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German Pages [484] Year 1974
Olaf Meyer · „Politische" und „GeseUschaftüche Diakonie" in der neueren theologischen Diskussion
Arbeiten 2:uf Pastoraltheologie Herausgegeben von Martin Fischer und Robert Frick
BAND 12
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
OLAF MEYER
„Politische" und „Gesellschaftliche Diakonie" in der neueren theologischen Diskussion
V A N D E N H O E C K & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N
ISBN 3-525-S7I17-8 © Vandenhoeck & Ruptecht, Göttingen 1974.—Printed in Germany.— Ohne ausdrücUiche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
INHALTSVERZEICHNIS
Seite 8
0. Einleitung 0.1
0.2
Die aktuelle kirchliche Problematik: "Politiache" und "gesellschaftliche Diakonie" als Schlagworte in der Kontroverse um die "Politisierung" der Kirche Die aktuelle theologische Problematik: Die Präge nach der "politischen" und "gesellschaftlichen Diakonie" im Hahmen der jüngsten Auseinandersetzungen um die Bedeutung kirchlicher und gesellschaftlicher Praxis für die Theologie 0.21 Als Beispiel für die neue Problemlage: Die Rezeption des Theorie-Praxis-Verhältnisses aus der "Kritischen Theorie" in Hans-Dieter Bastians Neukonzeption 0.22
der Praktischen Theologie Konsequenzen für die Behandlung des Themas der "politischen" und "gesellschaftlichen Diakonie" als praktischtheologische Aufgabe
0.3
Zur Methodik und zum Aufbau der Untersuchungen
8
11
11
23
27
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2
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Seite 1. Zur Entstehung und Yorgeachlohte der "politischen Diakoni e " 1.1
Die "politische Diakonie" im Hahmen der Diskussion lun die Neuordnung der Diakonie naoh 1945 ·· 1.11
Die allgemeine diakonische Diskussion in
1.12
Der Beginn der Diskussion um die "politi-
1.13
sche Diakonie" Die Situation der Diakonie naoh 1945 in sozialgeschichtlicher Sicht
ihren Grundtendenzen
1.2
Der Rückgriff auf Johann Hinrioh Wiehern (Historischer Exkurs)
1.21
1.22 1.23 1.24
1.25
52
32 32 40 44
55
Die Wertung von Wicherns Programm der "Inneren Mission"bei den Vertretern einer "politischen Diakonie" Wicherns Plan der "christlichen Assoziationen" Die "Assoziationen" im Kontext von
55
Wicherns theologischem Sesamtentwurf
63
Zur sozialgeschichtlichen Relevanz von Wicherns Programm 1.241 Die biographische Verwurzelung von Wicherns sozialen Vorstellungen, seine Stellung innerhalb der preußischen Klassengesellschaft 1.242 Zur sozialgeschichtlichen Punktion der "Assoziationen" 1.243 Wichern und der Sozialismus Abschließende kritische Stellungnahme zur Berufxmg der Vertreter einer "politischen Diakonie" auf Wichern
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68
68 70 74
80
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3 -
Seite
2. Die beiden ursprünglichen Anaätze von "politischer Diakonie" und deren Fortführung. Erste Einsprüche gegen das Recht dieses Begriffes
86
2.1
86
"Politische Diakonie" und christliche Politik .. 2.11
Eugen Gerstenmaiers Grundlegung der politischen Diakonie als Handeln der Kirche in einer rechristianisierten Gesellschaft 2.111
86
Die "Metamorphose" des deutschen Nationalbewußtseins als gemeinsamer Ursprung der diakonischen Neuordnung der Kirche und einer christlichen Politik
2.112
86
Gerstenmaiers theologisches Fundament: die Theologie der Schöpfungsordnungen
2.113
96
Das Verhältnis von christlicher Politik und "politischer Diakonie" bei Gerstenmaier
2.12
109
Die "politische Diakonie" als Grundprinzip der Sozialgesetzgebimg in der BRD (Johannes Kunze)
2.13
122
"Politische Diakonie" und die Programmatik der CDU in der DDR
2.2
127
"Politische" und "gesellschaftliche Diakonie" im Rahmen einer neugefaßten Theologie der Diakonie 2.21
138 Der Neuansatz bei Heinz-Dietrich Wendland 2.211
138
Das Âuseinanderklaffen von Theorie und Praxis in der gegenwärtigen evangelischen Diakonie
138
2.212
Der christologische Ansatz
140
2.213
Die Bedeutung der Ekklesiologie für die Theologie der Diakonie
....
144
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4
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Seite 2.214
2.22
2.3
Eschatologie und Ontologie als zentrale Themen der Sozialethik und ihre Âuswirlcung auf die Theologie der Diakonie 2.215 Das Verhältnis von Kirche und &esellschaft als SrmöglichTing der politischen Diakonie Der Einspruch gegen die "politische" und "gesellschaftliche Diakonie" im Namen einer "christozentrischen" Diakonie 2.221 Die Kontroverse zwischen HeinzDietrich Wendland und Herbert Krimm 2.222 Die "christozentrische" Diakonie der Gemeinde als die wahre Antwort auf die soziale Frage
"Politische" und "gesellschaftliche Diakonie" als Thema der neueren Sozialethik 2.31 2.32
3.23
155 155
167 178 178
Sozialethik und soziale Diakonie im Dienste der Emanzipation des Menschen aus seiner Objektstellung im industriellen System (Arthur Rieh)
188
Erste Ansätze zur "Geeellschaftsdiakonie" Heinz-Dietrich Wendlaods "Theologie der Gesellschaft" als Theorie der gesellschaftsdiakonischen Praxis der Kirche 3.21 Die Notwendigkeit einer "Theologie der Gesellschaft" 3.22
151
Sozialethik aus der "christologischen Mitte" (Friedrich Karrenberg)
3. Die konsequente Fassung der "gesellschaftlichen Diakonie" im ваЬшвп einer "Theologie der Gesellschaft" 3.1 3.2
148
206 206
211 211
Das Verhältnis von "politischer" und "gesellschaftlicher" Diakonie
213
Der theologische Grundansatz der "Theologie der Gesellschaft"
215
-
5
-
Seite 3.24
3.25
3.26 3.27
Die Theologie der Gesellschaft als theologische Selbstkritik 3.241 Die Bindimg der traditionellen christlichen Soziallehre an die "dualistische" Gesellschaft 3.242 Wendlands Kritik an den bisherigen theologischen Antworten auf den gesellschaftlichen Umbruch Die Theologie der Gesellschaft als Gesellschaftsanalyse 3.251 Wendlands Gesellschaftsbegriff 3.252 Die soziologische Analyse der "funktionalen" Gesellschaft als Bestandteil der Theologie der Gesellschaft 3.253 Die gesellschaftliche Diakonie in der funktionalen Gesellschaft 3.254 Die theologischen Kriterien der Gesellschaftsanalyse: die "Fundamentalstiftungen Gottes" Die Theologie der Gesellschaft als theologische Ideologiekritik Die Theologie der Gesellschaft als Theorie der Gesellschaftsveränderung: der christliche Humanismus 3.271 Die humane Utopie der Theologie der Gesellschaft: die "verantwortliche Gesellschaft" 3.272 Die Kritik des modernen Humanismus in seiner marxistischen und liberalen Ausprägung 3.273 Der christliche Humanismus als die notwendige Gestalt der gesellschaftsdiakonischen Liebe 3.274 Eine zentrale sozialethische Norm des christlichen Humanismus: "Partnerschaft"
217
217
218 221 221
224 229
231 235
240
240
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253
-
6
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Seite 3.2Θ
Daa Ziel der geaellachaftlichen Diakonie: die Wiederherstellung der Personalität in der funktionalen üeaellschEift
259
"Gesellschaftliche Diakonie" in der Portführung des Wendlandachen Ansatzea (Hana Schulze)
262
4. Politische und geaellschaftliche Diakonie angesichts der radikaliaierten Frage nach dem geaellachaftlichen Ort von Kirche und Theologie in der .iüngaten theologischen Diakuasion
267
3.3
4.1
Kritischer Überblick auf die bisherige Diskussion 4.11
4.12
4.2
4.3
Allgemeiner Überblick. Die wesentlichen theologischen Implikationen der Diskussion Die Sozialgeachichte im Spiegel der Entwürfe einer "politischen" und "gesellschaftlichen Diakonie"
Politische und geaellschaftliche Diakonie als Forderung in der Kirchenreformdiakussion
267
267
282
293
Gesellschaftliche und politische Diakonie zwischen "Theologie der Revolution", "politischer Theologie" und offiziellen politischen Stellungnahmen der verfaßten Kirche
4.4
"Kritische Theorie" der Gesellschaft und das Gesellschaftsbild der politischen und gesellschaftlichen Diakonie 4.41 Dialektik der Geschichte und die Sozialgeachichte in theologischer Perspektive .. 4.42 Säkularisierung und Kritik der christlichen Überlieferung 4.43 Gesellschaftstheorie ala Hermeneutik in praktischer Abaicht
302
321 321 331 347
-
7
-
Seite 4.44
Abschließende Erwägungen zur Präzisierung der Theorie einer "gesellschaftlichen Diakonie"
360
Amnerkungen; Zu Zu Zu Zu Zu
0. Einleitung Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4
Literaturverzeichnis
370 378 397 430 442 458
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8
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0. BINLEITÜNa 0.1
Die aktuelle kirchliche Problematik; "Politiache" und "geaellBchaftliche Diakonie" ala Schlagworte in der Eontroverae um die "Politlaierung" der Kirche
Seit die Studentenrevolte zu einer wachaenden Politiaierung von Teilen der weatdeutschen G-esellachaft imd mit ihr auch der Kirche beigetragen hat, iat der Begriff der "politiachen Diakonie" einer größeren kirchlichen Öffentlichkeit zu Bewußtaein gekommen und hat aich aogleich zu einem der zentralen Kontroverathemen der kirchlichen Diakusaion entwickelt. Zugleich mit seinem plötzlichen Auftauchen hat das Thema der politischen bzw. der gesellschaftlichen Diakonie eine geradezu kirchenapaltende Sprengkraft entwickelt. Die Berliner Situation kann ala aymptomatiach gelten. Auf der einen Seite hat etwa Biachof S c h a r f im Bericht der Kirchenleitung über "die gesellschaftliche Punktion der Kirche in unserer Stadt" vor der außerordentlichen Synode der Evangeliachen Kirche von Berlin-Brandenburg am 22./23.6.1968 betont, daß die Kirche "verpflichtet ist, geaellschaftliche Diakonie zu üben Politische Diakonie wird nicht nur indirekt geleistet durch Christen, zu denen ihre Kirche ateht und die ein öffentlichea Amt innehaben, sondern auch durch die Kirche seibat, die durch ihre Leitung oder durch beaondera beauftragte und bevollmächtigte Kommissionen und eigens dafür gebildete Kammern sich äußert und tätig wird .... Sie hat in der Regel als ihre apezifiache Hilfe Gebote, Normen, Erkenntnisse anzubieten, die dem Pachverstand aus sich selbst nicht zugänglich sind. Sie muß den Beteiligten zumuten, was gegen ihr nächstliegendes Eigeninteresse sich richtet ... Ihre Mahnungen werden damit zugleich Offenbarxmgen der Möglichkeiten, die Gott gewährt. Sie aind Verheißungen des Durchbruchs durch die Gefängnismauern der Eigen-Interessen. 'Wir sind, ihr seid frei geworden zu solchem Tun.' Das hat die Kirche zu demonstrieren Andererseits sieht etwa die "Evangelische Sammlung Berlin" in einer solchen Betonung der politischen Diakonie einen wesentlichen Grund für ihre Konstituierung. Sie sieht ihre Aufgabe in einer "Formierung derjeni-
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gen, ... die dabei bleiben, daß Kirche ELrche iat, ... die wie in der Bekennenden Kirche der Dreißiger Jahre ... dazu stehen, daß unsere Kirche im Glauben und Bekenntnis der Väter bleibt," so heißt es in einem Einladungsschreiben der "Evangelischen Sanmlung" vom 31.8.1967. In demselben Schreiben werden die Ursachen, die zur Bildung dieser Gruppe führten, folgendermaßen angegeben: "Seit langem werden die Gemeinden der Berliner Kirche durch die ... Auseinandersetzung über Prägen der sogenannten 'modernen' Theologie, der Kirchenpolitik, nicht zuletzt der politischen Diakonie bis hin zur schwärmerischen Inanspruchnahme des geistlichen Amtes zu gesellschaftlichen Engagements in Unruhe versetzt." In dieser Äußerung wird der Anschein erweckt, als sei die politische Diakonie ein Produkt der "modernen Theologie" oder stehe' doch in engstem Zusammenhang mit ihr innerhalb einer spezifisch "modernen" Abfallbewegung von der der Kirche eigentlich aufgetragenen Sache. Der hier unternommene Versuch, ausgehend von einer Begriffsgeschichte die historische Entwicklung und systematische Entfaltung der "politischen" und "gesellschaftlichen Diakonie" zu rekonstruieren, wurde angeregt durch jene Kontroverse und die in ihr zum Ausdruck kommende merkwürdige Verschiebung in der Art imd Weise, wie sich das kirchliche Selbstverständnis im Rahmen der sich wandelnden gesellschaftlichen Situation artikuliert. Wie konnte ein Thema, das seinen ursprünglichen "Sitz im Leben" in der Reform der kirchlichen Diakonie nach 1945 hat (s.u. 1.1) - einer Reform also, die sich zuletzt der Verwandtschaft mit der "modernen Theologie" verdächtig macht, deren theologische Motive vielmehr in Vielem denen der "Evangelischen Sammlung" näher stehen als jener - , zum Schiboleth einer Abfallgeschichte der Kirche werden? Die Vermutung, daß in der Kontroverse um die politische Diakonie zentrale Konflikte und Widersprüche im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft, die latent lange vorhanden weiren, offen zu Tage getreten sind, wird bestärkt durch die folgende Beobachtung: Mag die oben angeführte Polemik mit Mißverständnissen belastet sein, insofern sie einen schlagwortartlg abgeschliffenen Begriff von "politischer Diakonie" verwendet und
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sich um dessen theologische Präzisierung nicht weiter kUnmert, mag auch der Anlaß für jene Polemik primär der Arger über die politischen Implikationen und Eonsequenzen konkreter kirchlicher Stellungnahmen sein, so gilt das doch kaum für die Polemik H e i n r i c h & r ü b e r s , eines der "Väter" der politischen Diakonie (s.u. 1.12). G r ü b e r wendet sich gegen "protestantische 'Kirchenmänner', die sich an die Spitze von Antikundgebungen stellen ..." und dies als "politische Diakonie" ausgeben. Diakonie aber, "der Wille, zu denen zu gehen und denen zu dienen, die im Staube liegen, ist etwas anderes als mit nicht selten ungepflegten Menschen bei Demonstrationen Staub aufzuwirbeln". "Alle, die sich heute an sogenannten Protestaktionen beteiligen, wissen es nicht, daß sie dabei in die größte Not unserer Zeit verfallen, die nur aus AntiStimmungen 2 und Antikompleien zu reden und zu handeln in der Lage ist". Die aktuellen Bezüge solcher Äußerungen sind deutlich: Sie sollen u.a. Versuche der Berliner Kirchenleitung treffen, ein gewisses Verständnis für die Ereignisse in der ersten Phase der Demonstrationsbewegung in Berlin zu erwecken. Die Rechtfertigung solcher Versuche geschieht, wie die oben angeführten Aussagen von Bischof S c h a r f zeigen, unter dem Titel der "politischen Diakonie", während H. & r ü b e r unter dem gleichen Titel implizit gerade einer solchen Rechtfertigung widerspricht. Die sich hier abzeichnende Ambivalenz, die dem Begriff einer "politischen Diakonie" anhaftet, gilt es zu untersuchen. Die Einsicht in ihre Entstehung im Kontext der theologischen und gesellschaftlichen Entwicklung kann als Voraussetzung für sachgemäße Entscheidungen in der gegenwärtigen kirchlichen Kontroverse dienlich sein. Auch wenn diese über das Problem der politischen Diakonie hinweggeschritten zu sein scheint vmd sich eher mit Themen wie "Theologie der Revolution", "politischer Theologie" oder auch dem Antirassismus-Programm der Ökumene befaßt, so bleibt sie doch im Bannkreis der spezifischen Problematik der gesellschaftlichen Punktion der Kirche nach 1945, deren theologische Reflexion entscheidend in einer Theorie der politischen und gesellschaftlichen Diakonie geleistet worden ist. Diese stellt ein entscheidendes Bindeglied zwischen der
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kirchlichen Neuorientierung unmittelbar nach Kriegsende und der gegenwärtigen Situation dar. 0.2
Die aktuelle theologische Problematik; Die Frage nach der "politischen" und "geaellachaftlichen Diakonie" im Rnhmpr. дрт. -jüngsten Diakuaaion um die Bedeutung kirchlicher xmd gesellschaftlicher Praxis für die Theolofiie
0.21
Als Beisgiel_fto_die_neue Problemlage:_Die_Eezeption_ des Theorie-Praxis-Verhältni3ses_aus_der_"Kritischen_ Theorie"_in Hans-Dieter _B_a_s_t_i_a_n_s_ Neukonzeg-_ tion_der_Praktischen_Theologie_
Der oben angedeuteten kirchlichen Kontroverse korrespondiert eine nicht minder heftige auf theologischem Gebiet. Wenn wir versuchen, uns in dieser Kontroverse im Blick auf unser Thema zu orientieren, so acheint ein Eingehen auf den neu entfachten arundlagenatreit in der Praktischen Theologie besonders ergiebig zu sein, insofern hier die Frage nach dem Stellenwert, den kirchliche Praxis in der Gesellschaft für die theologische Theoriebildung einnimmt, mit beaonderer Schärfe gestellt wird, eine Frage, auf die die verschiedenen Entwürfe von politischer und gesellschaftlicher Diakonie ebenfalls eine Antwort geben wollen. Die folgenden Ausführungen haben also den Sinn, ein in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen auagewieaenes Vorveratändnis zu formulieren, von dem her das Problem einer politischen und gesellschaftlichen Diakonie kritiach angegangen werden kann. Ala exemplarisch für die veränderte Diskussionslage können die Beiträge H a n s - D i e t e r B a s t i a n s gelten, und zwar deswegen, weil in ihnen daa Programm einer Neukonzeption der Praktischen Theologie schon ziemlich weit Gestalt angenommen hat.' Für B a s t i a n steht die Praktische Theologie am Scheidewege: "Entweder ... die Praktische Theologie folgt der Lehre vom Wort, gewinnt Gewißheit (dogmatisch), aber verliert Wirklichkeit (praktisch), oder aie wendet aich vom axiomatischen Wort ab und den menschlichen Wörtern zu, übernimmt die Verant-
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w o r t m g für deren Macht und Ohnmacht und unterwirft kirchlichee A
Heden und Handeln radikal der empirischen Analyse." B a s t i a n ist es nicht zweifelhaft, welcher der beiden Wege einzuschlagen ist: derjenige, der "Wirklichkeit" "praktisch" erschließt. Dies impliziert eine entschlossene Abwendung von der Holle, die dem Praktischen Theologen seit Beginn der Dialektischen Theologie zugeschoben wird, nämlich nichts anderes zu tun, "als mit mehr oder weniger (meist weniger) Originalität wiederholen, was Bxeget, Historiker und Systematiker vor ihm bereits gesagt haben".^ Stattdessen gilt es, eine neue Rolle zu übernehmen: Der Praktische Theologe "nimmt hermeneutisch den Platz des Uneingeweihten ein, von dem Paulus, 1. Kor. 14,16 spricht und stellt die Fragen, die der Laie stellt".^ In dieser Holle geht der Praktische Theologe aus von der "laienhaften" Erfahrung der"Kluft zwischen dem dogmatischen Anspruch der Ver7 kUndigung und ihrer schmerzlichen Wirklichkeit". Diese Kluft soll nicht mehr dogmatisch wegdiskutiert, sondern, um sie zu überwinden, mit empirischen Methoden auf ihre Ursachen hin analysiert werden. Das zentrale "Leitmotiv", das ein solches Vorgehen rechtfertigen kann, ist dabei eine dialektische Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, in der die Praxis zur о "Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation" wird, eine Bestimmung also, wie sie als Grundlage einer allgemeinen Wissenschaftstheorie in der sogenannten "Kritischen Theorie" der "Frankfurter Schule" vor allem von Th. W. А d о r n o , ω. H o r k h e i m e r , J. H a b e r m a s und H. M a r c u s e expliziert wurde. Die Leistung dieses "Leitmotivs" besteht nach B a s t i a n darin, daß eine dem modernen Wissenschaftsbewußtsein entsprechende Erkenntnistheorie und die komplexen Tatbestände der modernen Zivilisation sachgemäß miteinander vermittelt werden können: "Die empirischen Tatsachen und das Bezugssystem der Theorie sind aufeinander rückgekoppelt. Weder Tatsachen noch Theorien bestehen unabhängig voneinander 'an sich'. Sie bedingen und verändern sich wechselseitig. Der empirischen Tatsache eignet also keine natürliche, naive, jedermann greifbare, sondern 'eine künstlich erzielte g Evidenz' ..." . Auf die Praktische Theologie angewandt, heißt das: "Die Praxis, der sich Praktische Theologie zuwendet, ist
- 15 al3o nicht einfach gegeben, sondern wäre erst durch methodische Prägen hervorzurufen. Das Bezugssystem methodischer Prägen in Zusammenhang mit dem Handeln der Kirche ergibt das Porschungsfeld Praktischer Theologie". Dabei gilt für die Praktische Theologie dasselbe wie für Theorie überhaupt: Tatsachen der kirchlichen Praxis müssen "durch methodische Anfragen künstlich provoziert" werden, wobei es die spezifische Aufgabe der Praktischen Theologie ist, Theorien, die dazu in der Lage sind, zu " e r f i n d e n " D a m i t gewinnt die Praktische Theologie einen ihr eigenen Aufgabenbereich. Sie löst sich aus der bloßen Abhängigkeit von anderen theologischen Disziplinen: "Unter den Leitmotiven Theorie und Praxis hört die Praktische Theologie auf, lediglich nachdenklich (sc. dogmatischen Voraussetzungen nach - denkend) zu sein. Sie ist kritisch orientiert, soweit sie Traditionen wahrnimmt; sie ist empirisch orientiert, soweit sie Handlungskomplexe der Gegenwart analysiert; sie ist prospektiv planend, soweit sie Zukünftiges bedenkt. Die Praktische Theologie öffnet sich damit einer Einsicht, die für die neuere Diskussion um die Reform der Kirche im Kontext einer Veränderung der Gesellschaft konstitutiv ist, der Einsicht nämlich, "daß Wahrheit niemals abseits von ihrer Organisation lebt und daß die Strukturen selbst wesentliches Element der in ihnen lebenden xuid durch sie vorangebrachten Wahrheit sind..."''^. B a s t i a n ist derart fasziniert von den Möglichkeiten, die sich - in seiner Sicht - als Konsequenzen der dialektischen Verhältnisbestimmung von Theorie und Preixis für die Praktische Theologie ergeben, nämlich eine selbst praktisch begründete wissenschaftlich-technische Kontrolle der Praxis mit dem Ziele ihrer Veränderung, daß das Schwergewicht seiner Ausführungen ganz auf diesen Konsequenzen liegt, kaum aber auf der Präge nach den Voraussetzungen Jener Verhältnisbestinmung und nach den Bedingungen und Möglichkeiten, diese für eine theologische Disziplin zu rezipieren. Diese Frage muß aber gestellt werden. Wir tun dies zunächst in einer immanenten Kritik: Wir fragen nach dem Verhältnis des "Leitmotivs", das B a s t i a n s Neuansatz begründet, der dialektischen Verhältnisbestimmung von
- 14 Theorie und Praxis, zu den daraus gezogenen Eonsequenzen einer technischen Ausrichtung der Praktischen Theologie. B a s t i a n bringt folgende prinzipielle Begründungen für eine neue technisch verstandene Praktische Theologie: Einmal gilt ihm als Voraussetzung für die îunktionsbeetiœmnng der Praktischen Theologie, "daß für Kirche xind Christentum keine anderen Verhaltensformen möglich sind, als sie die wissenschaftliche Zivilisation a n b i e t e t " Z u m anderen hat seine Neukonzeption, die zentral durch eine Verlagerung der Präge nach dem "Was" und "Warum" zur Präge nach dem "Wie" gekennzeichnet ist^^, ihren Grund in der für die Theologie ezistenznotwendigen Lösung von "einer abgestorbenen oder absterbenden Metaphysik, die ihre Wahrheiten als Inhalt, Kern und vor allem als Probleme des Wesens in imsichtbarer Tiefe auszugeben versteht. In der Polemik gegen diese von B a s t i a n als "aristotelisch" apostrophierte Metaphysik trifft B a s t i a n zweifellos ein entscheidendes Kennzeichen der gesamten modernen Wissenschaftstheorie, in der aus dieser Polemik gewonnenen Position aber übergeht B a s t i a n imkritisch die in dieser Wissenschaftstheorie äußerst kontroverse Srundlagendiskussion, wie sie vor allem in der Soziologie geführt wird.^^ Diese Kontroverse kreist - zxmächst grob gesagt - gerade um das Problem, ob und wie in den auf technisches Handeln bezogenen Wissenschaften die Präge nach dem Was, nach den Zwecken, nach Wahrheit und Wirklichkeit, neu gestellt und beantwortet werden kann. Ein für die kritische Rezeption notwendiges Problembewußtsein hätte es erfordert, explizit auf diese Grundlagendiskussion einzugehen und hier klare Entscheidungen zu treffen, stattdessen wird jene Kontroverse bei B a s t i a n harmonisiert. So kann der Eindruck entstehen, als sei das technische Programm B a s t i a n s , etwa anhand des kybernetischen Hegelkreises die 17
Praxis auf die Theorie technisch rückzukoppeln , oder an die Stelle einer Ontologie des Wortes die Semantik zu setzen, welche Sprache unter1 fìder technischen Präge: "How does language work" analysiert , die selbstverständliche Konsequenz aus der dialektischen Verhältnisbestiimnung von Theorie und Praxis in der "Kritischen Theorie".
- 15 Das ist aber keineswegs der îall. Gerade in der Kritischen Theorie wird, vor allem von J. H a b e r m a s und H. M a r c u s e , die von B a s t i a n gemeinsam mit den Vertretern einer "neopositivistischen" Wissenschaftstheorie vollzogene Begrenzung der Frage nach der Praxis auf die Wie-Prage in ihrer ideologischen Punktion analysiert. Sie gewinnt ihre kritische Position gerade in der Polemik gegen ein Wissenschaftsverständnis, in dem die "Rationalisierung", die aller modernen Wissenschaft und Gesellschaft gemeinsame anti-metaphyaische Parole, mit der technischen Verfügungsgewalt gleichgesetzt wird. Diese Tendenz, die Ersetzung von Praxis durch Technik, prägt die Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften seit ihrer Begründung in der Aufklärung: "Die nach dem Vorbild der modernen Physik, nämlich in der Einstellung des Technikers entworfene Sozialphilosophie, kann die praktischen Polgen der eigenen Lehre nur innerhalb der Grenzen des technologischen Selbstverständnisses reflektieren ... - das Verhältnis der Theorie zur 19 Praxis läßt sich nicht mehr selbst theoretisch klären." Dieses Mißverhältnis gewinnt durch den Umbruch in der naturwissenschEiftlichen Basis der SozialWissenschaften, dem B a s t i a n durch seine Aufnahme von Kybernetik und Linguistik verpflichtet ist, erst seine volle Konsequenz: Im frühen Rationalismus und in der Aufklärungsphilosophie sind die Grundentscheidungen getroffen, zu denen 20 "die Grundsätze des Positivis-
mus bloß den Hefrain bilden." B a s t i a n ist sich der Nähe seines Entwurfs einer technischen Praktischen Theologie zu Pragmatismus, Neo-Behaviorismus und Positivismus bewußt, diese kann aber "einer Theologie, welche bisher die Bereiche des Handelns und der Erfahrung dogmatisch überspielt hat, nur heilsam 21 sein." Hier kollidieren nun völlig die Konsequenzen mit dem diese begründenden "Leitmotiv", der von B a s t i a n aus der "Kritischen Theorie" übernommenen dialektischen Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis. Denn für H a b e r m a s kommt es gerade im Positivismus und den ihm wissenschaftstheoretisch verpflichteten Wissenschaften zur endgültigen Auflösung der in der gesamten Tradition der politischen Philosophie und der Sozialwissenschaft angestrebten Einheit von Theorie und Prsutis. 22 "Der Anspruch, mit dem sich einst Theorie auf Praxis
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bezog, ist apokryph geworden." Die "Kritische Theorie" steht in einer klaren Alternative zur positivistischen Theorie der Wissenschaft und verhält sich zu dieser nicht, wie B a s t i a n harmonisiert, als Grundlegung zu ihrer Konsequenz. Sie konstituiert sich geradezu in einer Kritik des Positivismus. Die Identifizierung von "Hationalisierung" und technischer Verfügungsgewalt, die nach J ü r g e n H a b e r m a s die eigentliche Beschränktheit des Positivismus ausmacht, produziert als ideologischen Schein die "Technokratie-These", die von der fragwürdigen Voraussetzung ausgeht, "daß die Menschen im Maße der Verwendung von Sozialtechniken ihr eigenes Geschick rational lenken können".^^ Ideologisch wird jene These dann, wenn sie "die Diskrepanz die zwischen praktischen Prägen und der Bewältigung technischer 2S Aufgaben klafft", verschleiert und damit gerade "Rationalisierung", verstanden als rationale Vermittlung jener Diskrepanz, verhindert. Die Beobachtung, daß B a s t i a n den Widerspruch zwischen "Kritischer Theorie" und positivistischer Wissenschaftstheorie harmonisiert, läßt den Verdacht aufkommen, daß seine Konzeption einer technischen Praktischen Theologie in Wahrheit zu einer "technokratischen" Praktischen Theologie führt. Diesen Verdacht gilt es im folgenden zu belegen. Aufschlußreich ist zunächst die Beobachtung, daß die dialektische Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis, die ihm in seinem programmatischen Aufsatz "Vom Wort zu den Wörtern" als das zentrale Leitmotiv galt, in den Äußerungen, die jenes Programm konkretisieren, thematisch mehr und mehr zurücktritt. In "Information über den Unfug" bekennt sich B a s t i a n - i m Anschluß an M o l t m a n n - z u der "These von der Praktikabilität der Wahrheit (die Praxis als Kriterium des Glaubens)", und er übernimmt damit eine Grimdthese der Kritischen Theorie. Was dies, insbesondere auf die Theologie angewandt, bedeutet, wird in der "Theologie der Frage", der bisher umfassendsten Konkretion von B a s t i a n s Programm, folgendermaßen expliziert: Es ist damit eine simple Umkehrung des - nach B a s t i a n traditionellen theologischen Verfahrens gemeint: "Traditionell ist ... die Praxis eine Dimension des Theologischen, für uns
- 17 27 wäre das Theologische eine Dimension der Praxis". Mit diesem Zitat, das das Entscheidende verschweigt, nämlich die Dialektik von Theorie und Praxis, die etwas anderes ist als die Umkehrung der undialektischen Torordnung der Theorie vor die Praxis, ist das Thema Theorie und Praxis für B a s t i a n in der "Theologie der Präge" im wesentlichen beendet. Es fehlt vor allem in den Erörterungen der technischen Wissenschaften, die B a s t i a n für die Praktische Theologie zu rezipieren gedenkt. Die Kritische Theorie entwickelt jenes Thema, aber anhand der 28 Methoden - und ürundlagenkritik an diesen Wissenschaften. Das Zurücktreten der Theorie-Praxis-Problematik in den Explikationen praktisch-theologischer Techniken ist nicht zufällig, es hat vielmehr seinen Grund darin, daß für B a s t i a n - im krassen Widerspruch zur Kritischen Theorie und zu seinem eigenen Ansatz bei dieser - in der technischen Rationalität der Kybernetik selbst der klassische Theorie-Praxis-Streit überwunden ist, daß also die Kybernetik bzw. ihr analoge Wissenschaftamodelle in der Lage sind, die der Praktischen Theologie aufge2Q tragene Vermittlung von Theorie xmd Praxis zu bewerkstelligen." Pür H a b e r m a s steht gerade die Kybernetik am Ende der von ihm konstruierten vier Stufen der technokratisch verstandenen Rationalisierung^^, in denen die Technologien zunächst die für den Bereich der Praxis konstitutiven Werte eliminieren, um sich dann selbst als Wertsysteme an deren Stelle zu setzen.'^ Gerade in der Kybernetik enthüllt sich die den positivistisch verstandenen technologischen Wissenschaften zugrunde liegende "schlechte Utopie": "Die schlechte Utopie einer technischen Verfügung über Geschichte wäre erfüllt, wenn man einen lernenden Automaten als zentrales gesellschaftliches Steuerungssystem eingerichtet hätte, der diese Prägen kybernetisch, eben 'selbst' '52
beantworten könnte." Und eben eine solche Logik der "Rationalisierung" scheint in B a s t i a n s Entwurf durch. Sie erlaubt es ihm, Alternativen unter dem Aspekt ihrer technologischen Vermittlung als Schein zu durchschauen. Dies ist im Sinne der "Kritischen Theorie" dann technokratisch, wenn solche Alternativen Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche sind, die dann der praktischen
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Bewältigung entzogen werden. Die synthetische Leistung der Kybernetik zeigt sich für B a s t i a n zunächst darin, daB sie die traditionellen Scheidungen, wie etwa die zwischen "Inhalt und ïorm", "Kern und Schale", welche im Gefolge jener "abgestorbenen Metaphysik" (s.o.) die Theologie bestimmt haben, ebenso transzendiert und aufhebt wie die sich widerstreitenden ideologischen Ansätze топ Materialismus und Idealismus.^^ Ein solches Vertrauen in die synthetische Kraft moderner Technologie ist auch in B a s t i a n s Analyse der didaktischen "MikroBtruktur" Präge leitend. Stereotyp findet sich in ihr die Argumentation: keine Alternativen! Sas gilt für das Verhältnis von individueller Entscheidung und dem Bezugssystem der Sozietät^ ebenso wie für die Itage, ob sich die Kirche mit den Formen moderner Werbung der Marktlage anpassen oder es vielmehr darauf ankommen lassen soll, wenn die Botschaft nicht ankommt,'^ und für das Verhältnis von Gehorsam und Ungehorsam'^. Das gleiche gilt schließlich für das Verhältnis von Glauben iind Wissen, das Grundproblem für eine"Theologie der Frage". Am Beispiel des Verhältnisses von Glauben und Wissen soll nun ausgeführt werden, wie die behauptete "technokratische" Vermittlung der Alternativen bei B a s t i a n aussieht. Um dabei B a s t i a n s Intention gerecht zu werden, müssen wir zuvor auf eine Argumentationsreihe aufmerksam machen, die neben den Aussagen über die synthetische Kraft der Kybernetik herläuft. Diese Argumentationsreihe scheint unsere bisherige Kritik zu widerlegen. B a s t i a n geht es ganz offensichtlich darum, daß die praktischen Entscheidungen über Sinn und Ziel gesellschaftlicher Prozesse nicht zugunsten der Technologien eliminiert werden und daß damit auch eine Unterwerfung der "Wertsysteme" unter die Technologien verhindert wird. Damit scheint B a s t i a n seinen Ansatz, die neue Punktionsbestimmung der Praktischen Theologie auf die Wie-Prage zu beschränken, zu überwinden. "Die Präge nach dem Wert oder Sinn einer Information verbindet die Informationsdidaktik mit der Hermeneutik." B a s t i a n wendet sich deshalb gegen eine von H. P r a n k vorgeschlagene "schiedlich-friedliche Trennung ... in eine quantitativ-kalkülisierende Kybernetik einerseits und eine qualitativ-verstehende Geisteswissenschaft ande-
- 19 rerseits"'"^ und fordert mit К. S t e i n b u o h : "Der Mensch muß daa Wertsystem vorgeben, die danach optimale Entscheidung zu finden, das wird mehr Sache der Computer sein." "Es wird immer wichtiger, daB dieser Schalthebelmensch das nichtige will. Das Problem der Wertsysteme wird also wohl zum zentralen Problem allen menschlichen Denkens, aller Soziologie, aller Politik und aller Philosophie."'® Mit solchen Absicherungen intendiert B a s t i a n H a b e r m a s ' Verständnis von Theorie und Praxis, und zwar sowohl in dessen positivem Aspekt, welcher auf Praxis als rationale Selbstverständigung der Gesellschaft zielt, wie im negativen, der den suahand der "vier Stufen der Rationalisierung" ana•30
lysierten Prozeß der Technokratisierung verhindern will·^^. Wird diese Intention aber verwirklicht? Dies erscheint äußerst zweifelhaft. Skeptisch stimmt schon die Brläuterimg, die B a s t i a n zu den oben zitierten Forderungen S t e i n b u с h s gibt. Ss geht darum, nicht nur den Gehalt, sondern auch den Wert einer Information quantitativ zu bestimmen.^® Die Zweifel lassen sich aber vor allem belegen an der Verhältnisbestimmung von Glauben und Denken bzw. Wissen. Unter Berufung auf L. W i t t g e n s t e i n , für den "der Glaube ... nicht eine mindere Form des Denkens, sondern dessen linguistischer Zwilling" ist, und G. K l a u s bestimmt B a s t i a n den notwendigen Ort des Glaubens als "pragmatischer Kategorie" in Korrelation zum Wissen innerhalb der sprachanalytischen bzw. kybernetischen Theorie.''·^ Von diesem Ansatz her expliziert B a s t i a n die nicht-alternative Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen folgendermaßen: "Das Wissen, auch das der Wissenschaft, wäre dann ein Sonderfall des Glaubens, bei dem nämlich das verifizierbare Vertrauen in die Tatsachen und Daten extrem hoch liegt. Für begrenzte Aufgaben ... genügt dieses verifizierbare Vertrauen ... Im Blick auf das Problem, das Richtige zu wollen, sind Glaube und Denken (Wissen) nicht Feinde, sondern Partner ... Die Rationalität läßt sich so leicht korrtunpieren, weil sie einen extremen Grenzfall des Glaubens darstellt. Wenn B a s t i a n auch den christlichen Glauben der so entwickelten Bestimmung unterwirft, so geht es ihm darum, "die
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unerträgliche Dichotomie von christlichem Glauben einerseits und sonstigem Glauben andererseits" zu überwinden^^. Das intendierte Theorie-Praxis Verständnis im Sinne H a b e r m a s ' wäre nun erst dann erreicht, wenn die Kategorien "Wissen", "Glauben" und insbesondere "christlicher Glaube" ausgelegt würden im Blick auf ihre hermeneutische Punktion und das heißt im Blick darauf, inwiefern diese, die B a s t i a n ja innerhalb eines technologischen Zusammenhanges ansiedelt, in der Lage sind, eben jene technologischen Systeme zu normieren und zu kritisieren. Genau diese Auslegung fehlt aber bei B a s t i a n . Statt zu einer hermeneutisch-kritischen kommt es zu einer kybernetisch-technologischen Vermittlung von Glaube und Wissen. ".Glaube" bzw. die für den Glauben konstitutive Grundhaltung des Fragens ist die in Korrelation zu diesem stehende Umkehrung von "Wissen", wobei beide Bestimmungen von B a s t i a n nur im kybernetischen Bezugssystem gemacht werden können. Wenn "Wissen" bzw. das auf "Wissen" bezogene Lernen kybernetisch als Redundanzgewinn und Informationsverlust definiert werden, so gilt für den fragend lernenden Glauben das Umgekehrte: "Kybernetisch betrachtet, ist das Lernen als Redundanzgewinn eine Seite der Medaille, nämlich die Antwort. Fragen erwirkt gerade den Redundanzverlust, schafft Nichtwissen und ermöglicht den notwendigen neuen Informationsgewinn." Auf die Frage, wie die inhumanen Möglichkeiten des Frageverhaltens verhindert werden 4-4
können , kann B a s t i a n nur wieder im Rahmen einer kybernetischen Didaktik antworten: "Der neuzeitliche Mensch muß didaktisch in eine bipolare Verhaltensform eingeübt werden: Sperregulative gegen totalitäre Fragen - Antriebsmotive für 4-5
kommunikative Fragen"^^. B a s t i a n fordert also die Rückbeziehung einer technischen Praktischen Theologie auf die Hermeneutik, kann diese aber selber nicht leisten. Dies liegt für ihn offenbar außerhalb des Aufgabenbereiches der Praktischen Theologie. Damit kommen wir zu B a s t i a n s Entwurf des Verhältnisses der theologischen Disziplinen zueinander. Auch daran läßt sich der Verdacht der technologischen Vermittlung, die die Gefahr der Technokratie impliziert, erhärten. B a s t i a n tut gerade das, was er an H. F r a η к kritisiert hat, er fordert ein
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"schiedlich friedliches" Nebeneinander der theologischen Disziplinen, wohei das hermeneutisch-kritische Element, das wir in B a s t i a n s
praktisch-theologischem Entwurf vermissen, of-
fenbar zur Aufgabe einer anderen theologischen Disziplin wird·^^ Das dort möglicherweise anzusiedelnde kritische Moment wird dadurch aber wieder in seiner Wirkung in Präge gestellt, daß das Verhältnis der theologischen Disziplinen zueinander wiederum technologisch-kybernetisch anhand des Regelkreises bestimmt wird/·^ Nimmt man die von
B a s t i a n
intendierte, aber nicht
durchgeführte Vorordnung der Wertsysteme vor die Technologien in unsere Kritik mit hinein, so läßt sich
B a s t i a n s
Ent-
wurf in Analogie zu einer spezifischen Position innerhalb der - in sich ja sehr differenzierten - positivistischen Wissenschaf tstheorie sehen, wodurch unsere Kritik präzisiert werden kann. Eine solche Analogie steht zum wissenschaftstheoretischen Jо Entwurf von K. E. P o p p e r . P o p p e r
unterscheidet sich von den Vertretern der Tech-
nokratie darin, daß bei ihm Rationalität "stets rückbezogen (ist) auf die Kommunikation der in rationaler Einstellung dis4.Q kutierenden Bürger". Dies trifft auch für B a s t i a n zu, dem ebenfalls die Öffentlichkeit als Konstituens seiner Kommunikationstheorie gilt^*^. In diesem Moment ist bei nach
H a b e r m a s
gilt für
P o p p e r
P o p p e r
das Pathos der Aufklärung wirksam. Dies freilich nur "mit dem resignierten Vor-
behalt, Rationalismus nur noch als Glaubensbekenntnis rechtfertigen zu können. So könnte
B a s t i a n s
oben explizierter Begriff von
"Glauben" ebenfalls verstanden werden, zumindest könnte ein ähnliches Verständnis bei den Theoretikern angenommen werden, auf die er sich beruft. Schließlich impliziert
P o p p e r s
Theo-
rie die spezifische Gesellachaftsordmmg, nämlich die liberale Б2 Ordnung der "offenen Gesellschaft"-^ . B a s t i a n s
Entwurf zielt in eine ähnliche Richtung. Sei-
ne ganze Analyse der Kommunikationsstruktur "Präge" intendiert das Offenhalten gesellschaftlicher Prozesse, welches durch autoritäre Antwortsysteme bedroht ist.
B a s t i a n s
Nähe zum
Liberalismus zeigt sich auch darin, daß er im Anschluß an
- 22 D a h r e n d o r f das Selbstverständnla der neo-liberalen Theorie rezipiert, nach dem die Demokratie als kontrollierte Hevolution aufgefaßt wird.^' Diese Tendenz wirkt sich aus bis in die theologischen Aussagen hinein: "&laubens-Sinn ist eben nicht Kirchen-Antwort, sondern Ankunft Gottes in einem Baum, den wir nur mit der Präge als Aporie offenhalten k ö n n e n . F r e i l i c h läßt sich für P o p p e r Jener aufklärerische Impuls nur durchhalten durch eine strikte Trennung von Slauben und Werturteilen auf der einen und Wissen im Sinne eines Begriffs exakter Wissenschaft auf der anderen Seite, was auf ein Nebeneinander von Theorie und Praxis hinausläuft.^^ Indem B a s t i a n Glauben und Wissen kybernetisch vermittelt, führt er die von H a b e r m a s analysierte Logik der Technokratie über P o p p e r hinausgehend fort. Gemeinsam mit dem hermeneutisch-kritischen Element der "Kritischen Theorie" wird bei B a s t i a n auch die kritische Punktion der Theologie von der Technologie geschluckt. Gegenüber der immensen Masse, die die Theologie von der Kybernetik, der Linguistik etc. lernen kann, ist ihr eigener Beitrag zum modernen wissenschaftlichen Erkennen, in dem sie ihre kritische Potenz auch gegen diese Wissenschaften erweisen könnte, verschwindend gering.^^ Am Ende seines programmatischen Aufsatzes "Vom Wort zu den Wörtern" versichert B a s t i a n : "Der Weg zu den Wörtern würde theologisch im Allotria enden, könnte er sich nicht beständig im Rück- und Vorblick (dogmatisch) am Wort Gottes 57 orientieren""^ . Diese Aussage ist für B a s t i a n kein theologischer Notnagel, vielmehr zeigen seine thematisch-theologischen Aufsätze, wie sehr er der Wort-Wörter-Dlalektik der Dialektischen Theologie verbunden ist, deren Auswirkungen auf die Praktische Theologie er andererseits eminent kritisiert. So kann B a s t i a n sagen: "Die Vollmacht, mitten in einer gottlosen Welt an Gott zu glauben, vermittelt allein das Wort Gottes. Hier haben wir das Instrument vor uns, mit dem Gott in seiner ganzen unbegreiflichen Wirklichkeit in unsere Wirklichkeit einbricht." "Das Wort ist der Schöpfer des Glaubens Solche dogmatischen Aussagen treten nun bei B a s t i a n in einen unerträglichen Gegensatz zu seinem Entwurf einer technischen Praktischen Theologie, weil eine hermeneutisch-kritische Vermittlung der
- 23 beiden Pole unterbleibt. ^ Da jene Vermittlung топ B a s t i a η aber technologisch sehr wohl konsequent durchdacht ist und da sie in einer technischen Zivilisation auch praktisch durchführbar ist, steht zu befürchten, daß in einer nach B a s t i a n s Programm technisierten kirchlichen Praxis Jene dogmatischen Sätze eine noch größere Bedeutungslosigkeit haben werden, als es nach B a s t i a n s . Analyse in der gegenwärtigen Situation ohnehin der Pali ist. Werden die ideologischen Tendenzen moderner Technologie einfach ignoriert, so führt B a s t i a n s Entwurf zu einer "technokratischen" Kirchenreform und damit zugleich zur Abdankung der Theologie gerade in der Aufgabe, die hier durch die Aufklärung gestellt ist, nämlich sich als gesellachaftskritische Theorie und Praxis zu verstehen.
