich eigneten. Selbstverständlich waren diese Leinwände als Wagenplachen von den Bauern nur mit dem Christus nach innen auf ihren Wagen befestigt worden.“83 Dementsprechend ist auch die „intelligenteste und bedeutendste Dichtern, die unser Land in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat,“84 offensichtlich Ingeborg Bachmann, „an der Gemeinheit ihrer Heimat zerbrochen […], von welcher sie auch im Ausland auf Schritt und Tritt verfolgt worden war wie so viele.“85 Nicht besser ergeht es den Intellektuellen. Philosophen jagen sich und ihre Familien in die Luft, weil „alle philosophischen Auseinandersetzungen zu nichts“ führen.86 Ebenso bringen sich drei ehemalige Studienkollegen, ein Künstler, ein Maler und ein Naturwissenschaftler aus Verzweiflung um, so in der Anekdote „Entzogen“ : In den letzten Monaten haben sich drei ehemalige Studienkollegen umgebracht, die meine Freunde gewesen sind und die mich beinahe mein ganzes Leben mit ihren Künsten begleitet und die mir meine eigene Existenz tatsächlich überhaupt erst möglich gemacht haben. Jetzt ist es plötzlich leer geworden um mich. Der Musiker hat sich umgebracht (erschossen), weil die Menschen kein Ohr für seine Kunst gehabt haben. Der 81 Der Portugalliebhaber Bernhard kannte die Geschichte sicher gut. Eine Anekdote handelt auch im armen Antejo, woher Melodie und Tradition dieses Chorgesanges mit Vorsänger und Mehrstimmigkeit kommen. Vgl. Bernhard : Stimmenimitator, S. 139. 82 Ebd., S. 118. 83 Ebd., S. 154. 84 Ebd., S. 167. 85 Ebd., S. 168. 86 Ebd., S. 160.
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Maler hat sich umgebracht (erhängt), weil die Menschen keine Augen für seine Kunst gehabt haben. Der Naturwissenschaftler, mit welchem ich schon auf die Volksschule gegangen bin, hat sich umgebracht (vergiftet), weil die Menschen seiner Meinung nach überhaupt keinen Kopf für seine Naturwissenschaft gehabt haben. Alle drei haben sich aus Verzweiflung darüber dem Leben entziehen müssen, daß die Welt keine ihnen und ihren Künsten und Wissenschaften entsprechende Aufnahmeorgane und Aufnahmefähigkeiten mehr gehabt hat.87
Auch in dieser desillusionierenden Geschichte baut Bernhard Widersprüche ein : die Welt verstehe die Errungenschaften der Kollegen nicht, doch dem Erzähler wird dadurch erst seine Existenz ermöglicht. So sinnlos erscheint Bernhard wohl das künstlerische Schaffen doch nicht. X. Wenn auch das Buch durchaus als politisches gelesen werden kann, liefert Bernhard einmal mehr keine positiven Ziele oder Utopien. Vernichtend sind die Darstellungen der realsozialistischen Länder. Revolutionen scheinen aussichtslos zu sein, schnelle Wechsel unmöglich. So kommen in der Anekdote „Pisa und Venedig“ die Bürgermeister dieser Städte ins Irrenhaus, weil sie die weltbekannten Symbole ihrer Städte austauschen wollen. Der „Tausch“ ihrer Tätigkeiten zwischen Wirt und „Denker“,88 wobei allein die Kategorien an ein Lehrstück denken lassen, führen zu einem großen Misserfolg. Anarchie wird nur von einem gewalttätigen Vater herbeigesehnt. Staat und Bürokratie der marktwirtschaftlichen Länder sowie deren Autorität werden jedoch ebenso in Frage gestellt. Diese Aussagen wirken in Jahren des Kalten Kriegs und des Terrors in Deutschland ratlos. Immerhin scheint Bernhard einen Sinn darin zu sehen, das Lesepublikum vor den Medien und damit vor jeglichem Anspruch auf Authentizität und Wahrheit zu warnen. Außerdem zeigt sich immer wieder eine menschenfreundliche Note in den Texten : ,einfache‘ Menschen werden bewundert. In „Natürlich“ vermag es ein Holzknecht aus Irresberg im Gasthaus gar „mehrere Stunden seine und tatsächlich die Welt“ zu erklären, wonach er aber am Heimweg ertrunken ist.89 87 Ebd., S. 169. 88 Ebd., S. 39. 89 Ebd., S. 103f.
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Zum Abschluss soll auf die erste Anekdote der Sammlung Bezug genommen werden, welche zwar nicht die namensgebende ist, doch mit Grund vorangeht. In „Hamsun“ lernen die Erzähler auf der Flucht vor der Philosophie „von Mitteleuropa nach Norden“ einen ehemaliger Philosophiestudenten kennen, der im Altersheim arbeitet, wo er seinen ersten Patienten Hamsun nicht erkannt hat. Dieser berichtet, „daß er die Philosophie tatsächlich über Nacht aufgegeben und sich mit siebenundzwanzig Jahren der Alterfürsorge zur Verfügung gestellt habe. Er bereue seinen Entschluß nicht.“90 Dass es sich bei dem Patienten gerade um den Sympathisanten der Nationalsozialisten und Rechtfertiger der Konzentrationslager Hamsun handelt, könnte als für Bernhard ungewöhnliche Geste des Verzeihens und der Offenheit gelesen werden. Die Sammlung scheint ein Plädoyer für Einfachheit und Bescheidenheit, für die Abkehr von höheren Sphären zu sein. Die Anekdoten scheinen nahezulegen, statt einer Revolution von unten und durch Massen könnte eine Vorbildwirkung Einzelner Individuen und Gesellschaft retten. Eine politische Lesart von Der Stimmenimitator, einer Sammlung, die sich gegen Autoritäten, Wahrheitsansprüche und übermächtige Staatssysteme richtet, erscheint dabei durchaus angebracht. Literaturverzeichnis Bernhard, Thomas : Der Stimmenimitator. Frankfurt am Main 1987 [1978]. Dittmar, Jens (Hg.) : Thomas Bernhard. Werkgeschichte. Frankfurt am Main 1990. Eybl, Franz M.: „Thomas Bernhards ,Stimmenimitator‘ als Resonanz eigener und fremder Rede“, in : Payer, Wolfram (Hg.) : Kontinent Bernhard. Zur Thomas Bernhard Rezeption in Europa. Wien, Köln, Weimar 1995, S. 31§43. Götze, Clemens : Die eigentliche Natur der Welt ist in den Zeitungen. Geschichte, Politik und Medien im dramatischen Spätwerk Thomas Bernhards. Marburg 2009. Hochmair, Andreas : Die ambivalente Struktur des Komischen in Thomas Bernhards ,Stimmenimitator‘. Wien : unpubl. Diplomarbeit 1998. Höll, Joachim : Thomas Bernhard. München 2010. Höller, Hans : Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 1993. Holdenried, Michaela : „Pointen der Vergeblichkeit. Thomas Bernhards Kürzestprosa (Ereignisse [1957/69] ; Der Stimmenimitator [1978])“, in : Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. 100, 2, 2006, S. 145§165. Judex, Bernhard : Thomas Bernhard. Epoche ± Werk ± Wirkung. München 2010. 90 Ebd., S. 8.
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Radikales Denken, radikales Schreiben Bernhard und Baudrillard als Wahlverwandte
Der Begriff der Radikalität gehört zu den Stereotypen der Bernhardrezeption. „Schon nach der Lektüre weniger Seiten irgendeines Prosawerkes von Bernhard […] fällt dem Leser auf, dass jeder Aussage Bernhards eine gewisse Radikalität eignet.“1 Dass die Radikalität dabei kein Oberflächenphänomen darstellt, sondern erlaubt, präzise nach dem formalen und gesellschaftskritischen Einsatz der Bernhardschen Prosa zu fragen, legt dieser Beitrag anhand eines Vergleichs mit Jean Baudrillard dar. In seinem Aufsatz La pensée radicale (Paris 1994) liefert der Franzose eine strukturale Analyse des Radikalen, die sich als erstaunlich erhellendes Dispositiv zur Prosa Bernhards liest. Die Baudrillardsche Konzeption dient im Folgenden einerseits dazu, jenseits des nationalen Kontextes eine Gemeinsamkeit zwischen dem Schreiben der beiden aufzuzeigen. Basierend auf einer sprachtheoretischen Perspektive erlaubt sie es andererseits, auf die spezifische Form § und Problematik § der gesellschaftlichen Bedeutung des Schreibens beider Autoren einzugehen. Auf den ersten Blick muss eine Analogie zwischen Bernhard und Baudrillard befremden. Weder gehört der französische Soziologe zu den Hausphilosophen des Österreichers noch scheint er sich als Medien- und Simulationstheoretiker in dessen Bibliothek der „Gebetsbücher der Philosophen“2 zu fügen. Postuliert man eine Wahlverwandtschaft, dann kann sich diese kaum an inhaltlichen Positionen orientieren. Zwar finden sich durchaus isolierte Aussagen, die in ihrer (scheinbaren) Korrespondenz frappierend sind. Bernhards Satz, „[a]lles müsste immer mehr von einem weg durch sich selbst lautlos verschwinden“,3 könnte wortwörtlich einem Text Baudrillards entstammen. Das gleiche gilt für Muraus Invektiven in 1 Schmidt-Dengler, Wendelin : „,Der Tod als Naturwissenschaft neben dem Leben, Leben‘. Zu Bernhards Sprache der Ausschließlichkeit“, in : Ders.: Der Übertreibungskünstler. Wien 2010, S. 11§18, hier S. 11. 2 Vogel, Juliane : „Die Gebetsbücher der Philosophen § Lektüren in den Romanen Thomas Bernhards“, in : Modern Austrian Literature, 21, 4/1988, S. 173§187. 3 Bernhard, Thomas : „Drei Tage“, in : Der Italiener. Frankfurt am Main 1989, S. 78§90, hier S. 89, Hervorhebung im Original.
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Auslöschung. Ein Zerfall, wenn dort von der Fotografie als „gemeine[r] Sucht“ und „Krankheit“4 die Rede ist, Aussagen, die ihre literale Entsprechung bei Baudrillard finden, wenn auch dieser von der „virusartige[n] Anstreckung der Dinge durch Bilder“5 spricht. Die Liste ließe sich fortsetzen § bis hin zu den Stilisierungen von beiden Denkern als Fatalisten oder Apokalyptikern. Allgemein übergehen derartig gezogene Parallelen jedoch die kategorialen Differenzen des hauptsächlich als Medien- und Kulturtheoretiker gehandelten Franzosen einerseits und Bernhard andererseits, dessen Schreiben im Österreich der Zweiten Republik zu verorten ist. Der Vergleich gewinnt jedoch in Rückführung auf sprachtheoretische Prämissen, die beide Autoren in Strategien des Schreibens ummünzen, an Substanz und Tragweite. Mit Bernhard respektive Karl in Ungenach gesprochen, handelt es sich hierbei um den rhetorischen Moment der Sprache, den beide instrumentalisieren : „aber nicht was er gesprochen hat, das höre ich nicht mehr, immer nur wie, aber nicht was er gesprochen hat,“6 so resümiert Karl die Erinnerung an seinen Vater, indem er die Aussage in seiner iterativen Struktur selbst performativ einholt und damit auf einer metareflexiven Ebene zugleich ein zentrales Prinzip der Prosa Bernhards benennt. Dieser Fokus auf einem rhetorischen Sprach- und Schreibverständnis soll zunächst ausgehend von Baudrillard dargelegt werden § wobei es sich hier um keine Rhetorik im klassischen Sinn handelt, sondern zunächst um eine „Art Verselbstständigung des Sprachlichen“.7 Die Radikalität als Sprachspiel I : Baudrillard Baudrillard beginnt seinen Essay „Das radikale Denken“ mit einem Zitat des englischen Autors Robert Louis Stevensons : „Der Roman ist ein Kunstwerk, weniger aufgrund seiner unvermeidlichen Ähnlichkeiten mit dem Leben als aufgrund der unermesslichen Unterschiede, die ihn vom Leben trennen.“8 Dieser Einstieg ist signifikant, weil er sich für eine bestimmte § antirealistische und -mi4 Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall, hg. v. Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Frankfurt am Main 2009 (= Werke, Bd. 9), S. 24. 5 Baudrillard, Jean : Das andere Selbst. Wien 1994, S. 29. 6 Bernhard, Thomas : Ungenach. Frankfurt am Main 2006 (= Werke, Bd. 12), S. 45, Hervorhebungen im Original. 7 Eyckeler, Franz : Reflexionspoesie. Sprachskepsis, Rhetorik und Poetik in der Prosa Thomas Bernhards. Berlin 1995, S. 76f. 8 Baudrillard, Jean : „Das radikale Denken“, in : Ders.: Short Cuts. Frankfurt am Main 2003, S. 173§ 191, hier S. 173.
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metische § Poetik ausspricht. Diesen Aspekt nimmt Baudrillard im Verlauf des Essays erneut auf, um die poetische Sprache als eigengesetzliche dem radikalen Denken zu unterlegen. Darüber hinaus liest sich hier eine Aussage ab, die zugleich den Status seiner eigenen Arbeiten betreffen : Baudrillards Texte sind laut eigenem Urteil „Theorie-Fiktion“.9 Baudrillard ist jenen Poststrukturalisten zuzurechnen, die die Gattungsgrenzen zwischen Philosophie respektive akademischem Diskurs und Literatur bewusst kassieren. Sowohl der Realitätsbezug als auch die diskursiven Regeln eines analytischen und prädikativen Denkens und Urteilens werden suspendiert. „Der Diskurs über Wahrheit ist schlichtweg unmöglich, denn er entgeht sich selbst.“10 Diese Haltung steht maßgeblich in der Nachfolge von Nietzsche und war wiederholt Gegenstand der Kritik,11 auf die ich jedoch nicht eigens eingehe. Stattdessen interessiert dieser Ansatz im hiesigen Kontext ausschließlich in seiner sprachtheoretischen Konzeption. Baudrillard fällt die für seinen Essay wesentliche Differenz, indem er zwischen einem substantiellen und einem funktionalen Sprachverständnis unterscheidet.12 Beide Ansätze schließen sich gegenseitig aus. Der substantielle Diskurs ist bedeutungs- und sinnfixiert. Er geht nach wie vor von einer sinnfälligen und notwendigen Beziehung zwischen Begriff und Realität aus. Es ist ein Diskurs des Realen, „der auf die Tatsache setzt, dass es etwas gibt und nicht nichts“.13 Dem gegenüber setzt Baudrillard mit dem funktionalen Sprachverständnis das radikale Denken, „welche[s] die Nichtwahrheit der Tatsachen wieder herstellt, die Nichtbedeutsamkeit der Welt, indem es die umgekehrte Hypothese erstellt : dass es nichts gibt und nicht etwas“.14 Dieser Ansatz basiert auf der Prämisse, dass eine „ideale und gleichsam notwendige Beziehung zwischen Begriff und Realität“15 nicht mehr gegeben ist § wobei hinzuzufügen ist, dass eine solche auch gar nicht mehr angestrebt wird. 9 Baudrillard, Jean : Laßt euch nicht verführen. Berlin 1983, S. 35. 10 Ebd., S. 50. 11 Vgl. Habermas, Jürgen : Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main 1988, S. 219§247 ; Frank, Manfred : Was ist Neostrukturalismus ? Frankfurt am Main 1984, S. 400§454. 12 Ich übernehme diese Begrifflichkeiten, die Baudrillard selbst nicht verwendet, von Stefan Willer. Vgl. Willer, Stefan : „Radikalität als Sprachspiel“, in : Fuest, Leonard/Löffler, Jörg (Hg.): Diskurse des Extremen. Über Extremismus und Radikalität in Theorie, Literatur und Medien. Würzburg 2005, S. 61§73, hier S. 64. 13 Baudrillard : „Das radikale Denken“, S. 179. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 177.
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Der funktionale Sprachgebrauch lässt sich ferner als ein Sprachspiel im Sinne Wittgensteins verstehen § dabei sind jedoch zwei Qualifikationen zu treffen. Die erste betrifft den Begriff der Radikalität. Wenn Baudrillard die Radikalität an ein Sprachverständnis bindet, das „immer die […] Nichtrealität der Tatsachen“16 postuliert § ein Befund, der auch die Bestimmung der Sprache betrifft, die „in ihrer Bewegung selbst Illusion ist : denn sie ist Träger […] jener Kontinuität des Nichts“17 §, dann scheint der Begriff der Radikalität hier fehlplaziert. Seiner etymologischen Wortbedeutung nach greift die Radikalität als radix (lat.) zu den Wurzeln, um einen § eigentlichen oder ursprünglichen § Bedeutungsgehalt der Sprache zu begründen. Baudrillard verfährt jedoch genau umgekehrt, indem er die Sprache in ihrer semantischen Fundierung auflöst. Er überführt den Begriff der Radikalität derart von einem fundamentalontologischen Gestus in die Rhetorik, um ihn über den Sprachgebrauch festzulegen : „Das radikale Denken ist in nichts unterschieden vom radikalen Gebrauch der Sprache.“18 Es geht also erstens um eine pragmatische Konzeption der Sprache, d.h. Bedeutungen werden im Gebrauch der Sprache erzeugt. Zweitens entlarvt Baudrillard auf diese Weise etablierte Sinnzuschreibungen und erbringt den Nachweis über die „grundlegende Illusion des Sinns“.19 Radikal ist diese Konzeption zunächst, weil sie sowohl konsensuelle als auch fundamentalisierende Sprachkonventionen unterläuft, indem sie diese auf die Funktionsweise der Sprache selbst zurückführt. Der erste Moment schließt bündig an Wittgensteins Sprachspielbegriff an.20 Das Sprachspiel trifft keine Aussagen über die Wirklichkeit, sondern basiert auf der Verwendung und Funktion von Wörtern : „Wir analysieren nicht ein Phänomen (z.B. das Denken), sondern einen Begriff (z.B. den des Denkens), und also die Anwendung eines Wortes.“21 Im Sprachspiel stellt die Bedeutung einen Effekt oder eine Folge des jeweiligen Sprachgebrauchs dar. „[D]er Gebrauch eines Wortes, wenn man die Sprache als Spiel betrachtet, [ist] etwas dem Spiel 16 17 18 19 20
Ebd., S. 179. Ebd., S. 180. Ebd. Ebd., S. 189. Baudrillard selbst bezieht sich in seinen Analysen vornehmlich auf Ferdinand de Saussure. Dieser vergleicht in seinen Cours die Sprache bereits mit dem Schachspiel, eine Analogie die später auch Wittgenstein verwendet. Vgl. Saussure, Ferdinand de : Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967, S. 27, S. 104ff., S. 127. 21 Wittgenstein, Ludwig : Philosophische Untersuchungen, in : Ders.: Tractatus logico-philosophicus/Tagebücher 1914± 1916/Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Band 1. Frankfurt am Main 1984, §383/S. 400.
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internes […], während die Bedeutung auf etwas außerhalb des Spiels zu verweisen scheint. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass sich ‚Bedeutung‘ und ‚Gebrauch‘ nicht gleichsetzen lassen.“22 Während der späte Wittgenstein ausgehend von dieser Konzeption trotz allem „Fundamentalsätze“ 23 zu formulieren sucht, die funktional, nicht substantiell in der Sprache verankert sind, ist das Anliegen von Baudrillard nicht die Gewissheit oder eine therapeutische Methode wie bei Wittgenstein. Mit der Nicht-Erkenntnis als Resultat des Sprachspiels zielt Baudrillard hingegen auf Irritation und Verstörung : „Virales, schädliches, den Sinn korrumpierendes Denken.“ (RD 190) § Dies führt zu einer zweiten Qualifikation. Wenn Baudrillard von der „Nichtwahrheit der Tatsachen“ spricht, dann äußern sich darin Urteile, die er kraft seiner eigenen Prämissen kaum fällen kann. Die Argumentation verfährt tautologisch. Baudrillards Diskurs basiert auf Voraussetzungen, die in der schematischen Unterscheidung eines substantiellen und funktionalen Sprachverständnisses nicht mehr befragt werden. Stefan Willer erläutert diese Position folgendermaßen : „Baudrillards Radikalitätsverständnis beruht auf der Unhintergehbarkeit der von ihm getroffenen Unterscheidung in Realität, Wahrheit, Sinn einerseits und Nicht-Realität, Illusion, Verstörung andererseits. Es handelt sich also um eine Verstörung, die selbst nicht verstört werden will.“24 § Dies ist jedoch kaum als Schwäche zu werten, weil die Irritation dem Diskurs als immanente Strategie eingeschrieben ist. Wenn Wittgenstein davon ausgeht, dass das Sprachspiel stets von einer bestimmten Position aus organisiert ist,25 dann lässt sich die Irritation als der spezifische Einsatz des Baudrillardschen Spiels verstehen. Wie setzt sich dieser Sprachgebrauch nun aber um ? „Das radikale Denken ist in nichts unterschieden vom radikalen Gebrauch der Sprache. Es ist also allen Lösungen fremd, bei denen es um eine objektive Realität der Welt und ihre Entzifferung geht. Es entziffert nicht. Es anathematisiert und anagrammatisiert Begriffe und 22 Wittgenstein, Ludwig : Vorlesungen 1930± 1935. Frankfurt am Main 1984, S. 207. 23 Vgl. Beermann, Wilhelm : Die Radikalisierung der Sprachspiel-Philosophie. Wittgensteins These in „Über Gewissheit“ und ihre aktuelle Bedeutung. Würzburg 1999, insb. 165ff. 24 Willer : „Radikalität“, S. 64. Ferner Gerd Kimmerle : „Ich habe den Eindruck, dass einfach eine ganze Reihe, ein harter Kern von Grundbehauptungen geschützt, verdeckt wird durch die Strategie, alle Sätze als gleichgültig zu behaupten. Aber diese Gleichgültigkeit ist nur Fassade, die aufrechterhalten wird, um einen in Verwirrung zu bringen und nicht wirklich in die Diskussion einzutreten.“ Baudrillard, Jean : Tod der Moderne, hg. v. Heidrun Hesse. Tübingen 1983, S. 92. 25 Vgl. Wittgenstein, Ludwig : Philosophische Grammatik, WA Bd. 4. Frankfurt am Main 1969, S. 10, § 32.
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Ideen, sowie es die poetische Sprache mit den Wörtern macht […].“26 Baudrillard orientiert sich an einem rhetorischen und poetischen Sprachgebrauch, indem er mit dem Anathema als Bannfluch auf einen performativen Sprechakt referiert. Das Anagramm bezeichnet einen figuralen und zugleich subversiven Sprachgebrauch.27 Wesentlich ist jedoch, dass Baudrillard allgemein die poetische Sprache als integrales Moment des radikalen Denkens einführt § nicht um Sinnzusammenhänge aufzubauen, sondern um diese abzubauen bzw. in neue, unbestimmbare oder mehrdeutige Bedeutungskonstellationen zu überführen. D.h. es geht um keine pauschale Sinnnegation, sondern um die Infragestellung affirmativer oder ontologischer Sinnkonzeptionen. „Dies wäre sogar die Definition eins radikalen Denkens : eine glückliche Form und eine hoffnungslose Intelligenz.“28 Ausgehend von diesen Ausführungen lässt sich ein erster Vergleich zu Bernhard ziehen. Die Radikalität als Sprachspiel II : Bernhard Liest man Bernhard vor der skizzierten Vorlage Baudrillards, dann lassen sich die wesentlichen Prämissen § so die Hypothese § in seinem Schreiben nachvollziehen. Der Bernhardsche Sprachgebrauch ist ein funktionaler. Dies lässt sich einerseits in Abgrenzung zu einer mimetischen, realistischen Schreibweise festmachen § Bernhard verabschiedet den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts. 29 Andererseits gründet dies auf einer sprach- und erkenntniskritischen Position, die die Wort-Ding Beziehung von der Sprache als Erkenntnismittel grundsätzlich infrage stellt. Dieser Aspekt wurde in der Rezeption Bernhards wiederholt im Kontext der Sprachskepsis von Nietzsche bis Wittgenstein diskutiert.30 In einem Interview äußert Bernhard demgemäß : „Es ist die Identifikation mit Dingen, die aus Sätzen geworden sind, und man weiß weder über die Dinge etwas noch über die Sätze, und man weiß immer wieder überhaupt nichts.“31 26 27 28 29
Baudrillard : „Das radikale Denken“, S. 189. Vgl. Willer : „Radikalität“, S. 65. Baudrillard : „Das radikale Denken“, S. 187. Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin : „,Analgoia entis‘ oder das ‚Schweigen unendlicher Räume‘ ? Die positive Theologie Doderers und die negative Bernhards“, in : Ders.: Der Übertreibungskünstler, S. 19§37, S. 31. Vgl. ferner Bernhard : Ungenach, S. 45. 30 Vgl. Eyckeler : Reflexionspoesie ; ferner Gargani, Aldo Giorgio : Der unendliche Satz. Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann. Wien 1997, S. 19ff. und Kahrs, Peter : Thomas Bernhards frühe Erzählungen. Rhetorische Lektüren. Würzburg 2000, S. 15. 31 Bernhard : „Drei Tage“, S. 89.
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Bernhard postuliert hier einen mehr oder minder totalen erkenntnis- und sprachtheoretischen Skeptizismus. Entscheidend ist jedoch nicht der Skeptizismus als solcher, sondern Bernhards Umgang damit, der weder in eine Schreibblockade noch in Denkkrämpfe („mental cramps“32) wie bei Wittgenstein mündet. Vielmehr wendet Bernhard den Skeptizismus produktiv in ein Schreiben, das einen prädikativen Sprachgebrauch, oder allgemein einen logizistischen Wahrheitsdiskurs, bewusst unterläuft ; d.h. die Sprache wird gerade in ihrem defizitären und irreführenden epistemologischen Status pragmatisiert und instrumentalisiert. In Die Kälte heißt es : „Die Wahrheit ist immer ein Irrtum, obwohl sie hundertprozentig die Wahrheit ist, jeder Irrtum ist nichts als die Wahrheit.“33 Was in diesem Satz gemäß aussagelogischen Prämissen einen erkenntnistheoretischen Widerspruch artikuliert, lässt sich vor der Vorlage Baudrillards als funktionaler Sprachgebrauch beschreiben, der präzise einlöst, was der Franzose seinem radikalen Denken zugrunde legt. Mit Baudrillard gesprochen führt Bernhard hier den Nachweis, dass die Sprache „selbst Illusion ist : denn sie ist Träger […] jener Kontinuität des Nichts im Kern dessen, was sie aussagt, denn sie ist in ihrer Materialität Dekonstruktion dessen, was sie bedeutet.“34 Bernhards Prosa beschreibt so gewendet gleichermaßen ein Sprachspiel, das sich über die Funktion, wie Bedeutung kontinuierlich erzeugt und destruiert wird, organisiert.35 Ein oft zitiertes Bild für das Bernhardsche Sprachspiel findet sich im Drei-Tage-Interview : Das sind die Sätze, Wörter, die man aufbaut. Im Grunde ist es wie ein Spielzeug, man setzt es übereinander, es ist ein musikalischer Vorgang. Ist eine bestimmte Stufe erreicht, nach vier, fünf Stockwerken § man baut das auf § durchschaut das ganze und haut alles wie ein Kind wieder zusammen.36
Der Umgang mit der Sprache wird in Analogie zum Spiel beschrieben, d.h. insbesondere über den Gebrauch und vermittels einer Regelhaftigkeit. Das Spiel besteht im Aufeinanderschichten von Wörtern und Sätzen § wie es etwa Kindern 32 Wittgenstein, Ludwig : The Blue and Brown Books. Preliminary Studies for the ,Philosophical Investigations‘. New York 1965, S. 1. 33 Bernhard, Thomas : Die Kälte. Frankfurt am Main 2004 (= Werke, Bd. 19), S. 352. 34 Baudrillard : „Das radikale Denken“, S. 180. 35 Die Beziehung zwischen Bernhard und Wittgensteins Sprachspiel-Konzeption wird oftmals angeführt. Vgl. u.a. Steutzger, Inge : „Zu einem Sprachspiel gehört eine ganze Kultur“. Wittgenstein in der Prosa von Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Freiburg 2001, S. 107§124. 36 Bernhard : „Drei Tage“, S. 80.
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im Spiel mit Bauklötzen eigen ist. Der Begriff der Regel findet über die Statik der Bauklötze, die übereinandergeschichtet werden, eine Anwendung, bzw. in Analogie zur Musik, über eine bestimmte Abfolge der Sätze. Anders als bei Wittgenstein und analog zu Baudrillard ist jedoch auch hier das Ziel keine Klärung des Bedeutungsgehalts oder gar eine Genesung der Sprache, sondern der Akt der Zerstörung. Ich biete an dieser Stelle keine Textanalyse, um Bernhards dekonstruktivistischen Sprachgebrauch darzulegen,37 sondern führe lediglich einige Strategien und poetische Mittel an, die sich zumindest von ihrem Gestus her in Beziehung zu Baudrillards Konzeption setzen lassen. Der Fokus soll dabei weniger auf dem performativen Sprachgestus liegen (wie ihn das Anathema vorgibt), sondern auf der Figuration. Zwar finden sich bei Bernhard keine anagrammatischen Strukturen im engeren Sinn. Trotz allem lässt sich in seinem Schreiben jene Bewegung verzeichnen, die Baudrillard mit einem (poetischen, anagrammatischen) Sprachgebrauch im Sinn haben dürfte, der seinen syntaktischen und semantischen Bedeutungsgehalt zugleich etabliert und destruiert. Anagramme, schreibt Anselm Haverkamp, „durchkreuzen bestimmte, gegebene syntaktische oder semantische Funktionen, deren Strukturen (narrative, figurale) sie voraussetzen und als Voraussetzung zersetzen.“38 Es ist genau dieser Unterstrom eines Schreibverfahrens, der sich in seinem Verlauf selbst destabilisiert und auslöscht, der Bernhards Prosa konstituiert. In Ergänzung zu dem bereits genannten Satz aus Die Kälte lässt sich in diesem Kontext die polarisierende Rede als Markenzeichen des Österreichers anführen. „In jedem Satz“, schreibt Schmidt-Dengler in einer Zuspitzung dieses Phänomens, „wird der vorangehende aufgehoben, um wiederum im nächsten seinen Widerruf zu erfahren.“39 „Weng liegt hoch oben“, so lautet der Beispielsatz den Schmidt-Dengler aus Frost zitiert, „aber noch immer wie tief unten in einer Schlucht.“40 Anne Betten verweist ferner auf die Häufung temporaler und kausaler Partikel wie „während, nachdem, weil, nicht nur, sondern auch, aber, freilich, und also, denn, wenn, allerdings“ etc. zu Beginn von Gehen, die „text37 Vgl. hierzu Schönthaler, Philipp : Negative Poetik. Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész, Bielefeld 2011, S. 93§97, S. 161§196. 38 Haverkamp, Anselm : „Anagramm“, in : Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1. Stuttgart, Weimar 2000, S. 133§153, hier S. 137. 39 Schmidt-Dengler, Wendelin : „Elf Thesen zum Werk Thomas Bernhards“, in : Ders.: Der Übertreibungskünstler, S.148§155, hier S. 150. 40 Bernhard, Thomas : Frost. Frankfurt am Main 2003 (= Werke, Bd. 1), S. 11.
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linguistische Signale absoluter Akkuratesse und Logik“41 setzen, die jedoch zugleich, im Verlauf desselben Satzes, verkompliziert und destruiert werden. Diese Scheinlogik findet eine Fortsetzung in widersprüchlichen Aussagen oder einem „Versionenwiderspruch“,42 d.h. die Narration findet auf chronologischer oder faktischer Ebene zu keiner Einheit. In einem Text wie Das Kalkwerk wird der Versionenwiderspruch § hier die widersprüchlichen Aussagen über den Mord und dessen Ursachen von Konrad an seiner Frau § zudem dadurch gesteigert, dass die Aussagen der Protagonisten durch die mehrstufigen Vermittlungsinstanzen in ihrem Status nicht dingfest zu machen sind. Dieser Aspekt lässt sich schematisch skizzieren, um aufzuzeigen, dass Bernhards Verfahren sowohl auf einer Mikroals auch auf einer Makroebene greifen. In Das Kalkwerk steht Konrads Mordtat zur Disposition, nachdem dieser seit Jahren in der Abgeschiedenheit des Kalkwerks an einer Studie über das Gehör nach der Methode Viktor Urbantschitschs forscht, als dessen Versuchsgegenstand ihm seine „in einem speziell für sie konstruierten französischen Krankensessel hockende Frau“43 dient. Der Text liefert nicht nur unterschiedliche Varianten über den Vorgang und die Motive des Mords,44 sondern die unterschiedlichen Aussagen der einzelnen Beteiligten § insbesondere von Fro und Wieser § werden in ihrem Wahrheitsstatus ins Ungewisse überführt, d.h. es bleibt unklar, ob die Äußerungen tatsächlich so geäußert wurden, wie sie sich im Text finden. Darüber hinaus bleibt in Bezug auf Konrad ungewiss, so der Nachweis von Harald Neumeyer,45 ob es sich bei seinen Äußerungen jeweils um bloße Experimentalsätze seiner Gehörstudie handelt oder um Sätze, die eine Aussage über die Umwelt treffen. Wenn Konrad laut der Mitteilung dritter sagt, „[f ]ür ihn, Konrad, gebe es nur noch Experimentalsätze, soll er gesagt haben“,46 dann wird hier die Vermutung geäußert, dass Konrads gesamter Sprachgebrauch sei41 Betten, Anne : „Thomas Bernhard unter dem linguistischen Seziermesser“, in : Huber, Martin/ Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Wissenschaft als Finsternis ? Jahrbuch der Thomas BernhardPrivatstiftung. Wien 2002, S. 181§194, hier S. 187, Hervorhebung im Original. 42 Vgl. Kohlenbach, Margarete : Das Ende der Vollkommenheit. Zum Verständnis von Thomas Bernhards ,Korrektur‘. Tübingen 1986, S. 63f. 43 Bernhard, Thomas : Das Kalkwerk. Frankfurt am Main 2004 (= Werke, Bd. 3), S. 7. 44 Fro spricht von „zwei Schüssen in den Hinterkopf“, die Konrad in einer Spontanhandlung „urplötzlich“ abfeuert. Wieser spricht hingegen von „zwei Schüssen in die Schläfe“, „am Ende der konradschen Ehehölle“. Bernhard : Das Kalkwerk, S. 8. 45 Neumeyer, Harald : „,Experimentalsätze und Lebensversicherungen‘. Thomas Bernhards Kalkwerk und die Methode des Viktor Urbantschitsch“, in : Schößler, Franziska/Villinger, Ingeborg (Hg.) : Politik und Medien bei Thomas Bernhard. Würzburg 2002, S. 4§29, hier S. 7. 46 Bernhard : Das Kalkwerk, S. 101.
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nen Studien zuzuschlagen sei, in denen es gerade nicht um den Bedeutungsgehalt der Sprache und die zwischenmenschliche Kommunikation geht, sondern ausschließlich um die akustische Hörfähigkeit des Subjekts, die anhand von Übungssätzen getestet wird. Irritierend ist in diesem Zusammenhang, dass sich die ausgewiesenen Experimentalsätze ihrer Form nach nicht von ‚Alltagssätzen‘ Konrads unterscheiden.47 „Das Tatsächliche sei tatsächlich immer anders, das Gegenteil, immer das Tatsächliche, tatsächlich,“48 so lautet ein Satz Konrads, der gleichfalls dem Repertoire von Experimentalsätzen aus seiner Gehörstudie entstammen, als dass es sich um eine Aussage über die Empirie handeln könnte. Indem der Roman „jede auf inhaltliche Wahrheit fixierte Interpretation“49 derart problematisiert, stellt er aber zugleich das Unterfangen einer hermeneutischen Interpretation infrage, die auf verlässliche Aussagen rekurriert. Neumeyer kommt zu folgendem Schluss : Bernhards Kalkwerk verweigert sich „einer inhaltlichen Dechiffrierung : Statt Bedeutungen mitzuteilen, ergeht sie [die Rede Konrads] in Alliterationen, praktiziert Wortwiederholungen, bringt wechselweise sich ausschließende Bedeutungen hervor und suspendiert eine auf dialektische Vermittlung eingeschworene Aussagelogik.“50 Die wenigen Hinweise deuten an, dass die rhetorischen und poetischen Mittel der Sinndestruktion zugleich die Binnenstruktur und die Gesamtkonzeption des Textes betreffen. Allgemein lassen sich die genannten Verfahren allesamt einem funktionalen Sprachgebrauch im Sinne Baudrillards zurechnen. Bernhard verabschiedet eine repräsentationslogische Darstellungsweise, die auf einem Spiegelverhältnis von Begriff und Realität basiert. Aber nicht nur das : Er überführt die Sprache zugleich in unbestimmbare Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge und rückt derart § mit Baudrillard gesprochen § den „Akt des Schreibens“ ins Zentrum, „die poetische, ironische, andeutende Kraft der Sprache, des Spiels mit dem Sinn“.51 Ohne die Analyse an dieser Stelle weiter fortzusetzen, will ich ausgehend von den aufgezeigten Korrespondenzen überleiten zur Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz und Problematik eines solchen Diskurses § und damit auf die gesellschaftliche und politische Bedeutung eines solchen Ansatzes zu sprechen kommen. Die leitende Frage lautet hierbei, ob und wie das radikale Schreiben sich konzeptuell in gesellschaftliche Belange übersetzen lässt. 47 48 49 50 51
Vgl. Neumeyer : „Experimentalsätze“, S. 24f. Bernhard : Das Kalkwerk, S. 29. Neumeyer : „Experimentalsätze“, S. 13. Ebd., S. 14. Baudrillard : „Das radikale Denken“, S. 187.
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Die Beziehung von poetischer Radikalität und gesellschaftlicher Realität Die skizzierten Ansätze setzen sich generell dem Einwand aus, dass sie an der gesellschaftlichen Realität vorbei zielen. Im Fall von Baudrillard ist es maßgeblich der disjunktive, eklektische Diskurs § so die häufige Kritik §, der in seiner Argumentation beliebig verfährt und daher seine Glaubwürdigkeit selbst dort verspielt, wo er triftige Aussagen trifft.52 Schwerer wiegt jedoch der Vorwurf, dass das radikale Denken seinen Gegenstand dort, wo es sich aufgrund sprachtheoretischer Prämissen in einer poetisch-ästhetischen Sphäre ansiedelt, kategorisch verfehlt. Diesen Aspekt formuliert Stefan Willer : „Radikalität bliebe somit letztlich eine sowohl ungefährdete als auch ungefährliche Angelegenheit, weil sie sich ohnehin von vornherein in einem Bereich jenseits aller Realität, Wahrheit und Sinnhaftigkeit ansiedelte ; somit würde sie zu einem poetischen Reservat im ganz braven Verständnis von Formalästhetik.“53 Die Frage, die daraus resultiert, lautet demnach, wie „die Austausch- und Übersetzungsbeziehungen von poetischer und politischer Radikalität […] von Radikalität als Sprachfigur und Radikalität als Machtfigur“54 aussehen. Bevor ich auf diesen Aspekt eingehe, lässt sich zunächst ein ähnlicher Problemkomplex bei Bernhard geltend machen. Die gesellschaftskritischen Interventionen insbesondere in Werken wie Heldenplatz oder Auslöschung werden in der Forschung inzwischen § trotz anfangs zahlreicher kritischer Stimmen wie etwa von Robert Menasse55 oder Irene Leonard-Heidelberger56 § als solche zwar anerkannt und (wie auch im vorliegenden Band) analysiert.57 Trotz allem bleibt aber ein Unbehagen zurück. Dieses resultiert einerseits aus fragwürdigen oder unhaltbaren Äußerungen, legt man Bernhards Einlassungen auf konkrete politische Positionen um.58 Andererseits ist es der beliebige Erregungsdiskurs der Bernhardschen Protagonisten, der zwischen ‚Belanglosem‘ und ‚Triftigem‘ keinerlei Unterschiede fällt. So werden mit der Kritik an der „österreichische[n] 52 Vgl. Bohn, Ralf/Fuder, Dieter : „Baudrillard lesen“, in : Dies. (Hg.) : Baudrillard. Simulation und Verführung. München 1994, S. 8. 53 Willer : „Radikalität“, S. 66. 54 Ebd. 55 Vgl. Menasse, Robert : Die Sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Wien 1996, S. 109. 56 Leonard-Heidelberger, Irene : „Auschwitz als Pflichtfach für Schriftsteller“, in : Dies./Höller, Hans (Hg.) : Antiautobiografie. Thomas Bernhards ,Auslöschung‘. Frankfurt am Main 1995, S. 181§196. 57 Vgl. u.a. Kappes, Christoph : Schreibgebärden. Zur Poetik und Sprache bei Thomas Bernhard, Peter Handke und Botho Strauß. Würzburg 2006, S. 14ff., der mit dem Begriff der „politischen Philologie“ (S. 15) nach der Beziehung von Sprache bzw. Poetik und Politik fragt. 58 Diese Kritik findet sich prägnant im Beitrag von Matthias Löwe in diesem Band artikuliert.
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Machtmischmethode“59 in Auslöschung nicht nur Katholizismus und Nationalsozialismus gleichgesetzt, sondern der Protagonist Murau führt in seiner Polemik ebenso die Fotografie als „das größte Unglück des 20. Jahrhunderts“60 an. Zugleich richten sich die Invektiven mit der gleichen Intensität gegen wahllose oder belanglose Phänomene § so beispielsweise gegen die Dirndlkleider von Muraus Schwestern,61 die Architekten, „die unsere Erdoberfläche verunstaltet“ haben,62 die „Kleinbürger und Proletarier“63 oder Goethe64 und die „Beamtenund Angestelltenliteratur“.65 Schmidt-Denglers früh geäußerter Einwand lässt sich diesbezüglich nicht ohne weiteres von der Hand weisen : „Die Kritik hat häufig versucht, Bernhards Prosawerk mit den Maßstäben realistischer oder primär gesellschaftskritischer Literatur zu messen ; das hier aufgezeigte sprachliche Material macht eine solche Deutung hinfällig.“66 Wenn Schmidt-Dengler Bernhard ein gesellschaftskritisches Potential abspricht, dann liegt dies in eben jenem Sprachgebrauch, der in seiner Ausschließlichkeit und Totalität seine Gegenstände § auch in seinem kritischen Gestus § nivelliert. Stellt man ferner die sprachskeptische Haltung des Autors in Rechnung, die eine Differenz zwischen Wahrheit und Irrtum wiederholt einebnet bzw. die referentiellen und kommunikativen Bindungen des Sprechens und Schreibens aufkündigt (vgl. Das Kalkwerk), dann verbleibt die Kritik auch hier bestenfalls in einer rein sprachlichen oder ästhetischen Sphäre, die ihre Gegenstände nicht zu tangieren vermag. Trotz dieser Vorbehalte, die maßgeblich im Sprach- und Argumentationsgestus angelegt sind, will ich diesen Ansatz in seiner sprachtheoretischen Konzeption abschließend plausibilisieren. Im Fall von Baudrillard vollzieht sich die Abkehr von einer klassischen theoretischen Intervention bewusst. Das radikale Denken, so Baudrillard, „muss seinen Stolz darein setzen, kein Analyseinstrument zu sein, kein kritisches Instrument“.67 An die Stelle der analytischen Vermittlung § und einer argumentativen und informativen Sprache, die wiederum dem substantiellen Sprachge59 60 61 62 63 64 65 66
Bernhard : Auslöschung, S. 228. Ebd., S. 24f. Ebd., S. 48, S. 49. Ebd., S. 91. Ebd., S. 329. Ebd., S. 450ff. Ebd., S. 475. Schmidt-Dengler, Wendelin : „,Der Tod als Naturwissenschaft neben dem Leben, Leben‘. Zu Bernhards Sprache der Ausschließlichkeit“, in : Ders.: Der Übertreibungskünstler, S. 9§19, hier S. 12§13. Schmidt-Dengler äußert seinen Einwand in Bezug auf Frost und Verstörung. 67 Baudrillard : „Das radikale Denken“, S. 181.
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brauch zuzurechnen wäre, tritt der unmittelbare Effekt, mit einer affektiven Sprache, als weiteres Merkmal des funktionalen Sprachgebrauchs. Die Wirksamkeit wird hier zur entscheidenden Kategorie der Radikalität : „Bei allem muss man sich an die Wirkungen halten.“68 Die Radikalität zeichnet sich per Definition über ihre Wirksamkeit aus.69 Ihre Relevanz erhält das radikale Schreiben demnach dort, wo es gelingt, sich in aktuelle Belange und Empfindlichkeiten tatsächlich einzuschalten, nicht aufgrund einer verbindlichen Position oder theoretischen Stringenz, sondern aufgrund seiner § auch verführenden oder irreführenden § Wirkmacht. Baudrillards Metaphorik der viralen Ansteckung oder der „terroristischen Konfusion“70 ist hier die Insignie dieser affektiven und effektiven Unmittelbarkeitsrhetorik, die sich freilich stets nur im konkreten Fall bestätigen kann. In einem Interview erklärt Baudrillard : Ich bin weder jemand, der die Ereignisse politisch analysiert, noch gar ein Ideologe. Ich greife lediglich dort ein, wo meiner Meinung nach das Ereignis genau ins Schwarze der Theorie trifft […]. Ich spreche von extremen Phänomenen daher bin ich auch gezwungen, selbst eine extreme Position gegenüber den Phänomenen einzunehmen. Wenn die Welt in ein Delirium verfällt, muss man der Welt auch mit einem wahnsinnigen Blick entgegentreten.“71
Anstatt eine identifizierbare oder ‚ideologische‘ Position zu beziehen, nimmt Baudrillard einen punktuellen Eingriff vor, dort wo Ereignis und Theorie momenthaft aufeinander treffen. Dieser Eingriff gleicht sich in seiner Strategie dem Phänomen an, auf das er reagiert § hier steht es im Zeichen des Deliriums. An anderer Stelle erklärt Baudrillard demgemäß : „Wenn Sie von Simulation sprechen, dann muss auch Ihr Buch simulativ sein. Das ist unausweichlich. Wenn Sie von Verführung sprechen, dann muss auch das Buch verführen, wenn nicht gar irreführend sein.“72 Die spezifische Leistung dieses theoretischen Einsatzes besteht in einer Vorahnung oder Vorwegnahme eines akuten Moments73 und darin, dass dieser in die Sprache übertragen wird, oder genauer : in eine Ereignishaftigkeit 68 Baudrillard, Jean : Cool Memories 1980± 1985. Berlin 1989, S. 55. 69 Vgl. Fuder, Dieter : „Don-Juanismus der Erkenntnis“, in : Bohn/Fuder (Hg.) : Baudrillard, S. 23§ 46, S. 24§25 : „Was Baudrillards Textspiele angeht, so produzieren sie im Vollzug ihrer Inszenierungen Effekte, nicht ‚bloße Effekte‘, sondern Effektivitäten.“ Vgl. ferner Schütte, Uwe : Die Poetik des Extremen. Ausschreitungen einer Sprache des Radikalen. Göttingen 2006, S. 14f. 70 Baudrillard : „Das radikale Denken“, S. 190. 71 Baudrillard, Jean : „Die scheinbare Auferstehung der Geschichte als Anfang vom Ende. Ein Gespräch mit Jean Baudrillard von Carlos Oliveira“, in : Frankfurter Rundschau, 10.04.1993. 72 Baudrillard : Der Tod der Moderne, S. 74. 73 Vgl. Baudrillard : „Das radikale Denken“, S. 179.
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der Sprache. Dies kann auch bedeuten, dass ‚ein Ereignis‘ als solches überhaupt erst diskursiv erzeugt wird (ein Aspekt, der in Bezug auf Bernhards Provokation von Skandalen relevant ist).74 Das radikale Denken schaltet sich derart in Diskurse ein, oder es inszeniert einen solchen. Nicht, um Sinnzusammenhänge oder Identifikationen zu bestätigen oder aufzubauen § und damit immer auch eine Machtposition zu beziehen bzw. eine Position, die sich vereinnahmen lässt §, sondern um etablierte Positionen zu unterlaufen oder in einem unbestimmbaren oder mehrdeutigen Aussagegehalt zu überführen : „[D]ie Auflösung des Unglücks des Sinns durch das Glück der Sprache. Was tatsächlich der einzige politische § oder transpolitische § Akt ist, den der vollziehen kann, der schreibt.“75 Wie verhält sich dieser Nexus nun bei Bernhard ? Wie bei Baudrillard lässt sich auch bei Bernhard die Konzeption der Radikalität als funktionaler Sprachgebrauch durch die Kategorie der Wirksamkeit ergänzen § zumindest beschreibt dies eine wesentliche Dimension. So entspringt auch sein Einsatz des Schreibens einem agonalen und affektiven Kalkül : Ein Buch, so Bernhard im Interview mit Krista Fleischmann, „das keine Erregung ist“,76 ist wertlos. Holzfällen. Eine Erregung trägt diesen performativen Gestus bereits im Untertitel.77 In Auslöschung findet sich ein prägnantes Bild einer Schriftlichkeit, die von einer absoluten Unmittelbarkeit und Wirkmacht zeugt. Als der junge Murau nach langer Zeit die Bibliotheken auf Wolfsegg öffnet, verströmen die Bücher plötzlich ein „fürchterliches“, „tödliche[s] Gift“.78 Ähnliches gilt für die verschollene „Antiautobiografie“ von Onkel Georg, die schließlich das Vorbild für Muraus eigenen Auslöschungsbericht liefert. In Georgs Manuskript vermutet Murau „einen radikalen Satz […] vor welchem die Meinigen möglicherweise tödlich erschrocken wären“.79 Die sprachliche Radikalität übersetzt sich § unabhängig von ihrem In74 Vgl. hierzu Schmidt-Dengler, Wendelin : „Bernhards Scheltreden. Um- und Abwege der Bernhard-Rezeption“, in : Ders.: Der Übertreibungskünstler, S. 129§147, hier S. 139 : „Gleichgültig, wie man zu Fried, Bernhard Kreisky und zu Pfeifer steht. Deutlich wird, dass eine solche Äußerung Bernhards eine Eigendynamik entfaltet, dass von ihr ausgehend das politische Konfliktpotential der jüngsten Vergangenheit akut wird, an einer Stelle, an der man es nicht vermutet hätte, dass die Argumente schon lange nichts mehr zu tun haben mit dem, was Bernhard gesagt hat, dass unsere ganze Lebenswelt allmählich eingefasst scheint von dem sich daran entspinnenden Diskurs, ja dass sich jeder zu einem Bekenntnis genötigt sieht.“ 75 Baudrillard : „Das radikale Denken“, S. 188. 76 Bernhard, Thomas : Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Frankfurt am Main 2006, S. 97. 77 Zu Holzfällen vgl. gleichfalls die Lektüre von Matthias Löwe in diesem Band. 78 Bernhard : Auslöschung, S. 116ff. 79 Ebd., S. 148.
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halt § in eine absolute Wirkmacht der Sprache.80 Als solches arbeitet sich das radikale Schreiben freilich auch hier an einem Paradox ab, indem es eine unmittelbare Übersetzung der Schrift als Zeichensystem in Wirkung imaginiert. Der Nachweis über eine direkte Übertragung (bzw. wie diese theoretisch zu denken wäre) lässt sich letztlich kaum erbringen § auch wenn im Fall von Bernhard in der Retrospektive eine gewisse Evidenz über die Wirkung seines Werks (und seiner Person) gegeben scheint. „Bernhard ist zur Kunstfigur geworden, und sein Werk lässt sich nicht mehr ablösen von der Wirkung, die es gehabt hat. Um fast jedes Werk § wie auch fast um jeden Auftritt Bernhards § rankt sich eine Blumenkette von Skandalen.“81 Schmidt-Dengler wertet die Einlassungen Bernhards zwar differenziert und kritisch, erklärt die Wirkung aber trotz allem zu einem integralen Moment des Werks : „Erst der Blick auf die Wirkung erlaubt den Blick zurück auf die Texte.“82 In Rückbezug auf die theoretische Konzeption eines radikalen Sprachgebrauchs ließe sich an dieser Stelle die Hypothese aufstellen, dass die Prosa § als radikale Schreibweise § der Entdifferenzierung und Maßlosigkeit als wesentliches Element bedarf. D.h. die Unschärfen, Pauschalisierungen und Übertreibungen sind das Mittel, um die Phänomene in eine sprachlich strukturierte Ereignishaftigkeit zu überführen, die sich daraufhin § so die Hoffnung des radikalen Denkens § in eine Wirkmächtigkeit übersetzt. An dieser Stelle gewinnt die Übertreibungsrhetorik ihren funktionalen Stellenwert. Muraus Selbststilisierung ist bekannt : „Meine Übertreibungskunst“, so Murau zu seinem Schüler Gambetti, „habe ich so weit geschult, dass ich mich ohne weiteres den größten Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist, nennen kann“.83 Im Zeitalter der Extreme ist die Übertreibung ein integraler Moment avancierter Kunst, die sich als Reaktion auf die Radikalisierung sämtlicher Modernisierungsprozesse verstehen lässt. In diesem Sinn äußern auch Adorno und Horkheimer : „Aber nur die Übertreibung ist wahr.“84 Wo die Beziehung zwischen Begriff und Realität, Abbild und Wirklichkeit zunehmend in Verdacht gerät, wird die Übertreibung zum Mittel, um diese Diskrepanz nochmals aufzufangen. Anders als Adorno, der der Übertreibung eine heuristische Funktion beimisst, indem er ihr eine besondere Erkenntnis zuspricht (die anders wohl nur schwer ersichtlich wäre), kassiert Bernhard diesen Moment. Adornos Übertrei80 81 82 83 84
Vgl. hierzu ferner den Aufsatz von Jack Davies in diesem Band. Schmidt-Dengler : „Bernhards Scheltreden“, S. 130. Ebd., S. 145. Bernhard : Auslöschung, S. 478. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max : Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 1986 (= Gesammelte Schriften, Bd. 3), S. 139.
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bungsverständnis referiert nach wie vor auf einen funktionierenden Wahrheitsbegriff und eine Korrespondenz zwischen Wort und Bedeutung.85 Bei Bernhard lässt sich der Bedeutungsgehalt hingegen nicht mehr dialektisch vermitteln oder aufheben. § In einem Satz wie dem zitierten aus Die Kälte ist nicht mehr zu ermitteln, was jeweils Referenz, Bedeutung, Metapher oder Übertreibung ist. Von der Übertreibung führt kein Weg mehr zurück zu einem zuverlässigen Bedeutungsgehalt ; die Übertreibungsrhetorik hat ihren referentiellen und wahrheitsorientierten Bezug gekappt. Dass ein derartiger Diskurs seinen Kredit allzu leicht verspielt, liegt auf der Hand § sei es, weil er seinen Gegenstand verfehlt, sei es, weil er sich diskursiv niemals vollständig auflösen oder in identifizierbare Positionen übersetzen lässt. Die Utopie dieses Diskurses wäre hingegen ein Sprechen über Phänomene, das die sprachliche Struktur seiner Einlassung primär setzt. Es lässt sich zwar sehr wohl von seiner Umwelt affizieren und reagiert gezielt auf aktuelle oder akute Phänomene, die es seinerseits zu affizieren sucht ; es zirkelt jedoch stets wieder auf seine eigene sprachliche Verfasstheit zurück. Das Wie rangiert somit vor dem Was. In dieser (poetischen) Selbstbezüglichkeit liegt nicht zuletzt der Genuss und damit die potentielle Verführungskraft der Radikalität. Radikal ist diese Intervention, weil sie „plötzlich dort eine Leere entstehen lässt, wo es zuvor noch vermeintlichen Sinn und eine transparente Ordnung der Dinge gegeben hat.“86 Die Übersetzung der poetischen Radikalität in eine politische ermisst sich hier an der hermeneutischen Provokation, die insbesondere dort gelingt, wo „wir nie [werden] aufteilen können, was die Tatsachen und was der Diskurs selbst ist“.87 Das radikale Denken und Schreiben lässt sich damit nicht pauschal in eine ästhetisch-poetische Sphäre verbannen. Vielmehr ist es gerade der poetische Sprachgebrauch, der ein Denken und Schreiben ermöglicht, das sich aufgrund seiner sprachlichen Struktur nicht dingfest machen lässt. In dieser Indifferenz muss sich maßgeblich das Irritationspotential dieser Radikalität entzünden : „Die absolute Regel des Denkens ist es, die Welt so zurückzugeben, wie wir sie bekommen haben § unbegreiflich § und wenn möglich noch etwas unbegreiflicher.“88 85 Vgl. hierzu Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit, in : Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt am Main 2003, S. 413§526, hier S. 417ff. 86 Rötzer, Florian : „Die Rache der Dinge und der Terror des Systems“, in : Baudrillard, Jean : Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt am Main 2007, S. 250§264, hier S. 251. 87 Baudrillard : Der Tod der Moderne, S. 75. 88 Baudrillard : „Das radikale Denken“, S. 191.
