Der Menschensohn in Daniel 7: Eine Sichtung der neueren Diskussion [1 ed.] 9783737013710, 9783847113713


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Der Menschensohn in Daniel 7: Eine Sichtung der neueren Diskussion [1 ed.]
 9783737013710, 9783847113713

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Osnabrücker Studien zur Jüdischen und Christlichen Bibel

Band 3

Herausgegeben von Georg Steins

Michael Friedrich

Der Menschensohn in Daniel 7 Eine Sichtung der neueren Diskussion

Mit 3 Abbildungen Mit Zusammenfassungen in englischer und französischer Sprache

V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen bei V&R unipress. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6339 ISBN 978-3-7370-1371-0

Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

2. Stellung von Dan 7 im Danielbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die erste Buchhälfte und Dan 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Dan 7 und die zweite Buchhälfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 14

3. Analyse von Dan 7 . . . . . . . . . . . 3.1 Arbeitstext Dan 7 . . . . . . . . . . 3.2 Textstruktur . . . . . . . . . . . . 3.3 Abschnitt Vision (Dan 7,1–14) . . 3.4 Abschnitt Deutung (Dan 7,15–28) .

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21 21 24 30 51

4. Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung 4.1 Die messianisch-davidische Deutung . . . . . . . . . 4.2 Die Menschenkönigsdeutung . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die symbolisch-kollektive Deutung . . . . . . . . . . 4.4 Die angelologische Deutung . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Deutung auf JHWH . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Die Deutung als Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . .

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67 67 72 75 82 89 96

5. Bewertung der Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die messianisch-davidische Deutung . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Menschenkönigsdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die symbolisch-kollektive Deutung . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die angelologische Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Synthese der symbolisch-kollektiven und der angelologischen Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Die Deutung auf JHWH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Die Deutung als Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Deutungstypen im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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99 99 101 103 105

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110 114 117 119

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6

Inhalt

6. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

English summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Résumé français . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

1.

Einleitung

Ich schaute in meiner Vision in der Nacht […]. Und siehe, ein viertes Tier, furchtbar und schreckenerregend und außergewöhnlich stark, […] es fraß und zermalmte, und den Rest zertrat es mit seinen Füßen. […] [I]ch schaute, bis das Tier getötet und sein Leib zerstört und dem Brand des Feuers übergeben wurde. […] Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. Und er kam zu dem Alten an Tagen, und man brachte ihn vor ihn. Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. (Dan 7,2–14pass)

Die skizzierte Schauung gleicht einer apokalyptischen Filmszene. Vier Tiere entsteigen dem Meer, das eine zerstörerischer als das andere. Eine ältliche Figur nimmt auf dem Thron Platz. Die Tiere werden gerichtet, das vierte gar den Flammen übergeben. Dann kommt eine Gestalt hinzu, sie lässt sich vor den thronenden Älteren bringen und nimmt die ewige universale Königsherrschaft entgegen. Die Gewalt hat ein Ende, alles wird gut. Die hier nachgezeichnete Vision ist im Danielbuch der Bibel, genauer in Dan 7, enthalten und wird der Gattung der Apokalyptik zugeordnet. Abgesehen von einigen apokalyptischen Erweiterungen in den Prophetenbüchern »ist Buch Daniel das einzige Buch [innerhalb des Alten Testaments], das dieser Gattung angehört«1. Der griechische Ausdruck apokálypsis bedeutet ›Enthüllung‹ und meint im biblischen Kontext die nachexilische Offenbarung der Geschichtsplanung Gottes in einer Zeit großer Unterdrückung.2 Angesichts der Religionsverfolgung des Volkes Israel durch die griechischen Nachfolger Alexanders des Großen, die sich unter Antiochos IV. Epiphanes zuspitzt, »besitzt die alte ›Heilsgeschichte‹ Israels

1 Bauer: Buch Daniel, 48. 2 Vgl. Haag: Daniel, 19.

8

Einleitung

keine Verläßlichkeit u. keine Analogiefähigkeit mehr«3. Das herkömmliche Geschichtsbild wird eschatologisiert und die Erlösungshoffnung auf das ›Ende‹ aller Tage verlegt. Erlösung ist nur noch »in krassen u. totalen Zusammenbrüchen«4 denkbar.5 Vor diesem historisch-theologischen Hintergrund erscheint in Dan 7 die apokalyptische Figur »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13). Diese hat seitdem eine große Wirkungsgeschichte entfaltet: In den ersten Adaptationen von Dan 7 wird sowohl im Judentum als auch im Christentum die Identitätsfrage hinsichtlich des ›Sohns eines Menschen‹ zugunsten einer individuellen Figur beantwortet: »The most usual identification was the messiah […].«6 So präsentieren die Bilderreden des ersten Henochbuches sowie die Traumvision 4 Esra 13 einen präexistenten von Gott Gesalbten.7 Der ›Sohn eines Menschen‹ aus Dan 7 »verselbstständigt sich […] zu einer eigenen Figur«8, was am titularen Gebrauch der sprachlichen Wendung in den Evangelien abzulesen ist. Dort ist der ›Menschensohn‹ eine erwartete Hoffnungsgestalt,9 die von den frühen Christen als Christus identifiziert wird.10 Die moderne Bibelkritik zieht die messianische Deutung der Gestalt in Dan 7,13 in Betracht, kommt jedoch auch zu anderen Schlüssen, die bis heute kontrovers diskutiert werden.11 So kann die menschenähnliche Figur als ein Kollektivsymbol für das Volk Israel gesehen werden. Die Entdeckungen der Qumran-Schriften, die eine starke Präsenz himmlischer Wesen in der Religion zur Zeit der Hellenisierung bezeugen und zahlreiche Beschreibungen von Engeln in Mannes- oder Menschengestalt kennen, bestätigen wiederum eine andere Sicht: Die apokalyptische Figur in Dan 7 ist womöglich ein Engel.12 Darüber hinaus fällt auf, dass der danielische Dualismus des »Alten an Tagen« (Dan 7,13) und des »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) dem kanaanäischen Muster des Hauptgottes El und des göttlichen Wolkenfahrers Baal entspricht und sich offenbar aus diesem herausgebildet hat.13 Das mythische Muster einer oberen und einer unteren Gottheit, das sich auch in Dtn 32,8–9 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Müller: Apokalyptik, 814–815. Müller: Apokalyptik, 816. Vgl. Müller: Apokalyptik, 814–816. Collins: Daniel, 308. Vgl. Collins: Daniel, 306–308. – Hier gibt Collins folgende Belegstellen aus dem ersten Henochbuch an: 1 Hen 46,1; 48,3.10; 52,4. Ziller: Menschensohn, Kap. 1. Vgl. Ziller: Menschensohn, Kap. 1–2. Vgl. Collins: Daniel, 307. Für eine erste Übersicht der hauptsächlich vertretenen Deutungstypen siehe auch: Lucas: Daniel, 116–117. Vgl. Collins: Daniel, 308–310. Vgl. Collins: Daniel, 289–291.