0.22
Konse(iuenzen_fto_die_Behandlung des Themas_der_"golitÌ2 3chen"_und_"ge3ellschaftliçhen_Diakonie"_als_praktisch3 theologische_Aufgabe_
Zuaammengefaßt ergibt sich: Mit B a s t i a n s Anpassung der Praktischen Theologie an einen technischen Wissenschaftsbegriff wird die seit der Aufklärung bestehende Grundlagenaporie der Theologie eher verschleiert als reflektiert. Diese Grundlagenaporie besteht in Folgendem: Die theologischen Disziplinen können ihren wissenschaftlichen Auftrag nur wahrnehmen, indem sie ihren "natürlichen Ort" Innerhalb der profanen Wissenschaften, also etwa den Ort des Alttestamentiers innerhalb der semitischen Philologie, akzeptieren, d.h. "daß den theologischen Disziplinen Jenes Höchstmaß an Gemeinsamkeit mit dem wissenschaftlichen Problembewußtsein benachbarter nicht-theologischer Disziplinen n o t w e n d i g ist Andererseits können sie ihre wissenschaftliche Aufgabe als theologische nur begreifen, insofern sie an ihrem "gegebenen Ort" innerhalb der Theologie festhalten. Denn "ist die Theologie ... erst einmal von einem n a t ü r l i c h e n Ort im System der Geisteswissenschaften hier als deren eine verstanden, dann ist sie auch bald als d e r e n überflüssigste durchschaut."^^ Das gilt auch,
- 24 wenn man an die Stelle der Grelsteswissenachaften einen anderen Entwurf eines wissenschaftlichen Systems setzt. So verstanden nimmt die Cebatte ша den Wissenschaftscharakter der Theologie die spezifisch nachaufklärerische Situation ernst. Mit der Verpflichtung der Theologie auf die den neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff allgemein konstituierende historisch-kritische Methode ist es erstmals möglich geworden, die einzelnen theologischen Disziplinen den verschiedenen "natürlichen" Vernunftvermögen zuzuordnen und so den Wissenschaftscharakter der Theologie grundsätzlich zu bestreiten. Nur im Eingehen auf diesen Streit, im "Streit der Fakultäten", nicht aber durch dessen Vermeidung im Sinne von B a s t i a n s Integration der Praktischen Theologie in einen neu bestimmten "natürlichen" Ort läßt sich der spezifische Wissenschaftscharakter der Theologie bestimmen. Sachgemäß kann dieser Streit nur so sein: "Die Theologie muß um ihrer selbst willen den Streit der Fakultäten s u c h e n . Aber sie wird dabei sich selber so zur Geltung zu bringen haben, daß der Streit der Fakultäten sich in einen Streit um den Streit selbst verwandelt. Sie hat nicht nur dafür zu sorgen, daß der Glaube s i c h zu v e r s t e h e n gibt. Indem sie dieses tut, muß sie vielmehr selber zum Hinweis darauf werden, daß der Glaube auch dasjenige V e r s t e h e n gibt, das zu geben den Instanzen anderer Fakultäten (also dem verschiedenen Vernunftvermögen) nicht gegeben ist."^' Mit der Beziehung auf die Kritische Theorie nehmen wir B a s t i a n s Ansatz positiv auf. Dies geschieht insbesondere, indem wir im folgenden von der Arbeitshypothese ausgehen, daß die Funktionsbestimmung der Praktischen Theologie an einer unangemessenen Verhältnisbestimmxing von Theorie und Praxis krankt und daß dieser Mangel vom Theorie-Praxis-Modell der "Kritischen Theorie" her zu analysieren und möglicherweise zu beheben ist, wobei freilich diese Arbeitshypothese in anderer Weise zu verifizieren sein wird, als das bei B a s t i a n geschieht. Anhand der oben gemachten Unterscheidung des "natürlichen" und des "gegebenen Ortes" der theologischen Disziplinen kann B a s t i a n s Intention auch in einem weiteren Punkt aufgenommen werden. Die Praktische Theologie krankt daran - und
- 25 insofern besteht B a s t i a n e Kritik zu recht - , daß aie im Gegensatz zu anderen theologischen Bisziplinen, etwa den exegetischen, ihren "natürlichen Ort" nicht gefunden bzw. nicht konsequent angenommen hat. üm diesen Ort neu zu bestimmen, kann man mit B a s t i a n die Praktische Theologie als "soziale Handlungswissenschaft" verstehen.^''· Mit "Handlungswissenschaft" werden solche Wissenschaften bezeichnet, welche sich von den historischen Kulturwissenschaften darin unterscheiden, "daß sie dem Wesen ihrer Erkenntnis nach, also auch als 'Theorie', unmittelbaren Polgerungen für das soziale Handeln offenstehen. Für die Theorie einer so definierten Wissenschaft muß das Theorie-Praxis-Verständnis der "Kritischen Theorie" konsequenter durchgezogen werden, als es bei B a s t i a n geschièht, um so den technokratischen Gefahren zu wehren. Die kritische Auseinandersetzung mit der "Kritischen Theorie" stellt sich dann dar als die Spannung zwischen dem "natürlichen" und dem "gegebenen Ort" der Praktischen Theologie. Wenn wir in diesem Problemhorizont kritisch nach der politischen und gesellschaftlichen Diakonie fragen, so versuchen wir damit nicht nur, den gegenwärtigen Stand der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Theologie als kritischer Wissenschaft und kirchlicher Praxis in der nachaufklärerischen Gesellschaft zu reflektieren, sondern meinen auch, damit der spezifischen Eigenart Jenes Themas gerecht zu werden. Die politische Diakonie ist entstanden als direkter Keflex kirchlicher Praxis und hat auch in ihrer ausgeführten theoretischen Gestalt niemals den Bezug zu dieser verloren. Das Theorie-Praxis-Problem hat in ihr eine zunächst implizite, später explizite zentrale Bedeutung. Das Gleiche gilt von der Spannung zwischen dem "gegebenen" und dem "natürlichen" Ort einer theologischen Theorie kirchlicher Praxis. Diese nimmt ihren Ansatz nicht bei dem Verweis auf den gesellschaftlichen Wandel, sondern bei der Korrelation zwischen der theologischen Explikation einer Grundfunktion der Gemeinde und diesem Wandel. In der Analyse und Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Bestimmung christlicher Praxis läßt sich erst die Frage beantworten, die B a s t i a n mit der Reduktion praktischer Fragen auf technische Verfahren abbiegt, wie nämlich das Verhältnis von Praxis im Sinne einer kritischen Theo-
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rie der Gesellschaft, das wir in seiner Differenz zur Technik angedeutet haben, zu einem inhaltlich theologisch bestimmten Begriff von Praxis zu fassen ist. Eine gewisse Strukturanalogie zwischen Kritischer Theorie und der Theorie der politischen und gesellschaftlichen Diakonie, die das hier versuchte Vorgehen sinnvoll erscheinen läßt, zeigt sich noch an einem anderen Punkt: Das Theorie-Praxis-Terhältnis ist in der Kritischen Theorie Kemthese einer umfassenden Sesellschaftstheorie, und auch die unter Jenem Titel entworfene Theorie christlicher Praxis entwickelt sich zu einer "Theologie der Gesellschaft" mit ähnlichem theoretischen Anspruch, insofern sie christliche Praxis in der Gesellschaft nicht als bloße Reaktion auf isolierte empirisch-soziale Tatbestände versteht, sondern diese durch eine theologische Reflektion des umfassenden Phänomens "Gesellschaft" kritisch anleiten will. In Bezug auf die neuzeitlichen sozialen Theorien, die dabei in die theologische Reflektion eingehen, versuchen wir den Standpunkt der Kritischen Theorie einzunehmen und verstehen diese aus den oben angegebenen Gründen als die konsequente kritische Reflektion der nachaufklärerischen Gesellschaftsgeschichte. Das Thema der "politischen" und "gesellschaftlichen" Diakonie hat dabei keine lediglich paradigmatische Bedeutung für die hier angerissene Grundlagenproblematik der Praktischen Theologie. Die kritische Theorie ist bezogen auf eine spezifische Praxis, nämlich auf die Emanzipationsbewegung der nachaufklärerischen Gesellschaft. Gerade die politische Diakonie versteht sich in Fortführung und kritischer Revision der "christlich-sozialen" Theorie und Praxis als Erwiderung auf diese Bewegung. W. H о f m a n n , der von ähnlichen Voraussetzungen wie die "Kritische Theorie" ausgeht, bemerkt im Vorwort zur 2. Auflage seiner "Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts": "Als xmverzeihlich ist es ... vielen Rezensenten erschienen, daß die christlichen und anderen Richtungen einer sozialen Versöhnung nicht dargestellt worden sind. Gegenüber allen großzügigen Neigungen, den Gegenstand ins Unbestimmte zu dehnen, ... sei hier schon im Vorwort klargestellt: Soziale Bewegung ist E m a n z i p a t i o n s bewegung — . Damit ist sowohl der Titel der Schrift als auch der Umfang dessen, was darzustellen
- 27 ist, gerechtfertigt
Indem wir unsere Darstellung auf
die "Kritische Theorie" beziehen, so bedeutet das zugleich, daß wir uns einer Kritik wie dieser stellen, welche der "christlich-sozialen" Tradition ;Jeden relevanten Beitrag zur modernen Emanzipation abspricht. 0.3
Zur Methodik und zum Aufbau der Untersuchung
Eine Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Diakonie hat zunächst den Kontext und die aktuellen Anlässe zu гдпtersuchen, denen sich die moderne Diskussion unmittelbar verdankt. Bei der historischen Rückfrage nach den Motiven der sozialethischen und diakonischen Tradition, die bei der Entstehung der politischen Diakonie wirksam geworden sind, muß eine Auswahl getroffen werden. Auswahlkriterium ist die in der politischen Diakonie selbst gemachte Unterscheidung zwischen primär und sekundär für das Thema relevanter Tradition. Übereinstimmend betrachten die Autoren in der Entstehungsphase des Themas der politischen Diakonie als solche primär relevante Tradition die Begründimg der modernen evangelischen Diakonie durch J о h'a n n H i n r i c h W i c h e r n . Seine Auseinandersetzung mit der sozialen und technischen Revolution gilt in Vielem als Vorbild. Deshalb soll in einem historischen Exkurs exemplarisch auf W i с h e r η eingegangen werden. Nachdem damit der ursprüngliche "Sitz im Leben" verdeutlicht worden ist, soll dann in der eigentlichen Darstellung sowohl der systematische Stellenwert der politischen und gesellschaftlichen Diakonie im Gesamtkontext verschiedener theologischer Entwürfe als auch die immanente historische Entwicklung, die sich in der Diskussion des Themas insgesamt abzeichnet, untersucht werden. In einem Schlußteil wird schließlich die in den vorigen Abschnitten angerissene Problematik fortgeführt, dann bezogen aiif die Ergebnisse, zu denen die Analyse der Diskussion um die politische und gesellschaftliche Diakonie geführt hat. Der in den vorigen Abschnitten aufgestellten Forderung nach einem Neuansatz in der Praktischen Theologie entspricht es, daß neben eine immanent theologische Betrachtungsweise, die für die
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Interpretation theologischer Texte grundlegend bleiben muB, eine andere tritt, imd zwar die sozialgeechichtliche. Die Sozialgeschichte hat sich in Deutschland - anders als in den westeuropäischen Staaten - gegen Ende des Neunzehnten Jahrhunderts als "Oppositionswissenschaft" gegen die einseitige Auffassung der aeschichte im Sinne von "Machtgeschichte" e n t w i c k e l t . D i e se ihre Entstehung sowie die ablehnende Haltung, die ihr von Seiten der offiziellen historischen Wissenschaft bis in die jitagste Vergangenheit entgegengebracht wurde, sind selbst das Ergebnis historischer Umstände. Die Konstituierung einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin als "Sozialgeschichte" reflektiert die seit der Französischen Revolution vollzogene Scheidung von "Staat" und "Gesellschaft", die die "zuletzt noch bei Kant wiedergegebene Gleichung: civitas sive res publica sive 68 societas civilis" zerstörte . "Da im Wandel des Gesellschaftsbegriffs von der Res publica öffentlich wirkender, besitzender 'Väter' zur Assoziierung a l l e r Menschen jeglicher Schicht oder Tätigkeit beiderlei Geschlechts der Schlüssel zum Verständnis der modernen Revolution lag und liegt, war es nicht verwunderlich, daß die "soziale Frage" in den Vordergrund politischer Hoffnungen und Sorgen trat, ja daß Geschichte geradezu als 'soziale Bewegung' begriffen wurde, so z.B. bei L o r e n z v o n S t e i n und K a r l M a r x . Um 1840 wurde das Schlagwort "soziale Präge" geprägt und auf d e n Teil der Bevölkerung bezogen, der nicht zur alten Societas civilis gehört hatte und dessen Emanzipation infolgedessen Hauptvoraussetzung des Weges zur neuen Gesellschaft war." Schon der Begriffswandel im Verständnis von "Staat" und "Gesellschaft", der dann in den Jahrzehnten nach 1850 bestimmend wurde, signalisiert, "daß die p o l i t i s c h e , d . h · dem Staat zugeordnete Bewegung von s o z i a l e r , d . h . auf die Verwirklichung neuer Gesellschaft gerichteter Bewegung unterschieden wurde, wie denn auch von M a r x und anderen Revolutionären die umfassende soziale Revolution von einer bloß politischen abgehoben w u r d e . E s ist deutlich, wie stark der Beginn der "Sozialgeschichte" von marxistischen Impulsen beeinflußt ist. "Damit geriet sie in die 70 Bannzone, die um den Marxismus gelegt wurde."' Trotz ihres - mit den marxistischen Impulsen gegebenen -
- 29 ursprünglich universellen Ansatzes hat die ältere "Sozialgeschichte" den durch Historismus und Positivismua verursachten Verfall der älteren umfassenden Sozialtheorien in gegeneinander abgegrenzte wissenschaftliche Binzeldisziplinen mit vorangetrieben. Die ältere Scheidung zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie wird noch einmal verdoppelt, indem sich die "Sozialgeschichte" von der "politischen" Geschichte abgrenzt. Die historische Wissenscherft paßt sich damit lediglich analysierend der faktischen Trennung von Staat und Gesellschaft an und handelt sich mit der Wertfreiheit ihrer Analyse die Begrenzung auf einen Sektor ein, der unvermittelt neben anderen steht. "Die Begrenztheit ihres Ausgangspunktes wurde in der Überbetonung der innerstaatlichen Marktbeziehungen und in der Zugrundelegung des anthropologischen Leitbildes vom Homo oeconomicus 71 deutlich". Im Gegensatz dazu versucht die neuere "Sozialgeschichte", die Synthese von Soziologie und Geschichtswissenschaft und ihren ünterdisziplinen, in die diese jeweils zerspalten sind, zu erbringen. "Gerade um der geschichtlichen Einheit willen bedürfen wir der sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise. Denn die alte Hauptfrage der Geschichte, in welchem Verhältnis Determination und Freiheit zueinander stehen, kann jeweils nur dann annäherungsweise beantwortet werden, wenn die sozialbestimmenden Paktoren, in Verbindung mit Wirtschaft und Technik, mög72 liehst klar erkannt worden sind." Daß die "Sozialgeschichte" in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erneut eine breitere Wirkung erlangt hat, liegt begründet in einer spezifischen Erfahrung: "Die Geschichtlichkeit der gesellschaftlichen Formationen und ihre durchgängige Veränderimg von in ihnen selbst angelegten politischen, nicht einfach evolutionistisehen Kraftfeldern ist zu einem elementaren Bestandteil unseres Geschichtsbewußtseins geworden."'^ Die neuere "Sozialgeschichte" setzte große Erwartungen in ihre Zusammenarbeit mit der Soziologie, um die aufgrund jener Erfahrung als unangemessen erkannte Scheidung von Geschichts- und Sozialwissenschaften zu überwinden. Diese Erwartungen werden freilich heute weitgehend als gescheitert angesehen, "denn für die Soziologie erweist sich je länger, desto deutlicher der Einfluß des
- 30 ahistorischen, logischen Neopositivismus als die vorherrschende Macht. Die "Sozialgeschichte" trifft sich damit in ihrer positiven Intention wie in ihrer Kritik an einer positivistisch orientierten Soziologie mit der "Kritischen Theorie", deren Vertreter einige der wichtigsten Forschungen auf sozialgeschichtlichem aebiet durchgeführt haben.^^ Die Gemeinsamkeiten von "Sozialgeschichte" und "Kritischer Theorie" werden deutlich in der folgenden Zielbestimmung der Sozialgeschichte: "Sich auf den vermeintlich stets sozialdynamischen Charakter der Industriegesellschaft zu verlassen, geht schlecht an, wenn man sich bewuSt ist, daß diese Industriegesellschaft auch stets der totalitären Entartung fähig ist. Sie bietet von sich aus keineswegs eine Garantie für eine unablässig geschmeidig erhaltene 'offene Gesellschaft' ... Der Sozialgeschichte wird man bewußt einen 'moralischen B e r u f zuerkennen wollen, ... 'die Pflicht der politischen Pädagogik'" ( Th. M о m m s e η . Gemeinsamkeit besteht außerdem darin, daß auch die "Kritische Theorie" die Zersplitterung der Wissenschaft^'beziehimgslos nebeneinander ste77
hende Spezialdisziplinen zu überwinden trachtet.'' Die sozialgeschichtliche Methode ist demnach einer Untersuchung angemessen, die ein neues Verständnis theologisch bestimmter Praxis aus der Auseinandersetzung mit der "Kritischen Theorie" zu gewinnen versucht. Als besonders fruchtbar für die sozialgeschichtliche Fragestellung hat sich die begriffsgeschichtliche Methode erwiesen."^® Wir orientieren uns an dieser und verwenden zugleich die Begriffe "politische" und "gesellschaftliche Diakonie" als Kriterium für die Abgrenzung des hier zu bearbeitenden Materials. Daß eine solche Betrachtungsweise der "politischen Diakonie" nicht von außen aufoktroyiert wird, zeigt ein Vorblick auf diese selbst: Auch für sie ist "Sozialgeschichte" ein zentrales Thema. So heißt es etwa bei ffendland im Zusammenhang der in der politischen Diakonie geforderten Analyse und Kritik der Ideologien: "Vom Unglauben und vom ideologischen Ersatz - Glauben muß immer nach den sozialen Bedingungen und Ursachen desselben zurückgefragt werden. Geistige Haltung und soziale Situation sind untrennbar. Den ganzen Menschen verkündigen heißt
- 31 immer, ihn in seiner konkreten sozialen Existenz begreifen. Außerdem versucht W e n d l a n d , aozialgesohichtliche Kategorien und die mit diesen verknüpfte Ideologiekritik auch auf die Theologie und die kirchliche Praxis selbst auszudehnen. Im Zusammenhang einer Erörterung über das angemessene Verständnis der Familie in der evangelischen Sozialethik fordert er, daß diese die soziale Wirklichkeit der heutigen Familie zur Kenntnis zu nehmen habe, "weil sonst veder Seelsorge noch diakonische Hilfeleistimg geschehen könnten und weil die theologische Lehre von der Familie zur religiösen Ideologie werden müflte, wenn sie nicht mehr vorhandene Sozialformen voraussetzen oder 80 gar ihre Wiederherstellung empfehlen wollte." Indem wir diesen Ansatz nun in der Weise radikalisieren, daß wir nach den sozialgeschichtlichen Bedingvmgen der "politischen Diakonie" fragen, wenden wir eine Methode an, die in der "Kritischen Theorie" als die konsequent aufklärerische gefordert und durchgeführt wird. Sie ist gegeben mit dem Selbstverständnis der "Kritischen Theorie" als der "zweiten Phase der Aufklärung, in der diese ... ihren kritischen Anspruch auch noch auf sich selbst 81 wendet ...". Mit dem Gebrauch der sozialgeschichtlichen Methode sollen keine Entscheidungen praejudiziert werden, vielmehr sollen die Ergebnisse der sozialgeschiohtlichen und der immanenten Betrachtung einander so gegenübergestellt werden, daß es zu einer Präzisierung der Problemstellung für den Schlußteil der Untersuchung kommt. Dort soll dann versucht werden, die entscheidende Frage anzugehen, wie sich das theologische Wahrheitskriterium im Kontext einer sozialgeschiohtlichen Analyse Geltung verschaffen kann. Mit der Verwendung der sozialgeschichtlichen Methode versuchen wir auch, in der gegenwärtigen Kontroverse um die historisch-kritische bzw. empirisch-kritische Methode in der Theologie zu vermitteln. Qp Eine historisch-kritische Methode, die nicht mehr gegenwärtige Wirklichkeit trifft, ist ebenso sehr ein Unding wie eine empirisch-kritische, die die historische Di8*5 menaion ausläßt. Aus den bisherigen Erwägungen erhellt bereits, daß mit dem Bezug auf die Sozialgeschichte keineswegs eine simple Identifizierung mit einem "empirisch-kritischen" Standpunkt samt dessen fataler Tendenz, "Empirie" und "Realität"
- 32 gleichzusetzen, gemeint ist. Das Grundproblem des TheoriePraxis-Verhältnisses, das wir vermittels
sozialgeschichtlicher
Betrachtung methodisch anzugehen versuchen, ist nicht mit dem Verweis auf die Empirie zu klären, es kann vielmehr, wie die oben angeführte Kontroverse in den Sozialwissenschaften zeigt, durch ein positivistisches Verständnis von Empirie gerade verstellt werden. Das Theorie-Praxis-Verhältnis ist zunächst ein theoretisches Problem, das der empirischen Forschung vorangeht. Als solches wird es im Rahmen einer dialektischen Sesellschaftstheorie verhandelt. Entsprechend theoretisch hat sich die Theologie zunächst diesem Problem zu stellen. Von dem Ergebnis einer solchen StellungnEihme hängt dann auch ein angemessenes theologisches Verhältnis zur Empirie ab.
1.
ZUH ENTSTEHUNG ÜND VORGESCHICHTE DER
"POLITISCHEN
DIAKONIE"
1.1
Die "politische Diakonie" im Rahmen der Diskussion um die Neuordnung der Diakonie nach 1945
1.11 Die allgemeine_diakonische_Dis^3Bion
in_ihren_6rund2
tendenzen Die Jahre nach 1945 sind durch eine besonders rege Diskussion um die Neuordnung der Diakonie ausgezeichnet, wie es sie vielleicht seit der Jahrhundertwende nicht mehr gegeben hat. Zur Charakterisierung der neu eröffneten Chancen der Diakonie sah man Anlaß, "- mit tiefer Dankbarkeit, aber zugleich mit banger Sorge - von einem Kairos der Diakonie ..., von einer Weltstunde voll Verheißung" zu sprechen^. Wie wenig diese Debatte Sache einiger diakoniacher Spezialisten blieb, wie weit sie vielmehr in den gesamten Bereich kirchlicher Praxis und theologischer Reflexion ausgestrahlt hat, läQt sich an den folgenden Beispielen verdeutlichen: So heißt es etwa in einem Aufruf des Essener Kirchentages von 1950: "Der Ruf des Kirchentages an die evangelische Laienschaft ist ein Ruf zim diakonischen Amt. Aber ... die Kirche leidet unter einer
- 35 Verkümmerung dessen, was diakonischer Auftrag ist. Wir meinen, wenn wir vom diakonischen Amt sprechen, den Dienst in jeder Form nach dem Maß der Gaben, die jeder empfangen hat und für die er nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift vor Gott einmal 2
Rechenschaft ablegen muS ..." . Zugleich hat das Thema der Diakonie, wenn auch nur vereinzelt, Eingang in systematisch-theologische Überlegungen gefunden. So bestimmt etwa P a u l A l t h a u s den systematischen Ort der Diakonie: "Gottes Erbarmen, der einmalige Akt in Jesus Christus, will jederzeit gegenwärtig sein, nicht nur in der Verkündigung ·.., sondern auch in der Diakonie der Christenheit. Christi Diakonie bedeutet also nicht nur den I n h a l t unseres Zeugnisses von ihm, sondern muß auch seine lebensmäßige Gestalt ausmachen".^ Bereits in dem Zitat von A 1 t h a u s klingt ein Grundproblem an, das die Debatte um die diakonische Neuordnung und dann speziell um die "politische Diakonie" stark bewegt, imd zwar das Problem des Verhältnisses von Diakonie und Verkündigung. Wie bereits bei A 1 t h a u s deutlich wird, ist die Tendenz, beide möglichst nahe aneinander zu rücken, Diakonie als gleich fundamentale nota ecclesiae der Verkündigung an die Seite zu stellen.^ Die gleiche Tendenz zeigt sich in M a r tin F i s c h e r s Behandlung der Diakonie im Rahmen der Homiletik unter dem Begriff einer "diakonischen Predigt". "Gottesdient ist ... Proklamation der Machtergreifung Gottes über die ganze Welt.Das macht den Glauben an den Herrn des Gottesdienstes unbegrenzt, das macht auch das Wagnis für Menschen um seinetwillen grundsätzlich schrankenlos ... So wie der Gottesdienst um seines Herrn willen keine Grenze hat, so wird auch die Diakonie der Kirche frei sein für jeden der Menschenantlitz trägt". "So gesehen ist jede christliche Predigt eine 'diakonische Predigt'. Wir sprechen von einer (besonderen) diakonischen Predigt nur deshalb, weil wir vergessene Elemente der Predigt wieder zur Geltung bringen müssen".''' Eine solche Bestimmung der "diakonischen Predigt" eröffnet sogleich auch eine politische Perspektive: Die "passive Gemeinde", also die Gemeinde, die ihre diakonische Verantwortung verleugnet, ruft einen allmächtigen Staat, den trügerischen Garanten einer umfassenden
- 34 Lebenssicherung allererst ins Leben.^ Indem die "diakonisohe Predigt" sich gegen dies Versagen wendet, gewinnt die Predigt zugleich ihre Konkretion zurück: "Eine diakonische Predigt, die sich der Mitmenschen und ihrer Verhältnisse annimmt, gerät in das Schlachtfeld des wirklichen Lebens. Hier wird der Prediger plötzlich mitten in der Politik ..., mitten in der sozialen Präge, mitten in der sexualethiachen Präge, mitten in ökonomischen Nöten sich vorfinden".^ Ist damit ein größerer Kontext wenigstens angedeutet, so gilt es nun, die speziellen Bemühungen um eine diakonische Neuordnung zu verfolgen. Die Zeit dieser Diskussion, soweit sie für unser Thema primär von Belang ist, läßt sich genauer eingrenzen: sie liegt zwischen der in Art. 15, 1 der Srundordnung der EKD vom 13.7.1948 geschehenen Fixierung des "Diakonats der Kirche" als einer "Lebens- und Wesensäußerung der Kirche" bzw. der in Art. 15, 3 bekräftigten Trägerschaft der verfaßten Kirche für das Hilfswerk und der Vereinigung von Hilfswerk und Innerer Mission auf der Berliner Synode 1957. Diese Abgrenzung zeigt zugleich, wie stark diese Diskussion von praktischen und institutionellen Erfordernissen bestimmt war. Mit den Schlagworten, die die Diskussion entscheidend bestimmt haben, läßt sich deren zentrales Thema zunächst folgendermaßen umreissen: Es geht um das Verhältnis von "freier" und "kirchlicher" Diakonie, wobei die inhaltlichen Konzeptionen von Diakonie, die mit diesen Schlagworten bezeichnet werden sollen, zwei institutionellen Ausprägungen evangelischer Diakonie korrespondieren, der Inneren Mission auf der einen Seite und dem Hilfswerk auf der anderen. Die theoretische Diskussion ist ganz bezogen auf die praktische Notwendigkeit, diese beiden Gestaltungen evangelischer Diakonie zu vereinigen. Die durch das Hilfswerk seit 1945 erprobte "kirchliche" Diakonie wird dabei deutlich als die zukunftsweisende Form angesehen. Durch die Vertreter des Hilfs7 werks wird jene Diskussion in besonderem Maße vorangetrieben. Nach H e r b e r t K r i m m besteht die epochale Bedeutung der Gründung des Hilfswerks für die Geschichte der Diakonie in folgendem: "Zum ersten Mal in der Kirchengeschichte Deutschlands wurde ... der Notwendigkeit zum Einsatz praktisch-
- 55 tätiger Hilfskräfte im Namen des chriBtlichen Glaubens nicht durch einen ad hoc geschaffenen Zweokverband, sondern durch ein unmittelbares Engagement der verfaßten d r o h e selbst entsprop ohen . Dieses epochale Ereignis hat Eonsequenzen, die es zu ziehen gilt. Obgleich das Hilfswerk bereits eine, wenn auch vorläufige kirohenrechtliche Ordnung erhalten hat (Bethel 1949), ist nach einer Äußerung Chr. B e r g s von 1950 die Präge noch offen, "ob sie (sc. die Kirche) den Dienst des Hilfswerks als eine ihr gestellte unmittelbare Nachkriegsaufgabe mehr oder weniger rasch beenden will oder ob sie dem diakonischen Amt bleibend Recht und Raum ihres Gesamtauftrages geben soll." Wenn die Kirche ihre Chance wahrnimmt, im Sinne der letzteren Möglichkeit zu handeln, so kommt es darauf an, anhand einer "exakten Planung über Einrichtung und Aufbau des Diakonats in Einzelgemeinde und Gesamtkirche" auf dem durch das Hilfswerk eröffneten Weg fortzuschreiten nach der Devise: "Vom Hilfswerk zum Diakonat der Kirche."^ Dabei geht es nicht um revolutionierende theoretische NeuentwUrfe, sondern um die konsequente Verfolgung der aus den praktischen Bedürfnissen und ihrer Bewältigung seitens des Hilfswerks gewonnenen Erkenntnisse in theologischer und rechtlich-organisatorischer Hinsicht: "... Es geht ... nicht um neue Entdeckungen, sondern um die Vergegenwärtigung dessen, was uns in den letzten Jahren als das Wesenselement unserer Arbeit und als ihr Beitrag für die Evangelische Kirche in Deutschland immer größer geworden ist."^*^ Neu ist das Wiedererwachen der kirchlichen gemeindlichen Diakonie im präzisen theologischen Sinne von "Reformation"^ \ d.h. im Sinne einer Wiederentdeckung und Wiederbelebxmg des ursprünglichen Wesens von Diakonie, insofern diese den Lebensgrund der Kirche überhaupt ausmacht. Der Blick für die Pülle des biblischen Begriffes "diakonein" wird wieder geöffnet: "Es handelt sich ... beim 'Diakonein' ... 1. um einen freiwilligen Dienst, der von innen heraus geschieht, 2. um einen Dienst, der von Person zu Person geschieht, und 5· um einen schenkenden Dienst, den der Reiche dem Armen, der Starke dem Schwachen, der Gesunde 12 dem Kranken leistet". Unter der norma normans des biblischen Zeugnisses soll der Diakonat seine dem Evangelium entsprechende Gestalt innerhalb des Gesamtauftrages der Kirche erhalten.
- 36 Unter diesem Gesichtspunkt wird die epochale Bedeutung jener "Reformation" in noch weiterer Perspektive gesehen, als es in der oben zitierten Äußerung von H. К r i m m geschah. Es kommt dsirin zur Überwindung einer anderthalb Jahrtausend dauernden Abfallgeschichte: "Eine amtlich geordnete Siakonie der tätigen Gemeinde erscheint nach der überwiegend freien, rein vereinsmäßig organisierten Diakonie in der Gemeinde des vorigen Jahrhunderts und der oft völligen diakonischen Passivität der Jahrhunderte vor der Inneren Mission zuweilen immer noch als etwas Neues. Dabei ist sie aber die U r f o r m a l l e r c h r i s t l i c h e n D i a k o n i e , die nur in den anderthalb Jahrtausenden staatskirchlicher Unmündigkeit der Gemeinde mit aller sonstigen gemeindlichen Selbsttätigkeit zusammen eingeschlafen war."^^ Die neue Situation der Diakonie ist der prägnanteste Ausdruck der Wandlung der Kirche von "einer in die Gemeinschaftsform des christlichen Staates eingebetteten Heilsanstalt, ... einer obrigkeitlich verwalteten Heilsanstalt, der anfänglich auch die Volkserziehung (Schulen) und die Volksfürsorge (Armenpflege) wie die Volksstatistik (Kirchenbuohführung) als öffentliche Aufgabe oblag", zu einer "genossenschaftlichen, bruderschaftlichen" Gestalt^ So gelangt erst in der "kirchlichen" Diakonie ein Urelement christlicher Diakonie zum Durchbruch, das in der "freien" Diakonie aufgrund der Verq,uickung von Kirche und Staat niir unangemessen verwirklicht werden konnte, nämlich die Freiheit der christlichen Diakonie von der Sozialpolitik des Staates.^^ Die für das Selbstverständnis der "freien", vereinsmäßig organisierten Diakonie neben dieser Freiheit ebenfalls konstitutive Freiheit von der verfaßten Kirche, wird demgegenüber lediglich als Notmaßnahme gesehen, zu der die Pioniere der modernen Diakonie durch die Handlungsimfähigkeit der ihren Auftrag verleugnenden Staatskirohe gezwungen waren. Indem diese aufgezwungene Freiheit der Diakonie von der Kirche überwunden wird, soll jene wesensmäßige Freiheit gegenüber dem Staat gerade befestigt werden. So werden Wesen und Auftrag kirchlicher Diakonie im Gegenüber zu staatlicher Sozialpolitik bestimmt: "Die Tendenzen des Wohlfahrtsstaates gingen aiif unpersönliches Helfen, auf Organisation und Geldgabe; die Tendenzen der kirchlichen Diakonie gingen auf
- 37 ... Brüderlichkeit um Jesu willen. PUr die eine Tendenz ist der persönliche Einsatz Last, von der man sich gern befreit; für die andere Freude und Lebenserfüllung: 'Mein Lohn ist, daß ich d a r f . " Unter dem Wort von der Versöhnung "... wird der Helfende nicht zum Pachmann. Der Leidende nicht zum 'Fall', beide bleiben M e n s c h e n . " D i e soziale Sicherung mit einem noch so ausgewogenen System von Anspruch und Leistung geht notwendig vorbei an der unvertauschbaren Not und an dem einmaligen Schicksal des Einzelnen. Staat und iimter, Gesetze, Paragraphen, Verordnungen, Richtlinien, Dienstanweisungen kommen ihrer Na17 tur nach gar nicht an den inneren Menschen heran." In diesen Äußerungen, die beliebig vermehrt werden könnten, kommt übereinstimmend zum Ausdruck, daß die Diakonie in ihrer Spontaneität, in ihrer persönlichen und deshalb menschlichen Hingabe an den Nächsten ihr Proprium hat im Gegenüber zu der verwalteten und organisierten Tätigkeit des modernen Sozialstaates. Auf einen theoretischen Begriff wird diese Grundtendenz der Aussagen über das Wesen der Diakonie gebracht, wenn es mit dem seit W i с h e r η geläufigen Terminus "Privatwohltätigkeit" bezeichnet wird, welche "den Vorrang vor aller organisierten Liebestätigkeit (hat), die nur stellvertretend und ergänzend tätig sein soll."^® Die aufgezeigte Tendenz ist aber nur die eine Seite in der Verhältnisbestimmung von kirchlicher Diakonie und Sozialpolitik des modernen Staates. Zugleich kann die Diakonie den Sozialstaat als "eine wirkliche Errungenschaft unseres Zeitalters ... 19 nur voll bejahen" , denn "sie selber hat ... in der Zelt wachsender Massennot und Massengefährdiing den20Staat in seine Verantwortung als Wohlfahrtsstaat gerufen." Ala Beispiele für eine direkte Einwirkung der in der Inneren Mission verfaßten evangelischen Diakonie auf die Entstehung des Sozialstaates werden genannt: Die Arbeit Th. L o h m a n n s , der 1880 in den C.A. gewählt wurde und von 1881 an Bismarcks engster Mitarbeiter an der Sozialreform war, bis er diesem schließlich zu 21 unbequem wurde , und die Einwirkung der Anstaltsarbeit der I.M. auf die Jugendwohlfahrtsgesetzgebung von der erstmals 1878 gesetzlich geregelten Fürsorge straffällig gewordener Jugendli-
- 38 cher über das 1900 erlassene PtLrsorgeerziehimgsgeaetz zum Reichsjugendwohlfahrtagesetz von 1922, das mit Veränderungen 22 his in die Sozialgesetzgebung der ВЕШ hinein galt. Die Wesens be Stimmung der Diakonie im Gegenüber zur staatlichen Fürsorge impliziert also keinen einfachen Gegensatz, denn es war ja das Besondere der nach W i c h e r n s Programm arbeitenden Diakonie, die christliche Liebestätigkeit in organisierter Form wirksam werden zu lassen. Freilich hatte für W i с h e r π der Begriff der "Organisation" noch die ältere Bedeutung, daß einzelne Gruppen und Arbeitsbereiche zu einem organischen Ganzen zusammengefügt werden sollten, wobei deren persönliche Spontaneität nicht unterdrückt, sondern gerade potenziert werden sollte (1. u. 1.23). Im modernen Sozialstaat hat "Organisation" eine ganz andere Bedeutung gewonnen. Jetzt ist damit nicht mehr die Schaffung eines lebendigen Organismus, sondern eine den Menschen versachlichende Planung gemeint, eine "Entseelung" und "Mechanisierung" Davon sieht sich die Diakonie bedroht, da ihre eigene organisierte Liebestätigkeit in diesen Trend mit hineingezogen wird. Obgleich es darum geht, die faktisch schon bestehenden"Kooperation3formen von Diakonie und öffentlicher Fürsorge" zu bejahen und weiter auszubauen^^, so ist damit doch zugleich die "Gefahr und Versuchung" einer "in2S neren Saekularisierung" der Diakonie gegeben. So steht neben dem vollen Ja zum Wohlfahrtsstaat "ein ebenso rundes Nein ... zu einem Wohlfahrtsstaat, der etwa ein Monopol für sich auf diesem Gebiet beanspruchen wollte oder der Gefahr erliegen sollte, bei der Benutzung seiner Macht- und Organisationsmittel aus einem totalen Wohlfahrtsstaat ein totalitärer Staat zu werden." Dabei bedeutet die Bestreitung dieser dem Wohlfahrtsstaat immanenten Tendenz zugleich Verteidigung der Würde und Freiheit des Einzelnen, seines "natürlichen, gesunden Willens zur Selbsthilfe" gegenüber dem übermächtigen Staat.^^ Mit den Begriffen H e l m u t T h i e l i c k e s zu reden: Die Diakonie stemmt sich "gegen das Gefälle auf ein Maximum an Staatlichkeit, das mit dem staatlichen Wohlfahrtsmonopol gegeben ist". Sie anerkennt die Notwendigkeit des Sozialstaates und will mit ihm kooperieren, wenn dieser "sich im wesentlichen auf die Aufgabe der Prophylaxe gegenüber der
- 39 Armut und auf die Heaktivierung der wirtschaftlich Hilflosen beschränkt". Die Diakonie expliziert jedoch ihr Selbetverständnis nicht allein in der Verhältnisbestinmung zum Sozialstaat, es kommt vielmehr ein umfassenderes Phänomen in den Blick, nämlich das der "Öffentlichkeit". »Will die Christenheit dem Einzelnen dienen, so muß sie sich eben um dieses Einzelnen willen auch für das öffentliche Leben und für die Geataltimg der Ordnungen ver27 antwortlich wissen". Aus der Konfrontation mit dem modernen Sozialstaat wird die Konsequenz gezogen, daí3 die Diakonie die Aufgabe hat, in dem Bereich aktiv mitzuwirken, wo in einem demokratischen Staat die Entscheidungen über die Aktionen des Sozialstaats fallen, eben in der Öffentlichkeit. Dabei ist zunächst die historische Erfahrung des Kirchenkampfes leitend. Die Fürsprecher einer auf Öffentlichkeit zielenden Diakonie fordern den Ausbruch aus der der Kirche unter der N.S.-Herrschaft aufgezwungenen Ghetto-Existenz. Sie wehren sich gegen die Eingrenzung auf die "nur geistliche Hilfe" nach der Parole: "Sorgt Ihr für den Himmel, uns überlaßt die Erde", was zu einer "Zerreißung der Arbeit am ganzen Menschen nach Leib, Seele und Geist" pO führen muß. Indem sich die Diakonie in die Öffentlichkeit vorwagt, paßt sie sich nicht dem dort herrschenden Machtkampf an. Sie gewinnt vielmehr ihre Legitimation aus ihrem Wesen als Diakonie: sie erstrebt keinen "Öffentlichkeitsanspruch", der auf die Eroberung von "Machtpositionen" aus wäre, sondern ihr Auftrag ist ein "öffentlichkeitsdienst".^^ Freilich wird dieser "Öffentlichkeitsdienst" auch mit einer solchen Vehemenz vertreten, daß die Grenze zu einem "Öffentlichkeitsanspruch" fließend wird: "... Wir sind nicht bereit ..., uns von irgend jemand das Recht und die Pflicht zur Tat, die xms Gottes Gebot auferlegt ich sage zur Tat und nicht zum Wort - im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich nehmen zu lassen. Ein solcher "Öffentlichkeitsanspruch" wird von anderer Seite als das Gebot der Stunde vertreten, um damit den Rechtsgrund für eine juristische Neubestimmimg der Gestalt der Kirche im Nachkriegs-Deutschland zu bezeichnen. In staatskirchenrechtlicher Sicht sieht R u d o l f S m e n d das Verhältnis von Staat und Kirche nach der durch die N.S.-Herrschaft erzwungenen Distan-
- 40 zierung in eine neue Phaae der Zuwendung treten. Diese neue Zuwendung ist mit dem "Öffentlichkeitsanspruch" bezeichnet. Es "ist kraft ihres Auftrages und ihres damit gegebenen Wesens die Anerkennung eben dieses Anspruchs das Erste, was sie heute vom Staate fordern muQ. Sie kann sich nicht mehr mit der Maskierung des wahren Verhältnisses ... begnügen, sondern sie muß grundsätzlich den konkreten Anspruch dieser christlichen Kirchen auf die Freiheit der Erfüllung ihrer konkreten kirchlichen Aufgaben als unabdingbar geltend m a c h e n . I n diese rechtliche Problematik ist auch die Diakonie eingebunden, für sie ergeben sich daraus Konsequenzen, die noch zu verfolgen sein werden. Eine direkte Zonsequenz aus der Forderung nach einem diakonischen Verhältnis der Kirche zur Öffentlichkeit ist die "politische Diakonie". Diese bemüht sich einerseits, den hier angedeuteten Ansatz für die Praxis zu konkretisieren, andererseits geht es ihr um die Frage, die sich aus dem bisher Dargestellten ergibt: In welchem Verhältnis steht das im Bereich des Privaten gesehene Zentrum der Diakonie zu ihren die Öffentlichkeit betreffenden Auswirkungen? Diese Fragestellimg läßt sich an verschiedenen Punkten der Auseinandersetzung um die politische und gesellschaftliche Diakonie expressis verbis nachweisen, sie ist darüber hinaus aber geeignet, als von außen herangetragene Fragestellung zentrale Problemzusammenhänge zu beleuchten.
1.12
Der_Beginn der DÌBkus3Ìon_um die ]|politisohe Diakonie^
H e i n r i c h O r ü b e r nimmt für sich in Anspruch, den Begriff der "politischen Diakonie" bereits im Jahre 1945 geprägt zu haben. Die Erfahrung der gerade beendeten N.S.-Herrschaft hatte zu einem zwiespältigen Resultat geführt: Auf der einen Seite artikulierte sich diese Erfahrung in der Forderimg nach unbedingter Abstinenz vom Politischen. Andererseits wurde "die Aufgabe der Kirche, da zu reden und zu handeln, wo andere Instanzen nicht vorhanden oder nicht dazu in der Lage waren", als das in dieser Situation Notwendige erkannt. Diese von G r ü b e r formulierte aktuelle Aufgabenstellung der Kirche war die unmittelbare Konsequenz aus der Herausforderung, die das Massenelend an den diakonischen Auftrag der Kirche stellte.
- 41
-
Um dieser nachzukommen, war sowohl die aktive Mitarbeit beim Neuaufbau einer kommunalen Verwaltung als auch der Versuch, weltpolitische Ereignisse unmittelbar zu beeinflussen, unerläßlich. Als Beispiel für die letztere Zielsetzung, die bereits den universalen Zug in den späteren Entwürfen der politischen Ciakonie anzeigt, nennt ΰ r ü b e r das folgende: "Männer der Zirche hatten den Mut, den in Potsdam zu den Verhandlungen versammelten Machthabern die Bitte vorzutragen, daQ die Evakuierung von Deutschen aus den besetzten Gebieten sich in humanen Formen vollziehen möchte"^^. In einem engen Zusammenhang zu den politischen Eonsequenzen aus dem diakonischen Handeln der Kirche steht auch G r ü b e r s Beteiligung an der Gründung der CDU in Berlin. Zentral an der Programmatik dieser Partei war ihm, "daß die Sozialarbeit nicht allein ein Interessen- und Aufgabengebiet des Staates und der KommunalVerwaltung sein dürfe, sondern die freie Wohlfahrtspflege zum Zuge kommen und vom Staat gefördert werden müsse".^^ Auch wenn G r ü b e г - bei enger sachlicher Zusammenarbeit •54,
seine Distanz gegenüber der CDU betont , deutet sich hier schon eine Linie an, die dann von E u g e n G e r s t e n m a i e r ausgezogen wird: die engeVerknüpfung von "politischer Diakonie" und der Politik einer christlichen Partei. G e r s t e n m a i e r , mit dem G r ü b e r beim Aufbau des Hilfswerkes eng zusammenarbeitete^^, hat die Impulse der politischen Diakonie aufgenommen und erstmals systematisch verarbeitet, wobei seine Überlegungen die Erfahrungen aus der diakonischen Antwort auf das Nachkriegselend zusammenfassen und zugleich die veränderten Bedingungen reflektieren, die mit der Etablierung staatlicher Ordnung in der BRD, verbunden mit einer beginnenden effektiven Sozialpolitik gegeben waren (s.u. 2.11). Eine Vorstufe zu diesem ersten systematischen Entwurf der politischen Diakonie läßt sich noch bezeichnen: Der Begriff der "politischen Diakonie" taucht wieder auf in einem Aufsatz, den R i c h a r d E c k s t e i n unter dem Titel "Diakonie als Funktion der Kirche" 1951 in der Zeitschrift "Das Hilfswerk" veröffentlicht hat. E c k s t e i n , Vorsteher des Evangelischen Johannesstifts in Berlin-Spandau, steht in seinen Äußerungen in einem ebenso direkten Verhältnis zur kirchlichen Praxis
- 42 wie die im vorigen Abschnitt dargestellte Diskusaion. Ei? setzt speziell bei der Präge nach der Erneuerung des Diakonen-Amtes ein: "Das Amt, die Stellung des Diakons in der Gemeinde leiden darunter, daß ... die Stellung des Diakonats in der kirchlichen Ordnung nicht klar ist bzw. überhaupt nicht als 'Amt' der Kirche eingeordnet ist und .·. die Zuordnung zu dem einzigen der evangelischen Kirche verbliebenen Amt, dem Predigtamt, unklar und schwierig ist"^^. Um solche Unklarheiten zu beheben, unterscheidet E c k s t e i n vier Punktionen des Diakonats: 1. "Die kirchenamtliche Diakonie": Sie wird ausgeführt von kirchlichen Amtsträgern, die als solche dem Pfarrer als Trä37 ger des Amtes der WortVerkündigung gleichgestellt sind.^' Das Diakonen-Amt korrigiert die protestantische "Hypertrophie des Verkündigungsamtes, das das 'einzige' geworden ist und alle Punktionen ... an sich genommen hat". "Die Diakonie geschieht in der Kirche um ihrer selbst willen, nicht als 'Voraussetzung' oder 'Unterstützung' der Mission. Sie hat ihren unmittelbaren Grund eben so wie die Verkündigung in der liiebe Christi".^® 2. "Die Freiwillige Diakonie" in "Mannschaften, Teams, Vereinen", die evtl. unter Leitung eines amtlichen Diakons stehen. 5. "Die institutionelle Diakonie" in übergemeindlichen Anstalten und Organisationen, etwa zur Behebung besonderer Volksnöte. 4. "Die politische Diakonie, die das theoretische Studium der sozialpolitischen Prägen und den praktischen sozialen und politischen Einsatz in Staat und Wirtschaft übernimmt". Dies kann geschehen etwa vermittels чо Sozialschulen, durch Gewerkschaftsarbeit und ähnliches. Dabei liegt das Schwergewicht nicht auf programmatischen Entwürfen, sondern das Entscheidende ist die praktische Initiative. Pür E c k s t e i n ist die damit propagierte Erneuerung der Diakonie nur ein Teilaspekt einer Gesamterneuerung der Kirche, in der sie ihren "Substanzverlust" überwinden muß. Diesen Substanzverlust erblickt E c k s t e i n in Bezug auf den Bereich der kirchlichen Diakonie in folgendem; "Der moderne "Wohlfahrts"-Staat nahm der Kirche die Leibsorge um den Menschen einfach aus der Hand. Anstelle der kirchlichen Diakonie errich-
- 43 tete er das Wohlfahrtsamt^®". Ein Ansatz für die Erneuerung der kirchlichen Diakonie sieht E c k s t e i n in der Gründung des Hilfswerks, in dem der konservative und konservierende Geist 4.1
der Inneren Mission überwunden worden sei. Die WeiterfUhrung dieses Neuansatzes bedeutet inhaltlich, aktiv der "Blindheit" früherer diakonischer Arbeit entgegenzutreten, die es möglich machte, "dai3 der Staat immer mehr auJBerchristlichen und4-2antichristlichen Mächten und Bewegungen überlassen wurde Hier mündet die Argumentation E c k s t e i n s in jene Auseinandersetzung mit dem Sozialstaat ein, die wir im vorigen Abschnitt verfolgt haben. Bei E c k s t e i n liegt alles Schwergewicht auf einer kritischen Sicht des Sozialstaates, auf seinen "antichristlichen" Tendenzen. Auch hier verschwimmt die Grenze zwischen "Öffentlichkeitsdienst" und "Öffentlichkeitsanspruch". E c k s t e i n s Entwurf von 1951 und dann noch deutlicher der G e r s t e n m a i e r s (s.u. 2.11, vor allem 2.113) setzt eine spezifische gesellschaftliche und politische Situation voraus. Die erste Phase der Diakonie nach 1945 ist abgeschlossen. Das Hilfswerk, dessen epochale Bedeutimg für eine Neukonzeption der Diakonie E c k s t e i n ebenso wie die oben zitierten Autoren betont, erhielt in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgrund des akuten materiellen Mangels und des Wegfalls politisch und gesellschaftlich funktionsfähiger Institutionen eine relativ unproblematische gesellschaftliche Punktion. Diese Situation änderte sich mit der Konsolidierung staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, mit der Projektierung und beginnenden Verwirklichung eines modernen sozialen Wohlfahrtsstaates in der HRD, deren besondere Verhältnisse die Debatte um die "politische Diakonie" auslösten. Einerseits traten immer mehr in staatlicher Regie durchgeführte sozialpolitische Programme mit größerer Effektivität an die Stelle der kirchlichen Diakonie; andererseits war durch das Grimd^esetz der BHD und durch ihre CDU-Regierving die reale Möglichkeit gegeben, der von E c k s t e i n beklagten Auslieferung des staatlichen Lebens an außer- und antichristliche Kräf-ti'e von Seiten der kirchlichen Diakonie aktiv entgegenzutreten, j Auch wenn das Thema der "politischen Diakonie" die' Neuge-
- 44 staltung der evangelischen Diakonie nach 1945 von Anfang an begleitet hat, so ist die systematische Passung dieses Themas doch erat das Ergebnis einer zweiten Phase. In dieser soll mit dem Ende der abnormen Situation, auf die die erste Phase bezogen war, der Vorstoß in die soziale und politische Dimension, der in der praktischen Arbeit und theoretischen Reflexion des Hilfswerkes geschehen war, nicht etwa zurückgenommen werden, vielmehr wird er unter dem Titel der "politischen Diakonie" gerade im Gegenüber zu einem funktionsfähigen Sozialstaat konsequentester Ausdruck einer reformierten, d.h, zu ihrem ursprünglichen kirchlichen und theologischen Selbstverständnis zurückgekehrten Diakonie. Dabei ist von Anfang an eine Ambivalenz in den Zielaussagen zu beobachten, die wir bereits anhand der Begriffe "Öffentlichkeitsanspruch" und "Öffentlichkeitsdienst" beobachtet haben. Auf der einen Seite wird versichert, daß die politische Orientierung der Diakonie nicht auf eine christliche Wiedergeburt Deutschlands in einem rechristianisierten Abendland hinzielt.^^ Andererseits enthalten etwa die Äußerungen E c k s t e i n s eine zumindest unterschwellige Tendenz, den atheistischen Einbruch in die Öffentlichkeit in der Weise rückgängig zu machen, daß der Zustand der Öffentlichkeitswirkung der Kirche vor der Errichtung des Sozialstaates wieder hergestellt wird. Beide Tendenzen lassen sich auch in den späteren ausgeführten Entwürfen der politischen Diakonie verfolgen.