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Uwe Schütte
Ein Lehrer Über W.G. Sebald und Thomas Bernhard
Manchmal erheben wir alle unseren Kopf und glauben die Wahrheit oder die scheinbare Wahrheit sagen zu müssen und ziehen ihn wieder ein. Das ist alles. (Thomas Bernhard, Der Keller)
W.G. Sebalds besondere Affinität zu Thomas Bernhard ist lange schon bekannt. Wirklich begriffen wurde sie dennoch nicht. Das Nachfolgende versteht sich daher als ein Beitrag, die Perspektive etwas zu erweitern, um genauer in den Blick zu bekommen, auf welchen Ebenen der Einfluss Bernhards auf die Texte von Sebald und seinen Habitus als eigensinnigen Intellektuellen festzustellen ist. Bernhard gehört zweifellos zu den ‚Geistesbrüdern‘, die auf mannigfache Weise Eingang in Sebalds literarische Texte fanden, d. h. so unterschiedliche wahlverwandte Dichter und Denker wie Ludwig Wittgenstein, Franz Kafka, Michael Hamburger, Walter Benjamin oder Sir Thomas Browne. Den immensen Einfluss Bernhards konzedierte Sebald in einem seiner letzten Interviews : „Mein Vorbild ist Thomas Bernhard, den ich als Autor sehr vermisse. Ich würde sein Verfahren als periskopisch bezeichnen, als Erzählen um ein, zwei Ecken herum § eine sehr wichtige Erfindung“.1 Und an anderer Stelle : „Bernhard, single-handedly I think, invented a new form of narrating which appealed to me from the start.“2 In seinem 1990 in Austrian Studies erschienenen Nachruf betont Sebald, Bernhard sei „one of the most outstanding European writers of the post-war era.“ 3 Österreich, so insistiert er daher im Abschlusssatz, diente Bernhard nur als Ausgangsmaterial eines „uniquely consistent œuvre, which may well come to be seen 1 Doerry, Martin/Hage, Volker : „Ich fürchte das Melodramatische“‘, in : Der Spiegel 11 (2001), S. 233. 2 Silverblatt, Michael : „A Poem Of An Invisible Subject“, in : Schwartz, Lynne Sharon (Hg.) : The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald. New York 2007, S. 77§86, hier S. 83. 3 Sebald, W. G.: „Thomas Bernhard (1931§1989)“, in : Austrian Studies 1/1990, S. 215f. Die nachfolgenden Zitate aus dem Nachruf werden nicht eigens nachgewiesen.
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as the summa and completion of the canon of Austrian literature.“ Wie auch in anderen Texten über Schriftsteller operiert Sebald auch hier mit einer spezifisch biografisch ausgerichteten Sichtweise. Über Frost, Amras und Verstörung bemerkt er mit Bezug auf die fragile Gesundheit Bernhards : „The sense of urgency and finality which marked these extraordinarily powerful narratives appeared to be informed by the author’s perception that time was running out, that before long all would be undone.“ Dies ist freilich eine nicht unbedingt originelle BernhardDeutung ; ein Nachruf wäre allerdings nicht unbedingt der geeignete Ort um einen originellen Deutungsansatz vorzustellen. Relevant erscheint mir hier jedoch, dass Sebald nach der Niederschrift des Nachrufs selbst nur etwas mehr als eine Dekade verblieb, um seine Bücher im Bewusstsein seines durch eine Herzschwäche unterminierten Gesundheitszustandes zu schreiben. Man wird Sebalds Einschätzung zustimmen können, dass Bernhards polemische Ausfälle dem zunehmend kranken Autor als ein Lebenselixier diente : In seiner letzten Lebensdekade, so Sebald, „Bernhard almost led his readers to believe that in giving full vent to his venom he had found the tonic that allowed him, against all odds, to keep body and soul together.“ Zu einem gewissen Teil mag das, wie wir noch sehen werden, auch für Sebalds polemische Interventionen ins Geschäft der Germanistik gelten, d.h. die Polemiken gegen Jurek Becker und Alfred Andersch, wie auch die kontroversen Vorlesungen zu Luftkrieg und Literatur. Eine bemerkenswerte Koinzidenz, nämlich dass am Ende der Œuvres von Bernhard wie Sebald deren jeweils voluminöseste Bücher stehen sollten, konnte der Nachrufer kaum ahnen. „Bernhard’s last two novels, Alte Meister and Auslöschung, dispelled any suspicions that this passionate writer had burnt himself out. Auslöschung, above all, is a work of great complexity : it is a moralist’s tale like most of Bernhard’s writings and it is as relentless as it is beautiful.“ Dass Bernhard sein opus magnum wohlkalkuliert als grandiosen Schlussstein eines ohnehin schon außergewöhnlichen Werkes vorausgeplant hatte, konnte Sebald damals freilich noch nicht wissen. Just im Todesjahr Bernhards hatte Sebald an der University of East Anglia (UEA), unter großem Aufwand an Energie und Zuversicht, das British Centre For Literary Translation (BCLT) gründet, das sich als Remedium verstand gegen die engstirnige Tunnelsicht Britanniens in kulturellen wie literarischen Angelegenheiten, die über den engen Rand der Insel hinausreichen.4 Es ist insofern von 4 Michael Robinson, ein Kollege Sebalds an der UEA, beschrieb das BCLT als „a visionary enterprise that has done a great deal to counter the insularity that characterizes much contemporary English writing“ in seinem am 17. Dezember 2001 im Independent erschienenen Nachruf auf Sebald.
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autobiografischer Note, wenn Sebald den Nachruf mit der Klage über den bedauerlichen Stand der Übersetzungen von Bernhards Texten ins Englische schließt5 und auf den ironischen Umstand verweist, dass ja gerade die Metapher ‚England‘ „held special resonance“ bei Bernhard. Dass Sebalds Nachruf Bernhards Beziehung zu dessen Großvater hervorhebt, „to whom he was greatly attached“, ist angesichts der immensen Bedeutung, die sein eigener Großvater Josef Egelhofer für ihn besaß, nur naheliegend. Was Bernhard in Ein Kind schreibt, dürfte Sebald aus der Seele gesprochen haben : Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reißen immer den Vorhang auf, den die anderen fortwährend zuziehen. […] Durch sie erfahren wir das ganze vollkommene Schauspiel, nicht nur den armseligen verlogenen Rest als Farce.6
Nicht nur Bernhard hat Freumbichler bekanntlich immer wieder auferstehen lassen, auch viele Stellen von Sebalds Werk kommen einem „verschleierten Gedenkkult für den geliebten Großvater“7 gleich. Soviel zunächst, um anhand des Nachrufs den hier zur Diskussion stehenden Sebald-Bernhard-Komplex ein wenig zu umreißen. Dieser Aufsatz nun nimmt sich dreierlei vor : Zunächst soll, in positivistisch-spekulativer Weise, der Versuch einer Rekonstruktion der Auseinandersetzung von Sebald mit dem Werk Bernhards unternommen werden § durchaus im wörtlichen Sinne verstanden, nämlich anhand der in seinem Besitz befindlichen Bücher von Bernhard. Danach wird ein Blick in Sebalds einzigen Essay über Bernhard geworfen, um zu konturieren, welches Bild des Autors er darin zeichnete. Und zum krönenden Schluss werden ein paar Schlaglichter auf die stilistischen und habituellen Einflüsse wie Kongruenzen geworfen. Der Bestand der nachgelassenen Bibliothek Sebalds8 ermöglicht uns, seine Beschäftigung mit Bernhard mit einiger Genauigkeit zu rekonstruieren.9 Die jetzt 5 Inwieweit das BCLT die Übertragung von Texten Bernhard ins Englische (und andere Sprachen) förderte, ließ sich leider nicht ermitteln, da man dort derzeit keinen Zugang zum eigenen Archiv hat. 6 Bernhard, Thomas : Die Autobiografie. Frankfurt am Main 2004 (= Werke, Bd. 10), S. 417. 7 Anderson, Mark : „Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind. W. G. Sebalds Dilemma der zwei Väter“, in : Literaturen Juli/August 2006, S. 32. 8 Vgl. Catling, Jo : „A Catalogue of W. G. Sebald’s Library“, in : Catling, Jo/Hibbitt, Richard (Hg.) : Saturn’s Moons. W. G. Sebald. A Handbook. Oxford 2011, S. 377§441, insb. S. 383§384. 9 Catling hat darauf aufmerksam gemacht, dass Sebald die Tendenz besaß, seinen Buchbesitz periodisch ‚auszumisten‘. Insofern darf der Endbestand an Bänden nicht absolut gesetzt werden.
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zu weiten Teilen im Deutschen Literaturarchiv in Marbach lagernde Bibliothek enthält insgesamt 22 Bände von Bernhard, fast durchgehend Taschenbücher bzw. Ausgaben der von Bernhard so geschätzten Bibliothek Suhrkamp. Die Jahreszahlen der Ausgaben legen nahe, dass er Bernhard zu Beginn der Siebziger, also in etwa parallel mit dem Antritt seiner Dozentur an der UEA entdeckt hat. Das früheste Buch ist eine 1972 erschienene Taschenbuch-Ausgabe von Frost. Bernhards frühes Prosawerk ist komplett vertreten : Amras, Verstörung, Ungenach und Das Kalkwerk, durchweg in Ausgaben aus der Mitte der siebziger Jahre, was vermuten lässt, dass Sebald sich erst nach dem Abschluss seiner Dissertation im Jahre 1974 verstärkt der Lektüre von Bernhard zuwandte. Ab diesem Jahr schafft sich Sebald die Neuerscheinungen Bernhards jeweils bei deren Erscheinen an, er verfolgt also die literarische Produktion Bernhards kontinuierlich, wenngleich nicht lückenlos. Die Lücken in Sebalds Sammlung von Bernhard-Schriften umfassen neben eher lässlichen Werkteilen wie den Gedicht-Bänden allerdings auch eine ganze Reihe teilweise bedeutender Texte aus allen Schaffensperioden, darunter Gehen, Der Italiener oder Korrektur aus den Siebzigern, sowie Beton, Der Untergeher und last but not least Heldenplatz. Von philologischer Sammelwut oder bibliophilem Vollständigkeitsdrang kann also keine Rede sein, vielmehr vermochte sich Sebald mit einem Ausschnitt zu bescheiden § so wie er sich in seinen literaturkritischen Äußerungen ebenfalls gerne auf einseitiger Materialgrundlage zu apodiktischen Urteilen hinreißen ließ. Im Fall von Bernhard kommt allerdings noch ein weiteres Moment dazu : Wie er mir einmal erzählte, habe er Beton mit Absicht noch nicht gelesen, denn er hebe sich bestimmte Bücher von Bernhard, gleichsam als ein Remedium, bewusst für eine spätere Lektüre „in schlechten Zeiten“ auf.10 Kennzeichnend für Sebalds Arbeitsstil ist übrigens auch die Absenz von Doppelexemplaren : Er machte, etwa im Fall von Auslöschung, also keinen Unterschied zwischen gehütetem Leseexemplar in Hardcover und einer Taschenbuchausgabe zum Arbeiten mit Eselsohren und Anstreichungen. Bernhards Bücher waren ihm wichtig, aber nicht heilig : Lektürespuren, zum Teil höchst aufschlussreicher Art, Bei einem Autor wie Thomas Bernhard allerdings erscheint es mir aber eher unwahrscheinlich, dass Sebald Texte von (oder über) ihn weggeworfen, verschenkt oder verkauft hätte. Vgl. Catling, Jo : „Bibliotheca abscondita : On W. G. Sebald’s Library“, in : Catling, Jo/Hibbitt, Richard (Hg.) : Saturn’s Moons. W. G. Sebald. A Handbook. Oxford 2011, S. 265§297. 10 Und gerade Bernhards Texte § wie jeder weiß, der mehr oder weniger zur Schwermut neigt § eignen sich als Stimmungsaufheller in düsteren Zeiten ; Wendelin Schmidt-Dengler hat sich einmal in ähnlicher Weise hinsichtlich der therapeutischen Wirkung einer Bernhard-Lektüre in depressiven Stimmungslagen geäußert.
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finden sich in eigentlich allen Bücher, die Sebald von Bernhard besaß.11 Auch wenn er nach seinem Essay keine Schrift mehr zu Bernhard verfasst hat, verfolgte Sebald dessen Veröffentlichungen aufmerksam weiter, wie die Anstreichungen in den autobiografischen Schriften und den darauffolgenden Prosabüchern, also Wittgensteins Neffe, Alte Meister und Auslöschung, beweisen. Für eine gewisse Beschäftigung mit Bernhard, so könnte man vermuten, sorgte die Betreuung der Dissertation seines Doktoranden Ralf Jeutter, der von 1988 bis 1992 seine Im Fliegenglas. Wahnsinn, Vernunft, Krankheit und Gesundheit in der Prosa Thomas Bernhards betitelte Arbeit verfasste.12 Die bedauerlicherweise unpubliziert gebliebene Dissertation stützt sich neben Frost und Korrektur vor allem auf Texte der Achtziger wie Die Billigesser, Beton, Wittgensteins Neffe, Der Untergeher und Alte Meister. Allerdings sollte nicht automatisch angenommen werden, dass sich Sebald im Hinblick auf die Dissertation mit den entsprechenden Texten beschäftigt hätte, war es doch das Kennzeichen seines pädagogischen Ansatzes, seinen Studenten völlige Freiheit zu gewähren bei dem, was sie über ihr Thema schrieben. Was von außen insofern eher aussah wie Desinteresse, war vielmehr ein „teaching by example“, wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe.13 Dass Sebald der Prosa Bernhards einen eindeutigen Vorrang gewährte, bestätigt der geringe Bestand an dramatischen Texten in seiner Bibliothek. Abgesehen vom Sammelband mit den Salzburger Stücken besaß er nur Einzelausgaben von Die Jagdgesellschaft und Der Schein trügt. Bei einem Wienaufenthalt im September 1986 besuchte er Vorstellungen von Der Theatermacher im Burgtheater und von Ritter, Dene, Voss im Akademietheater, wie die dazugehörigen Programmhefte beweisen.14 Letzteres Drama dürfte ihn naturgemäß wegen seiner Faszination für Wittgenstein interessiert haben. Bei dem Symposium über das deutschsprachige Gegenwartsdrama an der UEA, das Sebald Ende März 1987 (und mithin nur ein halbes Jahr nach seinen Wiener Theaterbesuchen) leitete, hielt er seinen Vortrag statt über Thomas Bernhard über Herbert Achternbusch, obgleich er als Konferenzorganisator bei Interesse zweifellos ein Vorrecht hätte anmelden können.15 Zumindest nutzte er die Einleitung des 11 Das einzige Buch ohne Lesespuren ist seine Residenz-Ausgabe von Der Atem. 12 Jeutter erfuhr die Nachricht vom Ableben Bernhards telefonisch von Sebald, den der Todesfall schockiert und erschüttert zurückließ. (Email von Ralf Jeutter vom 14.5.2011). 13 Vgl. Schütte, Uwe : „Ein Lehrer. In memoriam W.G. Sebald“, in : Akzente 1/2003, S. 56§62. 14 Über weitere Theaterbesuche von Bernhard-Stücken habe ich keine Kenntnis, es erscheint aber eher unwahrscheinlich, dass er nur diese beiden Dramen sah. 15 Über Bernhards Stücke hielt vielmehr Rüdiger Görner den Vortrag „The Excitement of Boredom“.
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1988 erschienenen Tagungsbandes dazu, erstmals seine Sicht auf das dramatische Werk von Bernhard darzulegen. Dies geschah, indem er es kontrastierend auf das Theater von Heiner Müller und Achternbusch bezog, dabei auf den Unterschied zwischen literarischem ‚Ingenieur‘ und amateurhaftem ‚Bastler‘ referierend : The difference between Müller on the one hand and southerners Bernhard and Achternbusch on the other is that Müller is a professional who wants to make the fullest possible use of theatre machine whereas Bernhard and Achternbusch are both in a sense amateurs whose work shows little awareness of the complexity of the means of production. Bernhard’s plays are essentially Kammerspiele but no less radical for that. His message is that we need not be concerned about the future as we are all dead souls already, simply feigning or simulating a kind of life.16
Durch die im Schlusssatz gemachte, an Becketts späte Stücke gemahnende Charakterisierung des Bühnenautors wird deutlich, dass Sebald, der aus der Warte des Jahres 1987 ja sämtliche Dramen bis auf Heldenplatz überschauen konnte, ein einseitig düsteres Bernhard-Bild zeichnet, das § wider besseres Wissen § die Komödien der Achtziger ignoriert und eher auf frühe Stücke wie Der Ignorant und der Wahnsinnige oder Die Jagdgesellschaft zutrifft. Zuletzt zur Sekundärliteratur, or lack thereof : Um den Bestand an Sekundärliteratur zu Bernhard ist es sehr dürftig bestellt § Sebald besaß keine einzige Forschungsmonografie zu Bernhard. Lediglich die von Jens Dittmar herausgegebene Werkgeschichte und den Bildband Thomas Bernhards Welt : Schauplätze seiner Jugend von Erika und Wieland Schmied ergänzten seine Bernhard-Sammlung. Solcher Verzicht auf die Arbeiten anderer Kritiker und Forscher entsprach seiner subjektiven Herangehensweise an Literatur, auch im Fall anderer Autoren.17 Was andere dachten, zumindest wenn es germanistische Kollegen waren, schien ihn herzlich wenig zu bekümmern. In Anbetracht der immensen Bedeutung, die Bernhard für Sebald besaß, scheint im Rückblick durchaus erstaunlich, wie wenig er über dessen Texte geschrieben hat.18 Der (neben dem Nachruf ) einzige Artikel, oder wie man besser 16 Sebald, W.G.: „Surveying the Scene. Some Introductory Remarks“, in : Sebald, W.G. (Hg.) : A Radical Stage, Providence 1988, S. 1§8, hier S. 8. 17 Über Peter Handke etwa besaß er nur die Jugend-Biografie von Adolf Haslinger und zu Gerhard Roth nur meine bei ihm entstandene Dissertation über Die Archive des Schweigens. 18 Auch im Curriculum des Universitätsdozenten Sebald scheint Bernhard keine besonders ausgeprägte Rolle gespielt zu haben, soweit ersichtlich aus der Dokumentation seiner Lehrveranstaltungen in Catling/Hibbitt (Hg.) : Saturn’s Moons. In einem 1996/97 gehaltenen Seminar über Contemporary
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sagt : literaturkritische Essay über Bernhard basiert auf einem Vortrag, den Sebald Ende September 1980 auf einem CUTG-Treffen19 an der University of Sussex in Brighton gehalten hat. Den überarbeiteten Vortrag publizierte er 1981 in der Juni-Nummer von Literatur & Kritik unter dem Titel Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht : Einige Bemerkungen zum Werk Thomas Bernhards. Dass er den Text einer nicht-akademischen Literaturzeitschrift anbot war bezeichnend : Eine Leserschaft außer des germanistischen Fachpublikums anzusprechen gehörte zum Selbstverständnis von Sebald, der als eigensinniger ‚Auslandsgermanist‘ kaum ein Interesse besaß, Anschluss an die etablierten Kollegen in Deutschland zu finden. Die Übernahme des Textes in seinen 1985 im Residenz Verlag erschienenen Sammelband Die Beschreibung des Unglücks erfolgte ohne weitere Überarbeitung oder Ergänzung. Allerdings kürzte er eine rund 250 Wörter umfassende Passage, die sich ursprünglich zu Beginn des Textes befand. Darin geht es insbesondere um die apodiktischen Urteile, die Bernhard über Österreich fällt, wobei Sebald feststellt, an ihnen sei weniger der Inhalt wichtig, als von welcher Warte aus sie gefällt werden, und deshalb befaßt der vorliegende Versuch sich in erster Linie mit der von der Kritik mehrmals schon angeschnittenen, aber noch nicht schlüssig beantworteten Frage nach der politischen, moralischen und künstlerischen Denomination dieses Autors.20
Damit sind die drei Themenbereiche vorgegeben, denen der Essay nachgeht. Dass er diese im weiteren nicht wirklich systematisch abarbeitet, mag ein Grund gewesen zu sein, die Eingangspassage für die Buchversion zu streichen. Man beachte, dass es Sebald gemäß seiner gestrichenen Ankündigung weniger um die Texte, als vielmehr um die Einschätzung der Person ihres Urhebers geht. Er hebt hervor, dass Bernhards literarische wie öffentliche Äußerungen nicht in die gängige Spannbreite von konservativ zu progressiv einzuordnen sind, sondern eine „Häresie“ darstellen, „die sich manifestiert als ein völlig invariabler antipolitischer und antisozialer Affekt.“21 German Writing seit 1970 behandelte Sebald ausgewählte Prosastücke Bernhards und in einer Ringvorlesung zu Major Trends in European Fiction im selben Studienjahr hielt er Vorlesungen zu Jelineks Klavierspielerin, Ransmayrs Letzte Welt, Grass’ Tagebuch einer Schnecke und Bernhards Verstörung. 19 Eine alljährliche Veranstaltung der (ehemaligen) Germanistenvereinigung Conference of University Teachers of German in Great Britain. 20 Sebald : „Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht“, in : Literatur & Kritik 155, 1981, S. 294. 21 Sebald : „Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht“, in : Sebald : Die Beschreibung des Unglücks. Frankfurt am Main 1994, S. 103.
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Die Figur des Fürsten Saurau liefert in ihrer monomanischen Rede ein auf die Spitze getriebenes Paradigma für die Form der politischen Philosophie, in der Bernhard von Sebald verortet wird. Den Vater-Sohn-Konflikt zwischen „dem extrem konservativen Fürsten, der alles unterhalb der Burg für kommunistisch hält“ mit seinem Erben, der in London dem Studium der anarchistischen und sozialistischen Klassiker nachgeht, interpretiert Sebald nicht nur wie andere Exegeten als internen Antagonismus im Fürsten, sondern postuliert eine Nähe dieser widersprüchlichen Position zu anderen Beispielen aus der österreichischen Literaturgeschichte : Hofmannsthal und Kafka hielten die Inhaber der Macht für ebenso erlösungsbedürftig wie die Unterdrückten, und es ist eben dieses Modell einer symbiotischen Verquickung von Gewalt, Ordnung, Form und Konservatismus einerseits und von Ohnmacht, Desintegration und potentiellem Aufruhr andererseits, an das auch Thomas Bernhard anschließt.22
Gemünzt auf die wiederholte Anrufung des Anarchismus bei Bernhard schreibt Sebald, dabei eher sein eigenes politisches Denken zum Ausdruck bringend, dass „alle unsere politischen Entwürfe, wie radikal sie auch sein mögen, zu spät kommen“ und der Anarchismus nicht mehr Relevanz reklamieren könnte „als eine politische Haltung, die unter den gegenwärtigen Bedingungen praktikabel wäre“.23 „Die Welt ist ein stufenweiser Abbau des Lichts“ zitiert Sebald aus Frost, um das die „graduelle Verdunkelung der Welt“ umkreisende Denken des Malers Strauch mit der Gnosis in Verbindung zu bringen, „die den Sinn der Heilsgeschichte nicht minder leugnet wie den säkularer Chronizität.“24 Frost dient Sebald aber insbesondere dazu, Bernhards negativen Naturbegriff zu exponieren, leugnet Bernhard doch vehement, dass die Natur eine heile Gegenwelt zum Urbanen, einen Fluchtraum aus der Moderne darstelle. Vielmehr, „das legen die Texte Bernhards mit der hartnäckigsten Insistenz dar, ist die Natur ein noch größeres Narrenhaus als die Gesellschaft.“25 Mehr noch, scheint der Natur, wie Bernhard sie schildert und Sebald sie versteht, ein geradezu autodestruktiver Impuls innezuwohnen, ein „unabwendbar um sich greifender Fäulnis- und Zer22 23 24 25
Ebd., S. 104. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107. Ebd., S. 108.
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setzungsprozeß“, dessen Fluchtpunkt die Entropie ist, „der endgültige Zustand, in dem es weder Form noch Hierarchie, noch irgendeine andere Art der Differenzierung mehr gibt, wo alle Phänomene des natürlichen Lebens gleichwertig werden in der Vollendung ihrer irreversiblen Degradation.“26 Diese Vorstellung einer sich selbst vernichtenden Ordnung weist deutliche Anklänge zu dem auf, was Sebald später geschichtsphilosophisch erweitern sollte zum Konzept der Naturgeschichte der Zerstörung,27 wie auch der Begriff der Entropie grundlegend ist im philosophischen System der Ringe des Saturn.28 Im Nachruf wird Bernhard von Sebald eingeordnet in eine literarische Ahnenreihe satirischer Autoren, die bei Cervantes beginnt und über Swift, Gogol und Kraus bis zu Beckett führt. Im Essay plaziert er ihn ans Ende der reichen satirischen Tradition in der österreichischen Literatur, welche „von Heinrich von Melk, Paracelsus und Abraham a Santa Clara bis zu Nestroy, Kraus und Canetti“29 reicht. Indem er ihn als Satiriker beschreibt, macht Sebald auch deutlich, dass die verbale Aggressivität, die die Texte und den ‚öffentlichen‘ Bernhard kennzeichnete, nicht allein auf eine psycho(patho)logische Disposition des Schriftstellers reduziert werden kann. Ja, Sebald wendet auffällige Energie daran, Bernhards Verweigerungshaltung und Angriffslust gegen dessen Kritiker aller Couleur zu verteidigen, etwa indem er § in Abgrenzung zu anderen Autoren der satirischen Traditionslinie § schreibt : „Bernhard tendiert dazu, seine Erlösung weniger im Bekenntnis der Mitschuld als in einem Lachen zu suchen, mit der er die Welt und sich selbst zum Narren hält.“30 Als ein ausführlich zitierter Beleg dafür, dass Bernhard weder mit disqualifizierenden Verdikten wie Paranoia oder Megalomanie, noch politischen Kategorien wie Reaktion belegt werden kann, dienen ihm die vielzitierten Äußerungen aus einem im Juni 1979 in der ZEIT abgedruckten Interview, das mit den Sätzen endet : Meine Situation kann nur die eines skurrilen … ich möchte nicht einmal sagen Papageis, weil das schon viel zu großartig wäre, sondern eines kleinen, aufmurksenden Vogerls sein. Das macht halt irgendein Geräusch, und dann verschwindet es auch wieder und ist weg. 26 Ebd., S. 109. 27 Vgl. Baumgärtel, Patrick : Mythos und Utopie. Zum Begriff der Naturgeschichte der Zerstörung im Werk W.G. Sebalds, Frankfurt am Main 2010. 28 Vgl. etwa Gray, Richard T.: „Writing at the Roche Limit : Order and Entropy in W. G. Sebald’s ,Die Ringe des Saturn‘“, in : The German Quarterly 83, 2010, S. 38§57. 29 Sebald : „Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht“, S. 111. 30 Ebd., S. 112.
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Der Wald ist groß, die Finsternis auch. Manchmal ist halt so ein Käuzchen drin, das keine Ruh’ gibt. Mehr bin ich nicht. Mehr verlang’ ich auch nicht zu sein.31
Bernhard rückt für Sebald insofern in die Nähe jener Autoren einer ‚kleinen Literatur‘, die nach seinem Verständnis nicht nur Kafka im Sinne der maßgebenden Schrift von Deleuze/Guattari umfasst, sondern auch Schriftsteller wie den multimedialen Autodidakten Herbert Achternbusch, den schizophrenen Anstaltspatienten Ernst Herbeck oder den Diminutivdichter Robert Walser. Zu den wirklich bedeutenden literaturkritischen Essays aus der Feder Sebalds kann der Text über Bernhard kaum gerechnet werden. Wenngleich er seinerzeit sicherlich einige wesentliche Dinge zu sagen hatte, erscheint er von der Warte des heutigen Forschungsstandes aus doch überholt. Es bleibt so bedauerlich, dass Sebald nicht § anders als bei Autoren wie Stifter, Kafka, Gerhard Roth oder Peter Handke § mehr als einen Essay geschrieben hat, d.h. einen weiteren Aufsatz, der nicht so sehr dem ‚düsteren‘ Bernhard verhaftet geblieben wäre, sondern auch die zum Humor und zur Komödie tendierenden Werke der späten siebziger und achtziger Jahre berücksichtigt hätte. Angesichts dieses Manko verdient jedoch Erwähnung, dass Sebald in jene Liste seiner Lieblingsbücher, um die ihn eine Buchhandlung in Freiburg im April 2000 zu Zwecken der Schaufensterdekoration gebeten hatte, an siebter Stelle von 14 Buchtiteln Wittgensteins Neffe notierte § ein Band, der wie kaum ein anderes Buch der post-autobiografischen Phase für den abgeklärten, selbstironischen Bernhard steht.32 Auf die stilistische Nähe seiner Prosa zum idiosynkratischen Erzählstil Bernhards wurde Sebald interessanterweise insbesondere in englischsprachigen Interviews angesprochen.33 So konstatierte der Kritiker James Wood : „For all the apparent quietness of Sebald’s prose, exaggeration is its principal, an exaggeration he has undoubtedly learned in part from Thomas Bernhard.“34 Gegenüber Michael Silverblatt, der Sebald bereits in seiner Frage vorhält, Bernhard sei doch sein „mentor and model“ gewesen, gestand er ein : „I was always, as it were, temp31 Zitiert nach ebd., S. 113f. 32 Sebalds besonderes Faible dafür liegt freilich auch in der Verbindung zu seinem Idol Wittgenstein begründet. 33 Dass es ausgerechnet Ben Hutchinson, ein englischer Germanist, war, der als erster auf differenzierte Weise den stilistischen Zusammenhängen von Sebald und Bernhard nachgegangen ist, sei hier nur in Parenthese angemerkt. 34 Wood, James : „W.G. Sebald’s Uncertainty“, in : Ders.: The Broken Estate. Essays on Literature and Belief. London 1999, S. 278.
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ted to declare openly from quite early on my great debt of gratitude to Thomas Bernhard.“35 Was ihn davon abhielt, so Sebald weiter, war die berechtigte Gefahr § man denke nur an Hermann Burger oder Andreas Maier § sofort das stigmatisierende Label ‚Bernhard-Epigon‘ verpasst zu kriegen. Mit Austerlitz, in dem die ‚periskopische‘ Erzählweise in einer deutlich auf Bernhard verweisenden Intensität verschachtelter Berichtschichten samt der dazugehörigen inquit-Formeln auf die Spitze getrieben wird, vollzog Sebald insofern das lange überfällige „coming out“ als literarischer Schüler Bernhards : „It was necessary for me eventually to acknowledge his constant presence, as it were, by my side.“36 Das ist deutlich genug : Bernhard als Vorbild und ständiger Begleiter seines literarischen Schreibens besitzt so gerade im letzten Buch eine besondere literarische Schutzengelfunktion. Erspart blieb Sebald zum Glück die zweifellos in wohlmeinender hagiografischer Hinsicht geführte Aufrechnung von Austerlitz gegen Auslöschung hinsichtlich des erinnerungspolitischen Umgangs mit der Sho’ah. In Sebalds Roman nämlich „tritt der Ich-Erzähler, als Deutscher […] ein Erbe der Tätergeneration, ganz hinter der vergangenen und gegenwärtigen Leidensgeschichte des eigentlichen Protagonisten Austerlitz zurück“.37 Anders bei Bernhard : Seinem Ich-Erzähler Franz-Josef Murau geht es nur um die Auslöschung der elterlichen Schuld durch das Verfassen seiner Schrift wie durch die am Romanende verkündete ‚Abschenkung‘ des Familienbesitzes : „Im Vordergrund steht sein [Muraus] Trauma, seine vom Nationalsozialismus zerstörte Kindheit, sein seither zerrüttetes Ich, seine von der geerbten Schuld geprägte Scheinexistenz.“ 38 Mal ganz abgesehen von den implizierten Gleichsetzungen zwischen Erzählern und Autoren und schulmäßigen Zuteilung von ‚bestanden‘ und ‚durchgefallen‘ im Umgang mit historischer Last, hätte es Sebald wohl entsetzt, dass gerade jenes Buch, in dem er seine große Schuld gegenüber Bernhard überdeutlich kenntlich machte, gegen sein Vorbild in Anschlag gebracht wird, um ihn § zumal anhand seines Meisterwerks § zum Versager zu stempeln. Wer Bernhards Werk kennt, dem kann kaum entgehen, in welch vielfältiger Weise Sebald es in seinen Texten reflektierte. In der Sammlung poetischer Dichterporträts Logis in einem Landhaus schreibt Sebald einleitend, es gehe 35 Silverblatt : „A Poem Of An Invisible Subject“, S. 82. 36 Ebd. 37 Tabah, Mireille : „Erinnerung als Performanz. W.G. Sebalds Austerlitz versus Thomas Bernhards Auslöschung“, in : Heidelberger-Leonard, Irene/Tabah, Mireille (Hg.) : W.G. Sebald. Intertextualität und Topographie. Berlin 2008, S. 125§139, hier S. 130. 38 Ebd.
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ihm im Weiteren darum, seinen „Tribut an die vorangegangenen Kollegen in Form einiger ausgedehnter und sonst keinen besonderen Anspruch erhebenden Marginalien“39 zu zollen. Auch im Falle Bernhards geht es Sebald darum, den ihm gebührenden Tribut zu zollen, doch geschieht dies hier subtiler und wirkungsmächtiger in Form der stilistischen Übernahmen und Entlehnungen. Während eines Tutorials über Bernhard, hob Sebald mir gegenüber dessen offenkundige Präferenz für spezifisch österreichische Ausdrücke hervor ; besonderen Eindruck auf Sebald habe das Wort „Prosekturkarren“ gemacht.40 Ein markantes Faible für Austriazismen, die man insofern als Hommage an Thomas Bernhard lesen kann, prägt auch das literarische Werk von Sebald. Begriffe wie Spital, Matura, Kassa, Sandler oder Trafikant, aber auch österreichische Spracheigenarten wie das neutrale Geschlecht der Erfrischungslimonade Coca-Cola oder Ausdrücke wie „beim Fenster heraus schauen“ dürften manchen aufs Hochdeutsche, oder wie man hier besser sagen sollte : Schriftdeutsche geeichten Leser irritiert haben. 41 Neben offenkundigen Einflüssen, wie dem labyrinthisch ausufernden Satzbau oder der gehäuften Verwendung von Superlativen, die der von Bernhard übernommenen Tendenz zur Übertreibungskunst geschuldet sind, gehören der penetrante Einsatz des Adjektivs „sogenannt“ und des Adverbs „naturgemäß“ zu Kennzeichen der Prosa von Bernhard wie Sebald. Bei Bernhard ist „naturgemäß“ geradezu zu einem Markenzeichen avanciert. Hutchinson hat die gezielte Verwendung des Adverbiums anhand einer Stelle von Austerlitz analysiert, in welcher der Erzähler über den Festungsbau schreibt, die Kriegsplaner hätten „außer acht gelassen, daß die größten Festungen naturgemäß auch die größte Feindesmacht anziehen, und daß man sich, eben in dem Maß, in dem man sich verschanzt, tiefer und tiefer in die Defensive begibt.“ 42 Wie Bernhard geht es auch Sebald um die Doppelbedeutung des Adverbs, das nicht nur ein Synonym zu ‚offensichtlich‘ oder ‚selbstverständlich‘ darstellt, sondern zur ‚wörtlichen‘ Lektüre einlädt, dass der damit bezeichnete Um- oder Gegenstand sich entsprechend natürlicher Vorgaben bzw. gemäß dem vom Autor oder Text vertretenen Naturbegriff verhält. Angesichts des negativen Bildes einer menschenfeindlichen Natur, wie es Bernhard im Prosadebüt Frost zeichnet und 39 Sebald : Logis in einem Landhaus. Frankfurt am Main 2000, S. 7. 40 Es ist einmalig zu finden in Bernhard, Thomas : Verstörung. Frankfurt am Main 2003 (= Werke, Bd. 2), S. 13. Herzlichen Dank an Martin Huber für die Identifizierung der Stelle. 41 Vgl. dazu Zucchi, Matthias : „Zur Kunstsprache W.G. Sebald“, in : Martin, Sigurd/Wintermeyer, Ingo (Hg.) : Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds. Würzburg 2007, S. 163§181. 42 Sebald : Austerlitz. Frankfurt am Main 2003, S. 27.
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fortan nur wenig modifiziert, war es für Sebald so nur naheliegend, „naturgemäß“ als Hommage zu übernehmen, in der sich zugleich seine zutiefst melancholische Überzeugung spiegelte, dass der Zivilisationsprozess mit quasi naturgeschichtlicher Konsequenz in die (Selbst-)Zerstörung führt. „Sogenannt“ § Bernhards rhetorische Allzweckwaffe zur Entwertung gesellschaftlich sanktionierter Dinge wie diskursiver Gemeinplätze, wobei er etablierte Autoritäten und vermeintlich unumstößliche Wahrheiten in Frage stellt, um an den Grundfesten des status quo zu rütteln § wird ebenso von Sebald in eigentlich allen Büchern mit demselben karnevalistischen wie erkenntnis- und sprachkritischen Impetus verwendet. Als „eine sogenannte Stätte gepflegter Gastlichkeit“ 43 disqualifiziert er das Gasthaus Engelwirt ab, während die „sogenannten verschärften Verhöre“,44 denen Jean Améry im Fort Breendonk ausgesetzt war, als grausamste Folter entblößt werden. Dass Sprachfälschung zum Zwecke der Bemäntelung von genozidalen Aktionen nicht allein auf den deutschen Faschismus beschränkt ist, zeigt eine Bemerkung über den belgischen Imperialismus : „Tatsächlich gibt es in der ganzen, größtenteils noch ungeschriebenen Geschichte des Kolonialismus kaum ein finstereres Kapitel als das der sogenannten Erschließung des Kongo.“45 Vor allem der naive Glaube, es verändere sich alles beständig zum Besseren, der „sogenannte Fortschritt“46 also, den Sebald im Anschluss an die Kritische Theorie stets scharf kritisiert, lässt ihn zu dem Adjektiv greifen, sei es etwa wenn er von den „sogenannten development zones“ spricht, die in Manchester „in den letztvergangenen Jahren zur Wiederbelebung des fortwährend berufenen Unternehmergeists am Rand der Innenstadt und entlang des Schifffahrtskanals eingerichtet worden waren“,47 tatsächlich aber längst schon aufgegeben wurden und bereits dem Verfall preisgegeben sind. „Naturgemäß“ wie „sogenannt“ dienen Sebald daher wesentlich dazu, seinem zivilisationskritischen Grundgedanken zuzuarbeiten, dass Fortschritt mit Verfall ident ist. Einen ganz wesentlichen Aspekt seines Attachments zu Bernhard macht Sebald im Interview mit Silverblatt explizit, nämlich die aus Sebalds Sicht an die formale Radikalität gekoppelte ethische Dimension seines Schreibens :
43 44 45 46 47
Sebald : Schwindel. Gefühle. Frankfurt am Main 1994, S. 203. Sebald : Austerlitz, S. 42. Sebald : Die Ringe des Saturn. Frankfurt am Main 1997, S. 143. Sebald : Die Ausgewanderten. Frankfurt am Main 1994, S. 75. Ebd., S. 267.
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What Thomas Bernhard did to postwar fiction writing in the German language was to bring to it a new radicality which didn’t exist before, which wasn’t compromised in any sense. Much of German prose fiction, of the fifties certainly, but from the sixties and seventies also, is severely compromised, and because of that aesthetically frequently insufficient.48
Sebald rechnete Bernhard insofern zu jenen Autoren von der ‚anderen Seite‘, die im Gegensatz zu den sich im weitesten Sinne um die Gruppe 47 formierenden Nachkriegsautoren zur Gruppe der Opfer faschistischer Verfolgung gehörten, also etwa Peter Weiss oder insbesondere Jean Améry. In den Blick zu bekommen gilt daher, dass Sebald die Texte von Bernhard nicht nur stilistisch emuliert, sondern sich im Verlauf der achtziger Jahre zudem dessen Habitus als Querulant und Nestbeschmutzter zum Vorbild nahm. Mit seinen polemischen Wortmeldungen der frühen neunziger Jahre wie der Generalabrechnung mit Alfred Andersch49 oder der unterdrückten Polemik gegen das Romanwerk von Jurek Becker,50 bis zu den Vorlesungen über Luftkrieg und Literatur und der daraus resultierenden Buchversion, sagte er aus englischer Distanz § im Sinne des Mottos, das diesem Essay voransteht § das, was er für richtig hielt. Werfen wir aber zunächst einen Blick zurück : Als querdenkender Polemiker hatte sich Sebald schon zu Beginn seiner akademischen Karriere erwiesen, indem die beiden auf der Magisterarbeit und der Dissertation beruhenden Bücher über Carl Sternheim51 und Alfred Döblin52 bereits massive Kontroversen auslösten im feuilletonistischen Literaturbetrieb wie in akademischer Hinsicht. Indem er vorgeblich gegen die beiden approbierten und § aufgrund ihrer jüdisch-deutschen Herkunft § teilweise auch sakrosankten Schriftsteller vorging, griff er eigentlich die Literaturwissenschaft an, die § nach seinem Dafürhalten § ein verzerrtes Bild von Sternheim und Döblin zu installieren versuchte. Es war gleichsam seine Form privater ‚Studentenrebellion‘. Sebald inszenierte sich insofern als ein Nestbeschmutzer innerhalb jener Zunft, der er durch die beiden Qualifikationsarbeiten offiziell beitrat. Je mehr 48 Silverblatt : „A Poem Of An Invisible Subject“, S. 83. 49 Sebald : „Between the Devil and the Deep Blue Sea. Alfred Andersch : Das Verschwinden in der Vorsehung“, in : Lettre international 20, 1993, S. 80§84. 50 Sebald : „Ich möchte zu ihnen absteigen und finde den Weg nicht : Zu den Romanen Jurek Beckers“ (1991), in : Sinn und Form 62 :2, 2010, S. 226§234. 51 Sebald : Carl Sternheim : Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära. Stuttgart 1969. 52 Sebald : Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins. Stuttgart 1980.
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sich der Polemiker Bernhard öffentlich positionierte, desto mehr musste Sebald in ihm einen Geistesverwandten erkennen, mit dem er nicht nur den Widerwillen gegen das hohle Geschwätz des offiziellen Diskurses teilte, sondern auch die Abneigung gegen das Zelebrieren eines bürgerlichen Habitus in Veranstaltungen kultureller und akademischer Art,53 wie überhaupt „das unerträgliche Kulturgeschwätz“54 jeder Art. Zur Nestbeschmutzung zu rechnen sind selbstredend auch die Passagen, in denen sich Sebalds Erzähler negativ über das ihnen „von jeher unbegreifliche, bis in den letzten Winkel aufgeräumte und begradigte deutsche Land“55 äußern, in jeweils ähnlich- bis gleichlautenden Formulierungen, wenngleich es sich um eine quasi paradoxale Form der Nestbeschmutzung handelt, da Sebald dem Heimatland gerade das (klischeehafte) Vorherrschen von Sauberkeit und Ordnung vorgeworfen wird : „überall sah ich saubere Ortschaften und Dörfer, aufgeräumte Fabrik- und Bauhöfe, liebevoll gehegte Gärten, unter den Vordächer ordentlich aufgeschichtetes Brennholz, […] Straßen, auf denen bunte Autos mit großer Geschwindigkeit dahinschnurrten“.56 Zurück zur erstaunlichen Renaissance des Polemikers Sebald zu Beginn der neunziger Jahre, d.h. zu einem Zeitpunkt, als er bereits wohlbestallter Professor war und insofern jeglicher Grund zur Rebellion gegen das Establishment hinfällig war. Mehr noch, mit jedem Buch stieg sein Stern als Schriftsteller, ja als international renommierter Erfolgsautor. Die damit aber einhergehende Schubladisierung als Holocaust-Autor, das habe ich an anderer Stelle ausgeführt,57 musste einen Abwehrreflex auslösen, der sich eben auch in Form eines querulantischen Verhaltens entgegen den Regeln links-liberaler Denkgebote äußerte, etwa in der gnadenlosen Kritik an der literarischen Qualität des Ghetto-Romans Jakob der Lügner aus der Feder des Ghetto-Überlebenden Jurek Becker. Nicht gerade das, was man sich von einem Holocaust-Autor erwartete, genauso wenig wie die scheinbar revisionistische Stoßrichtung der Vorlesungen zu Luftkrieg und Literatur, in denen er die mangelhafte literarische Darstellung der alliierten Terrorangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung beklagte, woraufhin 53 So verzichtete Sebald etwa darauf, sich englischer Uni-Sitte gemäß mit Talar und Doktorhut zu kostümieren, um so ausstaffiert zu meiner Promotionsverleihung zu erscheinen ; ein Schritt, der mich damals enttäuschte, den ich nun allerdings völlig verstehe und hochschätze. 54 Bernhard : Alte Meister. Frankfurt am Main 2008 (= Werke, Bd. 8), S. 10. 55 Sebald : Schwindel. Gefühle. Frankfurt am Main 1994, S. 276. 56 Sebald : Austerlitz, S. 320. 57 Vgl. Schütte, Uwe : „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Anmerkungen zu W.G. Sebalds Essay über Jurek Beckers Romanwerk“, in : Sinn und Form 2, 2010, S. 235§242.
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man Sebald die Haltlosigkeit seiner Grundthese nachweisen wollte, indem man eine ganze Reihe von Autoren und Texten aufzählte, die er mit Absicht oder aus Unkenntnis unterschlagen habe. Dabei verwies aber eigentlich niemand auf ein Buch, das Sebald sehr genau kannte, nämlich Bernhards Ursache mit der grauenvollen Passage über die Luftangriffe auf Salzburg.58 Warum Bernhard ausgerechnet in einem Kontext absent bleibt, der höchst geeignet wäre, Sebalds Wertschätzung für den Autor zum Ausdruck zu bringen, eröffnet Raum zur Spekulation. Womöglich war es nur ein Versehen, vielleicht aber auch eine Fehlleistung, in der sich ausdrückte, dass Sebald in den Neunzigern eine Beziehung zu Bernhard entwickelt hatte, die abgelöst war von dessen Texten und ihn vielmehr als ein Rollenmodell betrachtete zu Zeiten, als er gegen seinen Willen immer stärker ins Rampenlicht des Literaturbetriebs geriet. Ein Lehrer war Bernhard mithin nicht nur in Dingen literarischer Stilistik, sondern auch in Dingen des Habitus. Denn der Wald ist groß, die Finsternis auch. Literaturverzeichnis Anderson, Mark : „Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind. W. G. Sebalds Dilemma der zwei Väter. Biografische Skizzen zu einem Portrait des Dichters als junger Mann“, in : Literaturen Juli/August 2006, S. 32. Bernhard, Thomas : Alte Meister. Frankfurt am Main 2008 (= Werke, Bd. 8). Bernhard, Thomas : Die Autobiografie. Frankfurt am Main 2004 (= Werke, Bd. 10). Catling, Jo/Hibbitt, Richard (Hg.) : Saturn’s Moons. W.G. Sebald. A Handbook. Oxford 2011. Doerry, Martin/Hage, Volker : „Ich fürchte das Melodramatische“‘, in : Der Spiegel 11/2001, S. 228§234. Hutchinson, Ben : W.G. Sebald. Die dialektische Imagination. Berlin 2009. Sebald, W. G.: Austerlitz. Frankfurt am Main 2003. Sebald, W.G.: Logis in einem Landhaus. Frankfurt am Main 2000. Sebald, W. G.: Die Ringe des Saturn. Frankfurt am Main 1997. Sebald, W. G.: „Thomas Bernhard (1931§1989)“, in : Austrian Studies 1/1990, S. 215f. Sebald, W. G.: „Surveying the Scene. Some Introductory Remarks“, in : Ders. (Hg.) : A Radical Stage. Theatre in Germany in the 1970s and 1980s. Providence 1988, S. 1§8. Sebald, W. G.: „Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht“, in : Ders.: Die Beschreibung des Unglücks. Frankfurt am Main 1994, S. 103§114. Silverblatt, Michael : „A Poem Of An Invisible Subject“, in : Schwartz, Sharon Lynne 58 Vgl. Geoff, Dyer : „Terrible Rain. W.G. Sebald, Thomas Bernhard and the Bombing of Europe“, in : Los Angeles Weekly, 30.1.2003.
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(Hg.) : The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald. New York 2007, S. 77§86 Tabah, Mireille : „Erinnerung als Performanz. W.G. Sebalds ‚Austerlitz‘ versus Thomas Bernhards ‚Auslöschung‘“, in : Heidelberger-Leonard, Irene/Tabah, Mireille (Hg.) : W.G. Sebald. Intertextualität und Topographie. Berlin 2008, S. 125§139. Wood, James : „W.G. Sebald’s Uncertainty“, in : Ders.: The Broken Estate. Essays on Literature and Belief. London 1999, S. 278.
Paola Bozzi
Vom diskreten Charme der Bourgeoisie und anderen obskuren Objekten der Begierde Zu einigen Parallelen zwischen Thomas Bernhard und Luis Buñuel
Für Fausto Cercignani
Das literarische Œuvre Thomas Bernhards gehört mittlerweile zum Kanon der Gegenwartsliteratur. Entsprechend haben sich auch die Interpretationen, die zu seinem Werk vorliegen, auf einen relativ ‚kanonisierten‘ Standard eingespielt. Alfred Pfabigan hat in diesem Zusammenhang sogar von einem „BernhardKonformismus“1 gesprochen, der den Blick auf das Werk des Autors immer noch verstellen würde. In meinem Beitrag möchte ich versuchen, über den status quo der Forschung hinauszugehen, und zum ersten Mal einen Vergleich mit dem spanisch-mexikanischen Filmemacher Luis Buñuel wagen, der zu den bekanntesten und wichtigsten Regisseuren des 20. Jahrhunderts zählt. Dabei muss klar sein, dass der hier unternommene Versuch meinerseits eine Re-lecture darstellt. Meines Wissens gibt es keine nachgewiesene Beziehung Bernhards zu Buñuel und umgekehrt. Die Filmerzählung selbst war Bernhard jedoch durchaus vertraut : Mit dem Italiener hat er die eigenen Wünsche an das Schreiben, die Träume der Literatur filmisch illustriert bzw. belegt und auf diese Art das gleich betitelte und längst „vergessene“ Erzählfragment vollendet.2 Im Filmtext wird die Kamera von Bernhard als Auge benutzt, das, filmgetreu, die Dinge, Menschen, Situationen weit unbarmherziger erfasst als die Sprache, die nur recht künstlich Bewegung erzeugt und mitten in der Bewegung noch zur Statik neigt. Die Fragment-Vorlage verlängert sich im Drehbuch nicht bloß um zahllose Details, sondern jedes Detail in Bezug auf die Grundidee des Todes als Groteske wird dort überdimensioniert § und erinnert frappant an den Expressionismus Luis Buñuels. 1 Pfabigan, Alfred : Thomas Bernhard : ein österreichisches Weltexperiment. Wien 2009, S. 8. 2 Bernhard, Thomas : Der Italiener (1971). Frankfurt am Main 1989 ; das Taschenbuch enthält neben der fragmentarischen Erzählung (1964) und dem Filmdrehbuch Der Italiener auch das Filminterview von Ferry Radax Drei Tage (1970).
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Paola Bozzi
In der Tat lassen sich Parallele zwischen dem Autor und dem Filmemacher aufzeigen, die möglicherweise ein neues Licht auf einige Konstanten des Bernhardschen Werks werfen. Sowohl Bernhard als auch Buñuel haben den Skandal gepflegt und regelmäßig für Aufregung und Irritation gesorgt. Ihre anti-bürgerliche Kunst ist beim Bürgertum selbst zum Erfolg geworden, welches den Besuch der Filme bzw. Theaterstücke oder die Lektüre der Texte zu einem Bestandteil seiner bürgerlichen Aufgeschlossenheit machte. Der hybride Charakter ihrer Produktion verbindet Avantgardismus und Kommerzialität, Humor und Pathos, Intellektualität und Volkstümlichkeit, Verunglimpfung und ‚schwarze Rhetorik‘. Beiden gemeinsam ist vor allem aber das Bestreben, der offiziellen und einseitigen Weltsicht eine ergänzende beizufügen, um in deren Konflikt die Ordnung gestärkt und erneuert hervortreten zu lassen. Nur in diesem Sinne sind Buñuel und Bernhard als Avantgardisten zu betrachten, die sich gerne gegen etablierte, feststehende Wertvorstellungen aussprechen und für eine kurze Zeit die Utopie einer anderen Ordnung der Dinge irgendwie aufscheinen lassen. In einem anderen Sinne sind sie jedoch Traditionalisten, die sich in ihrer Formsprache auf uralte Muster und Motive beziehen und sich der karnevalesken Gegenkultur bedienen, um diese für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Unter diesem Blickwinkel werden ihre Werke zu einer Materialsammlung moderner Erscheinungen der Karnevalssprache. Dem Tod kommt dabei natürlich eine besondere Rolle zu, ebenso dem heiteren Gelächter, das eine Bewertung gesellschaftlichen Lebens nach gängigen sozialen, ethisch-konventionellen Normen verweigert und im Zerfall bzw. im Ersterben das Aufkeimen neuer Möglichkeiten erkennt. Dem bürgerlichen Weltempfinden läuft eine solche Betonung der Komplementarität von Geburt und Tod freilich zuwider, nicht nur, weil der Mensch sich als ohnmächtig, als natürlichen Prinzipien unterworfen erkennen muss, sondern auch, weil es im kapitalistischen Produktionsprozess unmöglich zu sein scheint, dass Anfangsstadium und Endprodukt zusammenfallen. Jedes Gespräch über den Tod entpuppt sich jedoch als eines über das Leben und seine Gestaltungsprinzipien. Folgerichtig beginnt Bernhard seine Rede anlässlich der Verleihung des österreichisches Staatspreises 1968 mit einer Grundsatzerklärung, von der aus er seine weiteren Ausführungen im Sinne einer heiteren Relativität ableitet : „es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich ; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“3 Der Autor selbst wollte sein Œuvre als ein „Lach3 Bernhard, Thomas : „Rede zur Verleihung des Staatspreises 1968“, in : Botond, Anneliese (Hg.) : Über Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 1970, S. 7 ; vgl. zum Thema Huber, Martin : Thomas
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programm“ verstanden wissen, welches die durch Michail Bachtin definierte, kritische Aufgabe wider den offiziellen Ernst der (intellektuellen) Eliten und ihrer Sprachmasken der Lächerlichkeit ins Auge fasst. Denn in der Kunst kann „alles lächerlich gemacht werden, jeder Mensch kann lächerlich und zur Karikatur gemacht werden“.4 Nach Wendelin Schmidt-Dengler macht „[e]ine sorgsame Lektüre der Schriften Bernhards […] deutlich, dass es dem Autor immer um die Komödie gegangen war“ und „[d]ie ideal konzipierte Komödie […] das Telos einer Entwicklung darzustellen“5 scheint. Buñuel und Bernhard genießen den Status der Großmeister des eher absurden Humors,6 den sie vor allem durch ihr Spätwerk erlangen sollten. Beide sind allerdings keine kanonisierten Komödienautoren, die auf die Erwartungshaltung eines Komödienpublikums treffen. Vielmehr spüren Zuschauer wie Leser ihre eigene ‚inoffizielle Wahrheit‘ und reagieren darauf mit einem Lachen, das ebenso flüchtig ist, wie etwa das des Festtags in mittelalterlichen Zeiten und daher von Bachtin als ein „Karnevalslachen“ bezeichnet wird. In diesem Lachen können sich Aspekte einer „jahrtausendealten Volkskultur“7 äußern, die im Verlachen des Todes einen Sieg über die Ängste um die eigene Existenz feiern. Buñuels wie Bernhards Sprache ist in diesem Sinne Ausdruck eines Lebensgefühls, dessen Grundlage „die Vorstellung von der Welt als einer ewig unfertigen, zugleich sterbenden und geboren werdenden, zweileibigen Welt ist“.8
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Bernhards philosophisches Lachprogramm. Zur Schopenhauer-Aufnahme im Werk Thomas Bernhards. Wien 1992. Bernhard, Thomas : Alte Meister. Frankfurt am Main 1985, S. 118. Schmidt-Dengler, Wendelin : „‚Komödientragödien‘. Zum dramatischen Spätwerk Bernhards“, in : Gebesmair, Franz (Hg.) : Bernard-Tage : Materialien. (Ohlsdorf 1994) Weitra 1994, S. 74§98, hier S. 80 und S. 84. Zu Recht bemerkt Mireille Tabah („Wandern und Unterwandern phallologozentrischer Festschreibungen bei Thomas Bernhard“, in : Brittmacher, Hans Richard (Hg.) : Unterwegs : zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert. Köln 2008, S. 211§226, hier S. 221) : „Die Komik läßt sich bei Bernhard allerdings weniger durch die Kategorie des Humors, mit der sie oft gleichgesetzt wird, als vielmehr durch das Karnevaleske im Bachtinschen Sinne bestimmen.“ Michail Bachtin : Rabelais und seine Welt. Frankfurt am Main 1995, S. 140. Ebd., S. 206. So hat Mathias Mertens (Buñuel, Bachtin und der karnevaleske Film. Weimar 1999) das Werk Buñuels sehr überzeugend und anregend interpretiert ; zum Karnevalesken als Schlüssel zum Bernhardschen Werk vgl. die schöne Arbeit von Uwe Betz : Polyphone Räume und karnevalisiertes Erbe : Analysen des Werks Thomas Bernhards auf der Basis Bachtinscher Theoreme, Würzburg 1997. Betz benutzt vor allem Bachtins Chronotopos-Theorem zum Herausarbeiten einer Entwicklung der literarischen Produktion. Wie bereits für Peter Hodina („Die Karnevalisierung des großen Aufklärers. Thomas Bernhards Komödie ‚Immanuel Kant‘“, in : Csobádi, Peter (Hg.) : Die lustige Person auf der Bühne. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions 1993. Anif, Salzburg
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Eine solche Duplizität lässt sich am besten als ein erweitertes und systematisch gebrauchtes Oxymoron beschreiben.9 Denn dieses ist nicht nur eine breit gefächerte Stilfigur, die auf zwei logisch entgegengesetzten (konträren oder kontradiktorischen) Begriffen beruht, sondern auch eine Denk-, Lebensgefühls- und Kompositionsfigur. Im Oxymoron wird nicht die Zweckrationalität der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Sinnlosigkeit allen Seins ausgespielt, sondern Kritik und Emphase bilden eine einzige Figur, die beide Aspekte gleichzeitig kundtut. Als solche ist das Oxymoron in den christlichen Evangelien präsent („Der kleinste bei euch ist groß“, Lk. 9, 48 ; „Die letzten werden die Ersten sein“, Mt. 20, 16 ; „Die sehen und sehen nicht“, Mt. 13, 14) und dient dem Heiligtum bzw. der Sakralisierung ;10 es ist jedoch zugleich § gerade in der Moderne, wo Ambivalenz als Lebensbedingung gilt § ein Mittel zur De-Sakralisierung, zur Profanation.11 Der Tropus hat darüber hinaus eine alte barocke Geschichte, die als eine kulturelle Erweiterung der katholischen Transsubstantiationslehre geschildert werden kann und die Kontraste zwischen Fleisch und Seele, Diesseits und Jenseits betont bzw. die Parallelität § nicht Mischung, sondern Parallelität § zweier Welten. In diesem Sinne weisen die antiautoritären Oxymorisierungstendenzen der Werke Bernhards12 und Buñuels, welche die Fahne der Ambiguität hochhalten, unter anderem auf eine starke Abhängigkeit vom katholisch-autoritären und barocken Kulturerbe hin, „gegen das man zuerst ein Gegenspiel erfindet, um dann schon das Spiel gegen das Gegenspiel auszuspielen § und wieder umgekehrt“. 13 Buñuel war als Kind Messdiener, sang im Kirchenchor, besuchte eine Jesuitenschule und wuchs § nicht anders als Bernhard, der die eigene Kindheit als Hölle
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1994, S. 751§768) und Adrian Stevens („Schimpfen als künstlerischer Selbstentwurf. Karneval und Hermeneutik in Thomas Bernhards ‚Auslöschung‘“, in : Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Thomas Bernhard. Beiträge zur Fiktion der Postmoderne. Londoner Symposion. Frankfurt am Main 1997, S. 61§91) besteht der Karneval für Betz „in der Art und Weise, wie in Bernhards Texten mit den ‚literarischen Erbschaften‘ umgegangen wird“ (Betz, Polyphone Räume, S. 29), wie da auf literarische Traditionen Bezug genommen wird. Vielmehr als um eine Karnevalisierung des Erbes geht es aber m.E. bei Bernhard um eine karnevaleske Welterfahrung. Bachtin : Rabelais, S. 247. Jaan Undusk zufolge ist das Oxymoron zu einer rhetorischen Entsprechung für das christliche Lebensgefühl geworden ; vgl. seinen brillanten Aufsatz „Oxymoron als Profanation des Heiligen. Zu Thomas Bernhard“, in : Interlitteraria 7/2002, S. 365§379. Ebd., S. 366. Jaan Undusk fühlt übrigens in der modernen österreichischen Literatur eine etwas größere Bereitschaft zum „oxymorischen Denken“ als in anderen ; vgl. ebd., S. 369f. Ebd., S. 366.