Einleitung

9

und Ps 82 niederschlägt, gab in jüngster Zeit Anlass dazu, den ›Alten an Tagen‹ und den ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ in Dan 7 mit dem altisraelitischen El und JHWH gleichzusetzen.14 Angesichts der bleibenden Aktualität dieser kontrovers geführten Identitätsdebatte ergibt sich für die vorliegende Arbeit folgende zentrale Fragestellung: Wer ist die apokalyptische Menschengestalt in Dan 7? Um sich dieser Frage zu nähern, werden in einem ersten Schritt die Stellung und die Funktion von Dan 7 im Danielbuch erörtert, woran die Exegese des Kapitels 7 anschließt. Der nähere Kontext der apokalyptischen Gestalt soll so beleuchtet werden. Es folgt die systematische Darstellung der verschiedenen Deutungstypen, um den Forschungsstand der letzten rund 30 Jahre abzubilden. Mit der Bewertung der Deutungen in einem letzten Schritt soll schließlich eine Antwort auf die Frage nach der Identität der Menschengestalt erwogen werden. Die vorliegende Arbeit verwendet die Elberfelder Bibel als Arbeitsübersetzung. An ausgesuchten Stellen soll die Einheitsübersetzung von 2016 zitiert werden, was mit dem Kürzel ›EÜ‹ gekennzeichnet wird. Passagen aus dem ersten Henochbuch werden aus der Übersetzung von Siegbert Uhlig zitiert.15 Das durchweg gebrauchte generische Maskulinum schließt alle Geschlecher mit ein.

14 Vgl. Segal: Dreams, 144–152. 15 Uhlig: Henochbuch, 461–780.

2.

Stellung von Dan 7 im Danielbuch

Im Kontext des hebräisch-aramäischen Danielbuches nimmt Dan 7 die Funktion eines »Dreh- und Angelpunkt[es]«16 ein, wie im Folgenden anhand des Aufbaus von Dan 1–12 erläutert werden soll. Ein struktureller Überblick über das Buch lässt sich in einem ersten Schritt auf der Gattungsebene verschaffen. Während nämlich »Dan 1–6 eine Sammlung eigenständiger Erzählungen über Daniel (und seine Gefährten)«17 am fremden königlichen Hofe bilden, bestehen die Kapitel 7– 12 aus den Visionen Daniels. Eine ähnliche Art der Aufgliederung in zwei Buchteile ist auch auf sprachlicher Ebene zu vermerken: Nach dem auf Hebräisch überlieferten Einstieg in das Danielbuch (Dan 1,1–2,4a) sind die Kapitel 2–7 größtenteils in aramäischer Sprache, bis der Text für die Kapitel 8–12 wieder zurück ins Hebräische wechselt. Demnach kommt Kapitel 7 aus zweifacher Hinsicht eine besondere Rolle zu, da in dessen Kontext sowohl ein Gattungs- als auch ein Sprachwechsel vollzogen werden, die das hebräisch-aramäische Danielbuch in zwei Hälften teilen. Während der Gattungswechsel mit Beginn des Kapitels geschieht, wechselt das Danielbuch erst mit dem Folgekapitel ins Hebräische. Dan 7 wirkt also wie ein Scharnier, das mit beiden Buchhälften, aber in jeweils unterschiedlicher Art und Weise, verbunden ist.18

2.1

Die erste Buchhälfte und Dan 7

Sprachlich gesehen gehört das Kapitel also zu den ebenfalls in Aramäisch verfassten Erzählungen Dan 2–6. Zudem ist Dan 7 »durch das gemeinsame Motiv von den vier Weltreichen«19 und deren Ablösung durch ein ewiges göttliches Reich mit Dan 2 verbunden.20 Beide Kapitel präsentieren eine Reihe aufeinander 16 17 18 19 20

Bauer: Buch Daniel, 139. Helms: Daniel, Kap. 4. Vgl. Helms: Daniel, Kap. 4. Bauer: Buch Daniel, 139. Vgl. Bauer: Buch Daniel, 139.

12

Stellung von Dan 7 im Danielbuch

folgender Mächte, deren letzter Herrscher in seiner Destruktivität nicht zu überbieten ist, bis der »Gott des Himmels ein Königreich aufricht[et], das ewig nicht zerstört werden wird« (Dan 2,44; vgl. Dan 2,37–44; 7,23–27). Während in Dan 2 die vier sukzessiven Reiche durch vier verschiedene Elemente einer Statue symbolisiert werden, deren viertes Element für »ein geteiltes Königreich« (Dan 2,41) steht (vgl. Dan 2,32–35.37–45), versinnbildlicht Dan 7 die vier Reiche in Form von vier hybridartigen Tierwesen (vgl. Dan 7,4–7.17). Deren viertes Tierwesen besitzt zehn Hörner, diese werden jedoch von einem kleinen, emporwachsenden Horn übertroffen (vgl. Dan 7,8). Dan 2 Haupt (aus Gold) Brust / Arme (aus Silber) Bauch / Lenden (aus Bronze) Schenkel (aus Eisen) / Füße (aus Eisen und Ton)

Dan 7 Löwe Bär Leopard viertes Tier 10 Hörner kleines Horn

Durch das gemeinsame Schema der vier Reiche bilden Dan 2 und 7 den Rahmen für einen konzentrischen Aufbau der aramäischen Buchhälfte: Die zwei Kapitel umklammern Dan 3 und 6, wo der Totalitätsanspruch weltlicher Königsmächte vorherrscht und Daniel sowie seine Gefährten in der Bewährung ihres Glaubens eine »wunderhafte Rettung aus tödlicher Bedrohung (Feuerofen und Löwengrube)«21 erfahren. Diese motivisch miteinander korrespondierenden Kapitel wiederum rahmen die Kapitel 4 und 5, die von den jeweils unterschiedlichen Haltungen der babylonischen Könige gegenüber Gott als obersten Souverän erzählen. Während in Dan 4 der König Nebukadnezar die ewige Königsherrschaft Gottes anerkennt, kehrt sich Belsazar von einem solchen Bekenntnis ab und findet infolgedessen den Tod.22 Darüber hinaus ist die erste Buchhälfte von dem Motiv der obersten Souveränität des Herrschaft verleihenden Gottes durchflochten: »That sovereign God is the one who gives kingship and power and glory ›to whom[ever] he will[s]‹ […].«23 Er verleiht Königen Herrschaft, kann diese aber auch wieder zurücknehmen.24 Das Thema der obersten Souveränität Gottes findet sich in den folgenden Danielpassagen wieder:

21 22 23 24

Steins: Vorlesung Buch Daniel, 27. 06. 2020. Vgl. Bauer: Buch Daniel, 45–46. Seow: Daniel, 14. Vgl. Seow: Daniel, 14. – Hier führt Seow folgende Belegstellen aus der New Revised Standard Version of the Bible an: Dan 2,21; 4,17.25.32; 5,21.

Die erste Buchhälfte und Dan 7

13

Dan 2 21 Er ändert Zeiten und Fristen, er setzt Könige ab und setzt Könige ein… Dan 4 14.29 der Höchste [hat] Macht […] über das Königtum der Menschen und […] verleiht [es], wem er will… 22 der Höchste [herrscht] über das Königtum der Menschen […] und […] verleiht [es], wem er will. Dan 5 21 der höchste Gott [hat] Macht […] über das Königtum der Menschen und […] [setzt darüber ein], wen er will.

Auch in Dan 7 ist das Thema der Vergabe und Wegnahme von Herrschaft enthalten: Dan 7 12 den übrigen Tieren wurde ihre Herrschaft weggenommen, und Lebensdauer wurde ihnen gegeben bis auf Zeit und Stunde 14 ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben 18 die Heiligen des Höchsten werden das Reich empfangen 22 bis […] das Gericht den Heiligen des Höchsten gegeben wurde 26 man wird seine Herrschaft wegnehmen 27 Und das Reich und die Herrschaft und die Größe der Reiche […] wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden.