1.13
Die Situation der Diakonie_nach 1945_in sozial^ geschichtlicher Sicht
Um zu erklären, warum die organisierte christliche Liebestätigkeit sich der "entseelten" Tendenz der versachlichten staatlichen Sozialfürsorge erwehren muß, tauchen in der Diskussion um die Neuordnxing der Diakonie neben den theologischen auch sozialgeschichtliche Argumente atif. Diese Argumentation ist für die politische Diakonie insofern wichtig, als deren Vertreter aus der unumgänglich gewordenen Konfrontation der Diakonie mit moderner Sozialpolitik die Notwendigkeit ableiten, daß sich auch die traditionelle karitative Diakonie zu einer
- 45 politischen fortbilden muß, wenn sie ihre Situation reflektieren, wenn sie nicht bloß reagieren, sondern agieren will. Nach Chr. B e r g sind für die Entwicklung der Diakonie zwischen 1850 und 1950 folgende Grundtendenzen konstitutiv: "1. Eine wesentliche Umfangvergrößerung der organisierten Diakonie in diesen hundert Jahren; 2. eine stärkere Übernahme diakonischer Aufgaben in die Verantwortung der verfaßten Kirche, ihrer Gemeinden und gemeindebildenden Werke; 3. eine Verschiebung der finanziellen Basis von der Seite der freien Opfer aus der Gemeinde auf die von öffentlichen und kirchlichen Z u s c h ü s s e n . U n ter sozialgeschichtlichem Gesichtspunkt erklärt vor allem die dritte der angeführten Grundtendenzen, warum es zu den unter 1. und 2. angegebenen Entwicklungen kommen konnte. Im Verlauf der gesellschaftlichen Umbrüche und der relativen Umverteilimg des Vermögens "sind ... die Kreise, die seinerzeit eine freie evangelische Diakonie durch ihre freiwilligen Opfer und Dienstleistungen besonders kräftig tragen konnten, größtenteils verschwunden." Solche Träger der freien Diakonie sind in den erweckten Adels-, Bürger- und Bauernkreisen um 1850 zu suchen. Die Gruppen, die bedeutende Repräsentanten der um 1850 ökonomisch wie sozial tonangebenden Schichten der Gesellschaft umfaßten, vereinigten die finanzielle Trägerschaft und das persönliche wie gesellschaftliche Engagement miteinander, wobei ihre Organisation in freien Vereinen außerhalb der verfaßten Kirche eine Mittlerfunktion zwischen kirchlichem Auftrag und gesellschaftlichem Betätigungsfeld der Diakonie darstellte. Nachdem diese soziale Basis der Diakonie geschwunden war, traten die finanzielle Trägerschaft und die aktive Trägerschaft der Diakonie mehr und mehr auseinander. Finanziell wurde die Diakonie gesichert durch staatliche Zuschüsse. Diese werden durch Steuerzahler erbracht, deren Abgabe weder an eine Bejahung der Diakonie noch gar an eine aktive Trägerschaft gebunden ist. Analog gilt das gleiche für die aus Kirchensteuern erbrachten kirchli4.6
chen Zuschüsse. Im Rahmen der Neukonzeption der"kirchlichen Diakonie" wird versucht, jene Diskrepanz zwischen aktiver und finanzieller Trägerschaft zu überwinden. Da die ursprüngliche Basis der "freien" Diakonie nicht mehr vorhanden ist, soll die Einheit in der Kirche bzw. in der Kirchengemeinde wiederherge-
- 46 stellt werden. Freilich wird die Unmöglichkeit dieses Unternehmens zugegeben, wenn man nicht auf die organisierte Diakonie überhaupt verzichten will.^"^ So wird die Entwicklung zwischen 1850 und 1950 als Verfall des Opferwillens verstanden, dem man mit Appellen an die Opferwilligkeit der Gemeinden zu begegnen hofft, allerdings im Bewußtaein, den in dieser Hinsicht idealen Zustand von 1850 nicht wieder erreichen zu können. Als Begründung für jenen Verfall wird der "Prozeß der Säkularisierung" 4-8 angegeben, den es zu überwinden gelte. Die unter sozialgeschichtlichem Aspekt entscheidende Fragestellung, die eine solche Deutung kritisch hinterfragen könnte, wird von Chr. B e r g angedeutet, ohne daß freilich hinreichende Konsequenzen für die Analyse gezogen würden: Es ist zu "fragen, wie weit diese stärkere Familien- und Nachbarschaftshilfe in der Zeit um 1850 echt diakonische Nächstenhilfe aus damals noch stärkerer christlicher Glaubensbindung war ..., oder wie weit es sich um eine andere mehr patriarchalische Form der bürgerlichen Hilfe in der 4.Q vorstaatlichen Zeit handelt."^^Während das Bewußtsein der Gefahr, von den staatlichen ideologischen und finanziellen Machtmitteln abhängig zu werden, sehr stark entwickelt ist, so gilt das gleiche keineswegs für die Frage, ob die "freie" Diakonie nicht von bestimmten gesellschaftlichen Interessen beeinflußt war. Aus der Beantwortung dieser Frage ergibt sich eine weitere die gegenwärtige Situation der Diakonie betreffende Fragestellung: Bedeutet die erstrebte kirchliche Bindung der Diakonie eine Befreiung von solchen gesellschaftlichen Interessen oder paßt sie sich damit vielmehr einer veränderten gesellschaftlichen Interessenlage an? Wenn die Diakonie das religiös-neutrale pluralistische Selbstverständnis des modernen sozialen Rechtsstaates respektiert, so kann sie daraus keine besondere Verpflichtung zur Akzeptierung und ünterstützimg ableiten, die ihrem besonderen Charakter als brüderlicher Dienst im Namen Jesu Christi entsprechen würde. Vielmehr kann eine solche Verpflichtung nur allgemein gefordert werden, allgemein nämlich in dem Sinne, daß sie alle nicht staatlichen, karitativen und sozialen Organisationen umfaßt. ΝΐΐΓ in diesem Sinne wird der Status der Diakonie auch
- 47 faktisch ataatlicherseitB garantiert. Diese Art der staatlichen Garantie hat deutliche Auswirkungen auf die diakonische Debatte. So wird zur Begründung der Verpflichtung des Staates, die Diakonie finanziell zu fördern, etwa auf die finanzielle Entlastung des Staates und auf das Prinzip gesellschaftlicher Selbsthilfe, die vom Staat zu ermöglichen und nicht zu bevormunden ist, rekurriert, wobei bewußt die Parallele zu den anderen freienffohlfahrtsverbändenbezogen wird, für die eben dieselben Argumente gelten.^® Ebenso wird die evangelische Diakonie mit den anderen freien Wohlfahrtsverbänden auf eine Stufe gestellt in der Erwiderimg auf den Vorwurf, sie sei im Bundessozialhilfe- und im Jugendwohlfahrtsgesetz unzulässig privilegiert worden. In der Erwiderung wird dem Vorwurf mit dem Hinweis darauf begegnet, wie in der Rechtsprechung des modernen Sozialstaates Privilegierung überhaupt verhindert werden soll, der besondere Charakter evangelischer Diakonie bleibt unberücksichtigt: "Vorrangig ist ... die Wahlentscheidung des Hilfesuchenden, nicht aber das Recht freier Träger, die Betreuimg von Hilfesuchenden zu ü b e r n e h m e n . A u s staatlicher Sicht stellt sich das Verhältnis von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege ganz ähnlich dar, wie es von den Vertretern der letzteren gesehen wird. Dabei fällt auf, daß die Bestimmungen, die wir oben als Selbstverständnis der Diakonie kennengelernt haben, hier auf das gesamte Gebiet der freien Wohlfahrt ausgeweitet werden. In einer Denkschrift des Reichsarbeitsministeriums zur Vorbereitung des Reichswohlfahrtsgesetzes von 1923 heißt es: "Staat und Gemeinden können aus eigener Kraft auch nicht annähernd alle die Notstände überwinden, die das Volk bedrücken; nicht nur, weil es ihnen an sachlichen Mitteln fehlt, sondern vor allem deshalb, weil sie nur schwer die Hilfe zu jener seelischen Hingabe von Mensch zu Mensch vertiefen können, die ihr die höchsten Werte verleiht. So mancher Hilfsbedürftige wird sein Innerstes niemals behördlichen Akten erschließen, er wird sich aber gern Menschen anvertrauen, die sich aus höheren Beweggründen heraus selbstlos in den freien Dienst der Nächstenliebe gestellt haben. Staat und Gemeinden bleiben daher in der Fürsorge und der Auswahl der Helfer auf die unterstützende und ergänzende Hilfe der freien Wohlfahrtspflege angewiesen. Das
- 48 Gesetz muß versuchen, diese Beziehungen zwischen der öffentlichen und freiwilligen Wohlfahrtspflege in einer Weise zu regeln, die den beiderseitigen Bedürfnissen und Werten gerecht wird ... Sie (die freiwillige Wohlfahrtspflege) .kann ihre Aufgaben nur dann erfolgreich weiter erfüllen, wenn ihr das Recht gewährt bleibt, innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze ihre Angelegenheiten s e l b s t ä n d i g zu ordnen CO und zu verwalten und ihren Wirkungskreis selbst zu bestimmen."^ Indem sich die Diakonie selbst in ihrer Stellung dem Sozialstaat gegenüber der freien Wohlfahrtspflege einordnet und in dieser Stellung vom Staat bestätigt wird, tritt sie für die aozialgeschichtliche Analyse in einen ïunktionszusammenhang, den T h e o d o r E s c h e n b u r g als "Herrschaft der Verbände" bestimmt hat.^^ B s c h e n b u r g sieht in der - rechtlich unzulässigen - exzessiven Einwirkung von gesellschaftlichen Verbänden vor allem in die Personalpolitik und die Verwaltung der Tendenz nach eine "Auflösung der Ordnung- und einigungsstiftenden Staatsgewalt", eine Situation, in der "die Gehorsamspflicht zersetzt und durch Gruppenabhängigkeit ersetzt" wird.^^ Wie H a b e r m a s (s.u.) kommt er zu dem Schluß, daß das öffentliche Leben in der BRD von einem Rückfall in mittelalterlich-feudale Verhältnisse bedroht sei.^^ Nach E s c h e n b u r g sind "die Institutionen und Verfahren ... das statische Element in einer so dynamischen Herrschaftaform, wie es die demokratische ist".^^ Ein Eingriff in diesen Bereich seitens der Verbände unterminiert "die Staatsautorität, die es 57
auch in der Demokratie geben muß". Er führt zur Auflösung des Staates in eine "Parteien-GmbH".^® Da all diese Tendenzen in der BRD zunehmen und ihnen kaum widersprochen wird, "tendieren wir zu einem Zustand, der mehr einem Bund der vereinigten Verbände, Kirchen, Kreis- und Stadtrepubliken 59 nahekommt, mehr einem Gruppenbund als einem Bundesstaat". Um diese Situation sachgemäß zu begreifen und sie in ein Verhältnis zur theologischen Begründung der Diakonie setzen zu können, muß versucht werden, die beiden zentralen Kategorien zu präzisieren, die sowohl den hier dargestellten Zusammenhängen wie der oben behandelten diakonischen Debatte um das theologische Selbstverständnis zugrunde liegen, nämlich die Katego-
- 49 rien von "Öffentlichkeit" und "Privatheit". Die sozialgeschichtliche Entwicklung, die J ü r g e n H a b e r m a s als "Strukturwandel der Öffentlichkeit" dargestellt hat, kann hier nur in einigen Grundlinien dargestellt werden. Die theoretische Auseinandersetzung bleibt dem Schlußteil der Untersuchung vorbehalten, sie muß anhand des dann detailliert explizierten Inhaltes von "politischer" und "gesellschaftlicher Diakonie" vorgenommen werden. Das Ergebnis ;jenes Strukturwandels, welches die gegenwärtige Situation kennzeichnet, faßt H a b e r m a s unter dem Stichwort einer "Refeudalisierung der Öffentlichkeit" zusammen, d.h.: die spezifische Konstellation von Privatsphäre - Öffentlichkeit - Sesellschaft Staat, welche die bürgerliche Gesellschaft bzw. ihre liberale Theorie gegen die feudale Macht durchgesetzt hat, hat heute weitgehend ihre Punktionsfähigkeit v e r l o r e n . D i e feudale Gesellschaft ist gekennzeichnet durch den Typ der "repräsentativen Öffentlichkeit". Der Grundherr "zeigt sich, stellt sich dar als die Verkörperung einer wie immer 'höheren' Gewalt." "Diese Repräsentation gibt vor, ein unsichtbares Sein durch die öffentlich anwesende Person des Herrn sichtbar zu machen." "Solange der Fürst und seine Landstände das Land 'sind', statt es bloß zu vertreten, können sie in einem spezifischen Sinne repräsentieren; sie repräsentieren ihre Herrschaft statt für das Volk, 'vor' dem Volk."^^ Gegen diese Gestalt der Öffentlichkeit entfaltet sich das Bürgertum zunächst in der Privatsphäre, dieser Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutxmg, 6? nämlich im Sinne von "ohne öffentliches Amt", verstanden . Diese Privatsphäre konstituiert sich in der "Privatisierung des Reproduktionsprozesses", d.h. - in der beginnenden kapitalistischen Produktion auf der Basis des Privateigentums. Da diese Produktion aber nicht mehr an die Hauswirtschaft gebunden, sondern an einem "öffentlichen" Markt orientiert ist, gewinnt diese Privatsphäre öffentliche Relevanz.^^ Es entsteht das Phänomen der "Gesellschaft" als der Sphäre der öffentlich versammelten, diskusaions- und entscheidungsfähigen Privatleute.^^ Diese wenden sich kritisch gegen die feudale Öffentlichkeit und reduzieren sie auf die staatliche Sphäre im modernen Sinne:
- 50 Die "Sphäre der öffentlichen Gewalt ... objektiviert sich in einer s t ä n d i g e n Verwaltung und dem s t e h e n d e n Heer ... 'Öffentlich' in diesem engeren Sinne wird synonym mit staatlich "Bürgerliche Öffentlichkeit" läßt sich demnach definieren "... als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute ...¡ diese beanspruchen die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit alsbald gegen die öffentliche Gewalt selbst, um sich mit dieser über die allgemeinen Hegeln des Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen." Das Medium dieser Auseinandersetzung ist das "öffentliche Räsonnement".^^ Der Anspruch der bürgerlichen Öffentlichkeit zielt nicht auf einen bloßen Herrschaftswechsel, sondern auf eine qualitative Veränderung von Herrschaft überhaupt, auf die Gesellschaft in der Perm "einer tendentiell machtneutralisierten und herrschaftsemanzipierten Privatsphäre" und damit auf Abschaffvmg von Herrschaft und Gewalt überhaupt. Die Parole, unter der dieser Anspruch steht, lautet; "Rationalisierung"; sie gilt normativ sowohl für die Sphäre der öffentlichen Marktbeziehungen der Privateigentümer wie für die literarische und politische Gestalt der Öffentlichkeit. Die spezifischen Werte der bürgerlichen Humanität, die Werte "der Freiwilligkeit, der Liebesgemeinschaft und der Bildung", einer Humanität, "die der Menschheit als solcher innewohnen soll", haben ihren Ursprung in einem Bereich, der sich innerhalb der Privatsphäre aus dem durch das Privateigentum gebildeten BeζiehungsZusammenhang wiederum ausgrenzt: im Intimco
bereich der bürgerlichen Familie. Die zum öffentlich räsonnierenden Publikum versammelten Privatleute vereinigen in sich zwei verschiedene Punktionen: als Privateigentümer tragen sie die gesellschaftliche Reproduktion, als Angehörige von bürgerlichen Familien repräsentieren sie die "Hmanität", das Menschliche schlechthin. Auf diesen Tatbestand nimmt eine weitere von H a b e r m a s gegebene Definition der bürgerlichen Öffentlichkeit Bezug: "Die entfaltete bürgerliche Öffentlichkeit beruht auf der fiktiven Identität der zum Publikum versammelten Privatleute in ihren beiden Rollen als Privateigentümer und als
- 51 Menschen schlechthin."^^ Eine Fiktion ist diese Identifikation deshalb, weil die liberale Theorie eine breite Streuung des Eigentums in einer Kleinwarenproduzentengesellschaft voraussetzt. Die darin begründete Chancengleichheit und Gerechtigkeit des Tausches steht in eklatantem Widerspruch zu der faktischen Entwicklung, in der sich das Privatkapital in wenigen Händen konzentriert und sich so als Macht sowohl gegenüber den NichtEigentümern wie gegenüber dem Staat durchsetzt. Im Laufe dieser Entwicklung kommt es zu einer eigentümlichen Dialektik: "Öffentlichkeit scheint in dem Maße die Kraft ihres Prinzips, kritische Publizität, zu verlieren, in dem sie sich als S p h ä r e ausdehnt und noch den privaten Bereich aushöhlt". In dem Maße, wie sich der prinzipiell unpolitische, sich selbst regulierende Marktmechanismus als Fiktion erwies, wie stattdessen der öffentliche Markt zum Kampffeld politischer Machtinteressen wurde, war der Staat gezwungen, schlichtend in diese Sphäre einzugreifen, Dabei wird "allmählich die Basis der bürgerlichen öffent70
lichkeit - die Trennung von Staat und Gesellschaft" zerstört.' Das zeigt sich etwa in der Übernahme von bisher privaten Dienst71
leistungen in die pflichtmäßige Verfügung des Staates. Die Ausdehnung des öffentlichen Marktes und der damit verbundene Schwund des inhaltlichen Prinzips der Öffentlichkeit läßt sich vor allem an folgendem verdeutlichen: die Kulturgüter nehmen "selbst die Gestalt eines Konsumguts an. Zwar war die Kommerzialisierung der Kulturgüter einst V o r a u s s e t z u n g für das Räsonnement; es selbst blieb aber grundsätzlich von den Tauschbeziehungen ausgenommen, blieb Zentrum eben jener Sphäre, in der die Privateigentümer 72als 'Menschen', und nur als solche einander begegnen wollten." Die uneingeschränkte Ausdehnung der Kommerzialisierung führte zu folgender Konsequenz: "Der Resonanzboden einer zum öffentlichen Gebrauch des Verstandes erzogenen Bildungsschicht ist zersprungen; das Publikum in Minderheiten von nichtöffentlich räsonnierenden Spezialisten und in die große Masse von öffentlich rezipierenden Konsumenten gespalten ... Damit hat es überhaupt die spezifische Kommunikationsform eines Publikums eingebüßt."^ So kommt es zu der oben erwähnten "Refeudalisierung" der Öffentlichkeit, Freilich sind die Unterschiede zwischen dieser und der ursprünglichen feudalen
- 52 Öffentlichkeit deutlich: "Öffentlichkeit muß 'gemacht' werden, es 'gibt' sie nicht mehr". Der "öffentlichkeitaanspruch" nichtöffentlicher Spezialistenverbände wird vertreten, indem in "Öffentlichkeitsarbeit" Öffentlichkeit je und je hergestellt wirdT^ So tritt neben das Element, das einen AnalogieschluB zur feudalen Öffentlichkeit erlaubt, die Demonstration und Hepräsentation geschlossener öffentlicher Verbände nach außen, als neuer Fak75 tor das Element der Manipulation. Zusammengefaßt : es kommt zu einer Umfunktionierung des Prinzips der Öffentlichkeit: "aus einem Prinzip der (von Seiten des Publikums gehandhabten) Kritik ist Publizität zu einem Prinzip der (von Seiten demonstrierender Instanzen - der Verwaltung und der Verbände, vor allem der Parteien) gesteuerten Integration umfunktioniert worden. Versucht man in dieses Schema die Entwicklung der Kirche im allgemeinen und die der Diakonie im besonderen in einigen Grundlinien einzuzeichnen, so ergibt sich folgendes Bild: Die Kirche ist wie der Staat eine der feudalen Mächte, deren Punktionen im Verlauf des Emanzipationsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft polarisiert werden. Auf der einen Seite überlebt in ihrem Ritual die "repräsentative Öffentlichkeit", auf der anderen Seite wird durch die Eeformation der Privatisierungsprozeß des Glaubens 77 eingeleitet. Damit ist schon ein Thema gegeben, welches in der Diskussion sowohl um die Neugestaltung der Diakonie im allgemeinen wie um die politische Diakonie im besonderen eine hervorragende Holle spielt. Es geht um die Überwindung der Privatisierung des christlichen Glaubens. Ein Versuch in dieser Richtung unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft stellt die "freie", vereinsmäßig organisierte Diakonie des Neunzehnten Jahrhunderts dar. In ihr entfalteten Vereinigungen von Privatleuten öffentliche Aktivität. Auf die spezifischen Unterschiede freilich zwischen diesen Vereinen und jenen, die gerade in Deutschland zur Bildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit während der Aufklärung die entscheidenden Anstöße gaben, wird unten einzugehen sein. Das in der "freien" vereinsmäßig organisierten Diakonie entwickelte Verhältnis von "Privatwohltätigkeit" und öffentlicher Relevanz liegt inhaltlich auch den modernen Konzeptionen der Diakonie zugrunde, obgleich sich die gesellschaftli-
- 53 che Situation entscheidend gewandelt hat. Die Vereine, auf die sich die Diakonie stützen konnte, verloren im Zuge des Punktionsverlustes der bürgerlichen Öffentlichkeit ihre ursprünglich breite gesellschaftliche Basis; ihre Aktivitäten, eben die Diakonie, muQten sich der gesellschaftlichen Zentralinstitution, der Kirche, angliedern. Die Kirche erhebt nun wie andere gesellschaftliche GroiSgruppen einen "öffentlichkeitsanspruch", sie betreibt "Öffentlichkeitsarbeit", sie verfällt der einen Seite der oben im Anschluß an H a b e r m a s beschriebenen Dialektik, der "Verstaatlichung der Gesellschaft".^® Ein kritisches Bewußtsein dieser Situation gegenüber ist bei den Vertretern der Diakonie stark entwickelt. Allerdings scheint sich die Kritik nicht gegen die Verfallsform bürgerlicher Öffentlichkeit, sondern gegen deren Prinzip selbst zu richten. Die bisher analysierten Äußerungen, die von einer "Mechanisierung" des modernen sozialstaatlichen Betriebs sprechen und in denen der "innere" Mensch als die eigentliche Aufgabe der Diakonie gesehen wird, können "Rationalisierung" nur als Bedrohung sehen. Hier scheint eine unüberbrückbare Kluft zu jener Parole der "Rationalisierung" zu bestehen, die wir in der Einleitung im Sinne der "kritischen Theorie" expliziert haben. Das mit dieser Parole bezeichnete Prinzip der Öffentlichkeit ist trotz seines faktischen Verfalls immer noch konstitutiv für den modernen sozialen Rechtsstaat. Das zeigt sich etwa an den sozialpsychologischen Paktoren, die als normativ für das Verhalten des Wählers angesehen werden: "Dem Wähler wird zugemutet, daß er, mit einem gewissen Grad von Urteilsfähigkeit und Kenntnissen, interessiert an öffentlichen Diskussionen teilnimmt, um, in rationaler Porm und am allgemeinen Interesse orientiert das Richtige und Rechte als verbindlichen Maßstab für das politische 74 Handeln finden zu helfen."'^ Wie sich die Beibehaltung jenes Prinzips für die Diakonie auswirkt, zeigt die oben angeführte Argxmentation, in der der Vorwurf der Privilegierung der freien Wohlfahrtsverbände mit dem Hinweis, daß die letzte Instanz die freie Entscheidung des Bürgers sei, zurückgewiesen wird. Für H a b e r m a s führt seine Analyse des Punktionsverlustes der Öffentlichkeit, angesichts dessen RO ihr beibehaltenes Prinzip nur noch ideologische Punktion hat , zu der Konsequenz,
- 54 Ideologiekritik an der bürgerliohen Öffentlichkeit zum Zwecke 81
ihrer unbürgerlichen Realisierung zu treiben. Die Frage lautet: Welche Konsequenzen zieht die Diakonie, insbesondere die "politische Diakonie", in der die von H a b e r m a s analysierten Entwicklungstendenzen wenigstens zum Teil ebenfalls auftauchen? Wie sehen die Konsequenzen aus angesichts der bisher beobachteten starken Divergenz zum Prinzip bürgerlicher Öffentlichkeit? E. G. M a h r e n h o l z hat die Tendenz der Entwicklung von Kirche und Öffentlichkeit nach 1945 insgesamt wie folgt beschrieben: "Die Kirchen entwickelten nach 1945 erneut ein Bewußtsein besonderer Nähe zum Staat. Eine Partnerschaft zwischen Staat und Kirche soll einer angeblich besonderen Bedürftigkeit des Staates und der Gesellschaft für die sittlichen und ordnungserhaltenden Kräfte Rechnung tragen ... Diese Auffassung wird dem Charakter der Gesellschaft als einer pliiralistischdemokratisch verfaßten Gesellschaft nicht gerecht ... Statt dessen wird man eine prinzipielle Statuseinebnung der Kirchen 82 in die allgemeine VerbandsSphäre erkennen müssen". Die Bemühungen um eine Neuformulierung des diakonischen Auftrages der Kirche bewegen sich zunächst im Bereich jener "Partnerschaft", d.h. einer kritischen Kooperation von Diakonie und Sozialstaat. Sofern aber die Diakonie einen "Öffentlichkeitsdienst" oder "-anspruch" wahrnimmt, kommt auch die von der staatlichen unterschiedene Sphäre der Gesellschaft in den Blick. Sowohl im Selbstverständnis wie im faktischen Verhalten lassen sich Analogien zwischen der kirchlichen Diakonie und den gesellschaftlichen Verbänden erkennen. Es steht zu erwarten, daß sich diese Tendenz verstärkt, sobald die Diakonie sich zur politischen Diakonie ausgestaltet und so die "Sozialarbeit" als positive Aufgabe, die in Kooperation mit dem Sozialstaat und gesellschaftlichen Verbänden wahrzunehmen ist, anerkennt. Die positive Wertung einer Einebnung In die Verbandssphäre bei M a h r e n h o l z®^ widerspricht freilich den Grundüberzeugungen, die sich in jener diakonischen Debatte artikulieren. Und darin bleiben auch die Entwürfe einer "politischen" und später "gesellschaftlichen Diakonie" jener Debatte verhaftet. Die allein theologisch zu klä-
- 55 rende Frage nach der Identität diakonischer Praxis in einer veränderten gesellschaftlichen Situation verhindert eine vorschnelle Konsequenz im Sinne von M a h r e n h o l z . Diese kann nicht durch eine einfache Identifikation der Kirche mit der neuen gesellschaftlichen Größe des "Verbandes" beantwortet werden. Auch kann der simple Hinweis auf die pluralistischen Strukturen nicht die kritischen Hinweise entkräften, die oben zum Thema "Verbände" und "Öffentlichkeit" angeführt wurden. Aber dennoch tritt jene theologische Präge in Korrelation zu der anderen, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945 zwingend gestellt ist: Wie läßt sich der universale Anspruch des Evangeliums - und das heißt konkret für die politische Diakonie: eine immer weiter gefaßte Entschränkung der diakonischen Praxis der Kirche in die Gesellschaft und ihre politischen Willensbildungsprozesse und Institutionen hinein - bezeugen angesichts der faktischen Stellung der Kirche in einer demokratischen Gesellschaft als einer partikularen Institution unter anderen? 1.2
Der Rückgriff auf J o h a n n H i n r i c h e h e r n (Historischer Exkurs)
W i -
1.21
Die Wertmig von _W_i_c_h_e_r_n_s_ Programm_der_"Inneren Mission"_bei_den_Vertretern der ^olijiachen Diakonie_
Schon bei E c k s t e i n wird die Forderung nach politischer Diakonie unter ausdrücklicher Berufung auf J. H. W i e h e r n erhoben®'^. W i с h e r η hat zuerst aus der Erkenntnis der neuen Lage gehandelt, die nach E c k s t e i n in der politischen Diakonie fruchtbar gemacht werden muß: "Die private und persönliche Sphäre wurde immer mehr eingeengt, und die öffentlichen Mächte, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft bekamen eine immer größere Ausdehnung und Intensität."®^ Noch stärker sind die beiden Entwürfe vom Rückgriff auf W i с h e r η geprägt, die die Diskussion um die politische Diakonie am nachhaltigsten beeinflußt haben: Die in sich sonst sehr unterschiedlichen Voten von E. G e r s t e n m a i e r und H. D. W e n d l a n d stimmen in diesem Pimkt erstaunlich genau überein. Politische Diakonie bedeutet für W e n d l a n d
- 56 "eine Erneuerung der ursprüngl(ichen), universalen Konzeption. W i c h e r n s von der ... 'Inneren Mission', die aus der ersten Begegnxmg der Kirche mit dem Elend der modernen InduqC strieges(ellschaft) erwachsen war". E. ö e r s t e n m a i e r stellt seinen Entwurf einer politischen Diakonie imter fìV den programmatischen Titel " W i e h e r n II " . PUr G e r a t e n m a i e r geht es in der politischen Diakonie darum, die bisherige Beschränkung der Diakonie auf das Wundenverbinden, auf die "rettende" Liebe (= W i c h e r n I)zu überwinden und so das eigentliche Ziel von W i c h e r n s Entwxirf der "Inneren Mission", nämlich die Beseitigung sozialer Krankheitsherde durch die "gestaltende" Liebe (= W i fifi e h e r n II ) als Aufgabe erneut in den Blick zu bekommen. Dabei bedeutet die Forderung nach politischer Diakonie keine Kritik an der Diakonie im Sinne von " W i e h e r n I " als solcher, es wird vielmehr allein die Mutlosigkeit einer Kirche kritisiert, der die relativ risikolose, weil traditionell einQQ
gespielte Diakonie des Wundenverbindens genügt. Es geht also um eine Ergänzung der traditionellen Diakonie durch die politische, wobei diese beiden Bereiche als getrennte erhalten bleiben, aber in ein möglichst enges Verhältnis zu einander gebracht werden sollen. Der Rückgriff auf W i e h e r n hat dabei die Bedeutung, diese Forderung zu legitimieren. Er impliziert die Überzeugung, daß W i c h e r n s Entwurf der "Inneren Hission" auch in der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg in der Lage sei, politische Diakonie in ihrem Verhältnis zu wundenverbindender Diakonie als notwendige90Gestalt des diakonisehen Auftrags der Kirche zu begründen. Diese Bedeutung wird W i c h e r n s Konzept offenbar deshalb beigelegt, weil darin Diakonie für eine bestimmte gesellschaftliche Situation, nämlich die moderne Industriegesellsehaft entworfen wird, und zwar so, daß W i c h e r n s Lösungen für die heutige gesellschaftliche Lage, die als Portführung und Potenzierung der zur Zeit W i c h e r n s beginnenden Entwieklxmg begriffen wird, vorbildliche Gültigkeit besitzen.
- 57 1.22
W i ç h e r n s
_Plan der ^christlichen As30ziati0nen"_
Prüft man die Begründung für die Behauptung, W i c h e r n s Konzept der I.M. ziele seiner eigentlichen Intention nach auf eine politische Diakonie, so überrascht es zunächst, daß die Begründxmg nicht bei den theologischen und sozialethischen Grundpositionen einsetzt, sondern bei einer Einzelforderung seines Programms. Während jene Grundpositionen z.T. recht weitgehend kritisiert werden, sehen die Vertreter der politischen Diakonie ziemlich einmütig in jener Einzelforderung, Wic h e r n s Aufruf zur Bildung von "Assoziationen", den entscheidenden Durchbruch von einer bloß karitativen zur politischen Diakonie unter den besonderen Bedingungen der industriellen Gesellschaft. Diese Forderung wird als eine aus W i c h e r n s Programm herausragende in die Zukunft weisende Gestalt christlicher Diakonie und zugleich als der eigentliche Zielpunkt von W i с h e r η a gesamtem Plan der I.M. interpretiert. W i e h e r n hat vor aliem in "Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation" von 1849 die Forderung erhoben, "christliche Associationen der HUlfsbedürftigen selbst für deren soziale (Familie, Besitz und Arbeit betreffende) Zwecke zu veranlassen."^^ Die christliche Liebestätigkeit soll nicht länger lediglich Hilfe f ü r einzelne Hilfsbedürftige bringen, sondern dadurch, daß sie die bisherigen Empfänger von Hilfeleistungen zum Zusammenschluß in Gruppen auffordert, die Hilfsbedürftigen s e l b s t zur Beseitigung ihrer Not fähig machen. Wie h e r n stellt diese Forderung in dem Bewußtsein auf, etwas einschneidend Neues in der Geschichte der christlichen Diakonie gesichtet zu haben. Es ist damit "der Grenzstein aufgerichtet zwischen der bisherigen und einer künftigen Epoche der christQp
lieh rettenden Liebesarbeit ..."^ Die Vertreter der politischen Diakonie und auch Autoren, die unter anderen Fragestellungen W i c h e r n s Bedeutung für die Gegenwart analysieren, folgen ihm in diesem Urteil. G e r s t e n m a i e r sieht in W i c h e r n s Assoziationen den Ansatz zu einer Überwindung der patriarchalischen Herablassimg, mit der die
- 58 Kirche bis dahin dem Proletarier allein begegnete und die ihn der echten Solidarität sozialistischer Organisationen in die Arme trieb. Wäre es zu der von W i с h e r η angestrebten bruderschaftlichen Ordnung gekomaen, so hätte die Kirche der marxistischen Bewegung widerstehen können.^' Einerseits läßt sioh,ausgehend vom Gedanken der Assoziationen,der Grundsatz einer heute zu praktizierenden politischen Diakonie, die "Hilfe zur Selbsthilfe" direkt aus dem W i с h e r η sehen Programm ableiten, andererseits sind W i c h e r n s Assoziationen in der gegenwärtigen Lage unmittelbar anwendbare Organisations94 formen. Ähnlich wie G e r s t e n m a i e r bestimmt S c h r e i ner das Besondere des W i с h e r η sehen Planes. In ihm wird der Hilfsbedürftige nicht mehr als das passive Objekt einer Hilfeleistung gesehen; das entscheidend Neue liegt also darin, daß das bis zu W i c h e r n in der Diakonie herrQC sehende Subjekt-Objekt-Verhältnis überwunden wird. Nach T h i e r hebt schon die Forderung der Organisationsfreiheit für die Assoziationen, die von staatlicher Seite nicht beeinträchtigt werden darf, W i c h e r n s Entwurf aus der kirchlich-konservativen Grundströmung seiner Zeit heraus.^^ Auch für T h i e r ist der· Gedanke der Assoziationen der Ausgangspunkt für eine neue Gestalt der evangelischen Diakonie. Er sieht ihn aber bei W i с h e г η schon eines Teils seiner ursprünglichen Sprengkraft beraubt, die dieser Gedanke vor allem bei V i k t o r A i m e H u b e r besitzt, von dem W i с h e r η an dieser Stelle seines Programms beeinflußt ist und auf den er 97 sich ausdrücklieh beruft. In Η u b e r s Plan der Assoziationen kommt - nach T h i e r s Interpretation - zum ersten Mal ein Grundprinzip moderner Sozialgestaltung zum Durchbruch, das "Prinzip nicht ... einer organisch aus sich lebenden, son98 d e m einer zu setzenden Ordnung".^ Nach W e n d l a n d s Urteil setzt sich im Gedanken der Assoziationen die Mündigkeit der freien Bürger als Grundprinzip der modernen Gesellschaft 99 durch.^^ Für J. S t e i n w e g ist der Plan der Assoziationen ein Beweis dafür, wie stark W i c h e r n s soziales Denken von genossenschaftlichen Vorstellungen beherrscht gewesen sei. Er habe sogar an Gewerkschaften gedacht und somit eine
- 59 Reform der kapitalistischen Gesellschaft ins Auge gefaßtJ®'^ W i с h e r η wird dann als der Initiator einer neuen reformerischen Sozialpolitik angesehen. Vergleicht man diese Urteile mit den Aussagen W i c h e r n s über die Assoziationen, so wird damit keinesfalls die bei den Vertretern der politischen Diakonie vorherrschende Tendenz bestätigt, dai3 diese Aussagen von W i c h e r n s theologischen und sozialethischen Grundpositionen abzuheben wären. Die folgenden drei Hauptaspekte, die sich aus W i c h e r n s Aussagen über die Assoziationen herausschälen lassen, machen vielmehr deutlich, daß hier jene Grundpositionen wie in einem Brennpunkt zusammentreten. 1. W i e h e r n übernimmt eine im gesellschaftlichen Leben seiner Zeit bereits vorhandene Organisationsform, die zumindest in der Gestalt der neuen Arbeiterassoziationen der Emanzipation von Staat und Kirche als den traditionellen Mächten der Gesellschaft dienen sollte. W i с h e r η wertet die Durchsetzung der Forderung nach Assoziationsfreiheit in der Re102 volution von 1848 positiv , - imd dies ist die einzige "revolutionäre Errungenschaft", die nicht seinem vernichtenden Urteil verfällt (s.u.). Aber es geht W i с h e r η eindeutig nicht darum, dieses neue Organisationsprinzip als solches zu unterstützen. Ea ist ihm allein wichtig, insofern es sich "im christlichen Geiste weiter bilden, in christlicher Weise fruchtbar machen und über neue Lebensgebiete und Lebensbedürfnisse ausdehnen" läßt.^*^^ Es ist also zumindest ungenau, wenn von den Vertretern der politischen Diakonie zumeist behauptet wird. W i e h e r n habe "freie" Assoziationen gefordert, es liegt vielmehr alles Schwergewicht auf dem christlichen Charakter dieser Assoziationen, der sich gerade polemisch gegen andere "freie" Assoziationen abgrenzt. Nach W i с h e r η nehmen die christlichen Assoziationen die Intention der Zünfte v/ieder auf. Die Geschichte zwischen ihrer Gründungs- und Blütezeit und dem Jahre 1849 wird als eine einzige Geschichte des Abfalls gewertet, welche bis hin zu den sozialistisch-atheistischen ArbeiterAssoziationen führte. Vorbildlich für die christlichen Assoziationen sind die Zünfte nicht in ihren konkreten Organisationsformen, - diese müssen unter den Bedingungen des 19. Jahrhun-
- 60 derts verändert werden und hier kann man bei den Arbeiter-Assoziationen Anleihen machen, - wohl aber darin, daß die Kirche 10Д an der Spitze dieser Genossenschaften stand. ^ Das Verhältnis der christlichen zu den sozialistischen Arbeiter-Assoziationen stellt sich für W i c h e r n so dar, daß die in der sozialistischen Bewegung aufgebrochenen Sehnsüchte und Hoffnungen erst in den christlichen Assoziationen ihre Erfüllung finden, wobei diese Erfüllung zugleich die Entlarvung der sozialistischen Zielvorstellungen als Trug und Verbrechen gegen Hecht und Religion b e d e u t e t . O d e r anders gesagt: die vorgegebene Organisationsform der Assoziationen wird von W i с h e r η aufgenommen, um sie gegen ihre emanzipatorische Zielsetzung zu kehren. Damit verwirklichen die von W i с h e r η geplanten Assoziationen den wahren, nämlich den "christlichen Sozialismus, dessen frühreife, monströse Carricatur der atheistische und radicale ist." 107 ' 2. Daß die Assoziationen bei W i e h e r n gegen ihre ursprünglichen Zielsetzungen umfunktioniert werden, wird hinlänglich deutlich, wenn man sieht, welche neuen Zielsetzungen W i e h e r n den christlichen Assoziationen gibt. Er unterscheidet drei Stadien des sozialen Wirkens der Christenheit: Gegenwärtig herrschen noch die Vereinigungen für Hilfsbedürftige vor, der nächste Schritt, den W i с h e r η projektiert, soll die christlichen Assoziationen der Hilfsbedürftigen selbst verwirklichen. "Ein drittes Stadium wird dann eine christliche Assoziation der verschiedenen Arbeits- und Besitzstände sein müssen, die zu einem freiwilligen Ausgleich weiterführt. Von ihr erwartet W i e h e r n das Entscheidende: die Bildung einer neuen Gemeinschaftsgewinnung auf christlicher 10ñ Grundlage". Die Assoziationen sollen nicht eine "Vernichtimg" der ständischen Ordnung anstreben, sondern eine "Verklärung" derselben, "weil eine solche Verklärung ... in der einander tragenden und fördernden Handreichung die verschiedenen Stände selbst als die von höherer Hand gesetzten Unterschiede göttlicher Wohltaten erkennen lehren müßte, durch welche die einzelnen Stände untereinander sich zum Himmelreich erziehen s o l l e n . S o werden die einzelnen Assoziationen, gerade indem
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sie das Bigentümliche der jeweiligen Gruppe wahren, "zu einem Gliede eines größeren Ganzen formiert", sie werden wieder Glieder am Körper der C h r i s t e n h e i t . ^ A n die Stelle eines revolutionären Prinzips muß "ein christliches Regenerationsprinzip" treten, welches in der Lage ist, etwa zwischen dem Gutsherrn und seinen Tagelöhnern und Bauern "ein patriarchalisches Verhältniß zu schaffen oder zu erneuern..."^^ \ W i c h e r n s Idee der Assoziationen richtet sich also gegen ein - sei es liberal oder sozialistisch - begründetes Bgalitätsprinzip. Nur die Anerkennung der schöpfungsmäßig gesetzten Unterschiede bewahrt davor, das Persönliche und Individuelle zu nivellieren, und nur so kann die Gesellschaft auf ihr eigentliches Ziel, die 112 "Vollendung und Verklarung durch die Gnade der Erlösung" , ausgerichtet bleiben. Zum Schutz dieser Schöpfungssetztmg Gottes dient die nach unterschiedlichen Ständen geordnete Gesellschaft. In ihr ist sowohl die Bewahrung des je Eigentümlichen von Individuen und Gruppen als auch deren organisches Zusammenwirken auf ihre Uberweltliche Zielsetzung hin gewährleistet. Damit erhält die ständische bzw. "organische" Gesellschaftsordmmg und zwar diese allein - eine aus der Schöpfung gewonnene Legitimation. Daraus, daß ausschließlich eine bestimmte Gesellschaftsordm m g , nämlich die bestehende, sanktioniert wird, ergibt sich notwendigerweise das Gleiche für eine bestimmte Eigentumsordnung. Pür W i с h e г η gilt: das schöpfungsmäßig gesetzte verschiedene Maß an innerer geistiger Eigentümlichkeit prägt sich im sozialen Bereich in Unterschieden im äußeren, materiellen Eigentum aus.^^^ Daneben tritt der andere Gedanke, "daß die Christenliebe das ihr vertraute äußere Gut, das persönliche Eigenthum kennt und verwaltet als ein Darlehen von Oben zur Handreichung der Liebe für die Aermern... "^ ^ . Hierin ist die soziale Verpflichtung allen Eigentums begründet. 3. Aus dem bisher Dargestellten wird schon ersichtlich, daß die polemische Abgrenzung gegen Liberalismus und Sozialismus einen integrierenden Bestandteil von W i c h e r n s Plan der christlichen Assoziationen bildet.^^^In seiner Intention verständlich wird dieser Plan erst, wenn man sieht, in welcher Weise er in der Situation der Revolution von 1848 historisch ver-
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wurzelt ist und welchen Ort er in me zu diesem Ereignis einnimmt zwei Akzente:
W i c h e r n s StellungnahDiese Stellun^ahme setzt
a. Einerseits trifft diejenigen Kräfte, deren Wirken zur Hevolution geführt hat, der schärfste nur denkbare Bannstrahl. Ihre Motive können nur unlauter, weil antichristlich imd somit satanisch sein. Die I.M. und mit ihr die "Assoziationen" sind eine Bastion gegen die Einflüsse jener Kräfte. W i c h e r n s Aufruf zur Aktion lebt ganz aus der Reaktion auf die revolutio117 nären Ereignisse. Die Revolution steht am unteren Ende einer Kausalkette, die über die Zwischenglieder des Verbrechens und der sozialen Not, die von W i с h e r η wesentlich als sittliche Zerrüttung gesehen wird, ihren Ursprung in der Sünde des Abfalls von Gott, also des Atheismus, ja des offenen Satanismus IIS hat , wobei die Revolution aus sich nur erneut Verbrechen her114 vorbringen kann. ^ Die Schärfe dieser Polemik gegen die Revolution hat ihren eigentlichen Grund darin, daß sie die eine Seite innerhalb einer bestimmten theologischen Interpretation der Revolution darstellt. b. Das wird deutlich, wenn man die Polemik zusammensieht mit der positiven Wertung der Revolution, - positiv nicht im Blick auf die ihr immanenten Kräfte, da bleibt die bedingungslose Verwerfung voll und ganz bestehen, positiv aber inbezug auf die neue Aufgabe der Kirche, die I.M. Zunächst hat die Revolution die schreiende Zerrüttung des gesamten Volkslebens, auf die W i с h e r η schon lange vor 1848 eindringlich hingewiesen hatte, und damit zugleich die Notwendigkeit einer Antwort auf diese Zerrüttung durch die I.M. - von W i с h e r η ebenfalls schon seit langem gefordert - für alle Zweifler und Kritiker unwiderleglich bestätigt. Insofern muß die Revolution dem Sieg 120 der I.M. dienen. Doch dieser Sieg hat seinen Grimd nicht etwa in der durch die Revolution bestärkten Überzeugungskraft menschlicher Argumente, sondern, indem die Kirche die Aufgabe der I.M. ergreift, geht sie ihrer Auferstehung entgegen. Die Revolution, der Ansturm der antiohristlichen Mächte der Finsternis, welche die Kirche bis hin zu ihrem Untergang bedrohen können, ist als Leidenszeit nur Vorspiel, aber auch sicheres Anzeichen dieser Auferstehimg. 121 So sieht W i с h e r η die Kirche angesichts
- 65 der Revolution vor einer weltgeschichtlichen Wende stehen. Die jetzige Zeit ist "so groß und herrlich, wie sie über die Christenheit nach der apostolischen Zeit noch niemals angebrochen." Die neue Aufgabe, die mit dieser Wende auf die Kirche zukommt, ist "eine weltumfassende Wirksamkeit zur Erneuerung des innersten Völkerlebens"'^^^. Jetzt ist die Zeit der Buße für die Versäumnisse, die sich die Kirche gegenüber den Proletariern hat zuschulden kommen lassen. Aus diesem Geist der Buße kann das 123 beginnende neue Zeitalter zum Zeitalter der I.M. werden. ^ Die innige Verbindung der I.M. und der revolutionären Situation von 1848 resultiert also für W i e h e r n aus seiner Deutung der Revolution anhand des apokalyptischen Zwei-Äonen-Schemas. Geschichte wird in dieser Weise eschatologisch interpretiert, 1 oder: die Eschatologie wird historisiert. Wenn W i с h e r η in der "Denkschrift" mit dem Aufruf, christliche Assoziationen zu gründen, eine neue Epoche christlicher Liebestätigkeit proklamiert, so ist das nur im Zusammenhang dieser Deutung der Revolution angemessen zu verstehen. 1.23
Die ^Assoziationen^ im_Kontext_von_ Theologischem Gesamtentwurf
W i c h e r n s
Das Verhältnis jener oben aufgewiesenen drei Hauptaspekte zu einander und der Stellenwert von W i c h e r n s Plan der Assoziationen in seinem Gesamtentwurf werden dann deutlich, wenn man sie im Rahmen dea für W i с h e r η grundlegenden "heilsgeschichtlichen" Denkens begreift. Daß die Assoziationen in diesem Rahmen zu sehen sind, erhellt aus einer Bemerkung, die W i с h e r η von seinem Neuentwurf her gegen die bisherige Diakonie richtet. Ihre Unzulänglichkeit lag darin, daß ihre Aufgabe "nicht von dem Standpunkte der volksumfassenden Geschichte des Reiches Gottes aus betrachtet worden, daß sie immer nur mehr als das Werk zufälliger christlicher Beliebigkeit angesehen w u r d e . . W i c h e r n s "heilsgeschichtliches" Schema hat eine doppelte Ausrichtung: einmal erscheint darin Geschichte als ein Prozeß, in dem sich über bestimmte Stadien das Reich Gottes verwirklicht, zum anderen sind darin vier statische Größen festgelegt, durch deren Zusammenspiel eben jener
- 64 Prozeß in Gang kommt, nämlich: Volk, Kirche, Staat und Familie. Nach W i с h e r η verläuft die Geschichte in mehreren Schüben äußerer Mission, welche jeweils zur inneren Mission als ihrer notwendigen Zonsequenz hätten führen müssen. Freilich ist diese Konsequenz bisher nie über Ansätze hinaus verwirklicht worden. Die Notwendigkeit der inneren Mission schwillt in der Geschichte gleichsam immer mehr an, bis sie jetzt angesichts der Revolution, da die ganze bisherige Geschichte des Reiches Gottes in eine eschatologiache Krise geraten ist, zur unaufschiebbaren Notwendigkeit wird, deren Ermöglichung eben durch die "Auferstehung" der Kirche in einmaliger Weise gegeben ist. So beginnt mit dem durch die Revolution eingeleiteten Zeitalter der inneren Mission die letzte Etappe auf dem Weg zu dem Ziel, auf das hin die ganze Geschichte angelegt ist. Der erste Höhepunkt in der so verstandenen Geschichte ist für W i с h e r η die Ära Konstantins. Gegen eine kritische Wertvmg des damit eröffneten "Konstantinischen Zeitalters" der Kirche sieht W i e h e r n in der Wende unter Konstantin "den 1
Beginn einer großen Erfüllung" : die unter Konstantin vorläufig beendete und gefestigte äußere Mission hätte sich nun zur inneren Mission fortbilden müssen, was freilich nicht geschah. Die dadurch aufgestauten Energien machten sich Bahn in der Germanenmission, deren Konsequenz, die innere Mission, wiedermn durch die Gesetzlichkeit des katholischen Mittelalters und den anwachsenden Atheismus des Rationalismus unterdrückt wird. Die seit der Germanenmission anstehende Aufgabe der inneren Mission ist in der einmaligen Situation von 1848 endlich auszuführen, nachdem durch die Reformation der Weg dazu prinzipiell eröffnet 127 worden ist. Die "Kirche der Reformation" gestaltet sich da1 PR bei fort zu einer "Kirche der Regeneration" und erreicht so ihr Ziel, "Volkskirche" zu werden. Bs ist vor allem ein reformatorisches Prinzip, an das die innere Mission anknüpft und das sie zu seiner vollen Entfaltung bringt, das von L u t h e r als soziales Prinzip einer wahrhaft evangelischen Kirche ver12Q kündete Priestertum aller Gläubigen. ^ Auf diesem aufbauend kann die innere Mission ihr Ziel erreichen, daß zuletzt kein Glied der Kirche mehr sei, "das nicht das lautere Wort Gottes
- 65 in rechter, dh. grade ihm eignender Weise hörte und die ihm sich darbietende Gelegenheit zu diesem Hören fände, auch ohne aie zu suchen. Welche gesellschaftlichen Implikationen eine solche Aussage enthält, wird deutlich an einer anderen Zielbestinmung, die W i с h e r η für die innere Mission aufstellt. Sie ist keinesfalls "ein Werk der Wohltätigkeit, im christlichen Sinne betrieben"^^\ sie zielt vielmehr darauf, "so lange zu wirken, bis in der Gesellschaft Nichts mehr wäre, das der geistlichen Ordnung der Gemeinde widerstrebte, oder von dieser unerreichbar wäre."^^^ Die Wohltätigkeit ist nur ein Element der Arbeit der inneren Mission, das durch die gegenwärtige Notlage bedingt, mit jenem eigentlichen Ziel verbunden ist. Im Blick auf dieses Ziel einer so bestimmten Volkakirche weitet W i с h e r η das eschatologische Schema, das oben im Blick auf die Kirche und ihre "Auferstehung" dargestellt wurde, auch auf das Volk aus: Das deutsche Volk "muß nun zum zweiten Male als Volk geboren, wiedergeboren werden durch das C h r i s t e n t u m . D e r Sinn von W i c h e r n s "christlichen Assoziationen" wird erst im Blick auf diese Zielbestimmung der inneren Mission deutlich. Sie dienen zunächst der Überwindung der Not, aber nicht im Sinne christlicher Wohltätigkeit, sondern eines in gesellschaftliche Strukturen eingreifenden Organisationsprinzips, das für W i c h e r n in der Lage ist, auf das zuletzt angegebene Ziel hinzuwirken. War das Prinzip der zeitgenössischen ArbeiterAssoziationen gerade auf eine Ablösung der traditionellen gesellschaftlichen Strukturen gerichtet, so werden die Assoziationen für W i c h e r n zu "christlichen" nur dadurch, daß sie in den Punktionszusammenhang jener im "heilsgeschichtlichen" Prozeß statischen Größen, Volk, Kirche, Staat, Familie, gestellt werden. Unter diesen Größen hat für W i с h e r η der Begriff des "Volkes" eine eindeutige Priorität; er verteidigt ihn gegen die neuen Bestimmungen der politischen Theorie, die in der revolutionären Bewegung von 1848 wirksam werden und die sich gerade polemisch gegen den überlieferten Begriff des Volkes wenden. "Volk" wird von W i с h e r η definiert als "ein lebendiger, geschichtlich heraufgewachsener, politischer Organismus sitt-
- 66 lieber, intellektueller und materieller Bildungen innerhalb eines Sprachganzen", der zugleich einen "sozialen Organismus, (der) sich um das Eigentum, den Besitz, den materiellen, den geistigen und sittlichen, ... gebildet hat", mit umgreift Wird ein solcher Begriff von "Volk" als Konstituens für das Verstehen der gesellschaftlichen Situation verwendet, so kann die Revolution nur als "allgemeine Umwälzung und plötzliche Sistierung und Rückwendung des Blutiunlaufes im Organismus des Völkerlebens"'' also als Krankheit erscheinen, der man wegen ihrer tödlichen Bedrohung nur mit einer Radikalkur zu Leibe gehen kann. Die Volks- bzw. OrganismusvorStellung hat für W i e h e r n deshalb eine so fundamentale Bedeutung, weil durch sie die drei wesentlichen Aspekte der sozialen Frage, der politische, der soziale und der kirchliche sowohl richtig unterschieden als auch "organisch" mit einander verbunden werden können. Der entscheidende Fehler der bisherigen, vor allem der revolutionären Versuche, die Misere zu beheben, lag darin, daß eben diese rechte Unterscheidung und Zuordnung nicht geschehen ist, daß vielmehr ein Aspekt zuungunsten der anderen verabsolutiert wiu-de.''^^ Deutlich ist zunächst die Abgrenzung des kirchlichen vom sozialen und politischen Bereich. Die Kirche will nicht eine ihr fremde Aufgabe okkupieren, vielmehr liegt ihr Auftrag darin, die Grundlagen für ein gesundes Leben des Organismus im Ganzen, in seinem politischen \ind sozialen Bereich, zu befestigen. Solche Grundlagen können nur in einer sittlichen Verwurzelung sowohl des politischen wie des sozialen Handelns bestehen. Dieses "Sittliche" kommt zu seiner reinen Gestalt erst im "Ethischen", d.h. in einer solchen Sittlichkeit, welche im Religiösen und in 1 Ύ1 dessen Grundlage, im Evangelium, begründet ist. Daneben steht eine weitere Unterscheidung, nach der der Staat für Abhilfe gegen den "materiellen Pauperismus", die Kirche aber gegen den "inneren Pauperismus", gegen das "sittliche Massenverderben" zu sorgen hat. Da sich der Staat im Augenblick dazu unfähig erweist, muß die Kirche bzw. ihre innere 1 38Mission auch dessen Aufgäbe stellvertretend mit übernehmen. Die von W i с h e r η vollzogene Unterscheidung des kirchlichen vom politischen Bereich ermöglicht gerade eine eminente Einwirkung des ersteren
- 67 auf den letzteren. Sorgt die Kirche "für die große ewige Unterlage und Heiligungsquelle des ganzen Volkslebens", so erwächst daraus ein Leben im "christlichen aeiste der Demut, Treue und Pietät ..., dieser Geist würde sonder Zweifel in jedem Fall das Rechte treffen und z.B. nie den unwissenden Tagelöhner oder einen Proletarier zum Vertreter der politischen Gemeinde wählen können. Zentrale Institution des sozialen Bereichs ist die Familie; sie ist Kristallisationspunkt der sozialen Verhältnisse der Erziehung, dea Eigentums, der Arbeit und der sich aus ihr erge140 benden verschiedenen Stände. Hier im sozialen Bereich ist endlich auch der Ort der Assoziationen. Sie treten als eine größere Organisationseinheit zur Zentralinstitution der Familie hinzu, die durch jene nicht etwa angetastet werden soll. Vielmehr prägt nach W i с h e r η ι die für die Familie konstitutive patriarchalische Grundstruktur auch die christlichen Assoziationen, die damit in einen eindeutigen Gegensatz zu der Forderung nach "Brüderlichkeit" in den frühen Arbeiterassoziationen treten (s.u. 1.242). Offenbar reicht die Familie nicht mehr aus, um die Krisensituation der überkommenen Gesellschaft aufzufangen. So wird das Organisationsprinzip, das gerade auf eine Veränderung dieser herkömmlichen Gesellschaftsordnung zielte, als ein neues Element in den hier dargestellten Kontext gestellt, um so desto gewisser an den herkömmlichen Gesellschaftsstrukturen, d.h. an einer als gewachsener Organismus verstandenen Gesellschaft, festhalten zu können. Ihre kritische Infragestellung kann von den Voraussetzungen dieses Verständnisses her nur als tödliche Krankheit und Chaos gesehen werden. Die Aufnahme der "revolutionären"Forderung der Assoziationsfreiheit ist für W i с h e r η nur möglich, insofern sie im "christlichen Geiste" verstanden wird, "christlich" aber ist synonym mit der Eliminierung einer gesellschaftskritischen Intention der Assoziationen und mit ihrer Bejahung allein als gesellschaftsstabilisierender Faktor.