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geschildert hat14 § in einer starrsinnigen, von Klassenunterschieden und einer belasteten Zeitgeschichte geprägten Gesellschaft auf. Seine obsessive Beschäftigung mit Religion und Klerus in seinen Filmen wirkte übrigens auf einen Teil der Rezipienten eher als ein getarntes Lob der Kirche und nicht als eine Fürsprache für deren Beseitigung. Bernhard seinerseits hat mit dem Schreiben von Lyrik debütiert und mit dieser bewiesen, dass er sogar um und für den psalmischen Gesang wirbt. Die „Neuen Psalmen“ am Ende der Dritten Sektion von Auf der Erde und in der Hölle stellen nämlich den Höhepunkt der fiktiven Reise des lyrischen Ich dar, da sie auch in formaler Hinsicht das Zentrum des Zyklus bilden und dem Autor so wichtig waren, dass er sie 1960 auch als Privatdruck separat erscheinen ließ. Auch seine zweite Lyriksammlung In hora mortis nimmt die „Neuen Psalmen“ auf, um mit ähnlichen Sprachgebärden die mystische Introspektion des lyrischen Ich weiterzuführen.15 Die Gedichte Bernhards unterscheiden sich erheblich von dem, was man unter christlicher Dichtung zu verstehen pflegt. Denn christlich nennt man eine Dichtung, wenn sie Themen des Christentums behandelt, sei es in der Weise der Erinnerung an Ereignisse, die sich zur Zeit Christi oder sonst unter Christen zutrugen, sei es in derjenigen einer christlichen Wertung von allgemeinmenschlichen Vorkommnissen. Dabei versteht man allerdings immer nur die sogenannten Inhalte der Dichtung als christlich. Unbedacht bleibt somit, dass das Wesen einer Dichtung zwar nicht unabhängig von ihren Inhalten ist, aber seinen eigentlichen Grund in demjenigen Ereignis hat, das durch die Weise des Sprechens Gegenwart erlangt. In diesem Sinne sind die oxymorischen Wendungen16 in Bernhards Gedichten eindeutig heilig gemeint. In ihnen drückt sich der Verlust einer Sprache der Verheißung aus, gleichzeitig aber auch der Versuch, diese noch einmal zu beschwören, sie im Erinnern der Form gleichsam zu bewahren : Vom sakralen Vorbild erbt Bernhard die Würde der Sprache, den Ernst der Aussagen und die 14 Zur Kindheit als Hölle vgl. u.a. auch Bernhard : Alte Meister, S. 106. 15 Bernhard, Thomas : Auf der Erde und in der Hölle. Salzburg 1957 ; In hora mortis. Salzburg 1958. Beide Lyriksammlungen sind in dem von Volker Bohn herausgegebenem Band der Gesammelte Gedichte enthalten (Frankfurt am Main 1991) ; vgl. dazu Bozzi, Paola : Ästhetik des Leidens. Zur Lyrik Thomas Bernhards. Frankfurt am Main 1997, hier S. 62§65 und S. 92§95. 16 Vgl. Bernhard : Gesammelte Gedichte, S. 76, Ps. VII : „meine Unschuld zur größten Unschuld ! […] Die große Armut, die mich erniedrigt./Die große Armut, die mich vollendet./Die Armut, die mich zerspaltet/für die Vollendung !“ ; aber auch S. 70 : „und ihr sagen, daß sie Leben ist wie keine Leben“ ; S. 86 : „Lebende und Tote“ ; S. 101f.: „Verhängnis des Frühlings“ ; S. 111 : „Meine Legende ist sterblich“ ; S. 112 : „Wer wird/die Vögel lieben, die ich verachte“ ; S. 128 : „mein Wort mein Glück mein Weinen“.
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Intensität des Ausdrucks. In der psalmischen Rede, einstmals ein Medium der Kommunikation mit Gott, ringt Bernhard um Worte, die den zerstörten, verlorenen Gott mit Hilfe der Sprache wieder „aufbauen“17 können. Denn die Psalmform ist der Versuch, in der Sprachgebärde auch ihren Adressaten zu erschaffen, mit der Gattung auch deren transzendenten Horizont zu evozieren. Erst als Prosaist und Dramatiker hat Bernhard sein zweites, sein profanes Bewusstsein herausgearbeitet und mithin einen neuen Kontext für sein Werk geschaffen. Das ursprünglich Heilige, Sakrale, das sich in der Sprechweise seiner frühen Lyrik so rein ausdrückt, hat er allerdings nie in das neue Profane bzw. Prosaische hineingemischt. Das Heilige und seine Profanation stehen bei Bernhard Seite an Seite nebeneinander wie zwei entgegengesetzte Begriffe in einem Oxymoron und bilden kein synthetisches Ganzes. Deshalb sind seine Theaterstücke auch keine Tragikomödien. Der Autor ist zumeist bewusst todernst und humorlos § und belustigend bzw. urkomisch, Komödie und Tragödie laufen bei ihm parallel, verschmelzen nicht und ergeben eine anarchische Groteske. Die Gegensätze im Sprechen Bernhards werden nicht dialektisch aufgehoben, um etwa nach Hegelschem Muster eine Synthese zu bilden, sondern sie bleiben weiterhin als solche in Kraft. Christian Klug spricht in diesem Zusammenhang von den Symbolen „einer fundamentalen Einheit des Widersprüchlichen“,18 was ebenso für Buñuels Filme gilt, die stilistisch zwischen der Grundstimmung einer Komödie und Versatzstücken unter anderem aus dem Horrorfilm schwanken. Die aporetische Valenz von Komödie und Tragödie ist also bei beiden Autoren mehr eine gattungsübergreifende Wirkungskategorie, die den Zuschauer bzw. Leser ohne Hilfestellung bekannter Deutungsangebote zwischen komischer Distanz und tragischer Teilnahme wechseln lässt und ihn auf die Suche nach eigenen Definitionen schickt. Auch die berühmte Hassliebe Bernhards zur österreichischen Heimat ist nicht nur ein Oxymoron, das auf seine quasi rein-sozialen bzw. historischen Wurzeln verweist, sondern es ist ebenso kulturell bedingt, als ein „Nacherleben des barocken Weltgefühls in verhältnismäßig profanierter Form“.19 Dass Buñuel und Bernhard mit der strengen Gesellschaftsordnung ihrer Heimat in Konflikt gerieten und sie sich in ihren Überzeugungen von ihr abgrenzten, kann kaum überraschen, fühlten sie sich doch in ihren künstlerischen Neigungen nachhaltig eingeschränkt. Weit wichtiger ist es jedoch zu betonen, dass diese Abkehr überhaupt 17 Vgl. ebd., S. 74. 18 Klug, Christian : Thomas Bernhards Theaterstücke. Stuttgart 1991, S. 216. 19 Vgl. Undusk : Oxymoron, S. 370.
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erst vom Katholizismus und von einer weiterhin lebendigen mittelalterlichen Welt hervorgerufen wurde, wo das Bedürfnis nach einer stringenten Moral eine Folge der Erziehung im Geiste einer strengen Moralität gewesen ist : „Der Katholizismus wurde für Buñuel zur Grundlage für alle Ideale und alle Utopien, die er in seinem Leben verfolgte, gerade weil dieser ihn in seinen Ansprüchen an eine universale Welt mit einer unerschütterlichen Moral enttäuschte.“20 Man denke nur an einen Film wie Nazarín,21 in dem der Glaube Nazarios etwa nicht aus echter Nächstenliebe oder aus einer spirituellen Hingabe an Gott bzw. seine höhere Macht resultiert, sondern lediglich ein steifer Tribut an kirchliche oder weltliche Autoritäten ist. Nazaríns sektiererische Narrheit, die Menschen erlösen zu helfen, scheitert am Menschen. Aufschlussreich ist in diesem Sinne auch La Voie lactée,22 wo der Filmemacher eine weite Wanderung durch den Fanatismus unternommen hat, bei der sich jeder gewaltsam und unerbittlich an sein Stückchen Wahrheit klammert § bereit, dafür zu töten oder zu sterben. Der Weg, den die beiden Pilger darin zurücklegen, kann gleichermaßen für politische wie für künstlerische Ideologien stehen. Die Auseinandersetzung mit dem Mittelalter wird dabei zu einer karnevalesken Travestie von Religion und hierarchischer Ordnung, welche die Wahrheit wieder ins Licht rücken soll. Der Verzicht auf eine Jenseitsvorstellung lässt Buñuel stärker das diesseitige Leben betrachten, eine Welt, in der „[d]as Böse […] den alten, großen Kampf gewonnen“23 hat. Seine Kritik gilt nämlich zuvorderst der zivilisatorischen Fortschrittsdiktatur, die den Menschen durch das Versprechen auf eine Verbesserung seiner Situation immer neuen Unterdrückungsmechanismen unterwirft. Folgerichtig zieht sich durch sein Werk der Zorn gegen all diejenigen, die im Namen einer immer fernen Utopie die Menschen für ihre Zwecke missbrauchen und unterdrücken, wie es seiner Ansicht nach Wissenschaftler, Staatsmenschen, Militärs, Kapitalhalter oder Klerikale tun. Buñuel betreibt Ideologiekritik vom ersten bis zum letzten Satz. Er tut dies aber nicht als Theoretiker, sondern als Künstler, und seine Ideologiekritik besteht in der Weise, wie er die Wirklichkeit sieht und zeigt. Statt einer sich selbst perpetuierenden dialektischen Kritik bedient sich Buñuel dabei eines ironischen Skeptizismus, um diesem Zorn Ausdruck zu verleihen. Im 20 Mertens : Buñuel, S. 62. 21 Buñuel, Luis (R) : Nazarín. Mexiko 1958/1959. 22 Buñuel, Luis (R) : La Voie lactée. Frankreich, Italien 1968/69. Der Jakobsweg hieß auch „Milchstraße“, weil er zum Heiligtum führte wie der Stern zur Krippe und weil er aus Etappen bestand, die wie von Sternen markiert waren. 23 Buñuel, Luis : Mein letzter Seufzer. Königstein im Taunus 1983, S. 244f.
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Gegensatz zur kommunistischen Utopie, die sich wie andere Heilslehren in der Zukunft realisieren sollte und deshalb in der Vergangenheit bzw. in der Gegenwart zur Unterdrückung der Menschen verwendet wurde und wird, ist sein Gegenentwurf zu jeder Reglementierung und Reduzierung des Menschen eher eine karnevaleske, eine verkehrte Welt. Auch Thomas Bernhard unternimmt in seinen Werken weite Wanderungen durch die Täler, Wälder und Berge Österreichs. Darin schildert er einerseits die unterste Ebene, ein groteskes Körperreich, wo eine blinde und grausame Natur in ihrer Sozialstruktur beschrieben wird § etwa bei „Gradenberg“, „Rinderherden“24, neben Bergmännern und Gastwirten, wo „Körperexzesse“ und „Sexualschwerfälligkeit“,25 Brutalität, Irrsinn, Trunksucht, Verbrechen und Züchtigungen vorherrschen. Andererseits beschreibt der Autor die leidenschaftliche Suche des Geistesmenschen nach der Wahrheit, nach dem Höchsten bzw. Allerhöchsten, das dieser nie erreichen kann und wird : Den Fanatismus der Kunstreligion und des apollinischen Wahns. Die angebliche Herrschaft des Geistes findet dabei ihre komische Umkehrung im Leiden des Körpers, in seinen Gebrechen und Verkrüppelungen. Der Geistesmensch § möge er Roithamer (Korrektur), Karl (Ungenach) oder Glenn Gould (Der Untergeher) heißen26 § wird von seiner eigenen Vernunft kolonialisiert bzw. unterworfen, anstatt durch sie Befreiung zu erlangen ; der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“27 wird bei Bernhard zu einem Eintritt in eine autoreflexive Abhängigkeit. Den Widersprüchlichkeiten der menschlichen Natur kann eine solche monologische, extreme Existenz nur mit Unterdrückung oder Missachtung begegnen. Geschlossene geistige Welten werden durch geschlossene Räume dargestellt. Sie sind Sinnbilder sozialer Isolation, der Konzentration auf das ‚Wesentliche‘, des geistigen Scheiterns und Erstarrens im Zwang zur Autoreflexion. Die vielen schuldbeladenen Herrschaftssitze, wo man möglicherweise weiterhin als „Fürst“ in einer eher kleinbürgerlich dominierten Massengesellschaft überlebt, sind Modelle der abendländischen Geschichte, also sichtbare und tatsächlich existierende Entsprechungen bestimmender Machtstrukturen und der mit ihnen verbundenen Diskurse. Von zentraler Bedeutung für den Autor ist indes die Destruktion 24 Bernhard, Thomas : Verstörung. Frankfurt am Main 1967, S. 7. 25 Ebd., S. 17. 26 Bernhard, Thomas : Korrektur. Frankfurt am Main 1975 ; Ungenach. Frankfurt am Main 1968 ; Der Untergeher. Frankfurt am Main 1983. 27 Kant, Immanuel : „Beantwortung der Frage : Was ist Aufklärung ?“, in : Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft, 1784, S. 481§494, hier S. 481.
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von Idylle und Heimatroman, welche mit biologischer Verfallszeit, mit Stillstand und Entzeitlichung, die jeden Fortschritt unmöglich machen, konfrontiert wird. Österreich erscheint einerseits als ein museales Land, in dem eine anachronistische Weltsicht, „[d]ie Finsternis der versteinerten Geschichte monströser Ahnenreihen“28 und zahlreiche Stufenmodelle gekammert werden. Andererseits kritisieren Bernhards Theaterstücke das patriarchalische Denken der Vertreter verschiedener Autoritätsbereiche (Politik, Jurisprudenz, Literatur, Philosophie und Theater) durch Ironisierung und Überzeichnung im komischen Gegengesang. Hinzu kommt die netzbeschmutzende Aktion des Autors von Heldenplatz29 als Strafe gegen seine unbotmäßige Heimat, die hier auch ganz wörtlich zu verstehen ist. Bernhard, der als Kind auf die Trennung von den Großeltern und das Zusammenleben mit der Mutter mit Bettnässen bzw. -koten reagierte, hat die Lebenslehre des Großvaters beherzigt, seine Sicht der Welt „als Kloake, in welcher die schönsten und kompliziertesten Formen sich entwickelten, wenn man lange genug hineinschaut, wenn sich das Auge dieser mikroskopischen Ausdauer ausliefert“.30 Die Produktion von Interviewbänden und Büchern hatte für den Schriftsteller eine skatologische Dimension und glich jeweils „eine[r] unerträglich stinkende[r] Wurscht“31 bzw. „Toilettenpapier“.32 Selbst der große Martin Heidegger verwandelt sich für ihn in eine „unablässig trächtige Philosophiekuh“, „die auf der deutschen Philosophie geweidet hat und darauf jahrzehntelang ihre koketten Fladen fallen gelassen hat im Schwarzwald“.33 Aus den wandelbaren Ausdrucksformen entsteht bei Bernhard ebenso wie bei Luis Buñuel unmittelbar eine Praxis der Verkehrung, die die konsequenteste Wandlung eines Sachverhalts darstellt. Das erkennt man am besten da, wo beide den Akt der Nahrungsaufnahme und Verdauung als „essentielles dramaturgisches Ingrediens“34 einsetzen. In einer berühmten Szene von Buñuels Le Fantôme de la liberté 35 trifft sich die Gesellschaft zum gemeinsamen Stuhlgang § zum Essen, 28 Endres, Ria : Am Ende angekommen. Dargestellt am wahnhaften Dunkel der Männerporträts des Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 1980, S. 232. 29 Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1988. 30 Bernhard, Thomas : Kälte. Eine Isolation. Salzburg 1981, S. 68. 31 Hoffmann, Kurt : Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. Wien 1988, S. 18f. 32 Fleischmann, Krista : Thomas Bernhard. Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Wien 1991, S. 236. 33 Bernhard, Thomas : Alte Meister, S. 88f. 34 Haider-Pregler, Hilde/Peter, Brigitte : Der Mittagesser. Eine kulinarische Thomas-Bernhard-Lektüre. Wien 1999, S. 25. 35 Buñuel. Luis (R) : Le Fantôme de la liberté. Frankreich 1974.
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zu ihrer liebsten Beschäftigung zieht sie sich heimlich zurück. Ein gemeinsames Essen wiederum wird den Charakteren in seinem erfolgreichsten Film Le Charme discret de la bourgeoisie,36 der als die wörtliche Beschreibung des bürgerlichen Triebverzichts funktioniert, fortlaufend verweigert : Appetitus interruptus. In Bernhards Dramen gibt das Fest wiederum häufig den Rahmen oder den Abschluss ab,37 wo sich Essen und Trinken parodistisch mit dem Geistigen verbinden.38 Gezeigt wird § von Buñuel wie von Bernhard § der ganz normale Wahnsinn des bürgerlichen Lebens, dabei ist die Komik eher auf der Rezeptionsebene existent und offenbart die unterdrückte Triebstruktur des Rezipienten, der sich ebenfalls in gesellschaftliche Zwänge eingebunden sieht. Denn Essen ist ein anerkanntes Gesellschaftsritual, das in Form von ‚Benehmen‘ bzw. ‚Tischsitten‘ das Verdrängen der brutalen Gier und der tierischen Barbarei unweigerlich verbirgt und Kommunikation, Interaktion und Produktivität bedeutet sowie Aufnahme von Energieressourcen zur Leistungsentfaltung und -steigerung. Der Abfall, der zu nichts brauchbar ist, muss dagegen verschämt entfernt, zum Verschwinden gebracht werden, der Ausscheidungsvorgang dient nicht dem produzierenden Menschen und ist damit in der Leistungsgesellschaft ein obszönes Thema. Beide Autoren zeigen in diesem Sinne auf, was alles verborgen wird, worauf sich die Menschen reduzieren und stellen ihrem Publikum deren komplementären Alltagselemente gegenüber. Sie vergessen nicht den ‚halben Menschen‘, sondern führen auch die inoffizielle Seite vor Augen, und sei es nur, um ein Bewusstsein von den eigenen Verhaltensweisen erneut zu bestätigten. Ihre Werke „sind die Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten“.39 Hier zeigt sich aber auch, dass eine solche anarchistische Karnevalsutopie eine zeitlich befristete40 und deren Ausleben von den allgemeinen repressiven Gesellschaftsstrukturen abhängig ist. Das Wiederentstehen der Ordnung nach ihrer Zerstörung im Karneval entspricht genau der karnevalesken Welterfahrung. Degradation und Profanation lassen ihren Gegenstand in gereinigter und gestärkter 36 Buñuel. Luis (R) : Le Charme discret de la bourgeoisie. Frankreich, Spanien, Italien 1972. 37 Vgl. zum Thema Winkler, Jean-Marie : L’Attente et la fête. Recherches sur le théâtre de Thomas Bernhard. Bern 1989. 38 Vgl. Bernhard, Thomas : Der Theatermacher. Stücke IV. Frankfurt a.M. 1988, S. 38f.: „Leberknödelsuppe oder Frittatensuppe/das war immer die Frage“. 39 Siegfried Kracauer : „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“, in : Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt am Main 1977, S. 279§294, hier S. 280. 40 In einem anderen Zusammenhang hat Hans Höller in seiner Rowohlt-Monographie von einer „Augenblicks-Utopie“ gesprochen (Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 79).
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Form neu entstehen. Die Karnevalsutopie übt zwar Kritik aus, ist aber kein Gesellschaftsentwurf, der als noch zu realisierendes Modell in die Zukunft projiziert wird,41 sondern eine Implikation der gesamten Geschichte von wechselnden Regierungssystemen und Machtverhältnissen. Sie ist kein prospektiver, sondern eher ein retrospektiver Entwurf. Der idyllische Chronotopos der agrarischen Vorständegesellschaft ist Erneuerung und nicht Speicherung, Mesalliance statt Diversifikation. Erklärtes Ziel ist die Öffnung und Dehierarchisierung traditioneller bzw. offizieller Ordnungen und Systeme, die Nivellierung prinzipieller Unterschiede, die Auflösung statischer Dichotomien und Gegensätzlichkeiten und die Familiarität der Zeit- und Stilebenen sowie verschiedenster Weltentwürfe. Bachtins Konzept des Karnevalesken verschiebt somit den Akzent von der Idee einer Veränderung der Gesellschaft hin zu der Frage ihrer Erneuerung, d.h. einer Reinigung von erstarrter Seriosität und einer Reaktivierung ihres lebendigen Potentials. Anstatt den anti-teleologischen Gestus der Kunstwerke wieder in ein teleologisches Schema einzubinden, um zu prüfen, ob diese Absicht erfolgreich gewesen ist, kann man dann in den Kunstwerken selbst die Verwirklichung eines utopischen Zustandes sehen. Für die Dauer der Rezeption herrscht deren eigene Logik, welche die herrschende außer Kraft setzen kann, mit dieser zusammen jedoch ein universales Wechselspiel der positiven und negativen Kräfte des Lebens bildet. Statt diesen Konflikt als einen unauflösbaren Widerspruch zu verstehen, kann man in ihm eine künstlerisch-heuristische Kraft sehen, die gerade in ihrer Ambivalenz ihren Ausdruck findet. Das gleichzeitige Auftreten von ästhetischem Anarchismus bzw. Exzentrizität und gesellschaftlicher Implikation erzeugt eine hybride Aussage, die sich jeder Wahrheit entzieht, um aus der Wahrheit wieder einen lebendigen Begriff zu machen.42 Luis Buñuel mag zwar als Regisseur des Absurden oder von Traumwelten bekannt sein, die zum Angriff gegen eine rationalistisch bestimmte Gesellschaftsordnung benutzt werden, in seiner Auffassung jedoch gab es diese Dichotomien nicht. Einen Traum zu beschreiben, das hieß für ihn, Wirklichkeit abzubilden :
41 Insofern hält sich das subversive Potential einer solchen Utopie in Grenzen, denn „it is to stress that the utopian dream furtively glimpsed in the symbols and practices of carnival and elsewhere must be linked to an anti-hegemonic or transformative politics, for only then can the authoritarian structures of modern bureaucratic societies be effectively challenged and created anew“ § Gardiner, Michael : „Bakthin’s Carnival : Utopia as Critique“, in Shepherd, David (Hg.) : Bakthin : Carnival and Other Subjects. Selected Papers from the Fifth International Bakhtin Conference. (University of Manchester, July 1991) Amsterdam 1993, S. 20§47, hier S. 47. 42 Bachtin : Rabelais, S. 191.
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Sein Surrealismus war ohne Phantasie, eine gereinigte Form43 und eine dekonstruktive Geste. Das Surreale fast aller Filme Buñuels (wenn man von einigen in Hollywood bzw. in der Anfangszeit in Mexiko entstandene Arbeiten absieht) liegt nicht primär in der Verwendung des Traummotivs, sondern in der Weise der Darstellung des ‚Realen‘. Alltägliche Situationen und außergewöhnliche Phänomene sind in gleicher Weise sur-real. In der Art, wie Buñuel die Realität zeigt, entzieht er ihr das geglaubte Fundament und versieht somit die gesamte Wirklichkeit mit einem Fragezeichen. In Bernhards Verstörung lesen wir wiederum, dass „[d]ie Welt […] eine surrealistische durch und durch“ ist : „Die Natur surrealistisch, alles surrealistisch“, „ein ungeheurer Universalsurrealismus“.44 Und in Auslöschung (1986) heißt es : „Um etwas begreiflich zu machen, müssen wir übertreiben […], nur Übertreibung macht anschaulich“.45 Das Mittel der Übertreibung ist für Bernhards gesamtes Werk konstitutiv46 ; es erscheint als „lächerliche Übertreibung des Wirklichen“47 § als Großaufnahme einer grotesken Welt, die einem Narrenhaus gleicht.48 Nach Siegfried Kracauer verwandeln „Großaufnahmen § das heißt Bilder aus nächster Nähe § ihre Objekte dadurch, dass sie sie vergrößern.“49 Was jedoch an diesen Großaufnahmen bei Buñuel auffällt, ist ihre Wiederholung samt Variation und Reinszenierung, die mit der karnevalesken Zerstückelungsabsicht nicht zu erklären ist. Die Welt zu erläutern, heißt für Buñuel, sie zu wiederholen. Dabei ist dies weniger ein Erklären als vielmehr ein Ausdrücken, ein Darstellen, ein von neuem Sehen-Lassen. Sein Interesse gilt vielmehr der Form, wie etwas existiert. Die Wiederholung ist hierfür eine zentrale Figur sowohl der Beobachtung als auch der Reflexion : Ein Neu-Schreiben des Phänomens Mensch in seinen vielen Facetten. Die wiederholten Bilder werden zu „Witterungen des Auges“, 50 43 44 45 46 47 48
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Aranda, Francisco : Luis Buñuel. Biografía critica. Barcelona 1975, S. 26f. Bernhard : Verstörung, S. 54 u. S. 160. Bernhard, Thomas : Auslöschung (1985). Frankfurt am Main 1986, S. 128. Vgl. u.a. Eyckeler, Franz : Reflexionspoesie : Sprachskepsis, Rhetorik und Poetik in der Prosa Thomas Bernhards. Berlin 1995, S. 237. Petsch, Robert : „Das Groteske“, in : Best, Otto F. (Hg.) : Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980, S. 25§39, hier S. 38. Mittermayer, Manfred : „‚Berühmtsein das ist es‘. Zu Thomas Bernhards Festspielsatire Die Berühmten“, in : Ders.: Thomas Bernhard und Salzburg : 22 Annäherungen. (Begleitbuch zur Sonderausstellung im Salzburger Museum Carolino Augusteum, 10. Juni bis 28. Oktober 2001) Salzburg 2001, S. 49§56, hier S. 49. Kracauer, Siegfried : Theorie des Films : die Errettung der äußeren Wirklichkeit, in : Ders.: Schriften. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1973, S. 79. Bálasz, Béla : Der Geist des Films. Halle 1930, S. 39.
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wie es Béla Bálasz genannt hat, zu der Verfolgung einer Fährte, die zu einem unbestimmten Ergebnis führt. „Aber ist die Wiederholung nicht in der Lage, aus ihrem Kreislauf herauszutreten und von daher Gut und Böse zu ‚sprengen‘ ?“, so fragt Gilles Deleuze. Und er fährt fort : Die Wiederholung lässt uns verlieren und entwürdigt uns, aber sie kann uns auch retten und aus einer anderen Wiederholung herausholen. […] Man geht von einer endlosen Wiederholung zu einer Wiederholung als einem entscheidenden Moment über, von einer geschlossenen zu einer offenen Wiederholung, von einer Wiederholung, die nicht nur gelingt, sondern auch das Modell oder Original wiedererschafft.51
Exemplarisch ist das von Buñuel im Film El ángel exterminador 52 vorgeführt worden, wo die Gäste durch die immer gleichen Routinen dunkler Zwangshandlungen und bourgeoiser Gesellschaftsrituale gefangen gehalten werden, die dazu noch uninspiriert und schlecht wiederholt werden : Der Auftritt der Gäste findet zweimal statt, ein Trinkspruch wird sinnlos repetiert. Rettend wirkt schließlich die Wiederholung eines ganz banalen Augenblicks : Erst durch das Nachstellen der Anfangsszene, durch die Rückkehr zu dem Ausgangspunkt gelingt es ihnen, aus dem Salon-Inferno zu entkommen § als würde die Gesellschaft so den Rückweg aus dem Chaos in eine rein schematische Verhaltensnorm finden. Das klingt wie das idealistische Axiom vom „echten Phönixleben des Geistes“, das nach Hegel „die sonst lineare Wiederholung […] erst zum wahren Kreislauf umbiegt“.53 Der Versuch einer exakten Wiederholung ist aber kein Rückschritt, sondern lediglich der Versuch der Reinszenierung eines unbemerkt verstrichenen Moments, in dem ein Fortschreiten in die Zukunft möglich gewesen wäre. Die Utopie, die somit auch hier zum Tragen kommt, ist die des Karnevals als Fest der Zeit, die auf die Zukunft gerichtete Hoffnung des Fortbestehens in der Erneuerung : Die Gäste feiern ihre Befreiung mit einer Messe in der Kathedrale. Zeitgleich kommt es aber zu Unruhen, das Militär übernimmt die Kontrolle über die Stadt § und die Gäste können die Kirche nicht mehr verlassen. Der hier besonders geballt in Erscheinung tretende Spott gegenüber der High Society und der dekadenten Sinnlosigkeit ihrer Rituale ist für Buñuel typisch : Die Welt, das die Bourgeoisie mit ihrem diskreten Charme in seinen Filmen 51 Deleuze, Gilles : Kino 1 : Das Bewegungs-Bild. Frankfurt am Main 1989, S. 181f. 52 Buñuel, Luis (R) : El ángel exterminador. Mexiko 1962. 53 Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik II. Werke. Bd. 14. Frankfurt am Main 1970, S. 140.
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bewohnt, ist ein finsteres, aus den Fugen geratenes Universum, voll von unterschwelligen Ängsten und hintergründigem Widersinn. Doch die Absurditäten haben ihren Schrecken, der sie gestern noch auszeichnete, verloren § das Unsinnige ist gleichsam schon zur alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden. Davon, dass sie das Ungewöhnliche als normal und das Anormale als durchaus vertraut hinstellen, leben die Filme Buñuels : Ihre verkehrte, schreckliche Welt wird als realistische Selbstverständlichkeit von heute dargestellt, es geht um eine Reflexion über die condition humaine in der modernen Gesellschaft. Die künstlerische Blickweise Buñuels erlaubt es jedem Zuschauer, sich selbst von der anderen Seite der Begrenzung, des In-sich-Eingeschlossenseins, aus zu sehen, gefangen in seiner Irrationalität, unfähig, diese Schwelle zu überschreiten. Durch die künstlerische Vermittlung sehen wir uns, wie es uns im Leben nicht möglich ist, uns zu sehen : Sachlich dargestellt, gefangen im Kinosaal. Auch bei Thomas Bernhard haben wir es mit manischen Charakteren und mit Zwangsneurotikern zu tun, mit Menschen, die auf die unablässige und unabänderliche Repetition der immer gleichen Rituale und Rollen fixiert sind.54 Um den Existenz-Druck überhaupt auszuhalten, muss man zwei Wochen in Wien und zwei Wochen in Nathal verbringen ;55 morgens das Cello von Maggini, nachmittags ab fünf Uhr das Ferrara spielen ;56 vormittags auf der Bank im Kunsthistorischen Museum, nachmittags im Ambassador zum Kaffee sitzen, denn „[j]eder Mensch braucht eine solche Gewohnheit zum Überleben“.57 Rhythmische Schematisierungen und penetrante Wiederholungsstrukturen durchziehen das Leben und die Sprache der Bernhardschen Figuren. Der Befund des Irreseins weist dabei einen höchstens graduellen, aber nicht prinzipiellen Abstand zur Normalität alltäglicher Routine auf, während die Eigenlogik eines jeden Wahns wiederum ein System von Normalität produziert : das ist bei Bernhard die „Macht der Gewohnheit“, und der Schrecken, der ihr innewohnt, ist die Ungeheuerlichkeit, uns selbst so gespiegelt zu sehen. Der Autor reproduziert und destruiert die Rollen und Konventionen bürgerlicher Welt, indem er deren letztes emanzipatorisches Residuum leerlaufen lässt, ihre Hoffnung auf Techne sowohl im Sinne aufklärerischer Zweckrationalität als auch im Sinne eines Vertrauens in die Entfremdungs54 Zu den Wiederholungen bei Thomas Bernhard im Allgemeinen s. Jahraus, Oliver : Die Wiederholung als werkkonstitutives Prinzip im Œuvre Thomas Bernhards. Frankfurt am Main 1991 und Görner, Rüdiger : „Gespiegelte Wiederholungen. Zu einem Kunstgriff von Thomas Bernhards“, in : Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Thomas Bernhard, S. 111§125. 55 Bernhard, Thomas : Wittgensteins Neffe. Frankfurt am Main 1982. 56 Bernhard, Thomas : Die Macht der Gewohnheit. Frankfurt am Main 1974. 57 Bernhard, Thomas : Alte Meister, S. 26f.
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freiheit von Kunst, wie sie von der Frühromantik begründet und im Künstlerroman objektiviert wurde. Was die bürgerliche Gesellschaft nicht leisten kann, sich nämlich in einem dialogischen Verhältnis zu anderen Ausdrucksformen selbst zu betrachten und in einen lebendigen Entwicklungsprozess einzutreten, gelingt bei Bernhard § wie bei Buñuel § durch den ‚Narrenspiegel der Komödie‘.
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Gardiner, Michael : „Bakthin’s Carnival : Utopia as Critique“, in : David Shepherd (Hg.) : Bakthin : Carnival and Other Subjects. Selected Papers from the Fifth International Bakhtin Conference. (University of Manchester, July 1991) Amsterdam 1993, S. 20§47. Görner, Rüdiger : „Gespiegelte Wiederholungen. Zu einem Kunstgriff von Thomas Bernhards“, in : Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Thomas Bernhard. Beiträge zur Fiktion der Postmoderne. Londoner Symposion. Frankfurt am Main 1997, S. 111§125. Haider-Pregler, Hilde/Peter, Brigitte : Der Mittagesser. Eine kulinarische Thomas-BernhardLektüre. Wien 1999. Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik II. Werke. Bd. 14. Frankfurt am Main 1970. Hodina, Peter : „Die Karnevalisierung des großen Aufklärers. Thomas Bernhards Komödie ‚Immanuel Kant‘“, in Csobádi, Peter (Hg.) : Die lustige Person auf der Bühne. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions 1993. Anif, Salzburg 1994, S. 751§768. Hoffmann, Kurt : Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. Wien 1988. Höller, Hans : Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 1993. Huber, Martin : Thomas Bernhards philosophisches Lachprogramm. Zur Schopenhauer-Aufnahme im Werk Thomas Bernhards. Wien 1992. Jahraus, Oliver : Die Wiederholung als werkkonstitutives Prinzip im Œuvre Thomas Bernhards. Frankfurt am Main 1991. Kant, Immanuel : „Beantwortung der Frage : Was ist Aufklärung ?“, in : Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft, 1784, S. 481§494. Klug, Christian : Thomas Bernhards Theaterstücke. Stuttgart 1991. Kracauer, Siegfried : „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“, in : Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt am Main 1977, S. 279§294. Kracauer, Siegfried : Theorie des Films : die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Schriften. Bd. 3. Frankfurt am Main 1973. Mertens, Mathias : Buñuel, Bachtin und der karnevaleske Film. Weimar 1999. Mittermayer, Manfred : „‚Berühmtsein das ist es‘. Zu Thomas Bernhards Festspielsatire Die Berühmten“, in : Ders.: Thomas Bernhard und Salzburg : 22 Annäherungen. (Begleitbuch zur Sonderausstellung im Salzburger Museum Carolino Augusteum, 10. Juni bis 28. Oktober 2001) Salzburg 2001, S. 49§56. Petsch, Robert : „Das Groteske“, in : Best, Otto F. (Hg.) : Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980, S. 25§39. Pfabigan, Alfred : Thomas Bernhard : ein österreischisches Weltexperiment. Wien 2009. Schmidt-Dengler, Wendelin : „‚Komödientragödien‘. Zum dramatischen Spätwerk Bernhards“, in : Franz Gebesmair (Hg.) : Bernard-Tage : Materialien. (Ohlsdorf 1994) Weitra 1994, S. 74§98. Stevens, Adrian, „Schimpfen als künstlerischer Selbstentwurf. Karneval und Hermeneutik in Thomas Bernhards ‚Auslöschung‘“, in : Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Thomas Bernhard. Beiträge zur Fiktion der Postmoderne. Londoner Symposion. Frankfurt am Main 1997, S. 61§91.
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Tabah, Mireille : „Wandern und Unterwandern phallologozentrischer Festschreibungen bei Thomas Bernhard“, in : Brittmacher, Hans Richard (Hg.) : Unterwegs : zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert. Köln 2008, S. 211§226. Undusk, Jaan : „Oxymoron als Profanation des Heiligen. Zu Thomas Bernhard“, in : Interlitteraria 7/2002, s. 365§379. Winkler, Jean-Marie : L’Attente et la fête. Recherches sur le théâtre de Thomas Bernhard. Bern 1989.
Filmografie Buñuel, Luis (R) : El ángel exterminador. Mexiko 1962. Drehbuch : Luis Buñuel, Luis Alcoriya, nach ihrem Szenarium Los náufragos de la calle de la Providencia, angeregt durch das unveröffentlichte Theaterstück Los náufragos von José Bergamín. Schwarzweiß, Länge : 93 Min. Premiere : Mai 1962, 15. Festival International du Film, Cannes. Deutsche Erstaufführung : 25.11.1966, in mehreren Städten der BRD (OmU). Der Würgeengel. Wiener Kinostart : 6.9.1968, Studio I. Buñuel, Luis (R) : La Voie lactée. Frankreich/Italien 1968/69. Drehbuch : Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière, inspiriert von dem Kompendium Historia de los heterodoxos españoles (1880§82) von Marcelino Menédez Pelayo. Farbe, Länge : 102 Min. Premiere : 28.2.1969, Rom. Deutsche Erstaufführung : 6.7.1969, 29. Internationale Filmfestspiele Berlin, Zoo-Palast (Abschlussfilm des Wettbewerbs, außer Konkurrenz). Die Milchstraße. Wiener Kinostart : 28.8.1970, Burg. Buñuel, Luis (R) : Le Charme discret de la bourgeoisie. Frankreich/Spanien/Italien 1972. Drehbuch und Dialoge : Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière. Farbfilm, Länge :102 Min. Premiere : 15.9.1972, Paris. Deutsche Erstaufführung : 20.4.1973 (Der diskrete Charme der Bourgeoisie). Wiener Kinostart : 24.5.1973, Künstlerhaus. Buñuel, Luis (R) : Le Fantôme de la liberté. Frankreich 1974. Drehbuch : Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière. Farbe, Länge : 105 Min. Premiere : 11.9.1974, Paris. Deutsche Erstaufführung : 14.2.1975 (Das Gespenst der Freiheit) Wiener Kinostart : 21.2.1975, Künstlerhaus. Buñuel, Luis (R) : Nazarín. Mexiko 1958/1959. Drehbuch : Luis Buñuel, Julio Alejandro de Castro, nach dem gleichnamigen Roman (1895) von Benito Pérez Galdós. Schwarzweiß, Länge : 94 Min. Premiere :11.5.1959, 13. Festival International du Film, Cannes. Deutsche Erstaufführung : 1.5.1965, Filmtage Bad Ems (Retrospektive „Luis Buñuel“ ; Nazarin) Wiener Kinostart : 28.10.1983, Star.
Matjaž Birk
„Ich halte es für besser, zu reden, als zu korrespondieren, denn in der Korrespondenz kreuzen sich seit Jahrtausenden die Missverständnisse, wie Sie wissen“ Der Verleger und sein Autor – Ein Rückblick auf das Jahr 1970
Siegfried Unseld, der Leiter eines der weltweit renommiertesten deutschen Verlagshäuser, des Frankfurter Suhrkamp-Verlags,1 war im deutschsprachigen Raum zu seinen Lebzeiten eine kulturelle Institution per se. Er hinterließ ein beeindruckendes Opus an autobiographischen Texten, darunter Korrespondenzen, Tagebuchaufzeichnungen, Chroniken usw., wie auch zahlreiche Abhandlungen, die uns allesamt wichtige Einsichten in die Geschichte des deutschsprachigen und europäischen Verlagswesens der letzten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts gewähren. In diesen Texten gelangt Unseld zur Inszenierung als literarischer Verleger, engagiert für Literatur und die Autoren, deren Texte er verlegte. In diesem Engagement kreuzten sich die Wege des Verlagsleiters auch mit jenen von Thomas Bernhard, mit dem Unseld, der bisher bekannten und zugänglichen Korrespondenz zufolge, erstmals im Februar 1967 in Kontakt trat.2 In diesem Beitrag wird ausgehend von Konzepten der Bourdieu’schen Feldtheorie und der Systemtheorie Luhmanns die Beziehung zwischen dem Verleger Unseld und dem Autor Bernhard anhand von autobiographischen Texten näher beleuchtet. Das Augenmerk richtet sich dabei auf die Anfangsphase ihrer Beziehung, mit besonderer Berücksichtigung des Jahres 1970. Dieses Jahr war für Bernhard gekennzeichnet durch drei entscheidende Ereignisse § im Juni feierte er mit Ein Fest für Boris ein großes Theaterdebüt, Anfang September wurde sein Roman sein Roman Das Kalkwerk veröffentlicht und im Oktober erhielt der Au1 S. Unseld arbeitete zunächst für den Insel-Verlag, im Mai 1967 übernahm er die Leitung bei Suhrkamp, nur drei Monate nachdem der Kontakt zwischen Bernhard und ihm zustande gekommen war. 2 Vgl. Bernhard, Thomas/Unseld, Siegfried : Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellingerm, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt 2009, S. 52.
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tor den Büchner-Preis. Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen jene Aspekte in der Entwicklung der Verleger-Autor-Beziehung, die zur Positionierung des Autors im damaligen literarischen Feld führten und die Rolle, die dem Verlagsleiter Unseld dabei als Literaturvermittler zukam. Zuerst fokussieren wir uns auf den Charakter der für unsere Thematik aufschlussreichsten Autobiographika, der Korrespondenz zwischen Bernhard und Unseld. Wenn man davon ausgeht, dass die Briefpartner im literarischen Feld, laut Bourdieu, „einer gesonderten Welt mit je eignen Gesetzen“3 wirkten und entscheidend zu deren Strukturierung beitrugen4 und zugleich bedenkt, dass die Korrespondenz die Entwicklungen im deutschsprachigen literarischen Feld ab Ende der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts in ihrer ganzen Komplexität vor Augen führt, ist die Zuordnung der Briefe zwischen Unseld und Bernhard zur Kategorie des literarischen Briefs naheliegend. Die Briefe enthalten außerdem Reflexionen zu unterschiedlichen Gattungspoetiken, sie thematisieren die gesellschaftliche Position und Funktion der Kunst, sie hinterfragen kritisch die Beschaffenheit der literarischen Kritik usw. Der Blick auf die Tradition des literarischen Briefes in der deutschsprachigen Literatur würde uns darin bestätigen, zumal die Kritik an dem literarischen System als eine von seinen zentralen Komponenten § erinnert sei an literarische Briefe eines Lessings aus der Zeit seiner Auseinandersetzung mit dem Hauptpastor Goeze5 § auch dem Briefwechsel zwischen Unseld und Bernhard seine spezifische Prägung verleiht. Um den Charakter der Unseld-Bernhard-Korrespondenz im Hinblick auf die dem literarischen Brief immanente systemkritische Komponente zu beleuchten, 3 Vgl. Bourdieu, Pierre : Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main 1999, S. 84. 4 Vgl. hierzu : ebd., S. 90§93. 5 Vgl. hierzu einen der meist rezipierten Briefe aus der Geschichte des deutschsprachigen literarischen Briefes, Lessings 17. Literaturbrief : Niemand, sagen die Verfasser der Bibliothek, wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe. Ich bin dieser Niemand ; ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeintlichen Verbesserungen betreten entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen […]. Dieses Verderbnis (Lustspiele, die keine Originalität aufweisen und auf die Effekthascherei aus sind) einzusehen, brauchte man eben nicht der feinste und größte Geist zu sein. Auch war Herr Gottsched nicht der erste, der es einsah […]. Er wollte nicht sowohl unser altes Theater verbessern, als der Schöpfer eines ganz neuen sein. Und was für eines neuen ? Eines französierenden ; ohne zu untersuchen, ob dieses französierende Theater der deutschen Denkungsart angemessen sei, oder nicht. https ://files.oakland.edu/users/clason/web/grm381/lessinglitbr.html. Zugriffsdatum : 7. 4. 2011.
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erweist sich der Vergleich mit dem Briefwechsel zwischen Joseph Roth und seinen Verlegern als aufschlussreich. Ungeachtet der historisch bedingten Unterschiede im Kontext der Kritik am literarischen System, sind den untersuchten Korrespondenzen der beiden Schriftsteller mit ihren Verlagen neben poetologischen Reflexionen, wodurch ihr Charakter des literarischen Briefes eindeutig in Erscheinung tritt, die Auseinandersetzung mit den Herrschenden in den damaligen Kunstfeldern und das Streben nach der Positionierung darin gemeinsam. Gegenstand beider Korrespondenzen war ebenfalls, wie man den ökonomischen Gewinn durch die Medien der Literatur, des Theaters und Films erlangen kann § sei es, dass es sich um Filme nach literarischen Vorlagen oder solche über die Schriftsteller selbst handelte.6 Dabei ist anzumerken, dass beide Briefpartner zum Film ambivalente Haltung hegten :7 Bernhard lehnte die Verfilmung des Romans Verstörung entschieden ab, gleichzeitig zeigte er Interesse an Unselds Initiative für einen Film nach der Vorlage von Ein Fest für Boris.8 Bei Versuchen nach der Positionierung im literarischen Feld fällt beide Male ins Auge, dass sowohl Roth als auch Bernhard die Alleinverantwortung dafür dem Verlag und dem Verleger zuzuschreiben pflegten. Die beiden Briefwechsel sind in dieser Hinsicht von verblüffender Ähnlichkeit, nicht nur in diskursiver Hinsicht, sondern auch im Wortlaut. J. Roth schrieb im Juni 1937 an C. Vos, den damaligen literarischen Direktor des Verlages De Gemeenschap : „En tout cas : je vous prie instamment de bien vouloir venir ici ! […] Je ne peux rien decider sans avoir consulté l’opinion de l’éditeur ; et il y a beaucoup à decider.“9 Auch Bernhard zog Unseld in konfliktträchtigen Situationen nicht nur zu Rate, sondern stets auch zur Verantwortung. Im Juni 1969 schrieb er : „Es ist unbedingt notwendig, dass ich nach Frankfurt komme, weil eine Reihe Unklarheiten geklärt werden müssen, soweit sie sich klären lassen.“10 Die Beziehung, wie sie in Korrespondenzen der beiden Autoren zu ihren Verlegern zur Inszenierung gelangt, war wegen der geschilderten Umstände 6 Im August 1970 kam ein Film über Thomas Bernhard heraus, in dem der Autor in der Rolle eines in einem Park sitzenden Vorlesenden auftrat. Vgl. hierzu : Unseld, Siegfried : Chronik 1970. Mit den Chroniken Buchmesse 1967, Buchmesse 1968 und der Chronik eines Konflikts 1968. Hg. von Raimund Fellinger. Bd. 1. Berlin 2010, S. 263. 7 Über Versuche J. Roths, mit seinen Texten nach Hollywood zu gelangen und der Rolle Stefan Zweigs dabei vgl. Birk, Matjaž : „…Vielleicht führen wir zwei verschiedene Sprachen.“ Zum Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth. Münster 1997. 8 Vgl. Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 92 u. 194. 9 Bijvoet, Theo/Rietra, Madeleine (Hg.) : Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit. Der Briefwechsel Joseph Roth und dem Verlag De Gemeenschap 1936± 1939. Köln 1991, S. 103§104. 10 Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 113.
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von Beanstandungen und Kritiken an der vom Verlag geleisteten Marketingarbeit gekennzeichnet, worauf im weiteren Textverlauf näher eingegangen wird. Unselds Selbstbespiegelung war die eines idealtypischen literarischen Verlegers. Sein Wissen und seine Verlagserfahrungen suchte er als richtungsweisend für das damalige deutschsprachige Verlagswesen zur Inszenierung zu bringen. Einen von ihren Höhepunkten erreichte diese Selbstinszenierung in dem 1978 veröffentlichten Werk Der Autor und sein Verleger. Das als Sozialgeschichte der Literatur konzipierte Werk, in dem theoretische Reflexionen und eingehende literatur- und kulturgeschichtliche Abhandlungen den auf der Empirie beruhenden Fachkenntnissen ihre Gültigkeit verleihen, präsentiert sich als Programmschrift in vier Punkten für den zeitgenössischen literarischen Verleger.11 Die Funktion des Verlegers in seiner Eigenschaft des Literaturvermittlers ist die Prozessierung der Literatur in der Gesellschaft : Georg Franck12 zufolge generieren die Literaturvermittler die Aufmerksamkeit für (bestimmte) Literatur wie auch für ihre eigene Tätigkeit.13 Zur Generierung der Aufmerksamkeit für Literatur gehören spezifisches Wissen wie auch Habitus und Sprachregeln. Spezifisches Wissen eignete sich Unseld durch Ausbildung und Lektüre an. Er studierte Germanistik und promovierte 1951 an der Universität Tübingen mit einer Arbeit über Hermann Hesse. Die Lektüre prägte entscheidend seine Formation und Arbeit als Verlagsleiter § er war bestens vertraut mit der Kanonliteratur, der deutsch- und fremdsprachlichen, insbesondere mit Klassikern. In seiner Eigenschaft als Fachleser widmete er sich mit besonderem Interesse auch der zeitgenössischen Literatur. Sein Metier erlernte Unseld als Verlagsmitarbeiter, die meiste Zeit davon in leitender Stellung. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Gewinnung des spezifischen Wissens waren die Funktionen, die Unseld in der hier untersuchten Anfangsphase der Beziehung in verschiedenen Fachgremien und Ausschüssen, darunter in dem Deutschen Börsenverein und dem Aufsichtsrat der Frankfurter-Buchmesse innehatte und als verdiente Gratifikation seiner Arbeit als Verlagsleiter mit viel Eifer ausübte. Von entscheidender Bedeutung für die Aneignung von literaturvermittelnden Fähigkeiten waren seine Kontakte zu den Verlegern im In- und Ausland, darunter zu den Verlagen Knopf in New York, Gallimard in Paris, Norstedts in Stockholm, Prosveta in Belgrad (wo 1967 Frost in serbischer Übersetzung von Bo11 Vgl. Unseld, Siegfried : Der Autor und sein Verleger. Frankfurt 1978, S. 41§53. 12 Vgl. Franck, Georg : Ökonomie der Aufmerksamkeit ± Ein Entwurf. München 2007. 13 Zur Aufmerksamkeit als Instrument der Gewinnung von Rezipienten und Kunden seitens der Massenmedien in heutiger Gesellschaft, die zunehmend von der Ökonomie der Aufmerksamkeit und weniger von jener des Marktes beherrscht wird, wie auch zu Strukturen und Funktionsweisen der Literaturvermittlung vgl.: Neuhaus, Stefan : Literaturvermittlung. Wien 2009, insbesondere S. 99§120.
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rivoj Grujić als erste Veröffentlichung eines Bernhardschen Textes in Jugoslawien erschien)14 usw., ferner Beziehungen zum deutschsprachigen Theater, zu Leitern und Regisseuren bzw. Dramaturgen der Bühnen in Hamburg, Basel, München (Kammerspiele) und Wien (Burg- und Akademietheater).15 Nicht zu unterschätzen waren Unselds Kontakte zur Medienwelt § zum Pressewesen, vorerst zu den Kritikern (von Ruf ), etwa Karl Korn von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Rudolf Walter Leonhard, Dieter E. Zimmer und Marcel Reich-Ranicki von der Zeit, zur Kritik in der Weltwoche usw. Mit besonderem Engagement pflegte Unseld seine Beziehungen zum akademischen Milieu § bereits in den frühen 1970er-Jahren trat er auch selbst als Vortragender an deutschen Universitäten auf, darunter außer an seiner Alma mater noch an der Universität Mainz und später auch an ausländischen Universitäten, etwa an der University of Texas in Austin, wo er 1976 eine Gastdozentur innehatte. Er befand sich ferner auf dem Laufenden über die sich damals noch in Ansätzen befindende Bernhard-Forschung ; die Informationen bekam er von dem Verlag oder aber von dem Autor selbst vermittelt, auf diese Weise war er unterrichtet über die in Entstehung begriffenen Dissertationen von W. Schmidt-Dengler und H. Höller.16 Unselds selbstinszenierter Habitus war der eines Gebildeten, eines intellektuell-, kreativ- und kommunikativ Überlegenen, was bei den meisten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, auch bei den besten unter ihnen, als unumstritten galt.17 Zur Verwirklichung von Verlagszielen pflegte Unseld als „Wahrer der Interessen des Hauses“18 auch autokratische Führungsweisen anzuwenden, stets gepaart mit strategischem Vernetzungshandeln, was besonders in Krisensituationen in Erscheinung trat, etwa in der breitmedialisierten Lektorenrevolte im Jahr 1968.19 14 Mit dem serbischen Übersetzer trat auch Bernhard während seines Aufenthalts in Lovran in Kontakt. Vgl. Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 68§70. 15 Auf Bernhards Initiative trat Unseld Anfang Juni 1970 zwecks Werbung für die Ausgabe der Horvat-Sammelwerke in Kontakt mit dem Dramaturgen Friedrich Heer vom Burgtheater. Vgl. Unseld : Chronik 1970, S. 233. 16 An Hedwig Stavianicek schrieb Bernhard diesbezüglich : „Ein Herr Höller dissertiert über mich an der Salzburger Universität und hat ein Manus der Arbeit geschickt, die mir ausgezeichnet gefällt, in meinem Sinne ist, gescheit, poetisch, unbekümmert um den faulen widerwärtigen Zeitgeschmack“ § Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 113. 17 Auch inmitten der berüchtigten Lektorenrevolte wurde ihm ungebrochen die Anerkennung seiner Arbeit zuteil. Hans Magnus Enzensberger zufolge sei Unseld „als der beste denkbare Verleger“ zu bezeichnen, den man „in seiner Kompetenz als Leiter der Verleger“ § Unseld : Chronik 1970, S. 29 § keineswegs zu beschneiden gedachte. 18 Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 61. 19 Vgl. hierzu : Unseld : Chronik 1970, S. 16§51.
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Dem Verlagsleiter gelang es mit triftigen Argumenten gegen die vorgeschlagene Sozialisierung des Verlags vom Kollektiv mehrheitlich die Unterstützung zu bekommen, die mit einer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gedruckten offiziellen Pressemeldung zur Rekonsolidierung des Verlags und seiner Leitung im Anschluss an den von Medien als „schwere Vertrauenkrise zwischen Verlagsleitung und Lektorat“20 bezeichneten Konflikt besiegelt wurde. Die Kritiker aus eigenen Reihen waren von der Mehrheit zum Schweigen gebracht worden oder schieden auf eigenen Wunsch aus § unter den Verlagslektoren und Lektorinnen waren dies u.a. Urs Widmer und Anneliese Botond, die Bernhard-Vertraute.21 Unselds Erfolgsstrategie schloss die Einbeziehung von außenstehenden referentiellen Kulturakteuren ein, etwa von Helene Weigel sowie führenden Autoren und Autorinnen des Verlags (M. Frisch, M. Walser, U. Johnson, P. Handke usw.), die über die Unseld’sche Perzeption des Konflikts im Rahmen einer intensiven und vielfältigen Kommunikation (individuelle Gespräche, Telefonate, Besprechungen, Zirkularbriefe, Pressestatements usw.) ins Bild gesetzt wurden. 22 Gemäß dem inszenierten Habitus, auf halbem Weg zwischen Individualismus und Teamgeist, wusste Unseld die Autoren und Autorinnen im Interesse des Verlags als Berater heranzuziehen und sie auf diese Weise für sich zu gewinnen : Die programmatisch festgehaltene Selbstinszenierung als Unterlegener in der Beziehung zu den „turmhoch“23 stehenden Künstlern diente ausgesprochen diesem Zweck. Unseld hörte auf die Meinung seiner Autoren und Autorinnen nicht allein in ästhetischen Fragen, sondern auch in puncto der Verlagspolitik, etwa bei Fragen im Zusammenhang mit dem Verlagsprogramm, der Veröffentlichungsstrategie, der Ausstrahlung der Werke usw. So holte er sich in der Anfangsphase ihrer Beziehung häufig die Meinung Bernhards bei der Gestaltung der geplanten Bücherreihe der Neueren Österreichischen Bibliothek ein. Unselds Stärken in der Literaturvermittlung waren gleich verteilt. Zum einen zeichnete ihn profunde Kenntnis des Literaturbetriebs aus § seiner Strukturen, Funktionsweisen und der gesellschaftlichen Rolle der Literatur, zum anderen besaß er die Fähigkeit, die Literatur in gesellschaftliche Kontexte, in erster Linie soziale und ökonomische, einzuordnen. S. Neuhaus zufolge handelt es sich im ersten Fall um die s.g. Lektürekompetenz und im zweiten um die Literaturbe20 Unseld : Chronik 1970, S. 44. 21 Vgl. Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 103. 22 Bernhards Antwort darauf war lakonisch, er fingierte die Haltung der ,Nichtinitiation‘ in die „Gespenster […] literarischen, politischen etc.“ des Verlags § ebd., S. 91. 23 Unseld : AutorVerleger, S. 30.