Dan 7 greift auf das Thema aus den Hoferzählungen zurück, dennoch fällt ein Unterschied auf, wie dem Vergleich zu entnehmen ist: Während in Dan 2, 4 und 5 Gott als Subjekt des Gebens und Nehmens von Herrschaft beschrieben wird, lässt Dan 7 in der Formulierung der Verse das agierende Subjekt gänzlich aus. Es erscheinen nur die passiven Instanzen, denen eine Übergabe oder Entmachtung widerfährt. In dieser Thematik der Übergabe und Zurücknahme von Macht kann Dan 7 als Höhepunkt im aramäischen Danielbuch gesehen werden, da dort, insbesondere in den Versen 9–14, im Rahmen einer Gerichtsszene im Thronsaal die Zurücknahme von Herrschaft und deren Übergabe an die Gestalt »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) ausführlich beschrieben wird.25 Im Anschluss werden in demselben Kapitel weitere Herrschaftsempfänger genannt, deren Identitäten in dieser Arbeit noch geklärt werden müssen. Diese sind »die Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18), die »Heiligen« (Dan 7,22) und das »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27). Im aramäischen Danielbuch wird schließlich das Motiv der Souveränität Gottes um die refrainartigen Doxologien ergänzt, in denen die göttliche ewige Herrschaft gepriesen wird: 25 Vgl. Seow: Daniel, 14–15.

14

Stellung von Dan 7 im Danielbuch

Dan 3,31–33 Dan 4,31 Dan 6,26–27 Dan 7,14.27

Das Thema der Souveränität Gottes im Allgemeinen und auch speziell in der Kombination mit einer Doxologie verbindet Kapitel 7 mit der ersten Buchhälfte.26 Zu der Auflistung der Doxologien ist Dan 2,20 zu ergänzen.27 Der hymnenartige Charakter erstreckt sich jedoch bis Vers 23, schwenkt dort aus einer Lobrede über Gott in eine Lobrede an Gott um und ist daher weiter zu fassen: Dan 2,20–23.

2.2

Dan 7 und die zweite Buchhälfte

Hinsichtlich der Gattung ist Dan 7 jedoch dem zweiten Teil des hebräischaramäischen Danielbuches, den Visionen, zuzuordnen. Wie auch in Dan 8–12 steht die Vision in Dan 7 für sich, ohne, wie noch die Träume in den vorigen Kapiteln, in eine Hoferzählung eingebettet zu sein.28 Hat Daniel zuvor die Träume der fremden Könige gedeutet, rückt er von nun an selbst in die Position des Träumenden und Sehenden, der während der Vision der Deutungshilfe durch Engel bedarf.29 Auch die Erzählperspektive wechselt. Während in Dan 1–6 über Daniel in der dritten Person berichtet wird, schildert dieser in Dan 7, wie auch weiterhin in Dan 8–12, das Geschehen aus der Perspektive des Ich-Erzählers mit der Ausnahme einer Einleitung in der dritten Person Singular (vgl. Dan 7,1).30 Eine weitere Ausnahme dieser Art bietet die Einleitung in Dan 10,1.31 Darüber hinaus setzt sich Dan 7 von den aramäischen Erzählungen dadurch ab, dass in diesem Kapitel ein Bruch in der Chronologie der regierenden Könige, mithilfe derer ein jedes Kapitel des Buches datiert wird, erfolgt. Die Abfolge der Babylonier Nebukadnezar (Dan 1–4) und Belsazar (Dan 5), des Mederkönigs Darius (Dan 6) und des zuletzt auftretenden Persers Kyrus (Dan 6,29) wird nach Kapitel 6 nicht fortge-

26 Vgl. Segal: Dreams, 136–138; Seow: Daniel, 14–15. – Segal erklärt, dass der Autor von Dan 7 die Sätze in den Versen 14 und 27 angesichts sprachlicher Überschneidungen bewusst mit den Doxologien aus den vorigen Danielkapiteln verknüpft haben muss. Vgl. Segal: Dreams, 136– 138. Daher sollen die Sätze in Dan 7,14.27 in dieser Arbeit ebenfalls als Doxologien bezeichnet werden. 27 Vgl. Söding: Doxologie, 354. 28 Vgl. Collins: Daniel, 277; Bauer: Buch Daniel, 139. 29 Vgl. Bauer: Buch Daniel, 23. 30 Vgl. Collins: Daniel, 24. 31 Vgl. Seow: Daniel, 99.

Dan 7 und die zweite Buchhälfte

15

führt.32 Vielmehr greift Dan 7 in seiner Datierung auf das »erste[ ] Jahr Belsazars, des Königs von Babel,« (Dan 7,1) zurück. Der folgende hebräische Visionsteil schließt hier an und führt die Regierungsabfolge der Babylonier (Dan 8), Meder (Dan 9) und Perser (Dan 10) weiter bis hin zu einem antizipatorischen Hinweis auf den »Fürst[en] von Griechenland« (Dan 10,20). Der Neueinsatz in der Datierung mit fortlaufender Chronologie verbindet Dan 7 eng mit der zweiten Buchhälfte.33 Parallel dazu setzen erst mit Kapitel 7 Hinweise auf die Bedrohung des Volkes Gottes durch eine Reihe von Königen ein, die insbesondere in der Gefahr durch einen letzten Herrscher gipfelt.34 Dieser neue Aspekt greift das Vier-WeltreicheSchema aus Dan 2 auf und ergänzt es um das Element des einzelnen und letzten Königs, der fortan in Dan 7–12 am Ende einer jeden Herrscherabfolge steht.35 Dieser letzte Herrscher wendet sich nicht nur gegen das Volk Gottes, sondern auch gegen die himmlische Sphäre (vgl. Dan 8,10) und gegen Gott selbst (vgl. Dan 8,11; 11,36).36 In dem hebräischen Visionsteil Dan 8–12 folgen zudem Bezüge auf ein offensives Vorgehen gegen den jüdischen Tempelkult; dabei geht es um die Entweihung des Jerusalemer Heiligtums und um das Verbot des Opferdienstes (vgl. Dan 8,13; 9,27; 11,31).37 Im Zusammenhang der beschriebenen Notlage wird in Dan 7–12 wiederholt die Frage nach der Dauer der Unterdrückung und deren Ende gestellt bzw. thematisiert, was wiederum Dan 7 mit der zweiten Buchhälfte vereint.38 Dan 7 und 8 sind durch die gemeinsame Symbolik einer Reihe von Tierwesen, die als Königreiche gedeutet werden, miteinander verbunden.39 Beide Kapitel teilen die Bewegung, dass aus dem letzten Tierwesen Hörner hervortreten, die schließlich von »ein[em] andere[n], kleine[n] Horn« (Dan 7,8) ausgerissen bzw. abgelöst werden (vgl. Dan 7,8; 8,8–12). Jenes letzte Horn, es symbolisiert den destruktivsten und letzten Herrscher der Reihe, geht schließlich gegen die Gruppe der »Heiligen« (Dan 7,21) vor und bedrängt diese (vgl. auch Dan 7,25; 8,24). Auch der Begriff ›die Heiligen‹ verbindet beide Kapitel miteinander.40 Während die Königreiche in Dan 7 jedoch namenlos und zu deutende Symbole bleiben, werden sie in Dan 8 mit den Nationen Medien, Persien und Griechen32 33 34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Bauer: Buch Daniel, 23. Vgl. Collins: Daniel, 34. Vgl. Collins: Daniel, 277. Vgl. Dan 7,7–8.19–21.23–25; 8,8–12.23–25. Vgl. Collins: Daniel, 331–333. Vgl. Goldingay: Daniel, 157. Vgl. Steins: Vorlesung Buch Daniel, 27. 06. 2020; Dan 7,25; 8,13–14; 9,2.24–27; 12,6–7.11–12. Vgl. Collins: Daniel, 342. Vgl. Collins: Daniel, 342.