- 68 1.24
Zur sozialgeschichtlichen Relevanz_voii_W_i_c_h_e_r_n_3_ Programm_
1.241
Die biographische Verwurzelung von W i c h e r n s sozialen Vorstellungen, seine Stellung innerhalb der preußischen Klassengesellschaft
E. T h i e r hat darauf hingewiesen, wie stark W i c h e r n s Programm der I.M. und insbesondere das Verständnis der gesellschaftlichen Armut von der Erfahrung der kleinbürgerlichen Verhältnisse geprägt worden ist, aus denen er kam. " W i c h e r n hat Armut, bittere Armut, nicht aber Proletarisierung am eigenen Leibe erfahren". "Die häusliche Daseinsnot war die einer klein-'bürgerlichen' Familie, die niemals in den proletarischen Bereich rückte. Aus dem Armen wird erst dann der Proletarier, wenn die Daseinsenge sich verbindet mit dem Erlebnis des Ausgestoßenseins aus der bürgerlichen Gesellschaft. In seinem sozialen Bereich machte W i e h e r n die konkrete Erfahrung, wie der Glaube die Verzweiflung und Not überwinden kann. Der Glaube gewann dabei die Bedeutung, den Sinn einer Gesellschaftsordnung, an deren äußeidiem Rande man lebt, zu verbürgen. Er wird zu einem Mittel der Integration, zur Gewißheit, die die Angst vor dem Herausfallen aus der traditionellen Gesellschaft überwindet. Um so erstaunlicher oder vielleicht gerade bezeichnend für W i c h e r n s derart geprägtes Programm ist es, daß es nicht etwa im Kleinbürgertum seinen stärksten Rückhalt hatte, sondern sich mit der Oberschicht, dem preußischen Adel und der konservativen großbürgerlichen Beamtenschaft verband. In dem Maße wie W i c h e r n s Plan seit seiner Rede auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 und der Denkschrift von 1849 institutionelle und damit auch politische Gestalt annahm, verlor sich seine Kritische Distanz, die er wie gegenüber der traditionellen Kirche, so auch gegenüber der herrschenden Schicht ursprünglich eingenommen hatte.^^^ Er ließ sich immer stärker in die soziale Programmatik der herrschenden preußischen Konservativen integrieren. Doch ist
- 69 diese Möglichkeit nicht einfach ein Mißgeschick, das sich aus dem Eintauchen der reinen christlichen Idee in die schlechte Wirklichkeit erklären ließe, sondern sie ist in W i c h e r n s P r o g r a m selbst angelegt. Dies erhellt zim ersten daraus, daß sich eine direkte Linie von den "christlich-germanischen" Zielen der Preußischen Konservativen Partei nach 1848 zur Erwekkungsbewegung, W i c h e r n s л λ λ
ursprünglicher geistiger Heimat,
nachweisen läßt. Zum zweiten: W i c h e r n s Programm ist in den Crrundzügen zwar schon vor 1848 angelegt, doch erhält es seine ausgeführte Gestalt und zugleich die Möglichkeit zu seiner Realisierung erst aus der Reaktion auf die Revolution von 1848, und diese Reaktion ist von der der preußischen Konservativen kaum zu unterscheiden. Kennzeichnend dafür ist, daß W i e h e r n in der "Denkschrift" sein eigenes Verständnis der Revolution rückhaltlos mit dem des wichtigsten Theoretikers des preussischen Konservativismus, mit Î. J. S t а h 1 , identifiziert und das folgende Zitat von S t a h l als Quintessenz seiner eigenen Ausführungen bringt: "Revolution ist die Gründung des ganzen öffentlichen Zustandes auf den Willen (bzw. "auf die Willkür") des Menschen statt auf Gottes Ordnung und Führung. Die führende Rolle F. J. S t a h l s und anderer preußischer Konservativer auf dem Wittenberger Kirchentag von 1848 und in dem dort gegründeten Central-Ausschuß, der I.M. ist be14.6 kannt, ^ und ihr Einfluß hat die I.M. auch in ihrer Konsolidierung nach 1848 entscheidend geprägt. Charakteristisch ist die Forderung H e i n r i c h v o n M ü h l e r s , eines einflußreiohen Beamten im Kultusministerium und Ratgebers W i c h e r n s , "der Centraiausschuß sollte den Eindruck vermeiden, als sei er ein 'pietistisch aristokratisches' Unternehmen." S h a n a h a n urteilt dazu: "Eine passendere Beschreibung hatte er nicht finden können. Außer W i с h e г η waren alle Beteiligten entweder preußische Aristokraten oder deren Parteigänger aus der Beamtenschaft."^^''' So wurde W i c h e r n s Programm in den Händen der Konservativen zum Mittel, die soziale Unruhe niederzuhalten. "Die innere Mission wird zum konterrevolutionären Instrument von Kirche und Staat.
-TOES sollte hier aufmerksam gemacht werden aiif den bei e h e r n
W i -
zu beobachtenden Zusammenhang zwischen konkreter Er-
fahrung sozialen Unrechts, die trotz großer Sensibilität in der theoretischen Bewältigung ihre kleinbürgerliche Prägung nicht überwinden kann, und der Ideologie der herrschenden Klasse, die eine Konservierung der sozialen Ursachen für jenes Unrecht bewirkt. Es wird zu fragen sein, ob sich ein ähnlicher Zusammenhang auch in den neueren Ansätzen der Diakonie, insbesondere dort, wo sich eine "politische Diakonie" als Erfüllung des W i с h e r η sehen Vermächtnisses versteht, zu beobachten ist.
Ii242
Zur sozialgeschichtlichen Punktion der "Assoziationen"
Die oben beschriebene "ümfunktionierung" der Organisationsformen der Assoziation^^^ ist keineswegs eine originale Leistung
W i c h e r n s
. E r ist damit vielmehr selbst schon von
einer längeren Tradition abhängig. Der für
W i c h e r n s
Plan bestimmend gewordene Vereinsgedanke geht wie die ersten Ansätze der neueren Diakonie auf die Zeit der Freiheitskriege .. , 150 zuruck. "In dem Wort Verein lag bereits etwas Herzerhebendes. Man verband sich dort zu etwas Allgemeinem, Verpflichtendem, Sittlichem, zvaa Idealen. Man konnte hier den Gebrechen der Zeit zu Leibe rücken. Wohl haben Zensur, der Polizeistaat und sein Vereinsrecht die Entwicklung gehemmt. Nur wo die Vereinszwecke den Regierungen ungefährlich erschienen, ließ man ihre Entfaltung 151 zu." Dies traf zu für die diakonischen und andere Vereinsbildungen der erweckten Kreise, die "ihre Gönner selbst im ho152 hen Adel und in Regierungsstellen besaßen." ^ Die neuere evangelische Diakonie entwickelt sich also seit ihrem Beginn gerade vermittels ihrer Organisation in Vereinen in einer - gewollten oder ungewollten - Konformität zur staatlichen Restaurationspolitik. Freilich ist diese Entwicklung im Vormärz keinesfalls konfliktlos."'^^ Zu einer offenkundigen Allianz kommt es erst nach 1848 im Rahmen des Bündnisses des liberalen Bürgertums mit den restaurativen Mächten (s.u.): "Nach 1848 ... kam es zu einer Trias.
- 71 Der sich christlich verstehende Staat, die Staatskirche, die Volkskirche bleiben möchte, und der christliche Verein finden sich, um ein christlich geformtes Volk vor der Religionsfeindschaft zu bewahren·."'^''· Der die neuere Diakonie prägende Vereinsgedanke tritt damit in eine Antithese zu jener Gestalt des Vereins, der die deutsche Aufklärung wesentlich bestimmt hat: den Vereinen als Institutionen eines öffentlich räaonnierenden bürgerlichen Publikims. Diese Vereine sind verbunden mit den ersten Ansätzen eines politischen Publizismus in Deutschland, der damals noch - gegen Ende des 18. Jahrhunderts - durch die brutale Reaktion unterdrückt wurde.^^^ In der Zeit zwischen den Freiheitskriegen und der Revolution von 1848 laufen in Deutschland die beiden widersprüchlichen Tendenzen, die sich mit der formal gleichen Organisationsform "Verein" verbinden - oft kaum voneinander unterscheidbar nebeneinander her.^^^ Die in Deutschland weitgehend unterdrückte oder jedenfalls kaum entfaltete bürgerlich-aufgeklärte Vereinsform hat sich vor 1848 kaum zu der neuen Form der Arbeiter-Assoziationen fortgebildet, - vielmehr war die Forderung nach Assoziationsfreiheit in der Revolution von 1848 ganz im aufgeklärtbürgerlichen Sinne gemeint - im Unterschied etwa zu Frankreich, wo sich das radikale Bürgertum und das entstehende Proletariat nach dem Vorbild Babeufs und Blanquis in konspirativen Geheimgesellschaften Zusammenschloß. In dieser Form der Geheimgesellschaft versuchte W i l h e l m W e i t l i n g , der "das französische Ideengut der an1 cv hebenden deutschen Sozialbewegung vermittelt" hat ^ , vor allem von der Schweiz aus die sich politisch und gesellschaftlich formierende deutsche Arbeiterschaft zu beeinflussen, freilich kaum mit Erfolg. Und diese spezifische Gestalt der Arbeiter-Assoziation, der in Deutschland keinerlei soziale Realität entsprach, wurde für W i с h e г η zum Bild der "kommunistischen" Arbeiter-Assoziation schlechthin. In Antithese zu ihr hat W i с h e r η die 159 christlichen Assoziationen entworfen. In diesem Zusammenhang gilt in besonderem Maße das Urteil, das G. B r a k e l m a n n über W i c h e r n s Sicht des Sozialismus allgemein fällt: Er "opfert ... die historisch politische Wirklichkeit seiner geschichtstheologischen K o n z e p t i o n . E i n e Theologie, die das Reich Gottes bzw. das Reich des Antichrist mit bestimmten ge-
- 72 sellschaftlichen Gestaltungea und deren Entwicklung identifizieren kann, muß zu einem Dogmatismus führen, der sowohl den Sozialismus, soweit er bei W i e h e r n überhaupt zur Kenntnis genommen wird, verzerrt^^\ als auch den Blick für eine differenzierte Analyse der sozialen Wirklichkeit, vor allem der beginnenden Arbeiterbewegung, von vorneherein verstellt. Werden theologische Urteile bzw. G-laubensaussagen in der Weise, wie es bei W i с h e r η geschieht, in einem Kausalzusammenhang festgemacht, der die Ursachen sozialer Mißstände erklären soll, so führt das zu einem Determinismus, der die autonome und hu162 mane Bewältigung sozialer Konflikte gerade verhindert. Die von W i с h e r η als Aufgabe der christlichen Assoziationen geforderte Selbsthilfe kann demnach - aufgrund der Verhaftimg der Assoziationen in dem theologischen und sozialpolitischen Kontext bei W i c h e r n - eine sozialgeschichtliche relevante Punktion im Sinne der Bewältigung sozialer Konflikte nicht entfalten. Daß die Realisierung solcher Assoziationen nicht gelungen ist, daß die I.M. vielmehr bei der ersten der von W i с h e r η geplanten drei Phasen ihres sozialen Wirkens (s.o.), nämlich bei den Assoziationen f ü r Hilfsbedürftige, Stehengeblieben ist, liegt nicht nur an der Ungunst der Stunde, sondern an W i c h e r n s Entwurf selbst. Wie weit W i c h e r n s Analyse die Wirklichkeit der beginnenden deutschen Arbeiterbewegung verfehlt, zeigt ein Blick auf die erste deutsche Arbeiter-Assoziation, der eine breitere Solidarisierung der Arbeiter auf nationaler Ebene gelang, der "Allgemeinen deutschen Arbeiterverbrüderung". Sie entstand erst während der Revolutionszeit 1848/49 und hielt sich bis 1854 gegen die Pressionen der Reaktion. In dieser Arbeiter-Assoziation sind die Anfänge der deutschen Sozialdemokratie zu sehend Der Einfluß marxistischer Vorstellungen läßt sich in der 164"Arbeiterverbrüderung" nicht feststellen , sie war vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß sie "kein Programm und kein Manifest verkündet (hat), sie hat lediglich ihre sofort wirksamen Beschlüsse ausgehandelt". "Die Grundanschauung der Arbeiterverbrüderung war nicht geeignet, ein wissenschaftliches System zu begründen oder eine Lehre zu entwickeln, aber sie gab vielen trotz großer Schwierigkeiten - die Kraft zum H a n d e l n . I h r e
- 73 "ideologische" Grundlage bestand lediglich im Postulat der "Brüderlichkeit", wie es bereits im Namen dieser Assoziation ausgedrückt war. "Mit diesem Namen konnte die Arbeiterorganisation Altes und Neues sinnvoll verbinden: die Tradition der Gesellenbruderschaften imd das christliche Gebot der Nächstenliebe mit der dritten Forderung der französischen Revolution und dem Appell an die zu Eigenbrötelei neigenden Arbeiter aus allen Gewerben und aus allen Gegenden Deutschlands, sich zu vereini166 gen. II In vielem steht die beginnende Arbeiterbewegung während der Revolutionszeit den Vorstellungen W i c h e r n s gar nicht so fern, wie man annehmen sollte. In vielen "revolutionären" Aktionen der Arbeiter und Handwerker zeigt sich der Wunsch nach 167 einer "Rückkehr zum zunftmäßigen Betrieb und Kleingewerbe". So forderte auch das während des Revolutionsjahres 1848 in Prankfurt tagende "Handwerkerparlament" die Wiederherstellung der Z ü n f t e . D i e "Arbeiterverbrüderung" hatte sich freilich bereits von solchen Forderungen abgewandt: "Verbrüderung meinte auch 'Solidarität' und damit ein Gegengewicht zur abgrenzenden Zunftverfassung wie zur isolierenden freien Konkurrenz der liberalen Wirtschaftatheorie."''^^ Aber gerade die "Arbeiterverbrüderung""distanzierte sich ... mit Nachdruck von jeder 'sozialen Revolution', weil sie nur zur Anarchie führe und im Grunde jedermann ihr zum Opfer falle. Ebenso seien 'alle socialistischen Systeme, vom Kommunismus herab bis zu den Vorschlägen B l a n c s , L e r o u x , P r o u d h o n etc.' zu verwerfen; weil sie a l l e stets nur die Forderung e i n e r , der unterdrückten, Partei enthielten. Dagegen sei die Forderung nach der 'sozialen Reform' zu stellen: 'um durch die Versöhnung aller Parteien die Kluft 170 zwischen arm und reich auszufüllen'". In einem zentralen Punkt freilich ist die "Arbeiterverbrüderung" von den Vorstellungen W i c h e r n s diametral unterschieden: Für jene war die "politische Revolution", d.h. die Durchsetzung demokratisch verfaßter Zustände in Deutschland, die Vorbedingung für die Lösung der sozialen F r a g e . A n diesem Leitbild wurde der Sozialismus kritisch gemessen und in
- 74 seinem Charakter als radikale Variante dieser Demokratisierungsforderimg erkannt. Für W i e h e r n dagegen sind Demokratie und Sozialismus in gleicher Weise eine Ausgeburt der antichristlichen Kräfte
1.245
W i e h e r n
und der Sozialismus
Die detaillierte Analyse G. B r a k e l m a n n s hat gezeigt, daß W i c h e r n s Alternativentimirf zu der beginnenden sozialistischen oder genauer: "sozial-demokratischen" Arbeiterbewegung keinesfalls auf eine profunde Kenntnis der damaligen theoretischen Diskussion begründet war, wie es in der Li1 Vi teratur zu W i c h e r n häufig unterstellt wird und daß von W 1 с h e r η "kein Ansatz zu einer theologisch-kritischen Analyse des Sozialismus gefunden wurde"^"^^. Dieses Urteil läßt sich auch durch die differenziertere Sicht, die sich in W i c h e r n s Absicht auszusprechen scheint, gerade in den christlichen Assoziationen die entstellten Wahrheitsmomente des Sozialismus in seinen "christlichen Sozialismus" hinüberzuretten, nicht modifizieren. Denn dieses Wahrheitsmoment liegt für W i e h e r n allein in der existentiellen Erfahrung des Elends durch die "handarbeitenden Klassen" und in ihrer Sehnsucht, nicht aber in deren theoretischer Reflexion durch den Sozialismus. Diese kommt für W i с h e r η nur als die Ausgeburt anarchistischer Intellektueller in den Blick, erfunden mit der erklärten Absicht, die im Grunde "guten", weil getauften Volksmassen zu verführen. Ihrer Hilflosigkeit, dieser Verführung zu widerstehen, muß der "christliche Sozialismus" zur Seite treten. Eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem frühen Sozialismus und W i с h e r η läßt sich freilich trotzdem, wenn auch nur in einem sehr allgemeinen Rahmen, feststellen: "Insofern stellt der christliche Sozialismus W i c h e r n s , geistesgeachichtlich betrachtet, eine Parallele dar zu der Abwendung vom idealistischen Spiritualismus zunächst bei den Linkshegelianern, dann besonders bei K a r l M a r x und bei S ö r e n K i e r k e g a a r d . Bei W i с h e r η vollzieht sich auf kirchlich-theologischer Ebene ein Ähnliches wie bei
- 75 den Linkahegelianern auf allgemein philosophischem Gebiet. Die Kategorie des individuellen und kollektiven Aktivismus ist ge17S Wonnen." Wenn also diese Gemeinsamkeit in dem Drängen nach Praxis konstatiert werden kann, so stellt sich
W i с h e r η
nicht
der Frage, ob nicht der Sozialismus eine mögliche oder gar angemessene Anleitung zu einer theoretisch reflektierten Praxis unter veränderten sozialen und ökonomischen Bedingungen sein könne. Die Korrelation des Sozialismus zu einer spezifischen sozialgeschichtlichen Situation kann
W i с h e r η
nicht wahr-
nehmen, er muß seine Entstehung daher im Bewußtsein moralisch minderwertiger Individuen lokalisieren. Inwiefern , W i c h e r n s Unfähigkeit, sozialgeschichtliche Entwicklungen angemessen zu reflektieren, sein Programm geradezu für die konterrevolutionäre und antidemokratische Verwendving seitens der preußischen Konservativen prädisponiert, läßt sich zeigen, wenn man seinen Plan der Integration der "handarbeitenden Klassen" mit einer Analyse der sozialgeschichtlichen Situation an Hand der Begriffsgeschichte von "Proletariat" auf dem Hintergrund des älteren Begriffes "Pöbel" vergleicht. Gerade daran lassen sich die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen für die Entstehung des Sozialismus in Deutschland aufhellen. Der Terminus "Pöbel" bezeichnet eine soziale Schicht innerhalb der ständisch-herrschaftlichen Gesellschaft, "gleichsam die Unterständischen, die aber doch ständisch gebändigt 176 waren".
Obgleich der "ordo plebejus" oder "Pöbelstand" in
dieser Gesellschaft eine Grenzexistenz führte, war diese doch auf ihn angewiesen, deshalb war dieser Stand auch in die feste ständische Ordnung eingefügt, er stellte keineswegs so etwas wie ein "asoziales" Element dar. "Der 'Pöbel' der ständischen Gesellschaft war auf engem Lebensraum begrenzt und in seiner Vermehrung gehemmt. Er war nicht minder als die Bauern durch die Tragfähigkeit und die Arbeitsverfassung des Dorfes in seiner Familienzahl festgelegt Diese Beschränkungen wurden im Gefolge der "Hevolutionierung der Landwirtschaft" aufgehoben. Sie sollte durch eine Aktivierung der Unterprivilegierten zu einer Belebung der auf-
- 76 grund der napcleoniвoben Besetzung und der Kontinentalsperre stagnierenden Agrarwirtschaft fuhren. Das hatte freilich zur Konsequenz "nicht nur die Freizügigkeit und die Preisetzung neuer Arbeitskraft, sondern auch die 'Staatsxmmittelbcu^keit der Massenarmut'. Da der Gegensatz zwischen arm und reich nioht mehr eingebunden war in den Rahmen der 7amilie, des Hausstandes, brach er offen auf; neu sich bildende Klassen wurden sich ihrer Not und der Aussichtslosigkeit ihrer wirtschaftlichen Lage beDamit sprengte der "Pöbel" die ihm gezogenen Grenzen, das gilt zunächst quantitativ, dann aber auch qualitativ: das alte Ordnungs- und Wertsystem der ständischen Oesellsohaft verlor für diese Schicht seine (rUltigkeit, da es nicht mehr in der Lage 17Q war, den überwuchernden Pöbel zu integrieren. Dieses qualitativ Neue, die Infragestellung der ständischen flesellschaft im Ganzen reflektiert sich in dem Terminus "Proletariat", der seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts allgemein üblich w\irde. Er bezeichnet die in ständiger Expansion befindliche neue Klasse derer, die - im Unterschied zum alten "Pöbel" - von der sozialen Ordnung und der darin festgelegten Sicherung und Entfaltung der Existenz ausgeschlossen waren. "Schon vor L o r e n z v. S t e i n und K a r l M a r x läßt sich auch in Deutschland beobachten, wie die Torstellung einer als verderblich und gefährlich angesehenen Zweiklassenschichttmg sich ausbreitete, noch ehe sie durch frühsozialistische Theorien ergriffen oder mit dem Industrialismus in Beziehung gesetzt wur1 fìO de" , wobei das Verhältnis dieser beiden Klassen zueinander mehr und mehr als ein antagonistisches gesehen wurde. Das Heraustreten des "Pöbels" aus seinen alten Grenzen und damit seine Neukonstituierung als "Proletariat" ist nun keinesfalls ein Produkt der Industrialisierung, sondern geht - in Deutschland 1 ñ1 dieser bereits voraus. Das Massenelend der ersten Hälfte des 19· Jahrhunderts hat seinen Grund darin, daß die alte agrarische Gesellschaft mehr war, und das die neue industrielle Gesellschaft1R2 noch nicht innicht der Lage "Proletariat" zu integrieren. Zu einer durchgreifenden Industrialisierung kam es erst von 1850 an und in ihrem Gefolge auch zu einer Neukonstituierung der durch die Restauration unterdrückten Arbeiterbewegung, die nun
- 77 eine eindeutig "sozialiatische" Prägung erhielt, wobei damit alles andere als eine Homogenität bezeichnet ist. Mit der Industrialisierung war freilich die Zweiklassenschichtimg der deutschen Sesellschaft nicht etwa überwunden, sondern erat recht befestigt. Neu war nur, daß sich das "Proletariat" dieser Schichtung auch bewußt geworden war. Die Industrialisierung in Deutschland war so sehr auf Kosten der Arbeiterschaft gegangen, daß eine Polarisierung der Klassen unaufhaltsam war. Auf der einen Seite verbündeten sich die ursprünglich in harten Konflikten gegeneinander stehenden Gruppen, das liberale Bürgertum, der Träger der Industrialisierung, das preußische Beamtentum und die Repräsentanten der alten feudalen Mächte, der preußische Adel. Auf der anderen Seite organisierte sich das Proletariat, das seine gerade entdeckte Autonomie nur gegen den íührungsanspruch jenes Bündnisses durchsetzen konnte. Die Koalition alter und neuer Pührungsschichten der Gesellschaft, die dem Proletariat gegenüberstand, resultiert daraus, daß der Pehlschlag des politischen Programms des liberalen Bürgertums nach 1848 entschädigt wurde durch die Durchsetzung seiner wirtschaftlichen Z i e l e . D i e s e Ziele waren aber nur zu verwirklichen, wenn man sich mit der nach 1848 herrschenden Restauration politisch arrangierte. Das Streben nach einer starken Nationalwirtschaft brachte die ursprünglich divergierenden Interessen zur Deckung. So kam es zu einer Art "Arbeitsteilung von Adel, Grundbesitz und Bürgertum ..., die wirtschaftlich Führenden anerkannten die traditionelle politische Pührungsschicht in Adel, Grundbesitz und Verwaltung ... Die industrielle Revolution und die Furcht vor deren 'Hauptprodukt': der sozialen Frage, wurden zur treibenden Kraft der Entwicki ftX lung." Diese Furcht mußte jede Liberalisierimg auch auf politischem Gebiet verhindern: "Von nun an war die 'soziale Gefahr' das Motiv der bürgerlichen Forderungen nach politischer Freiheit, das heißt, der 'christlich-agrarische Staat' konnte jede Forderung nach politischer Freiheit mit dem Hinweis auf den drohenden Umsturz zum Schweigen b r i n g e n . D i e Konsequenz dieser Verbindung von liberalen und feudalen Mächten war, daß die Sozialstrukturen der beginnenden industriellen Gesellschaft die Form einer "neuen Feudalität" annahmen. Die Betriebe waren
- 78 nicht andera organisiert ale die ostelbischen GutsherrschaftenJö6 In dieser Konstellation erhielt die Organisationsform der "Assoziationen" erneut eine sozialgeschiohtliche Bedeutung. In der beginnenden Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung und der Sozialdemokratie wurde die Selbsthilfe der Notleidenden, die
W i с h e r η
gefordert hatte,im Sinne einer radi-
kalisierten Form der aufklärerischen Autonomie interpretiert und zugleich als Porderimg nach Demokratie gegen deren Verhin1RT derung durch den monarchisch-ständischen Staat gewendet. W i c h e r n s
Idee der Integration mußte an den aufgezeig-
ten sozialgeschichtlichen Tendenzen scheitern. Der Erfolg des Sozialismus, gerade vermittels der Assoziationen eine Befreiung aus Elend und Unterdrückung zu erreichen, erklärt sich daraus, daß er die Beflektion eben Jener sozialgeschichtlichen Entwicklung in einer Anleitung zur Veränderung ihrer Ursachen umzusetzen vermochte und nicht aus seinem Cha188 rakter als "Ersatzreligion". W i c h e r n s konträr dazu stehende Grundposition, welche im Kern während seines gesamten Wirkens unverändert bleibt, tritt bereits in seiner Ansprache anläßlich der Gründungsversammlung des Rauhen Hauses von 1833 klar hervor: Auch wenn er den Einfluß der objektiven sozialen Gegebenheiten auf die "soziale Frage" anerkennt, - so etwa mit der Peststellung, es gäbe einen "Druck der äußern Not der Familien, die wie eine alle bessern Lebensregringen überwältigende, die Gemüter erdrückende Last, als das 1 stets geöffnete Organ OQ für neu einströmende Übel sich darstellt" - , so ist er doch zutiefst überzeugt davon, daß jene Frage zuerst eine Frage der Gesinnung ist. Daher ist
W i с h e r η
der Meinung, "daß die
Armut als solche kein Übel ist, daß es vielmehr nur darauf ankommt, in welcher Gesinnung der Arme die Armut
trägt".Das
Hauptübel wird in einem Materialismus gesehen, der - wie zuvor die führenden Klassen - mit dem Sozialismus nun auch die niederen erfaßt hat. Dieser Materialismus gilt als moralischer Defekt, der im Tiefsten nur durch eine christliche Sittlichkeit 1Q1 zu beheben ist. ^ Blickt man auf jene Konsequenz der sozialgeschichtlichen Entwicklung, die oben als "neue Feudalität" gekennzeichnet
- 79 wurde, во kann man sagen, daS sich W l c h e r n s soziale Vorstellungen durchaus durchgesetzt haben, freilich um den Preis, daß die "Selbsthilfe der Notleidenden" in den Assoziationen sich im Widerspruch zu einer aesellschaft entwickelt hat, die dem SesellBchaftsbild W i c h e r n s in Tielem entspricht. Auch die christlichen Vereine reihen sich in jenes gegen das Proletariat geschlossene Bündnis ein und gerade in ih1Q2 nen ertönt der Huf nach dem Staat, Die Revolution von 1848 wird als Ausdruck eines zeitweise bestehenden Unvermögens des Staates gewertet. Seine Aufgaben haben die Vereine teilweise übernommen. Nun aber kommt auch für die Vereine alles darauf an, die staatliche Autorität wieder h e r z u s t e l l e n . I h r e Aktivität bleibt also in jenem traditionell-christlichen Grundschema der (resellschaftsauffassung, nach der Staat und Kirche die Subjekte des Handelns sind, die Sesellschaft aber deren Objekt. ^^ Das entscheidende sozialpsyohologische Moment, das eine durchgreifende Liberalisierung imd Demokratisierung in Deutschland verhinderte, die Furcht vor dem Proletariat, wird von W i с h e г η bereits in seinen Analysen der Situation des Vormärz und des Revolutionsjahres vorweggenommen, sie macht eine vorurteilsfreie Sicht der beginnenden Arbeiterbewegung unmöglich. In seiner Sozialgeschichte der Revolution von 1848 bemerkt H. S t a d e l m a n n : "Ea ist in der Tat erstaunlich, in welchem Maß die heimliche Furcht vor einem jähen Umsturz der Dinge seit der Mitte der vierziger Jahre die herrschenden Klassen durchrieselt hat. Sie hat jene Flut von Heformvorachlägen, Flugschriften, Wohltätigkeitevereinen hervorgerufen, die sich um 1845 mit der sozialen Frage beschäftigten. Wahrscheinlich liegt hier in der seelischen Unsicherheit und Gewissensqual, in der Ahnung und dem Frösteln der lebenden Generation die eigentliche Wurzel der Märzereignisse. Eine Ordnung, die nicht mehr mit gutem Gewissen gelebt wird, ist keine Ordnung mehr."^^^ Auch W i с h e r η gehört objektiv in die Reihe derer, die der Verteidigung der bestehenden Ordnung - gerade durch ihre Reformvorschläge - ein gutes Gewissen verschafften. W i c h e r n s Programm hat seinen Ort innerhalb der Faktoren, die in Deutschland eine umfassende Demokratisierung ver-
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80
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hinderten und die bis heute die Chancen für eine geeellachaftliche ümanzipation inimer erneut einengten.
1.25
Abschließende teitische Stellungnatoe zur Berufung_ der Vertreter einer ^politÌBchen_Diakonie"auf _W_i_-_ e h e r n
In der traditionellen Seachichtsschreibung über die 1.Ы. findet sich immer wieder die Behauptung, W i c h e r n a "Denkschrift" "bildete ... die bedeutendste Antwort, die damals auf eviuagelischer Seite auf das Kommuniatiache Manifeat gegeben wurde".^^^ Dieae Behauptung ist schon im Sinne eines historischen Urteils nur bedingt zutreffend: W i c h e r n a Antwort war die einzige, die eine geschichtliche Wirkung entfalten konnte. In der neueren Literatur versucht man zu zeigen, daß Männer wie V. A. H u b e r und R. Τ о d t , die freilich am Rande des Geschehens standen, weitaus angemessener auf die Herausfor1Q7 derung durch das Kommunistische Manifeat reagiert haben. yollends fragwürdig wird diese Behauptung, wenn sie im prinzipiellen Sinne gemeint ist, d.h. wenn W i c h e r n s Prontatellung gegen den Sozialismus und dessen "Überwindung" vermittels "christlicher Assoziationen» zum Grundprogramm einer heutigen "politischen Diakonie" gemacht wird, wie das bei einem der wichtigsten Vertreter der "politischen Diakonie", nämlich bei E. G e r a t e n m a i e r , impliziert zu sein acheint (a.o. 1.22). Hier wird das Scheitern von W i c h e r n a Plan der Aaaoziationen auf die mangelnde Einaicht der Verantwortlichen in Staat und Kirche und allgemein auf die Ungunst der Zeitumstände zurückgeführt. Heute meint man Grund zu der Annahme zu haben, daß diese hemmenden Faktoren fortgefallen sind, damit kann sich nun endlich W i c h e r n a ursprüngliches Programm entfalten. Unsere Analyse versuchte im Gegensatz dazu zu zeigen, daß die Ursachen des Scheiterns W i c h e r n a Programm weitgehend immanent sind. Aber auch die Autoren, welche sich kritischer als G e r a t e n m a i e r und die traditionelle Geschichtsschreibung der I.M. zu W i c h e r n äußern, unterscheiden zwischen der
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ursprünglichen "reinen Gestalt" von W i c h e r n s Progranm und dessen späterer Deformation unter dem Druck der politischen Umstände. So interpretiert S h a n a h a n Wic h e r η s Wirken als einen fortschreitenden Anpassungsprozeß, in dem seine ursprüngliche "prophetische Dhbedingtheit" 198 vor den Verhältnissen resignierte. Mit der Arbeit am Programm für den Central-Ausschuß der I.M. "begann er seinen Standpunkt vorbehaltlos dem seiner konservativen Mentoren anzupassen ... Er ließ sich völlig in die konservative Vorstellungswelt hineinnehmen, die in der Frömmigkeit1QP das einigende Band zwischen HerrSchern und Beherrschten sah".^^ Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt T h i e r : "Die I.M. konnte wider ihre ursprüngliche Intention ... als Werkzeug der Heaktion verstanden werden". Bs war der Sinn unserer Analyse, auch solche Unterscheidungen zu hinterfragen. Ein theologischer Entwurf, wie der W i с h e r η s , der so stark von der "Theologie der Romantik" ge201 prägt ist , muß sich, gerade wenn er seinen Aktivismus mit den linkshegelianischen und sozialistischen Strömungen gemeinsam hat (s.o.), zu einer - von der theologischen Begründung unabtrennbaren - politischen und 202 sozialen Ausgestaltung der "politischen Romantik" bedienen. Nach W. H o f m a n n steht die gesamte nachaufklärerische Sozial- und Ideengeschichte vor der einen entscheidenden Alternative: "Angesichts des Kontrasts zwischen Aufklärungsverheißung und gesellschaftlicher Wirklichkeit waren zwei Haltungen möglich: Die G e g e n b e w e g u n g der R o m a n t i k verwarf mit den unglücklichen Verhältnissen auch die Ideen der Aufklärung, die sie für jene mitverantwortlich machte, sie wollte hinter die Aufklärung und hinter die beginnende industriekapitalistische Epoche zurück zu den alten Gemeinschaftsbindungen der traditionalen Wirtschaftsgesellschitft. Die andere Richtung hingegen suchte die Hoffnungen der Aufklärung in den neuen Verhältnissen zu verwirklichen ... Aber indem sie (sc. die "soziale Bewegung") die Maßstäbe der Aufklärung an die Wirklichkeit anlegte, hat sie die Ideen der Aufklärung selbst weiterentwickelt und ihnen einen bestimmteren gesellschaftlichen Inhalt gegeben; die schwärmerische Erwartung wurde zu einer Lehre von den Bedingungen, Gesetzen und Trägern der Verwirklichung ausge-
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опч baut". Unsere Analyse versuchte zu zeigen, daß sich W i e h e r n entschlossen der ersteren der beiden möglichen Haltungen zugewandt hat. Und zwar geschah dies aus theologischen Grundüberzeugungen: nur vermittels der romantischen Organismustheorie, in der die theologische Pundierung ein integrierendes Moment bildet, schien ihm die gesellschaftliche und politische Relevanz des Evangeliums aussagbar zu sein. Diese Relevanz in der Auseinandersetzung mit den theologiekritischen Aussagen der aufklärerischen und sozialistischen Theorien neu zu bestimmen, war für W i с h e r η keine Möglichkeit. Der Rückgriff auf W i e h e r n und insbesondere auf seinen Plan der Assoziationen in der "politischen Diakonie" ist vor allem deshalb kritisch zu befragen, weil jener Plan sowohl faktisch als auch nach W i c h e r n s Selbstverständnis in einem ausschließenden Gegensatz zur Demokratie steht, - auf den Nachweis dieses Tatbestandes wurde in der Untersuchung besonde204 rer Wert gelegt. die "politische Diakonie" ist es aber - ihrem Selbstverständnis nach - konstitutiv, daß sie die politische und gesellschaftliche Funktion der Kirche unter den Bedingungen und in aktiver Pörderiuig der Demokratie zu realisieren sucht (s.u.). Wenn nach den oben zitierten Äußerimgen gerade W i c h e r n s Assoziationen als Mittel demokratischer Selbstbestimmung gewertet werden, so wird damit der fundamentale Unterschied zwischen der Organisationsform gleichen Namens bei W i с h e r η und in der "sozial-demokratischen" Bewegung nicht zur Kenntnis genommen. Der Heizwert, der dem Begriff "sozialistisch" oder gar "kommunistisch" - zur Zeit W i c h e r n s offenbar schon ebenso wie heutzutage - anhaftet, sollte nicht den Blick dafür trüben, daß die Initiative von Demokratisierungsprozessen in Deutschland fast vollständig auf das Konto jener "sozialistischen" bzw. "sozial-demokratischen" Bewegung kommt, nachdem - wie gezeigt - das liberale Bürgertum sich zur Durchsetzung seiner wirtschaftlichen Interessen weitgehend mit den antidemokratischen politischen Mächten arrangiert hatte. Daß die dabei geschehene Unterdrückung von Demokratie und gesellschaftlicher Emanzipation kein bloß historisches Phänomen ist, sondern bis heute stark nachwirkt, erhellt schon aus den gleichen Begriffen, unter denen wir auf der
- 83 einen Seite - nach
H. В ö h m e
- die Entwicklung nach 1848
subsumiert haben, der "neuen Peudalität", und die andererseits die gegenwärtige gesellschaftliche Problematik erhellen sollten, die "Refeudalisierung" nach
J. H a b e r m a s
bei
.
Th. B s c h e n b u r g
und ähnlich
Die hier vorgenommene Kritik am Rückbezug der "politischen Diakonie" auf
W i e h e r n
tischen Bemerkungen W i с h e r η
deckt sich mit den folgenden kri-
B r a k e l m a n n s :
Er hält "Bemühungen,
theologisch für eine moderne Sozialtheologie
fruchtbar zu machen, (für) müßig... Auch der sogenannte e h e r n
II , der
W i e h e r n
W i -
der umfassenden Gesell-
schaf tsdiakonie im Sinne der 'gestaltenden Liebe', fußt auf den aufgezeigten unklaren bis falschen theologischen Voraussetzungen. Das Unternehmen einer evangelischen Sozialtheologie sollte deshalb den Rückgriff auf den theologischen Spätromantiker 20S W i e h e r n nicht tun". ^ Da ein solcher Rückgriff vor allem zu Beginn der Versuche, eine "politische Diakonie" zu begründen, aber offenbar geschieht, so ergibt sich daraus eine Anfrage an die verschiedenen unter diesem Stichwort stehenden Entwürfe: Inwiefern bedeutet jener Rückbezug auch, daß bestimmte Strukturmomente aus dem Programm
W i e h e r n s
in die
heutige Theorie der politischen Diakonie aufgenommen werden? Wenn sich solche Strukturmomente feststellen lassen, ist weiter zu fragen: Wie verhalten sieh diese zu der erklärten demokratischen Zielsetzung der politischen Diakonie? Die Einwände gegen eine Betrachtungsweise wie die in unserer Analyse versuchte hat besonders deutlich
E. Τ h i e r
vorge-
bracht, dem wir andererseits wichtige Anregungen für eine sozialgeschiehtliehe Lokalisierung von verdanken (s.o. 1.241). e h e r n s
T h i e r
W i e h e r n s wehrt sich dagegen,
Programm W i -
Werk lediglich als Reaktion auf die Revolution zu
verstehen: "Ein erheblicher Teil der Geschichte der I.M. kann ... unabhängig von ihr (sc. der Revolution) und von der mit ihr ausgelösten Brsehütterimg verstanden werden ... Wird es nicht beachtet, so ergeben sich Vorstellungen, die eine Minderung der Bedeutung der wirklichen geschichtlichen Kraft der I.M. mit sich führen. Was in gehorsamem Vollzug eines Auftrages zustande kam, der in der Nachfolge Jesu Christi im werdenden Industrie-
- 84 Zeitalter erteilt und angenommen wurde, wird dann zu einer Heflex- und Reaktionsbewegung, deren eigentliches Sesetz außer ihr liegt". Die Präge nach dem Verhältnis von ursprünglicher, nur theologisch zu fassender Motivation, des "gehorsamen Tollzugs eines Auftrages ... in der Nachfolge Jesu Christi", und der sowohl von W i с h e r η wie von den Vertretern der modernen "politischen Diakonie" gewollten gesamtgesellschaftlichen Auswirkung dieser Motivation, - welche sich damit in soziale Gesetzmäßigkeiten und sozialgeschichtliche Deutimgskategorien hineinbegibt, - bleibt als Zentralproblem weiterhin offen. Soviel ist aber bereits deutlich, daß der Hinweis auf den Auftrag und die Nachfolge Christi ( T h i e r ), auf die "prophetische Unbedingtheit" ( S h a n a h a n ), auf das im Tiefsten "charismatische" Wirken W i c h e r n s ( B e y r e u t h 8 r womit die Unverrechenbarkeit, die Unverfügbarkeit des wagenden Glaubens gesichert werden soll, nicht dazu berechtigt, die sozialgeschichtliche Verknüpfung und Auswirkung des Glaubens als Adiaphoron zu betrachten. Bas geschieh.t auch bei den meisten der hier herangezogenen Autoren nicht, es besteht aber doch die Tendenz, die theologische Entscheidung zur Diakonie im politisch-gesellschaftlichen Rahmen als das Unvergängliche, deren Verwirklichung im sozialgeschichtlichen Kontext aber als das Vergängliche von einander zu scheiden. Aus der hier versuchten Kritik daran ergibt sich positiv die Forderung nach einer theologischen Hermeneutik, die in der Lage ist, die sozialgeschichtliche Dimension mitzureflektieren, und sich darüber hinaus des eigenen sozialgeschichtlichen Standortes bewußt zu werden. Es wird zu fragen sein, inwiefern in der Diskussion um die "politische Diakonie" eine solche Pordertmg aufgenommen und konkretisiert wird. Aus der in der Einleitung entwickelten Intention läßt sich der nahe liegende Einwand widerlegen, es werde hier, indem W i c h e r n s Integration der Theologie in die Theorie der Romantik und der Restauration mit Methoden kritisiert wird, die dem alternativen Strang der nachaufklärerischen Tradition entlehnt sind, einer ähnlichen Integration der Theologie wie bei W i с h e r η selbst das Wort geredet - nur mit umgekehrtem
- 85 Vorzeichen. Eine solche Integration kann aber gewiß nur vermieden werden, wenn man sich der Integrationsmechanismen bewußt wird und sie zu überwinden trachtet. Dazu ist die hier angewandte Methodik unerläßlich. Diese Methodik wäre aber in der ihr zukommenden Punktion mißverstanden, wenn man meinte, mit ihr die diakonische Punktion der Kirche zureichend bestimmen zu können. Sie ist vielmehr in einem theoretischen und hermeneutischen Entwurf begründet, der Gegenstand theologischer Auseinandersetzung werden muß (s.u. 4.4).
-
86
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2.
DIB BEIDEN ÜRSERÜNGLICHBN ANSÄTZE VON "POLITISCHER DIAKONIE" т ш DEREN FORTFÜHRUNG. ERSTE EINSPRÜCHE GEGEN DAS RECHT DIESES BEGRIPPES
2.1
"Politische Diakonle" und chriatliche Politik
2.11
E u g e n _G_e_r_3_t_e_n_m_a_i_e_r_a_ Grundlegung der golitischen Diakonie_al3_Handeln_der_E:irche in_einer_ rechristianisierten Gesell3ohaft_
2.111
Die "Metamorphose" des deutschen Nationalbewußtseins als gemeinsamer Ursprving der diakonischen Neuordnung der Kirche und einer christlichen Politik
Die bisher beobachteten Motive, die für die Bildung des Begriffes einer "politischen Diakonie" konstitutiv geworden sind, - also: die Erfahrung einer erstmals gesamtgesellschaftliches Elend umgreifenden diakonischen Aktion der verfaßten Kirche, die Verschiebung "sozialer" Aufgaben innerhalb des gewandelten Verhältnisses von "öffentlichem" und "privatem" Bereich, das als Problematik der Verhältnisbestimmung von "freier" und "kirchlicher" Diakonie einerseits, von Diakonie, Sozialstaat und den Verbänden andererseits Eingang in die Auseinandersetzung um die Neubestimmimg der Diakonie nach 1945 gefunden hat, und schließlich der charakteristische Rückbezug auf die "christlich-soziale" Tradition, vor allem auf W i с h e r η , all diese Motive treten zuerst in einen systematisch entfalteten Zusammenhang bei E u g e n G e r s t e n m a i e r , dem Begründer des Hilfswerks und Exponenten einer bestimmten theologisch-politischen Ausprägung des deutschen Protestantismus in der Nachkriegszeit. Ist in der oben angeführten Debatte von einem "Kairos" der Diakonie die Rede (s.o. 1.11), so strahlt dieser nach G e r s t e n m a i e r aus auf das gesamte Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft. Die Bewältigung der verbrecherischen Bedingungen und der katastrophalen Polgen der deutschen Niederlage von 1945 gilt als ein epochales Ereignis der deutschen Geschichte, das in seiner Bedeutung nur im Vergleich mit den Prei-
- 87 heitskriegen adäquat erfaßt werden kann: Wurde durch diese eine deutsche Nationalgeschichte überhaupt erst wieder begründet, so leitet jene Bewältigung eine gänzlich neue Richtung dieser Geschichte einJ Das eigentliche Hovens dieser Wandlung liegt in Folgendem: "Bs ist ein Ereignis in der Seele und in dem Gewissen 2 des deutschen Volkes," eine "innere nationale Entscheidung ... von geistiger Qualität und sittlichem Rang",^ das als "Metamorphose" , als "Läuterung unseres nationalen Selbstbewußtseins" beschrieben werden muß.^ Dieser Prozeß ist gleich ursprünglich für die Neugestaltung der Kirche, wie sie zentral in der Forderung nach "politischer Diakonie" zum Ausdruck kommt, als auch der weltlich-staatlichen Verhältnisse in der BRD unter der Führung einer christlichen Partei. Obgleich damit eine wirklich neue Wendung angezeigt ist, so steht sie doch nicht unvermittelt in der deutschen Geschichte. Der eigentliche Geburtsort jener Metamorphose ist der Widerstand gegen Hitler, das "andere Deutschland", wie er sich vor allem im Kreisauer Kreis, dem G e r s t e n m a i e r selbst angehörte, zusammenfand und dessen historische Bedeutung am Attentat vom 20, Juli 1944 erhellt. Der Neuanfang nach 1945 ist in seinem wesentlichen inneren Gehalt gar nicht zu begreifen, wenn man nicht sieht, daß über das Scheitern des 20. Juli hinweg "jenes andere Deutschland durch die tragenden Kräfte der Bundesrepublik hindurch lebendig imd wirksam ist".^ So ist denn auch die CDU "unmittelbar aus den Katakomben des γ Widerstandes" entstanden. Das Gleiche gilt für das Hilfswerk. Auch dieses ist ein Ergebnis des Widerstandes und ein Teil von Q dessen Plänen zur Rekonstruktion Deutschlands. Die in den Planungen des Widerstandes gemachte Annahme erwies sich als richtig, daß nämlich "nach dem vollständigen Bankrott des totalitären Staatssystems zunächst nur noch der Organismus und die gestärkte Autorität der Kirchen in Deutschland als Träger eines q Hilfswerkes von öffentlicher Bedeutung in Betracht kämen. Auffällig ist bei G e r s t e n m a i e r s Wertung des Widerstandes gegen Hitler, daß der Widerstand der BK so gut wie keine Erwähnung findet. Es sind vor allem vier Punkte, in denen sich das Vermächtnis
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dea Widerstandes an die Neugestaltung im Nachkriegsdeutachland zusammenfassen läßt: 1. Die alten ideologischen Gegensätze zwischen Konservativen, Liberalen und Sozialisten müssen überwunden werden. Sie sind vorbildlich überwunden worden im Widerstand, vor allem im Kreisauer Kreis.^^ Dieses aus der Notsituation entstandene Vorbild setzt die CDU gleichsam um in die normale Praxis der parlamentarischen Demokratie. Sie unterscheidet sich damit deutlich von den aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Parteibildungen: indem sie die ideologischen Verfestigungen und Gegensätze überwunden hat, stellt sie sich dar als Partei 12 neuen Typs. Analog dazu ergibt sich für die Kirche, daß sie "der Ort erstrangiger Integration" sein muß.^^ Die Kirche verleugnet diesen ihren Auftrag, wenn sie sich in das Feld der politischen oder gar parteipolitischen Kontroverse begibt und sich so vor den Karren der Ideologien spannen läßt.^'^ 2. Jene Versöhnung des deutschen Volkes über die ideologischen Gegensätze hinweg ist nur möglich auf der Grundlage des Christentums. Wiederim ist dies vorbildlich von den Mitgliedern des Kreisauer Kreises praktiziert worden, die ihre Staats- und Gesellschaftskonzeption vom christlichen Menschenbild aus entwarfen.^^ Für H e l m u t h v o n M 0 1 t к e etwa bedeutete "das Bild des Menschen" "die göttliche Bestimmung und letzte sittliche Bindung des einzelnen, die aller Staatsraison vorgeht".^^ Und wiederum ist es 17 die CDU, die das "transzendentale Verfaßtsein des Menschen" 18 das "Ethos ... aus dem Irrationalen, Transzendenten" zur Grundlage ihrer praktischen Politik gemacht hat. Sie macht wieder Ernst mit der in der Geschichte zu demonstrierenden 1Q Tatsache, daß die Religion Vorbedingung aller Kultur ist. ^ Sie vertritt gegen den Opportunismus und den Machtkampf der 20 Interessen "eine feste Rangordnung der Werte". So ist denn auch "ein elementarer Bestandteil unseres gewandelten nationalen Bewußtseins" der "Tatbestand ..., daß die geschichtliche Erfahrung unserer Generation jedenfalls in Deutschland inzwischen viele zu einer ... neuen religiösen
- 89 Urerfahrung geführt hat ..."