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triebskompetenz. Unseld in seiner Selbstinszenierung als idealtypischer Verleger wie dies aus dem bereits zitierten Der Autor und sein Verleger und aus seinen Darstellungen des Verlages hervorgeht,24 führte beide Kompetenzen auf seine Begeisterung für gute Literatur zurück. In Lektüre und Literaturbetrieb verfügte Unseld über den Expertengrad der Kentnisse, die er stets auf die Literaturvermittlung einzuschränken pflegte, zumal im Metasprachlichen, als es um die gezeigten Strategie der Einbeziehung von ‚Berufeneren‘ ging : Worüber man sprechen kann, darüber soll man berichten. Ich beginne hier eine neue Form der Aufschreibung, der Aufsagung. Ich gebe Berichte von jener Welt- und Erfahrungsbreite, die mir zustösst. Ich berichte […] Vorgänge, denen ich mich stellen muß. Dabei bin ich eingedenk, daß ein Verleger im Grunde genommen immer nur an den Büchern beurteilt werden soll, die er macht, nicht an den Worten, die er über diese Bücher oder über andere Gegenstände verliert.25
Unseld vermochte es, die gezeigten Fachkompetenzen dank seiner Durchsetzungsfähigkeit und ausgeprägten Affinität zur strategisch durchdachten Selbstinszenierung zur Geltung zu bringen. Vor Augen geführt werden, neben der Überlegenheit und Souveränität im Literaturbetrieb und in der damit zusammenhängenden Menschenkenntnis, Kommunikations- und Vernetzungsfähigkeit, das Gespür für Entwicklungen im literarischen bzw. künstlerischen Feld und in anderen, mit ihnen eng verbundenen gesellschaftlichen Feldern, außer in der Ökonomie auch im politischen Feld. Im kulturpolitischen Bereich inszenierte er sich als gerechter und objektiver Vermittler in ideell-ideologischen Auseinandersetzungen, was erstmals in dem im Herbst 1968 ausgebrochenen Konflikt zwischen der Frankfurter-Buchmesse, wo Unseld als Mitglied des Aussichtsrates aktiv war, und den auf dem Messegelände gegen die Unterdrückung der persönlichen Freiheit im Senegal protestierenden Studenten deutlich wurde In der darauffolgenden Auseinandersetzung mit dem Journalisten K. Korn von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung trat eindeutig seine großartige Fähigkeit zum Lavieren in Erscheinung : Ich antwortete ihm, daß die Schließung (des Suhrkamp-Standes) ohne mein Wissen erfolgt sei, daß ich aber billige, was meine Mitarbeiter rechtsverbindlich unternehmen. […] Ich habe von meinen Lektoren abgesehen, wirklich sehr viel Zustimmung für meine 24 Vgl. Unseld, Siegfried : Peter Suhrkamp. Zur Biographie eines Verlegers in Daten, Dokumenten und Bildern. Frankfurt am Main 2004. 25 Unseld : Chronik 1970, S. 9.
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Haltung (gegen den Polizeieinsatz auf der Messe) erhalten. Selbst von Raddatz, der ja einer der Hauptprotestierer war. Er hat mir erklärt, jederzeit bestätigen zu wollen, daß meine Haltung vorbildlich gewesen sei. 26
Als ,Aussöhner‘ trat Unseld auch in seinem Umgang mit Bernhard auf. Die erste Phase ihrer Beziehung wurde dominiert durch das Bemühen des Verlegers mit Hilfe von seinen hier dargestellten Kompetenzen, dem vernetzten Denken und seinen vielfältigen beruflichen und sozialen Kontakten, das für seinen Autor in der Anfangszeit das wichtigste Kapital zu gewinnen, die Aufmerksamkeit. Die damit zusammenhängenden Aktivitäten nahmen unterschiedliche Formen an, die meisten davon wurden initiiert und getragen von dem Verleger. Dazu gehörten Öffentlichkeitsauftritte wie Mitwirken an Diskussionsrunden, Erscheinen an Premieren, Treffen mit Verlegern im In- und Ausland, Besuche bei Buchhändlern deutschlandweit usw. Um mehr Aufmerksamkeit für seinen Autor zu gewinnen, wurden Literaturkritiken (selektiv) und Konsekrationen wie Preise instrumentalisiert, zum Auftakt der Österreichische Förderungspreis für Literatur ± „der Österreichische Staatspreis war für uns alle hier eine große Freude. Hoffentlich beflügelt er Sie zu Weiterem und Neuem (sic !)“27 äußerte sich Unseld würdigend zur Autorenehrung § und den Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen Industrie ; 1970 folgte dann der Büchner-Preis, die für Bernhard erste international prestigehaltige Auszeichnung. Die mit den Preisverleihungen verbundenen Skandale, die Stefan Neuhaus zufolge als „extreme Ausprägung […] der Tendenz zur Sensationalisierung […] des Literaturbetriebs“28 zu betrachten sind, wusste Unseld über sein Vernetzungsnetz in der Presse zur öffentlichen Inszenierung seines Autors zu instrumentalisieren. Diesselbe Intention des Verlegers ist auch im Zusammenhang mit Gerichtsprozessen zu beobachten, in die Bernhard involviert war, darunter die Klage der Furche aus dem Jahr 1969, die, obwohl später außergerichtlich geschlichtet, signifikante mediale Resonanz hervorrief und systematisch in Unselds Generieren von Aufmerksamkeit für seinen Autor eingebunden wurde. Bernhards Ablehnung sozialer Zeichen der Konsekration, seiner Kritik an ihren Trägern und anderen Strukturen im Machtfeld,29 die in der Ansprache bei der Büchner-Preis26 Ebd., S. 21. 27 Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 65. 28 Neuhaus, Stefan : „Wie man Skandale macht. Akteure, Profiteure und Verlierer im Literaturbetrieb“, in : Freise, Matthias/Stockinger, Claudia (Hg.) : Wertung und Kanon. Heidelberg 2010, S. 29. 29 Zu Modalitäten im Umgang mit dem jeweiligen literarischen Feld imanenten Konsekrationsinstanzen, die von Bejahung und Aneignung des Rituals zur Ignoranz reichen, vgl. Bourdieu : Regeln, S. 105§108.
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Verleihung radikal in Erscheinung traten § „[…] wir leben nicht, vermuten und existieren aber als Heuchler, vor den Kopf Gestoßenen in dem fatalen, letzten Endes letalen Mißverständnis der Natur, in welchem wir heute durch Wissenschaft verloren sind ; […]“30 § lösten externe Wandlungsprozesse im sozialen Feld aus, wo dem Autor zunehmend Aufmerksamkeit zuteilwurde. Ohne deren Einwirkung hätte die angestrebte Positionierung des Autors im literarischen und künstlerischen Feld nicht oder später einsetzen können. In diesem Zusammenhang erwies auch Unselds kritische Absetzung von kommerziellen Großverlagen wie Springer, Bertelsmann, Bauer und Burda ihre Gültigkeit, die der Verlagsleiter in der Öffentlichkeit mit aller Konsequenz vertrat.31 Luhmann zufolge sind Originalität und Neuheit Grundvoraussetzungen für den Erfolg im Literatursystem : Wenn Kunstwerke ihre eigenen Programme sind, dann überzeugen sie erst nach ihrer Fertigstellung. Erfolgreiche Kunst läßt sich immer erst nachträglich auf Kriterien hin beobachten, und dann mit der Frage, ob man es nachahmen und besser machen will, oder ob die Innovation sich auf die Ablehnung bisher geltenden Kriterien gründen soll.32
Unseld trat auf als Literaturvermittler, der die Entwicklungen witterte und als einer der effizientesten literarischen Trendsetter seiner Zeit. Aus seiner Erfahrung in puncto Publikumsaufnahme erkannte er von Anfang an in der Literatur Bernhards Originalität und Innovation im Ästhetischen : Besonders beeindruckt zeigte er sich von der „Kraft und Magie der Sprache“, 33 die seiner VerlegerProgrammatik zufolge als Attribut des künstlerischen Genies galten. Schon im April 1967 erschien Bernhard im Verlagsprogramm auf der Liste der „Autoren von Rang“.34 In den drei Folgejahren waren die Bemühungen um Bernhards Inszenierung als Anwärter auf die Position der literarischen Avantgarde zahlreich und stellten für den Autor auch höchste Gratifikationen, den Nobelpreis etwa, in Aussicht. Bei der Verbreitung und Affirmation von diesem Bernhard-Bild wurde 30 Bernhard : Meine Preise, S. 123. In seinem Tagebuch verzeichnete er anschließend die Reaktion des Publikums : „Die Zuhörer hatten gedacht, das, was ich sagte, sei die Einleitung einer Rede von mir, aber es war schon. Ich machte eine kurze Verbeugung und sah, daß meine Zuhörer mit mir nicht zufrieden waren. Aber ich war ja nicht nach Darmstadt gekommen, um irgendwelche Leute zufriedenzustellen, […] § ebd., S. 111. 31 Vgl. Unseld : Chronik 1970, S. 263- 265. 32 Vgl.: Luhmann, Niklas : Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995, S. 370. Hierzu vgl. auch S. 435. 33 Unseld : Autor Verleger, S. 32. 34 Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 54.
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erfolgreich sein fachliches und soziales Vernetzungsgeflecht bedient § während der Vorbereitungen auf die Uraufführung von Ein Fest für Boris wurde es dem Intendanten des Hamburger Theaters unmissverständlich nahegelegt : „Uns ist es wirklich wichtig, daß dieses Stück eines großen Autors in der bestmöglichen Form über die Bühne geht.“35 Wenngleich in erster Zeit Unseld zufolge „der Kreis“, der Bernhard kannte „klein“36 war und demnach der Verkauf dürftig ausfiel § innerhalb von drei Jahren wurden nicht mehr als 1800 Exemplare von Verstörung verkauft § brachte der Verleger seine Position im Machtfeld und seine fachlichen Kompetenzen in keinem Augenblick zur Anwendung, um auf den Autor und seine Poetik Einfluss zu nehmen. (Unselds erfolglos gebliebener Versuch, Bernhard zur Titeländerung von Verstörung zu bewegen, bildet hier keine Ausnahme.37) Vielmehr ging es dem Verleger in seiner Beschäftigung mit der Bernhard-Literatur damals darum, ein kulturell distinguiertes und tonangebendes Publikum zu erreichen und es für die Werke des Autors zu gewinnen. Das Jahr 1970 brachte in diesem Punkt eine signifikante Wende. Dank seinen Kontakten zu bereits Distinguierten und den Anwärtern auf die Positionen im künstlerischen Feld, damals besonders intensiv zu Kulturakteuren im Theaterbereich, zur Theaterkritik und zu den Regisseuren, darunter zu bereits affirmierten (Wendt aus Hamburg) sowie zur Avantgarde38 § so witterten er (und Bernhard auch) in der Person Claus Peymann einen Genialen, mit Aussichten auf internationales Renommee39 § verhalf Unseld dem bisher als Erzähler rezipierten Autor zur Affirmation im Theater. Mit dem schlagenden 35 Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 155. 36 Ebd., S. 72. 37 Unselds Versuch scheiterte, seine Befürchtungen, der Titel findet beim Publikum wenig Zuspruch, haben sich indessen bewahrheitet. Unseld suchte, „negative Wirkung des Titels durch einen attraktiven Umschlag zu neutralisieren“ § ebd., S. 53 § allerdings mit mäßigem Erfolg. Schuld an dem schlechten Absatz trug auch die Kritik, mitunter in der Person Marcel Reich-Ranicki, der Bernhard als Vertreter einer einseitigen und monotonen, von Hass erfüllten Heimatliteratur zu disqualifizieren suchte. Dementsprechend intensiv waren Unselds Bemühungen, dass die amerikanische und französische Ausgabe des Romans einen ‚publikumattraktiveren‘ Titel erhielten : Im New Yorker Verlag A. Knopf erschien der Roman unter dem Titel Gargoyles, die französische Ausgabe, die beim Gallimard herauskam, trug den Titel Perturbations. 38 Bourdieu : Regeln, S. 191. 39 Die spätere Laufbahn C. Peymanns bestätigte die Erwartungen des Verlegers und seines Autors : Peymann entwickelte sich im Laufe der Jahre zu international anerkannten Bernhard-Spezialisten im Bereich der Theaterregie, der bis auf Einfach kompliziert alle Bernhard-Stücke zur Uraufführung brachte. Die Premiere von Einfach kompliziert war am 12. Februar 2011 in Wien und am 17. Februar am Berliner Ensemble. Vgl. http ://oe1.orf.at/artikel/269333. Zugriffsdatum : 11. 2. 2011.
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Erfolg von Ein Fest für Boris gelang ein erster entscheidender Sieg in der Konkurrenz um das Publikum für das literarische Werk des Autors, dessen Publikum in Wirklichkeit erst geschaffen werden musste. Während dies im Bereich der Erzählliteratur progressiv erfolgte und mit Kalkwerk seinen ersten Höhepunkt verzeichnete, wurde im Theater das Bernhard’sche Publikum Ende Juni 1970, nach der erfolgreichen Premiere, sozusagen über Nacht hervorgebracht : „Für das Schauspielhaus bedeutet der Erfolg von Boris den Höhepunkt der Saison, und Lietzau hat mir versichert, daß das Stück eine eminente Rolle in der nächsten Saison spielen werde. Darauf werden wir nun sehr dringen.“40 Auch die Hoffnungen in puncto Publikumsaufnahme, die von Unseld im Zusammenhang mit Kalkwerk gehegt worden waren, erwiesen sich als durchaus berechtigt : Mit dem Roman wurden die Voraussetzungen geschaffen, eine sozial breitere Streuung der Zahl einer im obigen Sinne idealtypischen Bernhard-Leserschaft zu erreichen : „[…] Ich bin ganz sicher, es ist Ihr bestes Buch, und wenn mit einem Buch Ihr Durchbruch bei einem größeren Kreis gelingen kann, dann hier und jetzt. Wir sind jedenfalls auf eine intensive Werbung eingestellt.“41 Bernhards Theatererfolg löste eine Verteilung von symbolischem Kapital zwischen den beiden Medien, dem Theater und der Literatur aus, wodurch dem Autor auch in der breiten kulturellen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zuteil wurde.42 Daraus konnten erstmals für Verlag und auch Autor bedeutende materielle Gewinne erwirtschaftet werden : Innerhalb von zwei Monaten war die erste Auflage von Kalkwerk mit 3000 Exemplaren vergriffen. Ein ökonomischer Gewinn fiel fast zur gleichen Zeit mit symbolischem an :43 „Die Wirkung des Büchner-Preises ist nach wie vor sehr schön. Der Buchabsatz hat sich belebt. Wir werden in Kürze eine zweite Auflage des Kalkwerks drucken. […] Anbei erhalten Sie die in Frankfurt unterschriebenen Verträge sowie eine Tantiemenabrechnung.“44 Das von Unseld vertretene Verlagskonzept, dem zufolge ein großer Anteil den unsicheren langfristigen In40 Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 181. 41 Ebd., S. 191. 42 Vgl. hierzu : Zeyringer, Klaus : Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken. Innsbruck, Wien, Bozen 2008, insb. S. 377§387. 43 Vgl. Bourdieu : Regeln, S. 190. 44 Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 194§195. Von dem hervorragenden Absatz des Kalkwerks und der daraus resultierenden Zweitauflage des Romans sind an mehreren Stellen in Unselds autobiographischen Texten Zeugnisse zu finden, darunter auch in einem seiner Briefe vom Anfang November 1970 : „Ich schrieb Ihnen ja schon, daß die erste Auflage des Kalkwerks (es waren 3000 Exemplare) vergriffen ist, eine zweite wird am 13. Dezember ausgeliefert“ § Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 202. In zweiter Auflage erschien zur selben Zeit auch Watten.
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vestitionen eingeräumt wurde, kam zur Geltung. Bis zuletzt noch deckten die Werke Bernhards bestenfalls fixe Kosten ab, worauf Wiederauflagen erfolgten, die ihrerseits nach Bourdieu weitere ‚riskante Investitionen‘ ermöglichten.45 Da im Verlagsprogramm die Veröffentlichungen von Werken der literarischen Avantgarde einen großen Stellenwert einnahmen (neben Bernhard auch H.C. Artmann, P. Handke, B. Frischmuth U. Johnson, J. Becker u. a.), gehörte der Verlag zu Unternehmen mit langem Produktionszyklus und langsamem Umschlag. Unseld sah sich bis 1970 stets konfrontiert mit der zeitlichen Verzögerung des ökonomischen Gewinns und des Honorierens. Diese Verzögerung geht Bourdieu zufolge46 auf die Zeitverschiebung zwischen Angebot und Nachfrage zurück, was zu einem Strukturmerkmal des Feldes der eingeschränkten Produktion gehört. Diese Produktion existiert innerhalb eines antiökonomischen ökonomischen Universums. Der Verleger bemühte sich diese Zeitverschiebung durch unterschiedliche Formen der Literaturvermittlung zu verkürzen, die Verzögerung wie oben gesehen durch Honorarvorschüsse zu kompensieren. Auf diese Weise gelang es ihm, materielle und seelische Voraussetzungen für einen uneingeschränkten kreativen Prozess § um „Produktives schaffen zu können“47 § zu sichern, wodurch der Programmatik zufolge eine der wichtigsten Aufgaben des ‚idealtypischen literarischen Verlegers‘ erfüllt wurde.48 Dass die Anwartschaft auf die Avantgarde im damaligen literarischen Feld keine Einbildung eines überambitionierten Verlegers war, sondern ein realistisches Ziel, das innerhalb von drei Jahren auch erreicht wurde, blieb auch bei Bernhard nicht unbemerkt § im April 1970 äußerte er sich seinem Verleger gegenüber : „Wie schaut Ihr Herbstprogramm endgültig aus ? Bei etlichen jungen Leuten, deren Schreibweise sehr stark an die meinige erinnert, weiss ich nicht, soll ich mich freuen, oder das ganze schreibende Gesindel verfluchen !“49 Bernhards Reaktion auf Unselds Promovierung seiner Literatur war kontrovers ; die meiste Zeit war er unwillig, die Bemühungen des Verlegers anzuerkennen, oder ihnen gar Lob zu bezeugen. Auf diese Weise versuchte der Autor in der Anfangsphase seine Verhandlungsposition zu stärken, worin er unter den Verlagsautoren keine Ausnahme bildete.50 „Manchmal habe ich in letzter Zeit gezwei45 46 47 48 49 50
Vgl. Bourdieu : Regeln, S. 231. Vgl. ebd., S. 134§137. Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 105. Vgl. Unseld : Autor Verleger, S. 47§53. Ebd., S. 170. Auch B. Frischmuth fand in der Phase der Positionierung das Bemühen des Verlegers um ihre Literatur nicht immer als zufriedenstellend.
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felt, ob ich denn doch einen Verleger habe, denn es schien mir, als kümmert sich gar keiner um mich.“51, schrieb Bernhard im Zusammenhang mit der als inadäquat empfundenen Ankündigung der 1968 erschienen Erzählung Ungenach. Unseld wusste die Vorwürfe gegen sich § ironisch als „Verlegerbeschimpfung“52 bezeichnet § mit Konsistenz in Argumentation und Konsequenz in Gelassenheit und Versöhnung zurückzuweisen : Der Suhrkamp Verlag leistete Ihnen eine Vorauszahlung für den Boris in Höhe von DM 3.000 und Garantiehonorar für Ungenach in Höhe von DM 2.000. Das ist eine Summe von rund DM 38.000. […] Sie wissen auch, daß ich Ihre Arbeiten schätze. Sie wissen freilich nicht, wie sehr ich Sie schätze.53
An Honorare und Vorschüsse war Bernhard indessen bereits in seinen ersten Jahren bei Suhrkamp existentiell angewiesen. Im Unterschied zu gewichtigem kulturellen und literarischen Kapital, das er durch die Person seines Großvaters mütterlicherseits, des Schriftstellers Johannes Freumbichler § eines frenetischen Künstlertypus und Träger des Österreichischen Staatspreises für das Jahr 193754 § vermittelt bekam, konnte der Schriftsteller auf so gut wie keine ererbten und andere wirtschaftliche Merkmale zurückgreifen, weder auf Einnahmen aus Kapital oder aus Besitz, noch § seit der Aufgabe der Journalistentätigkeit § auf ein halbwegs regelmäßiges Einkommen. Auch andere Merkmale, die ihm mitgegeben worden waren, z.B. sozialen Charakters (als illegitimer Sohn eines Gastarbeiterpaares § einer Dienstbotin und eines Tischlers) und konstitutive Dispositionen seines Habitus sowie Verhaltensweisen, die zum Großteil daraus resultierten, versprachen a priori wenig Erfolg im sozialen Umfeld und literarischen Feld, das Feld der reinen Produktion vorerst inbegriffen. Zu Spezifika Bernhards Habitus gehörte mitunter auch die Abneigung bzw. gravierende Ambivalenz gegenüber öffentlichen Auftritten (Lesungen, Lesereisen § in Erwägung gezogen in die USA, nach Israel usw.)55 und dem gesellschaftlichen Leben schlechthin, 51 52 53 54
Ebd., S. 62. Unseld : Chronik 1970, S. 125. Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 115 ff. Vgl. Giebisch, Hans/Gugitz, Gustav : Bio-bibliographisches Literaturlexikon Österreichs. Wien 1964, S. 96 und Bernhard, Thomas : Die Autobiographik. Hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2004 (= Werke, Bd. 10). 55 In dieser Zeit trat Bernhard mit Lesungen im Wiener Penclub und bei der Frankfurter Buchmesse auf. In seinem Anspruch auf Exklusivität wehrte er sich vehement gegen die von Unseld vorgeschlagenen Doppellesungen. Vgl. Unseld : Chronik 1970, S. 233.
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was in der frühzeitigen topographischen Isolation (im oberösterreichischen Ohlsdorf ) in Erscheinung trat.56 Unter den inkorporierten Merkmalen fand sich auch Bernhards Streben nach Unabhängigkeit von den Kräften außerhalb und innerhalb des literarischen bzw. künstlerischen und intellektuellen Feldes. Er zeigte frühzeitig Abneigung gegenüber sämtlichen, an bestimmte Positionen gebundene Festlegungen, was im Vorfeld zu seiner späteren Erfolgslaufbahn als Schriftsteller zum Verzicht auf eine ‚bürgerliche Existenz‘ führte : Was ich immer wünsche, ist, alle dummen und dreisten, aber auch die verlockenden Angebote des Teufels abzuschlagen und weiterhin auf Aufforderungen der journalistischen gemeinen ebenso essayistischen gemeineren Umwelt überhaupt nicht zu reagieren und mir meinen Platz am Schreibtisch für meine eigenen Gedanken fortwährend frei zu machen, […]57
Für Bernhards häretische Stellung zu den bereits genannten gesellschaftlichen Feldern, aber auch zu dem der Politik, sind außer seines Umgangs mit Konsekrationsinstitutionen in den ersten Jahren seine Beobachtungen von den Reisen, die ihn damals meist durch Deutschland und Österreich führten, besonders aufschlussreich. Sie enthalten differenzierte Diagnosen der gesellschaftlichen Geistes- und Mentalitätssituation, „einer ungeheueren Körper- und Geisteskatastrophe“ wie er die Zustände „von Passau bis Lübeck“58 auf der Reise zur Büchner-Preis-Verleihung beschrieb. In kritischer Absetzung insbesondere zum Geflecht von Macht und Kunst entwickelte Bernhard als freier Schriftsteller einen ausgeprägten ethischen Originarismus, der seinen Niederschlag in einem perfektionistischen Arbeitsethos fand.59 Durch die Inszenierung von gewaltigem körperlichen, intellektuellen und mentalen Einsatz und von radikaler Konsequenz bei der Arbeit, suchte er den Eindruck zu erwecken, Unselds Aufforderungen zu Spitzenleistung60 gerecht zu werden. Obwohl der Schriftsteller als zäher Verhandlungspartner in puncto Finanzielles in Erscheinung tritt § zugleich beteuerte er „kein Geldgieriger“ zu sein, solange „das notwendigste“61 vorhanden ist §, war sein Habitus entscheidend geprägt von der Hingabe an das genuine künstlerische Projekt der reinen Kunst, Bourdieu zufolge der Kunst des Intellektuellen in 56 57 58 59 60 61
Vgl. Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 125. Ebd., S. 118. Ebd., S. 197. Vgl. hierzu ebd., S. 150, 158, 200, 208. Vgl. hierzu ebd., S. 202. Ebd., S. 109.
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seiner Eigenschaft als Verteidiger von „universellen Prinzipien, die nichts anders sind, als das Ergebnis spezifischer Prinzipien seines eigenen Universums“ 62. In diesem Projekt ging er leidenschaftlich auf § „ich weiss, das ,dichten‘ auch ein Unsinn ist, aber es ist und bleibt mir der liebste Unsinn.“63 Die Literatur wurde zum Überlebensraum, einem Raum des potentiellen Trotzes gegen ein Leben als ‚Krankheit zu Tode‘ § ein Konzept, das seinen Texten nicht nur in dieser Zeit ihre spezifische Prägung verlieh. Bereits Ungenach, eine der ersten bei Suhrkamp erschienen Erzählungen, wird Poetik des Lebens festgeschrieben und Tod als Pathologie thematisiert. Der Autor selbst lässt es in dem von ihm verfassten Werbetext unmissverständlich werden : Die neue Erzählung von Thomas Bernhard berichtet von einem Mann, der in ein oberösterreichisches Dorf, Ungenach, kommt zu einem grauenhaften Begräbnis. Er kommt zu spät und bleibt so lange in dem Haus des Verstorbenen, bis er die Bewohner des Dorfes von der Beerdigung zurückkehren hört. […] Die Erzählung beschreibt Ungenach während der Abwesenheit der Einwohner, die alle an dem Begräbnis teilnehmen, während Ungenach völlig leer und von allen Menschen, die Ungenach sind, verlassen ist.64
Das Wechselspiel von gezeigten literaturvermittelnden Strategien und Praktiken des Verlegers, externen Entwicklungen und von Entwicklungstendenzen im literarischen Feld, hatte entscheidende Folgen für die Distinktion Bernhards und dadurch auch für die Entfaltung der reinen Ästhetik, der sich der Autor verpflichtet fühlte. Es gelang dem Verleger Unseld durch die Beeinflussung des künstlerischen Feldes und der beiden literarischen Subfelder, wie dargestellt auch jenes der Massenproduktion, die sich als ungünstig erwiesenen objektivierten und inkorporierten Merkmale des selbst- und fremdinszenierten literarischen ‚enfant terrible‘ zur Lenkung der Aufmerksamkeit instrumentalisieren und so für den Verlag und dessen Autor zum Guten zu wenden. Unselds Engagement für das Bernhard’sche künstlerische Projekt bewährte sich wie gezeigt bereits in den ersten Jahren im Ökonomischen und Symbolischen. Dadurch, dass die Werke Bernhards beim immer größer werdenden Publikum, die ihnen immanenten Normen, nach denen sie wahrgenommen werden wollen, zur Geltung gebracht haben, kam es allmählich zur Legitimierung seiner Poetik. Dies bewirkte eine Modifikation in der Verteilung symbolischer Güter, die parallel zur Entwicklung 62 Bourdieu : Regeln, S. 211. 63 Ebd., S. 92 ; vgl. hierzu auch ebd., S. 200. 64 Ebd., S. 64.
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des literarischen Feldes zugunsten der Distinktion der Avantgarde in den frühen 1970er-Jahren erfolgte. Der Erfolg in der Gattung bzw. dem Medium, nämlich dem Theater, das unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt Bourdieu zufolge an der Spitze der Hierarchie steht, 65 erwies sich als maßgeblich dafür. Der Einsatz Unselds für Bernhard und andere Vertreter der avancierten modernen Literatur, zunächst und vor allem im Bereich der Erzählliteratur, lässt den Verlagsleiter bei Suhrkamp als Literaturvermittler mit der engagiert-autonomen und innovativen Einstellung zum Feld symbolischer Güter in Erscheinung treten. Er gelangt zur Inszenierung als Subjekt, das bei aller Konsequenz im Geschäftlichen, dem in der Beziehung signifikante Bedeutung zugewiesen wird § das Finanzielle ist in mehr als 30% der Briefe Unselds an Bernhard das Hauptthema § den Gewinn im Ökonomischen auf einen Gewinn im Symbolischen bezog. Dieses Merkmal Unselds, seine literaturvermittelnde Identität, das von Bernhard nicht unbemerkt blieb, worüber das abschließende Zitat Auskunft gibt, schuf Voraussetzungen für die Stärkung der Bande zwischen zwei Kulturakteuren : „Ich habe meinen und Sie haben Ihren Stolz und beide sind wir angewiesen auf ein Poetisches in der Natur […] von dem wir beide nicht wissen, was es ist.“66 Obwohl die untersuchten autobiographischen Texte wegen ihrer hier dargestellten Tendenz zur strategischen Selbstinszenierung ein Bild der Beziehung zwischen dem Verleger Unseld und dem Autor Bernhard vermitteln, dem nur ein eingeschränkter Anspruch auf Objektivität zukommen kann, wird eines eindeutig : Unselds Bemühungen um die Überwindung der Zurückhaltung seitens des in Analogie zu sich als dem humanistischen Ethos und der geistigen Autonomie verpflichteten inszenierten Autors stießen beim letzterem in der ersten Zeit auf unterschiedliche Resonanz. (Bekanntlich brachten sie auch später nicht die vom Verleger herbeigesehnte Vertrautheit). Ungeachtet seiner eindeutig demonstrierten Zurückhaltung, brachte Bernhard in seinen ersten Jahren beim Verlag die Vertrautheit als eine wünschenswerte Entwicklung zum Ausdruck § gemahnend mit dieser, von Widersprüchlichkeit gekennzeichneten Haltung einmal mehr an Joseph Roth und seine Beziehung zu dem Verleger im holländischen Exil.
65 Vgl. Bourdieu : Regeln, S. 188. 66 Bernhard/Unseld : Briefwechsel, S. 63.
Der Verleger und sein Autor
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Literaturverzeichnis Bernhard, Thomas : Meine Preise. Frankfurt am Main 2009. Bernhard, Thomas : Die Autobiographik. Hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2004 (= Werke, Bd. 10). Bernhard, Thomas/Unseld, Siegfried : Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt am Main 2009. Bijvoet, Theo/Madeleine Rietra, Madeleine (Hg.) : Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit. Der Briefwechsel Joseph Roth und dem Verlag De Gemeenschap 1936± 1939. Köln 1991. Birk, Matjaž : „…Vielleicht führen wir zwei verschiedene Sprachen. Zum Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth. Münster 1997. Bourdieu, Pierre : Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main 1999. Franck, Georg : Ökonomie der Aufmerksamkeit ± Ein Entwurf. München 2007. Giebisch, Hans/Gugitz, Gustav : Bio-bibliographisches Literaturlexikon Österreichs. Wien 1964. Luhmann, Niklas : Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995. Neuhaus, Stefan : Literaturvermittlung. Wien 2009. Neuhaus, Stefan : „Wie man Skandale macht. Akteure, Profiteure und Verlierer im Literaturbetrieb“, in : Freise, Matthias/Stockinger, Claudia (Hg.) : Wertung und Kanon. Heidelberg 2010, S. 29§41. Unseld, Siegfried : Der Autor und sein Verleger. Frankfurt 1978. Unseld, Siegfried : Chronik 1970. Mit den Chroniken Buchmesse 1967, Buchmesse 1968 und der Chronik eines Konflikts 1968. Hg. von Raimund Fellinger. Bd. 1. Berlin 2010. Unseld, Siegfried : Peter Suhrkamp. Zur Biographie eines Verlegers in Daten, Dokumenten und Bildern. Frankfurt am Main 2004. Zeyringer, Klaus : Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken. Innsbruck, Wien, Bozen 2008. https ://files.oakland.edu/users/clason/web/grm381/lessinglitbr.html. Zugriffsdatum : 7. 4. 2011.
Clemens Götze
„Die Ursache bin ich selbst !“ Thomas Bernhards inszenierte Autorschaft am Beispiel seiner (Film-)Interviews
Thomas Bernhard, der Interviewkünstler „Im Grunde leben die Leute über zwanzig nur aus der Literatur, eigentlich überhaupt nicht mehr aus der Wirklichkeit.“1 In dieser Behauptung Thomas Bernhards aus einem Interview mit Krista Fleischmann aus dem Jahr 1981 wird freilich die für den Autor so typische Übertreibungskunst besonders deutlich. Auffällig ist, dass Thomas Bernhard die Literatur als vermeintlich wichtigsten Kulturbestandteil anführt, nicht die bildenden Künste oder die Musik ; insbesondere letztere spielt in seinem Werk eine nicht unbedeutende Rolle. Dennoch rekurriert Bernhard in seinen öffentlichen Stellungnahmen am ehesten auf sein Feld der Kunst : die Literatur. Gerade in dieser Äußerung wird sinnfällig, welche immense Bedeutung die Literatur aus Bernhards Sicht hat, denn er behauptet, dass ein Leben ohne Literatur nicht möglich sei. Seine Darstellung ist die einer ambivalenten Polarisierung von Wirklichkeit auf der einen und Literatur auf der anderen Seite. Eine Verknüpfung dieser Pole ist nur durch die Figur des Autors zu erreichen. Daher ist die Frage nach der Inszenierung von Bernhards Autorschaft hinsichtlich des Werkverständnisses nicht peripher, konzentriert sich doch seine Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit auf eben dieses Thema, und zwar durch die gezielte Lancierung durch den Autor unter dem Motto Die Ursache bin ich selbst. Trotz der intensiven Medienpräsenz des Autors darf man jedoch bei der Interpretation seines Werkes die Texte selbst nicht aus dem Blickfeld verlieren. Deshalb ist der Befund Wendelin Schmidt-Denglers noch immer gültig, wenn dieser 1997 feststellt, dass „[das] Werk § und das nicht nur in Österreich § mehr und mehr aus dem Lichtkegel der Betrachtung gerückt [ist]“.2 Die Gründe da1 Fleischmann, Krista (Hg.) : Thomas Bernhard. Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Frankfurt am Main 2006, S. 79. 2 Schmidt-Dengler, Wendelin : „Zurück zum Text : Vorschläge für die Lektüre von Thomas Bern-
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für liegen in Bernhards oft nur schwer zugänglichem Werk ; mit fatalen Folgen, denn gerade weil Bernhards Texte „sich uns zu entziehen [scheinen], widmen wir uns § und das nicht ohne Grund § auch der Figur Bernhard“.3 Dabei werde aber oft vergessen, dass ja in erster Linie die Texte4 das Interesse an dem Autor Thomas Bernhard begründet haben.5 Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Thomas Bernhard eine regelrechte Medienfigur war, muss sich der Interpret immer wieder gezwungen fühlen, ihn auch von dieser Seite her, also mit dem rezeptionsästhetischen Ansatz, verstehen zu wollen.6 Denn bislang behält Wendelin Schmidt-Denglers Diagnose ohne Frage ihre Gültigkeit, wenn er konstatiert : „Bernhard ist zur Kunstfigur geworden, und sein Werk lässt sich nicht mehr ablösen von der Wirkung, die es gehabt hat.“7 Diese Wirkung basiert gleichsam auf dem Phänomen der Kunstfigur Thomas Bernhard, die gleichsam ein Produkt ihrer Rezeption darstellt : „Was wir heute ‚Thomas Bernhard‘ nennen, ist auch eine mediale Kunstfigur, deren ‚Eigenes‘ unter der Flut von Simplifikationen zerstört worden ist“.8 Neben den Skandalen und öffentlichen Auseinandersetzungen um sein Werk haben vor allem seine Inter views als Bausteine für die Kunstfigur Bernhard fungiert, dennoch scheinen sie nach wie vor unterschätzt.9 Zwar werden sie gern als
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hards Frost“, in : Schmidt-Dengler, Wendelin/ Stevens, Adrian/Wagner, Fred (Hg.) : Thomas Bernhard. Beiträge zur Fiktion der Postmoderne. Londoner Symposium. Frankfurt am Main et al. 1997, S. 201§220, hier S. 201. Ebd., S. 202. Insbesondere die Rezeption im englischsprachigen Raum belegt, dass der Erfolg des Autors auch ohne dessen Präsenz als Figur funktionieren kann, wie das Beispiel USA zeigt. Im Jahr 2006 wurde dort Frost publiziert. „Dieser Erfolg verdankt sich der Qualität der Texte ; für ihn bedurfte es der Autorfigur nicht.“ § Huber, Martin/ Schmidt-Dengler, Wendelin : „Umspringbilder. Romanwerk und Leben Thomas Bernhards“, in : Huber, Martin/Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Thomas Bernhard. Die Romane. Frankfurt am Main 2008, S. 1769§1809, hier S. 1770. Vgl. Schmidt-Dengler : „Zurück zum Text“, S. 204. Wie Georg Franck anmerkt, ist der „verbindliche Stil unserer Epoche […] eine Medienästhetik, weil alles, was öffentliche Geltung gewinnen will, entweder durch die Medien hindurch muß oder in der Konkurrenz mit der Attraktionskraft der Medien bestehen muß“. § Franck, Georg : Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München 1998, S. 174. Schmidt-Dengler, Wendelin : Der Übertreibungskünstler. Zu Thomas Bernhard. Wien 1986, S. 93f. Pfabigan, Alfred : Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment, Wien 1999, S. 11. Sie gelten, gemeinsam mit anderen Selbstauskünften und Statements des Autors als Schlüssel für das Werkverständnis und sind doch ebenso schwer zu fassen wie das Werk selbst. Vgl. Fellinger, Raimund : „,Antworten sind immer falsch.‘ Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard“, in : Begleitheft zur DVD Monologe auf Mallorca und Die Ursache bin ich selbst § Die großen Interviews mit Thomas Bernhard. Filmedition Suhrkamp. Frankfurt am Main 2008, S. 4§37, hier S. 9.
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argumentativer Unterbau verwendet und stellen einen unerschöpflich-originären Zitatfundus dar ; die bedeutsame Stellung im Hinblick auf das Gesamtwerk des Autors ist jedoch bisher nur unzureichend diskutiert. Da in ihnen wesentliche Bestandteile des literarischen Werkes gespiegelt sind, fungieren sie als Bestandteil des literarischen Gesamtwerkes10 und verdienen daher entsprechend Aufmerksamkeit. Dies etwa kon statiert auch Wendelin Schmidt-Dengler : „Wer sich mit Bernhards Werk, sei es redend oder schreibend, auseinandersetzen will, für den sind die Interviews von hohem Quellenwert.“11 Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass bislang keine umfassende Analyse der Interviews vorgelegt worden ist ; stattdessen greifen einzelne Forscher Teile dieser Selbstaussagen aus dem Kontext als Belege für Positionen und scheuen sich offensichtlich vor einer tief greifenden Diskussion dieser Texte.12 Die bisher wohl umfangreichste, wenn auch nicht vollständige Analyse der Interviewtexte Thomas Bernhards stammt von Heidrun Isabella Stiftner, die damit 2005 ihre Diplomarbeit an der Universität Innsbruck vorgelegt hat, was bislang von der Forschung allerdings kaum wahrgenommen worden ist.13 Diese ausführliche Studie geht insbesondere den stilistischen Gesichtspunkten der Interviews nach. Ein weiterer Beitrag zur Verbindung von Interview und Werk stammt von Robert Vellusig, in welchem das Verhältnis von Rede und Schrift genauer diskutiert, wobei Bernhards Prosa „eine intime Nähe zu Formen und Funktionen mündlicher Rede“ bescheinigt wird und Vellusig daraus schließt, dass Bernhard so schreibe, wie er spreche.14 Dieser Ansatz ist insofern neuartig, da mit ihm die Rede als grundlegendes Merk10 Vgl. Janke, Pia : „Schriftsteller als Ikonen. Aus Anlaß der Geburtstage von Thomas Bernhard (75) und Elfriede Jelinek (60)“, in : Ritter, Michael (Hg.) : Praesent 2007. Das literarische Geschehen in Österreich von Juli 2005 bis Juni 2006. Wien 2006, S. 77§85, hier S. 79 sowie Billenkamp, Michael : Thomas Bernhard. Narrativik und poetologische Praxis. Heidelberg 2008, S. 398. 11 Schmidt-Dengler, Wendelin : „Vorwort“, in : Sepp Dreissinger (Hg.) : Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Weitra 1992, S. 13§18, hier S. 15. 12 Ein Beispiel dafür ist Gitta Honegger, deren analytisches Gespür zwar im Kern die Relevanz der Interview-Texte erkennt und diese auch partiell bespricht, letztlich jedoch eine ausführliche Diskussion vermissen lässt und auch nicht weiter anregt. Dazu Honegger, Gitta : Thomas Bernhard. ,Was ist das für ein Narr ?‘, München 2003, besonders S. 274ff. 13 Stiftner, Heidrun Isabella : Thomas Bernhards Interviews : Ein Teil seines Werkes ? Untersuchungen zu Textsorte und Stil. Diplomarbeit. Innsbruck 2005. 14 Vellusig, Robert : „Thomas Bernhards Gesprächs-Kunst“, in : Schmidt-Dengler, Wendelin/ Stevens, Adrian/ Wagner, Fred (Hg.) : Thomas Bernhard. Beiträge zur Fiktion der Postmoderne. Londoner Symposium. Frankfurt am Main et al. 1997, S. 25§46, hier S. 27.
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mal von Bernhards Literatur verstanden wird, was in anderen Deutungen bisher nur peripher der Fall war. Was man als temporäre Handlungsarmut oder narrative Faulheit in Bernhards Werk missverstehen könnte, wird zum Moment, in dem die Redeentfaltung überhaupt erst möglich wird.15 Mit einem permanenten Reflexionsprozess haben es Bernhards Leser nicht nur bei seinen Texten zu tun, sondern auch dann, wenn sie dem Autor selbst begegnen wie in seinen Interviews. Vor diesem Hintergrund erscheint die Diskussion dieser Textsorte in Bezug auf das Gesamtwerk besonders relevant. So sehr Bernhards Figuren innerhalb seines Werkes in scheinbar monologische Rede verfallen, die allerdings letztlich doch immer einen Austausch mit ihrer Umwelt darstellt, so sehr zeugen die Interviews des Autors von eben dieser Vorgehensweise, die man in diesem Zusammenhang jedoch bisher kaum als Kunst betrachtet hat. Da in diesen Texten aber „jene proto-poetischen Qualitäten des mündlichen Austausches […], die sich im literarischen Werk schriftlich gesteigert und reflektiert finden“16 auszumachen sind, kommt man kaum umhin, diesem Befund näher Beachtung zu schenken, um entsprechende Belege dafür zu finden, dass die Interviewkunst eines Thomas Bernhard weit mehr auf dessen Konzept von Autorschaft beruht als man bisher annehmen durfte. Diese Forschungslücke will der vorliegende Beitrag in einem ersten Versuch schließen und zu einer weiteren Beschäftigung mit diesem Thema anregen. Thomas Bernhards (Film)Interviews sind legendär. Wer sein Werk verstehen will, glaubt zumeist, in ihnen Ansatzpunkte für sein Schreiben zu finden, Erklärungen für ein Œuvre, das verstört und so viele Fragen offen lässt. Mitnichten wird man jedoch fündig, eher hinterlassen seine Aussagen in den öffentlichen Stellungnahmen noch mehr Fragen ; die Antworten rücken in weite Ferne. Die mediale Präsenz Bernhards § am besten wahrnehmbar in den von ihm mit souveränem Witz gestalteten Interviews § diente so weniger seinem Werk als der Konturierung einer singulären Autorfigur, die sich der Öffentlichkeit um so deutlicher einprägte, je mehr sie sich ihr ostentativ entzog.17
Bisher wurden daher im Wesentlichen zwei Erklärungsmuster für die Interviews in die Diskussion gebracht : erstens die, dass Thomas Bernhard in Anlehnung seiner Texte mit dem Leser im Interview genauso spielt. Diese Erkenntnis ergibt 15 Vgl. Vellusig : „Gesprächs-Kunst“, S. 29. 16 Ebd., S. 32. 17 Huber/Schmidt-Dengler : „Umspringbilder“, S. 1770.
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sich aus der Betrachtung der Oberfläche des Interviewmaterials und deckt sich mit einer zum Konsens gewordenen Übereinstimmung von Werk und Außendarstellung in dem Sinne, dass man von einer strukturell-thematischen Ähnlichkeit ausgeht. Die Kunstfigur des Interviews verschmilzt bei Thomas Bernhard mit den Figuren seines literarischen Werkes. Uwe Schütte spricht in diesem Zusammenhang von „eminent theatralische[n] Inszenierungen“, wobei durch das Rollenverhalten Bernhards „viel über die Notwendigkeit, sich in der Öffentlichkeit einen ‚Schutzpanzer‘ anzulegen“ verraten wird.18 Ähnlich fasst dies auch Pia Janke zusammen, die Bernhards Selbstdarstellungen als Spiel begreift : „Thomas Bernhards Spiel war […] nicht so sehr durch die Produktion gegensätzlicher Medien-Bilder bestimmt, sondern vom Moment der medial gesteuerten öffentlichen Erregungen, die nach theatralen Dramaturgien abliefen.“19 Insofern ist der Autor gleichsam wörtlich jener Theatermacher, den er Mitte der 80er-Jahre als Dramenfigur entwirft, indem er Autor und Regisseur einer Form von Welttheater zugleich ist. Dies passt zu Bernhards allgegenwärtigem Spiel-Motiv, das sein Werk stets konstitutiv mit geprägt hat. Der zweite Aspekt bezieht sich weniger auf die Konstitution der Interviews, sondern vielmehr auf deren Wirkungsweisen, indem davon ausgegangen wird, dass Bernhard mit diesen Texten bewusst seine Stellung im literarischen Feld hervorhebe. So geschehen bei Michael Billenkamp,20 dessen Darstellung der Autorgenese Bernhards zwar sehr plausibel, an einem entscheidenden Punkt jedoch durchaus ergänzbar ist. Es scheint daher sinnvoll, beide Komponenten zu verbinden, denn sowohl Spiel-Motiv als auch Wirkungsweise im öffentlichen Raum haben ihren Ursprung im literarischen Werk des Autors. Das Potenzial des Interviews erkannte Bernhard für die Inszenierung seiner Autorschaft abseits des Œuvre § aber in Korrespondenz dazu § vor dem Hintergrund seiner Etablierung im literarischen Feld. Es ist daher nur konsequent, in Bernhards öffentlichen Stellungnahmen die konsistente Fortschreibung seines literarischen Werkes im realen Leben für die Öffentlichkeit zu verstehen. Diese Vorgehensweise stabilisiert die eigene Autorschaft, die in Thomas Bernhards Schaffen eine weit größere Stellung hat als bislang angenommen.
18 Schütte, Uwe : Thomas Bernhard. Köln et al. 2010, S. 114. 19 Janke : „Schriftsteller als Ikonen“, S. 79. 20 Billenkamp, Michael : „Provokation und posture. Thomas Bernhard und die Medienkarriere der Figur Bernhard“, in : Joch, Markus (Hg.) : Mediale Erregungen ? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009, S. 23§43.
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Inszenierte Autorschaft Will man davon ausgehen, dass Autorschaft das Produkt einer Inszenierung sein kann, ist zunächst zu fragen, was Autorschaft in diesem Zusammenhang eigentlich meint.21 Sie sei hier verstanden als eine Instanz, die den Text klassifizieren kann und soll, indem u.a. ein bestimmtes Bild des Autors impliziert wird. Natürlich setzen Textlektüren jeder Art immer bestimmte Auffassungen über den Autor voraus, die für die Interpretation maßgeblich bestimmend sind.22 Bei Thomas Bernhard ist von einer starken Autorschaft auszugehen, bei welcher der Autorname gleich einer Art Paratextfunktion die „Lektüre des Haupttextes [steuert]“, indem er „über den Ort des Textes im Diskurs, über den Urheber oder den Besitzer der Urheberrechte, aber auch über den empirischen Autor oder ein bestimmtes Bild desselben [informiert]“23. Insofern ist der Hinweis auf den Autornamen als Label durchaus berechtigt, da durch ihn die Maschinerie der Vermarktung, also die „Positionierung im ökonomischen oder kulturellen Feld“ erfolgen kann.24 Dieses Label suggeriert eine Einheitlichkeit des Werkes, sei aber eher mit einer Produktpalette eines Markennamens zu vergleichen, da die implizit unterstellte literarisch-gleichwertige Qualität der Texte naturgemäß nicht gegeben sei.25 Die Prüfung dieses Postulats obliegt dem Leser als Konsument des Produktes ‚Autor‘ und damit als Rezipient der Texte. Damit wird der Leser aber auch zum Konsumenten der Autorinszenierung, die zwangsläufig auftreten muss, da sich kaum ein Label ohne Werbung am Markt behaupten kann. 21 Die bis heute zu keinem einheitlichen Konsens geführte, immer wieder aufflammende Debatte zur Autorschaft lässt vermuten, dass er einstmals von Roland Barthes postulierte Tod des Autors möglicherweise ein verfrühte Bilanz gewesen sein könne. Vgl. Teuber, Bernhard : „Sacrificium auctoris. Die Anthologie des Opfers und das postmoderne Konzept der Autorschaft“, in : Detering, Heinrich (Hg.) : Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart, Weimar 2002, S. 121§141, hier S. 122. 22 Wie Fotis Jannidis aufzeigt, wird „der Spielraum für die Aktivität des Lesers stets vom Text begrenzt und definiert“, weshalb vom Tod des Autors und der Renaissance des Lesers für die Textinterpretation nur sehr bedingt die Rede sein kann. Jannidis, Fotis : „Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext“, in : Jannidis, Fotis u.a. (Hg.) : Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 353§389, hier S. 356. 23 Niefanger, Dirk : „Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer)“, in : Detering, Heinrich (Hg.) : Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart, Weimar 2002, S. 521§539, hier S. 525. 24 Ebd. 25 Ebd.
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In Anlehnung an Bourdieu bedeutet dies, dass nicht nur der Autorname die Texte klassifiziert, sondern dass auch die Texte den Autor im Feld positionieren. Der Autorname vermittelt ein Image, er fungiert gewissermaßen als Qualitätsmerkmal und ist daher „gerade in seiner klassifikatorischen Funktion nicht ohne den empirischen Autor zu denken, dessen Auftreten und Verhalten durch Texte stilisiert und verbreitet werden kann“.26 Thomas Bernhard fungiert in diesem Zusammenhang wie ein Paradebeispiel des Konstruktes Autorfigur, indem die Rezeption seines Werkes lange Zeit nicht ohne die Kunstfigur Bernhard zu denken war. Erst nach seinem Tod begann sich diese Konstruktion allmählich aufzulösen, sind nun neue Perspektiven auf das Werk möglich. Thomas Bernhards Inszenierung von Autorschaft funktioniert auf der von Felix Steiner festgehaltenen Definition, eines „die Autorinstanz bestätigende[n], rhetorisch-performative[n] Prinzips im Text“.27 Mit dieser Konstruktion wird der Autor nicht mehr als Person, wohl aber als personale Instanz im Text verstanden. Diese kann durch den Interviewtext sowohl als eine Verständigung eines Autors mit sich als auch mit einem projizierten und damit dem Autor nicht identischen Gegenüber erscheinen. Für das Beispiel Thomas Bernhards und seine Texte ist die Instanz des Autors eine brauchbare Konstruktion, weil über die Informationen im Text die Verbindung zu einer Kunstfigur hergestellt wird, welche die Masken der Figuren ihrer Texte trägt. Autorschaft heißt im Falle von Thomas Bernhard Performance, die durch seine Interviews eine Auratisierung seiner Literatur bewirken soll und daher eng an die Autorgenese Bernhards gebunden ist, die spätestens mit dem Verfassen der autobiografischen Pentalogie fester Bestandteil im Schreiben des Autors darstellte. So wird auch über die inhaltlich-formalen Gesichtspunkte hinaus jener archaische Großvaterkosmos für das Gesamtkunstwerk Thomas Bernhard entwickelt, den Bernhard Sorg beschrieben hat.28 Mit der Rede über sich selbst, die eigentlich eine Rede über das Werk und sein Verständnis von Autorschaft ist, gelingt Thomas Bernhard die eigene figurale Überhöhung : „Ich bin ja auch irgend so eine Figur, die in der Gesellschaft auftritt, manchmal, und so was weismacht, von sich gibt, von sich spricht natürlich, 26 Ebd., S. 539. 27 Steiner, Felix : Dargestellte Autorschaft. Autorkonzept und Autorsubjekt in wissenschaftlichen Texten. Tübingen 2009, S. 58. 28 Vgl. Sorg, Bernhard : Thomas Bernhard. München 21992, S. 171§173 sowie jüngst Sorg, Bernhard : „Ein kurzgefasster Einwurf als Nachwort“, in : Götze, Clemens : ,Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.‘ Studien zum Werk Thomas Bernhards. Marburg 2011, S. 193§196.
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auch Leute überzeugen will […]“.29 In dem Moment, da Bernhard sich selbst als Figur bezeichnet und im Hinblick auf sein autobiografisches Werk vom „Umweg über das Theatralische“ spricht, gelingt ihm im Interview die Stilisierung des eigenen Lebens als Rolle in einem Bühnenstück.30 Was Robert Vellusig für das Prosawerk des Autors konstatiert, gilt in gleicher Weise für dessen Interviews : Die Inszenierungstechnik der Bernhardschen Prosa, die schriftliche Objektivierung der sprachlichen Selbstdarstellung, setzt die Redestrategien der literarischen Figuren der Reflexion und zunehmend […] auch der Selbstreflexion aus. Als elementare Verfahrensweisen dieser Erlebnisverarbeitung nennt Bernhard die Beobachtungs- bzw. Übertreibungskunst, Wahrnehmungs- und Artikulationstechniken, also, die nicht im Sachbezug, sondern im Personbezug der Rede fundiert sind.31
In diesem Sinne erhält die Personenbezüglichkeit bei Thomas Bernhards Autorschaftsinszenierung einen besonderen Stellenwert. Sie ist eng an dessen Kunstprodukt des imaginären Autorbildes geknüpft, das der Dichter durch seine Darstellung in der Öffentlichkeit erwirkt hat. Michael Billenkamp unterteilt Bernhards Etablierungsverlauf im literarischen Feld und damit seine Genese als Autor in drei elementare Phasen : (I) den Heimatdichter ab 1950 und in Anlehnung an seinen Großvater Johannes Freumbichler ; (II) den Avantgardisten ab ca. 1955 auf dem Tonhof des Ehepaares Lampersberg und (III) den Provokateur seit Frost 1963. Allerdings beinhaltet Bernhards Autorgenese eine vierte Phase, welche sich in jene des Provokateurs eingliedern lässt und die mit „Autorschaft einer Kunstfigur“ überschrieben sein soll. Es ist die Phase, in der Thomas Bernhard seine Autorschaft strategisch vor dem Image des Sonderlings entfaltet. Das Moment der Provokation stellt dabei lediglich das oberflächlich angesiedelte Versatzstück zum Zwecke der Aufmerksamkeitsgewinnung dar. Die konsequente werkinterne Intertextualität ist dabei das eigentliche Kompositionsmuster für sein Konzept von Autorschaft. Diese vierte Phase beginnt 1970 mit dem Interviewfilm Drei Tage, der einen dandyhaft unnahbaren Thomas Bernhard inszeniert. In diesem Filmporträt schafft der Autor aus Werkzitaten Sentenzen, die vermeintlich seine Biographie und sein Schaffen beschreiben, und damit eine bis dahin beispiellose Symbiose aus Lite29 Bayer, Wolfram/Fellinger, Raimund/Huber, Martin (Hg.) : Thomas Bernhard : Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Berlin 2011, S. 148. 30 Vgl. Stiftner : Thomas Bernhards Interviews, S. 106. 31 Vellusig : „Gesprächs-Kunst“, S. 43.