16

Stellung von Dan 7 im Danielbuch

land identifiziert (vgl. Dan 8,20–21).41 Mit der Abfolge der Tiere, der Hörner und dem letzten Horn greift Dan 8 das Vier-Reiche-Schema aus Dan 7 auf (vgl. Dan 8,3–11). Allerdings wird dieses in Kapitel 8 auf nur zwei Tiere und vier Hörner reduziert und um die Namen der Nationen ergänzt (vgl. Dan 8,20–25). Goldingay vertritt an dieser Stelle die radikalere Position, das Vier-Reiche-Schema werde in Dan 8 vielmehr ausgelassen.42 Dan 7 Dan 8 Löwe Bär Widder mit zwei Hörnern Leopard (Medien, Persien) viertes Tier Ziegenbock (Griechenland) zehn Hörner vier Hörner kleines Horn kleines Horn

Der hebräische Buchteil Dan 8–12 hebt sich, trotz der genannten Gemeinsamkeiten, auch von Dan 7 ab. Zum einen wird im gesamten Verlauf von Dan 8–12 ausdrücklich von national-politischen Mächten gesprochen. Nicht nur in Dan 8, sondern ebenso in Dan 10 und 11 wird auf die gegnerischen Königreiche Persien und Griechenland hingewiesen (vgl. Dan 10,13.20; 11,2). Auch die Stadt Jerusalem und das Volk Israel, denen die Bedrohung gilt, werden erst im hebräischen Danielbuch beim Namen genannt (vgl. Dan 9,7.11.25).43 Darüber hinaus werden die im Rahmen einer Vision auftretenden und deutungsbringenden Männer in Dan 8–12 mit dem Engel Gabriel (vgl. Dan 8,16; 9,21) und dem Engelsfürsten Michael (vgl. Dan 10,13–14.21; 12,1) identifiziert, während die Gestalt in Dan 7 namenlos bleibt (vgl. Dan 7,16). Dazu kommt, dass, wie bereits erwähnt, die Entweihung des Jerusalemer Heiligtums und das Verbot des Opferdienstes erst in Dan 8–12 explizit thematisiert werden (vgl. Dan 8,11–13; 9,27; 11,31).44 Wie das aramäische Danielbuch weist auch die zweite Buchhälfte einen Rahmen auf, der Dan 8 mit der zu einer Einheit zusammengefassten Schlussvision Dan 10–12 verklammert:45 »The apocalypse in Dan 10–12 bears a particularly close relationship with ch. 8.«46 So weist Newsom darauf hin, dass Dan 10–12 auf der Ebene der narrativen Elemente und dem Vokabular auf Kapitel 8 aufbaut. Die narrativen Elemente sind unter anderem die hier aufgelisteten:47 41 Vgl. Goldingay: Daniel, 147–148, 201. 42 Vgl. Goldingay: Daniel, 156. 43 Die Elberfelder Bibel, die »das Land der Zierde« (11,41) schreibt, merkt ihrer Übersetzung an, dass dieser Begriff für Israel steht. Vgl. Dan 8,9; 11,41.45. 44 Vgl. Goldingay: Daniel, 157. 45 Die Schlussvision Dan 10–12 wird durch die narrative Einleitung in Dan 10,1 eröffnet und erhält durch einen zweifachen Rahmen einen konzentrischen Aufbau, in dessen Mitte die Zukunftsansage Dan 11,2b–12,3 gestellt ist. Vgl. Wildgruber: Daniel 10–12, 30–32, 255. 46 Newsom: Daniel, 327. 47 Vgl. Newsom: Daniel, 327–328.

17

Dan 7 und die zweite Buchhälfte

›Daniel am Kanal- oder Flussufer‹ ›Daniel wie betäubt vor der Erscheinung der Engeln‹ ›Daniel hört Engel miteinander reden‹ ›Befehl der Geheimhaltung der Visionen‹ ›Daniels Unvermögen zu verstehen‹

(8,2

// 10,4; 12,5)

(8,16–18 // 10,8–10) (8,13–14 // 12,5–6) (8,26 // 12,4) (8,27 // 12,8)

Darüber hinaus besteht die Verbindung zwischen Dan 8 und Dan 10–12 nach Newsom insbesondere darin, dass das in Dan 8 wiederaufgenommene, jedoch reduzierte Schema der sukzessiven Reiche in der Schlussvision fortentwickelt wird: Kapitel 8 beschreibt periodenartig das Erstarken der Reiche und deren Zusammenbruch auf dem Höhepunkt ihrer jeweiligen Macht (vgl. Dan 8,3–9.22– 24). Die Abfolge der sich ablösenden Mächte Widder (Medien/Persien) Ziegenbock (Griechenland) vier Hörner (Nachfolgereiche) kleines Horn (letzter aggressiver Herrscher)

ist noch überschaubar. In Dan 11 wird das Reiche-Schema jedoch zu einem langen, chronologieartigen Bericht über eine Vielzahl an Herrschern und über deren Feldzüge ausgeweitet. Es fällt auf, dass einzelne Kriegsereignisse in einem strukturellen Muster des Aufstiegs und des Falls eingebettet sind,48 das sich in kurzen Abständen kreislaufartig wiederholt. Dazu kommt, dass jene Einzelereignisse, so beobachtet Wildgruber, durch die Reduktion des Wortschatzes und durch die Wiederholung von clusterartig angehäuften Begriffen aus den semantischen Feldern ›Krieg‹ und ›Macht‹, »geradezu holzschnittartig auf ihre Grundlinien reduziert«49 und dadurch schematisiert werden. Das wiederkehrende Muster wird durch Bewegungsverben vorangetrieben. Dabei fällt auf, dass sich die Verben ›sich erheben‹ (11,14) und ›straucheln‹ oder ›fallen‹ (11,19) auf vertikaler Ebene und die Verben ›kommen‹ und ›zurückkehren‹ (11,9.10) auf horizontaler Ebene in ihren Bewegungsrichtungen gegenseitig aufheben.50 Die Analyse der vertikalen und der horizontalen Ebene, die Wildgruber für Dan 11 anwendet, kann auch für Dan 8 hergenommen werden. Schon in Dan 8 werden Aufstieg der Herrscher durch das ›Großwerden‹ (8,4.8) der Tiere und durch das ›Emporwachsen‹ (8,3.8.9.11) der Hörner sowie Fall durch das ›Zerbrechen der Hörner‹ (8,7.8) und das ›Zu-Boden-geworfen-Werden‹ (8,7.10.11.12) schematisiert. Mittel sind auch hier überwiegend Verben der Bewegung auf vertikaler Ebene. Die horizontale Ebene ist durch die Himmelsrichtungen, gegen

48 Vgl. Newsom: Daniel, 326–327. 49 Wildgruber: Daniel 10–12, 228. 50 Vgl. Wildgruber: Daniel 10–12, 184–188, 228–230.

18

Stellung von Dan 7 im Danielbuch

die jene Hörner wachsen oder aus denen die Tiere kommen, ebenfalls vertreten (vgl. Dan 8,4.5.8.9). Dieser Aspekt verklammert die Kapitel 8 und 11. Im Unterschied zu Dan 8 ist das schematische Muster in Dan 11 jedoch stark verdichtet und durchzieht das gesamte Kapitel. Die Wechsel zwischen Aufstieg und Fall erfolgen rascher. Auch Wildgruber spricht von einer »Rastlosigkeit der Darstellung«51 in Kapitel 11. Zudem bewirken die ständigen Wiederholungen des Musters in Dan 11, dass sich die Verben in ihren Bewegungsrichtungen gegenseitig aufheben.52 Eine ähnliche Beobachtung macht Clifford, der die sich abwechselnden Aggressionen zwischen den ›Königen des Nordens‹ und den ›Königen des Südens‹ mit dem Begriff »›containment‹«53, zu Deutsch ›In-SchachHalten‹, identifiziert.54 Die entgegenwirkenden Mächte halten sich, nach Clifford, gegenseitig in Schach oder heben, so Wildgruber, einander auf.55 Während Dan 11 das Reiche-Schema aus Dan 8 wie soeben dargestellt weiterentwickelt, wird der äußere Rahmen beibehalten: Beide Kapitel beginnen die Abfolge von Herrschern mit der Gegenüberstellung von Persien und Griechenland (vgl. Dan 8,3–6.20–21; 11,2) und beenden sie mit einem letzten aggressiven Herrscher (vgl. Dan 8,9–12.23–25; 11,36–37). In beiden Fällen wird das Konzept der vier Reiche jedoch aufgegeben.56 Man könnte daher von einer Fortentwicklung des Vier-Reiche-Schemas aus Dan 2 und 7 zu einem Reiche-Schema in Dan 8 und 11 sprechen. Dan 8 Widder mit zwei Hörnern (Medien, Persien) Ziegenbock (Griechenland) vier Hörner kleines Horn