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Bine unmittelbare Folge aus jener religiösen Urerfahrung ist die Tatsache, "daß die öffentliche Position der Kirche in Deutschland eine im Vergleich zu den vergangenen 150 Jahren ungewöhnliche gute und gefestigte ist." Dies resultiert aus der allgemeinen Einsicht, "daß die moralische, soziale und konservierende Kraft der christlichen Kirche von allge22 meiner Bedeutung für das öffentliche Wohl ist". Diejenigen Paktoren, welche in den letzten 150 Jahren den Stand der Kirche erschüttert haben, sind weitgehend fortgefallen. So steht etwa - nach dessen jüngsten Wandlungen das moderne wissenschaftliche Weltbild nicht mehr in pïeinem ausschließenden Gegensatz zim christlichen Glauben. 5. Das Christentum kann nur eine Grundlage für die Versöhnung der ideologischen Gegensätze sein, wenn es seine eigenen internen Gegensätze, die Konfessionalisierung also, überwindet. In der Fortführung dieses vor allem von A l f r e d D e l p betonten Grundelementes des Widerstandes, der "Tatgemein24. Schaft des einen christlichen Gewissens", hat "die lange bestehende politische Heimatlosigkeit des deutschen Protestantismus mit der Errichtung der CDU/CSU ein Ende gefunden 25 ..." Eben weil diese aus echter Versöhnung zwischen den Konfessionen entstanden ist, ist sie über den Verdacht erhaben, bloßer Ausdruck konfessionell-klerikaler Machtgelüste zu sein. Das Pendant zu dieser politischen Entwicklung stellt kirchlicherseits die Ökumenische Bewegung dar. Zwar reicht diese hinter den 2. Weltkrieg zurück - und G e r s t e n m a i e r hat als Herausgeber des deutschen Beitrages für die Oxforder Weltkirchenkonferenz von 1957 bereits an die2Й ser Phase Anteil gehabt -, doch tritt sie erst nach 1945 in ihr entscheidendes Stadium. War schon das Hilfswerk von Anfang an im Rahmen der Ökumene geplant und nur durch die Ökumene getragen und funktionsfähig, so wird die Konferenz von 1948 zur eigentlichen Geburtsstunde der Ökumene. Das Hilfswerk hat für den deutschen Bereich zum ersten Mal in der neueren Kirchengeschichte die konfessionelle Zersplitte-
- 90 rung überwinden können: "Seit den Tagen der Heformation hat ез auf deutschem Boden keinen kirchlichen Zusammenschluß von 28 dieser Sröße gegeben." Als sichtbares Zeichen einer erneuerten Kirche tritt also das Hilfswerk in seiner epochalen Bedeutung, welche nur an der Reformation zu messen ist, mit gleichem Gewicht neben die politischen Auswirkungen der Metamorphose des deutschen Nationalbewußtseins, für deren Verständnis an die Freiheitskriege erinnert werden muß (s.o.). In ihrer politischen Bedeutung konvergiert die ökumenische Bewegung wiederum mit den politischen Intentionen, die - auf der Grundlage der konfessionellen Aussöhnung - seitens der CDU vertreten werden: Seit N a t h a n S ö d e r b l o m geht es neben der Darstellung der Einheit der christlichen Kirche "um die Behauptung und Bewährung dieser Einheit in der Verwirklichung christlicher Grundsätze im öffentlichen Leben - in der Politik wie in der Wirtschaft und Erziehung". ^^ 4. Schließlich ergibt sich aus der von A. D e 1 ρ programmatisch verkündeten "Tatgemeinschaft" der Christen eine neue Gestalt von Kirche und Gemeinde. Wiederum initiiert das Hilfswerk diese neue Gestalt. Es war "ein Test, eine Art Wagnis auf das Bild von der Kirche", das von den Verzerrungen der "Behörden- und Pastorenkirche" gereinigt ist. Fundamental ist dabei die Überzeugung, "daß die Gemeinde Jesu nicht nur eine Denkgemeinschaft ist, in der man sich über gemeinsame religiöse Ansichten verständigt hat". Sie ist vielmehr "ein Seinshaftes und darum auch ... eine Tatgemeinschaft"'®. "Das Christentum ist keine Theorie, sondern eine Praxis!"'^ "Die Kirche ist weder eine Denk- noch eine Weltanschauxmgsgemeinschaft. Die Kirche ist vielmehr brüderliche Lebensgemeinschaft ... Die Not und das Elend unserer Kirche ist nicht, daß die moderne Kultur, daß die Technik oder die Politik die Menschen unserer Tage von der Kirche entfremdet ... Nein, das Elend unserer Kirche ist dies, daß sie vielen nur eine schöne oder schlechte Theorie ist, nur eine etwas 32 verstaubte oder ehrwürdige moralische Institution..."·^ Angesichts des realen Elends im Nachkriegsdeutschland hat das Hilfswerk die Chance wahrgenommen, dieses spezifische
- 91 "Blend" der Kirche zu tiberwinden, indem es alles auf Realität und Praxis abstellte und so das Fundament legte, auf dem "eine neue Diakonische Epoche unserer Gresamtkirche" aufbauen kann.^' Gelangt demnach die Programmatik des Widerstandes in der nationalen Neubesinnung und deren Konsequenzen im sittlichen, politischen und kirchlichen Leben der BRD zu ihrem Ziel, so liegt darin zugleich das Telos der gesamten modernen Geschichte, wie sie von den im 19. Jahrhundert entstandenen Gegensätzen erschüttert und bewegt worden ist. G e r s t e n m a i e r s Aussagen in dieser welthistorischen Perspektive stehen ganz unter dem Thema der Versöhnung der Gegensätze. Diese gründet zutiefst in einem nur theologisch zu fassenden Geschehen, daher bleibt auch demjenigen, der "nicht an die geheimnisvoll wirkende Macht der Versöhnung glaubt", die reale Basis der deutschen Nachkriegs34 Politik verborgen. In Entsprechung zu dieser geheimnisvollen Macht ist Versöhnung aber dann auch das politisch aktiv Gewollte, das in den Grundlagen und Grundsätzen der CDU seinen Ausdruck findet. "Versöhnung" heißt dann die Überwindung des seit dem 19. Jahrhundert tödlichen Gegensatzes zwischen Konservativismus, Liberalismus und Sozialismus in einer neuen Synthese. Daa problematischste Element ist dabei das sozialistische. Dieses wirkt sich in dem von G e r s t e n m a i e r allein gewürdigten Teil des deutschen Widerstandes aus"in der Infragestellung des bürgerlichen Selbstbewußtseins" und 35 "in einem geschärften sozialen Verantwortungsbewußtsein". Das antibürgerliche Pathos kennzeichnet vor allem G e r s t e n m a i e r s frühe Aussagen über die Konzeption des Hilfswerkes und deren sozialpolitische Konsequenzen: "Es ist tragisch, daß gerade auf evangelischem Boden die Besitzordnung der bürgerlichen Welt eine Art Ausschließlichkeit erlangt hat."'^ Solche Töne verstummen im Verlauf der Konsolidierung der EKD und der BRD mehr und mehr. In seiner Rede vor dem Bundesparteitag der CDÜ von 1956 konstatiert G e r s t e n m a i e r befriedigt, daB die Partei von ihren eigenen Forderungen nach einer Veränderung der bürgerlich-kapitalistischen Besitzverteilung, die im 37 "Ahlener Programm" der CDU ausgesprochen waren, abgerückt ist.-^' Jetzt fei-
- 92 ert er die "freie Marktwirtschaft" als einen integrierenden "Teil im größeren Rahmen eines nicht nur der materiellen, sondern der geistigen und sittlichen Gesimdung und seiner gesellschaftlichen Neuordnung entgegenschreitenden Volkes".'® Ihre sittliche Bedeutung besteht darin, daß in ihr "der Einzelne das Risiko seines Lebens und seiner Existenz übernehmen und behalten muß". Nur in der sozialen Marktwirtschaft kann sich ein neues Verständnis der Arbeit, gerade der industriellen Arbeit, entfalten, "das da und dort Jenen charakteristischen Zug zum Transzendieren auf ein Hintergründiges annimmt..."^® Da der Sozialismus dem Menschen mit seiner Eigenverantwortung auch die Möglichkeit zu diesem Transzendieren nimmt, gilt er, der doch lu-sprUnglich in der Programmatik der CDU versöhnt und aufgenommen werden sollte, sowohl in der Porm des Staatssozialismus im Ostblock als auch in der Form des Neosozialismus der SPD - zwischen denen freilich auch nach G e r s t e n m a i e r differenziert werden muß - als eine Position, der gegenüber es "heute in Deutschland nur ein Entweder-Oder gibt.""^^ Auch der Liberalismus wird nur in der Gestalt rezipiert, die er durch F r i e d r i c h N a u m a n n s Annäherung an die sozialen und nationalen Vorstellungen der Sozialkonservativen erhalten 4-2 hat. Und dieses, das aozialkonservative bzw. das christlichsoziale Element, kommt bei näherem Zusehen in der Programmatik der CDU wie der einer diakonisch erneuerten Kirche allein zum Zuge. Zunächst weiß sich G e r s t e n m a i e r in seinem theologischen Denken völlig dieser Tradition verpflichtet. Sein Lehrer F r i e d r i c h B r u n s t ä d , der letzte Vorsitzende des Kirchlich-sozialen Bundes, gilt ihm "als tatkräftiger Hüter und Förderer des christlich-sozialen Erbes", der "unmittelbar auf dem Boden und in der Tradition J o h a n n H i n r i c h W i c h e r n s und A d o l f S t o e c k e r s " steht. Für G e r s t e n m a i e r hat B r u n s t ä d "seinerzeit ... beispielhaft vorgelebt, was es heißt, konservativ zu sein."^ Von dieser Tradition herkommend kann sich G e r s t e n m a i e r deshalb am Widerstand beteiligen, weil auch dieser "eine konservativ geführte Revolution" war.'^^ Im historischen Rückblick aus der nach 1945 gewandelten Situation stellt sich die
- 93 Tendenz der neueren Geschichte, wie sie etwa im Emanzipationsprozeß der Arbeiterschaft manifest wird, dar als der immer wieder unterbrochene und unterdrückte, nun aber endlich zu seinem Ziel gelangte Siegeslauf der christlich-sozialen Idee über ihren sie tödlich bedrohenden Widersacher, den Marxismus.^^ Der Geist der Wandlung im nationalen Selbstbewußtsein der Deutschen, der in der CDU, vor allem in deren GrUndungsaufrufen und frühen Programmen, einen adäquaten Ausdruck gefunden hat, muß in der Entwicklung der BHD seine Bewährungsprobe bestehen, und er ist - das ist
G e r s t e n m a i e r s
Überzeugung -
imner stärker bedroht. Je weiter diese Entwicklung fortschreitet. Der aggressive sowjetische Kommunismus, der sein unerträgliches wahres Gesicht in der Spaltung Deutschlands und im Ausschluß eines Drittels des deutschen Volkes von seiner freiheitlichen Selbstbestimmung zeigt, der Hang zur Staatsomnipotenz und die Vermassung ordnen sich für
G e r s t e n m a i e r
als von außen einwirkende und im Innern virulente Symptome eines Syndroms zusammen, welches den aus dem Geist des nationalen Wandels und somit wesentlich von der CDU konzipierten und realisierten freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat in der BRD tödlich bedroht. Dieser Bedrohung kann man nur entgegentreten mit der Parole: "Unserem Ursprung treu"!'^'^ Wie denn überhaupt der Sinn einer christlichen Politik in der Rückkehr zu den Ur-
ia
Sprüngen besteht. Das Verhältnis zwischen demokratischem Rechtsstaat und sowjetischem Konmunismus ist durch eii^feradezu manichäischen Gegensatz bestimmt: "In Gesprächen mit russischen Politikern und Diplomaten kommt mir immer wieder der Zweifel, ob sie - so intelligent sie auch sein mögen - überhaupt verstehen, was wir sagen, wovon wir eigentlich reden, wenn wir vom 'menschlichen Menschen' und seinem Staat sprechen. Der Gegensatz hat sich in den letzten hundert Jahren so vertieft, daß die selben Worte ganz verschiedene Inhalte gewonnen haben. Die Spaltung der Welt reicht bis in die Fundamente der menschlichen Glaubens-, Denkund Sprachmöglichkeiten. Wo die Verständigung gelegentlich dennoch erfolgt, ist sie ein W u n d e r . D a man sich auf solche Wunder in der Politik nicht verlassen kann, ist die politische und militärische Integration der BRD in den freien Westen die einzig
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angemessene Haltung in Jenem Gegensatz. Die Wiederaufrüstung ist unaufgebbarer Bestandteil einer christlichen Politik, die auf dem theologisch legitimen Hecht, ja der sittlichen Pflicht zum Widerstand aufbaut, deren kategorische Geltimg auch durch die veränderte Situation, die Möglichkeit einer atomaren Total50 Vernichtung der Menschheit, nicht relativiert werden darf. Die manichäische Sicht, die G e r s t e n m a i e r dabei einnimmt, erhellt auch aus seiner Wertung der Grenzen im Nachkriegsdeutschland. Sind Grenzen als Ausdruck des menschlichen UrbedUrfnisses nach Heimat und Eigentum Gottesordnung, so gilt von den unter kommunistischem Terror zustandegekommenen Grenzen der Zonen- oder Oder-Neiße-Grenze, daß sie vielmehr Ausdruck teuflischer Ordnung sind.^^ Der kommunistische Terror ist die schlimmste Konsequenz des egalitären Denkens, der brutalen Gleichmacherei, wie denn überhaupt das Charakteristikum totalitärer Herrschaft, sei sie faschistisch oder kommunistisch, darin besteht, daß nicht nur die äußere Ordnung durch den Staat gewahrt wird, sondern daß die "Unterwerfung der persönlichsten Sphäre des Menschen unter die Herrschaft einer Gruppe, einer Partei oder eines Mannes, die Beschlagnahme des inneren Eigenlebens des Menschen durch die 52 Staatsgewalt" gewaltsam durchgesetzt wird.^ Deshalb ist dér kommunistische Staat "im Kern wider Gott und den Menschen", weil er frevelnd in das Herrschaftsrecht Gottes eingreift.^^ Aber auch in seinen weniger brutalen Konsequenzen stellt das egalitäre Denken eine Bedrohung dar, weil die aus ihm erwachsenen politischen Konzeptionen den alarmierenden Trend zur Vermassung noch befördern, statt diesem entgegenzuwirken. Der doktrinäre und illusionäre Charakter des egalitären Denkens kommt für G e r s t e n m a i e r darin zum Ausdruck, daß, wie es vor allem sozialistische und sozialdemokratische Theoretiker tun, die für Staat und Gesellschaft lebenswichtige Punktion der Elite geleugnet wird, deren Platz die Masse selbst einnehmen soll. Die die Freiheit bedrohende Seite dieses Denkens zeigt sich, wenn - wiederum von Seiten des Neosozialismus in der SPD - die These verfochten wird, der soziale Rechtsstaat müsse zum "Versorgungsstaat" fortgebildet werden.^^ Viährend der soziale Rechtsstaat gerade auf die Grenzziehimg gegenüber
- 95 dem persönlichen Bereich bedacht ist und die persönliche Eigenleistung voraussetzt, sich also gegen jede Staatsomnipotenz wehrt, läuft der Versorgungsstaat oder der mit ihm gleichgesetzte "Wohlfahrtsstaat" darauf hinaus, "daß der so gesicherte Bürger dann auch vom Staat kontrolliert und abhängig wird".^^ In seiner Hede vor dem Bundesparteitag der CDU von 1958 stellt G e r s t e n m a i e r die brennende Aktualität jener Bedrohung fest. Sie besteht darin, "daß wir in allem Wesentlichen die Grenzen des sozialen Rechtsstaates erreicht haben. Wir haben keinen großen Spielraum mehr. Treten wir über ihn hinaus, so besteht die Gefahr, daß wir kopfüber in das Gesellschaftskonzept des modernen Sozialismus stürzen. Er weiß nichts anderes, als durch die weitere Ausdehnung der Staatskompetenzen die 57 egalitäre Massengesellschaft zu organisieren..." Jenes Syndrom, das die Neuordnung in Deutschland gefährdet, läßt sich also auf die zwar verschieden aufgefächerte, aber dennoch bedrohlich zusammte α wirkende Ausstrahlung der marxistischsozialistischen Ideologie und vor allem dessen Egalitätsprinzip zurückführen. Zwar verkennt G e r s t e n m a i e r nicht, daß dem objektive gesellschaftliche Trends korrespondieren. Die Problematik des Sozialstaates, sein Hang zum Totalitären, ist ein Phänomen, das die geistigen Väter der CDU, die Sozialkonservativen und die zum Sozialstaat bekehrten Liberalen so nicht gesehen haben. G e r s t e n m a i e r kann nur "mit Sorge betrachten, ... daß diese gewaltigen sozialen Leistungen in nicht wenigen Teilen unseres Volkes nicht nur Zufriedenheit, sondern auch steigende Ansprüche zur Folge h a b e n . D i e s e n Trends, dem steigenden Konformismus der Massengesellschaft und der diesem korrespondierenden Ausdehnung staatlicher Machtbefugnisse, kann jedoch nur begegnet werden, wenn man nicht, wie es die SPD will, diese auch noch vorantreibt, sondern wenn man sie in der Rückbesinnung auf die Ursprünge als Fremdkörper in dem neuen sozialen Rechtsstaat begreift und bekämpft. Diese Rückbesinnung auf das Movens, die Metamorphose des nationalen Bewußtseins und dessen innersten Kern, das religiöse Urerlebnis, heißt hier insbesondere die Rückbesinnung auf die darin beschlossene Erkenntnis der Konvergenz von christlichem und parlamentarisch-demokratischem Personalismus. Besteht die
- 96 wesentliche Aufgabe der Kirche angeaichts der gesellschaftlichen Bedrohung der Person darin, ihr zur Einheit zu verhelfen59 « so streitet die parlamentarische Demokratie in der Tradition T o o q u e v i l l e s "um die Hettung des Menschen, um die Bewahrung seiner Person ... vor dem Leviathan Massenstaat".^® Der demokratische Personalismus steht in einem ausschließenden Gegensatz,wie gegenüber dem kommunistischen Kollektivismus, so auch gegenüber den Tendenzen zur Vermassxmg in der westlichen Welt. Seine Aufgabe besteht darin, "Barrieren gegen die Vermassung zu errichten".^^ 2.112
S e r s t e n m a i e r s theologisches Fundament: die Theologie der Schöpfungsordnungen
Die einzige umfassende systematisch-theologische Untersuchung G e r s t e n m a i e r s ist das Buch "Die Kirche und die Schöpfung. Eine theologische Besinnung zu dem Dienst der Kirche an der Welt." von 1938. In ihm finden sich bereits die theologischen Grundpositionen, welche - freilich in bestimmter Modifikation - für G e r s t e n m a i e r s Aussagen nach 1945 maßgeblich bleiben. Jene Untersuchung entfaltet eine Lehre von den Schöpfungsordnungen , die den Totalitätsanspruch Gottes an die Welt im Gegensatz zu einer verengt christologisch ansetzenden Theologie auslegt.^' Innerhalb der gemeinsamen Richtung der neulutherischen Theologie, die die Ordnungen auf die Schöpfung und nicht auf den Fall begründet, gewinnt G e r s t e n m a i e r dadurch besonderes Profil, daß er das geschichtliche Moment der Ordnungen besonders akzentuiert.^^ "Geschichtlichkeit" wird von G e r s t e n m a i e r bestimmt als "Korrelation von Freiheit und Gemeinschaft".^^ Das Verhältnis dieser Geschichtlichkeit zu den naturhaften, "vorgeschichtlichen" Gegebenheiten wie "Blut und Boden, Geschlecht und Rasse" stellt sich dann folgendermaßen dar: sie "sind nicht 'an sich' oder für sich, sondern sind auf das geschichteschaffende Volk geordnet. Sie haben darum keine eigene Würde, sondern einen Zweck. Sie sind nicht der Grund, die prima causa der Geschichte, sondern ihre conditio sine qua non".^^ Analog dazu wird das
- 97 Verhältnis von personaler ïÎeiheit und Gemeinschaft bestimmt: "Die Gemeinschaft, in die wir gestellt sind, ist zwar nicht der Grund (prima causa) unserer Freiheit als Person, sondern ihre Bedingung (conditio sine qua non)."^"^ All diese Bestimmungen konvergieren in der Schöpferordnung des Volkes: "Volk ist in seiner geschichtlichen Ganzheit und Besonderheit Schöpferord68 nung". Es ist "geschichtliche Individualität, ... konkrete personenhafte Ganzheit ...". "Als übergreifende Gemeinschaft ist das Volk die den einzelnen jeweils betreffende raumzeitliche Ganzheit, aus der er seinen Ursprung hat. Der einzelne ist ein Gestaltmoment, innerhalb der geschichtlichen Gestalt seines V o l k e s . I m Volk kommen die naturhaften Gegebenheiten und 70 Bedingungen menschlicher Existenz zu ihrem personalen Ziel. So stellt denn auch das Volk "das eigentümliche Schnittfeld 71
in der Begegnung und Beziehung von Kirche und Staat" dar , wobei Beziehung und Verschiedenheit in der Bestimmung des jeweiligen "Integrationszentrums" zum Ausdruck kommt. Von Gott sind beide, aber während das Integrationszentrum des Staates ins Reich der Schöpfung gehört, so gehört das der Kirche in das 72
Reich der Erlösung. Das Verhältnis von Staat und Kirche läßt sich also nach G e r s t e n m a i e r nur inbezug auf die primäre Gegebenheit der Schöpfungsordnung "Volk" bestimmen. Daher hat die Kirche ihre notwendige Gestalt in der Volkskirche. Darin ereignet sich die "Verleiblichung der Kirche als - konkret-anhebendes - heilendes, rettendes Handeln Gottes an seiner 73 Schöpfung" wie denn auch "der volkseigene Staat" den "unmittelbarsten Ausdruck echter Staatlichkeit" d a r s t e l l t . W i d e r die Schöpfungsordnxmg sind nicht "die Artverschiedenheiten der Völker und Rassen..., sondern ihre Verwirrung und Vermischung, ihre negative Überkreuzung, die zur Entartung führt". Neben die "blutsmäßig-rassische Verwirrung" tritt die "geschichtlichstaatliche", wenn ein Fremdstaat einer Volksindividualität gewaltsam die Entfaltung verwehrt.Während der Staat seine Begründung darin hat, daß er das Volksgesetz verwaltet, besteht die Aufgabe der Kirche darin, dieses Gesetz als das Gesetz des Schöpfers zu bezeugen. Das Volksgesetz aber hat "seine unbedingte Kraft und Geltung ... darin, daß es individuelles Organ des Gottesgesetzes ist, das jedes Volksgesetz, soweit es wirklich
- 98 'Gesetz' ist, das heißt unbedingte Geltung hat, in seiner Grundrichtung bestimmt". Freilich darf eine solche Verhältnisbestimmung von Volksgesetz und Gesetz Gottes nicht im Sinne einer Identifikation verstanden werden, sonst "entbindet man sich von der kritischen Instanz des Gesetzes, der Offenbarung Gottes in Jesus Christus". In der Verkündigung dieser kritischen Instanz wacht die Kirche darüber, daß das Volksgesetz nicht "dem in der Offenbarung durch Christus, im Evangelium bestätigten und offen76
baren Gottesgesetz" widerspricht. Die kritische Intention des Evangeliums richtet sich also wohl gegen die im Volksleben jeweils durch die Sünde verkehrte Punktion der als "Schöpfungsordnung" und "Volksnomos" bestimmten Größen, sie läßt aber deren Struktur unangetastet. Damit ist schon der Duktus der impliziten Auseinandersetzung G e r s t e n m a i e r s mit dem nationalsozialistischen Verständnis von "Volk", "Rasse", "Blut und Boden" angegeben. Die Auseinandersetzung bewegt sich so weitgehend auf der gleichen Ebene wie die N.S.-Ideologie, daß von einer Strukturanalogie zwischen dieser und G e r s t e n m a i e r s Theologie der Ordnungen gesprochen werden muß. Die kritische Präge, ob denn "Rasse", "Blut und Boden" überhaupt positive Themen der Theologie sein können, kann im Rahmen eines solchen auf "Ordnungen" fixierten Denkens gar nicht aufkommen. Die behauptete Strukturanalogie erhellt zunächst negativ aus den Abgrenzungen, die gegenüber den anderen in der Moderne wirksamen Ideologien getrofgen werden: "Die Klasse, die ihre Diktatur aufrichtet, der Premdstaat, der seine Gewaltherrschaft übt, die kapitalistische Gesellschaft mit ihrem Ausbeutesystem - können Integrationszentren bilden, die von der Kirche samt und sonders als unechte, kreatürlich rechtlose und geschichtlich würdelose abgelehnt werden müssen". Dagegen wird "das staatliche Integrationszentrum als ein echtes, kreatürlich Gegebenes" erkannt im Verständ77
nis von "Volk im deutschen Sinn". Trotz der aufgezeigten personalen Intention der Theologie der Schöpfungsordnimgen ist diese doch vom Personverständnis des Liberalismus ebenso tief geschieden wie von den bereits genannten Ideologien, und zwar deshalb, weil jenes nicht auf Gemeinschaft und d.h. auf Volksgemeinschaft bezogen ist. "Die entscheidende Präge ist nicht die,
- 99 wieviel Unabhängigkeit der einzelne im Staat hat, sondern welche Ideengehalte die Staatsgestaltung, die iraner irgendwie Lebensgestaltimg der politischen Gemeinschaft ist, bestimmen". Die auf dem Hintergrund dieser Abgrenzungen zu sehenden positiven Aussagen machen endgültig die Strukturanalogie zwischen Theologie der Schöpfungsordnungen und N.S.-Ideologie deutlich. Diese Analogie klang schon in einigen bereits zitierten konkreten Ausführungen an, wenn etwa Rassenmischung als Entartung und damit als Widerspruch gegen die Schöpfungsordnung beurteilt wurde. Bezieht man die Bewertung von Liberalismus, Kapitalismus, Sozialismus und deutschem Verständnis des Volkes auf die geschichtliche Situation der Ablösung der Weimarer Republik durch das Dritte Reich, so können die folgenden Sätze nur als Rechtfertigung der N.S.-Herrschaft verstanden werden: "Wo immer um die Schöpfung Gottes, um ihren Bestand gekämpft wird, dort hat die Kirche die Waffen zu segnen und mitzukämpfen". "Das gilt besonders im Hinblick auf die staatlich-völkischen Reintegrationsversuche, die der Wiedergewinnung echter Gemeinschaft 79 gelten und darum im Kampf mit der Vermassung liegen". Freilich darf die ebenfalls vorhandene implizite Kritik dabei nicht übersehen werden, doch bleibt deren theoretische wie praktische Kraft von vorneherein äußerst fragwürdig, wenn sie auf der weitgehenden strukturellen Übereinstimmung mit der N.S.Ideologie basiert. Eine gewisse kritische Distanz zu dieser wird man bereits in dem geschichtlichen Ansatz von G e r s t e n m a i e r s Theologie der Schöpfungsordnungen sehen müssen, der mit der nationalsozialistischen Naturmythologie nicht konform geht. Sind "Rasse", "Blut und Boden" in der N.S.Ideologie als prima causa völkischen Lebens verstanden, so bei G e r s t e n m a i e r als conditio sine qua non in der kreatürlich-geschichtlicnen Selbstverwirklichung eines Volkes. Dieser Unterschied ist aber nichts weiter als eine Nuance innerhalb desselben ideologischen Bezugssystems. Die entscheidende explizite kritische Aussage, die freilich nicht als explizite Kritik am Nationalsozialismus kenntlich gemacht ist, lautet: Die Grenze des rechtmäßigen Anspruchs des Staates wird dann überschritten, wenn er die Volksgemeinschaft nicht mehr fördert, sondern gefährdet. Und dies geschieht sicher dort, "wo er
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(sc. der Staat) sich nicht mehr in dem völkischen Gesetz, das er verwaltet, von dem Gesetz Gottes bestimmt und gebunden weiß, wo er die Gottbezogenheit und Gottunmittelbarkeit seiner Bürger nicht mehr in Wahrheit respektiert. Indem er sich damit selbst absolut setzt, verletzt er sein eigenes rechtmäßiges Integra80 tionsζantrum". Dies ist die theologische Legitimation für den 31 "Kampf der Kirche gegen Absolutismus und Mythisierung". Wie weitgehend eine solche theologische Kritik die nationalsozialistische Herrschaft zu tolerieren bereit ist, erhellt exemplarisch aus G e r s t e n m a i e r s Bewertung des "totalitären" Charakters jener Herrschaft. Es "schafft ... nicht etwa schon der 'totalitäre' Charakter staatlichen Handelns an sich eine Kampflage zwischen Staat und Kirche", vielmehr gehört es zum legitimen Auftrag des Staates, "daß er die Einzelnen und die Gemeinschaftsgebilde innerhalb der Gesamtgemeinschaft, die sein Integrationszentrum rechtmäßig ausmacht, in diesem Sinn op 'total' umgreift". Die totalitären Integrationsversuche "heben zwar die Unabhängigkeit des Einzelnen auf, aber sie sind damit noch keine Verletzung seiner Freiheit. Servitium Dei summa libertas. Dieser Gottesdienst vollzieht sich als solcher eben in der Gemeinschaft, und zwar nicht nur der der Kirche, sondern auch der des Staates". G e r s t e n m a i e r s weitere Begründung, daß eine totale Desintegration eine entsprechende ñA "totalitäre" Reintegration nötig mache , impliziert wiederum die Hechtfertigung der historischen Entwicklung von der "total desintegrierten" Weimarer Republik zur "totalitären" Integrationspolitik des Dritten Reiches. Hier nun scheinen G e r s t e n m a i e r s Aussagen nach 1945. die - wie gezeigt - ihre kritische Spitze gerade im antitotalitären Pathos haben, in grundsätzlichem Widerspruch zu seinem Entwurf von 1938 zu stehen, so daß die Behauptung zu Beginn dieses Abschnitts, es handele sich um bloße Modifikation innerhalb eines gleichbleibenden Bezugsrahmens, in Frage gestellt wäre. Um jene These dennoch zu erhärten, soll zunächst an anderen Elementen die Kontinuität zwischen G e r s t e n m a i e r s Theologie der Schöpfungsordnungen und seinen theologischen und politischen Äußerungen nach 1945 nachgewiesen werden, um dann die weitergehende Behauptung zu belegen, dieser
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sich durchhaltende theologisch-politische Ansatz sei ideologisch, und zwar bewege er sich im gleichen ideologischen Bezugsrahmen wie die N.S.-Ideologie. Dabei ist zu fragen, ob sich auch nach 1945 Elemente finden, die ähnlich wie in den Aussagen von 1938 einen Totalitarismus tolerieren oder gar theologisch rechtfertigen. Auf die entscheidende Veränderung sei vorweg hingewiesen. Sie erhellt bereits aus den im vorigen Abschnitt dargelegten Grundpositionen des theologisch-politischen Denkens G e r s t e n m a i e r a nach 1945: Darin behauptet G e r s t e n m a i e r die Zonvergenz des christlichen und des demokratisch-liberalen Personalismus.®^ Bs wurde freilich auch bereits darauf hingewiesen, wie die Hezeption solcher liberaler Vorstellungen zu präzisieren ist: Einmal ist der "Sitz im Leben" dieser Rezeption die "soziale Marktwirtschaft", die nun eine ähnliche Punktion wie 1938 die Volksgemeinschaft einnimmt, insofern sie einzige sittliche und die Transzendenz des Menschen wahrende Alternative zur "kreatürlich würdelosen" sozialistischen Ordnung darstellt. Zum anderen ist der Liberalismus nur in seiner nationalliberalen, der sozialkonservativen Position angenäherten Spielart akzeptabel, wie sie G e r s t e n m a i er in P . N a u m a n n verkörpert sieht. In deutlicher Kontinuität zur Theologie der Schöpfungsordnungen steht schon Jenes Grunddatum, das als Ausgangspunkt von G e r s t e n m a i e r s theologisch-politischer Programmatik bestimmt wurde, die Metamorphose des deutschen Nationalbewußtseins. Nur auf der Basis des dargestellten Verständnisses von "Volk" als Schöpfimgsordnung - und dh. für G e r s t e n m a i e r : als personal-geschichtliche Überhöhung naturhafter Gegebenheiten - kann die Rede vom deutschen Volk als einem Qg "Geschichtsleib" , der eine gewachsene Einheit darstellt, verständlich werden. Wie sehr eine solche Vorstellungsweise nationalsozialistischem Gedankengut und dessen Vorläufern sich annähert, erhellt auch daraus, daß G e r s t e n m a i e r sie ausdrücklich A7von der "mythischen Vernebelung vergangener Jahre" abheben muß. Die Gefahr einer solchen Vernebelung ist dann gebannt, wenn die "Seele unseres Volkes und nicht nur dessen Vernunft" über die Gestaltung dieses "Geschichtsleibes" ent-
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OQ scheidet , und er dabei nicht naturhaft-mythischer Selbstvergötzung überlassen bleibt. Daß dieses geschieht, ist nach G e r s t e n m a i e r s Aussagen von 1938 wesentlich Aufgabe der Kirche, die durch die Verkündigung der Stiftung des Volkes durch den Schöpfer die "Seele" des Volkes eben vor solcher 8Q Selbstvergötzung bewahrt , nach den Aussagen seit 1945 ist dies ebenso Aufgabe einer am Personalismus orientierten christlichen Politik, die den neuen Götzen, der Vermassung, der Staatsomnipotenz und deren marxistisch-sozialistischer Hechtfertigung widersteht. Versteht man den Ansatz der Theologie der Schöpfungsordnungen als sich durchhaltendes Grundmotiv, so wird die Notwendigkeit, soziale Phänomene grundsätzlich in personalen Kategorien zu beschreiben, einsichtig. Die Rede vom Volk als SchöpfungsOrdnung Gottes erscheint demgegenüber - im Kontext primär politischer Aussagen - explizit relativ selten. Theologisch hat sich G e r s t e n m a i e r trotz Kritik an einigen lutherischen Verirrungen während 90
des Dritten Reiches ausdrücklich dazu bekannt.^ Das Thema klingt einigermaßen deutlich an in der oben behandelten Unterscheidung zwischen Volksgrenzen als göttlicher und teuflischer Ordnung. Expressis verbis kommt es zum Ausdruck, wenn G e r s t e n m a i e r das gewandelte nationale Bewußtsein als ein solches beschreibt, "das sich nicht zuerst von nationalen Interessen und Empfindungen bestimmen läßt, sondern von dem nach Gottes Gebot für recht und wahr Erkannten. Deutschland wird leben, nicht weil es unser Nationalgefühl unter allen Umständen so will, sondern weil es nach Gottes Ordnung leben darf und soweit es unter Gottes Gebot bleibt ... Das Nationale ist weder ein Negativum noch ein Absolutum. Es ist ein Medium göttlicher 91
Gaben und Aufgaben in der Geschichte". Die beiden letzten Sätze beschreiben die Intention der Theologie der Schöpfungsordnungen ziemlich genau und entsprechen deren Unterscheidung zwischen prima causa und conditio sine qua non. Der Wandel des nationalen Bewußtseins besteht demnach gerade darin, daß es die Verabsolutierung des Volkes, wie sie im Nationalsozialismus bis zur äußersten Konsequenz getrieben wurde, hinter sich gelassen hat, damit so das Volk in seiner relativen - und d.h. für G e r s t e n m a i e r : auf Gott, den Schöpfer, bezogenen -
- 103 Würde neu ins Bewußtsein treten konnte.Die im Wandel des nationalen Bewußtseins beschlossene Abkehr vom Nationalsozialismus entspricht dann also genau der bereits in der Theologie der Schöpfungsordnungen entwickelten Kritik an einer Selbstverabsolutierung des Volkes. Jener Wandel bedeutet also eine Rückkehr zur ursprünglichen Schöpfungsordnung, die durch den Nationalsozialismus lediglich "vernebelt" und pervertiert wurde. Wie bereits deutlich geworden ist, tritt sowohl in G e r s t e n m a i e r s Aussagen von 1938 wie in denen nach 1945 die aus der Schöpfungsordnung entwickelte Programmatik in einen exklusiven Gegensatz zu den im Gefolge der Aufklärung entstandenen Ordnungsvorstellungen, seien sie liberaler oder sozialistischer Prägung. Das gilt mit der bereits genannten Einschränkung einer Annäherung an den liberalen Personalismus. Doch wird auch dieser gegen das ihm ursprünglich inhärente Egalitätsprinzip gekehrt und damit eines wesentlichen Elementes beraubt. Das Egalitätsprinzip erscheint nun gerade als Bedrohung jedes Personalismus. G e r s t e n m a i e r ist auch hier ein guter Wahrer der christlich-sozialen Tradition, indem er deren schon bei W i с h e r η zentralen polemischen Topos gegen die aufklärerischen Traditionen eine derartig fundamentale Bedeutung für seine theologisch-politische Theorie beimißt. Eben aus jener Antithese gegen die Aufklärung erklärt sich ein Gutteil der behaupteten Strukturanalogie zwischen der Theologie der Schöpfungsordnungen und der N.S.-Ideologie. Muß jede aus der Aufklärung sich herleitende Theorie - ihrem eigenen Anspruch nach autoritätskritisch sein, so ist sowohl die Theologie der Schöpfung s Ordnungen wie die N.S.-Ideologie autoritätsstabilisierend, "autoritär". Diesen Begriff, der gerade aus der Analyse der Entstehung des Faschismus stammt, verwenden wir, um damit das gleiche Phänomen zu bezeichnen, das G e r s t e n m a i e r "totalitär" nennt. Wenn auch G e r s t e n m a i e r - nach 1945 deutlicher als 1938 - dem Nationalsozialismus das Recht abspricht, sich als echte Autorität zu setzen, so sind doch beide darin einig, daß die Überführung von "gültiger", voraufklärerisch definierter Autorität in ein neues Medium, das der demokratischen öffent92 lichkeit , nur zu einer "Zersetzung" des geordneten Volkslebens
- 104 führen kann. In der Konsequenz der Distanzierung vom Nationalsozialismus liegt es, daß das nach wie vor in personalen Kategorien und cfamit als Schöpfungsordnung beschriebene Volk in einen weiteren Kontext tritt, nämlich in den des "christlichen Abendlandes". Damit ist für G e r s t e n m a i e r die Sefahr einer Wiederholung völkischer Selbstverabsolutierung gebannt. Ein Ansatz dazu findet sich wiederum bereits 1958. Insofern das Volksgesetz als InstriMient des Gottesgesetzes an dessen "usus elenchticus", an dessen Bezug auf das in Christus geoffenbarte Evangelium, teilhat, gibt es "in der Geschichte, in die Christus eingetreten ist, ... fortan nicht mehr nur neutrale 'weltliche' Völker, die ihr kreatürlich-geschichtliches Dasein leben, sondern christliche und unchristliche. Ein 'christliches' Volk weiß, seitdem Christus über sein Volksgesetz getreten ist, verpflichtend von seinem Ursprung in der Schöpfung Gottes, es weiß um seine Schöpfungsbeatimmtheit und seine christliche Berufung 93 als Ziel seiner Geschichte". Da G e r s t e n m a i e r von der Schöpfungsordnung des Volkes bzw. vom christlichen Volk ausgeht, kann er sich zu Recht gegen die Kritik wehren, er erstrebe einen christlichen Staat. Dies ist gerade nicht die Konsequenz aus der Theologie der Schöpfungsordnungen, was von G e r s t e n m a i e r 1938 wie nach 1945 in gleicher Weise betont wird.^^ Die anzustrebende Staatsform ist nicht durch das Prädikat "christlich", sondern durch die Rechtsstaatlichkeit ausgezeichnet - wiederim eine sich auch nach 1945 durchhaltende Aussage. Gleich bleibt ebenfalls Gerstenmaiers Überzeugung, daß diese Rechtsstaatlichkeit nur im "Ethos aus dem Irrationalen, Transzendenten" begrUndbar ist. Freilich vermeidet G e r s t e n m a i e r nach 1945 den allzu disqualifizierten Begriff des Volksgesetzes und greift stattdessen direkt auf die christliche und damit rechtsstaatliche Tradition des Abendlandes zurück. Die Reintegration der zerstrittenen und zerfallenen europäischen Völkerwelt in das christliche Abendland ist das eigentliche Movens der von G e r s t e n m a i e r besonders nachdrücklich verfochtenen europäischen Einigungspolitik. Daß es zur europäischen Einigung kommt, ist nicht nur durch die äußere
- 105 kommunistisch-totalitäre Bedrohung Buropas zwingend geboten, sondern ebenso sehr durch eine innere. Die letztere zeigt sich im "Abfall von dem lebenschaffenden und ordnungsetzenden Evangelium Jesu Christi. Europa kann offenbar nicht sein ohne eine seine Mannigfaltigkeit und seine Widersprüche bändigende metaphysische Kraft. Die Ordnung Europas ist nicht lebendig und lebenbewahrend, wenn sie von ihrem Urgrund gelöst, wenn sie QC
ihres auf die Ewigkeit gerichteten Aspektes beraubt wird". So heißt Vereinigung Europas für G e r s t e n m a i e r , "die Grundlage schaffen für die geschichtlich geforderte neue Bewährung seiner Humanität ... Damit kehren die Völker Europas ... zu ihrem vornehmsten gemeinsamen Ursprung zurück: zum Christentum als der größten geschichtsbildenden Kraft Europas".^^ In den letzten beiden Zitaten sind alle Elemente versammelt, die die bereits angedeutete kritische Behauptung, hier werde ein autoritäres Gesellschaftsbild vertreten und dies sei die notwendige Konsequenz des theologischen Ansatzes, stützen können. Da ist zunächst das Ursprungsdenken, das bereits im vorigen Abschnitt als Kennzeichen christlicher Politik im Sinne G e r s t e n m a i e r s angeführt wurde. Auch dieses ist ein an typisches Merkmal der Theologie der Schöpfungsordnungen. Wird es in Beziehung gesetzt zur konkreten Entwicklungsgeschichte der europäischen Völker, wie es G e r s t e n m a l e , r mit seiner Forderung nach europäischer Integration verstanden als Reintegration in das christliche Abendland tut, so wird ein solches Ursprungsdenken romantisch. "Das 'christliche Abendland' ist heute als eine das Leben der Gesellschaft selbst tragende Idee (wenn es das jemals wirklich gewesen ist) 'romantisch'. Jede künstliche Wiederbelebung im Raum politischer Ideologien qg
ist fatal und unwahrhaftig, unverantwortlich".^ "Autoritär" ist eine solche 'Äederbelebung deshalb zu nennen, weil sie in einen Widerspruch tritt zu der seit der Aufklärung die moderne Staats- und Gesellschaftsgeschichte bestimmenden Emanzipation, welche wesentlich Emanzipation von den Ursprungsmächten ist. Und diesem Verständnis von Emanzipation ist auch die liberaldemokratische Grundordnung der BRD verpflichtet, als deren Bewahrer sich G e r s t e n m a i e r gibt. Auch diese wird mit einem solchen Ursprungsdenken um ihre geschichtliche Intention
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gebracht. Unter theologischem Aspekt erhellt an dieser Stelle der tiefe Gegensatz zwischen einer Theologie der SchöpfungaOrdnungen und einer im Ansatz und Zentrum eschatologisch sich versteQQ henden Theologie. Bereits in G e r s t e n m a i e r s Untersuchung von 1938 hat die Eschatologie einen ganz partiellen Stellenwert, analog zur Stellung des Lehrstückes "Von den letzten Dingen" in der altprotestantischen Orthodoxie. Zudem wird die Punktion der Eschatologie ganz von der Schöpfungslehre her bestimmt: Alles Interesse ist darauf gerichtet, die Eschatologie nicht im Sinne einer "Verneinung des ... Schöpfungsgutes", sondern im Sinne von dessen "Verklärung" auszulegen. Das Eschaton führt zwar nicht zum Urständ zurück, wohl aber bringt es die ursprüngliche Teleologie der Schöpfung ziir Erfüllung.^®® Ebenso tritt der eschatologische Horizont gerade in G e r s t e n m a i e r s Aussagen über christliche Politik nach 1945 fast völlig zurück. Zum anderen erhellt aus den oben zur Bedeutung des christlichen Abendlandes angeführten Zitaten G e r s t e n m a i ers Verständnis des Christentums als eines metaphysischen Integrationsprinzips. In diesem Rahmen sind auch die zentralen theologischen Aussagen - hier gemeint im speziellen Sinne von Aussagen über Gott - zu sehen. Ebenso wichtig wie die bereits angeführten Auslegungen der Prädikation Gottes als des Schöpfers sind die, in denen Gott der "Herr der Geschichte" genannt wird. Wiederum liegt die Annahme auf der Hand, es handele sich гдт eine Konsequenz aus der spezifisch geschichtlichen Passung der Theologie der Schöpfungsordnungen bei G e r s t e n m a i e r . Das Handeln des "Herrn der Geschichte" in der Situation nach 1945 beschreibt G e r s t e n m a i e r folgendermaßen: "Der Herr der Geschichte hat uns nach tiefem Sturz wieder auf die Füße gestellt. Er hat uns einen neuen Weg gezeigt und die Richtung gewiesen: Deutschland im vereinten Europa". Eine solche Erkenntnis des konkreten Willens Gottes in einer bestimmten geschichtlichen Situation gründet in dem Glauben, daß der geschichtliche Wandel weder willkürlich und sinnlos noch das Produkt materieller Interessen ist. "Er gehört zum Wellenschlag der Geschichte. Auch wenn es anders aussieht,
- 107 glauben wir doch mit der Christenheit der ganzen Erde, daß sich die Greschichte mit dem Menschen nicht im sinnlosen Wirbel dreht, sondern vom Atem Gottes getragen, einem großen Ziel zustrebt", ßerade wenn Geschichte so geglaubt wird, verfängt der Vorwurf für G e r s t e n m a i e r nicht, seine politische Programmatik bzw. die der CDU huldige restaurativen Tendenzen. Dieser Glaube macht vielmehr "davor gefeit, am unhaltbar Gewordenen zu kleben. Wir greifen in das Morgen, wenn wir zu dem stehen, was im Wandel der Staatsordnungen und Gesellschaftsformen gültig bleibt, weil es auf die wahre Berufung des Menschen gegründet 102 eine ewige Geltung hat". Trotz dieser Abwehr des Vorwurfes, restaurativ zu sein, läßt sich die These aufrecht erhalten, daß das ewig Gültige an ein statisches Gesellschaftsbild gebunden ist, zu dem sich die Geschichte als eine Bewegung der Abkehr von oder der Rückkehr zu den Ursprüngen verhält. Im Grunde beruft sich G e r s t e n m a i e r lediglich auf ein Grundbekenntnis des Konservativismus, das er mit den Worten A 1 b r e c h t G ü n t h e r s anführt: Konservativ sein heißt "nicht ein Hängen an dem, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt".^*^' Dieses Ewig-Gültige als Grund gesellschaftlicher Ordnungssetzungen ist es, wogegen sich imsere theologische und sozialgeschichtliche Kritik richtet. Unsere Behauptung läßt sich noch durch eine weitere Beobachtung stützen: Kann die Aufgabe der Kirche in der "seelenlosen" Massengesellschaft mit dem Thema "Gott und die Seele" beschrieben w e r d e n ^ s o ist dies nur dann gegen ein privatistisches MißVerständnis des Glaubens g e s i c h e r t w e n n das Verhältnis von Gott und der Seele bezogen ist auf eine "Öffentlichkeit", die als Volk mit einer als Lebenszentrum gedachten Kollektivseele verfaßt ist, welche wiederum ihren Grund in Gottes Geschichtshandeln hat. Letzteres stellt sich dar als metaphysisches Integrationsprinzip der Kollektivperson "Volk". Eine politische und gesellschaftliche Theorie, die gerade darin geschichtlich ist, daß sie eine solche Metaphysik und die ihr korrespondierende Schöpfungsordnung "Volk" in ihrer sozialgeschichtlichen Entstehung und Bedingtheit erkennt und deren ideologiekritische Stoßrichtung sich gegen eine solche Totalisierung des geschichtlich Entstandenen zum Ewig-Gültigen rieh-
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tet, kann von der Position G e r s t e n m a i e r s aus nur kompromißlos bekämpft werden, weil aie dem "Säkularismua", der "Kardinalgefahr abendländischer Kultur, ja aller christlichen, aller religiösen Existenz überhaupt", in die Hände arbeitet bzw. selbst Ausdruck desselben ist. Wesentliches Ergebnis der Deformation des Menschseins durch den Säkularismus ist "die Entlassung der öffentlichen Ordnung aus dem Gesetz Gottes". Daher ist die antisäkularistische Haltung bei G e r s t e n m a i e r schon im theologisch-politischen Ansatz, aus dem sich die Notwendigkeit zu einer "politischen Diakonie" ergibt, mitgesetzt. Ebenso entschieden richtet sich die Ablehnung gegen eine theologische Position, die aus einer radikal christologischen Auslegung des Ersten Gebotes ebenfalls zu einer antimetaphysischen und ideologiekritischen Intention gelangt. Sie liefert sich - wenn auch vielleicht ungewollt - eben jenem Säkularismus aus, bis hin zu dessen schlimmster Erscheinungsweise, dem 108 Bolschewismus. Die sich aus jener theologischen Position ergebende Antithese zu dem harmonistischen Verhältnis von Kirche und Staat, welches über die Gottesordnung des Volkes bzw. über das christliche Abendland vermittelt ist, muß als Aufruf zum "offenen Kampfzustand zwischen Kirche und Staat" gebrand10Й
markt werden. ^ Die theologische Polemik G e r s t e n m a i e r s muß sich dann konsequenterweise gegen die Aussage G . H e i n e m a n n s , daß die christliche Gemeinde "auf dem Nichts stehen soll und darf", r i c h t e n . W i r d darin versucht, die Gemeinde gerade auch im gesellschaftlichen Leben von der theologia crucis her zu bestimmen, so trägt die theologische Position G e r s t e n m a i e r s alle Kennzeichen einer theologia gloriae: Sie schmückt sich mit den metaphysischen Resten des Corpus christianum. Sie reagiert mit autoritärem Anspruch auf deren interne und externe Infragestellung. Sie verknüpft die Möglichkeit christlicher Politik mit einem thriumphalistischen Kirchenbegriff, was mit den im vorigen Abschnitt angeführten Aussagen über die neue gefestigte Stellung der Kirche in der Öffentlichkeit zu belegen ist.