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ratur und Person des Autors begründen. Dieser Film ist daher das Initiationsmoment für eine im weitesten Sinne als Vermarktungsstrategie zu begreifende Autorschaftsdarstellung innerhalb seines Werkes, die mit den Interviewfilmen der 80er-Jahre ihre Ver vollkommnung findet. Was sich in der Werkgenese seit den 70er-Jahren mit dem autobiographischen Projekt abzuzeichnen begann, nämlich die Selbststilisierung der eigenen Schriftstellerexistenz, findet im Spätwerk der 80er-Jahre seine Fortschreibung in der Verschmelzung von Autoren-Ich und den Figuren-Imagos als Alter Ego. Beispielhaft ist dafür die Sammlung Meine Preise, in der Autor-Ich und Erzähler-Ich zusehens kunstvoll miteinander verschmolzen und schier untrennbar sind.32 Die darin vollzogene Selbstdarstellung und Verherrlichung ist der eigenen Autorschaft in ihrer Funktion und Intensität den Interviewfilmen sehr ähnlich. Der Autor Thomas Bernhard lebt scheinbar in seinen Figuren, indem er sie als öffentliche Masken verwendet und damit ein konstruktives Ablenkungsmanöver bezüglich seiner Privatperson installiert. Um zwangsläufig auftretenden Fragen nach dem privaten Thomas Bernhard aus dem Weg zu gehen, wird bewusst spielerisch auf das Werk übergeleitet und so die Autorschaft über die Texte hinaus getragen. Bernhards Wissen um die Funktionsweise der Medien hat dazu geführt, eine bewusste Strategie für seine Imagebildung zu etablieren. Bereits die Jugenderfahrungen bei seiner Regie- und Schauspielausbildung am Salzburger Mozarteum beweisen die Lust an der Inszenierung. Die Leerstelle des Privaten wusste er zu füllen, indem er seine Kunstfigur des Autors Bernhard erschuf, deren Personifikation sowohl im literarischen Werk als auch in dessen öffentlicher Fortschreibung im Interview ihre Existenz zeitigt. Das Spannungsverhältnis seiner Autorschaft aus sich ins Werk einschreiben und gleichsam distanzieren beherrscht das literarische Werk und äußert sich ebenso intensiv in seinen öffentlichen Stellungnahmen wie den Interviews. Die bewusste Suche nach Örtlichkeiten fürs Filmen, die Steuerung des Gespräches bis hin zum Rohschnitt sind formale Aspekte, die im Gesamtbild gemeinsam mit dem Erzählten zu dieser Erkenntnis führen müssen. Thomas Bernhard nimmt in seinen Interviews im Wesentlichen sechs verschiedene Rollen an, deren Übergänge zumeist fließend sind und Mischformen möglich werden lässt : (I) der Altersnarr (in direkter Anlehnung zum von ihm geschaffenen Figurentopos) ; (II) der Provokateur (v.a. in politischer Hinsicht mit Bezug auf Österreich und den Nationalsozialismus) ; (III) der Dandy (Leben für 32 Vgl. dazu Götze, Clemens : „,Es ist nachzulesen‘ oder Reden über das Schreiben. Zu Thomas Bernhards Meine Preise“, in : Huber, Martin/Judex, Bernhard/Mittermayer, Manfred (Hg.) : Thomas Bernhard Jahrbuch 2009/2010. Wien et al. 2011, S. 107§123.
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die Kunst als Schauspiel der Schriftstellergenese) ; (IV) der Außenseiter und Verweigerer (Absonderungsfunktion insbesondere bei privaten Fragen), (V) der Moderator (Gesprächssteuerung, z.B. Stellen einer Gegenfrage) und (VI) der Autor, wobei diese Rolle als eine Art Überrolle zu verstehen ist. Durch dieses Rollenspiel erreicht er als Autor einen Wiedererkennungseffekt, der als Basis für die strategische Konstruktion fungiert. Bernhards literarische Autorschaft gründet sich auf eben dieses Moment, indem er unverkennbar eins wird mit seinem Werk, eine Art von Überautor, der auch sich selbst in einer fiktiv-konstruierten, zugleich real-existierenden Welt als Kunstfigur erschafft und damit untrennbar wird von seiner Literatur. Für die Konstitution seiner Autorschaft im Interview sind vor allem medientypische und stilistische Aspekte33 sowie thematische Komponenten entscheidend. Erstere sind insofern bedeutsam, als darin ein wesentliches Konstruktionsmerkmal von Bernhards Autorschaft liegt, indem der Autor zu seinem eigenen Moderator wird, die Kontrollfunktion des Gespräches übernimmt und das Bild seiner Selbst gezielt gestaltet. Das Vorhandensein von Bernhard-typischen sprachlich-stilistischen Aspekten, die als rhetorische Stilmittel dienen, um die artifizielle Gesprächssituation des Interviews zu entschärfen und implizit eine Antwort einzufordern,34 verwundert nicht.35 Besondere Bedeutung für die Konstitution der Autorschaft erlangen jedoch die thematischen Parallelen zu Bernhards literarischem Werk, die gleichsam als Zitation gewertet werden können : prominente Beispiele sind Zeitungen oder etwa der Theaterhass.36 Gerade die thematische Reproduktion des Werkes in 33 Aus Platzgründen muss hier auf eine so detaillierte Stilanalyse wie sie Heidrun Stiftner vorgelegt hat, verzichtet werden. Stiftner führt 20 Komponenten an, die sie auf Bernhards Interviews als Vergleichsmaßstab mit dem literarischen Werk anwendet. Darunter sind Emphase, hyperbolische Sprechweisen, Absolutsetzung, Schimpfen, Wiederholung, Entgegensetzungen, Inquit-Formeln, Konjunktive, Modalwörter und -verben, hypothetische Wendungen, Neologismen und Komposita, Wortspiele, Pluralis Modestiae, „naturgemäß“, Syntax, Plusquamperfekt, Rhythmisierung und Musikalität der Sprache, Interpunktion, Motivik sowie Metasprache, Rolleninszenierung und Intertextualität. § Vgl. Stiftner : Thomas Bernhards Interviews, S. 79§93. 34 Hier reicht die Gesprächskunst Thomas Bernhards über jene seiner Literatur hinaus, denn während seine Texte mit pauschalierenden Urteilen Behauptungen aufstellen, mit denen sich allein der Leser auseinandersetzen muss, gewinnt seine Rolle im Interview eine neuartige Dynamik. Infolge dieser Rückversicherungen, die ja rein rhetorischer Natur sind, impliziert er indirekt einen Wahrheitsanspruch seiner Aussagen und rückt damit noch näher in Richtung seiner Figuren. 35 Zu stilistischen Übereinstimmungen von Werk und Interview Stiftner : Thomas Bernhards Interviews, S. 126f. 36 Beide Motive integrieren sich wegen der medialen und inszenierten Komponente fraglos in den
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den öffentlichen Stellungnahmen indiziert den Zusammenhang eines Gesamtkunstwerkes. Das Beispiel Zeitungen ist besonders prägnant, da es über die Figurenperspektive einer eingenommenen Rolle hinausreicht. So heißt es im Roman Auslöschung : „Im Grunde ist die Welt, die uns die Zeitungsfinken vorzeigen in ihren Zeitungen, die eigentliche, sagte ich. Die gedruckte Welt ist die tatsächliche, sagte ich“.37 Dies deckt sich mit jener Antwort Bernhards in einem Interview von 1979 mit Krista Fleischmann auf die Frage, ob er manchmal Informationen aus Zeitungen in seinen Büchern verwerte : Ja sicher. Es is ja im Grund’ in den Zeitungen überhaupt alles zu finden was es gibt, nicht ? Und das heißt : Noch mehr als eigentlich existiert, is’ in den Zeitungen. Mehr kann man nicht finden, nicht ? Also die Realität ist in den Zeitungen noch übersteigert […] Die Leerstellen der Wirklichkeit sind in der Zeitung noch ausgestopft, im Übermaß. […] Die eigentliche Natur und Welt ist in den Zeitungen.38
Für Thomas Bernhards Schreiben ist das Absonderliche eine Inspiration, denn der Autor bekennt : „je scheußlicher eine Zeitung ist, desto mehr Gewinn zieh’ ich daraus“, desto mehr könne er sie als Material für sein Werk verwenden.39 Im Übrigen ist dies eine der wenigen Stellen in den Interviewpassagen, in denen sich der Autor wirklich explizit zu seinem Schreiben äußert, denn zumeist weicht er den Fragen danach mit assoziativen Wortspielen und Selbstzitaten aus. Auch das Theater findet in Bernhards Interviews regelmäßig Beachtung, wenn er beispielsweise gegenüber Krista Fleischmann ausführt, dass am Wiener Burgtheater nur „lauter Pensionisten“ auftreten und „dadurch das schlechteste Theater der Welt [machen]“.40 In Alte Meister klingen ähnlich vernichtende Urteile an, am Schluss des Romans heißt es lakonisch : „Die Vorstellung war entsetzlich.“41 Am Beispiel dieses Theaterhasses lässt sich Bernhards Autorschaft ebenfalls in seinem
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Interviewkomplex. Natürlich finden sich viele weitere Themenkomplexe, die hier anzuführen wären, so etwa das Todesmotiv (das so genannte „Todesvorgerl“), die Verachtung des Staates Österreich usw., auf die in diesem Rahmen jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Bernhard, Thomas : Auslöschung, hg. von Hans Höller. Frankfurt am Main 2009 (= Werke, Bd. 9), S. 374. Zitiert nach Götze, Clemens : ,Die eigentliche Natur und Welt ist in den Zeitungen‘. Geschichte, Politik und Medien im dramatischen Spätwerk Thomas Bernhards. Marburg 2009, S. 139. Ebd. Fleischmann : Thomas Bernhard, S. 36f. Bernhard, Thomas : Alte Meister, hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2008 (= Werke, Bd. 8), S. 193.
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Briefwechsel mit Siegfried Unseld aufzeigen, in dem er nicht minder auf die von ihm selbst geschaffene Autorfigur rekurriert. Der scheinbare Privatbrief wird somit zur Spiegelfläche der Autorschaft vor dem Hintergrund einer später optionalen Veröffentlichung der Korrespondenz.42 Darin echauffiert sich Bernhard gleichsam über „die hundsgemeine Hinschlachtung eines [seiner] Theaterstücke“,43 verleumdet die Theater, die „von dem nutzlosesten Gesindel bevölkert sind, das [er] jemals kennen gelernt“44 habe, „Burgtheater, Schillertheater, Residenztheater [seien] alles müde Vereine mit stumpfsinnigen Kreaturen in allen Intendantenzimmern“.45 Diese Erregung bloß mit einem elitären Theaterverständnis und einer vehementselbstbezogenen Exzentrik erklären zu wollen, greift zu kurz. Vielmehr wird hier deutlich, welcher Art die angenommenen Figurenaussagen zu einer Fortschreibung des Werkes in der Wirklichkeit wurden. Bernhards seiltänzerische Ambivalenz von Theaterhass auf der einen und für das Theater schreiben auf der anderen Seite belegt eine kontinuierliche Spannung der eigenen Autorschaft, denn sie wird gleichermaßen wie vom Autor selbst durch die Altersnarrenfigur Herrenstein in Elisabeth II. relativiert : „Das ist ja der große Reiz am Burgtheater/dass es immer verstaubt gewesen ist/und immer verstaubt sein wird.“46 Genauso funktioniert Bernhards Selbstbespiegelung umgekehrt, sowohl in seinen Briefen § wenn er etwa an Unseld mit „Ihr Prosa- und Theaternarr Thomas B.“47 unterschreibt § als auch seinen literarischen Texten. Selbstironisch ist seine Inszenierungskunst an einer anderen Stelle in Elisabeth II., in dem er sich selbst konterkariert : „Kaum haben die Leute Geld/kaufen sie sich diese alten scheußlichen Häuser/gehen in Dirndlkleidern herum und in Lederhosen/und machen sich mit Fleischhauern und Holzhackern gemein.“48 Tatsächlich erinnert diese Darstellung an den Lebensstil des Autors selbst, der in seinen abgelegenen Häusern gleich einem Eremiten sein Dasein zu fristen schien und mit dem Image des Landwirtes spielte.49 42 Vgl. Fellinger, Raimund/Huber, Martin/Ketterer, Julia (Hg.) : Thomas Bernhard ± Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Frankfurt am Main 2009, S. 819. 43 Ebd., S. 356. 44 Ebd., S. 390. 45 Ebd., S. 391. 46 Bernhard, Thomas : Elisabeth II. Keine Komödie. Frankfurt am Main 1987, S. 30. 47 Fellinger/Huber/Ketterer : Der Briefwechsel, S. 726. 48 Bernhard : Elisabeth II., S. 14. 49 Vgl. dazu Schmied, Wieland/Schmied, Erika (Hg.) : Thomas Bernhards Häuser. Salzburg 1995, besonders die Abbildungen S. 30 u. 33. Zur Bedeutung der Häuser Bernhards und seinem Lebensstil auch Höller, Hans : Thomas Bernhard. Reinbek 1993, S. 95f.
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Die eigentliche Erkenntnis aus den Interviewtexten scheint indes doch folgende zu sein : Da Thomas Bernhard sich an manchen Stellen selbst nicht ernst nimmt (und vermutlich auch vom Publikum nicht ernst genommen werden will), über seine Übertreibungen, grotesken Anmerkungen, Wortschöpfungen usw. lacht, wird einerseits der Inszenierungscharakter aufgezeigt, zugleich wird es damit auch unmöglich, „anhand dieser authentizität und glaubwürdigkeit vermittelnden quelle rückschlüsse auf sein literarisches schaffen zu ziehen oder sie gar als ‚schlüssel‘ zu dessen interpretation heranzuziehen“.50 Im Verlassen der Maske des Figurentopos, zeigt sich deutlich Bernhards Autorschaft, weswegen man jene Interviews auch abseits medialer Aspekte als Werkbestandteil auffassen muss.51 Daher sollten diese Texte nicht vordergründig als Erklärungsversuche für das Werk herhalten, sondern einer ausführlichen und umfangreichen Analyse zugeführt werden.52 Nur so könnte es irgendwann möglich werden, den Autor auch abseits seiner das Werk scheinbar so prägenden Wirkung zu verstehen. Thomas Bernhards Interviewmodus war oberflächlich betrachtet der eines heiteren Plauderers, der die Medienwelt durchschaute und sich bewusst gegen eine Vereinnahmung von Seiten der Rezipienten zu wehren wusste, indem er immer wieder sein Werk in den Vordergrund des Interesses stellte. Bernhard zitiert sich selbst durch die Aufnahme von Themen aus seinem Werk in den öffentlichen Statements und versucht damit eine noch stärkere Durchdringung seiner Bücher in der Öffentlichkeit zu bewirken. Diese Strategie funktionierte autark und war nicht gebunden an sein Image als Skandalautor. So mögen diese Interviews zwar wenig über sein poetologisches Verständnis und erst recht kaum etwas über den privaten Menschen Thomas Bernhard aussagen, sie sind aber hinsichtlich seines Selbstverständnisses als Autor umso klarer in ihrem Statement. Durch das Spiel mit den Masken seiner Figuren wird seine Autorschaft über die Texte hinaus getragen. Bernhards öffentliche Stellungnahmen erklären das Werk nicht, indem sie Beschreibungen seines Schaffensprozesses beinhalten, und damit zu einem Textverständnis beitragen wollen, sondern vielmehr dadurch, dass sie als Folie für seine Literatur dienen, um so ein Gesamtkunstwerk Thomas Bernhard zu erschaffen, das seine herausragende Stellung als Autor im literarischen Feld festigt und unterstreicht. In einem Interview sagt Bernhard : 50 Stiftner : Thomas Bernhards Interviews, S. 129, Kleinschreibung im Original. 51 Andreas Herzog konstatiert, dass Thomas Bernhard seine Interviews „als gleichberechtigten Teil seines Werkes betrachtete“. § Herzog, Andreas : „Vom Nutzen verlegerischer Wettkämpfe um Thomas Bernhard“, in : Neue deutsche Literatur, Nr. 476, 40/1992, S. 123§130, hier S. 130. 52 Der voraussichtlich in Kürze erscheinende Band XXII der Bernhard-Werkausgabe bei Suhrkamp stellt eine wichtige erste Etappe für diese Entwicklung dar.
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„Ich hätt’ wahrscheinlich alles getan, um berühmt zu sein.“53 Er fand den wohl prägnantesten Weg, indem er den empirischen Autor einer seits bewusst vom Werk abtrennte und sich andererseits als vermeintlich selbstreflexive Kunstfigur in die Literaturgeschichte einschrieb. Literaturverzeichnis Bayer, Wolfram/Fellinger, Raimund/Huber, Martin (Hg.) : Thomas Bernhard : Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Berlin 2011. Bernhard, Thomas : Alte Meister, hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2008 (= Werke, Bd. 8). Bernhard, Thomas : Elisabeth II. Keine Komödie. Frankfurt am Main 1987. Bernhard, Thomas : Auslöschung, hg. von Hans Höller. Frankfurt am Main 2009 (= Werke, Bd. 9). Billenkamp, Michael : „Provokation und posture. Thomas Bernhard und die Medienkarriere der Figur Bernhard“, in : Joch, Markus (Hg.) : Mediale Erregungen ? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009, S. 23§43. Billenkamp, Michael : Thomas Bernhard. Narrativik und poetologische Praxis. Heidelberg 2008. Fellinger, Raimund/Huber, Martin/Ketterer, Julia (Hg.) : Thomas Bernhard ± Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Frankfurt am Main 2009. Fellinger, Raimund : „,Antworten sind immer falsch.‘ Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard.“ In : Begleitheft zur DVD Monologe auf Mallorca und Die Ursache bin ich selbst § Die großen Interviews mit Thomas Bernhard. Filmedition Suhrkamp. Frankfurt am Main 2008, S. 4§37. Fleischmann, Krista (Hg.) : Thomas Bernhard. Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Frankfurt am Main. 2006. Franck, Georg : Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München 1998. Götze, Clemens : „,Es ist nachzulesen‘ oder Reden über das Schreiben. Zu Thomas Bernhards Meine Preise“, in : Huber, Martin/Judex, Bernhard/Mittermayer, Manfred (Hg.) : Thomas Bernhard Jahrbuch 2009/2010. Wien et al. 2011, S. 107§123. Götze, Clemens : „Die eigentliche Natur und Welt ist in den Zeitungen“. Geschichte, Politik und Medien im dramatischen Spätwerk Thomas Bernhards. Marburg 2009. Herzog, Andreas : „Vom Nutzen verlegerischer Wettkämpfe um Thomas Bernhard“, in : Neue deutsche Literatur, Nr. 476, 40/1992, S. 123§130. Höller, Hans : Thomas Bernhard, Reinbek 1993. 53 Thomas Bernhard im Interviewfilm Die Wasser- und die Feuerprobe von Norbert Beilharz aus dem Jahr 1978. Quelle : http ://www.youtube.com/watch ?v=Gr3qLsUKIwY, 29.04.2011.
Thomas Bernhards inszenierte Autorschaft
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Thomas Bernhard in der Schule ? – Naturgemäß trotzdem ! Mit einer Didaktisierung von Thomas Bernhards Viktor Halbnarr
I. In der Kulturzeit vom 31. 1. 2011 stellte Ernst Grandits einen neuen Buchtrend vor, „Faust in Farbe § Weltliteratur als Comics.“1 Verlegt, übersetzt, gezeichnet oder in Auftrag gegeben sind Comics oder Graphic Novels nach Vorlagen klassischer Texte von Dante bis Paul Auster, über Goethes Faust, Mary Shelleys Frankenstein, Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und Franz Kafkas Verwandlung. In verschiedenen Formaten, in unterschiedlicher Bild-Text-Kombination und vor allem mit einem breiten Spektrum an Texttreue „verarbeiten“ ComickünstlerInnen die Kanontexte : Der Faust des Zeichners Flix ist gänzlich modernisiert § er, ein Single, verliebt in eine Bioladenverkäuferin §, Kafkas Gregor Samsa ist der Held eines Horror-Comics und „aus Mary Shelleys ,Frankenstein‘ wird ein dreidimensionales Album des Schreckens“, so Eva-Maria Lemke in der Internetvorschau.2 Dass sich hier eine Marktlücke öffnet, die nicht nur die gezeichneten Romanzen von Prinz William und Kate Middleton anlässlich ihrer Vermählung ausnützen und die hoffentlich auch Elfriede Jelinek zu einem Wortausbruch anregen wird, bestätigten auch Vertreter anspruchsvoller Häuser wie des Suhrkamp Verlags, etwa Winfried Hörnig, der für den Herbst 2011 HandkeComics und Walser-Graphic-Novels versprach. Er legitimiert die Verlagsentscheidung zugunsten der von Ihnen vermarkteten AutorInnen und der RezipientInnen : „Was können wir mit den Stoffen, die wir ansammeln, noch anfangen ? Verfilmungen ? Ja. Hörbücher ? Natürlich. Und da sind Graphic Novels eine gute Art, die Leute an die Stoffe heranzubringen.“3 Seine Argumentation hört sich wie ein Bildungsauftrag mit einer deutlich gesellschaftspolitischen Akzentuie1 http ://www.3sat.de/page/ ?source=/kulturzeit/themen/151436/index.html, Zugriffsdatum : 1. 2. 2011. 2 Ebd. 3 Ebd.
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rung an : „Wir hoffen, dass wir andere damit zu unseren Stoffen bringen […] Dass sie zum Beispiel zu Thomas Bernhard sagen : Habe ich noch nie gelesen, habe ich mich gar nicht rangetraut, dann schaue ich mir doch mal dieses Graphic Novel an. Und dann werden sie merken, wie witzig, böse und humorvoll Bernhard ist. Und wagen sich vielleicht auch an ein Buch ohne Bildunterstützung.“4 Dass diese Sicht, die von einem Pädagogen stammen könnte, mehr von naivem Wunschdenken und verdecktem Profitgebaren inspiriert ist als von der Kenntnis der LeserInnen von anspruchsvolleren Comics und den Graphic Novels, die das per definitionem (dieser Textsorte) schon sind, darauf verwies bereits der Beitrag der Kulturzeit : Martin Jurgeit vermutete, die LeserInnen seien in der Regel nicht Jugendliche, sondern etwas ältere Lesende, durchaus mit bildungsbürgerlichem Hintergrund. Freilich kann sich dies in Zukunft ändern … Diese Meinung teilen scheinbar auch die BetreiberInnen und ComicproduzentInnen des Internetportals Drama Light. Sie stellen sich einen ähnlichen, aber viel expliziteren Auftrag, fügen bereits im Titel hinzu Literarische Klassiker im Comic Format5 und erklären dann ausführlich ihre Heftchenreihe : DRAMA LIGHT ist eine zeichnerische und literarische Expedition durch die Weiten der großen Klassiker und ein Brückenschlag zwischen den Künsten, Medien und Generationen in Form einer Comicedition mit etwa 10 Heften à 24 Seiten. Alte Stoffe im neuen Kleid Verjüngungskur und Wiederbelebungsversuch. Leicht konsumierbar § Schwer verdaulich. Leichtfüßig, schnell, stark, gewitzt und komisch. Auf Serien-Heftform komprimierte Literaturklassiker. Idee DRAMA LIGHT entsteht in Zusammenarbeit zwischen Autor und Zeichner. Es gilt, die bekannten Literaturklassiker sprachlich zu straffen, zu verschärfen und neu zu entdecken. Die Vielfalt der stilistischen Handschriften der unterschiedlichen Zeichner im Dialog mit sprachlich eigenständigen, zeitgenössischen Autoren garantiert Überraschung, Inspiration und Originalität. Zu jedem gewählten Stück entsteht ein Comic-Heft innerhalb dieser handlichen bis zu 10-teiligen Reihe, die sich sowohl an routinierte Theaterbesucher als auch an das Comicpublikum und Bilderbuchfreunde jeden Alters richtet. 4 Ebd. 5 http ://dramalightcomic.blogspot.com/, Zugriffsdatum : 8. 2. 2011.
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Zu einem bezahlbaren Preis soll DRAMA LIGHT sowohl in Theaterfoyers als auch in Buchhandlungen und Bibliotheken angeboten werden. Die Edition ist keine exklusive Kunstbuchreihe, sondern eine bezahlbare, bunte Klassiker-Serie in Sammlerqualität. Diese Reihe kann neue Zuschauer locken und alten Zuschauern neue Sichtweisen und unernste Einblicke in die Untiefen der vermeintlich durchschauten und strengen Klassiker ermöglichen. In diesem Projekt steht nicht die lineare Nacherzählung, sondern die moderne Adaption und der unmittelbare, freie Zugriff der Zeichner und Autoren im Vordergrund.6
Diese Reihe griff bereits zu Thomas Bernhard und ließ seinen Roman Der Keller von der Zeichnerin Kerstin Hille illustrieren.7 Nicht gekürzt oder adaptiert und vom Original abweichend ist die meines Erachtens gelungene Ausgabe des fünfseitigen Textes Thomas Bernhards Viktor Halbnarr. Ein Wintermärchen mit Zeichnungen von Alfons Schweiggert ; dabei handelt es sich um kein Comicformat, sondern eher um ein Bilderbuch oder sogar lediglich um ein Buch mit wenig Text und vielen Illustrationen.8 Dass es sich trotzdem bereits um eine Verarbeitung im Sinne S. J. Schmidts handelt,9 wird deutlich durch den Zusatz einiger Kodes, die im Originaltext nicht vorkommen. Akzentuiert, gegliedert, wird der linksseitig angeführte Bernhard-Text durch zwei verschiedene Fonts, verstärkt noch durch zwei Farben § grau/schwarz. Rechtsseitig sind die grob und stark überzeichnet wirkenden Zeichnungen von Schweiggert, die durchaus nicht so gewandte LernerInnen animieren könnten, zum (Filz)Stift zu greifen. Damit drücke ich keine Kritik an Schweiggerts Kunst aus, im Gegenteil, denn seine Überzeichnung und sein Stil vermitteln zusätzliche Informationen und motivieren zur Nachahmung, nicht des Stils, sondern seiner Eigenwilligkeit. Will man nicht den visuellen Sinneskanal anregen, sondern über das Hören wirken § was sich bekanntlich bei Bernhard wegen seiner Affinität zu rhythmi6 Ebd. 7 http ://dramalightcomic.blogspot.com/search ?q=keller, Zugriffsdatum : 8. 2. 2011. 8 Bernhard, Thomas : Viktor Halbnarr. Ein Wintermärchen nicht nur für Kinder mit Zeichnungen von Alfons Schweiggert. München 2006 : Der fünfseitige Text wird auf 16 Blätter unterschiedlicher Länge verteilt, deren Teile von 3 bis zu 16 Zeilen lang sind. 9 Den Begriff Verarbeitungshandlungen setzt Siegfried J. Schmidt von den Rezeptionshandlungen ab und meint damit alle Handlungen im System Literatur, die wiederum Texte (im weitesten Sinne) über literarische Texte produzieren. Dazu gehören meiner Ansicht nach geführte Unterrichtgespräche bei Didaktisierungen, die in und aus Texten resultieren, ebenso wie die durch Typographie hergestellte Deutung durch Schweiggert. Vgl. Siegfried J. Schmidt : Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main 1991, S. 324§372.
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scher und musikalischer Komposition besonders empfiehlt §,10 kann man zur Interpretation des Schauspielers Gert Voss greifen, der mit unnachahmlicher Hintergründigkeit Bernhards quasi-autobiographischen Roman Ein Kind liest.11 Oder lieber den Autor im Originalton wählen, wie er etwa die Kurzprosa in der eigenen Intonation zu Gehör bringt.12 Und damit sind wir bereits beim Thema dieses Beitrags, bei der These, die bernhardesk überspitzt im Titel zum Ausdruck kommt : Naturgemäß trotzdem sollte Thomas Bernhard ins Schulkurrikulum, sogar bei DaF, Eingang finden. II. Angepeilt wird hier zweierlei : Erstens wird zunächst ein Plädoyer mit entsprechenden Beispielen bzw. Beweisen für den Einsatz von Bernhard-Texten im schulischen, in erster Linie DaF-Kontext versucht. Und zweitens soll auch überprüft werden, ob der veränderte Blickwinkel der Literaturvermittlung Einsichten bringt, die auch der Forschung zugutekommen. Naturgemäß Bernhard ? Da zu Recht angenommen werden darf, dass Bernhards Texte im Fremdsprachenunterricht kaum begeisterte Aufnahme finden wie etwa Texte der Konkreten Dichtung, eines Ernst Jandl oder auch die besonders beliebten Gedichte Erich Frieds, denn die klischeehaften Einwände gegen Bernhard reichen von seiner pessimistischen und überkritischen Weltsicht mit entsprechenden Themen (Krankheit, Verfall, Zerfall, menschliche Unzulänglichkeit, Tod …) bis hin zu seiner sprachlichen Komplexität, sollen zunächst Argumente angeführt werden, die diesen Vorurteilen begegnen. Von den sieben am häufigsten zirkulierenden, etablierten Selektionskriterien (Ganztext, Kanonisierung § Kulturvermittlung, Textlänge, Verständlichkeit-Sprachkompetenz, Aktualität, Ansprechbarkeit der Thematik, alters-/entwicklungsgerechte Lektüre) kann die Hälfte ohne große Mühe erfüllt werden. Sucht man/frau nach Ganztexten, die 10 Viele Bernhard-ForscherInnen sind bekanntlich auf seine Affinität zur Musik und seine musikalischen Kompositionsprinzipien eingegangen. Hier werden lediglich zwei herausgegriffen, weil sie sich bei unseren Untersuchungen angeboten haben : Über Dimensionen des Hörens spricht Matassi, auch wenn in einem anderen Kontext § Matassi, Elio : „Dimensioni d’ascolto nell’opera di Thomas Bernhard“, in : Cultura tedesca, Roma 1994, S. 147ff., Voerknecht, Liesbeth : „Thomas Bernhard und die Musik : Der Untergeher“, in : Hoell, Joachim/Luehrs-Kaiser, Kai (Hg.) : Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten. Würzburg 1999. S.195§206. 11 Bernhard, Thomas : Ein Kind. Ungekürzte Lesung von Gert Voss. HR2. Frankfurt am Main 2010. 12 Etwa : Bernhard, Thomas : Ereignisse und andere Prosa. Originalaufnahmen. München 2003.
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zugleich eine für den Unterricht akzeptable Textlänge aufweisen, kann zwar nicht oder kaum zu einigen zentralen Büchern und Stücken Thomas Bernhards gegriffen werden, wie etwa der Prosa von Frost über Verstörung bis zu Wittgensteins Neffe, Holzfällen oder Auslöschung sowie den Stücken Vor dem Ruhestand, Ritter Dene Voss oder Heldenplatz, aber es gibt genügend kürzere Prosa, Erzählungen und sogar Kürzestprosa, die die bernhardsche „Archetypik“ oder zumindest Teile davon aufweisen und ebenso einige Kurzdramen bzw. Dramolette. Zu Ersteren gehören die beiden Kurzprosasammlungen Ereignisse und Der Stimmenimitator wie auch der Band Erzählungen,13 der neben längeren Texten das bereits erwähnte Wintermärchen mit dem Titel Viktor Halbnarr enthält, worauf ausführlicher eingegangen werden soll. In der Basisbibliothek Suhrkamp erschien ein Erzählungsband mit Kommentar von Hans Höller, der folgende kürzere Prosa enthält : Das Verbrechen eines Innsbrucker Kaufmannssohnes, Der Zimmerer, Zwei Erzieher, Die Mütze, Ist es eine Komödie ? Ist es eine Tragödie ? und Der Italiener ; empfohlen wird es im Internet bereits für die Sekundarstufe I.14 Handreichungen für den Unterricht gab der Cornelsen Verlag heraus.15 Trotz zahlreicher Kontroversen um den Autor, die häufig seine Texte und die Diskussion verdecken (wie dies etwa auch beim Mitternachtsklub im ORF2 anlässlich seines 80. Geburtstags passierte), dürfte außer Frage stehen, dass der Kanonisierungsprozess abgeschlossen ist und dass Thomas Bernhard, gerade für das nicht deutschsprachige Ausland, einen Klassikerrang innehat.16 13 Bernhard, Thomas : Erzählungen Kurzprosa. Hg. v. Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2003. 14 Bernhard, Thomas : Erzählungen. Text und Kommentar von Hans Höller. Frankfurt am Main 2001. 15 Bernhard, Thomas : Erzählungen. Handreichungen für den Unterricht, Unterrichtsvorschläge und Kopiervorlagen zum Buch, Audio book, CD-ROM. Hg. von Ulrike Ladnar. Berlin 2004. Beim Verlag Cornelsen auch noch : Bernhard, Thomas : Erzählungen. Originaltext und Werklesung ; Einführung in Leben und Werk ; Kommentar, Interpretation, Materialien. Multimediaausgabe auf CDROM. Berlin 2001. 16 In der Bilanzziehung über das Berlin-Symposion „Bernhard und die Weltliteratur“ stellt Hartmut Eggert die These auf, „daß ein Text kanonisch geworden ist, wenn er aus den Entstehungsbedingungen herausgelöst wurde ; wenn der Text autonom wird und Literaturhistoriker alle Hände voll zu tun haben, das Historische an einem Text wieder ins Bewußtsein zu bringen und ihn damit in Raum und Zeit genau zu plazieren.“ § Eggert, Hartmut : „Wann wird ein Autor kanonisch ?“, in : Hoell, Joachim/Luehrs-Kaiser, Kai (Hg.) : Thomas Bernhard ± Traditionen und Trabanten. Würzburg 1999. S. 229§231, hier S. 229. Dies wird auch angezeigt durch die Überwindung kultureller Sprachräume und die Bedeutsamkeit von Texten für und in anderen Kulturen. Die Einbindung solcher komplexer Texte § denn Eggert führt dies als eine Voraussetzung an § in nicht deutschsprachige Bildungsinstitutionen kann auch ein Kanonisierungssignal darstellen, freilich nur ein
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In seinem Fall bzw. dem seines Werks kann die Rezeption von nicht biographisch Eingeweihten, wie es gerade fremdsprachliche LeserInnen meist sind, den Vorteil mit sich bringen, dass sie sich den Texten in ihrem ästhetischen Wirken aussetzen und sie nicht vordergründig biographisch referenzialisieren, womit der Blick auf die literarischen Qualitäten in der Regel verhindert wird.17 Ein Nachteil, der dieses Positivum aufheben kann, ergibt sich häufig in der Klasse : Das Unbehagen der Lehrenden bei literarischen Texten § Bernhards Texte wollen Unbehagen hervorrufen § wird meist nicht angesprochen, nicht in seiner bewusstseinsverändernden Funktion erkannt, und mit allerlei Strategien zum Verschwinden gebracht. Neben einem starken Trend zur oft undifferenzierten und stereotypen Biographisierung kommt es bei DaF häufig zur Reduktion literarischer Texte auf „Kulturvermittlung“. In diesem Fall würden Bernhard-Texte daraufhin gelesen, warum sie für die österreichische Kultur typisch seien. Wie sehr dies zu Stereotypisierungen und inadäquaten Antworten führen kann, braucht wohl nicht besonders betont zu werden. Freilich kann an große Traditionslinien der österreichischen Literatur angeknüpft werden, etwa an den Sprachzweifel, die Sprachthematisierung, die zum Sprachschöpferischen und zur Sprachkritik führt, oder an die Kritik an Institutionellem, an das Ausstellen faschistoider Verhaltensweisen im Gesellschaftlichen und Privaten, an den latenten und manifesten Antisemitismus und seine Entlarvung, an die Zerrissenheit menschlicher Existenz durch das Aushaltenmüssen des Paradoxen, an Vaterlandslob und Österreichschelte mitsamt dem Nestbeschmutzerphänomen, an den Gegensatz von relatives, weil gerade weniger literaturwissenschaftlich kompetente und literaturhistorisch unbedarfte DaF-Lehrerinnen nicht ungern zu anspruchslosen, im Internet angebotenen Texten greifen, womit freilich keine allgemeine Kanonisierung erzielt wird. 17 Meiner Erfahrung nach werden in der DaF-Literaturunterrichtspraxis vor allem folgende Irrwege begangen : Lehrende und Lernende lieben es, Texte und Textstellen undifferenziert biographisch zu referenzialisieren, in unserem Fall würde man vor allem Thomas Bernhard als Skandalautor sehen, als den „Nestbeschmutzer“. Im Gegensatz dazu wird im Ausland der Zugang zu Bernhard über landeskundliche Stereotype favorisiert, was gleichfalls eine (andere) Art von Referenzialisierung darstellt. Die dritte Referenzialisierungsart verläuft über die Akzentuierung des „Inhalts“, literarische Texte werden auf Handlung, auf ihre Oberflächenstruktur reduziert. Alle drei Referenzialisierungstypen vermeiden es, auf die Literarizität der Texte einzugehen und begnügen sich mit außerliterarischen Antworten. Ein Ausweichmanöver vor der Literarizität stellt auch die Reduktion auf die Textsortenkompetenz dar, im Fall Viktor Halbnarrs auf das „Märchen“ oder die „Kurzgeschichte“. Sehr verbreitet ist auch die Vorliebe für das Eruieren von „rhetorischen Figuren“ und die Suche nach der „tieferen Bedeutung“, die zu klischeehaften Symbolisierungen greifen lässt. Irritierend ist in der letzten Zeit der gleichfalls stereotype Psychologismus, meist verbrämt durch „Empathieförderung“.
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vita activa und vita contemplativa, an philosophische Traditionen u.a. Interessant, aber vielleicht eher für StudienanfängerInnen als für GymnasiastInnen geeignet, wäre eine interkulturelle Lektüre von Bernhard-Texten auf dem Hintergrund von Claudio Magris’ Thesen aus seinem Buch über den Habsburgischen Mythos.18 Viel zu wenig erörtert wurden meiner Meinung nach interkulturelle Lesarten aus verschiedenen nationalen Kontexten, die den Alltag nicht deutschsprachiger Germanistiken bilden. Die Probleme bei der Textwahl kristallisieren sich indes um die nächste Gruppe von Kriterien : Thomas Bernhard gilt bekanntlich als ein sprachlich schwer zugänglicher Autor. Tatsächlich, vom Schwierigkeitsgrad und dem Repertoire grammatikalischer Strukturen her sowie auf dem Hintergrund des Europäischen Referenzrahmens GER, müssten für die meisten Bernhard-Texte zumindest Sprachkenntnisse auf B2-Niveau vorhanden sein, wenn nicht gar C1. Freilich ist diese meine Behauptung lediglich als oberflächliche Einschätzung zu lesen und nicht als Resultat entsprechender Untersuchungen,19 die gewiss zu triftigen Resultaten führen könnten. Wir haben es bekanntlich mit einem sehr häufigen Gebrauch des Konjunktivs, mit seitenlangen Sätzen, mit Kreisstrukturen, mit langen neologistischen Komposita aber auch mit zahlreichen anderen Verfahren zu tun, die die Verständlichkeit verzögern.20 Andererseits sind die lan18 Vgl. Magris, Claudio : Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Übers. von Madeleine von Pásztory. Salzburg 1966. 19 Diesbezüglich kann ich lediglich auf die Reaktionen einer verschiedensprachlichen Gruppe von Masters- und Doktoratsstudierenden an der Freien Universität Berlin zurückgreifen, die anlässlich eines Erasmus-Austausch-Seminars (April 2011) im Masterlehrgang Deutsch als Fremdsprache : Kulturvermittlung, den sprachlichen Schwierigkeitsgrad attestierte, der auch ihnen, darunter waren einige ErstsprachlerInnen, Verstehensschwierigkeiten bereite : besonders die von der Alltagssprache abweichende Wortwahl und Syntax, die langen und komplizierten Sätze, denen sich außerdem noch Erklärungen und Ergänzungen in Klammern zugesellen und die die ohnehin „bizarre“ Handlung begleiten. Sie fanden den Text irritierend und desorientierend. 20 Auch zu den Sprachstrukturen Bernhards gibt es eine Anzahl von Arbeiten ; erwähnt seien hier in erster Linie die Aufsätze von Anne Betten : „Die Bedeutung der Ad-hoc-Komposita im Werk von Thomas Bernhard, anhand ausgewählter Beispiele aus ,Holzfällen. Eine Erregung‘ und ,Der Untergeher‘“, in : Asbach-Schnitker, Brigitte/Roggenhofer, Johannes (Hg.) : Neuere Forschungen zur Wortbildung und Historiographie der Linguistik. Festgabe für Herbert E. Brekle zum 50. Geburtstag. Tübingen 1987. S. 69§90 ; Betten, Anne : „Thomas Bernhards Syntax : keine Wiederholung des immer Gleichen“, in : Donhauser, Karin/Eichinger, Ludwig M. (Hg.) : Deutsche Grammatik ± Thema in Variationen. Festschrift für Hans-Werner Eroms zum 60. Geburtstag. Heidelberg 1998, S. 169§190 ; Betten, Anne : „Thomas Bernhard unter dem linguistischen Seziermesser : Was kann die Diagnose zum Werkverständnis beitragen ?“, in : Huber, Martin/Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Wissenschaft als Finsternis ? Wien et al. 2002, S. 181§194. Vgl. auch die Beiträge von Otto
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gen Sätze ausnehmend genau gegliedert oder in den Theaterstücken auf mehrere Zeilen „zerhackt“. Das Einkreisen eines Sachverhalts mit Wiederholungen und Variationen, die dann oft sprachliche Eigendynamik annehmen, kennen wir in weniger subtiler und kreativer Weise aus dem Alltag. Daraus ist uns auch die mehrfache Vermitteltheit von direkten Aussagen bekannt, die für Bernhards Texte so typische Verschachtelung und Filtrierung direkten Sprechens. Bernhards eigenwillige Komposita haben häufig einen komischen Effekt und animieren zum Selbstproduzieren und zum Sprachspiel.21 Was die LernerInnen jedoch besonders monieren könnten, weil sie mit trivilalliterarischen oder trivialmedialen Mustern der Rezeption sozialisiert sind, ist das Fehlen einer einsichtigen Handlung und eines spannungserzeugenden Geschehens. Dieses wird auf die Bewegung der Sprache transponiert, auf ihren Rhythmus, den Sprachgestus, die Argumentation, was LernerInnen nicht leicht zu vermitteln ist. (Auch da dürften sich Hörbücher bzw. akustische Präsentationen, auch der Lernenden selbst, bewähren.) Die Lehrenden können zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden : Entweder halten sie Ausschau nach Texten Bernhards, die ein Minimum dieser zwar für seine Schreibweise charakteristischen Textstrategien enthalten § im Stimmenimitator beispielsweise kann eine solche Kurzprosa gefunden werden § oder sie greifen zu Didaktisierungsverfahren, die die Spannungserzeugung und §auflösung in der Sprache buchstäblich sinnlich, leiblich, erfahren lassen, etwa zum Einüben des Vortragens, der Rezitation § mit verteilten Stimmen oder nach musikalischen Prinzipien. Besonders anregend und motivierend wirken die zahlreichen „Self- talks“ der Erzählerfiguren oder Figuren selbst : In Ein Kind, dem letzten Band der sog. Autobiographie, begeistert zu Beginn die furiose Selbstbewunderung und nach dem Unfall die Selbstpeinigung des Jungen, die gerade in ihrer extremen Polarisierung und Radikalität für junge Lesende ansprechbar und nachvollziehbar sein müsste. Die vielen Hindernisse, die Thomas Bernhard einem Lederer : „Syntaktische Form des Landschaftszeichens in der Prosa Thomas Bernhards“ und Jens Tismar : „Thomas Bernhards Erzählerfiguren“, in : Botond, Anneliese (Hg.) : Über Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 1970, S. 42§80 ; sie gehen Satzstrukturen nach. Für den gewählten Text bietet sich in erster Linie Ingrid Petraschs überarbeitete Dissertation mit dem Titel Die Konstitution von Wirklichkeit in der Prosa Thomas Bernhards ± Sinnbildlichkeit und groteske Überzeichnung. Frankfurt am Main et al. 1987 an, weil es darin auch ein Unterkapitel zu Viktor Halbnarr gibt § S. 182§212. 21 Vgl. dazu den in diesem Band publizierten Beitrag von Johann Georg Lughofer, S. 395§420. In Victor Halbnarr gibt es nur ein einziges neologistisches Kompositum, nämlich „Durchdenschneewatekünste“ § Bernhard : Erzählungen, S. 163, aber man könnte es durchaus zum Anlass nehmen, weitere Komposita dieser Art zu bilden und damit zu spielen.
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eingängigen Verstehen in den Weg stellt, müssen nicht nur berücksichtigt werden, sondern können der Didaktisierung bereits die Richtung weisen, d.h. es sind Schritte und didaktische Mittel einzuplanen, die das Globalverständnis ermöglichen. Freilich führen solche Texte die Notwendigkeit eines „verzögerten Lesens“ (und der entsprechenden Kompetenzaneignung) buchstäblich vor Augen § schon darin kann ein Grund für ihre Integration in den DaF-Unterricht bestehen. Das führt uns § wenn wir das Aktualitätspostulat bei Seite lassen, weil es ohnehin von Bernhard als Vertreter der zeitgenössischen Literatur erfüllt wird § zum Heikelsten : Dem Anspruch nach „Ansprechbarkeit“ der jungen Lesenden gerecht zu werden. Gerade hier wird deutlich, wie stark Selektionskriterien von vorgeschriebener Literatur zwar zum Teil auf Erfahrungen und wissenschaftlichen Befunden fußen, bei näherer Betrachtung jedoch meist Projektionen dessen sind, was sich Lehrende oder VerfasserInnen von Kurrikula und Lehrwerken als besonders attraktiv für SchülerInnen vorstellen. Und diese sprechen ziemlich eindeutig gegen Bernhard, weil er alles andere als vordergründig komische, gefällige und leicht konsumierbare Literatur schreibt, was die Klischeevorstellung von den Interessen der SchülerInnen sein dürfte. Gerade Deutschlehrende im Ausland haben es nicht leicht ; ihre Sprache schwindet immer mehr aus dem Angebot, denn sie mache zu wenig Spaß und sei zu schwer. Deswegen verwundert es nicht, dass DaF-LehrerInnen entweder gar nicht zu Literatur greifen oder zu Texten von dubioser Qualität. Bernhards Vorliebe für existenzielle Themen, für Krankheit, Verfall, Tod, für monomane, einsame, geistig und körperlich verkrüppelte Figuren, für exzessives Sprechen, für die Verdammung von etablierten und unhinterfragten Werten und die Entblößung akzeptierter Verhaltensweisen sowie politisierter Ideologien, hemmt seine Aufnahme in den Fremdsprachenunterricht. Dagegen kann jedoch argumentiert werden, dass sein rücksichtsloses SichAufbäumen gegen die „Normalität“, gegen Blindheit, Dummheit, Borniertheit, Mittelmaß, Selbstzufriedenheit, was sich unter anderem auch in den bitteren, ätzenden Aussagen seiner Figuren bzw. Erzähler zur Schule und institutionalisierten Bildung ausdrückt,22 so manche junge Lesende ansprechen und ihren eigenen Zweifel reflektieren könnte. Gerade das Widersprüchliche, Ambivalente, Exzessive, das kein Risiko scheuende Radikale der Bernhard-Texte bietet zumindest jenen Jugendlichen, die von der Absurdität des Lebens irritiert werden, Identifikationsmöglichkeiten an. Ähnliche Projektionsflächen folglich wie etwa Kafkas 22 Etwa die überzeichneten Darstellungen und Tiraden des Erzähler-Großvaters gegen die Schule und die Lehrer in § Bernhard, Thomas : Ein Kind. Salzburg 1998, S. 36 und S. 75 ; Bernhard, Thomas : Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg 1975, S. 108, S. 127 und S. 128.
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oder Becketts Texte, die nun meist unhinterfragt zum Kurrikulum gehören und sich erstaunlicherweise immer wieder großer Beliebtheit erfreuen § gerade auch bei WenigleserInnen. III. Eine reale Falle, in die Lehrende regelmäßig tappen, ist die Verharmlosung, Einebnung, Harmonisierung oder gar Verniedlichung des Exzessiven, Radikalen und Fremden. Die Unterrichtssituation verleitet aus mehreren Gründen dazu ; unter anderem will man/frau keinen Aufruhr, der die Eltern an den Plan ruft. Bernhards Schimpftiraden verschiedenster Weltanschauungen, politischer Ausrichtungen, Berufszweige, Institutionen und des Katholizismus könnte durchaus § es ist ja oft genug gemacht worden § eins zu eins gelesen und als direkter Angriff (miss ?)verstanden werden. Ich selbst bin auch nicht vor diesen Befürchtungen gefeit ; bei der Relektüre einiger Texte Bernhards, die hier in die engere Wahl aufgenommen wurden, ertappte ich mich, wie ich sie nach dem Kriterium öffentlicher Akzeptanz abcheckte. Als Erzieher/in wird man/frau in die paradoxe Position gedrängt, Bewusstmachung und Kritik zwar anzustreben, jedoch diese gleichsam zu Häppchen portioniert und handlich abgepackt zu vermitteln. Infolgedessen entschied ich mich, für die oberen Klassen des DaF-Unterrichts im Gymnasium (österr. Oberstufe, dt. Sekundarstufe II) von DaF als 2. Fremdsprache (vier Jahre Deutsch) als kürzeren Text Viktor Halbnarr vorzuschlagen und als umfassenderen Text Ein Kind. Hier kann etwas ausführlicher lediglich auf den erstgenannten eingegangen und das Konzept einer Didaktisierung nach meinen eigenen literaturdidaktischen Vorgaben angedeutet werden. Der Kommentar der Gesamtausgabe klärt den Entstehungshintergrund und führt an, es handle sich um eine Auftragsarbeit : Viktor Halbnarr entsteht 1965 auf Anfrage von Gertraud Mittelhauve, die Bernhard von ihrer Zeit beim S. Fischer Verlag kannte und ihn nun um einen Beitrag für den Sammelband mit dem Arbeitstitel Deutschsprachige Autoren erzählen (ihren) Kindern bittet. Sie erwartet dabei etwas anderes „als die üblichen Gute-Nacht- oder Tanteratei-Geschichten“ § Brief an Bernhard, 10. 9. 1965, und vielleicht hat gerade das Bernhard dazu bewogen, ihr noch im November seinen Text zu schicken.23
23 Bernhard : Erzählungen, S. 569f.
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Ausführlichere Analysen und Interpretationen bieten Josef Donnenberg, Ingrid Petrasch und Peter Kahrs ; Donnenberg konzentriert sich auf Bernhards Text als „Kindergeschichte“ und stellt damit auch einige didaktisch relevante Fragen ; Petrasch unternimmt zunächst eine erkenntnistheoretische Deutung : „Viktor Halbnarrs Bestreben, das ‚Beste‘ zu erlangen, stünde folglich für ein Streben nach absoluter Erkenntnis.“24 und versucht sich dann an einem Textvergleich zwischen Bernhards Text und Kafkas Ein Landarzt ; Kahrs Lektüre ist besonders genau und umfassend, er bietet und diskutiert widersprüchliche Deutungen und, was meines Erachtens besonders verständnisfördernd wirkt, er versucht auch den Leseakt und seine Figurierung im Text nachzuzeichnen. Alle drei Untersuchungen bieten eine gute Basis und Hilfe für die Lehrenden und ihre Textbearbeitung in der Klasse, die freilich weniger literaturwissenschaftlich und stärker literaturdidaktisch vorgehen muss. Infolgedessen sind die beiden umfassenderen Behandlungen des Texts von Petrasch und Kahr weniger in ihren Deutungsansätzen für den Unterricht brauchbar als in der genauen Textanalyse und im Beweis der Vielfalt möglicher Lesarten mit fundierter Argumentation. Mein Ansatz unterscheidet sich davon, er ist, wie ich meine, stärker unterrichtsorientiert, aber eben nur ein möglicher unter anderen. Die beiden bereits veröffentlichten sind vielleicht anspruchsvoller und intensiver mit Bernhard-Thematiken verbunden, können aber von den Lehrenden eher als analytische Hilfen eingesetzt werden. Mit der Aussage, dass bei der Einbindung von Bernhard-Texten intensiver der literaturdidaktische und weniger der literaturwissenschaftliche Aspekt beachtet werden soll, scheine ich meine über fünfzehnjährigen verschieden intensiven Bemühungen um einen theoretisch fundierten, literaturwissenschaftlich kohärenten, literarische Texte nicht nivellierenden und referenzialisierenden literaturdidaktischen Zugang in Frage zu stellen. Meine Bestrebungen resultieren in einem Modell spezifisch literarischer Kompetenzen, geordnet nach der Arten der Fremdheit, die literarische Texte hervorrufen.25 Eingehender kann darauf in diesem Kontext 24 Petrasch : Konstitution von Wirklichkeit, S. 183f. 25 In meinem Modell literarischer Kompetenzen systematisiere ich diese nach den Fremdheitsarten, die bei der Literaturvermittlung im DaF-Kontext detektiert werden können : Es handelt sich zunächst um vier system- und textinhärente Fremdheiten, die systembedingte, die funktionale, die strukturelle und die rezeptive, sowie um drei textexterne Fremdheiten, die diskursive, kulturelle und situative. Eingehender dazu : Šlibar, Neva : „Transformationsraum Literaturunterricht ? Literarische Kompetenzen als Herausforderung und Chance“. in : Pismo, Jg. 6, 1/2008, S. 187§203 ; Šlibar, Neva : “Empowerment through literature in the language classroom“, in : Tidskrift för lärarutbildning och forskning, Jg. 15, Nr. 2/2008, S.. 73§85 und Šlibar, Neva : „Die siebenfache Fremd-
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nicht eingegangen werden, wesentlich dafür ist jedoch, dass darin Literarizität stark akzentuiert wird und mit Hilfe der Bewusstmachung dessen, was Literatur ist bzw. sein kann und der genauen Beschreibung sozialisierter und anzueignender Fähigkeiten bzw. Kompetenzen Lehrende und Lernende ermächtigt werden, mit literarischen Texten umzugehen, so dass Lust und Reflexion einander ergänzen und nicht auslöschen. Insofern gilt es zwar handlungs- und produktionsorientierte Methoden aufzurufen und zu ergänzen (deshalb meine diesbezügliche literaturdidaktische Akzentsetzung bei Thomas Bernhard), aber eben nicht verniedlichend und fremdheitsauflösend, sondern die Fremdheit bewusstmachend. IV. Doch zurück zu Viktor Halbnarr ; die Handlung der fünfseitigen Erzählung ist rasch zusammengefasst : Sie setzt ein mit der komprimierten Exposition des Erzählers, eines Arztes, der zu einem Kranken im Nachbarort gerufen wurde : „Über einen Mann, müßt ihr euch vorstellen, der Viktor Halbnarr hieß und keine Beine mehr hatte, stolperte ich gestern nacht auf dem Weg durch den Hochwald.“26 Der Invalide hatte mit einem Mühlenbesitzer um 800 Schilling gewettet, er werde in einer Stunde trotz seiner Behinderung, kältestem Winter, tiefem Schnee und der Nacht in einer Stunde durch den sogenannten Hochwald von Traich nach Föding kommen, obwohl ihm die Unsinnigkeit seines Unternehmens bewusst war. Wegen der Eile seien ihm beide Holzprothesen gebrochen und er sei dem Erfrierungstod, den ihm schon der Mühlenbesitzer vorausgesagt hatte, preisgegeben gewesen. Der Arzt rettet ihn nicht nur, sondern gewinnt für ihn auch die Wette, da er ihn trotz des immer schwereren Gewichts nach Föding trägt und rechtzeitig vor der Kirche abliefert. Damit kann sich Viktor Halbnarr seinen Wunsch nach einem Paar Juchtenstiefeln erfüllen, doch neue Prothesen kosten ihn das Dreifache. Die anekdotenartige Geschichte endet mit der Frage des Erzählers : „Was für ein Mensch, dachte ich im Hochwald, der mir auf diesem Heimweg so zusetzte, daß ich glaubte, ich müsse umkommen, ist der Halbnarr ? Ist der verrückt ?“27 Und es ist diese Frage, die nach dem märchenhaft anmutenden Happy-End der gewonnen Wette (mitsamt der Lebensrettung) den Kristallisationspunkt heit der Literatur als Grundlage eines Referenzrahmens literarischer Kompetenzen (für den DaFLiteraturunterricht)“, in : Estudios filológicos alemanes, Jg. 17, 2009, S. 325§337. 26 Petrasch : Konsitution von Wirklichkeit, S. 183f. 27 Bernhard : Erzählungen, S. 374.
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sowohl des Textverstehens wie auch der Didaktisierung bilden kann : Nicht nur vom Thema her, der Bewusstmachung des Widerspruchs zwischen der Erlangung eines kurzfristigen Ziels, das auf Kosten eines nachhaltigen geht, folglich der Unlogik menschlicher Handlungsweise, die vielleicht gerade dadurch den Menschen das Gefühl des Lebendigseins gibt.28 „Ich habe auf einmal vergessen, daß ich Holzbeine habe, keine eigenen, ich habe geglaubt, daß ich wieder eigene Beine habe !“29 ruft Viktor Halbnarr aus. Sondern auch von jenem rezeptiven Unbehagen, das Lehrende und Lernende bei solchen Texten ergreift und das in der Regel unartikuliert bleibt. Die Unterrichtsziele wären folglich nicht die traditionellen literaturhistorischen, „landeskundlichen“ oder interpretativen : Bernhard geht es, wie Donnenberg argumentiert, ab dem ersten Satz und seiner „herrischen Anweisung“30 „müßt ihr euch vorstellen“31 um Bewusstmachung : Der Autor will „weder unterhalten noch freundlich belehren, sondern aufklären, nachdenklich, betroffen machen“.32 Ist das denn nicht auch eine sehr traditionelle und weit verbreitete Sicht von Literatur in der Schule ? Mir geht es indes um eine andere Akzentsetzung : Bernhards Text bietet sich paradigmatisch an, um drei literarische Kompetenzen bzw. Teilkompetenzen zu entwickeln und zu fördern. Zunächst eine diskursive Kompetenz, die letztlich eine Schlüsselkompetenz darstellt, die Fähigkeit nämlich zur Identifizierung, Verbalisierung und dadurch Verarbeitung von Emotionalem, von Gefühlsreaktionen und Geschmacksurteilen ; zusätzlich zur Äußerung sollen die Spontanreaktionen der LernerInnen mit dem Text begründet werden, und zwar mit dem Eruieren der Brüche, der Ungereimtheiten, des Unlogischen, Fremden, Unverständlichen, Rätselhaften. (Das erscheint bei Bernhard-Texten, auch bei diesem spezifischen besonders nötig, denn sie kön28 Meine Deutung mag zwar lebenspraktisch einsichtig sein, Petrasch wie auch Kahrs argumentieren jedoch komplexer und Bernhard gemäßer, weil sie den Text mit Bernhards Erkenntnisproblematik, mit dem Gegensatz von rationalem und metaphysischen Denken usw. verbinden. Kahrs fasst zusammen : „Einer sinnbildlichen Lesart, in der die Vermessenheit eines Strebens nach absoluten Werten § oder im übertragenen Sinn : nach absoluten Erkenntnissen § thematisiert wird, steht eine Lektüre gegenüber, in der sich das ,Verrückte‘ als das ,Gesunde‘ enthüllt, die angebliche Normalität des Erzählers und Arztes dagegen als pathologisch.“ § Kahrs, Peter : Thomas Bernhards frühe Erzählungen. Rhetorische Lektüren. Würzburg 2000, S. 82. 29 Ebda., 370f. Diese lebensstimulierende Wirkung von Krankheiten oder Behinderungen spielt in Bernhards Texten häufig eine wichtige Rolle, die auch immer wieder untersucht wurde. 30 Donnenberg, Josef : Thomas Bernhard (und Österreich). Studien zu Werk und Wirkung 1970± 1989. Stuttgart 1997 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik ; Nr. 352 : Unterreihe Salzburger Beiträge ; Nr. 32, S. 92. 31 Bernhard : Erzählungen, S. 370. 32 Donnenberg : Bernhard, S. 94.