Dan 11 Persien mit vier Königen, deren vierter König … … gegen Griechenland aufsteht ein mächtiger König, Reich von kurzer Dauer Könige des Südens < > Könige des Nordens letzter König

Die Visionseinheit Dan 10–12 gilt in mehrfacher Hinsicht als Steigerung und Abschluss des hebräisch-aramäischen Danielbuches: Während Daniel in den Kapiteln 7–9 als unbeteiligter Beobachter das weltgeschichtliche Geschehen verfolgt, wird er in der Schlussvision mitsamt den »Verständigen« (Dan 12,10) darin integriert. Die »Verständigen« (Dan 11,35) befinden sich in Dan 11,33–35 in einer ähnlichen Prüf- und Gefahrensituation, wie sie Daniel und die jüdischen Freunde, letztere in Dan 1 ebenfalls als »verständig« (Dan 1,4) bezeichnet, angesichts des Hinrichtungsbefehls, des Feuerofens und der Löwengrube in Dan 2, 51 52 53 54 55 56

Wildgruber: Daniel 10–12, 188. Vgl. Wildgruber: Daniel 10–12, 184–188. Newsom: Daniel, 327. Vgl. Newsom: Daniel, 327. Vgl. Wildgruber: Daniel 10–12, 188; Newsom: Daniel, 327. Vgl. Wildgruber: Daniel 10–12, 250; Goldingay: Daniel, 156.

Dan 7 und die zweite Buchhälfte

19

3 und 6 erfahren. Damit stellt die Schlussvision einerseits eine Verbindung zu den Hofgeschichten und zu dem Anfang des Danielbuches her. Andererseits bezieht sie durch den offenen Begriff der ›Verständigen‹ die Leser mit ein und verdeutlicht, dass das Danielbuch als Lebensanweisung und »Ermutigung […] aller existentiellen Bedrohung zum Trotz«57 gelesen werden will. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch das finale Element des Reiche-Schemas in Dan 12, welches das wiederkehrende Muster von Aufstieg und Fall aus Dan 11 zum Ende bringt. Während die Ablösung der Weltmächte in den Kapiteln 2, 7 und 8 durch ein ewiges göttliches Reich geschieht und dabei der kollektive Charakter im Vordergrund steht, werden die ›Verständigen‹ in Dan 12 individuell in die Erlösung mit hineingenommen (vgl. Dan 12,3).58 Auch Daniel wird in das Rettungsgeschehen integriert, was den Abschlusscharakter von Dan 10–12 bestätigt: »Du aber geh hin auf das Ende zu! Und du wirst ruhen und wirst auferstehen zu deinem Los am Ende der Tage« (Dan 12,13). Im Zentrum der Klammer Dan 8 // Dan 10–12 befindet sich Dan 9. Dieses Kapitel unterscheidet sich vom Rest des Danielbuches zum einen durch die innerbiblische Auslegung einer Prophezeiung aus Jer 25,11–12 und Jer 29,10 über die Anzahl der Jahre der Zerstörung Jerusalems. Jenes Prophetenwort wird in Dan 9,2 von Daniel aufgegriffen und in Dan 9,24–27 von einem Deuteengel im Sinne einer Midrasch neu ausgelegt.59 Zum anderen enthält Dan 9 ein langes Gebet bestehend aus einem Sündenbekenntnis, das Daniel stellvertretend für das jüdische Volk spricht, und einem Bittgebet, das an die Gnade und Gerechtigkeit Gottes appelliert. Hinsichtlich von Sprache, Gattung und Theologie entspricht dieser Text der postexilischen Gebetsliteratur Israels, die von den Elementen des Schuldbekenntnisses des Volkes »im Rückblick auf seine Geschichte«60 und der Umkehr zu einem neuen Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit geprägt ist.61 In Dan 9 ist das Bittgebet auf die Errettung des Heiligtums und der verwüsteten Stadt Jerusalem gerichtet (vgl. Dan 9,16–19). Die Bedrohung des Tempels und die Hoffnung auf dessen Rettung ist demnach nicht nur ein konstantes Motiv, das Dan 8–12 prägend durchzieht, es steht auch, gerahmt durch die Klammer Dan 8 // Dan 10–12, im Zentrum der zweiten Hälfte des Danielbuches.62 Zusammenfassend kann Folgendes festgehalten werden: Dan 7 ist als Scharnier zwischen den beiden Buchhälften einerseits mit Dan 1–6 durch die aramäische Sprache und das Motiv der Souveränität Gottes, der die Königs-

57 58 59 60 61 62

Wildgruber: Daniel 10–12, 288. Vgl. Wildgruber: Daniel 10–12, 288–289, 293. Vgl. Collins: Daniel, 347, 358–359; Bauer: Buch Daniel, 182–183. Bauer: Buch Daniel, 184. Vgl. Bauer: Buch Daniel, 183–186. Vgl. Steins: Vorlesung Buch Daniel, 27. 06. 2020.

20

Stellung von Dan 7 im Danielbuch

herrschaft delegiert und zurücknimmt, verbunden.63 Andererseits ist das Kapitel aber auch mit Dan 8–12 durch die Gattung der Visionen, den Ich-Erzähler, die chronologische Datierung und durch das Motiv des kleinen Horns bzw. des letzten Königs, der Gottes Volk bedroht und sich gegen Gott wendet (vgl. Dan 8,24–25), eng verknüpft.64 Darüber hinaus steht Dan 7 mit einzelnen Kapiteln durch das Vier-Reiche-Schema bzw. das Reiche-Schema in Beziehung, welches über Dan 2, 7, 8 und 10–12 eine Fortentwicklung erfährt und sich zunehmend von dem vierschrittigen Reiche-Schema der Kapitel 2 und 7 entfernt.65

63 Vgl. Helms: Daniel, Kap. 4; Seow: Daniel, 14–15. 64 Vgl. Collins: Daniel, 277. 65 Vgl. Wildgruber: Daniel 10–12, 250; Goldingay: Daniel, 156.

3.