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Das Verhältnis von christlicher Politik und "politischer Diakonie" bei G e r s t e n m a i e r
Besonders für die erste Phase der diakonischen Neugestaltung nach 1945, während des Aufbaus des Hilfswerks, legt G e r s t e n m a i e r besonderes Gewicht auf die Unterscheidung zwischen dieúconischem imd politischem Handeln. Er tut dies mit einer Gegenüberstellung, die im Portgang der Diskussion und auch in G e r s t e n m a i e r s eigenen späteren Äußerungen zum Thema der "politischen Diakonie" immer mehr in Präge gestellt wird: "Die Hilfe der Kirche ist charitativer und nicht politischer Art". Die näheren Bestimmungen dieses Satzes zeigen freilich schon an, daß die Gegenüberstellung auf politisches Handeln bezogen ist: "Die Hilfe der Kirche muß Nothilfe sein. Z u s ä t z l i c h e Hilfe, wo die politischen Stellen und Verwaltungsorgane funktionieren, e r s t e Hilfe, wo sie nicht oder noch nicht f u n k t i o n i e r e n ^ ^ Ein solches Verständnis der Hilfe schließt die Wahrnehme eines politischen Mandates 112 aus. Daß jene oben angeführte Gegenüberstellung eher eine traditionelle als wirklich eine die konkrete Situation des Hilfswerkes treffende Bestimmung darstellt, macht G e r s t e n m a i e r s Einschätzung dieser Situation deutlich, die sich durch zwei neue Aufgabenbereiche von der herkömmlichen Liebesarbeit der Kirche grundlegend unterscheidet: Dies sind die internationalen ökumenischen Beziehungen, die angesichts der Massennot das politische Peld nicht aussparen können, und der Bereich der Wirtschaft, dem sich das Hilfswerk nicht etwa theoretisch, sondern mit eigenen wirtschaftlichen Unternehmungen praktisch z u w a n d t e . P r e i l i c h wird diese Ausweitung der traditionellen kirchlichen Liebestätigkeit sogleich limitiert durch den Hinweis auf die Notsituation, die eine solche "erste Hilfe" erfordert. Aber dies bleibt anormal, ein der Kirche fremdes Werk,^^'^ Diese Unterscheidung des öffentlichen Handelns der Kirche vom politischen ist wiederum eine Konsequenz aus G e r s t e n m a i e r s Theologie der Schöpfungsordnungen und sie ist bereits in dieser angelegt: Der "Öffentlichkeitsanspruch (sc. der Kirche) - ein Anspruch im Staat und an den Staat - ist
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weder ein direkter (klerikal-institutioneller) noch ein (demokratisch-liberaler) politischer HerrBchaftsanspruch, sondern das öffentliche Angehot ihres seelsorgerischen Dienstes an das ganze staatliche Gemeinschaftsgefüge und darin die Berufung der davon betroffenen völkischen Gemeinschaft in die Gefolgschaft Christi".^^^ Nach 1945 bestimmt G e r s t e n m a i e r das kirchliche Handeln im Gegenüber zum politischen nicht mehr in erster Linie als Seelsorge, die doch zunächst eine personale und verbale Beziehung meint.^^^ Der Hauptakzent liegt jetzt auf der Praxis, wobei die ältere Bestimmung integriert, aber ausgeweitet ist. Unverkennbar ist überdies eine kritische 117 Spitze gegen einen bloßen Verbalismus. ' Allerdings wird bereits 1938 das öffentliche seelsorgerliche Angebot der Kirche 118 unter dem Stichwort "Dienende Kirche" entfaltet , und der Skopus dieses Verständnisses der Kirche in ihrer diakonischen Grundstruktur ist bereits der gleiche, der dann nach 1945 entfaltet wird: Wesentlich ist, "daß die Kirche nicht nur mit der oder jener ihrer Punktionen dient, sondern daß sie als solche mit ihrer ganzen Existenz dient. Das Wort, das der Kirche aufgetragen ist, fordert ihre Tat. Sie verkündigt nicht nur mit dem gesprochenen Wort, sondern auch mit dem schweigenden Tatwort der Liebe". Es wurde schon oben deutlich, daß die Unterscheidung kirchlich-diakonischen Handelns vom politischen deren Beziehung zueinander einschließt. Die Richtung, in die die Betonung dieser Beziehung zielt, wird sogleich aus der Präzisierung ersichtlich, mit der G e r s t e n m a i e r seine grundsätzliche Unterscheidung zwischen karitativem und politischem Handeln vor MißVerständnissen sichern muß: Die Diakonie des Hilfswerks an den Hungernden und an den Flüchtlingen geschieht "nicht пги· aus Barmherzigkeit", sie hat vielmehr zum Ziel, "daß ihnen eine neue Rechtsgrundlage als Basis einer neuen Existenz gewährt 120 wird". Wie stark das diakonische Handeln der Kirche auf politische, rechtlich-institutionelle Gestaltung ausgerichtet ist, wird noch deutlicher, wenn G e r s t e n m a i e r dem Hilfswerk die Aufgabe stellt, "... einen Weg zu suchen, auf dem die Freiheit der tätigen Mitverantwortung des deutschen Volkes an der Gestaltung seines Schicksals wiedergewonnen werden kann
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in der Gemeinschaft der Völker". Die theologische Legitimation einer Bolchen Forderung deutet bereits wieder den oben entwikkelten Kontext an: Eine solche politische Konsequenz des diakonischen Handelns ist vermittelt über die SchöpfungsOrdnung: "... Die Freiheit zur Verantwortung, zur tätigen Mitverantwortung ist ein Grundrecht und eine Grundpflicht des von Gott geschaffenen Menschen". Die innere Bedingung einer solchen Entwicklung stimmt - zumindest in ihrer negativen Beschreibung mit den Grundforderimgen einer christlichen Politik überein: Die Freiheit der Mitverantwortung kann nur wiedererlangt werden durch "die Abkehr von Doktrinarismus und Nihilismus, die Heimkehr von Millionen deutscher Menschen zu der stillen Gelassenheit des Friedens Gottes, der nach dem Wort des Apostels 191 Jesu Christi 'höher ist denn alle Vernunft'"."^' So stellt sich nun die Unterscheidung und die Konvergenz von politischem Handeln und der politisch-öffentlichen Dimension des diakonischen Handelns der Kirche - vor allem nach G e r s t e n m a i e r s späteren Äußerungen als des Sprechers der CDU - folgendermaßen dar: Unterschieden ist die Kirche von aller Politik im Sinne politischer Tagesfragen. Vom "Gewühl der öffentlichen Auseinandersetzung" muß sie unbehelligt bleiben, sie würde sonst ihre wesenhafte Aufgabe, Stätte 122 des Friedens, Ort wahrer Integration zu sein, verlieren. Aber in den "Grundfragen der Familienordnung, der Grenzen des Staates, der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Autorität" zielen die Kirche und die christliche Politik der CDU in die 12·^ gleiche Richtung. ^ Es ist bereits im vorigen Kapitel darauf hingewiesen worden, welche grundlegende Bedeutung G e r s t e n m a i e r s Aufsatz " W i e h e r n z w e i " und insbesondere die in ihm programmatisch erfolgte Rückbeziehung auf W i c h e r n s ursprünglichen Entwurf der Inneren Mission für die Diskussion um 124 die politische Diakonie gehabt hat. Nach dem bisher Dargelegten läßt sich auch dieser Rückbezug innerhalb des spezifischen Rahmens von G e r s t e n m a i e r s theologisch-politischen Grundpositionen noch präzisieren. Der Rückgriff auf W i с h e r η tritt nun in Parallele zu der vielfach bei G e r s t e n m a i e r zu beobachtenden Parole: "Zurück zu
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den ürsprüngen", in der wir einen Reflex dea Ursprungsdenkens der Theologie der Schöpfungsordnungen in der historischen Betrachtungsweise gesehen haben. Die Geschichte seit W i с h e r η s Denkschrift von 1849 wird, wie das auch in G e r s t e n m a i e r a politischen Äußerungen der Pali ist, als Kampf gegen den Marxismus gesehen, wobei der Gegensatz zwischen sozial-diakonischem Handeln der Kirche und marxistischer Ideologie und Praxis ähnlich exklusiv formuliert wird wie in jenen Aber er betont auch, was in den politischen Äußerungen so nicht vorkommt, "daß K a r l M a r x nicht nur ein Gericht über einige christliche Yölker, sondern auch ihre Kirchen darunter auch die evangelische Kirche Deutschlandswar". Dieses Gericht legte bloß, wieweit die Kirche von ihrer ursprünglichen diakonischen Struktur im fundamentalen neutestamentlichen Sinne der Bruderschaft abgefallen war. Auch wenn W i c h e r n s Ansätze noch so fragmentarisch waren, sie hätten genügt, wenn nur in den Gemeinden ein Boden vorhanden gewesen wäre, auf dem 1 oft dieser Keim hätte wachsen können. G e r s t e n m a i e r sieht in seiner Situation den Boden dafür wenigstens vorbereitet, so daß die soziale und politische Aktion der Diakonie zur unabweisbaren Forderimg geworden ist, die nun mit einiger Aussicht auf Erfolg realisiert werden kann. Wie W i c h e r n s Überwindung der traditionellen Diakonie auf die Bildung von "christlichen Assoziationen" zielte (s.o. 1.22), so ist auch der bedeutsamste Ansatz zur Healiaierung von " W i c h e r n I I " durch das Hilfswerk in dem Ver127 such zu sehen, "christliche Assoziationen" zu gründen. Allerdings haben sich etwa die Assoziationen der Heimatvertriebenen sehr schnell zu politischen, religiös 128 und weltanschaulich neutralen Organisationen entwickelt. Diese Entwicklung darf nach G e r s t e n m a i e r nicht nur negativ gesehen werden, denn "es geht von der Kirche aus gesehen heute zunächst darum, daß die berechtigten sozialen Ansprüche der Hilfsbedürftigen erfüllt werden und diese Erfüllung sich so vollzieht, wie es die Gerechtigkeit und die Gemeinsamkeit in einem schwere basten tragenden Volk gebieten". Dagegen kann es der Kirche nicht darum zu tun sein, "durch die Inkorporation möglichst großer Assoziationen in ihren institutionellen ... Einwirkungsbereich so etwas wie eine
- 113 129 •soziale Großmacht' zu werden". Die gewandelte Situation ist allgemein durch die Kooperationsfähigkeit zwischen der neugestalteten Diakonie des Hilfswerks und einer funktionstüchtigen staatlichen Sozialpolitik gekennzeichnet. Das Hilfswerk ist durch die Notsituation im Nachkriegsdeutschland "auf die Grenze zwischen W i c h e r n I und W i c h e r n II oder um nicht ganz adäquate, aber andeutende säkulare Begriffe zu gebrauchen, auf die Grenze von Fürsorge und Sozialpolitik" gedrängt worden. Es wurde damit zugleich die Möglichkeit eröffnet, zu einer Reorganisation der Gemeinde im Sinne der neutestamentlichen Bruderschaft zu gelangen, da ja das Hilfswerk schon institutionell als kirchliche Diakonie verfaßt ist und ohne die Basis der lebendigen diakonischen Gemeinde nicht leben kann. Jene Kooperationsfähigkeit resultiert daraus, daß ebenso wie viele innerkirchliche Gründe so auch außerkirchlich-politische dahingefallen sind, die die Programmatik von " W i с h e r η II " verkümmern ließen. Die Wandlimg wird daran augenfällig, "daß die öffentliche Polemik gegen die Kirche und ihre Diakonie in Deutschland auf ein Minimum zurückgegangen, ja verschwunden ist und die Mitarbeit der Kirche oder die Zusammenarbeit mit ihr gerne gesehen wird. Der weltanschaulich neutrale, aber freiheitlich verfaßte Staat läßt den Kirchen alle Entfaltungsfreiheit und gewährt ihnen nicht geringe Hilfe".""^® Die gewandelte Situation im politischen Bereich wird aber erst dadurch eklatant, daß dieser nun der Gestaltung durch eine christliche Politik offen steht und d.h. eine Politik, in der "der Wille zur christlichen Erfüllung der staatsbürgerlichen Verantwortung und zur Gestaltung eines Ordnungsbildes, das vor christlichem Rechtsdenken bestehen kann", voll zum Tragen kommen. ^^^ In einer solchen Politik werden die "wurzelhaften Zusammenhänge" zwischen christlicher Diakonie und moderner staatΊ -TO licher Sozialpolitik wieder zu Bewußtsein gebracht wie denn auch bei G e r s t e n m a i e r selbst und bei anderen eine stark diakonische Motivation die neuere christliche Politik in Deutschland initiiert hat.^^^ Eine so enge Beziehung darf jedoch nicht zu einer Verwischung der Grenzlinie zwischen politischer Diakonie und Politik,
- 114 auch christlicher Politik führen. Der Unterschied wird durch die verschiedenen "Leitbilder" von Kirche und Staat konstituiert. Besteht das Leitbild der Kirche darin, "Kirche der Brüderlichkeit" zu sein^'^, so ist das Leitbild des Staates "bestimmt vom Recht, das mit Macht durchgesetzt wird. Wie alle staatliche Verwirklichung kann auch die Sozialpolitik auf das Mittel der Macht und d.h. im Zweifelsfall auch der Gewalt nicht verzichten". ^ ^ Auch eine christliche Politik muß diesem Leitbild des Staates folgen: "Eine Partei, auch eine christliche Partei, die nicht Macht will, ist ein Nonsens".^^^ So kann die Diakonie ntir bestehen "1. unter ihrem eigenen Leitbild, 2. in der Freiheit vom politischen oder Interessenprogramm der andern, 1 3. unter Abstand von aller Gewalt..." ^ . Erst aus dieser Distanz kann die politische Diakonie ihre wesentliche Stoßkraft gewinnen: "Der Kampf um die diakonisch gebotene Korrektur des Leitbilds der staatlichen Sozialpolitik und damit des Leitbilds des Staates überhaupt, kann als die eigentliche Aufgabe einer politischen Diakonie bezeichnet werden". Im Rückblick auf G e r s t e n m a i e r s Theologie der Schöpfungsordnungen zeigt sich, wie sehr hier Unterscheidung und Beziehung innerhalb des gleichen Modells gedacht werden. Die Unterscheidung der verschiedenen "Leitbilder" entspricht der Unterscheidung der verschiedenen "Integrationszentren" dort. Die Korrektur, die die Diakonie am staatlichen Leitbild anbringt, entspricht der Sorge um die Hichtimg, um den Gesamtwillen eines Volkes dort. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man die Konkretisierung jener grundsätzlichen Aufgabenstellung der politischen Diakonie beachtet. Ihre legitimen und illegitimen Aufgaben werden folgendermaßen unterschieden: "Die Kirche hat zweifellos in der Frage des Elternrechts ein verbindliches Wort mitzureden. Aber wie sollte sie etwa in der Frage der Betriebsverfassung oder der Sozialisierung der Grund- und Schlüsselindustrie zu einer von Schrift und Bekenntnis geforderten, verbindlichen materiellen Entscheidung gelangen?" Fragen der
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letzteren Art sind wesentlich Ermessensfragen. ^^ Hier wird der
- 115 Aufgabenbereich der politischen Diakonie begrenzt auf die "biblischen" bzw. bekenntnisgemäßen ürordnungen. Diese notwendige Selbstbescheidimg der politischen Diakonie bedeutet insofern keine Beschränkung des Totalitätsanspruches Gottes auf die ganze Wirklichkeit, in dessen Namen - wie oben gezeigt - G e r s t e n m a i e r schon seine Theologie der Schöpfungsordnungen begründet hatte, als die politische Diakonie angewiesen bleibt auf die Kooperation mit einer christlichen Politik, welche allerdings zur "Betriebsverfassung" und zur "Sozialisierung" rechtmäßig und sachkundig Stellung nehmen kann. Ist also die politische Diakonie Ausdruck von Gottes Anspruch auf die ganze, auch die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit, muß sie aber andererseits ihrem "Leitbild" treu bleiben und d.h. sich aller Macht enthalten, so bedarf sie notwendigerweise der Ergänzung durch eine christliche Politik, die sich an dem im gesellschaftlich-politischen Bereich nun einmal unumgänglichen Machtkampf beteiligt. Im Übrigen tauchen in G e r s t e n m a i e r s theologischer Begründung der Diakonie einige neue Gesichtspunkte auf, denen wir so bisher nicht begegnet sind. Sie verraten einen gewissen Neuansatz und bezeichnen zugleich die Richtung, in der sich die weitere Diskussion um die politische Diakonie bewegt. Dies ist der Fall, wenn G e r s t e n m a i e r die Diakonie in ihrer "eschatologischen Spannung" charakterisiert, was freilich nur ganz fragmentarisch geschieht. Wenn diese Spannung mit Formulierungen wie: "die Diakonie läßt nicht den Blick von der Ewigkeit, aber sie folgt dem Ruf in die Welt", oder: die Diakonie tritt "niemals nur in Erscheinung als ein Trost zur Überwindung des Augenblicks, sondern als eine Hilfe zu seiner E r f ü l l u n g " z u m Ausdruck kommt, dann liegt es nahe, eine Analogie zu jenem oben angeführten metaphysischen Ethos aus dem Irrationalen, Ewigen anzunehmen. Die eschatologische Begründung der Diakonie ist dann das eigentliche Thema von H e i n z D i e t r i c h W e n d l a n d s Entwurf einer Theologie der Diakonie, die in der politischen Diakonie ihren Skopus hat (s.u.
2.214).
In diesem Kontext gewinnt für G e r s t e n m a i e r noch ein anderes Theologoumenon besondere Bedeutung: Die Diako-
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nie steht auf der Inkarnation".^^^ Doch ist dies weniger im präzise christologischen, sondern eher in dem schon bekannten allgemeineren Sinne gemeint, daß das Christentum nicht eine Theorie, "nicht eine Lehre, eine Idee", sondern eine Praxis, "das tathaft Konkrete", "ein spontaner Akt geschichtsverwiu-zelter, aeinshafter christlicher Existenz" wobei hier wiederum deutliche Parallelen zu der geschichtlichen Ausrichtung der Theologie der Schöpfungsordnungen erkennbar werden. Insofern die Christologie bei G e r s t e n m a i e r sehr stark die Punktion hat, die sie begründende Schöpfungawirklichkeit zu bestätigen, bringen auch die zuletzt genannten neuen Aspekte nichts grundsätzlich Neues. Zu einer christologischen Korrektur und Kritik der Theologie der Schöpfungsordnungen kommt es dann im Zusammenhang einer geänderten Diakussionslage, der Begründung einer "politischen Diakonie" im Rahmen einer neuen Sozialethik bzw. einer "Theologie der Gesellschaft" (s.u. 2.31 und 3.241). In einigen späteren - beinahe 15 Jahre nach dem grundlegenden Aufsatz " W i e h e r n z w e i " verfaßten - Äußerungen beschäftigt sich G e r s t e n m a i e r äußerst kritisch mit den inzwischen theoretisch erarbeiteten und praktizierten Formen von politischer Diakonie. Er behauptet, die Diskuaaion um den Begriff der "politiachen Diakonie" habe "bialang nicht weitergeführt". Obgleich das Recht, ja die Pflicht der Kirche, im gesellschaftlich-politischen Raum Stellung zu beziehen, kräftig bejaht wird, betont G e r s t e n m a i e r doch andererseits: "Aber das kann nicht bedeuten, daß die Kirche verpflichtet oder auch nur berechtigt wäre, das politische Handeln mit fortgesetzter kritiacher Stellungnehme zu begleiten". Er beschwört die Gefahr der "völligen Yerpolitisierung der Kirche" und fragt, "wer sich denn im Namen der Kirche berufen und legitimiert wiaaen dürfte, fortgesetzt solche Erklärungen abzugeben". Er spricht den "gelegentlichen Stellungnahmen der Kirche oder ihrer Organisationen zu politischen Tatbeständen" das Recht ab, sich als "politische Diakonie" auszugeben, da sie nicht den folgenden beiden Kriterien genügen: "... Als Diakonie müßte auch die politische Diakonie 1. auf geregelte fortlaufende - nicht nur auf gelegentliche punktuelle Tätigkeit gerichtet sein und sie müßte
- 117 2. wie alle wirkliche Diakonie weniger auf das Wort als auf die Tat abgestellt sein". ^ " P o l i t i s c h e Diakonie", die von s t e n m a i e r hier erneut im Sinne W i c h e r n s
G e г und
auch S t o e c k e r s definiert wird, müSte "unvermeidlich auf das politische Kampffeld führen" und damit der "über dem Machtkampf stehenden" Autorität der Kirche widersprechen. Wenn der Begriff nicht überhaupt fallengelassen werden soll, dann muß er beschränkt werden auf "die Motive, die Gesinnung und die Hingabe ..., die einen Christen oder eine Gemeinschaft von Christen veranlassen, auf eigene Hechnung und Gefahr hin, d.h. ohne Rückendeckung diurch die Kirche an der Politik teilzunehmen und auf das eigene Wagnis hin nach der Macht zu greifen, ohne die es nicht möglich ist durchzusetzen, was man für geboten hält".^^^ Hier werden also "politische Diakonie" und "christli1 дс che Politik" identisch wobei der erste Begriff eher die existentielle Begründung christlich politischen Handelns, der letztere den Bereich der materiellen politischen Entscheidungen bezeichnet. Damit erklärt G e r s t e n m a i e r das Unternehmen einer "politischen Diakonie" faktisch für gescheitert. Die Orientierung an dem "Leitbild", welches der Diakonie als Punktion der Kirche eignet, wird dadurch aufgegeben, daß die in ihrem Wesen liegende Antithese zur politisch-gesellschaftlichen Macht aufgehoben wird. Hier vollendet sich die schon oben aufgezeigte Tendenz zur Harmonisierung von "politischer Diakonie" und "christlicher Politik" und offenbart als ihre Konsequenz die Identifizierung beider. Die Z u s a m m e n f a s s u n g dieses grundlegenden Entwurfes einer "politischen Diakonie" soll zugleich die am Ende des letzten Kapitels gestellten kritischen Prägen, die sich aus dem Rückbezug der Vertreter der politischen Diakonie - insbesondere G e r s t e n m a i e r s - auf W i e h e r n ergaben, vorläufig beantworten. Unsere Analyse der Position G e r s t e n m a i e r s hat ergeben, daß im Verhältnis von "politischer Diakonie" und "christlicher Politik" die Konvergenz über die Unterscheidung siegt mit der Tendenz zur Identifizierung beider. Vermittelt sind die beiden Größen über die Schöpfungsordnung des Volkes, die in den Aussagen nach 1945 in den größeren Rahmen des "christlichen Abendlandes" tritt. Der Ansatz
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bei der Theologie der Ordnungen ermöglicht zweierlei: einmal lassen sich soziale Vorgänge - im Rahmen der Kollektivperson "Volk" - personal beschreiben, zum anderen ist die "Seele" dieses Volkes unmittelbar zu Gott, was zudem in der nach 1945 Ereignis gewordenen "Metamorphose" des deutschen Nationalbewußtseins, welche im Kern ein "religiöses Urerlebnis" enthält, historisch festzumachen ist. Der vermittelte Charakter der m o dernen Gesellschaft kann demgegenüber nur abwertend als "Masse" in den Blick kommen. Das Egalitätsprinzip, welches die Vermessung noch befördert, statt ihr gegenüber, wie es eine christliche Politik betreibt, Barrieren zu errichten, ist der gefährlichste, weil potentiell oder aktuell terroristische Ausdruck des "SäkularIsmus". Dieser haftet am Vordergründigen und will den Menschen von seiner im Hintergründigen, Transzendenten beheimateten Existenz abziehen. Im Rückblick auf
W i с h e r η
springen die Analogien ins
Auge. Schon dort ist eine Theologie der Schöpfungsordnungen verknüpft mit einer Polemik gegen das Egalitätsprinzip, in welchem sich der antichristliche Charakter der revolutionären Bewegung gleichsam konzentriert. An die Stelle der Organismustheorie
W i c h e r n s
ist bei
G e r s t e n m a i e r
die
Anschauung vom Volk als Kollektivperson getreten, die, wiewohl traditionsgeschichtlich zu unterscheiden, im Blick auf ihre theologische Relevanz die gleiche Funktion hat: für beide ist "das Christentum" das metaphysische Integrationsprinzip in einem "lebendigen" und nicht zerstörerischen Gegenüber von Kirche, Volk und Staat. Durch die Behauptung des unmittelbaren Bezuges zu Gott sind beide dem seit der Aufklärung brennendsten theologischen Problem enthoben, der Erkenntnis nämlich, daß auch das Christentum Gegenstand gesellschaftlicher und historischer Vermittlung ist. Die Leugnung dieser Problematik hat ihre soziale Entsprechung darin, daß sie einen Gegensatz zur politisch-demokratischen und
gesellschaftlich-emanzipativen
Theorie und Praxis mit impliziert, was zu einer "autoritären" Position führt. Das gilt, wenn man im Sinne unserer oben gegebenen Hinweise zur Sozialgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft"'^® die "Öffentlichkeit" der räsonnlerenden Bürger als das eigentliche Integrationsprinzip einer Gesellschaft be-
- 119 greift, welche sich ihrer gesellschaftlichen und historischen Vermittlung bewußt geworden ist. Dieser Gegensatz soll noch einmal anhand der Interpretation einiger charakteristischer Zitate G e r s t e n m a i e r s belegt werden: Ein zentraler Wert des nationalen Bewußtseins ist für G e r s t e n m a i e r die "Ehre der Nation". "Sie beruht nicht in den gesellschaftlichen Ansprüchen bestimmter Schichten, auf problematischen bürgerlichen oder höfischen Konventionen oder in den Machtbedürfnissen von Regierungen, sondern die Ehre einer Nation beruht in der Lebendigkeit der sittlichen Energien, Traditionen und Wertauffassungen, die in einem Volke wirksam sind".^^"^ Der Wert der nationalen Ehre wird demnach nicht mit dem Mittel gesellschaftlicher Macht von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen oder Institutionen gegenüber anderen vertreten, sondern jeder Bürger hat ein unmittelbares Verhältnis zu ihm, sofern er sich nicht willkürlich von den "Energien, Traditionen und Wertauffassungen" absondert, die in seinem Volk lebendig sind. Jener Wert kann und braucht deshalb auch nicht Gegenstand des öffentlichen Räsonnements zu werden, da dieses von der These ausgeht, daß die sich im Machtkampf naturwüchsig ausprägenden unterschiedlichen, ja gegensätzlichen gesellschaftlichen Interessen im Medium eben jenes Räsonnements zu rationalisieren und damit zugleich zu humanisieren sind. Der hier behaupteten autoritären Gegenposition zu einem genuinen Demokratieverständnis entspricht es, wenn G e r s t e n m a i e r erklärt, daß es nur dann zur echten Annahme eines so "elementaren" Wertes kommen kann, wenn er "ergriffen und begehrt (wird) von der Seele und dem Gefühl der Völker", was dem "rationalen Kalkül und dem Willen ziu- Macht" entgegengestellt wird."'^® Dasselbe kommt zum Ausdruck, wenn G e r s t e n m a i e r ausführt, der Wert des "Vaterlandes" sei deshalb so faszinierend, "weil es uns frei von innen her in Pflicht und Leistung nimmt und nach unserem Herzen, unserem Charakter, unserem Ehrgefühl und auch nach unserer Liebe greift".^^^ Mit der Formulierung "frei von innen her" kann nur dann wirkliche Freiheit bezeichnet werden, wenn man sowohl für den Wert des "Vaterlandes" wie für "Herz", "Charakter" etc. des Menschen ein unmittelbares Verhältnis zur Transzendenz postuliert und eben darin die gesellschaftlichen
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Werte begründet sieht, die durch diese Begründung ihren Zwangscharakter verlieren. Übersehen werden muB dabei, daß auch "von innen her" internalisierte gesellschaftliche Zwänge am Werke sind, die durchaus mit dem Mittel der Macht die individuelle Vergesellschaftung bestimmen. Wie die gesellschaftliche Emanzipation insgesamt, so vollzieht sich auch die individuelle in ihr als Emanzipation von den Ursprungsmächten. Diese werden aber von G e r s t e n m a i e r in der Weise befestigt, daß sie in die Transzendenz erhoben werden. Mit dem Hinweis auf ihren "ganz anderen", weil von der Transzendenz her verpflichtenden Charakter wird ihre reale gesellschaftliche Machtfunktion geleugnet. Dem Konzept einer "politischen Diakonie", die den Anspruch Gottes auf die ganze, auch auf die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit unter Ausschluß von Macht praktisch bezeugen will, korrespondiert also ein Gesellschaftsbild, daß Macht dadurch befestigt, daß die Mächte, denen gegenüber sich die demokratische Emanzipation gebildet hat, in die Transzendenz verklärt und damit der Aufklärung, Kontrolle und tendenziellen Überwindung entzogen werden. Für die Konvergenz zwischen der "politischen Diakonie" und diesem Gesellschaftsbild ist vor allem der folgende Zusammenhang zentral: Gegen das aufklärerische Egalitätsprinzip betont G e r s t e n m a i e r die gesellschaftlich notwendige Funktion der Elite. Und ihr Ethos ist eben durch dasselbe ausgezeichnet, was die spezifische Eigenart der Diakonie ausmacht: "... Wo die wahre Elite herrscht, dient sie". Darin erweist sich das Kennzeichen der "wahren Elite", daß sie nämlich "unter Gott" ist. Zugleich ist damit der Ort angegeben, wo "der gewöhnliche Mensch einer überlegenen Führung anfangen (darf) zu trauen". Auch hier steht G e r s t e n m a i e r fest in der christlich-sozialen Tradition, zu deren Grimdtopoi die Überzeugung gehört, daß der Klassengegensatz durch das Dienstethos des Unternehmers zu versöhnen sei, was etwa die schon öfter herangezogene L o h m a n n - Denkschrift von 1884 exemplarisch belegt. Gerade hier korrespondieren die Aussagen G e r s t e n m a i e r s dem Selbstverständnis der faktischen Eliten in der BRD. Das Verantwortungsbewußtsein der Unternehmer formuliert
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sich in scharfem Protest gegen die "Übertragimg der 'egalitären Demokratie' auf sämtliche 'Leistungsgebiete. Eine solche Übertragung muß für die "zum Organismus aufgewertete Marktwirtschaft" tödlich e n d e n . S t a t t d e s s e n ist im Selbstverständnis der Unternehmer die Tendenz herrschend, daß"die spezifische Kompromißmaterie, das, worüber ein Interessenausgleich erzielt werden soll, der öffentlichen Kritik und politischen Kontrolle entzogen" wird. Darüber hinaus wird aber das für die Demokratie fundamentale Modell des Kompromisses in seiner Struktur verändert: "Statt lediglich temporär geschlichtet zu werden, sollen die grundlegenden Konflikte in einem fingierten Allgemeininter1 "5·? esse verschwinden". Wie die "christlich-abendländischen" Werte die traditionellen Gehalte des Selbstverständnisses militärischer Eliten in der BRD stabilisieren, zeigt das folgende Zitat: Der Soldat der Bundeswehr "bekennt sich zu dem Urbild des abendländischen Soldaten: dem 'Miles Christianus', dem Hitter. Immer wieder orientierte sich das Soldatentum - trotz vielfacher Schattierungen, mancher Verzerrung und Abweichung - in diesem Raum an diesem Urbild. Das Zentrum dieses Bildes ist die durch die Jahrtausende weitergegebene Tradition der Erkenntnis, daß der Mensch Schuld auf sich lädt und der Vergebung bedarf, um seine Pflicht auch als Soldat - in dieser Welt erfüllen zu können". Es wiederholt sich hier also ein Vorgang, den wir bereits für die Entwicklung der "christlich-sozialen" Konzeption W i с h e г η s in ihrem sozialgeschichtlichen Kontext festgestellt haben: Die ursprüngliche Erfahrung gesamtgesellschaftlichen Elends und die diakonische Antwort auf dieses führt zu einer Koalition mit den herrschenden Mächten und deren Ideologie, welche doch jenes Elend mitverschuldet haben. G e r s t e n m a i e r s Konstruktion des epochalen Einschnitts in der deutschen Sozialgeschichte nach 1945, welcher im Selbstverständnis der Unternehmer die Behauptung einer "Prontgemeinschaft zum Wiederaufbau" entspricht^^^, verdeckt diese Zusammenhänge. Immerhin war ein Bewußtsein davon, daß im traditionellen Verhalten von Wirtschaftseliten ein Grund für das Nachkriegselend zu suchen ist, auch in den Sozlalislerungsforderungen des "Ahlener Programmes" der CDU noch vorhanden.^^^
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1S7 Es wurde oben zu zeigen versucht, daß das "christlichsoziale" Gresellsohaftsbild im Rahmen jener sozialgeschichtlichen Entwicklung zu sehen ist, die wir nach H. B ö h m e als "neue reudalität" bezeichnet haben, also die Organisation der Industriegesellschaft und ihrer Zelle, des Betriebs, nach Analogie des "ganzen Hauses", der Großfamilie. Wenn wir dort meinten, W i с h e r η und sein in der christlich-sozialen Bewegung vermitteltes Erbe zu den Faktoren rechnen zu müssen, welche diese "neue Peudalität" mit bedingt und damit Demokratisierung und Emanzipation verhindert haben, so gilt das Gleiche für die Position G e r s t e n m a i e r s inbezug auf die"Refeudalisierung" der Öffentlichkeit ( J. H a b e r m a s in der jüngsten Sozialgeschichte. 2.12
Die ]|politische Diakonie^ als Grundprinzip_der_Sozial-_ ge3etzgebung_in der BRD
¿ J o i î â S S Ê S
In dem Beitrag von J o h a n n e s K u n z e zur Diskussion um die politische Diakonie werden die Positionen, die uns bei G e r s t e n m a i e r begegneten, konsequent weitergetrieben. K u n z e hat seine politische Heimat ebenfalls in deç CDU, er ist zudem ganz Praktiker, dem es um die größtmögliche Effizienz sozialer Gestaltung zu tun ist. Unter diesem Gesichtspunkt kann man die traditionelle theoretische Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche unangetastet auf sich beruhen lassen, was zur Folge hat, daß in den praktischen Entwürfen auch solche Grenzziehungen zwischen politischer Diakonie der Kirche und sozialpolitischem Handeln des Staates, die bei G e r s t e n m a i e r ursprünglich vollzogen wurden, mehr und mehr verwischt werden, so daß die bei G e r s t e n m a i e r beobachtete Tendenz, aus der behaupteten Konvergenz zwischen politischer Diakonie und der von einer christlichen Partei verantworteten staatlichen Sozialpolitik in den späteren Äußerungen faktisch eine Identifizierung beider zu machen, bei K u n z e 1 schon sehr viel früher durchbricht. ^^ Bei ihm gehen staatliche Sozialpolitik - und d.h. selbstverständlich: Sozialpolitik im Sinne einer christlichen Partei und politische Diakonie ununterscheidbar Ineinander über. Das
- 123 macht schon die Definition deutlich, die K u n z e von "politischer Diakonie" gibt: Dieser Begriff "soll die Summa aller Überlegungen zusammenfassen, die sich daraus ergeben, daß die Porderxmgen christlicher Ethik grundsätzlich anerkannt werden und ihnen im politischen Raum ein Primat eingeräumt wird". Dieser Begriff ist insofern mit dem der "sozialen Gerechtigkeit" identisch, "als sowohl das Wort 'sozial' als auch das Wort 'Gerechtigkeit' als Ergebnisse einer weltanschaulichen Bindung anerkannt und verstanden werden w o l l e n " . D i e Geltung der sozialen Weltanschauung "Christentum" im staatlichen Bereich der BRD kann unproblematisiert vorausgesetzt werden, so daß jetzt unter dem Stichwort der "politischen Diakonie" nur noch die Zonsequenz aus diesem Tatbestand zu ziehen ist. Diesen einfach zu konstatieren, ist für K u n z e deshalb berechtigt, weil er wie G e r s t e n m a i e r von der Wirklichkeit des christlichen Abendlandes ausgeht. "Die Kirche ruft dem Staat zu - und es ist beruhigend, daß es überhaupt geschehen muß angesichts der Tatsache, daß sich mehr als 90 v.H. aller Staatsbürger christlich nennen - : 'Werdet endlich Christen aus dem Geist heraus, den Euch Euer Glaube vorschreibt'". Die Forderung nach politischer Diakonie wird erhoben, "um endlich dem christlichen Abendland auch ein christliches Gesicht zu geben". Dabei zieht K u n z e ausdrücklich die Parallele zum Einfluß des Koran auf die Gesetzgebung der muslimischen Staaten.^^^ Die politische Diakonie soll also die klaffende Differenz zwischen dem christlichen Wesen des Abendlandes und seiner unchristlichen Erscheinung überbrücken. Dabei stellt sich diese Forderung für Deutschland mit besonderer Dringlichkeit, da sich das deutsche Volk "im Jahre 1945 durch den Zusammenbruch aller politischen, weltanschaulichen, soziologischen und materiellen Ordnungen als Folge des Krieges vor ein Nichts gestellt sah", es wird erst dann "zu einer gesunden geistigen und dann auch gesunden materiellen Basis zurückfinden können, wenn es eben auf der Grundlage einer bewußt christlichen Geisteshaltung dem Chaos entgegen162 tritt". K u n z e geht also davon aus, daß das Fortwirken traditioneller Ordnungsvorstellungen außer der christlichen über den Nullpunkt von 1945 hinaus eigentlich nur ein illegitimes sein kann. Er sieht das Versagen von Staat und Kirche darin,
- 124 dies dem Volk nicht genügend bewußt gemacht zu haben.^^^ Schon bei G e r s t e n m a i e r und in der Rezeption von W i c h e r n s Entwurf war die Neigung zu beobachten, im Zusammenhang mit der îorderung nach politischer Diakonie ein neues Zeitalter der Kirchen- oder gar der Weltgeschichte einzuläuten. Der universalste Versuch einer solchen geschichtstheologischen Periodisierung findet sich bei K u n z e . Die Zielvorstellung einer Neuordnung, die insbesondere der deutschen Situation nach 1945 gerecht wird, kann nur der Entwurf "einer Hechtsordnung auf der Basis einer politischen Diakonie" sein.^^^ Das heißt: "Erst wenn wir die Notwendigkeit einer echten christlichen Nächstenliebe erkennen, die der Staat ebenso für seine Bürger wie auch die Bürger untereinander beweisen und leben müssen, können und werden wir wieder den Weg zu einer menschenwürdigen Existenz f i n d e n . D i e s aber bedeutet "die Einführung eines ... revolutionären Rechtsbegriffes", welcher "die überkommenen Grundsätze zugleich bei Seite schieben und fragwürdig machen wird Notwendig ist der Bruch mit jener Tradition, die das europäische Rechtsdenken seit seinen antiken Ursprüngen bestimmt, nämlich mit dem römischen Recht. K u n z e charakterisiert es als ein System, "in dem, betont formaljuristisch, immer nur Gesetz und Buchstabe und nicht der Mensch das Vorrecht Seine entscheidende Schwäche besteht darin, daß es "nächstenliebearm" ist. "" Diese Schwäche und ebenso die Notwendigkeit, das starre römische Recht zugunsten eines auf die politische Diakonie fundierten neuen Rechtssystems und Rechtsbewußtseins zu überwinden, hat sich enthüllt angesichts der Lastenausgleichsgesetzgebung. Vom Standpunkt des römischen Rechtes aus stehen der Rechtsanspruch auf Erhaltung des Bigentims und der Anspruch derer, die durch Krieg und Nachkriegszeit geschädigt wurden, auf Ersatz ihres Eigentums einander unvereinbar gegenüber. Dieses formaljuristische Dilemma ist nur überwindbar, wenn neue ethische Grundsätze angewandt werden, Grundsätze, die eine politische Diakonie erfordert.^^^ Daß dabei Härten auftreten, die aus der Perspektive des römischen Rechtes als "Unrecht" erscheinen, muß um der revolutionären Neuordnimg willen in Kauf genommen werden. Solches "Un-
- 125 recht" trifft sowohl die beistungapflichtigen, die ihren Anspruch auf Wahrung ihres Besitzstandes nicht mehr absolut set170 zen können ' , als auch die Geschädigten,denen klargemacht werden muß, daß z.B. auch Investitionskredite für die Industrie eine notwendige Form des an der Richtschnur der politischen Diakonie orientierten Lastenausgleichs sind, da solche Kredite Arbeitsplätze schaffen können, die einer langfristigen Integration der Geschädigten in die Wirtschaftsgesellschaft dienen.171 Das wesentliche Motiv, das den Gesetzgeber bei Erlaß der Lastenausgleichsgesetze geleitet hat, ist demnach die Verwirklichung der politischen Diakonie, diese bildet "trotz aller nüchternen Paraphierung des Gesetzestextes im Grunde ganz we1 72
sentlich Seele und Inhalt" des Gesetzeswerkes. ' Freilich ist dies nur der erste Schritt auf einem langen Wege. Nach К u η ζ e wäre der nächste Schritt in einer gründlichen Hevision der in ihrer Grundstruktur noch auf Bismarck zurückgehenden Sozialversicherungsgesetzgebung zu sehen, deren strenges Vertragsdenken an den in der Lastenausgleichsgesetzgebung erstmals 173
erprobten neuen ethischen Maßstäben zu überprüfen wäre. Auf diesem Wege sind jedoch erhebliche Widerstände zu überwinden. Sie resultieren daraus, daß die Einsicht in die Notwendigkeit der politischen Diakonie als Grundprinzip der Sozialgestaltung, die der Gesetzgeber bewiesen hat, beim Volk noch mangelhaft entwickelt ist. "Es wird sich in der Zukunft zu erweisen haben, ob unser Volk reif ist, diesen Appell des Gesetzgebers zu begreifen und zu befolgen, und ob es aus der Schwere des hinter uns liegenden1 7Zusammenbruchs etwas gelernt hat oder zu lernen >1 bereit ist." Damit die Einsicht der Regierenden seitens der Regierten nachgeholt wird, muß eine "grundlegende Umerziehung und Umformung der Denkweise des ganzen Volkes" in Gang kom17*5 men. Jedoch kann der Staat nicht erst das Ergebnis dieses Erziehiuigsprozesses abwarten, ebensowenig kann er einfach an das christliche Verantwortungsbewußtsein des einzelnen appellieren, vielmehr muß er die diakonische Haltung der Nächstenliebe mittels allgemein verbindlicher Gesetzesbestimmungen er1
zwingen. Dem Staat wird also nicht nur die Aufgabe zugesprochen, die Nächstenliebe mittels gesetzlicher Sanktionen durch-
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zusetzen, sondern auch eine Art Hellspädagogik zu betreiben, durch die diejenigen "unreifen" Geister, die sich etwa einem solchen staatlichen Anspruch versagen, zum Umdenken vind damit zur "Reife" gebracht werden. Spätestens hier wird deutlich, wie wenig "revolutionär" die Forderungen K u n z e s in Wahrheit sind. Das "Christentum" als eine "Weltanschauung" zu verstehen, welche soziale Härten ausgleicht, und diesen Ausgleich als "Nächstenliebe" auszugeben, 1st nicht neu. Die Konsequenzen, die sich ergeben, wenn der christliche Glaube zur Weltanschauung, zu einer Sammlung 177 von "Uoralgesetzen christlicher Ethik" degeneriert , treten bei K u n z e besonders kraß zutage ; Auf der einen Seite wird die I^eihelt der Nächstenliebe zu einer staatlich sanktionierten "neuen" Moral verfälscht, wobei der Staat die Punktionen einer Heilsanstalt übernehmen muß. Während sich G e r s t e n m a l e r noch mit Recht gegen den Vorwurf verwahren konnte, er suche einen christlichen Staat zu verwirklichen, so 1st bei K u n z e deutlich ein solcher christlicher Staat im Blick. Zugleich erhellt bei K u n z e der autoritäre Charakter einer solchen Staatsauffassung: Die weltanschauliche Bindung der allein angemessenen staatlichen Sozialpolitik, eben auf der Basis der politischen Diakonie, 1st der öffentlichen Diskussion entzogen. Das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern ist das der "Reifen" zu den "Unreifen". Die Aufgabe der Bürger besteht darin, sich unter der pädagogischen Leitung des Staates aus Ihrer Unreife zu befreien. Auf der anderen Seite läßt eine solche Moral das wirtschaftliche System unangetastet, in dem jedenfalls wesentliche Ursachen für jene sozialen Härten liegen, die mittels der christlichen Weltanschauung ausgeglichen werden sollen. Die Ursache für den Notstand, der durch die Lastenausgleichsgesetzgebung behoben werden soll, "war ... eine mehr oder weniger vom Zufall bestimmte, dem menschlichen Ermessen und der einzelnen menschlichen Verantwortung nicht unterliegende höhere Gewalt, nämlich die Kriegsfurie, welche die Lose ungleich ver1 7fi
teilte". Die Gesellschaftsgeschichte wird hier als ein blindes Patum begriffen, steuerbar 1st sie nur darin, daß die verheerendsten Auswirkungen dieser "Purle" gemildert werden.