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nen verwundernde Ablehnung hervorrufen.) Erstens wird dadurch die Wahrnehmung der Lernenden geschärft (kognitive Kompetenz), auch als Gegensteuerung zur etablierten und mediensozialisierten Harmonisierungsrezeption, zweitens wird Literatur als Bereich empfunden, der die Grenzen zum Unfassbaren zu erweitern sucht ; und als drittes soll der rhythmischen Struktur und ihrer Funktion im Text Aufmerksamkeit gewidmet werden, wobei produktionsorientierte Übungen zum Einsatz kommen. Das globale Unterrichtsziel peilt an, die Fremdheit literarischer Texte bewusst zu machen und nicht in Interpretationen aufzulösen ; zugleich sinnlich, leiblich, Bernhards Schreibweise zu erfahren und damit einen anderen als einen inhaltbezogenen Blick auf Literatur zu vermitteln. Ein Didaktisierungsvorschlag samt Beschreibung der einzelnen Phasen wird hier skizzenhaft angeboten : Der Unterricht wird in fünf Phasen gegliedert, die Motivation, den Texteinstieg, die Textbearbeitung, die Überprüfung und den Transfer bzw. die „Produktion“. 1. Motivation/Entlastung : Als Motivierungstexte und zur Einstimmung auf die literarische Funktion der Darstellung des Unfassbaren bietet sich Kafkas Kürzestprosa an, etwa Gib’s auf ! oder Kleine Fabel. (Auch Robert Walsers Kurztexte können eingesetzt werden, vor allem weil auch diese moderne märchenhafte Elemente aufweisen.) Will man indes bereits zu Beginn rhythmische Akzente setzen, gibt es genügend Rap und andere Songs, die gleichfalls Widersprüche der Lebenserfahrung thematisieren und auf YouTube verfügbar sind § recherchieren können die jungen Leute selbst, sie kennen sich ohnehin meist besser mit der U-Musik aus. Wenn man vom Sozialisierten ausgeht, lässt sich auch das Genre Märchen oder Kindergeschichte ansprechen, um dann die Differenzen aufzuzeigen.33 Auf YouTube gibt es eine ganze Reihe von Interviewclippings zu Bernhard, die in den Kontext passen, so seine Aussagen über Kinder.34 2. Texteinstieg : Die Textlektüre darf nicht als Hausaufgabe erfolgen, sondern in der Klasse, möglichst mit einer Aufnahme oder durch gut vorbereitetes Vorlesen. Bedauerlicherweise habe ich bisher weder im Handel noch im Internet eine professionell gesprochene Textlektüre ausfindig machen können. Um die Hör33 Dazu haben sich auch bereits Donnenberg und Kahrs geäußert § vgl. Donnenberg : Bernhard, S. 95, Kahrs : Bernhards Erzählungen, S. 69f. und S. 83f. Es gibt noch einen Text Thomas Bernhards, der bereits im Titel das Märchen aufruft und gleichfalls von stereotypen Vorstellungen abweicht : Von sieben Tannen und vom Schnee … Eine märchenhafte Weihnachtsgeschichte, in Bernhard : Erzählungen, S. 466§469. 34 http ://www.youtube.com/watch ?v=stl71Zdl_ME&NR=1, Zugriffsdatum 15. 2. 2011.
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fertigkeit anzuregen und zugleich die Vortragskompetenz zu fördern, kann der/ die Lehrende sich selbst vorbereiten, um den Text vorzulesen oder es kann eine kleine Gruppe von geeigneten SchülerInnen ausgewählt werden, die Viktor Halbnarr vorliest § davor muss freilich miteinander geübt werden. Alfons Schweiggerts Bilderbuch kann gleichfalls eingesetzt werden falls man/frau die visuelle Präsentation vorzieht. Die gemeinsame Rezeption in der Klasse ist zwar zeitaufwendiger, aber sie garantiert das Textaufnehmen, fördert das Hören und dürfte nicht länger als 17 Minuten in Anspruch nehmen. Ein besonderes Problem stellt die Wortschatzarbeit dar : Keinesfalls sollten die Lernenden nach dem Hören/Sehen des Textes nach unbekannten Wörtern gefragt werden, dies zerstört nämlich den Gesamteindruck. Am besten erfolgt die Klärung des Unbekannten bereits vor den Literaturstunden, in einem anderen Kontext und als Vorarbeit. Wichtig sind die Reaktionen auf den Text, wobei besonders darauf geachtet werden soll, dass Negatives geäußert werden darf, denn darauf baut die Didaktisierung auf. Diese Äußerungen werden sich zum einen auf den Texteindruck beziehen, d.h. die emotionalen Reaktionen zu verworten suchen, zum anderen erste Deutungsansätze enthalten. Diese sind unbedingt möglichst an der Tafel oder auf einem im Klassenzimmer befestigten Plakat, das bis zum Schluss der Textbearbeitung für alle sichtbar ist, festzuhalten. 3. Textbearbeitung § Globalverstehen : Damit sind wir bereits bei der Textbearbeitung, denn zwischen diesen beiden Unterrichtsphasen braucht es keine strenge Trennung geben. Da der Text bekanntlich Unbehagen und Unfassbarkeit unmittelbar vorführt und thematisiert, kann dieses konkret festgemacht werden, was es viel leichter macht, als auf Wirkungen sprachlicher Strukturen einzugehen. Alle drei Figuren wundern sich über die Wette und ihr eigenes Handeln, allen voran der Protagonist Viktor Halbnarr ; aber unverständlich handelt ebenso der Ich-Erzähler, der in einer Christophorus-Parodie (zwei Mal wird im Text auf das zunehmende Gewicht des Getragenen verwiesen)35 Halbnarr schultert und die unsinnige Wette zu Ende führt. Ähnlich wie in Musils Die Amsel scheint das Erzählen selbst die Sinnstiftung darzustellen.36 Die Offenheit des Schlusses drängt zur wiederholten Lektüre mit der Kennzeichnung von Schlüsselsätzen und Brüchen, die die Rezeption verständlich machen. Erstaunlich wirkt auch Bernhards Darstellung des „Krüppels“, des Invaliden, bekanntlich einer seiner Leitfiguren : Der Text lässt keine Empathie zu ; so sehr sich Viktor Halbnarr seiner Behinde35 Bernhard : Erzählungen, S. 372 und S. 374. 36 Vgl. dazu Kahrs : Bernhards Erzählungen, S. 82§84.
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rung bewusst ist, so unmissverständlich will er als Unversehrter, als „normaler“ Mensch leben und behandelt werden aber auch wieder nicht. Doch gehen wir der Reihe nach vor ; bei der Textbearbeitung, die übrigens in DaF-Lehrwerken immer zu kurz kommt, unterscheiden wir Global- und Detailverstehen. Da ersteres gerade bei DaF-LernerInnen meist größere Probleme bereitet als die Detailsicht (die geringere Sprachkompetenz favorisiert das Sehen der Einzelheit und nicht das „Gesamtverstehen“ im Unterschied zur Erstsprachenkompetenz), sollte dem mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Für Bernhard-Texte ist Viktor Halbnarr handlungsreich : die Wette, das Lebensrisiko, die Todesgefahr nachts im Hochwald, die Rettung, der Gewinn der Wette und die Frage nach deren Sinn. Außerdem enthält der erste Satz die Exposition : „Über einen Mann, müßt ihr euch vorstellen, der Viktor Halbnarr hieß und keine Beine mehr hatte, stolperte ich gestern nacht auf dem Weg durch den Hochwald.“37 Dann wird es allerdings bereits etwas undurchsichtiger : „Noch dazu hatte ich es besonders eilig, denn ich bin ja neben meiner Vorliebe für das Nichtstun auch noch Arzt“.38 Die folgende Seite elaboriert diesen ersten Orientierungssatz bis zur Erwähnung der Wette, von der in der indirekten Rede und in längeren, mit kommentierenden und relativierenden, in Klammern gestellten Einschüben berichtet wird. Es macht wegen der schwierigen sprachlichen Strukturen, die dem Globalverstehen Hindernisse bereiten, durchaus Sinn, die Aufgabe, möglichst in Gruppenarbeit, zu stellen, die Handlung kurz zusammenzufassen, bzw. Visualisierungsmittel einzusetzen, um die Handlungsfolge sichtbar zu machen (dies kann entweder mit entsprechenden Zeichnungen, schematischen Darstellungen an der Tafel oder in Posterform, oder sogar mit dem Vorspielen vor der Klasse geschehen). Gruppenarbeit erlaubt eine Wettbewerbssituation sowohl in Hinsicht auf die größte Prägnanz (oder aber später auf die größte Detailliertheit) hin. Daraufhin oder zugleich kann das Augenmerk auf die epischen Grundkategorien, Figuren § Zeit § Raum, gelenkt werden ; die Figurenkonstellation (Viktor Halbnarr39 § Arzt/Helfer bzw. Retter/Erzähler § Mühlenbesitzer) ist ebenso be37 Bernhard : Erzählungen, S. 162. 38 Ebd. Was es mit dem Nichtstun an sich hat, bleibt offen ; vielleicht eine Reaktion auf die Lehren des Großvaters Johann Freumbichler ? In seinem Lehrgedicht für den Enkel findet man ein Gedicht mit dem Der letzte Sinn des Lebens, in dem es heißt „Arbeit heißt dies Wörtlein !“ § Freumbichler, Johannes : Erziehung zu Vernunft und Fröhlichkeit. Briefe in Knittelversen für die Jugend von Sechzehn bis Sechzig. Waging am See 2003, S. 74. Kahrs meint, das Nichtstun verweise darauf, dass der Arzt den „Verdrängungstypus“ verkörpere § Kahrs : Bernhards Erzählungen, S. 81. 39 Beredt ist auch der Name des Titelhelden Viktor Halbnarr und er enthält in verdichteter Form die Aporie des Textes. Vgl. dazu Kahrs : Erzählungen, S. 78f.
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redt wie die Zeitkomponente (Zeitpunkt des Geschehens : dunkle Winternacht, Wettlauf mit der Zeit) und die Raumsymbolik (besonders der Hochwald, der Treffpunkt auf dem Kirchplatz). In dieser Phase wird jedoch noch nicht auf die Wirkungen und möglichen konkreten und übertragenen Bedeutungen der Elemente eingegangen. Will man textgebundener vorgehen, dann können die zentralen, handlungsbestimmenden paar Sätze angestrichen werden, wobei es interessant sein kann, wie unterschiedlich oder ähnlich die Gruppenresultate sind. Wenn gleichsam der Handlungsfaden eruiert ist, kann im Gegensatz dazu auf die unverständlichen Textstellen eingegangen werden : Diese werden besonders zahlreich sein und können zum Teil auch aus dem Mangel sprachlicher Kompetenz resultieren. Wenn die Lernenden angehalten werden, den Text in die direkte Rede und in vereinfachter Form umzuschreiben, besteht zwar die Gefahr, dass Bernhards Text auf die Oberflächenstruktur reduziert wird, aber es kann auf dem Hintergrund dieser Reduktion zweierlei angepeilt werden : Zum einen kann sie als Folie dienen im Vergleich zu Bernhards Text und zur Frage, warum er ihn so spezifisch gestaltet hat und wie diese seine Strukturmerkmale Bedeutungen herstellen, zum anderen kann in der Phase der Weiterverarbeitung der in Dialogen verfasste SchülerInnentext als Basis für eine Dramatisierung oder als Skript für eine Videoverfilmung herhalten. 4. Textbearbeitung § Detailverstehen : Beim Detailverstehen konzentrieren sich die Gruppen zunächst auf die wichtigsten epischen Kategorien Figuren § Zeit § Raum, die bereits beim Globalverstehen identifiziert wurden, und versuchen, mit Textbelegen über die Funktionen und Wirkungen dieser Elemente zu reflektieren, dabei können sie durchaus auch Genrewissen, etwa des Märchens einbringen. Da es den Lernenden meist leichter fällt, auf übertragene Bedeutungen, auf Symbolisches, einzugehen und sie auch viel Phantasie dabei entwickeln können, wird diese Diskussion dem Nachgehen auf die offenen, unverständlichen, unlogischen, unmotivierten, also erklärungsbedürftigen Textstellen (die sie bereits Ende der letzten Phase gefunden haben) mit der Suche nach möglichen Antworten im Text selbst, vorgezogen. Es ist zu hoffen, dass diese sehr konkreten, auf den Textsinn hinführenden Aufgaben eine Diskussion in Gang bringen, die auf das Aushandeln einiger Deutungen hinzielen. Nicht angepeilt wird eine einzige, „endgültige“ Interpretation bzw. Lesart, da auch die drei, von Petrasch, Kahrs (mehrere Lesarten) und mir angebotenen Verständnisse die Mehrdeutigkeit des Textes nicht aufheben und so manches Motiv, etwa die Vorliebe des Arztes für das Nichtstun, offen bleiben. Trotz des prinzipiellen Bemühens um die Erhaltung der Fremdheit des literarischen Textes und seiner Bedeutungsoffenheit ist jedoch
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darauf zu achten, dass die Lernenden eine für sie zufriedenstellende Lesart finden, dass sie zu einem Erfolgserlebnis und nicht zu einem Scheitern am Text (auch wenn das für Bernhard-Texte wie für viele andere Texte anspruchsvoller moderner AutorInnen typisch ist) geführt werden. Dies wird durch eine Sichtbarmachung (an der Tafel, an einem Plakat …) ihrer „Lösungen“ erleichtert. Ein besonderes Problem stellt die Figur Viktor Halbnarr für den Unterricht dar, weil es sich um einen Krüppel handelt. Versehrte, Behinderte, von Thomas Bernhard durchaus mit dem politisch inkorrekten Terminus Krüppel bezeichnet, tauchen in zahlreichen Texten Bernhards auf, es gibt sie in verschiedenen Schattierungen, ihre Bedeutungen und Funktionen variieren gleichfalls.40 Was ihnen häufig gemein ist § auch wenn es sich um Kunstfiguren handelt § ist ihr Widerstand gegenüber einer Opferrolle bzw. einer Stereotypisierung in diese Richtung ; in diesem Sinne konterkarieren sie eine der beliebtesten sozialen Kompetenzen bei der Wahl des Unterrichtsziels im erst- und fremdsprachlichen Literaturunterricht, und zwar Identifikation und Rollenübernahme (Übung : Umschreiben des Texts aus der Sicht des Opfers), die „Einübung“ in Empathie, also Empathieförderung. Bernhards Text spricht, wie ich bereits oben angeführt habe, dagegen und erfüllt damit eine wichtige literarische Funktion : die der Infragestellung von Stereotypen, ihre Dekonstruktion, eine differenzierte Sicht auf Problembehaftetes und vor allem das Aushalten von Widersprüchlichem und Paradoxen. 5. Überprüfung : Diese Didaktisierungsphase ließe sich am besten an neuen Texten und in anderen Unterrichtssituationen durchführen. Unabhängig davon macht es Sinn, sich erneut die Unterrichtsziele und die einzuübenden bzw. bereits eingeübten literarischen Kompetenzen oder/und Schlüsselkompetenzen vor Augen zu führen : Hier ging es erstens um diskursive Kompetenzen, um die Fähigkeit einen komplexen und komplizierten Text allmählich zu durchschauen und Textsinn zu konstruieren. Durchgegangen werden alle Teilkompetenzstufen nach Marcus Steinbrenner,41 von der Formulierung erster Eindrücke bis zum Aushandeln verschiedener Lesarten. (Die diesbezügliche Schlüsselkompetenz wäre die Interpretationsfähigkeit.) Außerdem kann Textsortenwissen eingesetzt werden, fachsprachliche und reflexive Kompetenzen werden erweitert. Von den funkti40 Vgl. über verschiedene Aspekte der Krankheit bei Thomas Bernhard gibt es einige Diplom- und Magisterarbeiten, etwa von Sabine Daxberger, Barbara Kräftner, zu „Krüppeln“ von Matthias Part. 41 Der Katalog „literarische Kompetenzen“ von Marcus Steinbrenner ist leider nicht mehr im Internet zugänglich ; ich kann lediglich auf meine Publikationen verweisen, in denen ich ihn zitiere § vgl. Anm. 25.
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onalen Kompetenzen gibt der Text besonders Einsicht in die literarische Funktion der Erweiterung des Verbalisierbaren, der Infragestellung von Etabliertem und Klischeehaften, der Veranschaulichung menschlicher Handlungsabsurdität und des Paradoxen. Eine Reihe literarischer Teilkompetenzen, die auf die spezifische strukturelle Fremdheit des Textes zurückzuführen sind, werden gleichfalls aktiviert und bei geeigneter Didaktisierung durch den Bernhard-Text gefördert : die Fähigkeit zur Desautomatisierung der Wahrnehmung, diejenige zum Erkennen und Deuten von Verfremdungsverfahren, Leerstellen und Brüchen in literarischen Texten, freilich die bereits gut sozialisierte zum Verstehen „indirekten Sprachgebrauchs“ und der Konnotationsebenen sowie nicht zuletzt die Fähigkeit, die Offenheit und Mehrdeutigkeit literarischer Texte zu erkennen und Bedeutungsnetze aufbauen zu können (Polyvalenz-Konvention). Bernhards Text fördert außerdem eine Reihe rezeptiver literarischer Kompetenzen, so das genaue, „verzögerte“ Lesen, die Bereitschaft, sich dem Anspruch des Textes überhaupt zustellen, dann die sogenannte „Ambiguitätstoleranz“, das Aushalten der Offenheit und Fremdheit des Textes und der Suche nach entsprechenden Vereindeutigungsstrategien. 6. Weiterführung § Transfer : In der letzten Didaktisierungsphase können einige Vorschläge gemacht werden, die bereits auch in der Detailtextbearbeitungsphase eingesetzt werden können. Die Akzentuierung liegt zum einen auf der sprachlich-sinnlichen Komponente des Textes, zum anderen auf seiner (möglicherweise auch trivial ausfallende Übertragung) auf den Lernendenalltag und ihre Wirklichkeitswahrnehmung : Um die Lust an der musikalisch-rhythmischen Komposition des Textes zu wecken, seiner sprachlichen Spannungsgeladenheit, die Donnenberg überzeugend durch den Gebrauch der indirekten Rede nachgewiesen hat,42 bieten sich Rezitationsübungen und „Dramatisierungen“ in Gruppen an. Statt autobiographistische Anekdotenerzählungen aufzugeben, können § den Talenten der SchülerInnen entsprechend § mediale Transpositionen versucht werden, von Comicsplakaten, rhythmisierten Sprechopern, Pantomimen, bis zu 42 Vgl. Donnenberg : Bernhard, S. 93 : „Und so wie die hier dominierenden, zum Teil an Kleists Anekdoten- und Novellenstil erinnernden komplexen Satzgefüge über Widerstände, Hemmungen hinwegeilende, vorwärtsdrängende Tendenz haben, so dient auch die Darstellungsform der indirekten Rede der Intention, dem Redefluß (dem ,katastrophiernden‘ Tonfall) des Erzählers die ihm eigene zielgerichtete, rhythmisch gegliederte Bewegung zu erhalten und die Verselbständigungstendenz von Gesprächsphrasen zu unterbinden : Das sind Kennzeichen und Mittel einer dramatischen Erzähltechnik.“ Es folgt ein Zitat mit der Beschreibung, wie der Erzähler dem Mühlenbesitzer Halbnarr vor die Füße wirft.
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Videos, wobei es darauf ankommen sollte, vor allem die Strukturmerkmale zu inszenieren und nicht lediglich die Handlung. Wenn die eigenen Deutungen der Lernenden ähnliche Resultate erbrachten, wie ich sie oben, zu Beginn dieses Kapitels vorschlage, „nämlich der Bewusstmachung des Widerspruchs zwischen der Erlangung eines kurzfristigen Ziels, das auf Kosten eines nachhaltigen geht, folglich der Unlogik menschlicher Handlungsweise, die vielleicht gerade dadurch den Menschen das Gefühl des Lebendigseins gibt“, dann können auch aus der Lebenspraxis eigene Beispiele angeführt werden, vielleicht nicht gerade in Aufsatzform, sondern eher als Berichte für eine Wandzeitung oder Ähnliches. Der Kreativität von Lehrenden und Lernenden sind hier kaum Grenzen gesetzt. In der Art eines Zirkelschlusses hoffe ich überzeugt zu haben, dass Thomas Bernhard durchaus auch in den DaF- Unterricht integriert werden kann, ohne seinen Texten oder den LernerInnen Gewalt anzutun. Freilich bleibt das Grunddilemma von Literatur im Unterricht nur angerissen und nicht gelöst : die Frage nämlich, was Pflichtlektüre auslöst. Ich spreche hier als gebranntes Kind, weil ich etwa § trotz nachträglich als durchaus positiv bewertetem Literaturunterricht im Gymnasium § lange gebraucht habe, um mir einige der in der Schule behandelten Autorinnen und Autoren später anzueignen. Trotz dieser Grundbedenken optiere ich dafür, auch SchülerInnen der Faszination mit dem Phänomen Thomas Bernhard und mit seinen Texten auszusetzen. Die Comics sollten sie sich dann selbst zeichnen … Literaturverzeichnis Bernhard, Thomas : Ein Kind. Ungekürzte Lesung von Gert Voss. HR2. Frankfurt am Main 2010. Bernhard, Thomas : Ereignisse und andere Prosa. Originalaufnahmen. München 2003. Bernhard, Thomas : Erzählungen Kurzprosa. Hg. von Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2003 (Werke, Bd. 14). Bernhard, Thomas : Erzählungen. Text und Kommentar von Hans Höller. Frankfurt am Main 2001. Bernhard, Thomas : Erzählungen. Handreichungen für den Unterricht, Unterrichtsvorschläge und Kopiervorlagen. Hg. von Ulrike Ladnar. Berlin 2001. Bernhard, Thomas : Erzählungen. Originaltext und Werklesung ; Einführung in Leben und Werk. Kommentar, Interpretation, Materialien. Multimediaausgabe auf CD-ROM. Berlin 2004. Bernhard, Thomas : Viktor Halbnarr. Ein Wintermärchen, in : Ders.: Erzählungen Kurzprosa.
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Hg. von Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2003 (Werke, Bd. 14), S. 163§168. Bernhard, Thomas : Viktor Halbnarr. Ein Wintermärchen nicht nur für Kinder mit Zeichnungen von Alfons Schweiggert. München 2006. Bernhard, Thomas : Von sieben Tannen und vom Schnee…Eine märchenhafte Weihnachtsgeschichte, in : Ders.: Erzählungen Kurzprosa. Hg. von Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main 2003 (Werke, Bd. 14), S. 466§469. Betten, Anne : „Die Bedeutung der Ad-hoc-Komposita im Werk von Thomas Bernhard, anhand ausgewählter Beispiele aus ,Holzfällen. Eine Erregung‘ und ,Der Untergeher‘“, in : Asbach-Schnitker, Brigitte/Roggenhofer, Johannes (Hg.) : Neuere Forschungen zur Wortbildung und Historiographie der Linguistik. Festgabe für Herbert E. Brekle zum 50. Geburtstag. Tübingen 1987, S. 69§90. Betten, Anne : „Thomas Bernhards Syntax : keine Wiederholung des immer Gleichen“, in : Donhauser, Karin/Eichinger, Ludwig M.: Deutsche Grammatik ± Thema in Variationen. Festschrift für Hans-Werner Eroms zum 60. Geburtstag, Heidelberg 1998, S. 169§190. Betten, Anne : „Thomas Bernhard unter dem linguistischen Seziermesser : Was kann die Diagnose zum Werkverständnis beitragen ?“, in : Huber, Martin/Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.) : Wissenschaft als Finsternis ? Wien et al. 2002, S. 181§194 Donnenberg, Josef : Thomas Bernhard (und Österreich). Studien zu Werk und Wirkung 1970± 1989. Stuttgart 1997 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik ; Nr. 352 : Unterreihe Salzburger Beiträge ; Nr. 32). Eggert, Hartmut : „Wann wird ein Autor kanonisch ?“, in : Hoell, Joachim/Luehrs-Kaiser, Kai (Hg.) : Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten. Würzburg 1999, S. 229§231. Freumbichler, Johannes : Der letzte Sinn des Lebens, in : Freumbichler, Johannes : Erziehung zu Vernunft und Fröhlichkeit. Briefe in Knittelversen für die Jugend von Sechzehn bis Sechzig. Waging am See 2003, S. 74. Kahrs, Peter : Thomas Bernhards frühe Erzählungen. Rhetorische Lektüren. Würzburg 2000. Lederer, Otto : „Syntaktische Form des Landschaftszeichens in der Prosa Thomas Bernhards“, in : Botond, Anneliese (Hg.) : Über Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 1970, S. 42§67. Luehrs-Kaiser, Kai : „Komik der Grausamkeit. Heimito von Doderer und Thomas Bernhard“, in : Hoell, Joachim/Luehrs-Kaiser, Kai (Hg.) : Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten. Würzburg 1999, S. 75§84. Magris, Claudio : Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Übers. von Madeleine von Pásztory. Müller 1966. Matassi, Elio : „Dimensioni d’ascolto nell’opera di Thomas Bernhard“, in : Cultura tedescha. Roma 1994, S. 147ff. Middelhauve, Gertraud (Hg.) : Dichter erzählen Kindern. München 1969 (1966). Petrasch, Ingrid : Die Konstitution von Wirklichkeit in der Prosa Thomas Bernhards. Sinnbildlichkeit und groteske Überzeichnung. Frankfurt am Main et al. 1987 (Münchner Studien zur literarischen Kultur in Deutschland 1986).
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Reitani, Luigi : „Paesaggio con figure. La prosa breve di Thomas Bernhard“, in : Cultura tedesca. Roma 1994, S. 181§189. Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main 1991. Šlibar, Neva : „Transformationsraum Literaturunterricht ? Literarische Kompetenzen als Herausforderung und Chance“, in : Pismo, Jg. 6, 1/2008, S. 187§203. Šlibar, Neva : “Empowerment through literature in the language classroom“, in : Tidskrift för lärarutbildning och forskning, Jg. 15, 2/2008, S. 73§85. Šlibar, Neva : „Die siebenfache Fremdheit der Literatur als Grundlage eines Referenzrahmens literarischer Kompetenzen (für den DaF-Literaturunterricht)“, in : Estudios filológicos alemanes, Jg. 17, 2009, S. 325§337. Tismar, Jens : Thomas Bernhards Erzählerfiguren, in : Botond, Anneliese (Hg.) : Über Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 1970, S. 68§80. Voerknecht, Liesbeth : Thomas Bernhard und die Musik : Der Untergeher, in : Hoell, Joachim/ Luehrs-Kaiser, Kai (Hg.) : Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten. Würzburg 1999, S. 195§206.
Johann Georg Lughofer
„Vordenkopfstoßer“, „Gesprächzusammenschlagerin“ und „Fleischhauerlebensinhalt“ Der heitere Fremdsprachendidaktiker Thomas Bernhard
Literatur im DaF-Unterricht Literarische Texte waren wohl schon immer fester Bestandteil eines Fremdsprachenunterrichts, doch wurde wohl selten so intensiv über die Möglichkeiten ihres Einsatzes diskutiert wie in den letzten Jahrzehnten. Mit dem kommunikativen Ansatz in der Sprachdidaktik wurde Literatur von den „authentischen Gebrauchstexten“ in den Hintergrund gedrängt. Wilfried Brusch bezeichnete diese Orientierung treffend als „Sachtextwelle“, die zur Demotivation führte.1 Harald Weinrich erklärt in seinem viel zitierten Aufsatz „Von der Langeweile des Sprachunterrichts“, dass die Literatur aufgrund ihrer ästhetischen Qualität besser geeignet sei, das Interesse auf die Sprache zu lenken.2 Demnach stehe der Einbezug von Literatur als ebenso authentische wie sachliche Texte keinesfalls einem pragmatischen und funktionalen Ansatz im Weg. Das enorme Potential der Literatur für interessante und gewinnbringende Lernsituationen im DaF-Bereich wird in neueren Diskussionen allgemein anerkannt, was sich aber im Unterrichtsalltag sowie in Lehrwerken nicht immer widerspiegelt. Die breite Palette der Möglichkeiten der Verwendung und Funktionen literarischer Texte im DaF-Unterricht reicht von einem traditionellen Einsatz der Literatur zur Übung der Sprachfertigkeiten und grammatikalischen Formen, zur Erweiterung des Wortschatzes und zur landeskundlichen Diskussion bis zu Konzepten, welche die Eigenheit literarischer Texte explizit berücksichtigen und das irritierende semiotische Spiel der Literatur als Mehrwert begreifen.3 1 Brusch, Wilfried : „Literarische Texte im Kommunikativen Fremdsprachenunterricht“, in : Literarische Texte im kommunikativen Fremdsprachenunterricht. München 1985 (= New Yorker Werkheft), S. 52. 2 Weinrich, Harald : „Von der Langeweile des Sprachunterrichts“, in : Ders.: Wege der Sprachkultur. Stuttgart 1985, S. 221§245. 3 Vgl. Bredella, Lothar : „Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht. Gründe und Methoden“, in : Heid, Manfred (Hg.) : Literarische Texte im kommunikativen Fremdsprachenunterricht. München 1985, S. 507§519.
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Die Vermittlung sogenannter „literarischer“ und „symbolischer Kompetenzen“ rückte gerade bei letzteren verstärkt in den Mittelpunkt. Dabei wurde stets die Bedeutung betont, Freiräume für persönliche Wahrnehmungen, Deutungen und Urteile einzuräumen, wobei aber nicht auf ein bereitgestelltes Instrumentarium zur Auseinandersetzung mit Literatur verzichtet werden darf. Modelle zur Arbeit mit Ganztexten wurden etwa von Eva-Maria Jenkins,4 Rainer E. Wicke5 und Neva Šlibar6 entworfen. In diesem Spannungsfeld wurde 2009 zum 20. Todestag des Autors Thomas Bernhard eine Abendveranstaltung für eine interessierte Öffentlichkeit, bestehend vor allem aus Germanisitkstudierenden in Ljubljana (Deutschniveau C1 und C2), vorbereitet. Bernhards Werk wird ansonsten im DaF-Unterricht aufgrund der polemischen und aggressiven Textstellen als zu schwierig angesehen, um wirklich verstanden zu werden. Oft scheint auch die Furcht zu bestehen, Österreich könne in einem gänzlich falschen Bild dargestellt werden.7 Doch gerade die Provokation und Übertreibung machen seine Texte für Deutschlernende faszinierend. Die von Karlheinz Rossbacher festgestellte hohe Identifikationsbereitschaft bei Bernhard-Lesern8 gilt insbesondere für jüngere Menschen. Mit Rücksicht auf den Adressatenkreis wurde auf eine literaturhistorische und klassisch literaturwissenschaftliche Veranstaltung verzichtet und ein spielerischer Workshop zum Thema „Schimpfwörter und Beleidigungen auf Weltliteraturniveau. Thomas Bernhard zum 20. Todestag“ konzipiert, der literatur- und sprachwissenschaftliche Aspekte mit didaktischen verbindet, ein Spiel mit der Sprache 4 Jenkins, Eva-Maria : „Schaltplan zum Knacken deutscher Texte“, in : Fremdsprache Deutsch, 2/1990, S. 24. 5 Wicke, Rainer E.: Aktive Schüler lernen besser. Ein Handbuch aus der Praxis für die Praxis. München 1993, S. 58. 6 Šlibar, Neva : „Transformationsraum Literaturunterricht ? Literarische Kompetenzen als Herausforderung und Chance“. in : Pismo, Jg. 6, 1/2008, S. 187§203 ; Šlibar, Neva : „Empowerment through literature in the language classroom“, in : Tidskrift för lärarutbildning och forskning, Jg. 15, Nr. 2/2008, S. 73§85 und Šlibar, Neva : „Die siebenfache Fremdheit der Literatur als Grundlage eines Referenzrahmens literarischer Kompetenzen (für den DaF-Literaturunterricht)“, in : Estudios filológicos alemanes, Jg. 17, 2009, S. 325§337. 7 Konkretere Didaktisierungen liegen so auch nur für den erstsprachlichen Deutschunterricht vor. Vgl. Niklas, Annemarie : „Wenn die Sätze aus den Fugen quellen. Mit Schülern Thomas Bernhards Sprache untersuchen“, in : ide, 2, 2010, S. 63§72 ; Kreuzwieser, Markus : „Thomas Bernhard im Oberstufen-Literaturunterricht und im Freifach Literatur einer Gmundner Mittelschule“, in : Gebesmair, Franz/Pittertschatscher, Alfred : Bernhard-Tage Ohlsdorf 1994. Weitra 1994, S. 248§276. 8 Rossbacher, Karlheinz : „Thomas Bernhard. Das Kalkwerk“, in : Lützeler, Peter Paul (Hg.) : Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Königstein im Taunus 1983, S. 372.
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nach Muster des Autors ermöglicht und auf Bernhards Hasstiraden aufbauend Kraftausdrücke im Deutschen beleuchtet. Dabei wurden zwar einerseits Bernhards Texten sprachliche, landeskundliche und interkulturelle Lehrziele beigestellt, doch auch versucht, den Texten in ihrer spezifischen Qualität gerecht zu werden. Da dieser Workshop großes Interesse wecken konnte und an weiteren Universitäten, Schulen und Sprachschulen Sloweniens und andernorts in abgewandelten Formen wiederholt wurde, soll er hier in seinen einzelnen Schritten vorgestellt und zur Übernahme bzw. Adaption zur Verfügung gestellt werden9 § nicht zuletzt deswegen, da die wohl bedeutendste gesellschaftliche und wohl auch politische Wirkung der Literatur in Lehrsituationen stattfindet. 1. Phase : Einführung in die Thematik Thomas Bernhard für DeutschlernerInnen Auch wenn Bernhard immer wieder an internationalen Theatern aufgeführt wird, kann man seine Bekanntheit bei Studierenden keineswegs voraussetzen, u.a. weil die Wahl auf das slowenische Germanistikstudium zumeist nicht in Folge eines extensiven Interesses an der deutschsprachigen Literatur und Kultur fällt § sondern in Folge eines guten Abschneidens beim schulischen Deutschunterricht und einer generellen Aufgeschlossenheit der Fremdsprache gegenüber. So gestaltet es sich schwierig, in aller Kürze auf die herausragende Bedeutung einzelner AutorInnen hinzuweisen. Mit einem Augenzwinkern wurde so auf Bernhards erstaunliche Präsenz im Internet hingewiesen : 876.000 Einträge fand Google am 2. Februar 2009 unter „Thomas Bernhard“ § im Vergleich zu 504.000 zur Nobelpreisträgerin 2004 Elfriede Jelinek und 225.000 zum 2009 ebenso gefeierten Joseph Roth. Noch signifikanter zeigte sich Bernhards Stellung bei den § die Aktualität noch besser widerspiegelnden § Videoeinträgen in Google § und zwar mit 151 im Vergleich zur ebenso theaterpräsenten Elfriede Jelinek mit 58 und zu dem oft verfilmten Joseph Roth mit 16.10 In der Fachbibliothek der Germanistik 9 Dazu wurde auch auf der Seite der Universitätsbibliothek Maribor die Powerpoint-Präsentation online gestellt § http ://www.ukm.si/UserFiles/641/File/Predstavitev%20predavanja.pdf. 10 Am 12.10.2011 zeigt sich das gleiche Bild, nur mit noch mehr Daten : Google findet zu „Thomas Bernhard“ 692 Videoeinträge, im Vergleich zu Elfriede Jelinek mit 381 und Joseph Roth mit 136 Einträgen. Allein auf der populären Seite youtube.com findet man 536 Videos zu „Thomas Bernhard“, 250 zu „Elfriede Jelinek“ und 75 zu „Joseph Roth“, wobei auch ein Mitarbeiter eines schwedischen Möbelriesens gleichen Namens auftaucht, was die Ungenauigkeit der Methode einmal mehr unterstreicht.
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Wien breiteten sich Anfang 2009 Primär- und Sekundärliteratur auf ca. 400 cm Buchrücken aus § im Vergleich zu Elfriede Jelineks ca. 80 cm und Joseph Roths ca. 140 cm. Bei dem entspannten Zugang zu Thomas Bernhard sollten auch seine Popstarqualitäten nicht hintangestellt und Skandale um Werk und Auftreten referiert werden, zugegeben ein allzu einseitiger Zugang im literaturwissenschaftlichen und literaturhistorischen Kontext, doch eine wohl zulässige Strategie bei einer Lehrveranstaltung, um Aufmerksamkeit zu wecken.11 Darüber hinaus ist die Rezeption Bernhards ohne seine provozierende Wirkung auf Politik, Gesellschaft und Publikum weder in Forschung noch anderswo denkbar, worauf Wendelin Schmidt-Dengler mehrfach hinwies.12 So wurden bei der Veranstaltung von zentralen Skandalen erzählt, wobei bei mehr zur Verfügung stehender Zeit auch eigene Recherchen der LernerInnen im Internet möglich wären : wie die Verleihung des „Kleinen“ Staatspreises für Literatur 1968, bei der Bernhard im Bewusstsein des Todes „alles lächerlich“ und Österreich einen „Requisitenstaat“ bezeichnete, worauf der aus der steirischen Landwirtschaftskammer stammende Kulturminister Theodor Piffl Perčević samt Gefolge angeblich fäusteschwingend und Türen schlagend den Saal verließ. 1984 folgte mit der Beschlagnahmung der bereits gedruckten Exemplare von Holzfällen aufgrund der Klage Gerhard Lamperbergs eine in der 2. Republik Österreich einzigartige Zensurmaßnahme. Schon im darauffolgenden Jahr erschütterte Alte Meister die traditionelle österreichische Kulturlandschaft, worauf Unterrichtsminister Herbert Moritz Bernhard einer psychiatrischen Behandlung anempfahl. Er bezeichnete ihn als Thema der Wissenschaft, wobei er „nicht allein die Literaturwissenschaft“ meinte. Das in der jüngeren österreichischen Geschichte mancherorts als Wende angesehene Jahr 1986 brachte nicht nur den Skandal um den Präsidentschaftskandidaten und Präsidenten Kurt Waldheim, sondern ebenso den neu gewählten Obmann der Freiheitlichen Partei Österreichs Jörg Haider, der gleich verlautbarte, dass er solche Autoren wie einen Thomas Bernhard nicht dulden würde. Auch Claus Peymann kam ans Burgtheater, mit dem Bernhard schon seit den 70er-Jahren zusammengearbeitet und dabei u.a. am Württembergischen Staats11 Als zündenden Einstieg zur Behandlung des Dichters im Unterricht verwendet Bernhards lebenslange Auseinandersetzung mit dem österreichischen Staat und seinen Institutionen auch Kreuzwieser : „Bernhard“, S. 254. 12 Z.B. Schmidt-Dengler, Wendelin : Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard. Wien 2010, z.B. S. 130 und S. 148.
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theater Stuttgart, dem ehemaligen Ministerpräsidenten und vormaligen Richter der nationalsozialistischen Kriegsmarine13 Hans Filbinger 1979 das Stück Vor dem Ruhestand. Eine Komödie deutscher Seele in die Pension nachgeschickt hatte. Die LernerInnen könnte auch die klare Stellungsnahme Peymanns interessieren, mit der er die Kunst als Gegenmacht positionierte, indem er zweideutig feststellte, „dass wir nicht weniger sind als die Politiker.“14 Dass der Burgtheateraufführung von Heldenplatz im Bedenkjahr 1988 mehr als 40 Artikel ohne Leserbriefe alleine in der Kronenzeitung voranging, überzeugt die LernerInnen vom Ausmaß der Aufregung, da ihnen zumeist bewusst ist, dass sich im Normalfall die Inszenierenden jedes Theaterstücks schon über eine ausführliche Besprechung nach der Premiere freuen. Auch Fakten wie der 40minütige Applaus im Anschluss der Uraufführung können beeindrucken. So gewinnt der Autor durch seine „Skandalgeschichte“ eine erhöhte Aufmerksamkeit, die weiter zur Gespanntheit auf seine Texte beiträgt, wenn man auch noch von der letzten Verweigerung des Autors durch sein sogenanntes Testament erzählt, in der Bernhard verbieten wollte, dass sein Werk in Österreich „aufgeführt, gedruckt oder auch nur vorgetragen“ werde.15 2. Phase : Textauszüge zum selbstentdeckenden Kennenlernen Bernhards Da die Skandale weniger auf das PR-Geschick des Autors oder des Verlags zurückgehen als auf die provozierende Wirkung der Sprache Bernhards, scheint es angemessen zu sein, vor allem auf diese einzugehen. Mit Recht stellt sich eine moderne Forschung zur Verwendung von Literatur im Fremdsprachenunterricht gegen einen Gebrauch von literarischen Bruchstücken im alleinigen Dienst einzelner Grammatikpunkte oder landeskundlicher Aspekte. Doch die Literaturverwendung im DaF-Unterricht braucht wohl auch Mut zur Lücke und zum Spielerischen. So wird in Folge mit Textauszügen statt Ganztexten gearbeitet, mit denen aber zentrale Aspekte des Werks Bernhards und der Literatur allgemein behandelt werden können. Dabei bekennt sich der Beitrag zu einem Literaturbegriff, der Texte nicht als unantastbares Bildungsgut versteht, sondern als Gegenstand lebendiger Auseinandersetzung, dem ein eigener, subjektiver Sinn gegeben und der als Anregung für die eigene Kreativität genutzt werden kann. 13 In dieser Funktion hatte Filbinger auch Todesurteile gegen Deserteure gefällt, was er später leugnete. 14 Zit. nach Höller, Hans : Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 13. 15 Vgl. ebd., S. 7.
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Gerade bei Thomas Bernhard mag es zulässiger sein, sich mit seinen typischen Hasstiraden in Textauszügen zu beschäftigen als seine weniger repräsentativen kurzen Erzählungen in Gänze zu bearbeiten. Die Romane und Stücke entziehen sich aufgrund ihrer Länge weitgehend dem DaF-Unterricht. Bernhards Sprache wurde außerdem mehrfach als effektivster Zugang zu dessen Werk erkannt. Wendelin Schmidt-Dengler spricht gar von einer „Inhaltsfalle“16 bei den Werken Bernhards, da das Sprachmaterial ungleich bedeutender sei als der nacherzählbare Inhalt. „Ich bekenne, daß für mich immer noch der sinnvollste und praktikabelste Zugang zu Bernhards Werk über die Sprache führt.“17 Bernhard selbst bestätigt die Bedeutung der Sprache, der einzelnen Sätze, gegenüber dem Inhalt, wenn er erklärt : „Sie können mich zu meinen Sachen fragen, manche Sätze weiß ich ganz genau, na ja, die sind von mir, da erinnere ich mich schon. Aber die meisten … Ich weiß auch den Inhalt meiner Bücher gar nicht mehr, weil’s mich gar nicht mehr interessieren.“18 So mag es genügen, den LernerInnen ein paar typische Konstellationen der Werke Bernhards wie das Verhältnis von älterem Mentor und jungem Schüler vor Augen zu führen sowie auf die Situativität und die Gebrochenheit des Sprachduktus hinzuweisen. Da die Sprachmittel Bernhards zumeist leicht genug zu erkennen sind, sollten diese nicht referiert werden, sondern den LernerInnen die Möglichkeit geboten werden, diese selber anhand signifkanter Textstellen, welche in Folge hier präsentiert werden, ausfindig zu machen : Den Textauszügen wurde so auf der PowerPoint-Präsentation in abgewandelter Form der Titel des bekannten Interviews François Truffauts vorangestellt § anstatt „Wie haben Sie es gemacht, Mr. Hitchcock ?“ wurde Herr Bernhard zur § Hitchcock manchmal gleichzusetzenden § schockierenden Wirkung seiner Werke befragt. Die Frage wurde in diesem Fall natürlich an die DeutschlernerInnen weitergeleitet. Ausgewählt wurden die Textauszüge neben Kriterien der Verständlichkeit und Thematik, aufgrund ihrer provokativen Sprengkraft, der erwarteten Popularität und somit der Aufmerksamkeitsschaffung. Dass die ausgewählten Zitate an den jeweiligen Veranstaltungen in Auswahl und Arrangement angepasst wurden, versteht sich von selbst. 16 Schmidt-Dengler, Wendelin : Literatur in Österreich 1945 bis 1966. Skriptum zur Vorlesung WS 1993/94. Wien 1994, S. 128. 17 Ebd., S. 135. 18 Hoffmann, Kurt : Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. Wien 1988. Natürlich sind auch andere Perspektiven verständlich, wie die von Alfred Pfabigan, der den Inhalt der Werke sehr wohl ernst nimmt und eine wichtige Entwicklung der Protagonisten im Fortlauf der Romane nachvollzieht. Vgl. Pfabigan, Alfred : Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment. Wien 1999.
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Den Texten wurden die Vokabeln in verschiedener Form vorausgeschickt, in kurzer Wiederholung bei den Studierenden, in längeren vorbereitenden Übungen mit Handouts bei SchülerInnen. Die Beschäftigung mit der deutschen Sprache und der deutschen Literatur werden für Germanistikstudierende und SchülerInnen oft zur Zwangsbeglückung, da mögen entsprechende wütende Stellungsnahmen leicht Sympathien wecken, so zur deutschen Sprache : Die deutschen Wörter hängen wie Bleigewichte an der deutschen Sprache, … und drücken in jedem Fall den Geist auf eine diesem Geist schädliche Ebene. Das deutsche Denken wie das deutsche Sprechen erlahmen sehr schnell unter der menschenunwürdigen Last seiner Sprache, die alles Gedachte, noch bevor es überhaupt ausgesprochen wird, unterdrückt. Unter der deutschen Sprache habe sich das deutsche Denken nur schwer entwickeln und niemals zur Gänze entfalten könnenbn … § Auslöschung 198619 Schon die deutsche Sprache ist genau genommen eine häßliche, eine, wie gesagt, nicht nur alles Gedachte zu Boden drückende, sondern durch ihre Schwerfälligkeit auch alles tatsächlich gemein verfälschende, sie ist gar nicht imstande, einen Wahrheitsgehalt wiederzugeben, sie verfälscht alles von Natur aus, sie ist eine rohe Sprache, ohne jede Musikalität, und wäre sie nicht meine Muttersprache, ich würde sie nicht sprechen … § Auslöschung 1986
Anhand des wohl bekanntesten Zitats Bernhards zur deutschen Literatur kann auch schön gezeigt werden, dass die Tiraden Bernhards oft mehrfach gebrochen sind, wie die berichtete Erinnerung Muraus an ein sich spiralförmig windendes Gespräch mit dem geduldigen Schüler Gambetti : Millionen sind von Leitzordnern beherrscht und kommen aus dieser demütigen Beherrschung nicht mehr heraus, dachte ich. Millionen sind von diesen Leitzordnern unterdrückt. Ganz Europa lässt sich von diesen Leitzordnern unterdrücken und die Unterdrückung der Leitzordner verschärft sich, dachte ich. Bald wird ganz Europa von den Leitzordnern nicht nur beherrscht, sondern vernichtet sein. Das habe ich ja auch einmal Gambetti gesagt, dass vor allem die Deutschen sich von den Leitzordnern unterdrücken haben lassen. Selbst die Literatur der Deutschen ist eine von den Leitzordnern 19 Da es hier nicht um die Kontextualisierung der Textstellen geht, wird auf die Angabe der Seitenzahlen in diesem wie in den folgenden Zitaten verzichtet. Die Texte mögen so auch leichter als Kopiervorlage dienen.
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unterdrückte, habe ich zu Gambetti einmal gesagt. Jedes deutsche Buch, das wir aufmachen, und das in diesem Jahrhundert entstanden ist, habe ich zu Gambetti gesagt, ist ein solches von den Leitzordnern unterdrücktes. Eine von Leitzordnern unterdrückte und schon beinahe zur Gänze vernichtete Literatur schreiben die Deutschen, habe ich zu Gambetti gesagt. Und diese heutige, von den Leitzordnern unterdrückte Literatur, ist naturgemäß dadurch die erbärmlichste, eine solche hilflose erbärmliche Literatur hat es niemals vorher gegeben, habe ich zu Gambetti gesagt. Es ist eine lächerliche Büroliteratur, die von Leitzordnern diktiert ist, so jedenfalls komme es mir jedesmal vor, wenn ich ein heute geschriebenes Buch lese. Alle diese Bücher seien von einer grenzenlosen Erbärmlichkeit, habe ich zu Gambetti gesagt, weil sie aus dem Kopf von Leuten kommen, die sich vollkommen von den Leitzordnern beherrschen lassen, lebenslänglich, Gambetti, habe ich gesagt. Eine kleinbürgerliche Beamtenliteratur haben wir vor uns, wenn wir die deutsche Literatur vor uns haben, auch die großen Beispiele dieser deutschen Literatur sind nichts anderes, Gambetti, Thomas Mann, ja selbst Musil, sagte ich, den ich von allen diesen Beamtenliteraturerzeugern noch an die erste Stelle setze. … Im Grund genommen, habe ich zu Gambetti gesagt, haben die Deutschen in diesem Jahrhundert nur eine von Leitzordnern beherrschte Literatur produziert, die ich geradeheraus auch nur als eine Leitzordnerliteratur bezeichnen will, um mich nicht strafbar zu machen in einer Zeit, die diese Leitzordnernliteratur eines Tages als eine solche Leitzordnerliteratur durchschaut und dahinein kippt, wohinein sie gehört, in den Abfalleimer der Literaturgeschichte, Gambetti. § Auslöschung 1986
Je nach den Kenntnisstand der LernerInnen können die Stellen von der Lehrkraft oder von den LernerInnen vorgelesen werden. Auch Videoaufzeichnungen könnten für Interviewsequenzen verwendet werden, doch die Möglichkeit zum Mitlesen sollte auch dabei geboten werden. Um die LernerInnen gänzlich ,auf die Seite Bernhards zu ziehen‘, können verschiedene Stellen, in denen gegen Universität, Professoren bzw. Schule geschimpft wird, präsentiert werden : Die so genannten Mittelschulen und vor allem die so genannten Gymnasien dienen eigentlich immer nur der Verrottung der menschlichen Natur, und es ist Zeit, darüber nachzudenken, wie diese Verrottungszentren abgeschafft werden können, wo sie doch abgeschafft werden müssten, weil sie längst als Verrottungszentren der menschlichen Natur erkannt sind, und sie sind als solche bewiesen, die so genannten Mittelschulen gehörten abgeschafft, die Welt wäre besser daran, wenn sie diese so genannten Mittelschulen, Gymnasien, Oberschulen etcetera abschaffte und sich nur mehr noch auf die Elementarschulen und auf die Hochschulen konzentrierte. § Die Ursache 1975
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Alle Hochschulen sind schlecht und die wir besuchen, ist immer die schlechteste … Was für miserable Lehrer haben wir zu erdulden gehabt, haben sich an unseren Köpfen vergriffen, Kunstaustreiber waren sie alle, Kunstvernichter, Geisttöter, Studentenmörder. § Der Untergeher 1983
Selbstredend wird an manchen Stellen, wie dem obigen Zitat zu den Hochschulen aus Der Untergeher, das in seiner Logik § wo man ist, ist es am schlechtesten § an Murphy’s Law erinnert, schon von den Lernenden der Humor erkannt, doch zurück zum akademischen Bereich in Bernhards Worten : Dein Vater war immer der irrigen Meinung gewesen, hochtrabende akademische Titel seien die Gewähr für ein gewisses ansehnliches Geistesvermögen. Darin hat er immer geirrt. Ich habe zeitlebens immer alle diese Titel und die, die diese Titel tragen, gehasst. Sie sind mir so widerwärtig, wie nichts sonst. Wenn ich das schon höre : Universitätsprofessor ! wird mir schlecht. Ein solcher Titel ist ja geradezu meistens der Beweis für einen besonders außerordentlichen Dummkopf. Je ungeheuerlicher sich ein solcher Titel anhört, ein desto größerer Dummkopf trägt ihn. § Auslöschung 1986 Die heutigen Universitätslehrer / sind von einer unglaublichen Primitivität / ihre Ahnunglosikgeit ist eine katastrophale § Heldenplatz 1989
Dass es sich dabei nicht um neidvolles Geschimpfe eines Außenstehenden handelt, lässt sich auch mit dem berühmt-berüchtigten Brief Bernhards an Herrn Dr. Temnitschka, dem Sekretär der Grazer Autorenversammlung, welche einen Professorentitel für Bernhard erwirken wollte, unterstreichen : Sehr geehrter Herr Dr. Temnitschka, / ich nehme seit über zehn Jahren weder Preise noch Titel an und naturgemäß auch nicht Ihren lächerlichen Professorentitel. Die Grazer Autorenversammlung ist eine Versammlung von untalentierten Arschlöchern. / Mit freundlichen Grüßen / Ihr Thomas Bernhard
Ein schönes Beispiel dafür, dass die Stellungsnahmen in Bernhards Werken keine zielstrebigen Angriffe sondern allgemeine Rundumschläge sind, so auch gegen die eigene Künstlerzunft, findet sich in Frost : die Künstler, das sind die Söhne und Töchter der Widerwärtigkeit, der paradiesischen Schamlosigkeit, das sind die Erztöchter und Erzsöhne der Unzucht, die Künstler, die Maler, die Schriftsteller, die Musiker, das sind die Onanierpflichtigen auf dem Erdball, seine unap-
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petitlichen Verkrampfungszentren, seine Geschwürperipherien, seine Eiterprozessordnungen … Ich möchte sagen : die Künstler, das sind die großen Erbrechenerreger unserer Zeit, das waren immer schon die großen, die allergrößten Erbrechenerreger … Die Künstler, sind sie nicht eine verheerende Armee des Lächerlichen, des Abschaums ? § Frost 1963
Natürlich können auch bei hohem Sprachniveau der Lernenden und nach bereits erfolgter Vorbereitung manche lexikalische Erläuterungen angeschlossen werden, wie hier zur Bedeutung und dem assoziativen Feld der Vorsilbe Erz-, gerade im österreichischen Kontext. Doch dies sollte nur nach einem ersten Einwirken der Tirade und bei entsprechendem Wunsch passieren, sonst stören Fragen nach unbekannten Vokabeln den Eindruck der Texte. Insbesondere an der Universität sollte man Bernhard nicht kennenlernen, ohne einige bekannte Textpassagen des Autors zur allgemeinen Lage Österreichs zu streifen, damit die Provokation in ihrem Ausmaß erkannt wird, wobei selbstverständlich eine weitere Besprechung des Kontexts nottun kann, so z.B.: Die Regierungen, die wir in den letzten Jahrzehnten gehabt haben, waren zu jedem Verbrechen an diesem Österreich bereit und sie haben an diesem Österreich jedes nur denkbare Verbrechen begangen, unter Ausnützung dieses von Natur aus verschlafenen Volkes die Gemeinheit und die Brutalität schließlich zu der einzigen Kunst gemacht, die sie beherrschen und die sie bewundern und in die sie tatsächlich vernarrt sind … Das Parlament des heutigen Österreich ist auf dem politischen Unrat in diesem Lande ein luxuriöser und kostspieliger, lebensgefährlicher Wurstelprater, und die Regierung ist eine ebenso teure Dummköpfelotterie. § Für Anthologie des Residenz-Verlags 1968 Österreich selbst ist nichts als eine Bühne / auf der alles verlottert und vermodert und verkommen ist / eine in sich selber verhasst Statisterie / von sechseinhalb Millionen Alleingelassenen / sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige / die ununterbrochen aus vollem Hals nach einem Regisseur schreien / Der Regisseur wird kommen / und sie endgültig in den Abgrund hinunterstoßen / Sechseinhalb Millionen Statisten / die von ein paar verbrecherischen Hauptdarstellern / die in der Hofburg und auf dem Ballhausplatz sitzen / an jedem Tag vor den Kopf / und am Ende doch wieder nur in den Abgrund gestoßen werden / Die Österreicher sind vom Unglück Besessene / der Österreicher ist von Natur aus unglücklich / und ist er einmal glücklich schämt er sich dessen / und versteckt sein Glück in seiner Verzweiflung. § Heldenplatz 1988
Nach der Präsentation einiger dieser expressiven Texte können die von den Lernenden herausgefundenen sprachlichen Mittel gesammelt werden, wobei zumeist
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automatisch ebenso der erzielte Effekt der Texte angesprochen wird. Erstaunlicherweise zeigen sich die LernerInnen bis zu einem gewissen Grad geschockt und überrascht, dass im institutionellen Umfeld solche Texte besprochen werden, neben denen manche vermeintlich wilde Popsongtexte recht brav und harmlos anmuten. Dies führt zumeist zu einer Diskussion über Aufgaben und Wesen der Literatur und Kunst und ihren provokativen, sprachkritischen und die Wahrnehmung hinterfragenden Aspekten. Im Verlauf der Präsentation der Textauszüge wurden viele von Bernhard verwendete Mittel wie Wiederholung, Nominalstil, Nominalisierungen, Komposita, Reihungen, etc. von den LernerInnen problemlos selbst gefunden und deren Wirkung benannt. Neben der Sprache kann man sich anhand der Texte auch landeskundlichen und interkulturellen Fragen nähern. „Die Wahrnehmung von Thomas Bernhard ist in Vorpommern eine andere als in Österreich“,20 meinte Wendeln SchmidtDengler lapidar. Tatsächlich sollten mögliche österreichische kulturelle Hintergründe beleuchtet werden. So scheint ein Exkurs zum österreichischen Humor, der die Negativität bis hin zum Morbiden pflegt, dem Under- sowie Overstatement bis hin zur extremen Übertreibungen sowie das Raunzen und Beleidigen nicht fremd ist, hier angebracht zu sein und kann mit verschiedensten Anekdoten und Kommentaren § von Ludwig Hirschs Dunkelgraue Lieder bis zu persönlichen Erlebnissen § belebt werden. Die Rolle von Bernhard als Komiker und Übertreibungskünstler muss LernerInnen (und auch deutschsprachigen Nichtösterreichern) oftmals erklärt werden : Die Einordnung in den österreichischen Humor sei gestattet, zumal Bernhard ja selbst von seinem „philosophischen Lachprogramm“ sprach. Auf Mallorca erklärte er Krista Fleischmann, „ich hab’ ja immer schon Material zum Lachen geliefert. Das ist eigentlich alle Augenblick hellauf zum Lachen. Aber ich weiß nicht : Haben die Leute keinen Humor oder was ?“21 Seine beleidigenden Tiraden voller Übertreibungen macht er selbst als Technik fest : „Ich bin ja ein Berserker ; ich will ja gut schreiben ; ich müsste mich immer mehr vergrauslichen und immer mehr verfürchten und verfinstern im Bösen, damit ich besser werde.“22 So sinniert auch der Protagonist Murau in Auslöschung über die befriedigende Bedeutung der 20 Zit. nach Simon, Anne-Catherine : „,Jelinek denkt am Computer‘. Jubiläum. Zehn Jahre § und fast 130 Autoren : Das Österreichische Literaturarchiv“, in : Die Presse, 13.09.2006. 21 Bernhard, Thomas : Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Frankfurt am Main 2006, S. 28. 22 Zit. nach Höller : Bernhard, S. 14.