Analyse von Dan 7

3.1

Arbeitstext Dan 7

1 Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, sah Daniel einen Traum und Visionen seines Hauptes auf seinem Lager. Dann schrieb er den Traum auf, die Summe der Ereignisse berichtete er. 2 Daniel fing an und sprach: Ich schaute in meiner Vision in der Nacht, und siehe, die vier Winde des Himmels wühlten das große Meer auf. 3 Und vier große Tiere stiegen aus dem Meer herauf, jedes verschieden vom anderen. 4 Das erste war wie ein Löwe und hatte Adlerflügel; ich sah ⟨hin⟩, bis seine Flügel ausgerissen wurden und es von der Erde aufgehoben und wie ein Mensch auf seine Füße gestellt und ihm das Herz eines Menschen gegeben wurde. 5 Und siehe, ein anderes, ein zweites Tier, war einem Bären gleich. Und es war auf der einen Seite aufgerichtet und hatte in seinem Maul drei Rippen zwischen seinen Zähnen. Und man sprach zu ihm so: Steh auf, friss viel Fleisch! 6 Nach diesem schaute ich, und siehe, ein anderes, wie ein Leopard: das hatte vier Vogelflügel auf seinem Rücken. Und das Tier hatte vier Köpfe, und Herrschaft wurde ihm gegeben. 7 Nach diesem schaute ich in Visionen der Nacht: Und siehe, ein viertes Tier, furchtbar und schreckenerregend und außergewöhnlich stark, und es hatte große eiserne Zähne; es fraß und zermalmte, und den Rest zertrat es mit seinen Füßen. Und es war verschieden von allen Tieren, die vor ihm waren, und es hatte zehn Hörner. 8 Während ich auf die Hörner achtete, siehe, da stieg ein anderes, kleines Horn zwischen ihnen empor, und drei von den ersten Hörnern wurden vor ihm ausgerissen; und siehe, an diesem Horn waren Augen wie Menschenaugen und ein Mund, der große ⟨Worte⟩ redete.

22

Analyse von Dan 7

9 Ich schaute, bis Throne aufgestellt wurden und einer, der alt war an Tagen, sich setzte. Sein Gewand war weiß wie Schnee und das Haar seines Hauptes wie reine Wolle, sein Thron Feuerflammen, dessen Räder ein loderndes Feuer. 10 Ein Feuerstrom floss und ging von ihm aus. => Zentrum: Thronvision/ Tausend mal Tausende dienten ihm, Gericht und zehntausend mal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht setzte sich, und Bücher wurden geöffnet. 11 Dann schaute ich wegen der Stimme der großen Worte, die das Horn redete; ich schaute, bis das Tier getötet und sein Leib zerstört und dem Brand des Feuers übergeben wurde. 12 Und den übrigen Tieren wurde ihre Herrschaft weggenommen, und Lebensdauer wurde ihnen gegeben bis auf Zeit und Stunde. 13 Ich schaute in Visionen der Nacht: Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. Und er kam zu dem Alten an Tagen, und man brachte ihn vor ihn. 14 Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, => Klimax: Übergabe und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Herrschaft Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, => Doxologie und sein Königtum ⟨so⟩, dass es nicht zerstört wird. 15 Mir, Daniel, wurde mein Geist tief in meinem Innern bekümmert, und die Visionen meines Hauptes erschreckten mich. 16 Ich näherte mich einem von denen, die dastanden, und bat ihn um genaue Auskunft über dies alles. Und er sprach zu mir und ließ mich die Deutung der Sachen wissen: 17 Diese großen Tiere – es sind vier – ⟨bedeuten⟩: vier Könige werden sich von der Erde her erheben. 18 Aber die Heiligen des Höchsten werden das Reich empfangen, => Klimax: Übergabe und sie werden das Reich besitzen bis in Ewigkeit, Herrschaft ja, bis in die Ewigkeit der Ewigkeiten. 19 Daraufhin wollte ich Genaueres wissen über das vierte Tier, das von allen anderen verschieden war, außergewöhnlich schreckenerregend, dessen Zähne aus Eisen und dessen Klauen aus Bronze waren, das fraß, zermalmte und den Rest mit seinen Füßen zertrat, 20 und über die zehn Hörner auf seinem Kopf und über das andere ⟨Horn⟩, das emporstieg und vor dem drei ⟨andere Hörner⟩ ausfielen. Und das Horn hatte Augen und einen Mund, der große ⟨Worte⟩ redete, und sein Aussehen war größer als das seiner Gefährten.

Arbeitstext Dan 7

23

21 Ich sah, wie dieses Horn gegen die Heiligen Krieg führte und sie besiegte, 22 bis der, der alt an Tagen war, kam und das Gericht => Zentrum: Thronvision/Gericht den Heiligen des Höchsten gegeben wurde und die Zeit anbrach, dass die Heiligen => Klimax: Übergabe Herrschaft das Königreich in Besitz nahmen. – 23 Er sprach so: Das vierte Tier ⟨bedeutet⟩: Ein viertes Königreich wird auf Erden sein, das von allen ⟨anderen⟩ Königreichen verschieden sein wird. Es wird die ganze Erde auffressen und sie zertreten und sie zermalmen. 24 Und die zehn Hörner ⟨bedeuten⟩: Aus diesem Königreich werden sich zehn Könige erheben. Und ein anderer wird sich nach ihnen erheben, und dieser wird verschieden sein von den vorigen, und er wird drei Könige erniedrigen. 25 Und er wird Worte reden gegen den Höchsten und wird die Heiligen des Höchsten aufreiben; und er wird danach trachten, Festzeiten und Gesetz zu ändern, und sie werden in seine Hand gegeben werden für eine Zeit und ⟨zwei⟩ Zeiten und eine halbe Zeit. 26 Aber das Gericht wird sich setzen; => Zentrum: Thronvision/Gericht und man wird seine Herrschaft wegnehmen, um sie zu vernichten und zu zerstören bis zum Ende. 27 Und das Reich und die Herrschaft => Klimax: Übergabe und die Größe der Reiche unter dem ganzen Himmel Herrschaft wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden. Sein Reich ist ein ewiges Reich, => Doxologie und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen. – 28 Hier endet der Bericht. Mich, Daniel, ängstigten meine Gedanken sehr, und meine Gesichtsfarbe veränderte sich an mir. Und ich bewahrte die Sache in meinem Herzen.66

66 Die in dem Arbeitstext integrierten Visionsformeln des ›Schauens‹, die chiastischen Klammern – deren Zentren sind die Thronvision und das anschließende Gericht – sowie der finale Klimax einer jeden Klammer in Form der Übergabe der ewigen Herrschaft, die doxologisch gepriesen wird, sind Aspekte, die im Folgenden erläutert werden. Die Aspekte sind entnommen aus: Goldingay: Daniel, 153–156; Segal: Dreams, 136–138.

24

Analyse von Dan 7

3.2

Textstruktur

1–2a Einleitung 1 Datierung, Traumvision, Niederschrift 2a Eröffnungsformel »Daniel fing an und sprach« (Dan 7,2) 2b–14 Abschnitt 1: Vision 2b–3 Vier Tiere steigen aus dem Meer auf 4–6 Die ersten drei Tiere 7 Das vierte Tier mit zehn Hörnern 8 Ein kleines Horn auf dem vierten Tier 9–10 Thronszene, der Alte an Tagen als Richter 11a Ein kleines Horn auf dem vierten Tier 11b Das vierte Tier mit zehn Hörnern: Gericht 12 Die drei ersten Tiere: Gericht 13–14a Das neue Reich: dem »einer wie der Sohn eines Menschen […] gegeben« 14b Doxologie (Dan 7,13–14) 15–27 Abschnitt 2: Deutung 15 Reaktion des Visionärs 16 Bitte um Deutung 17–18 Deutung 17 Die Tiere bedeuten Könige 18 Das neue Reich: »die Heiligen des Höchsten […] empfangen, und […] besitzen« (Dan 7,18) 19–20 Bitte um weitere Deutung 19 Das vierte Tier 20a Zehn Hörner 20b Das einzelne kleine Horn 21–22 Weitere Vision 21 Verhalten des einzelnen kleinen Horns 22a Das Gericht: »gegeben den Heiligen des Höchsten« (Dan 7,22) 22b Das neue Reich: »die Heiligen […] [nehmen] in Besitz« (Dan 7,22) 23–27 Weitere Deutung 23 Verhalten des vierten Königreichs 24a Zehn Könige 24b–25 Verhalten des einzelnen Königs 26 Der einzelne König: Gericht 27a Das neue Reich: »[gegeben] dem Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) 27b Doxologie 28 Schluss 28a Abschlussformel »Hier endet der Bericht« (Dan 7,28) 28b Reaktion des Visionärs

Abb. 1: Textstruktur von Dan 7.67

67 Das Schaubild folgt der Darstellung von: Goldingay: Daniel, 153–154, es wurde ergänzt um den Aspekt der Doxologien aus: Segal: Dreams, 136–138 und weiterentwickelt von Michael Friedrich.