- 127 2.13
Politiache_Diakonie und die Programmatik_ der CDU in_der_D5R_
Im Hahmen der besonderen Konstellation von Kirche, Staat und Sesellschaft in der DDR ist der Begriff der "politischen Diakonie" zuerst und wohl am öffentlichkeitswirksamsten vom Thüringer Bischof M o r i t z M i t z e n h e i m gebraucht 17Я
worden. U i t z e n h e i m s Beziehung zur CDU ist keine so unmittelbare wie die G e r s t e n m a i e r s , dennoch ist auch die vtjn Seiten der Ost-CDÜ betonte Verbundenheit 1und ΑΠ Gemeinsamkeit mit ihrem Ehrenmitglied unverkennbar (s.u.)· Nicht nur die enge Beziehung von "politischer Diakonie" und der politischen Programmatik einer christlichen Partei zeigt eine strukturelle Analogie - bei inhaltlich konträrer Füllung zwischen M i t z e n h e i m und G e r s t e n m a i e r an, auch wenn natürlich bei M i t z e n h e i m Jede Anspielung auf die älteren Passungen des Begriffes unterbleibt. Im Sinne einer solchen Analogie ist zunächst M i t z e n h e i m s ständiges Pochen auf die lutherische Tradition zu verstehen. Erhält der Begriff der "politischen Diakonie" bei G e r s t e n m a i e r sein Profil im Kontext einer ausgeführten Theologie der Ordnungen, so nimmt bei M i t z e n h e i m die Zwei-Eeiche-Lehre, die kaum entfaltet, geschweige denn problematisiert wird, sondern als selbstverständliche tratiditionelle 181 Autorität gilt , die Stelle des zentralen Theologoumenons ein. Aus ihm folgt für M i t z e n h e i m im Blick auf aktuelle politische Stellungnahmen der Kirche: "Wenn die Kirche zu aktuellen Prägen des öffentlichen Lebens sich äußert, muß sie sich davor hüten, ihre Meinung mit theologischem Schwergewicht und biblischer Begründung zu untermauern. Daß die Kirche zu politischen und gesellschaftlichen Prägen sich äußert, ist biblisch wohlbegründet im Gebot der Nächstenliebe, in der Forderung, für den anderen dazusein, in der Mahnung, 'der Stadt Bestes zu suchen'. Wie sie aber im einzelnen Stellung 1 fìi>nimmt, ist eine Präge der Vernunft und der Menschlichkeit." "Politische Diakonie" bei M i t z e n h e i m bezeichnet nun in einem sehr allgemeinen Sinne die Verbindung zwischen Jenem wohlbegründeten biblischen Fundament und dessen jeweiliger Aktualisierung mit den Mit-
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teln einer humaniatischen Vernunft. Ziel einer "politischen Diakonie" ist insbesondere ein "neues Ethos", ein gewandeltes soziales Verhalten als Komplement zu den sozialen und ökonomischen Umschichtungen. Die politische Diakonie sucht konkrete Antworten auf die Präge zu geben: "Wuchs der Mensch, wuchs sein Verantwortungsbewußtsein proportional zu seinen Möglichkeiten?" Jene Antworten orientieren sich an der Grunderkenntnis: Dem Menschen "ist nicht nur die Welt gegeben, daß er sich ihrer bediene, sondern der Nächste, der Bruder geschenkt, daß er ihm diene." "Christen leben nicht nur in der Koexistenz. Ihr Glaube fordert Pro-Existenz, liebenden Dienst für den Bruder."^®' Die Konsequenz daraus ist die - nun allerdings кагж mit der ZweiReiche-Lehre zu vereinbarende - Forderung: "Die Nächstenliebe muß auch innerhalb des Volkes und zwischen den Völkern geübt werden...", eine Forderung, die wie M i t z e n h e i m ausdrücklich betont, den zentralen Inhalt einer "politischen Dia184.
konie" ausspricht. Neben dem Rückgang auf die lutherische Tradition lassen sich noch in einem anderen Punkt Analogien zu G e r s t e n m a i e r belegen, und zwar in der Verwendung der Kategorie "Volk" bei M i t z e n h e i m . Staat und Kirche begegnen sich in ihrem Dienst am Volk. Die bejahte Trennung beider schließt aufgrund dieser Relation eine Kooperation ein. Der Dienst am Volk macht deutlich, daß Staat wie Kirche nicht Selbstzweck sind, und das heißt positiv in bezug auf die Kirche, daß ihr 1 wahrer "Zweck" als ein diakonischer zu bestimmen ist. ^ Daß die Trennung von Staat und Kirche in der DDR nicht einen Kriegszustand beinhaltet, beweist die verfassungsmäßige Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die dem diakonischen Charakter des kirchlichen Auftrages insofern entgegenkommt, als damit jegliche Privilegierxmg der Kirche ausgeschlossen wird: Die Kirchen "wollen mit ihrer Arbeit in unserer sozialistischen Gesellschaft dem einzelnen und dem Ganzen dienen, nichts als die186 nen." Die Charakterisierung der Kirche als "Kirche im Volk und fürs Volk" bringt bei M i t z e n h e i m ursprünglich ein Element der Kontinuität zum Ausdruck, welches eine Distanz zu den sich wandelnden Gesellschaftsverfassungen impliziert: Die Kirche fürs Volk "hat ... zu jeder Zeit in jede Ordnung
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hinein das Wort von Gottes Gericht und Gnade zu sagen und die Menschen auf ihre Menschlichkeit anzusprechen." "Die Kirche ist nicht an eine bestimnte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gebunden, weder an die feudalistische noch an die kapitalisti187 sehe noch an die sozialistische." Später hat M i t ζ e η h e i m es freilich ausdrücklich abgelehnt, von der Kirche als einer "Volkskirche" zu reden, "dieser Begriff hat einen besonderen Unterton", statt dessen heißt Kirche: "Kirche mit den Men188 sehen für die Menschen". Die in M i t z e n h e i m s Verständnis der "Volkskirche" noch gewahrte Distanz wird aufgegeben zugunsten einer humanistischen Verantwortung der Kirche, wobei "humanistisch" uneingeschränkt mit der offiziellen Definition von "Humanismus" in der DDR identifiziert wird. Eine Distanz besteht nur noch - im Sinne der Zwei-Heiche-Lehre - in bezug auf das geistliche Zentrum der Kirche, nicht aber in bezug auf dessen gesellschaftspolitische Auswirkung, die "politische Diakonie". Noch einige weitere Anklänge an G e r s t e n m a i e r sind zu registrieren: Die für den Begriff der "politischen Diakonie" zentrale Beziehung des politischen Mandates der Kirche auf ihren diakonischen Auftrag und die damit verbundenen Erfahrungen und Forderungen nach einer grundlegenden Reform der Diakonie insgesamt erscheinen bei M i t z e n h e i m nur sehr abgeblaßt. Natürlich gehört die Diakonie zu den essentiellen Aufgaben der Kirche, die aufgrim'd des verfassimgsgemäßen Rechts der "ungestörten Religionsausübung" auch staatlicherseits anerkannt werden müssen und - das ist M i t z e n h e i m s Überzeugung - auch faktisch anerkannt werden. In diesem Sinne muß die Kirche "den diakonischen Auftrag ihres Herrn ausüben dürfen und fürsprechend für alle eintreten können, die in Schwierig189 keiten geraten." Daß es dabei zu Konflikten zwischen dem diakonischen Eintreten für alle und der politischen und gesellschaftlichen Verfassung kommen könnte, wird nicht realisiert. Eine engere Beziehung zwischen der politischen Diakonie und der Diakonie im spezielleren, traditionellen Sinne mag man aus der folgenden Äußerung M i t z e n h e i m s erschließen: Die Christen werden in der DDR besonders deshalb von den NichtChristen respektiert, "weil die Kirche geachtet wird wegen ih-
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1 on res diakonischen Dienstes." ^ Diese Achtung mag, ähnlich wie bei G e r s t e n m a i e r , dazu beigetragen haben, "politische Diakonie" als einen auch für die breite Öffentlichkeit besonders achtbaren Begriff erscheinen zu lassen. Auch für M i t z e n h e i m hat das Erbe des Widerstandes gegen das "Dritte Reich" fundamentale Bedeutung für das als "politische Diakonie" neu bestimmte Verhalten der Kirche im Rahmen einer neu gestalteten politischen und gesellschaftlichen Verfassung. Freilich treten hier - ganz parallel zur antifaschistischen Doktrin der Ost-CDÜ - P a u l S c h n e i d e r und E r n s t T h ä l m a n n als Repräsentanten des gemeinsamen Widerstandes nebeneinander. Ihre sachliche Gemeinsamkeit kommt in ihrem Eintreten "für Gerechtigkeit und Menschlichkeit" auf der einen Seite, für "Frieden und Sozialismus" auf der anderen 191 zum Ausdruck. ^ So hat schließlich auch G e r s t e n m a i e r s These von einer aus dem Widerstand erwachsenen Aussöhnung über die ideologischen Gräben hinweg bei M i t z e n h e i m eine gewisse Entsprechung, Freilich ist es bei ihm nicht in erster Linie die CDU, die diese Versöhnung zustandebringt, sondern die "Nationale Front" "als organisierter Ausdruck des Bündnisses aller Kräfte des Volkes". Insgesamt hat die politische Diakonie im Rahmen einer ZweiReiche-Lehre die Intention, ein konfliktfreies Verhältnis von Kirche und Staat zu erreichen bzw. zu bewahren, was auch eine konfliktlose Sicht des gesellschaftlichen Lebens impliziert, auch dies erinnert an G e r s t e n m a i e r . Konflikte gibt es nur durch von außen in die Gesellschaft einwirkende Bedrohungen. Wie genau sich M i t z e n h e i m dabei an die offizielle Version der Bedrohung des Friedens hält, zeigt das folgende Zitat: Der Friede "ist bedroht durch die revanchistischen Kräfte des Imperialismus, die in einem roll-back die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges korrigieren möchten. Er ist bedroht durch den anmaßenden Weltgendarm USA ... Er ist bedroht durch die Expansionsbestrebungen der herrschenden Kreise des Staates Israel. Er ist bedroht durch einen sektiererischen Anarchismus, der am üssuri mit dem Feuer spielt ... Wenn Sozialismus und Friede heute zu Wechselbegriffen geworden sind, so verdanken wir dies dem ersten sozialistischen Staat in der Menschheitsgeschich-
- 131 te..." So kann denn auch die DDR als "unser junger Priedensstaat" tituliert werden. Da G e r s t e n m a i e r s Rekurs auf die metaphysischen Ursprünge als des verbindenden Elementes zwischen Kirche und Gesellschaft aufgrund der ideologischen Situation in der DDE unmöglich ist, wählt M i t z e n h e i m den Begriff des "Hxmanismus", der die gleiche Punktion erfüllen soll. Dabei läßt sich die "humanistische politische Diakonie"^^''· ihre Grundbestimmung durch eine Formulierung W a l t e r Ulb r i c h t s vorgeben, die als Quintessenz des aogenannten "Wartburg-Gespräches" zwischen U l b r i c h t und M i t z e n h e i m von 1964 immer und immer wieder zitiert wird: "Die gemeinsame humanistische Verantwortung verbindet uns alle.
Von dem "neuen Ethos", das damit gemeint ist, kann als von einer Tatsache ausgegangen werden.^^^ "Humanistische Verantwortung heute bedeutet, aus Menschlichkeit und um der Menschen willen sich zu entscheiden für den Weg des Sozialismus, der, wie unsere Verfassung aussagt, in eine Zukunft des Friedens 197 führt." Damit ist die in der politischen Diakonie "gebotene Konkretisierung1 Qg dessen, was der Christ Nächstenliebe nennt", ausgesprochen. In einen ausschließenden Widerspruch können Christentum und Sozialismus nur treten, wenn sich die Kirche als Weltanschauimgsgemeinschaft mißversteht, die humanistische Gemeinsamkeit ergibt sich konsequent aus der Einsicht in ihre diakonische Grundgestalt: "Mag sein, daß das Bild, das man vom Menschen hat, verschieden ist. Entscheidend ist nicht das Bild des Menschen, das man sich macht, sondern die Fürsorge, die ihm 1 QQ gilt ... Unsere lutherische Kirche ist eine dienende Kirche." Ähnliches wie für M i t z e n h e i m gilt auch für H a n s - H i n r i c h J e n s s e n s Äußerimgen zur "politischen Diakonie" im Sozialismus, die als Referat auf einer 1963 vom "Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland" veranstalteten Theologenkonferenz vorgetragen wurden: mit nicht problematisierten traditionellen theologischen Kategorien - Kategorien, die im übrigen in der auf G e r s t e n m a i e r folgenden westlichen Debatte gerade unter
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dem Aspekt der systematischen Implikationen einer "politischen" bzw. "gesellschaftlichen Diakonie" z.T. sehr heftig in Frage gestellt werden - wird wohl die Differenz zwischen dem geistlichen Zentrum der ßemeinde und der politischen und gesellschaftlichen Verfassung der "Hielt" gewahrt, die als "politische Diakonie" bestiimnte Kooperation Uber diese Differenz hinweg aber wird vorbehaltlos an der offiziellen Interpretation von "Humanismus" in der DDR normiert. Akzentverschiebungen zwischen M i t z e n h e i m und J a n s s e n ergeben sich einerseits daraus, daß bei diesem die Zwei-Reiche-Lehre nicht so sehr im Vordergrund steht und daß zum anderen die Zonsequenzen, die sich aus der diakonischen Mitarbeit an der gemeinsamen "humanistischen" Gesellschaftsgestaltung für das geistliche Zentrum der Kirche ergeben, eher noch positiver gewertet werden. J a n s s e n setzt an bei einer Kritik jener christlichen Tradition, die in Theorie und Praxis die begegnende Wirklichkeit dualistisch aufspaltet, also "Seelsorge" in einen ausschließenden Gegensatz bringt zur "Leibsorge", welche im weitesten Sinne mit "Diakonie" gleichzusetzen ist. Doch er überwindet diesen Dualismus nicht eigentlich durch eine Revision der ihm zugrundeliegenden Denktraditienen und Verhaltensweisen, sondern slilisiert ihn um zu einem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung: "Seelsorge" bezeichnet die unvergängliche geistliche Punktion der Kirche, die einer ebenso unvergänglichen Grundstruktur der menschlichen Natur korrespondiert, "politische" bzw. "gesellschaftliche Diakonie" habe die "leiblich-materielle Seite unseres Daseins" im Auge^'^®, wobei die unvergänglichen Elemente im Auftrag der Kirche und in der menschlichen Existenz durch die materiellen Umstände gefördert oder behindert werden können. J e n s s e n s These lautet nun, daß die Christenheit, welche sich ihrer Verpflichtung zur politischen Diakonie bewußt wird, auf jeden Fall mit dem Sozialismus als einem förderlichen Element zu rechnen habe und daß sie deshalb in der "Grundfrage: Erfüllt der Christ seinen Auftrag zu politischer Diakonie als 201
Erbauer des Sozialismus oder als Antikommxmist?" eine eindeutige Entscheidung zu treffen habe, die nur innerhalb dieser Alternative fallen kann. Zum Erweis dieser These bietet J e η s s e η eine Analyse
- 133 des Sozialismus, die wenigstens etwas detaillierter ist als die M i t z e n h e i m s . E r geht aus von der L e n i n sehen Formel: "Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung" und folgert daraus als ein erstes Kennzeichen des Sozialismus die "positive, bewußte Einstellung zur Arbeit", an der dieser "ganz anders als eine kapitalistische Gesellschaftsordnung" interessiert ist und die ihre objektive Basis darin hat, daß die Technisierung im Sozialismus gegenüber der im Kapitalismus eine 202 neue Qualität bekommen hat. Die Widerstände gegen die Entwicklung zum Sozialismus unter diesem Aspekt bucht J e η s s e n auf das Konto der traditionellen christlichen Ressentiments gegen die Technik. Die darin wirksame - in Wahrheit gnostische und nicht christliche - Geringschätzung des Materiellen gilt es zu überwinden, um der überraschenden Chancen der Technisierung ansichtig zu werden. Diese Chance wird offenbar in "der seelsorgerlichen Dimension moderner Technik", die von der politisch-diakonischen Aufgabe, welche ein bejahendes Mittun In diesem Prozeß meint, zurücklenkt zum geistlichen Zentrum christlicher Verkündigung. Es ist sicher, daß die Technisierung "der christlichen Verkündigung zwar keine automatischen Erfolge sichert, die kann ihr ja immer und überall nur der Heilige Geist schenken, wohl aber ungeahnte, offene Möglichkeiten bietet, denn die Technisierung des Lebens schafft der Verkündigung als Gegenüber Menschen, die auch in ihrer breiten Masse die Freiheit gewonnen haben, die Grxmdfragen menschlichen Daseins 203 wirklich ernsthaft und in ihren Hirnen und Herzen zu bewegen." ^ Die Technisierung befreit also die ewigen Grundlagen christlicher Verkündigung aus ihrer Verstrickung in die zeitlichen Nöte. Zudem bringt die technisierte Welt schon aus sich heraus ein Dienstethos hervor: "An Stelle der Selbstsorge tritt in einer technisierten Welt Dienstverbundenheit. Die Technisierung bzw. ihre Basis, die Naturwissenschaften sind ebenso wie die Gesellschaftswissenschaften und deren Umsetzung in Praxis gebunden an einen "methodischen Atheismus". Dies "ist nicht nur ein wissenschaftlicher Portschritt, sondern auch ein theologischer, denn erst dieser konsequente, methodische Atheismus wird dem grundsätzlichen, qualitativen Unterschied zwischen Gott und Welt gerecht." Dieser "methodische Atheismus"
- 134 darf аЪег nicht zu einem "prinzipiellen Atheismus" überhöht werden. Es ist Aufgabe der "intellektuellen Diakonie" in den christlichen Gemeinden, den Unterschied zwischen methodischem Atheismus, dessen sich auch die politische Diakonie bedienen kann, da der Glaube nicht an ein sakrales Weltbild gebunden ist, und einem prinzipiellen zu verdeutlichen, der das Unmögliche versucht, aus der atheistisch verstandenen Immanenz einen nega205 tiven Gottesbeweis zu führen. Doch der entscheidende Grund für die innerhalb und außerhalb der Gemeinde bestehenden Zweifel an einer politisch-diakonischen Mitarbeit der Christen in der Gesellschaft liegt nicht in intellektuellen Schwierigkeiten, sondern in existentiellen Problemen, wie sie sich etwa in der "Theodizeefrage" äußern. Und in bezug auf diese gilt nun nach J e η s s e η , daß "wir der Beseitigung zahlreicher Anlässe, die Theodizeefrage zu stellen, durch eine sozialistische Gesellschaftsordnung mehr Gewicht beimessen als der nicht immer genügend deutlichen Unterscheidung zwischen methodischem und prinzipiellem Atheismus durch Vertreter der marxistischen Weltanschauung," denn "die kapitalistische Gesellschaftsordnung (macht) den Glaubensgehorsam von vornherein für Millionen Menschen unmöglich, strukturell unmöglich." Nachdem jene strukturellen Widerstände für den Glaubensgehorsam dahingefallen sind, bleiben nur noch die "Hindernisse, die in der Natur des Menschen liegen und daher auch in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung fortbestehen." Sie sind identisch mit der "irrationalen Tiefe der Sünde 207 ..., die letzter Grund aller Gottlosigkeit ist..." All dies entspricht sehr genau den zentralen Positionen im Selbstverständnis der CDU der DDR: "Wir christlichen Demokraten bejahen den Sozialismus und nehmen am sozialistischen Aufbau tätigen Anteil. Die Forderungen, die sich aus der christlichen Verantwortung für den Frieden auf Erden und für die Verwirklichung der Nächstenliebe ergeben, lassen sich nur О Аim Sozialismus О in die gesellschaftliche Wirklichkeit umsetzen." Hinzu kommt noch, daß hier der dialektische und historische Materialismus in seiner Fassung durch die marxistische Orthodoxie zur verbindlichen Grundlage auch für die christliche politische Entscheidung erklärt wird, allerdings mit der Einschränkung: Die Chri-
- 135 sten können sich "selbstverständlich die dem dialektischen Materialismus zugrundeliegende atheistische Weltanschauung nicht be2oq
kenntniamäßig zu eigen machen." ^ Die Verbindlichkeit des Materialismus ergibt sich daraus, daß es keine "christliche Gesellschaftsordnung", ebensowenig wie eine "christliche Industrie" oder eine "christliche Landwirtschaft" geben kann. Die doch naheliegende Frage, ob es denn eine christliche Partei geben könne, wird bezeichnenderweise nicht gestellt. Die im "überzeitlichen Charakter" des Christentums begründete Unabhängigkeit gegenüber den zeitlich sich wandelnden Gesellschaftsordnungen wird sogleich durch die Behauptung ins rechte Licht gerückt, daß die Christen im Sozialismus "weitaus größere Wirkungsmöglichkeiten (haben) als in den Formationen der Klassen210
gesellschaft." Die Unabhängigkeit des Christentums von gesellschaftlichen Gestaltungen ist eigentlich seine entscheidende Schwäche, die erst mit der Ergänzung durch die "richtige" - d.h. marxistische - Einsicht in die gesellschaftlichen Prozesse be211 hoben werden kann. Die entscheidende Erkenntnis für eine christliche gesellschaftliche Praxis lautet, "daß die Linie der progressiven christlichen Traditionen in der Vergangenheit deshalb so wenig in Geschichte und Gesellschaft wirksam, deshalb immer wieder in den Bereich der Utopie abgedrängt wurde, weil sie nicht in der Arbeiterklasse ihren Verbündeten erkannte." "Die Realisierung der gesellschaftlichen Konsequenzen des christlichen Glaubens ist nur an der Seite, in der Kampfbereitschaft mit der Arbeiterklasse beim Aufbau des Sozialismus mög211 lieh." So wird auch die entscheidende Differenz zwischen dem christlichen Selbstverständnis und der Wertung des Christentums seitens der Marxisten, daß nämlich "die christliche Botschaft nach unserer Auffassung nicht 212 klassenbezogen ist, weil sie sich an alle Menschen richtet," nur in der Richtung ausgezogen, daß nun mit der Errichtung einer sozialistischen Gemeinschaft die klassenbezogene Depravation des Christentums überwunden werden könne. Damit "ist auch die unbewältigte Vergangenheit der Christenheit Deutschlands bei uns weitgehend aufgearbeitet worden. Deshalb wird ein christliches Engagement, das auch eine kritische Haltung gegenüber jener "richtigen" Lehre einschließen könnte, als Verrat an der gemeinsamen Sache gebrandmarkt:
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"... Deutschland kann nur dann zu einem friedliebenden und demokratischen Staat wiedervereinigt werden, wenn die demokratischen Kräfte in fester Gemeinschaft vereint bleiben und allen Versuchen, politische oder ideologische Zwistigkeiten zwischen ihnen zu erwecken, entschlossen widerstehen." "... Ideologische Meinungsverschiedenheiten (können) nicht dazu herhalten, die Aktionseinheit der patriotischen Kräfte zu lahmen, sondern müssen zurücktreten hinter dem gemeinsamen Ziel, den Frieden für unser Volk und für Europa zu retten. Zusammengefaßt läßt sich die Bedeutung der "politischen Diakonie" im Zusammenhang mit der Programmatik einer christlichen Partei folgendermaßen bestimmen: Bei konträrer inhaltlicher Füllung, die sich aus der fast vollständigen Auslieferung der Normvorstellungen politischer Diakonie an die herrschenden Ideologien der konträren Gesellschaftssysteme in beiden deutschen Staaten ergibt, zeigt sich ein erstaunliches Maß an struktureller Übereinstimmung. Die Entwürfe, seien sie nun auf die DDE oder auf die BRD zugeschnitten, zeigen, daß von einer theologisch eher konservativen Position, die die christliche Existenz im Irrationalen abhebt vom neuzeitlichen Rationalisierungsprozeß, eine politisch-gesellschaftliche Aktivierung ausgehen kann, die freilich nur ohnedies vorhandene Tendenzen bestätigt und religiös überhöht. Für beide gilt, daß die äußerlich-materiellen oder auch die allgemeinen kulturellen Widerstände gegen den Glaubensgehorsam in der jeweils als epochal empfundenen eigenen gesellschaftlichen Situation fortgefallen sind. In einer über die traditionellen ideologischen Gegensätze hinweg "versöhnten" Gesellschaft findet auch die versöhnende christliche Praxis der Gemeinde erst ihren wahren Ort, insbesondere deshalb, weil sich in der Gesellschaft ein der politischen Diakonie korrespondierendes Dienst-Ethos neu entwickelt. Freilich läßt sich diese Versöhnung im Blick auf die eigene Gesellschaft nur mit einem gehörigen 1/Iaß Aggression nach außen durchhalten. Die theologischen Mittel, diese "Versöhnung" darzustellen, bleiben überall deutlich der metaphysisch geprägten theologischen Tradition verhaftet. Die entscheidenden Konflikte, denen das Christentum in der Moderne ausgesetzt ist, liegen auf der Ebene der "Weltanschauungen", diese lassen sich entweder so
- 137 lösen, daß man wie bei G e r s t e n m a i e r und K u n z e die soziale Gestaltung direkt auf ihre weltanschauliche - und d.h. christliche - Basis zurückführt oder, so bei den Autoren aus der DDH, die weltanschauliche Differenz prinzipiell offenhält, diese aber nur auf das geistliche Zentrum christlicher Existenz begrenzt, wo die irrationale in der ewigen Natur des Menschen begründete Tiefe der Sünde und die ewigen Fragen nach dem Sinn des Lebens ihre Lösung finden. Solche Konflikte entfallen in bezug auf die zeitlich-materiellen Aufgaben der politischen Diakonie. Inhaltlich theologische Aussagen sind fast ganz dem Aspekt des gesellschaftlichen Nutzens des Christentums untergeordnet, auf der einen Seite das Christentum als Integrationsprinzip einer Gesellschaft, die sich ohne dieses selbstzerstörerisch desintegrieren würde, auf der anderen das Christentum als notwendiger Beitrag zur gemeinsamen humanistischen Aufgabe. Deshalb fehlen explizit christologische oder gar eschatologische Aussagen fast ganz. Wird bei G e r s t e n m a i e r die Sozialgeschichte heilsgeschichtlich als Abkehr von oder als Zuwendung zu den ewigen Ursprüngen interpretiert, so fällt bei den Autoren aus der DDR die eschatologische Perspektive des Glaubens zusammen mit dem gesetzmäßig sich vollziehenden, vom Marxismus entschlüsselten Menschheitsfortschritt. In beiden Fällen treten deutliche Widersprüche zwischen den traditionellen theologischen Ansätzen und der Forderung nach politischer Diakonie auf. Am deutlichsten wird das bei M i t ζ e η h e i m , wo - bei streng betonter Zwei-Reiche-Lehre - die Agape als Prinzip politischer Gestaltung faktisch mit dem "Humanismus" identifiziert v/ird. Allgemein muß der Unterschied zwischen Diakonie und gesellschaftlicher Herrschaft eingeebnet werden. Auf zwei Grundprobleme der Debatte um die politische Diakonie insgesamt ist hier noch einzugehen: Zum ersten: An einem Punkt wirkt die Parole der politischen Diakonie bei K i t z e n h e i m glaubwürdiger als bei G e r s t e n m a i e r , nämlich dort, wo der durch die Umstände erzwungene Verlust der Privilegierung der Kirche positiv aufgenommen wird. Zum zweiten ist undeutlich, wer eigentlich Subjekt der politischen Diakonie ist. Wie gezeigt, ist gerade darin die politische Diakonie Ergebnis der Debatte um die diakonische Erneuerung der Kirche, daß
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die Diakonie auch in dieser Gestalt als auftragsgemäße Punktion der Kirche und nicht mehr als Aufgabe christlicher Vereine oder Persönlichkeiten gilt.
G e r s t e n m a i e r
hat diese ur-
sprünglich gerade von ihm vertretene Position später erheblich revidiert. Die mit dem Thema der "politischen Diakonie" ebenfalls gegebene Überzeugung von der neuentdeckten Kulturbedeutung des Christentums, die sich in der Situation nach 1945 entfalten kann wie noch nie seit der Aufklärung, weicht den ursprünglichen ekklesiologischen "Sitz im Leben" des Themas auf. Dieser schlägt bereits bei
J o h a n n e s
K u n z e
in sein
Gegenteil um, wenn "politische Diakonie" zum materialen Prinzip der staatlichen Sozialgesetzgebung der BRD wird. Aber auch bei M i t z e n h e i m
kann "politische Diakonie" unterschiedslos
die Herstellung einer internationalen Priedensordnung oder die Kandidatur eines hohen Kirohenbeamten für die Volkskammer be215 deuten. Allgemein ist auch bei den Aussagen über die politische Diakonie, die auf die DDR bezogen sind, das ekklesiologische Interesse gering - Aussagen über kirchenreformerische Konsequenzen der politischen Diakonie fehlen bezeichnenderweise fast ganz. Primäres Interesse ist, die "christlichen Mitbürger" fest auf den Aufbau des Sozialismus zu verpflichten. 2.2
"Politische" und "gesellschaftliche Diakonie" im Rahmen einer neugefaßten Theologie der Diakonie
2.21
Der Neuansatz bei _H_e_i_n_z_-_D_i_e_t_r_i_c_h_ W e n d l a n d
2.211
Das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis in der gegenwärtigen evangelischen Diakonie Pür
H e i n z - D i e t r i c h
W e n d l a n d
1st die
gegenv/ärtige Situation der evangelischen Diakonie durch eine doppelte Bedrängnis bestimmt: Die erste "1st eine spezifisch theologische, die daraus resultiert, daß diejenigen Disziplinen der Theologie, die Veranlassung und Pflicht hätten, sich theologisch um die Probleme der Diakonie zu kümmern, nämlich die theologische Ethik einerseits und die sogenannte 'praktische' Theologie andererseits, dieser ihrer Pflicht in den letzten Jahrzehn-
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139 -
ten in keiner Weise nachgekommen sind, so daß wir uns in dem fatalen und höchst betrübenden Zustand befinden, einer theologischen lurchdenkung der Grrundprobleme evangelischer Diakonie auf das Ganze gesehen entbehren zu müssen..." Die zweite Bedrängnis liegt in den "gesellschaftlichen Umwandlungen unserer Tage", die den radikalen Bruch mit denjenigen gesellschaftlichen Zuständen vollenden, auf die hin einst die neuere evangelische 216 Diakonie von ihren Gründern konzipiert worden ist.'"" Um die Diakonie aus diesen beiden Bedrängnissen herauszuführen, sieht W e n d l a n d seine Aufgabe darin, eine neue theologische Begründung der Diakonie zu entwerfen. Dabei ist es bereits kennzeichnend für seine Theologie, daß ein Mangel an theologischer Sachgemäßheit in Korrespondenz zu einem solchen an geschichtlich-gesellschaftlicher Reflexion gesehen v^ird. Nun meint W e n d l a n d keineswegs, daß die fehlende theologische Grundsatzdiskussion zu einer allgemeinen Stagnation auch in der diakonischen Praxis geführt hätte. Vielmehr bezieht sich sein theoretischer Neuentwurf, wie noch zu zeigen sein v/ird, auf schon erprobte Praxis. Aber diese Praxis ist vielfach theorielos und so in der Gefahr, einem bloßen Pragmatismus zu verfallen. Andererseits fehlt es auch nicht an theoretischen Erwägungen zur Diakonie, doch sind diese häufig an der Grundlegung der neueren Diakonie im 19. Jahrhundert orientiert und haben so das Interesse, die "wirkliche", sich durchhaltende Diakonie von situationsbedingten sozialpolitischen Aktivitäten der Kirche abzugrenzen. Dadurch bleibt ein großer Teil kirchlicher Praxis ohne theologisch-theoretische Begründung und wird somit seiner "Eigengesetzlichkeit" überlassen. Zudem wird eine unsachgemäße Unterscheidung getroffen, wenn W e η d 1 a η d s These zutrifft, die zweite Bedrängnis der Diakonie bestehe im radikalen gesellschaftlichen Wandel und dieser stehe in einen direkten KorrespondenzVerhältnis zur theologischen Begründung. Die gesamte Debatte um die Neugestaltung der Diakonie, deren entscheidendes Unterscheidungsmerkmal gegenüber älteren Ansätzen gerade im Postulat der "politischen Diakonie" zu sehen ist, tritt hier in eine neue Phase. Über die mannigfaltigen theoretischen und praktischen Versuche hinaus konzentriert sich die Fragestellung nun in Richtung auf einen fundamentalen theologischen Neuansatz. In W e η d 1 a η d s Schilderung der Problem-
- но läge imd der sich daraus ergebenden neuen Aufgabenstellimg ist die Kritik an den vorhergehenden Entwürfen zur Neugestaltung der Diakonie nach 1945 impliziert derart, daß diese eben einen zureichenden Neuansatz nicht geboten hätten. Beziehen wir diese implizierte Kritik auf G e r s t e n m a i e r , dessen theologischer Ansatz bei der "Theologie der Schöpfungsordnungen" ja durchaus - wie gezeigt - bis in die Binzelaussagen der "politischen Diakonie" konsequent durchgezogen ist, so steht zu erwarten, daß von W e n d l a n d s Ansatz her die Diskussion um die "politische Diakonie" eine entscheidend neue Wendung erfährt. Das von W e n d l a n d kritisierte Mißverhältnis von Theorie und Praxis ist nicht zum Seringsten dadurch verursacht worden, daß die beiden verantwortlichen theologischen Disziplinen, die Ethik, Insbesondere die Sozialethik, und die praktische Theologie, weitgehend beziehungslos nebeneinander stehen. So versucht W e η d 1 а η d , eine Integration der beiden Disziplinen zu erreichen, wobei die Theologie der Diakonie die Punktion einer "theologischen Theorie des Handelns der Kirche" Ρ1R hat. Durch sie gev/innt die Sozialethik ihren Praxisbezug und sie wird so zum integrierten Bestandteil der Sozialethik. In der Folge eines solchen Neuansatzes der Theologie der Diakonie entwickelt V i e n d l a n d zunächst sein Programm einer "politischen" und "sozialen Diakonie". Später wird dann dieser Rahmen zur "Theologie der Gesellschaft" erweitert, in der dieses Programm dann unter dem Titel der "gesellschaftlichen Diakonie" seinen Ort erhält. 2.212
Der christologische Ansatz
Sachgemäß kann die Theologie der Diakonie nur sein, wenn 21Q sich ihre Theorie von der Christologie her versteht. ^ Dies läßt sich zunächst an Hand eines systematischen Überblickes über W e n d l a n d s gesamte Theologie der Diakonie verdeutlichen. Er entwickelt einen vierfachen Begriff der Diakonie, dessen einzelne Stufen sich jeweils notwendig auseinander entfalten: 1. der umfassendste Begriff bezeichnet die Diakonie als "üramt und Urgesetz der Kirche als solcher und als ganzer, insofern
- 141 sie aus dem Opfer und dem Dienst Christi stammt und lebt, der gekommen ist, zu dienen und sein Leben zu geben zur Er220 lösung für viele." Diakonie ist somit nicht eine Sonderfunktion der Kirche, die etwa von wichtigeren Punktionen abhängig gedacht werden müßte, sondern sie bezeichnet den Auftrag der Kirche als ganzen. Wie exklusiv dieser fundamentale Begriff der Diakonie christologisch begründet ist, zeigt die Polgenuxg, die sich aus ihm eingibt; Auch wenn die Kirche etwa in Zeiten der Verfolgung ihre diakonische Effektivität einbüßt, kann sie als Leib Christi ihre diakonische Orundstruktur nicht verlieren, insofern aie dem sachlichen Kriterium folgt, das sich aus dieser Grundbestimmung für die gesamte Existenz der Kirche und so auch für die folgenden Formen der Diakonie ergibt: als Kirche kann sie nur "unter dem Urgesetz des Dienens, nicht Herrschens bleiben, also ständig der Versuchung der Macht widerstreben, auch in jener feineren Porm, da man meint, auf den ÎMwegen über die irdl221 sehe Macht besonders gut und wirksam dienen zu können." "Uramt" und "Urgesetz" der Kirche ist die Diakonie als "Ver222
wirkllchung des Urbildes Christus", der der "diakonische Kyrios und herrschende königliche Diakon der ganzen Welt" ist.225 2. Jenes sachliche Kriterium, das die Existenz der Kirche Insgesamt als eine diakonische auszeichnet, realisiert sich zunächst in der Bruder- und Nächstenliebe. Diakonie bezeichnet hier wiederum keine Sonderfunktion in dieser GrundbeStimmung christlicher Existenz; sondern deren allgemeine Beschreibung als "der personale Begegnungscharakter der Liebe" 1st als 224. solche schon eine diakonische in Korrespondenz zur Begründung der Kirche als ganzer - und nicht nur der Kirche, wie noch zu zeigen sein wird, - auf den "Weltdiakonat" Christi. Dieser zweite Begriff der Diakonie gewinnt seine Präzision erst von der Christologie her: Zwischen den beiden ersten Bestimmungen des Dlakonats muß "eine chrlstologische Grenzziehung ganz sauber durchgehalten werden". Sie sind "nicht identisch, weil der Urdlakon der Welt, Christus, der Erlöser der Welt ist, wir aber nicht die Erlöser der Welt sind und
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ea auch nie werden. Wir können diese Brlöaung repräsentie22S ren, bezeiigen, durch den Dienst der Liebe realisieren..." Indem diese zweite Gestalt des Siakonats den Charakter der Liebe als personaler Begegnung trägt, ist sie "vorinstitutionell, was jedoch durchaus nicht heißen darf, daB sie in einfachen, ausschließenden Gegensatz zur Institution zu bringen" wäre.^^^ 3. Aus diesem G-runde führt die Explikation der Theologie der Diakonie notwendigerweise weiter zu einer dritten Gestalt des Diakonats. Die Diakonie "realisiert sich...in imtern, Gemeinschaften und Institutionen, welche die Hechts- und Gesellschaftsformen bestimmter historischer Gesellschaftskörper 227 ansich tragen". Diakonisoh sind diese besonderen institutionellen Ausprägungen der diakonischen Grundfunktion der Kirche nur dann, wenn sie nicht um ihrer selbst willen da sind. So ist auch die Übernahme von Rechts- und Organisationsformen aus dem historischen-gesellschaftlichen Bereich nicht so zu verstehen, als ob nun doch die ohristologische Grundbestimmung durch eine Fremdbestimmung beeinträchtigt würde, vielmehr ist diese Übernahme selbst schon Ausdruck der Diakonie an den Menschen, insofern sie in "bestimmten historischen Gesellschaftskörpern" leben. Damit ist schon die Verklammerung zur letzten Gestalt der Diakonie gegeben. 4. Die institutionelle Diakonie, die zielgerichtet ist auf den Institutionell verfaßten Menschen, konkretisiert sich in der "politischen" und "gesellschaftlichen Diakonie".^^^ Auch bei dieser letzten Bestimmung kommt für W e n d l a n d alles darauf an, ein Verständnis abzuwehren, als handle es sich hier ГШ eine - und dazu noch sehr spezielle, vom "Eigentlichen" der Diakonie weitabliegende - Sonderfunktion der diakonischen Kirche. Dem widerstreitet schon, was für die Diakonie insgesamt gilt, daß sie es nämlich "mit dem ganzen Menschen zu tun hat". Die zuletzt genannte Gestalt der Diakonie präzisiert diese Grunderkenntnis nur dahingehend, "daß es die Diakonie auch mit dem ganzen Menschen in der Breite und Verflochtenheit seiner sozialen Existenz, mit dem Menschen als dem gesellschaftlichen Wesen und den Gefährdungen dieser 229 sozialen Existenz zu tun hat".
- 145 Eine Theologie der Slakonle, die sich als konseiiuente Entfaltung des Ansatzes beim Christos Dlakonoa versteht, muß nun der Schwierigkeit begegnen, daß sich unter den vielfältigen christologlschen Titulaturen des Neuen Testamentes keine findet, die Jesus explizit als den Dlakonos bezeichnet. Doch 1st dieser Befund für W e n d l a n d kein Einwand gegen seine Konzeption. Er 1st eher ein Hinwels darauf, daß die Bestimmung Jesu als des Diakons fundamentaler ist, als es die in der Oeschlchte des Urchristentums wechselnden und bestimmte Punktionen des Messias aussagenden christologlschen Titulaturen sein können. Dafür spricht, daß nach Mk. 10/45 par. Jesu "Gesamtsendung unter das Stichwort des Dlakoneln gerückt werden muß .... Hier leuchtet jene Urparadoxie des neutestamentlichen Christusbildes auf, wonach jener königliche, göttliche, zukünftige Richter und Erlöser der ganzen Welt, des ganzen Kosmos nichts anderes 1st als der D i e n e n d e . . D i e Bestimmung Jesu Christi als des Diakons umgreift für W e η 1 a η d die gesamte neutestamentliche Christologie in ihrer "Urparadoxie" und gerade in dieser Bestimimmg erweist sich der universale Charakter des Christusgeschehene. Dies belegt W e n d l a n d mit dem Hinweis auf den Chi'lstuaHymnus Phil. 2/5 ff. Hier wird der Diakonat Christi durch die Aussagen über den "Christos Doulos" entfaltet. Im Anschluß an K ä s e m a n n setzt W e n d l a n d s Auslegung ein bei der gegenüber dem Judentum und der Antike ganz neuen Identifizierung von Menschsein und Doulossein. Aus der Beschreibung der Selbstkenose dessen, der bei Sott war, in ein so bestimmtes Menschsein, ergibt sich: "Nun ist die ungeheure Paradoxie dieses Christus-Hymnus dies, daß durch die biechtschaft Christi die kosmische Douleia des Menschen, seine Zwangsexistenz als Sklave der Mächte aufgehoben und zertrümmert wird - durch die freie Tat der Selbsterniedrigung des Herrn, Dies bedeutet den Umsturz der ganzen antiken Wertordnung, und daraus folgt schließlich auch der Itasturz der ganzen antiken, hierarchischen und patriarchalischen Gesellscheiftsordnung, weil der auf der tiefsten Stufe der Sklavenschaft angelangte Christus der Erlöser ist..."^'^ An dieser Auslegung wird noch einmal exemplarisch deutlich, wie die Bestimmung Christi als des Doulos bzw. als des Dlakonos notwendigerweise eine politische und soziale Dimension besitzt, die
- 144 dann in der politischen Diakonle ausdrücklich zum Thema wird. Nur unter EinschluB auch dieser Dimension läSt sich die in den Aussagen йЪег den Weltdiakonat Christi intendierte Universalität des Christusgeschehens angemessen entfalten. Der Versuch, die Existenz der Kirche in der Welt in Theorie und Praxis umfassend als eine diakonische zu beschreiben, ist für W e n d l a n d deshalb das angemessene Mittel, jener Universalität theologisch zu entsprechen und so Jeder innerund außertheologischen Eingrenzung der Christus-Botschaft auf einen partiellen Bereich zu widersprechen. Daraus ergibt sich als beherrschendes Strukturelement von W e n d l a n d s Theologie der Diakonie, das dann gerade in seinem Entwurf der politischen Diakonie wichtig wird, die Aufhebung der falschen Alternativen. Dies wurde an einem für W e n d l a n d zentralen Punkt, dem Verhältnis von personaler Existenz und institutioneller Verfaßtheit bereits oben angedeutet. Wird die Aufgabe der Diakonie entweder rein personal oder rein institutionell verstanden, so muß sie notwendigerweise auf einen partiellen Bereich beschränkt bleiben. Solche falschen Alternativen können aufgehoben werden, weil in Christus die Gegensätze bereits versöhnt sind.
2.213
Die Bedeutung der Ekklesiologie für die Theologie der Diakonie
Charakteristisch für W e n d l a n d s gesamte Theologie ist es, daß er sich einer Tendenz, die die gesamte neuere Ethik kennzeichnet, entgegenstellt, der Tendenz nämlich, der Ekklesiologie in der Ethik entweder überhaupt nicht oder nur ganz am 232 Rande Вагш zu geben. Gegen diese Tendenz fordert W e η d l a n d : "Ekklesiologie ist als Pundierung der sozialen Ethik unentbehrlich. Ihr Ort ist am 'Anfang' der Ethik und Sozialethik, denn diese ist primär Ethik der Kirche, der Gemeinde für die Gemeinde..." Außer dieser fundierenden Pimktion hat die Ekklesiologie noch eine zweifache weltergehende Bedeutung für die Sozialethik: Sie kann erstens nur konkret werden, wenn sie in kritischer Auseinandersetzung die Ergebnisse der Kirchenund GemeindesoziologLe aufnimmt, um so zweitens zu einer
- 145 Theologie der Diakonie, verstanden als "theologisch-sozialistische Theorie des Handelns der Eirche in der Gesellschaft", zu gelangen. Ein Eirchenbegriff, der in der Lage ist, in dieser Weise die Sozialethik und die Theologie der Diakonie zu bestiimnen, sieht inhaltlich folgendermaßen aus: Die Kirche existiert in drei Wirkungsweisen: in "Liturgie", "Diakonie" und "Martyrle".^'® Diese Grundbestinmung, die vor allem in der ökumenischen Theologie geläufig ist, zeigt schon an, wie stark W e n d l a n d von dort her beeinflußt ist und wie er andererseits seine theologische Themenstellung als Arbeit im ökumenischen Maßstab v e r s t e h t . D i e Wirklichkeit der Kirche ist nur zu beschreiben, indem man diese ihre Funktionen unterscheidet, aber nicht voneinander trennt. Vielmehr läßt sich Jede der runktlonen als besondere nur in der Beziehung zu den beiden anderen bestimmen. In diesem Verständnis stellt das Ausgehen von den drei Funktionen der Kirche für W e n d l a n d keinen Widerspruch zu der imiversalen Bestimmung des gesamten Christusgeschehens und der gesamten Wirklichkeit der Kirche vom Dlakonat her dar. Denn die ekkleslologische Fundamentalaussage, "daß sich uns die Urgestalt der Kirche in der gottesdienstlichen Versammlimg der Gemeinde Christi, des erwählten, berufenen und durch den Helligen Geist erleuchteten Gottesvolkes zeigt, so daß alles, was über den Dienst der Kirche an und in der Welt gesagt werden könnte, ... allein hier begründet ist und von hier aus Interpretiert werden muß",^'® meint im Kern wiederum ein diakonisches Geschehen: Im Gottesdienst der Gemeinde ereignet sich eben dies: "Gott 1st es, der s e l b s t der Gemeinde und der Welt dient. Der Gottesdienst der Kirche Jesu Christi kann nur deswegen Lobpreis, Verherrlichung, Proklamation, Verkündigung und Anbetung sein, weil es sich hier um den Dienst an den Menschen, um die in der Welt und durch menschliches Tun real werdende Gottesliebe handelt. Für die Diakonie bedeutet jener ekkleslologische Ansatz: Obgleich sie doch in ihrer notwendigen institutionellen Gestalt historisch-gesellschaftliche Formen übernehmen muß, behält sie ihre Eigenart als Funktion der Kirche nur durch Ihre Beziehung zur "Liturgie", zum Gottesdienst der Gemeinde. Allein dadurch.