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Übertreibung und kommt zum Schluss : „Meine Übertreibungskunst habe ich soweit geschult, daß ich mich ohne weiteres den größten Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist, nennen kann. Ich kenne keinen andern.“23 Mit SchmidtDengler kann darauf eingegangen werden, inwieweit die Übertreibung die Welt letztlich so entstellt, dass sie kenntlich gemacht wird.24 Schon früh, etwa bei Hans Höller, wurde bereits auf das Komische bei Bernhard hingewiesen und Bernhard als ein „Schriftsteller, der sich seine plebejische Komik auch in den höchsten geistigen Sphären zu bewahren wusste“, präsentiert.25 Die Betonung der Komik bei Thomas Bernhard hat sich mittlerweile in Wissenschaft und Feuilleton durchgesetzt.26 Bei der Präsentation vor den DeutschlernerInnen sollte allerdings Acht gegeben werden, dass bei der Erklärung dieser für sie möglicherweise überraschenden Perspektive die Gesellschaftskritik nicht gänzlich verwischt wird. 4. Phase : Die Sprachmittel Bernhards und ihre Nachahmbarkeit Nach dieser Vorarbeit, weckt eine These bei den LernerInnen große Erwartungen, die es zu erfüllen gilt : dass diese gewaltige Sprache bis zu einem Grad erlernbar ist, ja, dass es während einer Beschäftigung mit ihr sogar schwer werden kann, Distanz zu wahren.27 Das sonst im Fremdsprachenunterricht nicht beach23 24 25 26
Bernhard, Thomas : Auslöschung. Frankfurt am Main 1988, S. 612. Schmidt-Dengler : Übertreibungskünstler, S. 145. Vgl. Höller : Bernhard, S. 95. Vgl. u.a. Ervedosa, Clara : ,Vor den Kopf stoßen‘. Das Komische als Schock im Werk Thomas Bernhards. Bielefeld 2008. Im Feuilleton und anderen Medien z.B.: Schütte, Uwe : „Karnevalist statt ,Untergangshofer‘, in : Wiener Zeitung, 5.Februar 2001 ; o.A.: „20. Todestag. Thomas Bernhard ? Zum Lachen !“, in Bayrischer Rundfunk : http ://www.br-online.de/kultur/literatur/thomas-bernhardtodestag-galgenhumor-ID123417562457.xml oder Gellner, Torsten : „Frauen sind dumm, naturgemäß. Thomas Bernhards große Humoroffensive“, in : Die Berliner Literaturkritik, Zugriffsdatum : http ://www.berliner-literaturkritik.de/index.php ?id=26&tx_ttnews%5Btt_news%5D= 11256&cHash=05ea57790c, Zugriffsdatum 06.07.2011. 27 Als Beispiel hierfür können Autoren wie Andreas Maier oder z.B. Literaturwissenschafter wie Bernhard Sorg dienen : „Thomas Bernhards teil ätzend-scharfe, teils bloß raunzend-substanzlose Tiraden […] richten sich vor allem gegen die politische Struktur und die Funktionsträger des Politischen in der an sich geliebten Heimat Österreich. Die Korruption der politischen Klasse, die servile Haltung der vom Staat unterstützten, um nicht zu sagen ausgehaltenen, Künstler, die affirmative Österreichtümelei der Wiener Pseudo-Intellektuellen § all dies und noch vieles mehr ist Gegenstand seiner berechtigten Kritik. […] Die geistige Kleinstaaterei, die selbstzufriedene Kritiklosigkeit des politischen und gesellschaftlichen Lebens, der hinterwäldlerische Diskurs, der
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tete Wortfeld der Schimpfwörter kann ein guter Anreiz sein. Die Frage, wie viele Schimpfwörter die Sprachen haben § und die Behauptung, dass das Deutsche (aufgrund der freien Wortbildung) unendliche viele davon hat § mag einen guten Einsteig bieten. Dazu ist anzufügen, dass manche Sprachmittel Bernhards den DeutschlernerInnen einen leichteren Zugang zu seinem Werk und ein leichteres Verständnis ermöglichen, so insbesondere die Wiederholungen und die kompositorischen Reihungen. Die Bewusstmachung dessen erleichtert die Beschäftigung mit dem Autor. Damit es nicht bei ein paar Übungen auf Papier bleibt, wird ein Wettbewerb angekündigt, der das Interesse während der noch vorbereitenden Rekapitulation der einzelnen sprachlichen Mittel hochhält. In Folge sollten nun einige Beispiele aus Bernhards Texten den zumeist bereits genannten Kategorien Negativität, Umkehrung von Gewohntem, Wiederholung, Reihungen, Nominalstil § mit Nominalisierungen und Komposita, Ausschließlichkeit und Pseudowissenschaftlichkeit zugeordnet werden,28 wie sie bei den Übungen zur eigenständigen Kreation Bernhard’scher Beleidigungen zum Zuge kommen können. (Die folgenden Beispielen lassen sich des Öfteren mehrfach zu den angegebenen Kategorien zuordnen.) Negativität
• Österreich als „permanente Perversität und Prostitution als Staat“ § Korrektur 1975 • „In einem jeden hat sich die Charakterlosigkeit wie eine Todeskrankheit festgesetzt, die Habgier, die Rücksichtslosigkeit, die Infamie, die Lüge, die Heuchelei, die Niedertracht. Alles tun die Menschen heute, um ihre Niedertracht mit der größten Rücksichtslosigkeit durchzusetzen.“ § Auslöschung 1986 • „ganz zu schweigen von diesem durch und durch verkommenen Staat, …, dessen Gemeinheit und Niedrigkeit nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt ohne Beispiel sind, seit Jahrzehnten gemeine und verkommene stumpfsinnige Regierungen und ein von diesen gemeinen und verkommenen und stumpfsinnigen Regierungen schon bis zur Unkenntlichkeit zutode verstümmeltes Volk, …“ § Auslöschung 1986 am Beginn seines Schreibens wahrhaft erstickend gewirkt haben muß“. Sorg, Bernhard : Thomas Bernhard. München 1992, S. 144f. 28 Dabei wird bewusst eine eigene lernerInnennahe und einfache Einteilung getroffen und nicht auf schon ausgearbeitete Kataloge stilistischer Paradigma bei Bernhard, wie z.B. in Jahraus, Oliver : Die Wiederholung als werkkonstitutives Prinzip im Œuvre Thomas Bernhards. Frankfurt am Main 1991, S. 138f., zurückgegriffen.
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• „der Staat eine Kloake stinkend und tödlich / die Kirche eine weltweite Niedertracht / die Menschen um einen herum / abgrundtief hässlich und stumpfsinnig / der Bundespräsident eine verschlagene verlogene Banause / und alles in allem deprimierender Charakter / der Kanzler ein pfiffiger Staatsverschacherer“ § Heldenplatz 1988 • „In diesem fürchterlichsten aller Staaten / haben Sie ja nur die Wahl / zwischen schwarzen und roten Schweinen / ein unerträglicher Gestank breitet sich aus / von der Hofburg und vom Ballhausplatz / und vom Parlament / über dieses ganze verluderte und verkommene Land /… Dieser kleine Staat ist ein großer Misthaufen“ § Heldenplatz 1988 Änderung/Umkehrung von Gewohntem . In Frost werden z.B. das wichtigste
christliche Gebet und der Konjunktiv der Lutherbibel in gänzlich neuen, geradezu umgekehrten Zusammenhängen gestellt. • „Vater unser, der du bist in der Hölle, geheiligt werde kein Name. Zukomme uns kein Reich. Kein Wille geschehe. Wie in der Hölle, also auch auf Erden. Unser tägliches Brot verwehre uns. Und vergib uns keine Schuld. Wie auch wir vergeben keinen Schuldigen. Führe uns in Versuchung und erlöse uns von keinem Übel. Amen. So geht es ja auch“. § Frost 1963 • „Ein Kopf voll Schmach und Öde, das sei die Ehe für Mann und Frau. Durch die Kirchentür wird hinein- und durch die Bordelltür hinausgegangen.“ § Frost 1963 • „Morbid“, sagte der Maler, „ist alles auf dem Land, speziell hier ist alles morbid. Es ist doch ein großer Irrtum anzunehmen, die Landmenschen seien mehr wert : die Landmenschen, ja ! Die Landmenschen, das sind ja die Untermenschen von heute ! Die Untermenschen ! Überhaupt ist das Land verkommen, heruntergekommen, viel tiefer heruntergekommen als die Stadt.“ § Frost 1963 Das letzte Zitat benötigt eventuell einen Kommentar zur nationalsozialistischen Bewertung der Menschen in Kategorien wie Untermenschen, die hier von Bernhard zwar terminologisch übernommen, aber umgedreht und auf die von den Nazis hochgelobte Landbevölkerung gemünzt wird. Sprachliche und inhaltliche Mischungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit setzt Bernhard gezielt ein, so : • „Das katholisch-nationalsozialistische Element, die katholisch-nationalsozialistischen Erziehungsmethoden, sind aber die in Österreich normalen, die üb-
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lichen, die am weitesten verbreiteten und wirken sich also überall ungehemmt auf dieses ganze letzten Endes nationalsozialistisch-katholische Volk verheerend und grausam aus. … Das ist die österreichische Wahrheit : Der österreichische Mensch ist durch und durch ein nationalsozialistischer-katholischer von Natur aus, er mag sich dagegen wehren, wie er will. … Der österreichische Kopf denkt immer nur nationalsozialistisch-katholisch.“ § Auslöschung 1986 • „Zuerst dieser gemeine und niedrige Nationalsozialismus und dann dieser gemeine und niedrige und verbrecherische Pseudosozialismus … Diese nationalsozialistische und pseudosozialistische Zerstörung und Vernichtung unseres österreichischen Vaterlandes in Zusammenarbeit mit den österreichischen Katholizismus, von welchem für dieses Land immer nur Unheil ausgegangen ist.“ § Auslöschung 1986 Das Stilmittel der Wiederholung wurde von den LernerInnen immer erkannt, trotzdem sollten noch expressive Beispiele genannt werden : • „Die schmutzigen Charaktere versuchen fortwährend die anderen in ihrem Schmutz hineinzuziehen, dafür sind sie ja schmutzige Charaktere ; und es gelingt ihnen früher und später, wie wir sehen, mit grausamer Deutlichkeit.“ § Frost 1963 • „Der Jurist ist ein Instrument des Teufels. Im allgemeinen ein teuflischer Dummkopf, der mit der Dummheit der noch viel Dümmeren rechnet und dessen Rechnung immer aufgeht.“ § Frost 1963 • „Die Politiker enteignen hin und her. Hin und her wird enteignet. Sie enteignen und ruinieren. Die Natur wird ruiniert. Enteignet ! rufe ich aus, ich sage : hoffentlich enteignet sich bald dieser Staat selber. Er möge sich selbst enteignen, rufe ich aus, entleiben.“ § Verstörung 1967 • „Diese jungen Menschen habe ich gelehrt, wie man eine Welt, die vernichtet gehört, vernichtet, aber sie haben nicht die Welt vernichtet, die vernichtet gehört, sondern haben mich, der ich sie gelehrt habe, wie man die Welt, die vernichtet gehört, vernichtet, vernichtet.“ § Watten 1969 • „Wir haben heute keinen tatsächlichen Sozialismus auf der Welt, nur diesen verlogenen, geheuchelten, vorgetäuschten, das sollten sie wissen. Wie diese heutigen Sozialisten keine tatsächlichen sind, sondern geheuchelte, verlogene, vorgetäuschte. Dieses Jahrhundert hat es zustande gebracht, das Ehrenwort Sozialismus in einer Weise in den Schmutz zu ziehen, dass es gerade zum Erbrechen ist.“ § Auslöschung 1986
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Dass Reihungen von Adjektiven und Verben weniger typisch sind für Bernhard, leuchtet den LernerInnen ein. • Die große Koalition als „pervers-impotent-nazistische Zweiparteiendikatur“ hätte das Land in einen Abgrund geführt. § Politische Morgenandacht 1966 • „in jedem einzelnen ist die Synthese… Und die Philosophien, nicht die Philosophen, nicht die Philosophen wohlgemerkt, philosophieren, das heißt verundeutlichen, verfinstern, verübeln, vernichten.“ § Ungenach 1968. Den extremen Nominalstil vermochten sie nämlich bereits in den ersten Texten leicht nachzuvollziehen. Weitere Beispiele hierfür : • „Überhaupt die Landbevölkerung ! Das Land ist kein Quellbezirk mehr, nur noch eine Fundgrube für Brutalität und Schwachsinn, für Unzucht und Größenwahn, für Meineid und Todschlag, für systematisches Absterben !“ § Frost 1963 • „Eine gespenstische Symmetrie der Minderwertigkeit und der Ausweglosigkeit der Minderwertigkeit ist unsere Verfassung geworden. Unser Volk ist ein Volk ohne Vision, ohne Inspiration, ohne Charakter. Intelligenz, Phantasie sind ihm keine Begriffe. Ein Volk von Schleichhändlern und Dilettanten, zeugt es sich in jedem Augenblick in seinem alpenländischen Exklusivschwachsinn fort.“ § Politische Morgenandacht 1966 • Jede Fotografie § „eine absolute Verletzung der Menschenwürde, eine ungeheure Naturverfälschung, eine gemeine Unmenschlichkeit“ § Auslöschung 1986 Dieser Stil wird häufig durch Nominalisierungen unterstützt : • „Ein ewiges ‚Denken- und Gleichtraurigmachen‘ sei sie [= die Erinnerung], nicht für sich allein : für ‚tägliche Unklarheit und tägliches Immerverzweifeltseinmüssen‘.“ § Frost 1963 • „Die Wirtin kommt gar nicht nach mit dem Bierhereintragen, …“ § Frost 1963 • „Von ganz gewohnheitsmäßigen Türenzuschlagern kann man sogar getötet werden.“ § Frost 1963 • „dieses fürchterliche IndenFäustlingschlüpfen, … wenn an dem halbfertigen Fäustling die Stricknadeln baumeln.“ § Das Kalkwerk 1970 • „Ich habe Selbstgestricktes immer gehasst, wie Selbstgekochtes, wie alles Selbstgemachte im Haushalt überhaupt. … sie waren tatsächlich von einem
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Einkoch- und Einweckwahn besessen, solange ich denken kann, und von diesem Einkoch- und Einweckwahn nicht mehr zu heilen gewesen.“ § Auslöschung 1986 „Der Katholizismus ist der große Zerstörer der Kinderseele, der große Angsteinjager, der große Charaktervernichter des Kindes. Das ist die Wahrheit.“ § Auslöschung 1986 „Die Jäger waren auch immer die Radaumacher, die Aufwiegler.“ § Auslöschung 1986 „sogenannte Wiener Gemütlichkeit, deren Teuflisch-Stumpfsinniges mich auch immer abgestossen hat.“ § Auslöschung 1986 „von dem Indieluftsprengen und Zersägen der Welt besessen.“ § Auslöschung 1986 „Den sich an der Philosophie Vergreifenden, hat sie mich einmal genannt, den sich am Geist Versündigenden.“ § Auslöschung 1986 „Vordenkopfstoßer“, „Gesprächszusammenschlagerin“, „Unterdurchschnittlicher“ § Auslöschung 1986 „Gesellschafts- und Gesellschaftenhasser“, „Inruhegelassensein war sein höchstes Glück“ § Heldenplatz 1988
Als vertiefender Exkurs bietet sich hier die Erläuterung der Nominalisierung als unendliche Schimpfwortquelle an. Gerade die in den letzten Jahren so beliebten, ständig neu und mitunter spontan gebildeten Varianten für „Weichling“ wie Warmduscher, Haustürzweifachabschließer, Beckenrandschwimmer, Emailarchivierer, Fenchelteetrinker, Milchzahnaufheber, Joghurtbecherspüler, Den-Koch-Lober, Klodeckel-Runterklapper oder Nach-dem-Sex-Kuschler können als lebendige Beispiele dienen. Dass diese Neologismen einen hohen Unterhaltungswert haben, liegt auf der Hand. Doch darüber hinaus haben es manche dieser Ausdrücke sogar in den Duden geschafft. Die große Zahl der mittlerweile eingebürgerten Termini § mit der stets gleichen Grundbedeutung, was für die leichte Verwendbarkeit wichtig ist § finden sich im Internet. Eine kleine Auswahl von solchen Nominalisierungen auf A : Abziehbildtätowierer, Achselhöhen-Rasierer, Achterbahn-in-der-Mitte-Sitzer, Airbag-Fahrer, Alkoholfreies-Biertrinker, Alle-die-mich-kennen-Grüsser, Alten-Leuten-den-SitzAnbieter, Alufolien-Griller, Am-30.-Geburtstag-Krisenkrieger, Ampel-Grüngänger, Ampel-Ranroller, An-das-Gute-im-Menschen-Glauber, Apfel-Schäler usw.29 Anhand dieser Beispiele kann man die humorvolle Aggressivität, die in 29 Eine der vielen im Internet erhältlichen Sammlungen § mit über 3000 § im Alphabet geordneten
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dieser künstlichen Sprachbenutzung liegt, schön aufzeigen und mit Bernhards Vorgehen vergleichen. Weiter verstärken die unzähligen Komposita den Nominalstil Bernhards : • „Unterleibskerkerhaft“, „Brunnenmacherlehrling“, „Die einzige Weisheit ist die Schlachthausweisheit“ § Frost 1963 „Unser Staatsoberhaupt sei ein ‚Konsumvereinsvorsteher‘, unser Kanzler ein ‚Naschmarktzuhälter‘. Das Volk könne wählen zwischen Schlächtermeistern, Spenglergehilfen, stupid aufgeschwemmten Kuttenträgern, nur zwischen Leichenfledderern und Leichenfleddererstellvertretern. Die Demokratie, ‚unsere Demokratie‘, sei der größte Schwindel ! Unser Land liege Europa im Magen, unverdaulich, wie ein von im ‚unzurechnungsfähig hinuntergeschluckter Klumpfuss‘. Selbst ‚unser Tanz ist tot, unser Tanzen und Singen ist tot ! Alles pseudo ! Alles ist nur mehr ein Firlefanz. Lächerliche verheerende Firlefanzerei ist das alles ! Das Nationale Nationalschande !“ § Frost 1963 • „geistes- und kulturgeschichtlicher Ausverkaufsrest“, Schulen als „gigantische Vernichtungsanstalten“ oder „Menschenverunstaltungsanstalten“, Mutter „die Eferdingerin“ „diese Fleischhauerstochter mit ihrer Fleischhauerphysiognomie … mit ihrem Fleischhauerlebensinhalt“ § Korrektur 1975 • Elias Canetti als “Aphorismen-Agent der Jetzt-Zeit“, „Torschlussphilosoph“, „Schmalkant und Kleinschopenhauer“ § Leserbrief an Die Zeit 1976 • Krankenhaus als „Antiheilungs-, ja Menschenvernichtungsmaschine“ § Der Atem 1978 • Kreisky als „Staatsclown“, „Salzkammerguttito“ und „Walzertito“ § Leserbrief an Die Zeit 1979 ; „Halbseidensozialist“, „Beschwichtigungsonkel“, „WeltHandleser“, „Höhensonnenkönig“ und „Sozimonarch“ § Der pensionierte Salonsozialist 1981 • „Zweitschopenhauer, Zweitkant, Zweitnovalis“ § Der Untergeher 1983 • „Wien ist eine fürchterliche Genievernichtungsmaschine, eine entsetzliche Talentezertrümmerungsanstalt.“ § Holzfällen 1984 • „Gottmissbraucher“, Philharmoniker als „Allerweltsorchester“, „Industriekleidermassenmenschen“, „Loos-Schemel“, „Ottowagnersessel“, Mozarts „Unterhöschenkitsch“, Dürer als „Ur- und Vornazi“, Heidegger als „Kitschkopf“ und „Frauenphilosoph“ § Alte Meister 1985 und von Besuchern bewerteten § „Warmduscher-Ausdrücken“ ist http ://www.warmduscher-abc. ch/, Zugriffsdatum 07.07.2011.
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• „Weinflaschenstöpselfabrikant“ • „Biedermann“ philosophischer Kleinbürger und Lebensopportunist Goethe als „Insekten- und Aphorismensammler mit seinem philosophischen Vogerlsalat“, „der Gesteinsnummerierer, der Sterndeuter, der philosophische Daumenlutscher der Deutschen, der ihre Seelenmarmelade abgefüllt hat in ihre Haushaltsgläser“ § Auslöschung 1986 Auch hier sollte der beleidigende Charakter, den allein die Künstlichkeit längerer Komposita wie „Brunnenmacherlehrling“ oder „Weinflaschenstöpselfabrikant“ nach sich zieht, Erwähnung finden. Die einzelnen Bestandteile sind hingegen keineswegs wertend. Als zweiter Exkurs kann in Folge das deutsche Kompositum aufgrund freier Neologismen als zweite unendliche Schimpfwortquelle erläutert werden, sei es mit ein paar typischen österreichischen Schimpfwörtern wie „Zimmerplanzerl“, „Fließbandcasanova“ oder „Zweiflscheißer“, sei es mit politisch verwendeten Schimpfwörtern wie „Westentaschennapoleon“ oder „Karawankenschirinowski“, dessen Hintergründe natürlich erklärt werden müssen : Nach den Sanktionen der übrigen EU-Staaten gegen die österreichische Regierungsbildung unter Einbindung der Rechtspopulisten 2000, bezeichnete Jörg Haider Jacques Chirac mit dem ersten Kompositum. Haider selbst wurde mit dem peinlichen russischen Rechtspopulisten verglichen. (Beides sind schöne Beispiele wie jeweils das erste oder zweite Wort des Kompositums die Aggression in sich tragen kann.) Dass das Feuilleton auch Komposita auf und gegen Bernhard gemünzt hat, kann hier ebenso Erwähnung finden : Bernhard als „Unterganghofer“30 in Anspielung auf den bayrischen Heimatdichter Ludwig Ganghofer, als „Kryptokomiker“, als „Alpen-Beckett“31 oder „Vollblutbosnigl“.32 Die Produktion von Komposita wird mit dem Hinweis erleichtert, dass Zusammensetzungen, bei denen die ersten Teile zur Verstärkung, Verniedlichung oder Lächerlichmachung dienen, wie bei Provinz-, Vorstadt-, Operetten-, Möchtegern-, Nachwuchs-, Erz-, Mega- etc., besonders einfach zu bauen sind.
30 Schuh, Franz : „Unterganghofer Thomas Bernhard in Anekdote und Selbstzeugnis“, in : salz 1, 2/1975, S. 8. 31 Rummler, Franz : „Alpen-Beckett und Menschenfeind“, in : Der Spiegel, 31.07.1972. 32 Weinzierl, Ulrich : „,Bernhard als Erzieher‘. Thomas Bernhards Auslöschung“, in : The German Quarterly, 63, 3§4/1990, S. 455§461, hier S. 456.
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Der Superlativ ist natürlich ein weiteres Bernhards Sprache konstituierendes Merkmal : Häufig wird in seinen Texten „zutiefst verabscheut“ und „verletzt“ ; Ablehnung wird expressiv verdeutlicht mit Ausdrücken wie „auf das grobschlächtigste“, „auf die deprimierendste Weise“, „auf das erschütterndste“, „auf die grauenhafteste Weise“, „unter den fürchterlichsten Umständen“, „auf das Tödlichste“, „in höchstem Maß uninteressant“ … und : • „Weng ist der düsterste Ort, den ich jemals gesehen habe.“ „Er habe ‚die schlechteste Erziehung gehabt, die denkbar schlechteste‘.“ „Und sehen Sie : das größte Unglück geht von den Lehrern aus. Krieg und Unglück.“ „Der psychiatrische Arzt ist der inkompetenteste und immer dem Lustmörder näher als einer Wissenschaft. … gegen die allen anderen, ja letzten Endes auch immer nur unheilbringenden Ärzte, doch viel weniger gefährlich sind, … Die psychiatrischen Ärzte sind die tatsächlichen Teufel unserer Zeit.“ „Es gibt Namen, die, wenn man sie hört, einem mehr Übelkeit verursachen als die größte Unappetitlichkeit, die man sich vorstellen kann.“ § Frost 1963 • „Musterbeispiele für eine von den Jahrmillionen und Jahrtausenden auf die ordinärsten Körperexzesse hin konstruierten Steiermark“ § Verstörung 1967 • Staat war imstande gewesen, ihn „jahrelang auf das tiefste zu quälen und bis in die Zellen hinein auf das tödlichste zu stören“ § Prosa 1967 • „Die Gesellschaft / ist die rücksichtsloseste / zeigt ein Mensch eine Schwäche / wird diese Schwäche / ausgenützt / darauf beruht alles.“ § Der Ignorant und der Wahnsinnige 1972 • „Dann, wenn die ganze Welt auf das fürchterlichste und geschmackloseste und verbrecherischte verbaut ist, ist es zu spät, dann ist die Erdoberfläche tot. Wir können uns nicht wehren gegen die Vernichtung unserer Erdoberfläche durch die Architekten !“ § Korrektur 1975 • Lieber „kürzesten Prozess“ „als sich nach und nach durch einen staatlich-faschistisch-sadistischen Erziehungsplan als staatsbeherrschendes Erziehungssystem nach den Regeln der damaligen großdeutschen Menschenerziehungsund als Menschenvernichtungskunst zerstören und vernichten zu lassen.“ § Die Ursache 1975 • „In Lübeck stinkt es am mitleidslosesten.“ § Minetti 1977 • „An dieser seiner sogenannten Geisteskrankheit hat sich die Hilflosigkeit der Ärzte und der medizinischen Wissenschaften insgesamt auf das deprimierendste bewiesen.“ § Wittgensteins Neffe 1982
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• „Die Lehrer sind von allen sogenannten Gebildeten die gefährlichsten und die niederträchtigsten, … sie stehen, was ihre Gemeinheit betrifft, auf gleicher Stufe mit den Richtern, die alle auf einer sehr niedrigen Stufe der menschlichen Gesellschaft stehen. Die Lehrer und die Richter sind die gemeinsten Knechte des Staates …“ „Was für scheußliche Kreaturen in diesem Österreich heute die Macht haben ! Die Niedrigsten sitzen jetzt oben. Die Widerwärtigsten und die Gemeinsten haben alles in der Hand und sind drauf und daran, alles, das etwas ist, zu zerstören.“ „Was gibt es Fürchterlicheres, als sich mit Ärzten zu unterhalten, die in der Regel die uninteressantesten Menschen auf dem Erdball sind, weil sie die uninteressiertesten sind.“ „Schriftsteller insgesamt sind die widerwärtigsten Leute, die es gibt“ § Auslöschung 1986 • „diesem fürchterlichsten aller Staaten“, „die Schweinerei oberstes Gebot“, „In Österreich ist alles/immer am schlimmsten gewesen“ § Heldenplatz 1988 Ebensowenig fehlen dürfen die sprachlichen Markierungen der Ausschließlichkeit und Verabsolutierung wie ganz, in jedem Fall, fortwährend, immer, ununterbrochen, überall, unendlich, absolut, einzig und :
• „Das ganze Land ist ja, wie man sieht, voller Verbrecher. Voller Mörder und Brandstifter.“ § Frost 1963 • „Aber in Wirklichkeit halten hier … alle allen alles vor.“ „… In Ischl, wo jeder über jeden alles wisse, …“ § Prosa 1967 • „Opfer einer durch und durch kranken, zur Gewalttätigkeit sowie zum Irrsinn neigenden Bevölkerung“ § Verstörung 1975 • Im Salzburger Landeskrankenhaus ausgeliefert an „Ereignisse und Geschehnisse, rücksichtslos und erbarmungslos wie keine anderen“ § Der Atem 1978 • „Die Auslöscher und die Umbringer bringen die Städte um und löschen sie aus und bringen die Landschaft um und löschen sie aus. Sie sitzen auf ihren dicken Ärschen in den Tausenden und Hunderttausenden von Ämtern in allen Winkeln des Staates und haben nichts als die Auslöschung und das Umbringen im Kopf, sie denken nichts anderes, als wie sie alles zwischen dem Neusiedlersee und dem Bodensee gründlich auslöschen und umbringen können. Wien ist schon beinahe umgebracht …“ „Meine Mutter war die Geizigste, geiziger als alle andern.“ „Der Nationalsozialismus hatte ihnen in allem und jedem entsprochen, sie hatten sich ihn ihm sozusagen selbst entdeckt.“
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„Der österreichische Kopf denkt immer nur nationalsozialistisch-katholisch. Auch die österreichischen Denker haben immer nur so, mit einem solchen unappetitlichen nationalsozialistisch-katholischen Kopf gedacht. Gehen wir in Wien auf die Straße, sehen wir letzten Endes nur Nationalsozialisten und Katholiken, …“ „Heute leben alle diese Leute in guten Verhältnissen tatsächlich völlig ungeschoren in den verschiedensten, wie gesagt wird, schönsten Winkeln des Landes und beziehen außerdem jeder für sich eine horrende Staatspension.“ § Auslöschung 1986 Diese Ausschließlichkeit unterstützt der Autor noch durch Pseudowissenschaftlichkeit und ein Pochen auf Wahrheit, wie in folgenden Zitaten : • „Wissenschaftlich betrachtet stellt die Frau die Verhöhnung des Mannes dar …“ § Frost 1963 • „Tatsächlich erschreckt mich diese Gegend, noch mehr die Ortschaft, die von ganz kleinen, ausgewachsenen Menschen bevölkert ist, die man ruhig schwachsinnig nennen kann. Nicht größer als ein Meter vierzig im Durchschnitt torkeln sie zwischen Mauerritzen und Gängen, im Rausch erzeugt.“ § Frost 1963 • „Und dass die Proleten (das muss sein !) keine Kultur haben, und dass das Proletariat keine Kultur hat, und dass Proleten wir Proletariat die Kultur gar nicht wollen, weil die Kultur mit dem Begriff des Proletariats überhaupt nicht vereinbar ist usf., usf., ist eine unwiderlegbare Tatsache.“ § Frost 1963 • „Die Jurisprudenz erzeugt ja die Verbrechen, das ist die Wahrheit. Ohne die Jurisprudenz gäbe es keine Verbrechen. Ist Ihnen das geläufig ? So unverständlich das ist, so tatsächlich ist es.“ § Frost 1963 • „tatsächlich läßt es sich beweisen, dass das Unglück der Welt zu einem Großteil auf die Jäger zurückzuführen ist, alle Diktatoren sind leidenschaftliche Jäger gewesen, …“ § Auslöschung 1986 • „Der Nationalsozialismus ist immer ihr Ideal gewesen, wie für mindestens neunzig Prozent der österreichischen Frauen“ § Auslöschung 1986 Gerade hier können die DeutschlernerInnen Bernhards Technik erkennen, offensichtliche Absurditäten, Skurrilitäten und haltlose Vorwürfe von bestätigenden Wendungen wie „wissenschaftlich betrachtet“ und vermeintlich empirisch belegten Zahlen scheinbar bestätigen zu lassen. Auch darin zeigt sich ihnen die Komik Bernhards.
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Insgesamt lässt sich durch diese Schematisierung von Bernhards pejorativer Schreibweise nicht nur seine Technik des Beleidigens und Beschimpfens klarer aufzeigen, sondern auch die strukturbildende Muster verdeutlichen, die den LernerInnen eine eigenständige, kreative Nachahmung gestattet. 5. Phase : „Schimpfwettbewerb“ und Abschluss In gebührender Zeit, allein oder in kleinen Gruppen, können die DeutschlernerInnen nun eigene Bernhard’sche Konstrukte bilden, vor allem Nominalisierungen und Komposita, doch auch einen Bernhardesken Satz. Bei den Veranstaltungen gab es Preise für die originellsten Ausdrücke. Slowenische Studierende kreierten so klassische Warmduscher-Ausdrücke wie „Oma-auf-die-andere-StraßenseiteHelfer“, „Warmbiertrinker“, „Duschhaubenduscher“, „Kilometerlangeemailschreiberin“, „Hausaufgabenschreiber“ und „Erster-Zweiter-Gang-Autofahrer“ sowie skurrilere Neologismen wie „Kaugummiunterdentischkleber“ „Enge-mitZebrastreifen-bemalte-Badehosen-Träger“, „Auf-nicht-wachsende-PflanzenSchreier“ oder „MySpaceunikatkopierkünstler“. Ein Student im zweiten Jahr amüsierte sich in einem Satz über die österreichische Fußballnationalmannschaft, die auch 2008 bei der Europameisterschaft im eigenen Land nicht an alte Erfolge anschließen konnte : Diese Alpenlandkicker, die Teamchefs der 11 untalentiertesten Möchtegernballhinterherläufer, die selbst vor der Torlinie das Tor verfehlen. Die Kabinenprediger, diese immeraufcordobajaulendenkranklprohaskagestörten Wahnsinnigen, die auch noch Geld ausgeben, um diesem 90-Minuten-Schönbrunnjogging zuzusehen. […]
SchülerInnen verfassten immerhin die Neubildungen „Immersalatesser“, „Umachtuhrschlafer“, „Immeramfreitagzuhausebleiber“, „Blonde-Barbie-mit-blauenKleidern-Einkäufer“, „Grimmmärchenleser“, „Nachdemfilmweiner“, „Nachder-Schule-gleich-nach-Hause-geher“, „Niedenkulizurückgeber-Ausleiher“, „Einmalprowocheunterhosenwechsler“, „Weißesockenundsandalenträger“, „Immerindererstenreihesitzer“, „Immerfalschmacher“, „Immer-die-letzte-StundeLerner“ oder „Nachbarndurchdasfensterbeimfernsehenzuschauer“. Nach einer hurtigen Juryarbeit, einer kleinen Preisverleihung und Nachbesprechung wurden den Studierenden Lektüreempfehlungen unterschiedlicher Länge und Art zu Bernhard mit auf dem Weg gegeben.
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Resümee Thomas Bernhard spricht Deutschlernende sehr unmittelbar an und seine Schimpftiraden eignen sich hervorragend zur Verständlichmachung zentraler Aspekte des Wesens der Literatur, verschiedener Facetten der österreichischen Kultur und des Gebrauchs unterschiedlicher sprachlicher Phänomene wie Komposita, Nominalisierungen oder Superlative, was hier anhand der konkreten Präsentation eines Workshops gezeigt wurde. Die positive Einstellung, welche auch sonst nicht allzu literaturbegeisterte LernerInnen zu Thomas Bernhard dabei gewonnen haben, besticht § Kommentare wie „Er ist unser Vorbild !“ oder „Wir lieben Bernhard“ fanden sich ungefragt auf den abgelieferten Papieren des abschließenden Wettbewerbs. Auch von den Bibliotheken vor Ort wurde gemeldet, dass eine spürbare Nachfrage nach Bernhards Bücher einsetzte § außerhalb irgendwelcher curriculären und schulischen Verpflichtungen. Die große motivierende Wirkung der Bernhard’schen Sätze und Wortkreationen spiegelte sich auch in der hohen sprachlichen Qualität der produzierten Ausdrücke durch die Wettbewerbsteilnehmer. Bernhard kann darum erfahrungsbedingt ausdrücklich für den DaF-Unterricht empfohlen werden, das präsentierte Modell versteht sich dabei „naturgemäß“ nur als ein Vorschlag. Literaturverzeichnis Von Thomas Bernhard Bernhard, Thomas : Frost. Frankfurt am Main 1976 [1963]. Bernhard, Thomas : Verstörung. Roman. Frankfurt am Main 1972 [1967]. Bernhard, Thomas : Prosa. Frankfurt am Main 1971 [1967]. Bernhard, Thomas : Ungenach. Erzählungen. Frankfurt am Main 1970 [1968]. Bernhard, Thomas : Watten. Ein Nachlaß. Frankfurt am Main 1970 [1969]. Bernhard, Thomas : Das Kalkwerk. Frankfurt am Main 1976 [1970]. Bernhard, Thomas : Der Ignorant und der Wahnsinnige. Frankfurt am Main 1981 [1972]. Bernhard, Thomas : Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg 1975. Bernhard, Thomas : Korrektur. Roman. Frankfurt am Main 1990 [1975]. Bernhard, Thomas : Der Keller. Eine Entziehung. Salzburg 1976. Bernhard, Thomas : Minetti. Ein Porträt des Künstlers als alte Mann. Frankfurt am Main 1977. Bernhard, Thomas : Die Kälte. Eine Isolation. Salzburg 1981. Bernhard, Thomas : Ein Kind. Salzburg 1998 [1982]. Bernhard, Thomas : Wittgensteins Neffe. Frankfurt am Main 1987 [1982].
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Bernhard, Thomas : Der Untergeher. Frankfurt am Main 1988 [1983]. Bernhard, Thomas : Holzfällen. Eine Erregung. Frankfurt am Main 1988 [1984]. Bernhard, Thomas : Alte Meister. Komödie. Frankfurt am Main 1989 [1985]. Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 1988 [1986]. Bernhard, Thomas : Heldenplatz. Frankfurt am Main 1989 [1988]. Bernhard, Thomas : Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Frankfurt am Main 2006. Bernhard, Thomas : Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilleton. Hg. von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Berlin 2011. Zu Thomas Bernhard Ervedosa, Clara : ,Vor den Kopf stoßen‘. Das Komische als Schock im Werk Thomas Bernhards. Bielefeld 2008. Fleischmann, Krista (Hg.) : Thomas Bernhard. Eine Begegnung. Wien 1991. Höller, Hans : Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 1993. Hoffmann, Kurt (Hg.) : Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. Wien 1988. Jahraus, Oliver : Die Wiederholung als werkkonstitutives Prinzip im Œuvre Thomas Bernhards. Frankfurt am Main 1991. Kreuzwieser, Markus : „Thomas Bernhard im Oberstufen-Literaturunterricht und im Freifach Literatur einer Gmundner Mittelschule“, in : Gebesmair, Franz/Pittertschatscher, Alfred : Bernhard-Tage Ohlsdorf 1994. Weitra 1994, S. 248§276. Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Stuttgart, Weimar 1995 (= Sammlung Metzler, Bd. 291). Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Frankfurt am Main 2006 (= Suhrkamp BasisBiographie, Bd. 11). Niklas, Annemarie : „Wenn die Sätze aus den Fugen quellen. Mit Schülern Thomas Bernhards Sprache untersuchen“, in : ide, 2, 2010, S. 63§72. Pfabigan, Alfred : Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment. Wien 1999. Schmidt-Dengler, Wendelin : Literatur in Österreich 1945 bis 1966. Skriptum zur Vorlesung WS 1993/94. Wien 1994. Schmidt-Dengler, Wendelin : Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard. Wien 2010. Schütte, Uwe : Thomas Bernhard. Köln, Weimar, Wien 2010. Sorg, Bernhard : Thomas Bernhard. München 1992. Zur Literatur im DaF-Unterricht Bredella, Lothar : „Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht. Gründe und Methoden“, in Heid, Manfred (Hg.) : Literarische Texte im kommunikativen Fremdsprachenunterricht. München 1985, S. 507§519.
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Johann Georg Lughofer
Bredella, Lothar : „Die welterzeugende und die welterschließende Kraft literarischer Texte : Gegen einen verengten Begriff von literarischer Kompetenz und Bildung“, in : Ders./ Hallet, Wolfgang (Hg.) : Literaturunterricht, Kompetenzen und Bildung. Trier 2007, S. 65§87. Ehlers, Swantje : Literarische Texte lesen lernen. München 1992. Ehlers, Swantje : Lesen als Verstehen. Zum Verstehen fremdsprachlicher literarischer Texte und zu ihrer Didaktik. Berlin, München 1992. Ehlers, Swantje : „Literarische Texte im Deutsch als Fremd- und Zweitsprachen-Unterricht. Gegenstände und Ansätze“, in : Krumm, Hans Jürgen et al. (Hg.) : Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin 2010, S. 1530§1544. Goethe-Insitut et al. (Hg.) : Fremdsprache Literatur. Fremdsprache Deutsch. 44, 2011. Hunfeld, Hans : Literatur als Sprachlehre. Ansätze zu einem hermeneutischen Fremdsprachenunterricht. Berlin, München 1990. Koppensteiner, Jürgen : „Literatur im DaF-Unterricht. Arbeitsvorschläge mittels produktionsorientierter Techniken“, in : Krumm, Hans-Jürgen/Portmann-Tselikas, Paul (Hg.) : Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache. 6/2002. Schwerpunkt Literatur im DaF-Unterricht. Innsbruck, Wien 2002, S. 41§55. Krenn, Wilfried : „Garnierung oder Hauptgericht ? Überlegungen zum Einsatz literarischer Kurztexte im Unterricht Deutsch als Fremdsprache“, in : Portmann-Tselikas, Paul R./Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) : Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache. 6/2002. Schwerpunkt Literatur im DaF-Unterricht. Innsbruck, Wien 2002, S. 15§40. Neuner, Gerhard/Hunfeld, Hans : Methoden des fremdsprachlichen Deutschunterrichts. Berlin, München 1993. Šlibar, Neva : „Transformationsraum Literaturunterricht ? Literarische Kompetenzen als Herausforderung und Chance“. In : Pismo, Jg. 6, 1/2008, S. 187§203. Šlibar, Neva : „Empowerment through literature in the language classroom“, in : Tidskrift för lärarutbildning och forskning, Jg. 15, Nr. 2/2008, S.. 73§85. Šlibar, Neva : „Die siebenfache Fremdheit der Literatur als Grundlage eines Referenzrahmens literarischer Kompetenzen (für den DaF-Literaturunterricht)“, in : Estudios filológicos alemanes, Jg. 17, 2009, S. 325§337. Wicke, Rainer E.: Aktive Schüler lernen besser. Ein Handbuch aus der Praxis für die Praxis. München 1993.
Zusammenfassungen
Matjaž Birk „Ich halte es für besser, zu reden, als zu korrespondieren, denn in der Korrespondenz kreuzen sich seit Jahrtausenden die Missverständnisse, wie Sie wissen“ Der Verleger und sein Autor – Ein Rückblick auf das Jahr 1970
In der ausgewählten Autobiographik, darunter in dem Merkmale der literarischen Korrespondenz aufweisenden Briefaustausch zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard, in Chroniken und Reiseberichten, gelangte der Leiter des Suhrkamp-Verlagshauses in der ersten Zeit der Bernhard’schen-Ära beim Verlag zur Inszenierung als Kulturvermittler, der seine überragenden, gleichmäßig verteilten Kompetenzen im Literaturbetrieb in bewährten wie auch innovativen Konkretisierungsformen systematisch zur Anwendung brachte. Er verfolgte das Ziel, Aufmerksamkeit auf Bernhards Werk zu lenken. Unter Einbindung von Machtträgern wie Anwärtern auf etablierte Positionen im künstlerischen Feld aus seinem weitausgespannten Vernetzungsgeflecht (bis 1970 vorwiegend im Presseund Theaterbereich), wurde mit dem durchschlagendem Hamburger Erfolg von Ein Fest für Boris ein signifikantes Publikum für Bernhards Literatur geschaffen und mit Kalkwerk erstmals der angestrebte Zusammenfall von symbolischem und ökonomischem Kapital erreicht. In konfliktträchtigen Situationen wusste Unseld aus seiner pragmatischen Vermittlerstellung diverse Kapitalformen für den Verlag und sich selbst zu erwirtschaften und die Bernhard zugeteilten Gratifikationen wie seine weniger günstigen Dispositionen und die gegen Konventionalismus gerichteten Umgangsweisen mit Konsekrationsinstitutionen mit dem Ziel der Positionierung im literarischen Feld der Avantgarde zu instrumentalisieren. Dies geschah unter der Hervorhebung der Neuheit und Originalität der Bernhardschen Ästhetik. Unselds Förderung der Literatur Bernhards resultierte aus seiner festen Überzeugung, durch sie würden die Voraussetzungen zur Autonomisierung und Selbstbewusstwerdung des literarischen Feldes geschaffen. Bernhards Reaktion auf Unselds literaturvermittelnde Tätigkeit war kontroversiell, gespeist aus der
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Kritik an dem meist als unausreichend inszenierten Engagement des Verlegers bei der Vermittlung und Feldpositionierung, worin Bernhard unter den Autoren und Autorinnen des Verlags keine Ausnahme war. Aus strategischen Gründen wurde Unseld von seinem Autor in den ersten Jahren ihrer Beziehung auf Distanz gehalten, bei gleichzeitiger Inszenierung des Wunsches nach der Stärkung der Bande. In dieser Ambivalenz gemahnt Bernhards Haltung an die Beziehung Joseph Roths zu seinen Verlegern im Exil. Unselds Bemühungen um die Überwindung der Zurückhaltung seines in der Analogie zu sich selbst als einem dem humanistischen Ethos verpflichtet inszenierten Autors, stoßen bei letzterem auf unterschiedliche, meist widersprüchliche Resonanz und brachten auch später nicht die vom Verleger herbeigesehnte Vertrautheit. Schlüsselwörter
Literatursoziologie, Literaturvermittlung, Verleger-Autor-Beziehung, Autobiographik. Jason Blake Was hätte Glenn Gould über Bernhards Roman Der Untergeher gesagt ? Die (kanadische) Persönlichkeit in und hinter dem Werk
Dieser Beitrag betrachtet die Gould-Figur in Thomas Bernhards Roman Der Untergeher und deutet auf Unstimmigkeiten zwischen Bernhards fiktiven und dem realen Pianisten. Ein anderer Schwerpunkt dieses Beitrags ist Goulds negative Meinungen dem Wettbewerb gegenüber und seine gleichzeitige Besessenheit mit seinem älteren Klavierkollegen und Konkurrenten Vladimir Horowitz, also gerade dem Pianisten, den Bernhard als fiktiven Lehrer gewählt hat. Darüber hinaus wirft der Beitrag Licht auf Gould als kanadische Klassik-Ikone zu einer Zeit, als Kanada besonders von kulturellen Minderwertigkeitsgefühlen belastet und als die kulturelle Sehnsucht nach Europa besonders stark war. Schlüsselwörter
Glenn Gould, Wettbewerb, kulturelle Minderwertigkeitsgefühle, kulturelle Sehnsucht.
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Paola Bozzi Vom diskreten Charme der Bourgeoisie und anderen obskuren Objekten der Begierde Zu einigen Parallelen zwischen Thomas Bernhard und Luis Buñuel
Das literarische Œuvre Thomas Bernhards gehört mittlerweile zum Kanon der Gegenwartsliteratur. Entsprechend haben sich auch die Interpretationen, die zu seinem Werk vorliegen, auf einen relativ ‚kanonisierten‘ Standard eingespielt. In meinem Beitrag möchte ich über den status quo der Forschung hinausgehen und einen Vergleich mit dem spanisch-mexikanischen Filmemacher Luis Buñuel wagen. Denn beide Autoren haben den Skandal gepflegt und regelmäßig für Aufregung und Irritation gesorgt, suggestiv und bildungsreich Anklage erhoben, Attacken gegen Kirche und Kultur, Staat und Gesellschaft geführt und ein in sinnloser Wiederholung erstarrtes Bürgertum bzw. eine karnevaleske Welterfahrung geschildert. Zu untersuchen sind dabei die „Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigene Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten“, wie es Siegfried Kracauer ausgedrückt hat. In diesem Sinne sind Parallelen zwischen ihren Werken aufzuzeigen, die ein neues Licht auf einige Konstanten des Bernhardschen Œuvre werfen könnten. Schlüsselwörter
Karneval, Gegenkultur, Lachen, Anarchismus. Jack Davis Gift spritzen Der Heldenplatz-Skandal als mediale Ansteckung
Dieser Beitrag arbeitet die Bedeutung des „Ansteckungsbegriffs“ für den Heldenplatz-Skandal heraus und hebt dabei zugleich seine überraschende doppelte Relevanz hervor : für textimmanente Prozesse in Bernhards Œuvre ebenso wie für die publizistische Rezeption seiner Schriften. Die ambivalente medizinische Bildersprache erweist sich aus dieser Perspektive als symptomatisch für die mediale „Ansteckung“ auf beiden Seiten der journalistischen Schlacht um Heldenplatz. Da viele dieser biologistisch fundierten Metaphern Elemente der Propaganda der 30er-Jahre aufgreifen, ist meine These, dass Bernhards Text eine „Kontami-
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nierung“ der österreichischen Gegenwart durch die faschistische Vergangenheit darstellte. Diese mediale „Kontra-Infektion“ schlug jedoch in eine „Immunisierung“ um : Bernhards Polemiken in Heldenplatz haben inzwischen ihre politische Sprengkraft verloren. Schlüsselwörter
Heldenplatz, Medien, Ansteckung, Krankheit, Impfung. Steve Dowden
The Masterpiece Problem in Thomas Bernhard Gehört nun Thomas Bernhard zum Pantheon deutschsprachiger Schriftsteller ? Die Antwort muss „ja“ sein, aber offensichtlich ist das ein Club, in dem Bernhard nicht Mitglied sein wollte. Wenn man Klassiker wird, wird die Wucht und Kritik der Werke automatisch entschärft. Man wird historisch, zum Seminargegenstand. Als er am Leben war, liess er sich nicht cooptieren. Aber seit 1989 kann sich Bernhard nicht mehr wehren. Was ist der Preis seiner Aufnahme in das Pantheon der Klassiker ? Bernhard wird gefeiert als Kulturheld und auch, mit 80 Jahren, als alter Meister. Dieser Beitrag wird der Frage der Meisterschaft und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nachgehen. Was versteht man unter einem „Meisterwerk“ in der Literatur ? Befriedigt Bernhard diese tradierte Vorstellung oder kann er sich vielleicht doch noch wehren ? Diese Ausführungen werden vor allem Bernhard’s Komödie Alte Meister in Betracht ziehen. Schlüsselwörter
Thomas Bernhard, Meisterwerk, Kanon. Katharina Drobac Die Nazihose des Herrn Bernhard Eigenes und Ererbtes in Thomas Bernhards Reflexionspoetik
Die Figuren Thomas Bernhards sind in einem sich endlos spiegelnden (Sprach-) Raum verortet, der sie prägt, sich jedoch als Ganzes wie in Teilen einem objektiven Zugang verschließt. Das Bestreben, der Erblast, als die sich auch die ‚ererbte
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Rede‘ erweist, durch die machtvolle Setzung von etwas Eigenem zu entgehen, scheitert und die Protagonisten sehen sich auf ihre determinierte Perspektive zurückverwiesen. Indem die ‚Kunstfigur‘ Bernhard diese Condition humaine in fiktionalen wie faktualen Texten nicht nur schreibend reflektiert, sondern performativ nachvollzieht, entsteht das „System Bernhard“ als Mise en abyme der menschlichen Existenz. Schlüsselwörter
Thomas Bernhard, Nationalsozialismus, Topographie. Clemens Götze „Die Ursache bin ich selbst !“ Thomas Bernhards inszenierte Autorschaft am Beispiel seiner (Film)Interviews
Es besteht nach wie vor die Schwierigkeit, Thomas Bernhards Interviews im Kontext seines literarischen Gesamtwerkes zu verorten, was dieser Beitrag anstrebt. Die konzise Erfassung medialer und thematischer Aspekte der Textsorte Interview soll dazu beitragen, die These zu untermauern, dass es sich bei Bernhards öffentlichen Stellungnahmen zweifellos um einen Bestandteil seines Gesamtwerkes handelt. Der Aufsatz verdeutlicht, dass jene Interviews kaum für den Erkenntnisgewinn eines poetologischen Konzeptes des Autors herangezogen werden können, da ihre Kunstform der Performanz dies nicht zulässt. Stattdessen wird der Begriff der Autorschaft für das Verständnis und den Umgang mit Bernhards öffentlichen Auftritten fruchtbar gemacht. Dadurch wird es möglich, durch die Unterscheidung von vier Entwicklungsphasen die Inszenierungskunst als nicht nur durch die Medien gesteuerte Komponente der Interviews aufzufassen, sondern gleichsam den literarischen Stellenwert dieser Gespräche abzubilden. Schlüsselwörter
Performanz, Autorschaft, Entwicklungsphasen, Inszenierungskunst, Medien.
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Christine Hegenbart Thomas Bernhards Der Präsident Ein politisches Stück ?
Thomas Bernhards Bühnenwerk Der Präsident wurde 1975 vor der Uraufführung als „Anarchistenstück“ lanciert und löste in der Folge eine Diskussion um seinen politischen Gehalt aus. Die Einschätzung wurde vor allem durch die Tagespresse vorgenommen. Anhand einer wissenschaftlichen Analyse von Inhalt, Form und Funktion wird das Stück nun systematisch und umfassend auf seine politische Dimension hin untersucht. Dabei zeigt sich, dass die Darstellung des despotischen Präsidentenehepaars, das von Anarchisten bedroht wird, auf allen drei Ebenen politisch ist. Die Ästhetik des Stücks ist dabei funktional auf Provokation ausgerichtet und fordert das Publikum zur Reflektion auf. Der Präsident ist daher als politisches Stück zu bezeichnen. Schlüsselwörter
Drama, politisches Theater, Anarchie, Provokation. Hans Höller Die Kritik der instrumentellen Vernunft in den Romanen Thomas Bernhards Es wird versucht, die philosophische Dimension von Thomas Bernhards Prosa aus der sprachanalytischen Erzählperspektive selbst zu rekonstruieren. Dabei zeigt sich, dass für die Form des Erzählens die vom Autor favorisierten Philosophen § Montaigne, Pascal, Schopenhauer § viel weniger relevant sind als die philosophischen Kritiker der instrumentellen Vernunft. Und Ludwig Wittgenstein, der bedeutendste österreichische Philosoph des 20. Jahrhunderts, hat zwar viele Wiedergänger im Werk Bernhards, aber entscheidender ist, dass die Wittgensteinsche Sprachanalyse bei Bernhard zur Form eines modernen Erzählens geworden ist. Dieses Erzählen hat sein erhellendes philosophisches Pendant in der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos. Schlüsselwörter
Analytisches Erzählen, Kritik der instrumentellen Vernunft, philosophische Dimension der Erzählung, Sprachkritik.