Textstruktur

25

Nach Seow besteht der zu behandelnde Text Dan 7 in seiner Grobstruktur aus einer Vision (7,2–14) und einer Deutung (7,15–27), die durch eine narrative Einleitung (7,1) und einen narrativen Schluss (7,28) gerahmt werden.68 Auch wenn es sich bei dem Danielkapitel genau genommen um eine große Traumvision handelt, die nach der Vision oder Schauung eine Deutung innerhalb des Traumes enthält, soll im Folgenden doch, der Klarheit halber, zwischen den beiden Abschnitten mit den Begriffen ›Vision‹ und ›Deutung‹ unterschieden werden. Während Goldingay, Newsom und Collins die Zweiteilung des Textes in Vision und Deutung nach Seow nicht vornehmen, fassen sie dennoch Dan 7,2b– 14 zu einer Einheit, und zwar zu einem »vision report«69, zusammen. Nach deren Gliederungsvorschlag ist als Einleitung Dan 7,1–2a zu betrachten.70 Der Grund dafür mag sein, dass in den Versen 1–2a über Daniel in der dritten Person Singular berichtet wird und erst mit dem Versteil 2b die Ich-Rede des Visionärs beginnt.71 In Beachtung dieser Positionen soll in der vorliegenden Arbeit von der folgenden Aufteilung von Dan 7 ausgegangen werden: Einleitung (Dan 7,1–2a) – Vision (7,2b–14) – Deutung (7,15–27) – Schluss (Dan 7,28)

Die Einleitung endet mit dem Satz »Daniel fing an und sprach« (Dan 7,2a) und eröffnet damit explizit den Abschnitt der Vision. Wie schon erwähnt, wird der Übergang auch dadurch markiert, dass die Erzählerperspektive von der dritten Person Singular zur ersten Person Singular wechselt. Der gesamte weitere Teil des Kapitels behält den Ich-Erzähler bei. Am Ende des Kapitels beschließt die Abschlussformel »Hier endet der Bericht« (Dan 7,28) den Abschnitt der Deutung und läutet den Schlussteil ein. In dem ersten Großabschnitt der Vision (7,2b–14) berichtet Daniel von dem von ihm Geschauten. Er ist Subjekt des Schauens und referiert in der Vergangenheitsform. Dass es sich bei diesem Abschnitt um eine Schauung handelt, wird durch die variiert wiederkehrende Visionsformel »Ich schaute in meiner Vision in der Nacht, und siehe« (Dan 7,2) und ihren kürzeren Varianten markiert. Dabei wird stets das Verb ›sehen‹ gebraucht. Die Visionsformeln grenzen zum einen den Abschnitt der Vision formal von dem der Deutung ab. Zum anderen wird durch jede dieser Formeln innerhalb des Visionsabschnitts eine neue Szene oder ein neues Geschehen eingeleitet, dem der Visionär seine Aufmerksamkeit zuwendet, wie in der folgenden Übersicht zu sehen ist. Einzige Ausnahmen sind die Auftrittsszene des ersten Tierwesens in Vers 4, dort wird erst im Verlauf des 68 69 70 71

Vgl. Seow: Daniel, 100. Goldingay: Daniel, 153. Vgl. Goldingay: Daniel, 153–154; Newsom: Daniel, 216–217; Collins: Daniel, 277. Vgl. Collins: Daniel, 277.

26

Analyse von Dan 7

Geschehens eine Formel hinzugefügt, und außerdem die Szene der Herrschaftswegnahme der drei ersten Tierwesen in Vers 12; in beiden Fällen bleibt eine einleitende Visionsformel aus.72 Dan 7,2 Dan 7,4 Dan 7,5 Dan 7,6 Dan 7,7

Visionsformel: Ich schaute in meiner Vision in der Nacht, und siehe, ich sah ⟨hin⟩, Und siehe, Nach diesem schaute ich, und siehe,

Dan 7,8 Dan 7,8 Dan 7,9

Nach diesem schaute ich in Visionen der Nacht: Und siehe, Während ich […], siehe, und siehe, Ich schaute,

Dan 7,11 Dan 7,11

Dann schaute ich ich schaute, (keine Visionsformel)

Dan 7,13

Ich schaute in Visionen der Nacht: Und siehe,

eingeleitete Aspekte: vier Tiere aus dem Meer Löwe Bär Leopard das vierte Tier mit zehn Hörnern kleines Horn steigt empor, kleines Horn redet große Worte Thronszene kleines Horn kleines Horn, viertes Tier: Gericht die übrigen Tiere: Gericht ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹

Abb. 2: Die Visionsformeln in Dan 7.73

Die Visionsformel »Ich schaute in meiner Vision in der Nacht, und siehe« (Dan 7,2) ist aufgrund ihrer Länge und Komplexität besonders auffällig. Fungiert sie in Versteil 2b als Einleitung in die Vision, hebt sie, leicht variiert, in Vers 7 das Erscheinen des vierten Tierwesens mit den zehn Hörnern und in Vers 13 das finale Element der Vision, das Kommen des »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13), deutlich hervor. Damit setzt die lange Visionsformel diese drei Szenen von dem restlichen Geschehen ab. Dem Auftritt des vierten Tieres kommt durch ein weiteres Gliederungsmerkmal eine große Aufmerksamkeit zu. Das Erscheinen der ersten drei Tierwesen lässt sich nämlich zu einer Einheit zusammenfassen, denn jedes dieser Wesen wird mithilfe eines Vergleichs beschrieben:74 Das erste Tierwesen ist »wie ein Löwe« (Dan 7,4), das zweite »einem Bären gleich« (Dan 7,5) und das dritte »wie ein Leopard« (Dan 7,6). Im Falle des vierten Wesens bleibt der Vergleich mit einem Tier jedoch aus. Vielmehr wird

72 Vgl. Goldingay: Daniel, 154. 73 Das Schaubild kombiniert die Übersichten und Erkenntnisse von: Goldingay: Daniel, 153– 154. 74 Vgl. Goldingay: Daniel, 155. – Auch Haag sieht die drei ersten Tierwesen als eine Einheit und das vierte Tierwesen als von denen abgesetzt. Vgl. Haag: Menschensohn, 141, 163–164.