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daß "die Diakonie und die Diakonen der Kirche ... am Altare zu Hause sind", können sie "das Feuer und die Kraft der dem Blenden nachgehenden und dienenden Liebe empfangen", und so einer Verwandlung der Diakonie "in ein soziales und wohlfahrtspflegerisches Handeln... nach den Maßstäben säkularer Humanität oder PAO politischer Zweckmäßigkeit" widerstehisn. ^ So gilt denn der ρ A1 Satz: "Ohne Liturgie kein einziger Akt von Diakonie". Nun wird aber nicht шгг die Eigenart der Diakonie durch ihre Bindung an die Liturgie gewahrt, sondern auch umgekehrt wird ein Punktionsverlust der Liturgie durch ihre Bindung an die Diakonie verhindert. Die weitverbreitete und stark traditionell geprägte Praxis eines introvertierten liturgischen und vor allem sakramentalen Lebens der Kirche verfällt daher der Kritik wegen seiner Beziehungslosigkeit zur diakonischen Existenz der Kirche. Ebenso wichtig wie die Beziehung von Diakonie und Liturgie ist aber die Betonung ihres Unterschiedes. Liturgie und Diakonie sind zwei verschiedenen Existenzweisen der Gemeinde zugeordnet. Die letztere, vor allem in ihrer Gestalt als politische Diakonie, realisiert sich in der "weltlichen Christenheit". Diese muß für den Dienst des einzelnen Christen wie für ihre Kooperation in besonderen Dienstgruppen andere Formen entwickeln als die, die in der gottesdienstlichen Gemeinde gebräuchlich und notwendig sind.^^^ Strukturprinzip der "weltlichen Christenheit" ist die bruderschaftliche Ordmrng, die dem О traditionellen protestanА А tischen Individualismus entgegenwirkt. ^^ Ihre Aufgabe ist es, "Vorformen christlicher Gemeinde in der Welt" zu schaffen. Es "kommt alles auf die Bildung offener Gruppen an, ohne Vereinsform, ohne Mitgliedskarten, ohne Verpflichtungen irgendwelcher Art... Offene Gruppen, damit es zur Begegnung, zum Gespräch, zur dialogischen Verkündigung kommen kann." Die dialogische Verkündigung muß die Lebensthemen des heutigen Menschen aufgreifen.^^^ In diesen offenen Gruppen, die die soziale Entsprechung zur Offenheit der politischen Diakonie an der heutigen Gesellschaft darstellen, realisiert sich "das Wunder im Verhältnis von Welt und Kirche..., daß ... Gott dafür sorgt, daß seine Kirche, nicht nur die Gestalt des bisher gewordenen, sondern auch die Gestalt о A(\ des zukünftigen, potentiellen Gottesvolkes hat." Die Forde-
- 147 rung nach Bildung diakonisoher Gruppen der "weltlichen Christenheit" ergibt sich also auch mit Notwendigkeit aus der eschatologischen Komponente топ W e n d l a n d s Eirchenverständnis (s.u.). In analoger Weise muß die Diakonie nim in ihrer Unterscheidung und Beziehung zur "Martyrie" präzisiert werden. Zunächst die Unterscheidung: "Helfen, um zu bekehren, ist kein rechtes 24.7
Helfen mehr." Geschähe die Diakonie allein um der missionarischen Abzweckung willen, dann wäre sie als Mittel zum Zweck der Martyrie untergeordnet. Durch eine solche Monopolstellung einer ihrer Funktionen würde die Eirche die Fülle ihres Auftrages einbüfien, die immer nur in den drei Funktionen gegeben ist. Andererseits können die Diakonen nicht "schweigen... von dem, der sie sendet... Sie sollen xmd dürfen verkündigen, wenn es ganz klar und deutlich ist, daB sie kommen, um zu dienen und zu helfen, und daB dieser Dienst an keinerlei Bedingungen äußerer oder innerer Art, sei es der Wiedereintritt in die Kirche oder die Umkehr zum Glauben, geknüpft wird".^^® Wie für das Verhältnis von Diakonie und Liturgie so gilt auch für das von Diakonie und Martyrie, daß, wenn sich eine der beiden Größen verselbständigt, notwendigerweise die andere Schaden leiden muß. So liegt denn für W e n d l a n d die Schwäche der heutigen Predigt wesentlich darin, daß in ihr "die gesellschaftliche Wirklichkeit ... nicht mehr gegenwärtig" 249
ist. Dies hätte gar nicht geschehen können, wenn nicht die Korrespondenz zur Diakonie, die sich als "politische Diakonie" in eben dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit entfaltet, tief gestört wäre. Indem W e n d l a n d hier die Gleichrangigkeit von Diakonie und Martyrie gegen den Monopolanspruch der letzteren verteidigt, weiß er, daß er sich nicht in Übereinstimmung mit den lutherischen Bekenntnisschriften befindet - auch bei W e η d l a n d findet sich also das kritische Verhältnis zur reformatorischen Tradition wieder, das die Neuansätze in der Diakonie nach 1945 insgesamt prägt (s.o. 1.11, 1.12, s.u. 2 . 2 2 ) . Bei W e n d l a n d verbindet sich damit eine kritische Analyse des Verhältnisses des Protestantismus zum neuzeitlichen gesellschaftlichen Umbruch (s.u. 3.242). In dem hier zunächst auf die
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Bkkleaiologie begrenzten Kontext rechtfertigt W e n d l a n d aeine Stellung zum reformatorieohen Erbe folgendermaßen: Unter Hinwels auf die neutestamentllche Charismenlehre, auf die Praxis der Reformationszeit, die sehr wohl eine Vielzahl топ Ämtern kannte, und schließlich auf die begrenzte geschichtliche Aufgabe der Bekenntnisschriften, gerade das Amt der WortverkUndigung so stark zu betonen, wendet er sich gegen das MiSverständnis, die "Pastorenkirche" als Haupterrimgenschaft der Re250 formation auszugeben. ^ W e n d l a n d bleibt Jedoch der lutherischen Tradition in gewisser Weise verpflichtet, wenn er gegen eine Schwächung der besonderen Vollmacht des Pastorenamtes betont: "Alle Ämter der Kirche und Semeinde sollen zur Einheit zusammengefaßt werden durch jenes 'Hirten-Amt'..., 2S1 das ... an die Stelle des apostolischen Amtes getreten ist..." Doch ist auch diese Peststellung nicht in dem Sinne gemeint, als würde hier ein beharrendes Element in der Gestalt der Kirche verteidigt. Vielmehr ist auch das Predigtamt in den Sestaltwandel der Kirche mit hineingezogen, in welchem ihre diakonische Grundgestalt wieder hervortreten soll. Der Pfarrdienst "wird vor die Präge gestellt, ob er willens ist, eine neue Gestalt anzunehmen". Zu dieser neuen Gestalt würde gehören, daß der Pfarrer sein Monopol in der Gemeindeleitung aufgäbe und stattdessen die "bescheidene Punktion eines theologischen Ratgebers, eines theo252 logischen Diakonen" annähme. 2.214
Eschatologie und Ontologie als zentrale Themen der Sozialethik und ihre Auswirkung auf die Theologie der Diakonie
W e n d l a n d sieht seine Aufgabe wesentlich darin, den "weithin zerrissenen Zusammenhang von Eschatologie und Sozialокч lehre wiederherzustellen". ^^ Er ist sich dabei bewußt, daß schon das Postulat des Zusammenhangs beider eine theologiege254. schichtlich neue Problemlage bezeichnet. ^^ Um diesen Zusammenhang neu darzustellen, folgt W e n d l a n d wiederum seinem Prinzip, die falschen Alternativen zu überwinden. In diesem Zusammenhang geht es ihm darum, "den schiefen Gegensatz von 'natur-
- 149 rechtlichem' und eschatologlschem Senken aufzuheben, der die Theologie und das Handeln der Kirche seit langem verwirrt Mit der Präge nach dem "Naturrecht" ist zugleich die Präge nach der Ontologie in der Theologie und speziell in der Sozialethik neu gestellt. Mit dieser Aufgabenstellung will W e n d l a n d klärend in die verfahrene Diskussionslage in der neueren Theologie und Sozialethik eingreifen, In der einerseits - etwa bei B a r t h - jede naturrechtlich-ontologische Argumentation im Namen des radikal eschatologisch-christologisch verstandenen Evangeliums der Kritik an der natürlichen Theologie verfällt, oder eine ontologlsch angelegte Theologie der Ordnungen streng von der eschatologiachen Botschaft unterschieden wird. So ist W e n d l a n d s Betonung des eschatologlschen Momentes nicht als ein Votieren Innerhalb des Streites zu verstehen, ob nun die Sozialethik vom ersten, zweiten oder dritten Artikel aus zu begründen sei, sie zielt vielmehr auf die Oberwindung dieses Streites. "Es handelt sich ... darum, den das Ganze der Botschaft und des Credo durchwirkenden Zug sichtbar zu machen, der im ersten wie im zweiten Glaubensartikel ebenso ein eschatologischer genannt werden muß wie Im dritten". ^^^ Ein solches Verständnis der Eschatologie in ihrer Auswirkung auf die Sozialethik korrespondiert der allein möglichen 2Б7
Gestalt christlicher Theologie als trinitarischer Theologie. Damit sind die Pehlansätze In der Sozialethik überwunden, die eben deshalb verfehlt sind, well sie nur partikulare Ansätze pC Q sind. ^ Allein von der Eschatologie her läßt sich ein universaler Anaatz für die Sozialethik gewinnen: "Universal ist allein die Verkündigung der zukünftigen und gegenwärtigen Wirklichkeit des Reiches Gottes. Univeraal ist die Sicht des ORO Weltreiches, die sich von der Herrschaft Gottes aus ergibt". Diese Bestimmung entspricht dem oben ausgeführten Ansatz beim Weltdiakonat Christi, dessen Universalität sich gerade daran zeigt, daß er eine politische Diakonie mit umgreift. Die inhaltlichen Aussagen über das Handeln in der politischen Diakonie müssen daher von diesem univeraal-eschatologiachen Verständnis der Sozialethik her bestimmt werden. Dieses gewinnt zunächst Gestalt in einer universalen Theologie der Geschichte, in der
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Protologle und Eschatologie zusainmengesehen werden müssen. Aus der Erkenntnis der Einheit des Schöpfers mit dem eschatologischen Richter ergibt sich die ffrundhaltung der christlichen Sozialethik, sie ist "kritisch, nüchtern und illusionslos" und daher jedem Utopismus entgegengesetzt. Sofern aber die eschatologisch begründete Sozialethik gerade auf einer universalen Theologie der Greschlchte aufbaut und die Eschatologie nicht ungeschlchtllch und unweltlich mißverstehen will, erkennt sie auch die Wahrheit des Utopismus bzw. seiner theologischen Urform, des Chiliasmus: "Die Herrschaft Christi wird eine Herrschaft über diese Erde sein..."^^^ Für die Sozialethik genügt aber die Bestimmung des dialektischen Verhältnisses der in Protologle und Eschatologie ausgesprochenen theologischen Zeltmodi noch nicht. Da sie es mit dem Menschen und der Welt in statu naturae corruptee zu tun hat, bedarf sie zur Bewältigung ihrer Aufgabe eines dritten, der "Zwischenzeit", der "Zeit der Kirche". Durch die Begründung der Sozialethik in der dialektischen Einheit von Protologle und Eschatologie 1st eine Ontologie im Sinne des Postulats zeitloser Strukturen unmöglich gemacht. Eine Theologie, die auf einer solchen Ontologie aufbauen würde, gäbe sich damit selber auf, da sie sich statt im eschatologischen Schöpferhandeln aottes in einem Ursprungsmythos begründen würde. Andererseits aber ist vom Zeitmodus der Zwischenzeit her die ontologlsche Fragestellung n o t w e n d i g . D a die Zwischenzeit sowohl die Zeit der Kirche wie die Zelt des Gesetzes ist, können die ebenfalls zwischenzeitlichen ontologlschen Strukturen von Welt und Gesellschaft theologisch so bedacht werden, daß sie von ihrer unkritisch-mythischen in eine kritische Gestalt verwandelt werden. "Kritisch" heißt hier: von der eschatologischen Botschaft gerichtet und deshalb selbst zum kritischen Mittel dieser Botschaft gemacht. Ontologlsche Aussagen werden gerichtet, sofern sie in sich selbst Aussagen über letzte Wahrheiten sein wollen. Sie werden ausgerichtet auf den Weltenrichter. Dieser ist allein "Gewähr dafür, daß es mit dieser Welt der Ungerechtigkeit, des Krieges, des Hasses, der Selbstsucht einmal ein wirkliches Ende haben wird, daß einmal die Wahrheit als die Wahrheit und die Lüge als die Lüge ... offenbar gemacht werden wird". Eine solche theologisch-kritische Punktion können
- 151 ontologlscbe Bestimmungen leisten, die "in den Zeltmodus ... der Zukunft des üotteshandelns überführt werden... Bine solche Gestalt haben die "Pundamentalstiftungen der Ehe, der politischen Gewalt und der lebenserhaltenden Arbeit zugunsten des gesellschaftlichen Menschen. Sieser ist Mandatar Gottes auch noch als Sünder und seinem Sündersein widersprechend und bleibt dazu eingesetzt, die Institutionen der Gesellschaft
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ZU verwalten und sie als geschichtliches Leben zu vollziehen". Die volle Bedeutung der "Fundamentalstiftungen" als Skopus von W e n d l a n d s Verhältnisbestimmung von Eschatologie und Ontologie erhellt erst im Zontext seiner "Theologie der Gesellschaft", sie wird dort zu präzisieren sein (s.u. 3.254). Hier sei nur die Grundintention hervorgehoben. Mit den Aussagen über die Zwischenzeit und die in ihr notwendige kritische Aufnahme ontologischer Bestimmungen entwickelt W e n d l a n d das Geschichtsverständnis eines "geschichtlichen Realismus", ohne das die christliche Soziallehre nicht bestehen kann, ohne das sie vor allem nicht zu der ihr notwendig korrespondierenden Praxis in der politischen Diakonie gelangt. Dieses Verständnis von Geschichte wendet sich polemisch gegen "die existentialistische Kategorie der 'Geschichtlichkeit', in der die wirkliche Geschichte sich verflüchtigt und auflöst", es meint demgegenüber "die reale Weltgeschichte und den gesellschaftlichen Gesamtprozeß, in dem wir stehen".^^^ 2.215
Das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft als Ermöglichung der politischen Diakonie
Aus dem Vorangehenden wird deutlich, daß W e n d l a n d den in der theologischen Diskussion behaupteten ausschließenden Gegensatz von Eschatologie und Ontologie nicht in der Weise überwinden will, als könnte erst die durch ontologlsche Aussagen vermittelte eschatologische Botschaft realgeschichtlich und konkret werden. Vielmehr bewirkt die Eschatologie "das Ende - aber auch die Wandlung" der Ontologie, die erst so realgeschichtliche Theorie und Praxis e r m ö g l i c h t . D e s h a l b sind die Aussagen über Eschatologie und Ontologie wiederum rückbezogen auf die
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Ekkleslologie als die Bestimmung des Ortes, wo ein solches Ende und eine solche Wandlung geschehen kann. Dies impliziert zunächst die ekklesiologische Bestimmung eines Gegenübers von Kirche xmd Gesellschaft: Die Kirche 1st die "Gegenform" zur menschlichen Gesellschaft. Jedoch ist dieser Satz nur sinnvoll, wenn er nicht als Aussage über die vorflndliche Kirche, aon271 d e m streng eschatologlsch verstanden wird. Das heißt: die Kirche wird hier nicht als für sich seiende Größe, sondern in ihrer Relation zur Weltwerdung des Reiches Gottes qualifiziert. In dieser relationalen Aussage ist zugleich die Relativierung des Gegenübers von Kirche und Gesellschaft mitgesetzt· Jenes Gegenüber ist nur "ein um der Welt und ihres Heiles willen notwendiges Stadium" des Handelns Gottes. "Die Kirche kann nur kraft ihrer eigenen Selbstaufhebung ihr eschatologisches Telos erreichen, das heißt als Welt Gottes, als weltliches Gottesreich...", wobei die Besonderheit der Existenz der Kirche gerade darin begründet ist, daß sie - in Christus - "diese zukünftige Vollendung paradoxerweise zur Voraussetzung ihrer geschichtlichen Sendung hat".^''^ Da also die die Sozialethik normierenden eschatologischen Aussagen nicht auf die Kirche eingeengt werden dürfen, kann W e n d l a n d s universaler Ansatz nur durchgehalten werden, wenn auch Welt und Gesellschaft unter eschatologischem Aspekt in ihrer Ausrichtung auf die weltliche Realisierung des Reiches Gottes bestimmt werden können. W e n d l a n d tut das unter Verwendung des von P a u l T i l l i c h geprägten Begriffes der "latenten K i r c h e " . U n t e r diesem Begriff, der freilich nur von der "manifesten Kirche" her zu gewinnen ist, läßt sich strukturell analog die Gegenwart des Reiches Gottes wie in der Kirche so in der Welt bestimmen als die Kirche und Welt umfassende und nur so universale Gegenwart des Heils in der Geschichte. So werden die geschichtlichen Formen, in denen sich eine solche Vermittlung des Gegenübers von Kirche und Gesellschaft konkretisiert, die christliche Sitte, Rechtsformen und Institutionen ebenso wie Kirchengestalten, die an bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse gebunden sind wie etwa die Volkskirche, theologisch als notwendig begriffen^'^^. Die
- 153 Kritik an solchen Formen geschlchtllcber Vermittlung, wie sie seitens der Dialektischen Theologie und In der BK geübt wurde, wird Ihres absoluten Anspruchs entkleidet und als relatlre Integriert: "Die Kirche hat sich vor allem топ sich selbst zu unterscheiden und kann sich In keine Ihrer historischen Pormen einkerkern lassen. Ohne die daraus entstehende Unruhe und Dynamik 1st die Kirche nicht Kirche, sondern bestenfalls eine moralische Anstalt bzw. eine Institution zu religiöser Legitl0715 mlerung gesellschaftlicher Größen und Mächte". ^ Relativiert wird diese Kritik, insofern sie sofort wieder in Relation zu Welt und Gesellschaft gesehen wird: Ohne eine solche dynamische Kirche verliert auch die Gesellschaft ihre Dynamik und erstarrt im Totalltarismus. Da für W e n d l a n d die historisch bedingten Formen der Vermittlung von Kirche und Gesellschaft als integrierter Bestadteil zu einer unlversal-eschatologischen Konzeption und der sich daraus ergebenden Theologie der Geschichte hinzugehören, kann er auch die soziologische Relativierung des Gegenübers von Kirche und Gesellschaft aufnehmen. Die Grunderkenntnis der Soziologie: "die Kirche ist eine Gruppe der Gesellschaft unter anderen, eine Institution neben anderen...", wendet W e η d l a n d kritisch gegen eine dogmatische Lehre von der Kirche, die "bei einem Allgemeinbegriff des Uenschlichen oder des Geschichtlichen an der Kirche stehen blieb, statt faktische Gemeinden, faktische Kirchen-Typen oder empirische kirchliche und religiöse Verhaltensweisen konkret zu analysieren". Diese kritische Wendung geschieht im Namen einer theologischen Sozialethik, die nicht dogmatisch bleiben, sondern schon in ihren theoretischen Aussagen auf Praiis, auf politische bzw. gesellschaftliche Diakonle bezogen sein will. Für die Theorie einer solchen Praxis, die Theologie der Diakonle, ist die Dialektik des Gegenübers und der Einheit von Kirche und Gesellschaft in gleicher Weise konstitutiv. Entscheidend ist für W e n d l a n d - wie gezeigt -, daß die Sozialethik mit ihrer Praxis, der Diakonle als zentraler Funktion der Kirche, verblinden bleibt. Auf der anderen Seite gilt aber ebenso: "... Wir haben nicht nur eine Christuspräsenz in den diakonischen Charismen seiner Gemeinde, sondern wir haben
- 154 auch eine verborgene Präsenz Christi in der Welt" "als des in den Tiefen des Weltelends und des Weltleidens in eigener Person verborgen anwesenden und anzutreffenden Herrn der Welt" zu bedenken. Deshalb ist die Diakonie in den gesellschaftlichen Umständen und Bedingungen dieses Weltelends und -leidens nichts der Diakonie Fremdes oder etwas, das sich als das tJneigentliche vom Eigentlichen unterscheiden ließe. Solche aus der christologischen Begründung abzulehnenden Aussagen basieren immer auf einer Absolutsetzung des Segenübers von Kirche und Oesellschaft, womit die Universalität des Christus-Seschehens als eines eschatologischen Qeschehens geleugnet wäre. Die Dialektik des Gegenübers und der Einheit von Kirche und Sesellschaft dient W e n d l a n d schließlich als Interpretationsschema für die moderne, von der Aufklärung geprägte Geschichte. W e n d l a n d versteht die diese Epoche kennzeichnende umfassende Emanzipation als "eine Selbstisolierung der Gesellschaft von der Kirche", der freilich "eine Selbstisolierung der Kirche von der Gesellschaft" korrespondiert. Diese Emanzipationsbewegung ist vollends zum Durchbruch gekommen, "seitdem der Versuch der Synthese in Gestalt der 'natürlichen 279 Religion' theoretisch wie praktisch gescheitert" ist. Eine Rückkehr zu solchen Synthesen kann es nach W e n d l a n d nicht geben. Vielmehr weist gerade die politische Diakonie, welche die Dialektik des Gegenübers und der Einheit von Kirche und Gesellschaft lebendig vollzieht, um die gegeneinander abgeschlossenen KUmmerformen von Kirche und Gesellschaft wieder in Beziehung zueinander zu setzen, nach vorn in eine neue Epoche der Kirchen- und Weltgeschichte: Nachdem das Bündnis von "Thron und Altar" unwiederbringlich dahin ist, arbeitet die sich diakonisch auf die Gesellschiift hin orientierende Kirche daran, daß auch die jenem Bündnis folgende Gestalt "einer Kirche, die zum fast vergessenen, frommen Konventikel Jenseits der Gesellschaft herabgesunken ist...", überwunden wird. Sie erhofft und erstrebt "ein neues drittes Zeitalter". "Das pon neue Verhältnis der Kirche zur Welt müßte das diakonische sein". Der Eintritt in die diakonische Epoche ihrer Geschichte wäre für die Kirche ein echter Befreiungsakt. Sie würde sich damit lösen von der Unterordnung unter gesellschaftliche Trends, die sie entweder
- 155 mit erborgter, 1Ьгеш Wesen fremder Machtentfaltung ausrüsten oder zur Ohnmacht verdammen. Sie würde als diakonlache Q.rche die Ihrem Wesen gemä£e geistliche Autorität neu erwerben und 281
bewähren. Die universale Intention des Ansatzes bei der Theologie der Dlakonie führt hier also - ähnlich wie schon bei G e r s t e n m a i e r und später bei A r t h u r R i c h (s.u. 2.32) - zu einer universalen, Profan- imd Kirchengeschichte umgreifenden Seschichtstheorie. Zu fragen bleibt, ob nicht W e n d l a n d s Aussagen über das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft ihrer Struktur nach auf eine solche Synthese, die W e n d l a n d einer vergangenen und nicht wiederholbaren Gestalt der Christentumsgeschlchte zurechnet, angelegt bleiben. Jedenfalls scheint seine dialektische Methode der Aufhebung falscher Alternativen auf eine Synthese zu zielen. Den Ort der Synthese nehmen - soweit wir bisher gesehen haben - streng theologische bzw. christologische Sätze ein. Deutlich ist aber bereits, daß der theologisch gefaBten Dialektik eine solche auf gesellschaftlicher Ebene korrespondiert. Sind die Gegensätze in Christus proleptlsch-eschatologisch aufgehoben, darf deshalb vor allem das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft nicht in einer starren Antithese gesehen, muß es vielmehr in der diakonischen Aktion der Kirche dialektisch vermittelt werden, so ist zu fragen, welches Verständnis der Vermittlung gesellschaftlicher Gegensätze diesem theologischen Ansatz entspricht. Damit 1st eine kritische Leitfrage gewonnen, die unten anhand der zu einer "Theologie der Gesellschaft" fortgeführten theologischen Position W e η d l a n d s zu beantworten versucht wird. 2.22
Der Einspruch gegen die ^politi3che"_und_"ge3ell3chaftliche Dlakonie" im Namen einer "christozentrischen Dlako-,¡„282
2.221 Die Kontroverse zwischen H e i n z - D i e t r i c h W e n d l a n d und H e r b e r t K r i m m Der Begriff der "politischen" und dann vor allem der "gesellschaftlichen Dlakonie" hat sich keineswegs vinwidersprochen
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durchgesetzt. Interessant Lst, daB der entschiedenste Widerspruch von dort her gekommen 1st, wo jene Begriffe ursprünglich beheimatet waren, nämlich von Theologen, die zunächst als Praktiker entscheidend an der Arbeit des Hilfswerkes beteiligt waren und dann zentrale theoretische AnstöBe für eine theologische Keukonzeption der Siakonie geliefert haben. Diese zunächst überraschende Konstellation läßt sich am ehesten anhand der Kontroverse zwischen H e i n z - D i e t r i c h W e n d l a n d und H e r b e r t K r i m m erhellen. AnlaB für К r i m m s erste kritische Stellungnahme war die Sntscheidung der westfälischen Landessynode vom Herbst 1960, welche sich eine Neuordnung des westfälischen "Landesverbandes für die Innere Mission" zur Aufgabe gemacht hatte, auf den Begriff "Diakonle" im Namen dieses Werkes zu verzichten, und zwar mit dem Argument, es könne diesem kein Monopol übertragen werden, es gäbe vielmehr eine Heihe von anderen kirchlichen Blnrlchtungen, die ebensoviel Recht auf die Bezeichnung "Diakonle" hätten, auch wenn sie Funktionen der "gesellschaftlichen Dlakonie" a u s ü b t e n . D i e s e nach K r i m m bedauerliche Entscheidung 1st für ihn Ausdruck einer Fehlentwicklung in der neueren Debatte um das Selbstverständnis der kirchlichen Diakonle. MuBte zunächst die Diakonle aus ihrer Verengung, der Fixierung auf die aus dem 19. Jh . überkommenen Arbeitsformen, befreit werden, so droht jetzt eine Ausweitung, die jede abgrenzbare Klarheit des 28Á
Begriffes zunichte macht. Damit ist das Interesse angegeben, das K r i m m in der Kontroverse insgesamt leitet. Auf der anderen Seite sieht sich W e n d l a n d aufgrund des konkreten Anlasses genötigt, auf die G-efahr aufmerksam zu machen, es könnten sich hinter diesem Interesse womöglich unsachliche Motive verbergen. Die Gefahr sieht er in einem "Monopol-Anspruch des 'Diakonischen Werkes' derart, daß allein dasjenige, was unter seinem Dach geschieht, Diakonle heißen darf". Ohne K r i m m persönlich einen solchen Monopol-Anspruch unterstellen zu wollen, muß doch davor gewarnt werden, daß sich Tendenzen dazu - vielleicht ungewollt - einschlelchen, das wäre dann geschehen, wenn ein "Tabu für den Wortgebrauch 'Diakonle' geschaffen" würDie Kontroverse wird nicht in übermäßiger Klarheit geführt.
- 157 man hat oft den Eindruck, daß die Kontrahenten an einander тогbeireden. V e n d l a n d s - bereits oben herausgestelltes GrundmotiT 1st die Warnung vor den "falschen Alternativen": "Weder schließt die gesellschaftliche Diakonle die diakonische OQíT
Sinzelhilfe aus, noch gilt das Umgekehrte". Andererseits bestreitet E r 1 m m , daß der Gegner des Begriffes einer "gesellschaftlichen Diakonle" Innerhalb einer solchen "falschen 287 Alternative" befangen bleiben müsse, worauf W e n d l a n d repliziert, p К r 1 m m argumentiere "gegen einen konstruierO Q ten Gegner". Um die Jäden der Kontroverse einigermaßen entwirren zu können, soll der Dissens vom Konsens in bestimmten Grundpositionen her beleuchtet werden. Dieser Konsens betrifft vor allem die Ekkleslologie, von der her wesentlich argumentiert wird: Die Bestimmung der Grundfunktionen der Kirche als "Dlakonia", "Martyria" und^Leitourgla" 1st sowohl für К r 1 m m , für den diese drei Begriffe "eine trinitarische Grundformel (bilden), auf die man sämtliche Punktionen der Christenheit 28Q In ihren irdischen Erscheinungsformen zurückführen kann", ^ als auch - wie oben gezeigt für W e n d l a n d konstitutiv. Unbeschadet dessen, daß die Kirche nur im Zusammenwirken dieser ihrer drei Funktionen existieren kann, legt doch К r i m m allen Nachdruck darauf, die Eigenständigkeit und Eigenart der Diakonie durch eine klare Abgrenzung zu wahren. Unverrückbare Hichtpunkte für diese Grenzziehung bietet dabei die diakonische Praxis der Urgemeinde, wie sie sich im Neuen Testament niedergeschlagen hat. Die mit der gesellschaftlichen Diakonle vollzogene und von W e n d l a n d bejahte Grenzüberschreitung über die urchristliche Praxis hinaus wird dann gefährlich, wenn es sich dabei nicht nur darum handelt, die zeitgebundenen schlichten Methoden in eine moderne Methodik zu übertragen, sondern "den der Diakonle anvertrauten Teil der Menschheit auf die ganze Menschheit zu erweitern..." Geschieht das, so kommt es allerdings zu einer Illegitimen "Wesensveränderung" der Diakonle: es "liegt darin eine Verschwonunenheit, die nicht nur zu peinlichen Mißverhältnlssen zwischen Postulat und Healität, sondern auch zur gefährlichen Unklarheit gegenüber den eigentlichen Aufträgen einer diakonischen Kirche führen muß".^^® In diesen Äußerungen
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К г 1 m m s
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sind die wichtigsten Elemente seiner Kritik znsam-
mengefaBt. Sie lassen sich in den folgenden fünf Punkten entfalten: 1. Hervorzuheben ist zunächst die theologische Ablehnung des Begriffs der "Gesellschaft", топ Ζ г i m m verstanden als die "ganze Menschheit", der gegenüber die Diakonie legitimerweise nur auf einen Teil derselben bezogen sein kann. Dies erhellt gerade an der Stelle, wo E r i m m gegen eine Verengung der Diakonie argumentiert und etwa den diakonischen Einsatz gegen das ?lUchtlingselend nach dem zweiten Weltkrieg als dem diakonischen Auftrag völlig angemessen bejaht. In den Unterschieden dieser Arbeit des Hilfswerks und der älteren Diakonie sieht er freilich "nichts, was zu einer neuen ïassung des Begriffs Diakonie nötigen würde". Auf eine solche oder eine sich historisch daraus herleitende Praxis bezogen hat der Begriff der "gesellschaftlichen Diakonie" wenn überhaupt, dann nur "ein abgeleitetes Recht. Nicht die Gesellschaft war der ursprüngliche, der primäre Ansatzpunkt christlicher Bemühungen, poi sondern die Blenden, die Notleidenden in ihr waren e s , " " womit zugleich jener Teil der Gesellschaft angegeben ist, dem sich die Diakonie zuwenden muß. Das heißt aber doch, daß das Elend für die Diakonie nicht als Strukturmoment der Gesellschaft insgesamt, der "ganzen Menschheit" nach К r i m m , in Betracht kommen kann. Zwar wehrt sich E r i m m zu Becht gegen die implizite Kritik W e n d l a n d s , die Bestreitung des Rechtes der "gesellschaftlichen Diakonie" müsse bei einer rein personalen, auf den Einzelnen zielenden Diakonie enden. Er tut das mit der ïeststellung, eine biblisch begründete Diakonie führe keineswegs zu der Behauptung, "daß Diakonie zugleich mit der direkten, persönlichen und individuellen Hilfeleistung ein Ende nehmen und deshalb jede mittelbare, auf О Оeine Gruppe abgezielte О Hilfe ausgeschlossen bleiben müsse". ^ Wohl aber wird hier der tiefe Dissens zu W e n d l a n d insofern deutlich, als bei E r i m m jene Gruppen nicht als "gesellschaftlich" strukturierte, ihr Elend nicht als "gesellschaftlich" vermitteltes und bedingtes in der Weise in Betracht kommen kann, daß die Erkenntnis dieser Zusammenhänge zu einer Umformulierung des Auftrages
- 159 der Diakonie in Hiohtung auf eine "gesellschaftliche" Diakonie nötigen würde. Jene Gruppen sind vielmehr allein durch die folgende theologische Aussage qualifiziert: "... In der gesamten irdischen Tätigkeit des Erlösers zeigt sich jener Teil der Menschheit, der sonst nur eine Handerscheinung аш Leibe der (»esellschaft darstellt, im Mittelpunkt des Lichts, das der роч Scheinwerfer der göttlichen Liebe darauf geworfen hat". ^^ Eine solche Aussage ist der Vermittlung mit den spezifisch "gesellschaftlichen" Bedingungen der Moderne weder bedürftig noch fähig. Die theologische Betrachtungsweise im Sinne E r i ш m s steht vielmehr in pxirem Segensatz zu dem, wie sich der Mensch unter gesellschaftlichem Aspekt darstellt: Es "steht die Beziehungsnähe der Diakonie zu dem ihr anvertrauten Menschen in umgekehrtem Verhältnis zu seinem Nutzwert für Staat und Gesellschaf 2. Mit der theologisch motivierten Kritik an einer solchen Vermittlung verbinden sich aber bei Ζ r i m m auch bestimmte Urteile über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft. Wie bei G e r s t e n m a i e r ist dafür eine negative Wertung des Säkularisierungsvorganges konstitutiv. Dieser hat die Chancen, die in der außergewöhnlichen Situation der Nachkriegszeit noch vorhanden waren, um vermittels des Hilfswerkes diakonisch für die Entrechteten einzutreten,mehr und mehr verringert: "Ist denn die Säkularisation in den letzten Jahrzehnten nicht nur immer weiter fortgeschritten? Hat sie nicht heute einen verzehnfachten Umfang und Tiefgang...? Handelt es sich auch heute noch um Entrechtete, die nach einem Anwalt rufen? Und ergibt sich auch die kleinste Chance, daQ ein richtungweisendes Wort zur Struktur der Gesellschaft von dieser selbst überhaupt noch gehört und aufgenommen wird? Wer nur hinter jemandem herruft, der ihm längst davon gelaufen ist, bietet leicht entweder einen OQC tragischen oder einen kläglichen Anblick". Die "gesellschaftliche Diakonie" wird dadurch zutiefst problematisch, "daß die heutige Gesellschaft sich im Westen wie im Osten meilenweit von der Mitte der christlichen Botschaft entfernt hat, daß sie als christliche Gesellschaft gar nicht angesprochen werden will, daß sie sich bestenfalls als weltanschaulich neutral oder plura-
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296 liatiach ... v e r s t e h t . . ^ Vielleicht läßt die pluralistische Gesellschaft Ansätze zu einer "gesellschaftlichen Ciakonie" gewähren, aber - so ist nach Ζ r i m m zu fragen - : Ist eine "Entfaltung des Begriffes der Diakonie bis in die Sozialpolitik und in die (ïesellschaftskritik hinein ... bloß der freie Auslauf innerhalb der westlichen Demokratien, geschützt und toleriert von einem wohlwollenden System, oder ist es geboten durch das Neue Testament und deshalb unaufgebbar?" "... Wir wollen doch nicht als bloße Nutznießer der westlichen Welt Diakonie treiben und dabei der Christenheit in dem weiten Raum zwischen China und Eisenach vergessen oder ihr gar ein Martyrium aufdiktieren, das zu leisten wir selbst dann womöglich gar nicht imstande wäDie Distanz, die die Kirche gegenüber der Gesellschaft zu wahren hat, gilt auch für deren staatliche Organisationaform, den Wohlfahrtsstaat oder wie К r i m m mit G e r s t e n 298 m a i e r auch sagt: den "Versorgungsstaat". ^ Er versteht diesen ganz im Sinne G e r s t e n m a i e r s und unter Bezug auf E. B e r g g r a v s berühmte Thesen,^^^ wonach der Wohlf-ahrtsstaat nach Faschismus und Kommunismus "500 "die nächste, die moderne Form des totalen Staates" darstellt. Dieae staatliche Gestaltung ist nicht mehr veränderbar, korrigiert werden kann höchstens die innere Einstellung zu ihr. Es muß der Meinung entgegengetreten werden, daß durch den Sozialstaat alle Bedürfniaae des Menschen gestillt werden könnten: "Der Mensch, der sonst nichts weiter zu bedürfen meint, bedarf dann auch seines Gottes nicht mehr, nicht mehr der Erlösung, nicht mehr der Vergebung aller Schuld. Darin erst liegt der Verzicht auf sein Mensch-Sein". Wenn W e n d l a n d für eine ao verfaßte Gesellachaft ein theologisch verantwortetes, von der "gesellscherftlichen Diakonie" zu praktizierendes Leitbild aufstellt, nämlich das der "societas semper reformanda", dtuin kommt er zudem in bedenkliche Nähe zur katholischen Lehre der "aocietaa p e r f e c t a " . E r muß sich dann zumindest der Gefahr bewußt sein, daß aich die gesellschaftliche Diakonie damit auf eine Ebene mit anderen Gesellschaftssystemen, vorweg mit dem Dialektischen Materialismus, begeben könnte, die alle von der "gesellschaftlichen Prägungsfä-
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M g k e i t des Menschen", топ der "Yision des lenkbaren, des prägbaren, des machbaren Menschen" ausgehen. Wer da konkurrieren will, "darf ... hinsichtlich der Präzision seiner Methode und seines Ziels mindestens nicht zurückbleiben".'®' Um solchen Eonseauenzen nicht zu erliegen, darf man keinen Augenblick aus dem Äuge verlieren, daß es gerade um des diakonischen Auftrages der Kirche willen eine christliche Gesellschaftslehre im Sinne eines Systems nicht geben kann: "Von keiner Gesellschaftsform wird die Kirche sagen können, daâ es die ihre ist und dai3 auf ihr in besonderer Weise das Wohlgefallen Christi ruht".'®^ All diese Feststellungen dürfen nach К r i m m nicht im Sinne einer Resignation mißverstanden werden. Aber sie nötigen zu einer Konzentration auf die "wahrhaft königliche Freiheit" der Kirche, die - "auch in einem kommunistischen Staat" "erst recht an's Licht" zu bringen, die wirkliche Aufgabe einer sich diakonisch verstehenden Kirche wäre. Gemeint ist damit "die Möglichkeit..., mitten in einer entgöttlichten Gesellschaft am eigenen Leib tmd an den eigenen Gliedern ... das von einem sakralen Mittelpunkt her geordnete und durchleuchtete Zusammenleben der Menschen" darzustellen. 5. Damit 1st bereits die Position angegeben, von der sich К r 1 m m s Q^itlk herleitet: Sie Slakonle als Grundfunktion der Gemeinde kann nur im Gegenüber zur Gesellschaft, sicherlich im Gegenüber zur "entgöttlichten" modernen Gesellschaft, begriffen werden. Gerade das von К r i m m - zu Recht - hinter dem Reden von "gesellschaftlicher Dlakonle" vermutete Motiv, das Empfinden der Schuld angesichts der "Versäumnisse der Kirche, ja ... Ihrer Unterlassungssünden und Verschuldungen gegenüber der sozialen F r a g e b e r e c h t i g t zur skeptischen Beurteilung des Sinnes und der Möglichkelten einer gesellschaftlichen Diakonle. Bs 1st nach К r 1 m m zu fragen: "Soll sich dasselbe Schicksal unter anderem Vorzeichen ein zweites Mal abspielen? Hat die Kirche in einer durch und durch weltlichen Gesellschaft eine andere Möglichkeit als zunächst die, im eigenen Hause alles aufs Beste zu bestellen und dann aus den Fenstern dieses zwar bescheidenen, aber sauberen Hauses das Licht In die Nacht hinaus erstrahlen zu lassen, soweit es nur irgend gesehen
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werden kann?" Wenn die Kirche "Porderiingen an die Sesellschaft stellt, die sie selbst nicht beispielhaft praktiziert hat, dann wird ihr diese ganze Gesellschaft nur eine billige Redewei"508 se vorwerfen..." Damit ist ein Weg gewiesen, "der der christlichen Gemeinde auch unter dem roten Stern nicht versperrt werden kann: wie an einem Modellkörper an der eigenen Gemeinde alles das zu verwirklichen, was man an Nächstenhilfe, an Liebesdienst, an Sprungbereitschaft gegenüber dem Elend für unerläßlich hält." Dieser Weg ist eben deshalb der der Gemeinde gemäße, weil er unabhängig von den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen jeder Zeit und für jede Situation gilt. 4. Als Konsequenz daraus erhellt nun die wesentliche Differenz in der gemeinsamen ekklesiologischen Grundlage: "Diakonie" bezeichnet eine Punktion der Gemeinde "nach innen", die höchstens in der Weise wie "Licht" in die "Finsternis" gelangt, also von selbst, frei von gesellschaftspolitischer, der Gemeinde fremder Zielsetzung, "nach außen" dringt. Die Beziehung der Gemeinde "nach außen" muß als "Mission" oder "Verkündigung" einer anderen ekklesiologischen Grundfunktion, nämlich der Martyria, zugeordnet werden. К r i m m will mit seiner Kritik das Recht einer christlichen Sozialethik gar nicht grundsätzlich bestreiten, nur gehört diese eben zur Martyria und nicht zur Diakonie. Allerdings stellt sie eine abgeleitete, vom gemeindlichen Auftrag ziemlich weit entfernte Form der Martyria dar: Sozialethik "ist eine Aufgabe der Lehre, der Forschung, der Klärung im Kreis berufener Fachleute, also der Gesetzeapredigt an zuständiger Stelle, aber nicht die Aufgabe einer Diakonie der Christenheit". Sozialethische Aufgaben stellen "an die Liebes- und Opferkraft der Gemeinde ... kaum direkte Anforderungen..."'^® К r i m m s Kritik, die Grundfunktion "Diakonie", "deren nicht minder spezieller, universaler und unaufgebbarer Charakter sowohl der deutschsprachigen wie der ökumenischen Christenheit erst allmählich bewußt wird", erneut mit anderen Punktionen der Kirche zu vermischen, trifft nicht nvcc W e n d l a n d , sondern bereits W i c h e r n s Konzeption der "Inneren Mission".'^^ Die notwendige Klarheit ergibt sich nur durch einen konsequenten Rückgang auf das Neue Testament. Vorbildlich kann für К r i m m
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die altkirchliche Praxis bia hin zu Konstantin sein: "Im (rottesdienst als Liturg ganz Gott zugewendet, hatte er außerhalb des Gotteshauses nur mit dem menschlichen Elend in seinen verschiedenen Pormen zu tun... Es war nichts in seinen I^mktionen, das nicht einem Wesenszug Christi entsprach und einen bestimmten Teil seiner Wirksamkeit z\im Ausdruck brachte. Von Ihm als 312 dem Urbild ... ging eine zwingende und prägende Kraft aus." 5. Abschließend urteilt К r i m m : Die Gemeinde, das einzig mögliche Subjekt der Siakonie, muß daran scheitern, "gesellschaftliche Diakonie" zu praktizieren. "Dafür fehlt ihr sowohl die Sachkenntnis wie der Auftrag". Der Auftrag und die Sachkenntnis, die dazu nötigen, gesellschaftliche Strukturveränderungen voranzutreiben, liegen ausschließlich bei außerhalb der Gemeinde agierenden Personen, den "Fachleuten" (s.o.), Politikern, Wissenschaftlern, oder Gruppen wie z.B. den Parteien und Gewerkschaften. К r i m m erwägt nun ähnlich wie G e r s t e n m a i e r in seinen letzten Äußerungen zum Thema der "politischen Diakonie", ob die christliche Motivation solcher Personen oder geir Gruppen als "gesellschaftliche Diakonie" zu bezeichnen wäre. Er schließt jedoch diese Möglichkeit entschiedener aus, als es G e r s t e n m a i e r tat: "... Warum spricht man dann nicht auch von einer medizinischen, von einer soziologischen, von einer pädagogischen, einer ökonomischen, einer politischen oder von einer Juristischen Diakonie? Wem wäre ein Dienst damit getan, wenn ein aus neutestamentlichem Urgestein gemeißelter Grundbegriff am Ende so verallgemeinert wird, daß er auf alles und nichts anzuwenden ist?"^^^ Die Gegenargumente W e n d l a n d s gewinnen ihren präzisen Stellenwert erst aus der unten zu verhandelnden Entfaltung der "gesellschaftlichen Diakonie" im Hahmen der "Theologie der Gesellschaft". Wir nehmen hier nur das vorweg, was in der Konsequenz der bisher dargestellten Position W e η d l a n d s , seiner Neuformulierung einer Theologie der Diakonie, liegt. Um beim letzten Punkt zu beginnen, so zeigt sich daran - in der Sicht W e n d l a n d s - die Unfähigkeit einer
- 164 Position, wie sie von К г i m m vertreten wird, das für die moderne Geschichte fundamentale Phänomen der "Gesellachaft" angemessen zu reflektieren. Бае erhellt daran, daB К r i m m den Begriff "gesellschaftlich" mit "pädagogisch", "ökonomisch", "juristisch" etc. qualitativ auf die gleiche Ebene stellt. Bereits in W e n d l a n d s frlihen Äußerungen zur "politischen Diakonie", erst recht dann aber in seiner späteren Entfaltung einer "gesellschaftlichen Diakonie" geht es ihm darum, ein theologisch begründetes, daher beim Diakonat einsetzendes systematisches Verständnis der spezifischen Lebensbedingungen des modernen Menschen zu gewinnen, das nicht bei einer bloßen Kenntnisnahme der Phänomenbereiche, die den modernen Menschen prägen, als "ökonomisch", "juristisch" etc. stehen bleibt, sondern deren innere Struktur zu ergründen sucht. Dabei ist die Erkenntnis der sozialen, institutionell gebundenen Existenz des Menschen, auf die eine Diakonie stößt, die am "ganzen Menschen" interessiert ist, der möglichen Verwendung pädagogischer, juristischer o.a. Mittel vorgeordnet und für diese richtungweisend. Gerade die gesellschaftliche Diakonie setzt hier MaQstäbe, die ein ausuferndes, planloses Agieren mit solchen Mitteln verhindern. Dies gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, daß diese Mittel überhaupt mit dem Ziel gesellschaftlicher Strukturveränderungen von der Kirche legitimerweise gebraucht werden dürfen, was К r i m m bestreitet. Der institutionell vermittelten Existenz des Menschen in der modernen Gesellschaft steht die Diakonie keineswegs so fremd gegenüber, wie es К r i m m mit seiner negativen Fassung des Säkularisierungsvorganges und seiner Schilderung des entseelten automatisierten Wohlfahrtsstaates suggeriert. Da derjenige, der sich für die institutionelle Existenz des Menschen "nicht interessiert oder sie nicht beachtet, ... es gar nicht mit dem wirklichen Menschen zu tun" hat, ist die Diakonie um ihres Bealitätsgehaltes willen verpflichtet, "Strukturen und Planungen der vermittelten Liebe" zu entwerfen. Diese sind "sehr häufig die Voraussetzung dafür, daß die personale, diakonische Hilfe geschehen kann.'^^ Die "vermittelte Liebe" ist nicht das Postulat einer Theologie, die sich um jeden Preis an eine vermittelte Gesellschsift anpassen will, sie ergibt sich vielmehr mit Notwendigkeit aus W e η d -
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christologlsohem Ansatz: Б1е Universalität der Herr-
schaft des dienenden Eyrloe ist nxir dann glaubwürdig, wenn der folgende Satz gilt: "Gesellschaftliche Diakonie der Kirche Tercie einigt Person und Gesellschiift durch dienende Liebe". Daß damit in Wahrheit eine äußerst kritische Punktion gegenüber der modernen Gesellschaft gewonnen ist, wird unten anhand von W e n d l a n d s "Theologie der Gesellschaft" noch deutlich werden. Diese läT^ft gerade darauf hinaus zu zeigen, daß die sich in der gesellschaftlichen Diakonie realisierende Agape die einzige wahre Vermittlimg sein kann, die auf der einen Seite die Freiheit der Person, auf der anderen aber die gesellschaftliche Solidarität des Menschen bewahren kann. Bs ist bereits oben in der Darstellung von W e η d l a n d e Theologie der Diakonie ersichtlich geworden, welche Bedeutung für ihn das Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis hat. Wie gezeigt, nötigt gerade dieses zur Neuformulierung seines die gesellschaftliche Diakonie umgreifenden Ansatzes. Es ist daher konsequent, wenn auch in der Antikritik an К r i m m dieses eine besondere Rolle spielt. Die von К г i m m monierte Verwechslimg von Theorie und Praxis trifft nicht zu: "Auch in der sogeneinnten 'Sozialarbeit' der Kirche pflegen wir Theorie und Praxis ... sorgfältig zu unterscheiden und die Praxis von ideologischen Verfärbungen der notwendigen theologischen Theorie immer wieder zu r e i n i g e n . N u r reicht eben die von К r i m m getroffene Unterscheidung: "Im ganzen Bereich der Diakonie geht es nicht um das Reden, Lehren, Trösten oder Unterweisen, sondern ausschließlich um das Tun, das Zugreifen und das praktische H a n d e l n . n i c h t aus, um auch eine sachgemäße Beziehung von Theorie und Praxis zu gewährleisten. Schließlich folgt bereits aus der oben verhandelten Verhältnisbestimmung von Eschatologie und Ontologie bzw. der kritischen Rezeption naturrechtlicher Aussagen bei W e n d l a n d , daß К r i m m s Kritik, der gesellschaftlichen Diakonie liege ein christliches Gesellschaftssystem zugrunde, was gerade aus der Nähe von W e n d l a n d s Parole der "societas semper reformanda" zur katholischen "societas perfecta" erhelle, nicht verfangen kann. Was für К r i m m als der einzige - illegitime - Ausweg angesichts einer so entchristlichten Gesellschaft
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wie der säkularisierten erscheint, stellt sich für W e η d l a n d , weil er diese säkularisierte Sesellschaft um der Menschen willen, die in ihr leben, ernst nimmt, gerade umgekehrt dar: "Die gesellschaftliche Diakonie setzt den Tatbestand der säkularisierten Gesellschaft in allen ihren Handlungen und Einrichtungen voraus. Sie ist niemals dem Idol der 'christlichen Gesellschaft' nachgelaufen". Sie verwechselt keineswegs bestimmte bestehende oder anzustrebende Gesellschaftsformen mit dem Heich Christi. Sie "dient dem Kampfe um die Humanisierung der Gesellschaft und nicht ihrer 'Verchristlichung'... Die Kontroverse zwischen К r i m m und W e n d l a n d läßt sich auf folgenden Nenner bringen: Gemeinsam ist beiden das Bemühen, die Diakonie aus ihrem Dasein am Rande zur Grundfunktion der Kirche zu befördern. Dabei muß es darum gehen, sie aus ihrer partiellen Verengung zu befreien und in eine universale Weite hinauszuführen. Strittig ist nun, ob eine solche Universalität die Vermittlung mit dem Phänomen "Gesellschaft" ein- oder ausschließt. Jede der beiden Positionen versteht sich als christologisch begründet. Während für W e n d l a n d gerade die universal-eschatologische Christologie zur Reflexion gesellschaftlicher Zustände nötigt, kann auch К r i m m bei der Explikation der Gegenposition nicht auf Aussagen über die Gesellschaft verzichten. Und diese sind nun mit der sehr allgemein gebrauchten negativen Passung der Säkularisierimgsthese nur sehr unzureichend theologisch abgesichert. Abgekürzt läßt sich sagen: bei E r i m m bedeutet die Wiederentdeckung der diakonischen Tundamentalstruktur eine Konzentration auf die diakonisch wirksame Gemeinde, für W e n d l a n d bedeutet dies, daß wieder die ganze Wirklichkeit der Gemeinde und der Gesellschaft als unter der Herrschaft Gottes stehend erkannt und daß diese Erkenntnis in der vermittelten und vermittelnden Liebe praktiziert wird. К г i m m s Forderung der Konzentration geht eher mit einer pessimistischen als mit einer kritischen Sicht der Gesellschaft Hand in Hand. Die Säkularisierungstendenz der Gesellschaft wird als übermächtig ablaufender Prozeß empfunden, der ein Eingreifen oder eine Mitgestaltung kirchlicherseits von vorneherein ausschließt. Nur eine Änderung der inneren Einstellung zu diesem Prozeß ist möglich, wobei
- 167 diese inderuiig lediglich auf eine negative Qualifizierung der Gesellschaft hinausläuft, derart, daß in ihr kein Heil sei. Konzentration im Sinne Ζ r i m m s heißt also Rückzug aus der Gesellschaft, die ihrem eigenen übermächtigen Schicksal, der Säkularisation überlassen bleibt. Auch die Berufung auf den festen Grund des neutestamentlichen Sprachgebrauchs trägt die Züge eines solchen Rückzugs. Es muß eine Eindeutigkeit postuliert werden, die so nicht vorhanden ist. Zudem müssen die historischen und gesellschaftlichen Bezüge des neutestamentlichen Zeugnisses abgeblendet werden, welche
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in sei-
ner Auslegung von Phil. 2 anklingen ließ. Das alles spricht für die Berechtigimg von W e η d l a n d a Kritik. Diese ist dort am überzeugendsten, wo W e n d l a n d darauf hinweist, daß die Ablehnung der gesellschaftlichen Diakonie nur die faktische Vermittlung des diakonischen Handelns der Kirche in den gesellschaftlichen Bezügen 320 versohleiert. In den theoretischen Äußerungen К r i m m s zeigt sich dies daran, daß paradoxerweise die Distanz der Diakonie zur Gesellschaft mit einer Theorie, der Säkularisierungsthese, begründet wird, die selbst eine - erst sekundär theologisch adaptierte - grundlegende Gesellschaftstheorie der Moderne darstellt. Nur durch die Thematisierung jener faktischen Vermittlung unter dem Stichwort der "gesellschaftlichen Diakonie" wird diese kontrollierbar. Der Verzicht darauf bedeutet selbst ein politisches und gesellschaftliches Votum, was daraus erhellt, daß К r i m m Auftrag und Sachverstand zur Strukturveränderung unbesehen den vorfindlichen Personen und Gremien im bestehenden politischen und gesellschaftlichen System attestiert. 2.222
Die "christozentrische" Diakonie der Gemeinde als die wahre Antwort auf die soziale Präge
Um den Einspruch К r i m m s noch einmal in einem größeren theologischen Kontext zu verdeutlichen, lohnt sich ein Eingehen auf P a u l P h i l i p p i s Untersuchung "Christozentrische Diakonie", welche für die jüngste Entwicklung in
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der theologischen Neufassung der Diakonie grundlegend geworden ist, Sie ist К r i m m s Verständnis der Diakonie eng verbunden (s.u.)· Zwar findet in der Untersuchung selbst die Auseinandersetzung mit W e n d l a n d nur implizit statt, doch ist auch diese für die uns hier beschäftigende Problematik, den an der Präge des gesellschaftlichen Bezuges aufbrechenden Dissens in der gemeinsamen Bemühung, Wesen und Auftrag der Kirche zentral vom Diakonat her neu zu verstehen, außerordentlich erhellend. Explizit finden sich am anderen Ort einige kritische Anmerkungen P h i l i p p i s zum Titel eines Aufsatzes von W e n d l a n d , "Diakonie zwischen Kirche und Welt", welcher präzise das Srundthema von W e n d l a n d a zur gesellschaftsdiakonischen Konsequenz zwingendem Neuentwurf einer Theologie der Diakonie angibt. P h i l i p p i fragt dazu, "ob nicht vielmehr die Kirche selbst es ist, die mit ihrer Diakonie 'zwischen' der Scylla falscher Weltlichkeit und der Charybdis imechter 'Geistlichkeit', in (aber nicht von) der Welt lebt und gerade darin ihre diakonische Struktur zu erleben hat (nicht die Diakonie zwischen der Kirche und der Welt ! !) 321
..." In dieser Fragestellung sind sowohl P h i l i p p i s Position als auch die sich daraus ergebende kritische Wendung gegen W e n d l a n d s Konzept in nuce enthalten: Als "Diakonie zwischen Kirche und Welt" kann die diakonische Struktur der Gemeinde gerade nicht angemessen beschrieben werden, da dann die Gefahr besteht, daß die "Welt" für die Begründung der Diakonie konstitutiv werden könnte. Wie bei К r i m m fragen wir zunächst nach den Gemeinsamkeiten der theologischen Bemühung um die Diakonie bei P h i l i p p i und W e n d l a n d . Wie W e n d l a n d sieht sich P h i l i p p i durch das Pehlen einer angemessenen Entfaltung der Diakonie im Gesamtrahmen des theologischen Lehrgebäudes zu seiner Grundlegung veranlaßt. Wie W e η d l a n d sieht er einen Grund für diesen Mangel in dem Auseinanderfallen von Theorie und Praxis. Die "leise Verachtung der Theorie" bei den Praktikern verdeckt nur, was jede eindringende Analyse zeigt: "... Auch prononciert untheologische ja antitheologische Bewegungen haben ihre Theologie in sich, und zwar 322 je unabsichtlicher, desto deutlicher und enger."
- 169 Bine PraiiB, welche die ihr notwendigerweise inhärenten theoretiachen Grundentecheidungen verdrängt, bleibt eine bewußtlose und damit eine verantwortimgelose Praxis. Dies ist auch nach P h i l i p p i s Meinung dadurch gefördert worden, daß die theologischen Cisziplinen, deren (regenstand eigentlich die Ъ2Ъ
Diakonie sein müßte, diesen sträflich vernachlässigt haben. Der ihr allein angemessene Ort befindet sich "im Schnittpunkt von Christologie und Bkklesiologie, von Dopnatik, Ethik und •Praktischer Theologie'..." Deshalb ist der theoretischen Bewältigung der Diakonie nicht durch die Etablierung eines neuen Faches "Diakonik" im Kosmos der theologischen Wissenschaft Genüge getan, "dringlich ist vielmehr eine qualitative Integration der Diakonie in die Theologie, der Theologie durch die Diakonie und der Theologie in die Diakonie." Bin gesondertes diakoniewissenschaftliches Vorgehen hat höchstens ein Recht, um diesen für die theologische Theorie und die kirchliche Pra•524. Iis entscheidend verändernden Prozeß zu initiieren.'^ Da das reformatorische Erbe selbst - wenn auch nur dadurch, daß die Reformation die diakonische Problematik zugunsten der Rechtfertigungspredigt zurückdrängte, und durch spätere vereinseitigende Interpretationen - zu den Paktoren gehört, die die theologische Bewältigimg der Diakonie behindert haben, muß - im Sinne der Reformation ! - von der reformatorischen norma normata zur norma normans des Neuen Testamentes zurückgefragt 325 werden.·^ Diese Rückfrage ergibt zusanmengefaßt, daß folgende Elemente das neutestamentliche Verständnis der Diakonie prägen: "1. Die stets wiederkehrende Gegenüberstellung von ChristusZugehörigen und Christus-Tremden..., 2. das qualitative Entscheidungsmoment der Zuordnung zu einer dieser beiden Gruppen..., 3 . die christologische Kennzeichnung dieser Qualitas als eines umwertenden Paktors, der denмуоглиесог zumSijqtoyor macht, und wieder in dem