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Martin Huber
Was war der „Skandal“ an Heldenplatz ? Zur Rekonstruktion einer österreichischen Erregung
Ausgehend von der Entstehungsgeschichte (und den Überlieferungsträgern) wird eine genaue Rekonstruktion des sogenannten Heldenplatz-Skandals vorgenommen. Dieser hat einerseits die Rezeptionsgeschichte wesentlich gesteuert, ist aber heute ohne den spezifischen historischen und gesellschaftlichen Hintergrund kaum zu verstehen. Dabei wird folgenden Fragen nachgegangen werden : § Wie konnte Heldenplatz eine solche, in der Literaturgeschichte der 2. Republik wohl einmalige, gesellschaftlich provozierende Wirkung entfalten ? § Was war der Anteil an Peymanns „Marketing“ und/oder Bernhards an dieser Wirkung ? § Wirkung von Heldenplatz heute : z. B. Neuinszenierung in der Josefstadt Schlüsselwörter
Heldenplatz, Heldenplatz-Skandal, Nationalsozialismus, 2. Republik. Dania Hückmann Topographie des Schweigens in Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall In Thomas Bernhards Auslöschung. Zerfall verfolgt der Icherzähler Franz Josef Murau ein paradoxes Ziel : er will das Familiengut Wolfsegg und die Geschichte seiner Familie auslöschen, indem er über sie berichtet. Anhand von Muraus Beschreibung der zu Wolfsegg gehörenden Kindervilla wird die These erörtert, dass sich sein Verfahren der Auslöschung durch Schreiben gegen das familiäre, gesellschaftliche und Muraus eigenes Schweigen wendet. Im Kontext von Bachmanns Überlegungen über das Verhältnis von Ich und Geschichte wird behandelt, wie diese Konstellation in Bezug auf Muraus Erzählposition in Auslöschung gedacht werden kann. Traumatheoretischen Ansätzen folgend wird dann der für Muraus Bericht über die Ereignisse auf Wolfsegg während und nach dem Nationalsozialismus spezifische Zeugnischarakter herausgearbeitet. Indem Auslöschung sich als Zeugnis einer traumatisierenden Vergangenheit inszeniert, stellt der Text die Trennung von Fiktion und Zeugnis als fragwürdig dar.
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Schlüsselwörter
Kindheit, Schweigen, Zeugenschaft, Trauma. Katya Krylova Thomas Bernhards Auslöschung : der Umgang mit dem Herkunftskomplex Thomas Bernhards umfassendster Roman Auslöschung (1986) bildet im Genre Roman die Apotheose von Bernhards langjähriger Auseinandersetzung mit Österreichs geschichtlichem Erbe, vor allem mit dem „ererbten Alptraum“ des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Mit Hilfe von psychoanalytischen Konzeptionen der Psychotopographie, die sich vor allem an der Denk- und Schreibweise Sigmund Freuds und Walter Benjamins orientieren, befasst sich mein Artikel primär mit dem Schnittpunkt von Gedächtnis, Ort und Identität in Bernhards Auslöschung. Es wird außerdem untersucht, wie, anhand des bewusst topographischen Ansatzes des Romans, der Protagonist sich in einer Dialektik zwischen der Auslöschung einer belasteten Topographie und der Erhaltung der wenigen positiven Elemente befindet. Dieses ambivalente Verfahren, charakterisiert vom Prinzip der Aufhebung, ist symptomatisch für ein geschichtliches Erbe, das einen eindeutigen Ansatz ausschließt. Die topographische Auseinandersetzung des Protagonisten mit dem Herkunftskomplex Wolfsegg bildet eine Konfrontation sowohl mit der eigenen Familiengeschichte als auch mit der österreichischen Geschichte und deren „fürchterlichen Geschichtsabgründe[n]“. Zugleich stellt der Wolfsegg Grundbesitz in Bernhards Text ein Metonym des Hauses Österreich dar. Mein Artikel, widmet sich auch der Frage, wie Bernhards Auslöschung die Unmöglichkeit irgendeiner Rückkehr zu einem Ursprungspunkt der eigenen und kollektiven Identität hervorhebt. Schlüsselwörter
Topographie, Psychotopographie, Ursprung, Psychoanalyse.
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Matthias Löwe Erregtes Ich und dezisionistische Ästhetik Die Auseinandersetzung mit der offenen Gesellschaft im Werk Thomas Bernhards
Der Beitrag erörtert, inwiefern es sich bei dem Plädoyer für ein Leben in existenzieller Entschiedenheit und höchster todesbewusster Intensität um eine ästhetisch-ideologische Tiefenstruktur im Werk Bernhards handelt, die von dezisionistisch motivierten Ressentiments gegenüber der offenen Gesellschaft flankiert wird. Anhand narratologischer Überlegungen zu Holzfällen und Alte Meister wird zudem gezeigt, mit welchen Verfahren Bernhard diese Position literarisiert, aber auch literarisch problematisiert. Schlüsselwörter
Offene Gesellschaft, Dezisionismus, Todesbewusstsein. Johann Georg Lughofer „Gleich welchem Herren des Staates einer dient, er dient dem falschen“ Der Stimmenimitator als polit-pädgagogisches Projekt
Der Stimmenimitator wird in dieser Untersuchung als Buch mit politischer und pädagogischer Aussage verstanden, wenn auch keine einseitige Interpretation und Sinnfindung geboten werden soll. In der Anekdotensammlung werden vor allem medien- und sprachkritische Aspekte einem breiteren Publikum nahegebracht, wofür Bernhard auf manche Facetten seiner typischen Schreibweise verzichtet, dem Humor viel Raum lässt und nicht § wie oft behauptet § die Geschichten mit einer verwirrenden Vielstimmigkeit erzählt. Neben einer auf die wohlhabenden Klassen zielenden Gesellschaftskritik verdichten sich die Realitätspartikel in den Anekdoten zu klaren Aussagen gegen Kommunismus und Realsozialismus. Die Regimes marktwirtschaftlicher Länder erscheinen ebensowenig ideal, aber um vieles akzeptabler. Doch diese Ratlosigkeit zu politischen Fragen bleibt nicht die letzte Aussage der Texte. Einfachheit und Abkehr von höheren Sphären scheinen eine Lösung für das Individuum sowie für die Gesellschaft.
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Schlüsselwörter
Der Stimmenimitator, politische Literatur, engagierte Literatur, Realsozialismus, Vielstimmigkeit. Johann Georg Lughofer „Vordenkopfstoßer“, „Gesprächzusammenschlagerin“ und „Fleischhauerlebensinhalt“ Der heitere Fremdsprachendidaktiker Thomas Bernhard
Bernhards Werk wird meist aufgrund der polemischen und aggressiven Textstellen als zu schwierig angesehen, um im Fremdsprachenunterricht eingesetzt zu werden. Doch gerade die Provokation und Übertreibung machen seine Texte für Deutschlernende faszinierend, was nicht ungenutzt bleiben sollte. Sprachlich erleichtern darüber hinaus insbesondere die Wiederholungen und die kompositorischen Reihungen das Verständnis. Thomas Bernhard spricht Deutschlernende sehr unmittelbar an und seine Schimpftiraden eignen sich einerseits hervorragend zur Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten der Literatur, andererseits genauso zur Verständlichmachung verschiedener Aspekte der österreichischen Kultur und des Gebrauchs unterschiedlicher sprachlicher Phänomene wie Komposita, Nominalisierungen oder Superlative. Dass sein Stil bis zu einem gewissen Grad nachahmbar und erlernbar ist, kann im Unterricht sehr fruchtbar gemacht werden. Der Beitrag bietet eine Übersicht dieser Möglichkeiten sowie einen Erfahrungsbericht von Veranstaltungen, welche an Universitäten, Sprachschulen und Schulen Sloweniens durchgeführt wurden. Schlüsselwörter
Thomas Bernhard, Fremdsprachenunterricht, Literatur und Deutsch als Fremdsprache, Schimpfwörter, Nominalisierung, Kompositum.
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Katharina Manojlović ∙ Harald Schmiderer Unheimliches Wolfsegg Zum Film Der Italiener von Thomas Bernhard und Ferry Radax
Der Italiener ist ein Film von Thomas Bernhard und Ferry Radax, der 1971 im Auftrag des WDR gedreht worden ist und auf ein Erzählfragment Bernhards zurückgeht. Der Ort von Erzählung und Film ist Schloss Wolfsegg, das zum Schauplatz eines Begräbnisses wird : nachdem sich der Schlossherr erschossen hat, trifft sich auf ihm der europäische Adel, um dem Begräbnis beizuwohnen. Mit Schloss Wolfsegg hat Bernhard einen dunklen und unheimlichen literarischen Chronotopos geschaffen, an dem sich alles in einer eisigen Kältestarre befindet und von innen heraus zu frieren scheint, seit das Schloss zum Schauplatz grausamer Kriegsverbrechen geworden ist. Der Italiener bedeutete in den 60er und 70er-Jahren eine literarische Fundamentalkritik am Zustand der österreichischen Nachkriegsgesellschaft und ihrem gedächtnispolitischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. In unserer Analyse der Optik und der Akustik dieses Films wollen wir zeigen, wie das Unheimliche, das Freud als die erfolglose Verdrängung des Unerträglichen definiert hat, mit filmischen Mitteln aufgespürt und inszeniert wird. Schlüsselwörter
Der Italiener, Wolfsegg, unheimlich, Radax. Alfred Pfabigan
Motive und Strategien der Österreichkritik des Thomas Bernhard In der Haltung gegenüber Österreich, die Bernhard seine Figuren ausdrücken lässt und in seinen Interviews verstärkt, spielt das, was Ralph Giordano die „zweite Schuld“ genannt hat, § das Verschweigen der Verbrechen des Nationalsozialismus § sowie die Beteiligung von Österreichern an diesen Verbrechen, und das Fortleben nationalsozialistischer Tendenzen in manchen sozialen Milieus ohne Zweifel eine große Rolle. Doch die Konzentration auf diesen Aspekt verzerrt das Gesamtbild. Der folgende Text konzentriert sich auf die ästhetisch argumentierende Grundhaltung, aus der heraus sich Bernhards Kritik an seiner Heimat speist ; auf jene Bestandteile seines Wertesystems, § einen kalten Elitarismus etwa § die nicht
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zu seinem „offiziellen“ Bild gehören ; auf die biographischen „Bausteine“ seiner Erfahrungen und schließlich auf den Modus wie er § ungeachtet zahlreicher Absurditäten § seiner Kritik Kohärenz gab. Unter den zahlreichen Polemiken Bernhards wird der gegen Bruno Kreisky Schlüsselcharakter zugeschrieben. Schlüsselwörter
Nationalsozialismus, Ästhetizismus, Bruno Kreisky. Markus Reitzenstein Der unsympathische Jude Rezeptionsästhetische Analyse des Tabubruchs in Thomas Bernhards Heldenplatz
Der Beitrag befasst sich unter Verwendung von Ansätzen aus Rezeptionsästhetik und Psychoanalyse mit der Untersuchung von Thomas Bernhards „Skandalstück“ Heldenplatz. Es wird gezeigt, wie Bernhard die Inszenierung der interpersonellen Abhängigkeit seines Figurenensembles nutzt als Ausgangspunkt für die Kritik an einer umfassend beschädigten Gesellschaft nach 1945. Die provokanten Aussagen der Figuren erscheinen schließlich als Symptom dieser Beschädigung. Schlüsselwörter
Heldenplatz, Rezeptionsästhetik, Psychoanalyse. Philipp Schönthaler Radikales Denken, radikales Schreiben Bernhard und Baudrillard als Wahlverwandte
Ausgehend von Jean Baudrillards Aufsatz La pensée radicale (Paris 1994) arbeitet dieser Beitrag eine strukturelle Affinität zwischen Baudrillard und Bernhard heraus. Baudrillards Analyse des Radikalen liefert ein aufschlussreiches Dispositiv, um Bernhards Prosa in ihrer sprachtheoretischen Fundierung präzise zu beschreiben. Darüber hinaus nimmt der Beitrag den Begriff der Radikalität zum Anlass, um danach zu fragen, ob und wie sich die poetische Radikalität beider Autoren formal in politische oder gesellschaftliche Positionen bzw. Interventionen übersetzt.
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Schlüsselwörter
Radikalität, Ästhetik, Sprachspiel, Sprachphilosophie. Uwe Schütte Ein Lehrer Über W.G. Sebald und Thomas Bernhard
W.G. Sebald, der im Allgäu an der Grenze zu Vorarlberg aufwuchs, besaß eine sehr enge Beziehung zur österreichischen Literatur. Neben Stifter, Kafka und Canetti interessierten ihn die Autoren im Umfeld der Grazer Gruppe und Außenseiter des Literaturbetriebs wie Ernst Herbeck. Der für Sebald bei weitem wichtigste Gegenwartsautor aber war Thomas Bernhard. Dieser Essay untersucht den Sebald-Bernhard-Komplex anhand verschiedener Ansatzpunkte. Während dessen stilistischer Einfluss auf Sebald unverkennbar ist, sind eine Reihe weiterer Aspekte von Bernhards Vorbildfunktion, denen hier nachgegangen wird, bisher nicht wirklich erkannt worden, insbesondere was den querulantischen Habitus des Polemikers Sebald betrifft. Schlüsselwörter
W.G. Sebald, Thomas Bernhard, Lehrerverhältnis. Bernhard Sorg
Natur und Kunst als Matrix des Protestes Geistesaristokratie in Thomas Bernhards Frost
Die Konstellation in Thomas Bernhards erstem Roman Frost, 1963, entwirft den unlösbaren Gegensatz zwischen einem Künstler, dem Maler Strauch, und dem jugendlichen Erzähler auf der einen und der bäuerlich-kleinbürgerlichen Welt eines österreichischen, hier konkret : salzburgischen, Alpendorfs auf der anderen Seite. Beide Geistesmenschen leben in einem Kosmos der Kunst und der Wissenschaft, der Logik von Malerei, Philosophie und Literatur und in empathischer Nähe zur eisigen, abweisenden und gleichzeitig sie faszinierenden Natur des Hochgebirges. Die Bauern der Gegend existieren in einer Welt
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der materiellen Notwendigkeiten, wozu auch Politik und Macht gehören. Der Geistes-Mensch erfährt den herrschenden Geistes-Provinzialismus, die StaatsIdeologie selbstgenügsamer Autarkie, als erstickendes Medium der Gewalt, individuell wie kollektiv. Ihr Aufruhr im Namen einer namenlosen Idee des Geistigen führt sie an die Ränder von Natur und Gesellschaft. Ihr Protest spielt sich nicht innerhalb einer gesellschaftlichen Funktions-Logik ab, sondern entwirft eine Gegen-Welt des spät-romantischen Kunst-Anarchismus. Ihre Niederlage und der Untergang Strauchs sind unabwendbar ; der junge Student spiegelt die Hoffnungen des Verfassers Thomas Bernhard auf eine rekonstruierbare Welt des Geistes jenseits der kontingenten Zwänge des Materiellen. Schlüsselwörter
Thomas Bernhard, Geistesaristokratie, Natur, Kunst, Protest. László V. Szabó
„… aber in der Kunst kann alles lächerlich gemacht werden“ Ikonoklasmen in Thomas Bernhards Alte Meister
Der Beitrag geht von der Annahme aus, dass die Literatur als Teil des Zivilisationsprozesses für die Selbstreflexion und -erkenntnis der Moderne (und Postmoderne) selbst § wenn nicht vor allem § in ihrer provokativsten Form unverzichtbar ist. Thomas Bernhard hat mit seiner Poetik der Narrheit seiner Zeit ein Spiegelbild vorgehalten, das selbst in seiner Verzerrtheit und Verzerrungslust als mögliche ‚Wahrheit‘ und Weltwahrnehmung seine Legitimität hat. Seine im Roman Alte Meiser (1985) zu einer besonderen Meisterschaft gelangte Kunst des Ikonoklasmus, die keine tradierten Werte und Institutionen anzugreifen scheut und deshalb einen deutlichen nihilistischen Zug erkennen lässt, erfüllt indessen nicht nur eine subversive Funktion, sondern dient gleichzeitig zum Selbstverständnis des Künstlers Thomas Bernhard. Schlüsselwörter
Prozess der Zivilisation, Literatur als Provokationsdiskurs, Nihilismus, Kunst des Ikonoklasmus, Postmoderne, Ästhetik der Demontage, postmoderne Sprachkomik, Sprachwirbel, Dekonstruktion, Entmonumentalisierung.
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Neva Šlibar Thomas Bernhard in der Schule ? – Naturgemäß trotzdem ! Mit einer Didaktisierung von Thomas Bernhards Viktor Halbnarr
Der Beitrag befürwortet die Einbindung von Bernhard-Texten in das schulische Umfeld, auch in den DaF-Unterricht, und lotet dafür Möglichkeiten aus. Ausgehend von einem neuen Trend in der Vermittlung von Weltliteratur, die sich der Comics bzw. der Graphic Novels bedient und die vereinzelte Bücher Thomas Bernhards aufgenommen hat, sowie der beachtlichen Hörproduktion von Bernhard-Texten, wird gegen das allgemeine Vorurteil argumentiert, Thomas Bernhard sei wegen seiner komplexen Gedankenführung, pessimistischen Weltsicht und seines schwer zugänglichen Stils für den Fremdsprachenunterricht ungeeignet. Um den Gegenbeweis anzutreten, wird didaktisch und methodisch korrekt vorgegangen, jedoch neben der Einhaltung etablierter Selektionskriterien und Didaktisierungsschritte auch ein anderes, auf literarischen Kompetenzen entwickeltes Didaktisierungsmodell vorgeführt. Der dritte und vierte Beitragsteil stellt konkret einen nach Phasen gegliederten Didaktisierungsvorschlag vor, und zwar zu Bernhards kurzem Text Viktor Halbnarr. Diskutiert wird dabei auch das Für und Wider bestimmter Vermittlungsmethoden und Übungen ; es zeigt sich, dass Unterrichtsgespräche über Leerstellen, über Sinnsuche und -stiftung durchaus zielführend sein können, wobei so manche produktive Übungen besonders empfehlenswert sind. Schlüsselwörter
Österreichische Literatur, Thomas Bernhard, Viktor Halbnarr, DaF-Unterricht, Schule, Didaktisierung, literarische Kompetenzen, Didaktisierungsmodell, Selektionskriterien, Comics. Mireille Tabah Thomas Bernhard und die Juden Heldenplatz als „Korrektur“ der Auslöschung
Von dem frühen Prosaband In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn über Verstörung und Der Italiener bis hin zu Auslöschung und Heldenplatz hat Thomas Bernhard Figuren in sein Werk einbezogen, deren Leben vom Nationalismus zerstört
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wurde. Dem Thema der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Österreich und ihrer Folgen für die Opfer, das im Mittelpunkt von Heldenplatz steht, hat sich aber der Autor langsam und über Abwege angenähert. Besonders aufschlussreich ist die unterschiedliche Verarbeitung des Themas in Auslöschung und in Heldenplatz. Die fragwürdige Utopie, bei der die Erben der Täter sich ihrer Aufgabe entledigen und auf die Opfer abschieben, die in Muraus Abschenkung Wolfeggs an die vom „eisernen“ Eisenberg geleitete jüdische Kultusgemeinde in Wien zum Ausdruck kommt, hat Bernhard in Heldenplatz einer „Korrektur“ unterzogen. Die „Ressentiments“ (Améry) der jüdischen Remigranten sind nachvollziehbar, und Bernhard vermeidet die Gefahr selbstgefälliger Identifikation mit nicht selbst erlebten Leiden einerseits dadurch, dass die Opfer gerade auch Tyrannen sind oder aber selber § vergeblich § die Realität des Antisemitismus zu verdrängen versuchen, andererseits durch den verfremdenden Kunstgriff, dass der Opfer-Tyrann Josef Schuster nur zitiert wird und doch geradezu zu einer jüdischen „HitlerImitatio“ gerät. Die Bernhardsche Dialektik von kompensatorischer Macht in der Familie und realer Ohnmacht gegenüber den durch die Geschichte erlittenen Beschädigungen gewinnt gerade im Kontext des Antisemitismus der Nach-Shoah eine politisch zwar nicht „korrekte“, sprich philosemitische, aber größere Prägnanz als ähnliche historisch-psychologische Konstellationen in Bernhards sonst katholischem und nur nebenbei antisemitischem nationalsozialistischen Österreich. Schlüsselwörter
Nationalsozialismus, Verfolgung, Antisemitismus, Ressentiment. Erika Tunner Inwiefern ist und erzeugt Thomas Bernhards Text Holzfällen eine Erregung ? „Ohne Erregung is’ gar nix“, so Thomas Bernhard in einem Interview mit Krista Fleischmann. Schreiben ist mit Erregung verbunden, Erregung kann der auslösende Faktor für das Schreiben sein. Im Falle von Holzfällen war es, wie Thomas Bernhard selbst behauptet, die Erinnerung an Erfahrungen mit der Wiener Kunstszene, die er sich vergegenwärtigt. Sie stellen ein „entscheidendes Stück“ seines Lebens dar und haben nichts an Aktualität eingebüßt. Von der Idee her erregt, schreibt Thomas Bernhard in einem erregenden Stil : die Inszenierung der Denk- und Verhaltensweisen verschiedener mehr oder weniger berühmter Künstler hat bekanntlich heftige individuelle und gesellschaft-
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liche Diskussionsprozesse zur Folge gehabt. Sicher, Thomas Bernhards „Waffe“ ist die Feder, die er genial zu gebrauchen versteht, doch geht die literarische Prägnanz der Darstellung weit über die angeführten Einzelpersonen hinaus. Das Drängen nach Berühmtheit ist immer wieder ein Gegenstand der Satire. In Frankreich ist erst kürzlich von Catherine David in Les violons sur moi : Pourquoi la célébrité nous fascine brillant davon gehandelt worden. Wie weit jedoch hat die Literatur eine gesellschaftlich provozierende Wirkung, die Veränderungen beabsichtigt und konkret hervorruft ? Ob Thomas Bernhard etwas „bewirken und verändern will“ ? „Eigentlich nein“, lautet seine Antwort : man kann nur Eindrücke aufschreiben. Von primordialem Interesse bleiben für ihn die „inneren Vorgänge“. Schlüsselwörter
Erregung, Spiel, subversiver Humor, Erinnerung, Veränderung, Leben und Schreiben. Špela Virant Die Abschaffung der Welt Zu Thomas Bernhards Der Weltverbesserer
In Bernhards Stück Der Weltverbesserer, literarisch verwandt mit Molières Charakterkomödien Der Menschenfeind und Der eingebildete Kranke, deren Struktur von Bernhard übernommen und modifiziert wird, wird die Hauptfigur vom gebildeten Bürgertum für seine Schrift über die Verbesserung der Welt geehrt. Darin wird festgestellt, dass man die Welt nur verbessern kann, wenn man sie abschafft, was als Kommentar auf die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts, deren Weltverbesserungsprojekte beinahe in eine Weltvernichtung führten, gelesen werden kann. Darüber hinaus stellt das Stück grundsätzliche Fragen nach einem reflektierten Denken über Weltverbesserung, wobei die durch die Dramenstruktur implizierte Antwort die Notwendigkeit solcher Gedanken suggeriert, jedoch unter der Bedingung, dass das Subjekt der Weltverbesserung sich als Teil der zu verbessernden Welt erkennt und sich selbst einer Verbesserung unterzieht. Schlüsselwörter
Thomas Bernhard, Dramatik, Der Weltverbesserer, Der Menschenfeind.
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Simon Walsh
Das Problem liegt auch im Was Thomas Bernhards Alte Meister im Spiegel des Diskurses von Nachkriegsösterreich als „Land der Musik“
In den letzten Jahren hat die Forschung ausführlich auf die Rolle von Musik im Werk Bernhards hingewiesen ; bei den allermeisten Untersuchungen jedoch stehen Fragestellungen bezüglich der strukturellen oder formellen Charakteristika im Vordergrund. In diesem Artikel hingegen, fokussiere ich auf Musik als Thema in Bernhards Werk, und zwar auf Musik als eine soziokulturelle Lebensform. Genauer gesagt, argumentiere ich anhand von Alte Meister, dass man im Werk (vor allem im Spätwerk) Bernhards eine Darstellung von Musik identifizieren kann, die sich mit einem kulturellen Diskurs über Musik, die im Nachkriegsösterreich weitverbreitet war, vereinbaren lässt. Schlüsselwörter
Thomas Bernhard ; Musik ; Alte Meister ; Soziokulturelle Rolle von Musik in Österreich nach 1945.
Personenregister
Abraham a Sancta Clara: 13, 311 Achternbusch, Herbert: 307, 308 Adorno, Theodor W.: 21, 33, 44, 197, 299, 426 Afonso, José: 280 Alewyn, Richard: 208 Alighieri, Dante: 78, 373 Althusser, Louis: 41 Améry, Jean: 74, 170, 212, 315, 316 Andersch, Alfred: 304, 316 Angot, Christine: 74 Apitz, Bruno: 154 Artaud, Antonin: 80, 149, 270 Artmann, H. C. (Hans Carl): 37, 350 Auster, Paul: 373 Baader, Andreas: 245, 277 Bach, Johann Sebastian: 78, 94 Bachmann, Ingeborg: 15, 30, 31, 33, 34, 85, 202, 206, 209, 213, 214, 427 Bachtin, Michael: 323, 331 Bacon, Francis: 28 Bálasz, Béla: 333 Barthes, Roland: 183 Baudrillard, Jean: 18, 285-300, 432 Becker, Jurek: 304, 316, 317, 350 Becker, Peter von: 246 Beckett, Samuel: 13, 74, 85, 209, 308, 311, 382 Beer, Otto F.: 246 Beethoven, Ludwig van: 80, 83. 106, 109 Belting, Hans: 84 Bender, Wolfgang: 154 Bender-Säbelkampf, Margot: 31 Benjamin, Walter: 21, 23, 191, 192, 302 Bernhard, Thomas: 11-438 Betten, Anne: 292 Billenkamp, Michael: 361, 364 Biller, Maxim: 155, 160 Bloch, Ernst: 21, 22
Bogue, Ronald: 227 Botond, Anneliese: 344 Bourdieu, Pierre: 339, 340, 350, 352, 363 Brändle, Rudolf: 73 Brahms, Johannes: 106 Brecht, Bertolt: 149, 270, 273 Briaux, Hervé: 70 Browne, Thomas: 302 Bruckner: 95, 96, 106, 109 Brusch, Wilfried: 395 Buñuel, Luis: 19, 321-335, 423 Burger, Hermann: 313 Butler, Judith: 170 Canetti, Elias: 311 Caravaggio (Michelangelo Merisi): 77 Caruth, Cathy: 205, 206 Ceauşescu, Nicolae: 276 Cervantes Saavedra, Miguel de: 311 Chirac, Jacques: 413 David, Catherine: 437 Da Vinci, Leonardo: 78 Deesen, Gerhard: 31 Deleuze, Gilles: 221, 222, 224, 225, 227, 228, 230, 312, 333 Derrida, Jacques: 214 Dichand, Hans: 132 Dittes, Katharina: 227 Dittmar, Jens: 308 Doderer, Heimito von: 146 Döblin, Alfred: 316 Donnenberg, Josef: 383, 385 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch: 82 Drach, Albert: 130 Duchamp, Marcel: 77 Ebner, Jeannie: 74
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Personenregister
Egelhofer, Josef: 305 El Greco (Dominikos Michailowitsch): 93 Elias, Norbert: 87 Eliot, T. S. (Theodor Stearns): 130 Esslin, Gudrun: 277 Eybl, Franz M.: 264, 273 Fassbinder, Rainer Werner: 132 Faulkner, William: 130 Filbinger, Hans: 398 Fischer-Lichte, Erika: 138-140 Fleischmann, Krista: 29, 41, 68, 72, 73, 234, 298, 357, 367, 405 Foucault, Michel: 26, 177 Franck, Georg: 342 Francoual, Hélène: 141, 148 Freud, Sigmund: 157, 190, 191, 204, 220, 221, 230 Freumbichler, Johannes: 52, 305, 351, 364 Fried, Erich: 376 Friedrich, Otto: 116 Frisch, Max: 344 Frischmuth, Barbara: 350 Fritsch, Gerhard: 39, 130 Fulford, Robert: 124 Furtwängler, Wilhelm: 80 Gamper, Herbert: 253, 254 Ganghofer, Ludwig: 413 Gasser, Wolfgang: 132 George, Stefan: 40, 51 Giordano, Ralph: 38 Giotto di Bondone: 79 Girard, François: 117 Godard, Jean-Luc: 227 Goebbels, Joseph: 83 Goethe, Johann Wolfgang von: 39, 78, 79, 87, 94, 96, 99, 208, 231, 271, 296, 373 Götze, Clemens: 265 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch: 311 Gorbach, Alfons: 42 Gould, Glenn: 17, 40, 80, 115-126, 422 Goya, Francisco de: 93 Grandits, Ernst: 373 Gratz, Leopold: 46
Green, Lucy: 105, 112 Grimm, Jacob und Wilhelm: 78 Gstrein, Norbert: 74 Guattari, Pierre Félix: 312 Guibert, Hervé: 142 Habsburg, Leopold Wilhelm von: 80, 81 Habsburg, Ferdinand III. (Kaiser): 80 Händel, Georg Friedrich: 94, 96 Haider, Hans: 1444 Haider, Jörg: 129, 132, 146, 163, 189, 398, 413 Hamburger, Michael: 302 Hamsun, Knut: 282 Handke, Peter: 15,33, 43, 224, 312, 344, 350, 373 Hannemann, Bruno: 257 Hart, Onno van der: 205 Hawlicek, Hilde: 147 Haydn, Joseph: 96, 106 Hebbel, Friedrich: 270 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 21, 23, 199, 231, 333 Heidegger, Martin: 96, 329 Heidelberger-Leonard, Irene: 167, 169, 212, 295 Heinrich, Benjamin: 133 Heinrich von Melk: 311 Heller, André: 47 Hens, Gregor: 104 Herbeck, Ernst: 312 Herder, Johann Gottfried: 78 Hermann, Judith: 208 Hesse, Hermann: 342 Hessel, Stéphane: 73, 74 Hille, Kerstin: 375 Hirsch, Ludwig: 405 Hitler, Adolf: 110, 130, 147, 149, 170, 237, 436 Hoell, Joachim: 189 Höller, Hans: 166, 206, 207, 212, 217, 343, 377, 406 Hörnig, Winfried: 373 Hofmannsthal, Hugo von: 126, 310 Holderness, Graham: 247, 248, 260 Homer: 78 Horkheimer, Max: 44, 299 Horowitz, Vladimir: 120, 121
Personenregister
Houllebecq, Michel: 74 Hrdlicka, Alfred: 47 Hundertwasser, Friedensreich: 44 Huntemann, Willi: 264 Huston, Nancy: 74 Hutchinson, Ben: 314 James, Henry: 53 Jandl, Ernst: 376 Janke, Pia: 361 Jelinek, Elfriede: 15, 23, 24, 47, 74, 194 373, 397, 398 Jenkins, Eva-Maria: 396 Jeutter, Ralf: 307 Johnson, Uwe: 344, 350 Jürgens, Dirk: 170, 234 Jurgeit, Margit: 374 Kafka, Franz: 223, 302, 310, 312, 373, 381, 286 Kahrs, Peter: 383, 389 Kempff, Wilhelm: 116 Kenneth, Clark: 80 Kingwell, Mark: 124 Kleist, Heinrich von: 96, 270 Klimt, Gustav: 84 Klug, Christian: 326 Kofler, Werner: 70 Kolk, Bessel van der: 205 Konzett, Matthias: 107 Korn, Karl: 343, 345 Kracauer, Siegfried: 332 Kraus, Karl: 33, 311 Kreisky, Bruno: 42, 44, 45, 46, 47, 57, 58, 60, 61, 130, 432 Kristeva, Julia: 221 Kuhn, Gudrun: 118 Kundera, Milan: 74 Lamperberg, Gerhard: 398 Lavant, Christine: 31 Lebert, Hans: 39, 130 Lemke, Eva- Maria: 373 Leonhard, Rudolf Walter: 343 Leroux, Georges: 123, 124 Lessing, Gotthold Ephraim: 202, 340
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Liebknecht, Karl: 24 Löffler, Sigrid: 131, 139 Luhmann, Niklas: 339 Luxemburg, Rosa: 24, 45 MacLennan, Hugh: 122 Macuse, Herbert: 44 Magris, Claudio: 379 Mahler, Gustav: 106 Maier, Hermann: 313 Maleta, Gerda: 268 Márai, Sándor: 87 Marschall, Brigitte: 247, 260 Marx, Karl: 51 Maur, Wolf in der: 41 Mayer-Hirzberger, Anita: 106 Mayröcker, Friedrike: 74 Menasse, Robert: 295 Michael, Francis: 116 Michaelis, Rolf: 246, 251 Michelangelo Buonarroti: 78 Miller, Arthur: 130 Millner, Alexandra: 139 Minetti, Bernhard: 70 Mittermayer, Manfred: 263 Mock, Alois: 147 Molière ( Jean-Baptiste Poquelin): 239, 240, 241, 437 Monsaingeon, Bruno: 118 Montaigne, Michel Eyquem de: 16, 21, 96, 99, 426 Moritz, Herbert: 47, 130, 398 Mozart, Wolfgang Amadeus: 94, 96, 106, 109 Müller, Konrad: 45 Müller, Martha: 153 Müller, Heiner: 308 Muny, Eide: 154 Musil, Robert: 44, 387 Nenning, Günther: 145, 146 Nestroy, Johann: 311 Neuhaus; Stefan: 344 Neumeyer, Harald: 294 Nietzsche, Friedrich: 39, 43, 90, 94,96,100, 287, 290
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Personenregister
Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg): 53, 96, 184 Olson, Michael: 116 Parcelsus (Philippus Theophrastus Aureolus Bombast von Hohenheim): 311 Part, Matthias: 207 Pascal, Blaise: 16, 21, 50, 80, 96, 99, 173, 174, 175, 180, 183, 185, 426 Payzant, Geoffrey: 121 Peter, Friedrich: 46 Petrasch, Ingrid: 383, 389 Peymann, Claus: 35, 36, 129, 131, 132, 134, 135, 144, 147, 148, 245, 248, 398, 399, 427, 448 Pfabigan, Alfred: 154, 321 Picasso, Pablo Ruiz: 77, 79 Piffl Perčević, Theodor: 398 Pineau, Patrick: 70 Proust, Marcel: 373 Radax, Ferry: 143, 145, 217-231, 431 Raffael da Urbino: 77, 78, 80 Rambures, Jean-Louis de: 41, 73 Raspe, Jan Carl: 277 Rattle, Simon: 80 Razumovsky, Andreas: 139 Reich-Ranicki, Marcel: 343 Reemtsma, Jan Philipp: 212 Richter, Sviatoslav: 116 Rossbacher, Karlheinz: 396 Roth, Gerhard: 45, 130, 312 Roth, Joseph: 341, 355, 397, 398 Roth, Philipp: 85 Rothko, Mark: 77 Sartre, Jean Paul: 12 Schama, Simon: 77, 78, 81, 83 Schaub, Mirjam: 139 Schiller, Friedrich: 79, 202, 208 Schleyer, Hanns Martin: 277 Schmeiser, Leonhard: 143-145 Schmid, Georg: 217 Schmidt, Siegfried J.: 375 Schmidt-Dengler, Wendelin, 12, 15, 132, 234,
241, 263, 264, 267, 270, 272, 273, 292, 296, 299, 323, 343, 357-359, 398, 400, 405, 406 Schmied, Erika und Wieland: 308 Schmitt, Carl: 17, 59-61, Schnitzler, Arthur: 69, 150 Schopenhauer, Arthur: 16, 21, 39, 74, 80, 83, 96, 426 Schubert, Franz: 106 Schütte, Uwe: 267, 361 Schweiggert, Alfons: 375 Sebald, W. G. (Winfried Georg): 18, 303-318, 433 Seinitz, Kurt: 148 Shakespeare, William: 51, 78 Shelley, Mary: 373 Sichrovsky, Peter: 132, 144, 145 Silverblatt, Michael: 312, 315 Sinowatz, Fred: 129 Sorg, Bernhard: 205, 271 Staberl (Richard Nimmerrichter): 143, 145 Steinbrenner, Marcus: 390 Steingröver, Reinhild: 120 Sternheim, Carl: 316 Steuer, Daniel: 213 Stevenson, Robert Louis: 286 Stifter, Adalbert: 94, 95, 96, 312 Stiftner, Heidrun Isabella: 359 Strowick, Elisabeth: 141 Suchy, Viktor: 39 Suthor, Nicolar: 138 Swift, Jonathan: 311 Šlibar, Neva: 396 Tintoretto ( Jacopo Ropusti): 80, 82, 90, 90, 98, 109 Torberg, Friedrich: 270 Truffaut, François: 400 Tschebull, Jens: 148 Turrini, Peter: 45, 47, 130 Unseld, Siegfried: 22, 72, 131, 189, 339-355, 421-422 Updike, John: 39 Van Gogh, Vincent: 41
Vellusig, Robert: 359, 364 Voltaire (François Marie Arouet): 72 Voss, Gert: 376 Vranitzky, Franz: 45, 47, 129 Wachter, Hubert: 146 Wagner, Karl: 42 Waldheim, Kurt: 36, 129, 163, 189, 398 Walser, Martin: 344, 373 Walser, Robert: 312, 386 Weigel, Helene: 344 Weiner, Marc A.: 103 Weininger, Otto: 170 Weinrich, Harald: 395 Weinzierl, Ulrich: 189 Weiss, Peter: 316 Wicke, Rainer E.: 396 Widmer, Urs: 344 Wiebel, Martin: 218
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Wiesenthal, Simon: 46 Wilde, Oscar: 37 Willer, Stephan: 289 Willi, Jürg: 157, 159 Williams, Tennessee: 130 Wittgenstein, Ludwig: 21, 25, 33, 39, 80, 180, 288-291, 302, 426 Wögerbauer, Werner: 55 Wood, James: 312 Würtz, Felix: 79 Young, David: 117 Zeitblom, Serenus: 21 Zetkin, Klara: 24 Zimmer, Dieter E.: 343 Zola, Emile: 72 Zuckmayer, Carl: 61
AutorInnenverzeichnis
Matja� Birk (Maribor)
Studium der Germanistik und Romanistik, ao. Professor für deutsche Literatur an der Philosophischen Fakultät in Maribor (Slowenien) und wissenschaftlicher Betreuer der Österreich-Bibliothek Maribor. Bücher und Aufsätze zu folgenden Forschungsschwerpunkten : Literatur des 19. Jahrhunderts und des Exils, insb. aus Österreich ; interkulturelle Literaturgeschichte § Erforschung von literarischen Transferprozessen, deutschsprachiger Literatur und Kultur (Theaterwesen, Kulturperiodika) im slowenischen ethnischen Gebiet. Projektkoordination : Kulturelle Transfers in deutschsprachigen Periodika des Habsburgerreichs 1850§ 1918 ; Gastvorträge und -aufenthalte an Universitäten in Österreich, Deutschland, Bulgarien, Frankreich, Kroatien usw. Jason Blake (Ljubljana)
unterrichtet seit 2000 an der Anglistik der Universität Ljubljana. Nach seinem BA und MA in Anglistik und Germanistik an der Universität Toronto promovierte er an der Universität Ljubljana. 2010 wurden seine Bücher Canadian Hockey Literature und Writing Short Literature Essays : A Guide For Slovenian Students veröffentlicht. Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeiten übersetzt er vor allem aus dem Slowenischen ins Englische. Momentan schreibt er an einem kurzen Kulturführer über Slowenien für die CultureSmart !-Serie. Mehrere Studien zu Glenn Goulds Schreiben und ikonischem Status. Paola Bozzi (Milano)
ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Mailand, Promotion in Berlin (NDL, HumboldtUniversität, 1996), seit 2005 Professorin für Deutsche Kultur an der Universität Mailand. Arbeitsgebiete : Moderne und Postmoderne, Philosophie und Literatur, Gender Studies, Ästhetik und Kultur der neuen Medien. Zahlreiche Aufsätze und Beiträge zur deutschen Literatur und Kultur des 18. und 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen (Auswahl) : Ästhetik des Leidens. Zur Lyrik Thomas Bernhards. Frankfurt am Main 1997 ; Der fremde Blick. Zum Werk Herta Müllers. Würzburg 2005 ; Vilém Flusser. Dal soggetto al progetto : libertà e cultura dei media. Turin 2007 ;
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AutorInnenverzeichnis
,Durchfabelhaftes Denken‘ : Evolution, Gedankenexperiment, Science und Fiction. Vilém Flusser, Louis Bec und der Vampyroteuthis infernalis. Köln, 2008. Jack Davis (Berlin/Wisconsin-Madison)
ist Doktorand in Germanistik an der University of Wisconsin-Madison. In seiner Dissertation behandelt er die Ästhetik der Provokation in Werken von Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und Christoph Schlingensief. Er verbringt 2010§2011 als Fulbright-Stipendiat in der Theaterwissenschaftlichen Fakultät an der Freie Universität Berlin. Er hat sowohl etliche akademische Artikel als auch die Memoiren vom Brecht-Schauspieler Ekkehard Schall ins Englische übersetzt. Stephen D. Dowden (Brandeis University)
ist Professor für Germanistik an der Brandeis University in Waltham, Massachusetts (USA). Er beschäftigt sich vor allem mit der österreichischen Literatur und ist der Verfasser u.a. von Understanding Thomas Bernhard. 1989 und schreibt jetzt ein Buch mit dem vorläufigen Titel German and European Modernism. Er ist auch der Herausgeber von verschiedenen literaturwissenschaftlichen Bänden. Als nächster erscheint Tragedy and the Tragic in German Literature, History, and Culture. London 2013. Katharina Drobac (Tübingen)
studierte Neuere Deutsche Literatur, Kunstgeschichte und Soziologie in Stuttgart und Tübingen. Nach ihrem Abschluss als Magistra Artium im Jahr 2005 arbeitete sie als freie Lektorin unter anderem für den Wasmuth Verlag sowie am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen. Katharina Drobac promoviert über das Thema Raum und Bewegung im Werk Thomas Bernhards. Clemens Götze (Berlin)
geb. 1981 in Berlin. Studium der Literaturwissenschaft, Germanistischen Linguistik, Neueren Geschichte und Kunstgeschichte in Potsdam, Wien und Berlin. Seit 2009 Promotion an den Universitäten Potsdam und Wien mit einer Arbeit zur Autorschaft und Erinnerung in der Autobiographie und den Selbstaussagen Thomas Bernhards. Diverse Publikationen zu E.T.A. Hoffmann, Max von der Grün, Christa Wolf und Thomas Bernhard, zuletzt erschien u.a. in den Studia Austriaca in Mailand der Aufsatz „,Wahrscheinlich ist alles Zeitungsgewäsch.‘ Thomas Bernhards Medienkonstrukte.“
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Christine Hegenbart (München)
geboren 1982 in Zams/Tirol, Studium der Neueren deutschen Literatur, Geschichte und Psychologie in München und Wien ; Meisterarbeit zum Thema Der Bewohner des Elfenbeinturms ein politischer Autor ? Die politischen Aspekte im Werk von Peter Handke mit Blick auf die (Nicht-)Verleihung des Heinrich-Heine-Preises ; seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Politikberatung und Forschungsmanagement ; seit 2010 Promotion zum Thema Die politische Dimension der österreichischen Dramatik nach 1965 am Beispiel von Peter Handke, Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek ; lebt in der Nähe von München und arbeitet nebenher journalistisch und künstlerisch im Theaterumfeld. Hans Höller (Salzburg)
geb. 1947. Univ. Prof. am FB Germanistik der Universität Salzburg ; nach dem Studium der Germanistik und Klassischen Philologie mehrere Jahre an ausländischen Universitäten (Neapel, Wroclaw, Montpellier). Buchpublikationen zu Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann, Peter Handke, Marie-Thérèse Kerschbaumer, Peter Weiss ; Kommentierte Editionen von Werken Handkes, Bernhards und Jean Amérys ; Briefwechsel-Editionen von Bachmann-Celan und Bachmann-Hans Werner Henze. Martin Huber (Wien)
geb. 1963 in Neunkirchen, NÖ ; Studium der Deutschen Philologie und Philosophie an der Universität Wien, Diplomarbeit und Dissertation über Thomas Bernhard (Lachphilosoph Bernhard. Zur Schopenhauer-Rezeption im Werk Thomas Bernhards. Wien 1992), 4 Jahre lang österreichischer Auslandslektor an der Karlsuniversität in Prag, Lektor am Germanistischen Institut der Universität Wien, seit 1999 Bearbeiter des Thomas Bernhard Nachlasses in Gmunden ; seit 2001 Leiter des Thomas-Bernhard-Archivs, Gmunden ; Gestaltung mehrerer Ausstellungen zu Thomas Bernhard ; zahlreiche Veröffentlichungen zum Werk des Autors, u.a. Herausgeber der Thomas-Bernhard-Werkausgabe. Dania Hückmann (New York)
ist seit 2007 PhD Kandidatin am German Department der New York University ; ihre Dissertation hat den Arbeitstitel Das Versprechen der Gerechtigkeit : Rache im Realismus. Nachdem sie 2002 ihren Bachelor in Komparatistik und Europawissenschaften von der New York University erhalten hatte, absolvierte sie ihr Magisterium in Komparatistik an der Freien Universität Berlin. Fokus ihrer Magisterarbeit war die Denkfigur der Grenze im Werk Jean Amérys. Ihr Artikel
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„Metaphern bei Jean Améry : Verzerrender Vergleich oder Imaginärer Freund“ wurde in Sprachkunst veröffentlicht (2008). In ihrem Bestreben traumatheoretische und literaturwissenschaftliche Ansätze zu kombinieren, war sie 2010 Mitorganisatorin des interdisziplinären Workshops „Rhetorics of Testimony : Jean Améry and Primo Levi“ und Co-Autorin eines Beitrages zum Effekt von 9/11 auf die Gemeinschaft der New York University, der in Traumatology erscheinen wird. Katya Krylova (Cambridge/Wien)
(MA, MPhil) ist Doktorandin am Department of German and Dutch, University of Cambridge, und seit November 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, Wien. Ihre Doktorarbeit (eingereicht Oktober 2010) beschäftigt sich mit dem Erbe des Zweiten Weltkriegs, Topographie und Identität in den Werken von Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Matthias Löwe (Leipzig)
geb. 1981 in Meißen, 2000§2005 Studium der Germanistik, Mittleren und Neuere Geschichte und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig. 2006§2010 Promotionsstudium an der Universität Leipzig im Fach Germanistik zum Thema : Idealstaat und Anthropologie. Problemgeschichte der literarischen Utopie zwischen Spätaufklärung und Frühromantik (verteidigt am 29.11.2010). 2008§2010 Lehrkraft für besondere Aufgaben und Lehrbeauftragter am Leipziger Institut für Germanistik. 2009§2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 482 : „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ (Universität Jena). Seit Juli 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für germanistische Literaturwissenschaft der Universität Jena (Lehrstuhl : Dirk von Petersdorff ). Johann Georg Lughofer (Ljubljana)
geboren 1974 in Linz, schloss seine Studien der Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Wien, Granada, Nizza und Exeter 2004 mit der Promotion zum Einfluss des österreichischen Exils in Mexiko ab. Seine internationale Lehrtätigkeit begann er an Schulen in Ungarn und der Slowakei, ein Kurzlektorat an der Germanistikabteilung der Peking-Universität, VR China, folgte. 2000§2002 arbeitete er in der Nichtregierungsorganisation Centro Nacional de Comunicación Social in Mexikostadt, wo er Workshops zur Radio- und Internetkommunikation in indigenen Gemeinden veranstaltete.
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Doch 2002 kehrte er ins akademische Feld zurück und begann als Lektor an der Sommerhochschule der Universität Wien sowie als Lektor an der Germanistik der britischen Universität Exeter. In dieser Funktion kam er 2005 an die Universität Ljubljana, wo er 2009 zum Dozent habilitierte. Sein Interesse bei Lehre und Forschung liegt vor allem bei der Exilliteratur des 20. Jahrhunderts, der zeitgenössischen Literatur, der interkulturellen Kommunikation und Fremdbegegnung sowie Literatur im DaF-Unterricht. Katharina Manojlovic´ (Zadar)
Mag. phil., Studium der Germanistik und Anglistik an der Univ. Wien und am UCL (UK), seit 2008 OeAD-Lektorin am Institut für Germanistik der Universität Zadar, Kroatien. Zuletzt (gemeinsam mit Harald Schmiderer) : „Intimität der Außenseiter : Josef Winkler am Ganges“ (MALCA-Konferenz, Wien 2010) ; „Das Leben von den Zwischenräumen. Zu Peter Handkes ,Die Wiederholung‘“, in : Aussiger Beiträge, 4/2010. Alfred Pfabigan (Wien)
Professor der Universität Wien, Visiting professor der Diplomatic Academy, Vienna, Visiting professor des Master of Interdisciplinary Science Programme der DAK und der Universität Wien, Visiting professor der Universität Metz, Frankreich. Regelmäßige Beiträge in Die Presse, Der Standard und im österreichischen Radiosender Ö1. Markus Reitzenstein (Gießen)
studierte von 1999 bis 2005 deutsche und englische Literaturwissenschaft. In der Folge arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Literaturwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo er 2010 mit dem Thema Abhängigkeit ± ein zentrales Motiv der Literatur nach 1945 zum Dr. phil. promovierte. Christa Sauer (Direktorin des Österreichischen Kulturforums Ljubljana)
geb. in Wien, studierte Geschichte, Anglistik und Romanistik an der Universität Wien, weitere Studienaufenthalte in London, Paris, Brüssel und Genf. Promovierte an der Universität Wien im Fach Geschichte zum Dr. phil. über die diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und Frankreich im Zeitalter Napoleons und der Restauration. Anschließend Aufnahme in den Auslandskulturdienst des österr. Außenministeriums. Nach div. Inlandsfunktionen im Kulturbereich des österr. Außenministeriums : 1986 Kulturattaché an der (damaligen)
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Österreichischen Botschaft Bonn ; 2000 Leiterin des Österreichischen Kulturforums Berlin ; 2005 Leiterin des Österreichischen Kulturforums Paris ; Seit Herbst 2009 Leiterin des Österreichischen Kulturforums Ljubljana. Harald Schmiderer (Wien)
Mag. phil., Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Salzburg und Neu Delhi, 2007 DAAD-Praktikant an der Universidad Nacional de León (Nicaragua), 2008/09 Austrian Guest Lecturer an der University of Pune (Indien), mehrere Vorträge und Publikationen zur österreichischen Literatur und Kultur, promoviert zurzeit in Wien über die literarische Topologie in den Romanen Christoph Ransmayrs. Zuletzt erschienen : Manojlović, Katharina/Schmiderer, Harald (2010) : „Das Leben von den Zwischenräumen. Zu Peter Handkes ,Die Wiederholung‘“, in : Aussiger Beiträge 4/2010. Philipp Schönthaler (Konstanz)
geb. 1976, ist Postdoktorand im Forschungsverbund „Geschichte und Gedächtnis“ an der Universität Konstanz. Studium der Kunst, Anglistik und Germanistik in Kanada, England und Konstanz. Forschungsschwerpunkte sind die Literatur und Literaturtheorie des 19. und 20. Jahrhunderts. Publikation : Negative Poetik. Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész. 2011. Uwe Schütte (Aston Birmingham)
geb. 1967, Studium der Germanistik in München, MA & Promotion an der University of East Anglia, seit 1999 Dozent an der Aston University, Birmingham/ UK. Literaturwissenschaftler, Kulturessayist & Musikkritiker. Letzte Buchveröffentlichungen : Basis-Diskothek Pop & Rock. 2008 ; Edmund Mach : Meine abenteuerlichen Schriften. 2009 ; Thomas Bernhard. UTB Profile. 2010 ; Heiner Müller. UTB Profile. 2010 ; Arbeit an der Differenz. Zum Eigensinn der Prosa von Heiner Müller. 2010. Bernhard Sorg (Bonn)
geb. 1948 in Fulda, Studium der Germanistik und Anglistik in Giessen und Zürich. Magister 1970, Promotion mit einer Arbeit zur literarischen Schopenhauer-Rezeption im 19. Jahrhundert, 1973 in Giessen. Habilitation 1982 an der Universität Bonn. Lehrtätigkeiten im Fach Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Bonn, Trier, Heidelberg, Aachen, Greifswald und der University of Chicago, USA. Seit 1990 apl. Professor an der Universität Bonn.
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László V. Szabó (Veszprém)
PhD, Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Veszprém (heute : Pannonische Universität Veszprém) in Ungarn, seit 1997 dort tätig am Germanistischen Institut (seit 2006 als Dozent). 2005 Promotion in Budapest über den Einfluss der Philosophie Friedrich Nietzsches auf Hermann Hesse. Publikationen zu Schiller, Nietzsche, Hermann Hesse, Rudolf Pannwitz, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Hermann Broch, Thomas Bernhard, zur Interkulturalität, daneben Übersetzungen, Essays, Aphorismen. Neva Šlibar (Ljubljana)
geb. 1949 in Triest ; Schule und Studium in Wien, Ljubljana und Zagreb ; seit 2000 o. Prof. für moderne deutsche Literatur an der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana und von 2004§2010 Vorstand der Abteilung für Germanistik ; 2002§2003 Dekanin der Philosophischen Fakultät. Sprach- und wissenschaftspolitisch bisher in sieben EU-Projekten zur Mehrsprachigkeit tätig. Veröffentlichungen zur Gegenwartsliteratur (Aichinger, Bachmann, Veza Canetti, Handke, Lavant, Späth usw.), Literaturtheorie (lebensgeschichtliches Erzählen, Literaturmodelle, multilinguale Ästhetik), DaFLiteraturdidaktik (siebenfache Fremdheit der Literatur und Kompetenzmodell) und feministischen Literaturwissenschaft. Mireille Tabah (Bruxelles)
Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Université Libre de Bruxelles (ULB). Studium der Anglistik und Germanistik an der ULB. 1988 Promotion, 1990 Oberassistentin, 1996 Dozentin, 2009 Professorin. Forschungsschwerpunkte : zeitgenössische österreichische Literatur (insb. Bernhard u. Handke), Literatur von Frauen (Bachmann, Haushofer, Jelinek, Wolf ), deutsch-jüdische Literatur (Ausländer, Celan, Kolmar) und Repräsentation der Shoah (Sebald, Kertész). Jüngste Buchveröffentlichungen : Altérités, hg. mit Christophe Den Tandt. Brüssel 2007 ; W. G. Sebald ± Intertextualität und Topographie, hg. mit Irene Heidleberger-Leonard. Berlin 2008 ; Gedächtnis und Widerstand. Hg. Tübingen 2009. Erika Tunner (Paris)
Literaturwissenschaftlerin, geboren in Prag, lebt und schreibt in Paris. Langjährige Tätigkeit als o. Universitätsprofessorin für neuere deutsche Literatur an den Universitäten Lille III und Paris XII, der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales sowie am Institut d’Etudes Politiques, Paris. Gastprofessuren in
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Österreich (Graz ; Salzburg), in den USA (Bloomington ; Santa Barbara ; Tucson) und Australien (Brisbane). Mitglied des Centre de recherche sur l’Autriche et l’Allemagne (CR2A, Rouen). Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse (2009) ; Ordre du mérite national, France (1998). Redaktionsmitglied von verschiedenen Fachzeitschriften. Präsidiumsmitglied der IVG (1990§2000). Arbeitsschwerpunkte : Romantik ; österreichische und deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Herausgebertätigkeit und zahlreiche Veröffentlichungen in deutscher und französischer Sprache u.a. zu Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Peter Handke, Elfriede Jelinek, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Adalbert Stifter, Stefan Zweig ; Clemens Brentano, Georg Büchner, Goethe, Heine, E.T.A Hoffmann, Kleist, Philipp Otto Runge. Neuere Publikationen zur österreichischen Literatur (Auswahl) : Carrefours de rencontres : de Stefan Zweig à Christa Wolf. Paris 2004 ; Ilse Aichinger, Misstrauen als Engagement ? (Hg.) Würzburg 2009. Zeiterlebnis in der Gross-Stadt : Zeitmessung ± Zeitbeschleunigung ± Zeitverweigerung und ihre Folgen, in : „Phänomen Zeit. Dimensionen und Strukturen in Kultur und Wissenschaft“, Tübingen 2011 ; „Der Freitod im Erzählwerk von Stefan Zweig“, in : ‚Ich liebte Frankreich wie eine zweite Heimat.‘ Neue Studien zu Stefan Zweig. ± ‚J’aimais la France comme une seconde patrie.‘ Actualité(s) de Stefan Zweig, Würzburg 2011. Über Thomas Bernhard zuletzt : Thomas Bernhard. Un joyeux mélancolique. Paris 2004 ; „Thomas Bernhard : vingt ans plus tard. Entretiens avec Erick de Rubercy“, in : Revue des Deux Mondes, 2009 ; „Thomas Bernhard : le métier de vivre et d’écrire“, in : Revue Europe, 2009. Špela Virant (Ljubljana)
Dr., 1966 in Slovenj Gradec, Slowenien, geboren ; Studium der Germanistik und der vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana ; bis 1997 freie Publizistin, Übersetzerin und Dramaturgin ; Dozentin für deutschsprachige Gegenwartsliteratur an der Universität Ljubljana. Schwerpunkte : Dramatik, medientheoretische und kulturwissenschaftliche Ansätze in der Literaturwissenschaft. Simon Walsh (Michigan, Ann Arbor)
geb. 1979 in Adelaide, Australien, ist Doktorand im Fach German Studies an der University of Michigan, Ann Arbor. Momentan schreibt er eine Dissertation mit dem Titel Music, National Identity and the Past in Postwar Austrian Literature (neben Romane von Thomas Bernhard werden Werke von Ingeborg Bachmann, Gert Jonke und Elfriede Jelinek mitberücksichtigt). In Kürze erscheinen Publikationen über die Rolle von Musik in Lilian Faschingers Wiener Passion und Männlichkeitsstrukturen in Arnold Schoenbergs
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Oper Die Glückliche Hand. In den letzten Jahren hielt er mehrere Vorträge über seine Arbeit u.a. an der Modern Austrian Literature und Culture Conference. Derzeit verbringt er sein akademisches Jahr in Berlin mit einem DAAD-Forschungsstipendium unter der Betreuung des Musikwissenschaftlers Hermann Danuser.
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THOMAS BERNHARD JAHRBUCH 2003 2003. 271 S. BR. 3 FAKS., 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-77145-6
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THOMAS BERNHARD JAHRBUCH 2007/2008 2009. 261 S. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-77787-8
BD. 3: MARTIN HUBER, WENDELIN SCHMIDT-DENGLER, MANFRED MITTERMAYER, SVJETL AN L ACKO VIDULIC (HG.)
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