Textstruktur

27

dieses als »verschieden von allen Tieren, die vor ihm waren« (Dan 7,7) von den vorigen abgesetzt. Darüber hinaus ist in den hier aufgeführten Schaubildern ersichtlich, dass der Abschnitt der Vision (7,2b–14) durch einen die Komposition umfassenden Chiasmus strukturiert ist. So wird die Abfolge ›vier Tierwesen (7,3) – die ersten drei Tiere (7,4–6) – das vierte Tier (7,7) – zehn Hörner (7,7) – das kleine Horn (7,8)‹ an der im Zentrum stehenden Thronszene (7,9–10) gespiegelt. Am Ende der anschließenden Rückverfolgung der Abfolge erscheint allerdings die Gestalt »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13), die durch den Chiasmus dem Erscheinen der vier Tierwesen aus dem Meer (7,3) gegenübergestellt ist.75 Da die Schlussszene mit der Menschensohngestalt in Dan 7,13–14 durch die lange Visionsformel hervorgehoben wird und die chiastische Struktur vollendet, ist sie als Klimax und Abschluss des Visionsabschnitts zu verstehen. Darüber hinaus zeichnen sich Thronszene und Schlussszene durch einen poetisch markierten Stil aus, der durch Sprachrhythmus, synonyme Parallelismen und einer gehobenen Ausdrucksweise erreicht wird.76 Der Abschnitt der Deutung (7,15–27) wird von den Reaktionen des Visionärs umklammert:77 Mir, Daniel, wurde mein Geist tief in meinem Innern bekümmert, und die Visionen meines Hauptes erschreckten mich. (Dan 7,15) Abschnitt der Deutung Mich, Daniel, ängstigten meine Gedanken sehr, und meine Gesichtsfarbe veränderte sich an mir. (Dan 7,28pass)

Der so gerahmte Abschnitt ist von dem Rhythmus ›Bitte um Deutung (7,16) – kurze Deutung (7,17–18) – Bitte um weitere Deutung (7,19–20) – weitere, detailliertere Deutung (7,23–27)‹ geprägt, der den Abschnitt in die genannten Einheiten untergliedert. Diese Bewegung wird jedoch durch den Einschub einer weiteren Vision in Dan 7,21–22 kurz unterbrochen.78 Während die zwei Bitten um Deutung in der Vergangenheitsform stehen und Daniel Subjekt der Ich-Rede ist, kommt in den zwei Deutungen »eine[r] von denen, die da standen« (Dan 7,16) zu Wort. Dieser gibt in der direkten Rede und in der Zeitform Präsenz einleitende Deutungserklärungen darüber, dass die Tiere Könige oder Königreiche und die Hörner Könige bedeuten (vgl. Dan 7,17.23–24), und äußert jeweils im Anschluss daran Zukunftsansagen im Futur. Die Reden der deutungsbringenden Gestalt werden durch die narrativen Überleitungen »Und er sprach zu mir und ließ mich 75 76 77 78

Vgl. Goldingay: Daniel, 153–155. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 145–146. Vgl. Steins: Übersichtsblatt Struktur Daniel 7. Vgl. Goldingay: Daniel, 153–154.

28

Analyse von Dan 7

die Deutung der Sachen wissen« (Dan 7,16) und »Er sprach so« (Dan 7,23) eröffnet. Die kurze Vision (7,21–22) wird entsprechend zu dem großen Visionsabschnitt in 7,2b–14 mittels einer Visionsformel, »Ich sah« (Dan 7,21), eingeleitet.79 Daniel wird hier wieder als Subjekt des Schauens in der Vergangenheitsform dargestellt. Auch an dieser Stelle leitet die Visionsformel eine neue Szene ein: Der Visionär sieht, wie das kleine Horn »gegen die Heiligen Krieg führt [ ] und sie besiegt[ ]« (Dan 7,21).80 Die Wechsel der Zeitformen und der Redner, die narrativen Überleitungen sowie die Visionsformel untergliedern also gemeinsam den Großabschnitt der Deutung:81 Daniel: Bitte um Deutung (7,16) Präteritum Deutegestalt: kurze Deutung (7,17–18) Präsenz, Futur Daniel: Bitte um weitere Deutung (7,19–20) Präteritum Daniel: kurze Vision (7,21–22) Präteritum Deutegestalt: weitere Deutung (7,23–27) Präsenz, Futur

Es wurde bereits erwähnt, dass sich beide Deutungen in Länge und Umfang unterscheiden. Während die erste, kürzere Deutung (7,17–18) lediglich den äußeren Rahmen der Vision erläutert, dass die vier Tierwesen erstarkende Könige symbolisieren und diese am Ende von einem göttlichen Reich abgelöst werden, liefert die weitere Deutung (7,23–27) mehr Informationen. So berichtet Dan 7,23– 27 von dem vierten Königreich, den zehn Königen, einem »andere[n] [König]« (Dan 7,24), dem Gericht, der Entmachtung des anderen Königs und schließlich von der Herstellung des neuen, ewigen Reichs. Der Rhythmus bestehend aus der Bitte um Deutung, einer knappen Deutung, der Bitte um weitere Deutung und eine weitere, informationsreichere Deutung wirkt aufgrund der gesteigerten Ausführlichkeit wie eine Klimax, welche die weitere Deutung in Dan 7,23–27 zum Höhepunkt des zweiten Großabschnittes (7,15–27) in Dan 7 werden lässt.82 Hinsichtlich der Gesamtkomposition von Dan 7 fällt auf, dass der Visionsinhalt aus Dan 7,2b–14 insgesamt viermal wiedergegeben wird, nämlich I. in der Vision (7,2b–14), II. in der ersten Deutung (7,17–18), III. in dem Zusammenschluss der Bitte um weitere Deutung (7,19–20) und der weiteren Vision (7,21–22) und IV. in der weiteren Deutung (7,23–27).83 In einer synoptischen Zusammenschau ergibt sich dann eine feste Abfolge von Szenen, die dem chiastischen Schema aus Dan 7,2b–14 entspricht:

79 Vgl. Goldingay: Daniel, 154; Collins: Daniel, 277. 80 Vgl. Goldingay: Daniel, 154. 81 Hier seien die Zeitformen genannt, die in der deutschen Übersetzung der Elberfelder Bibel erscheinen. 82 Vgl. Goldingay: Daniel, 155. 83 Vgl. Goldingay: Daniel, 155–156.

29

Textstruktur

vier Tierwesen Löwe Bär Leopard viertes Tier zehn Hörner/Könige kleines Horn/anderer König Gericht kleines Horn entmachtet viertes Tier getötet die drei ersten Tiere entmachtet Übergabe von Herrschaft und einem ewigen Reich Doxologie

I. 2b–3 4 5 6 7ab 7c 8 9–10 (11a) 11b 12

II. 17

13–14 14

18

III.

IV.

19 20a 20–21 22a

23 24a 24–25 26a 26

22b

27 27

Abb. 3: Der wiederkehrende Chiasmus in Dan 7.84

In dieser Übersicht, wie auch in den Abbildungen 1 und 2, wird deutlich, dass das chiastische Schema in jeder seiner Varianten stets auf ein finales Element zuläuft: Ewige Herrschaft und ein universales, ewiges Königreich werden »gegeben« (Dan 7,14.27), »in Besitz [genommen]« (Dan 7,22), »empfangen, und […] [besessen]« (Dan 7,18). Empfänger bei dieser Übergabe sind die variierenden Namen oder Beschreibungen »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13), »die Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18), »die Heiligen« (Dan 7,22) und das »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27). Darüber hinaus weist Segal darauf hin, dass Dan 7 zwei doxologieartige Sätze in den Versen 14 und 27 enthält, die die ewige göttliche Herrschaft im Kontext einer Übergabeszene preisen.85 Es fällt auf, dass diese Lobpreisungen der Herrschaft den Abschluss der ersten und der vierten Wiedergabe des chiastischen Schemas bilden. An diesen Stellen wird demnach die Herrschaftsübertragung in besonderer Weise bekräftigt. Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, => Übergabe Herrschaft und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, => Doxologie und sein Königtum ⟨so⟩, dass es nicht zerstört wird. (Dan 7,14) Und das Reich und die Herrschaft und die Größe der Reiche => Übergabe Herrschaft unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden. Sein Reich ist ein ewiges Reich, => Doxologie und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen. (Dan 7,27)

84 Das Schaubild vereint die Übersichten von: Goldingay: Daniel, 153–154, 155–156 und wird ergänzt durch die Erkenntnisse von: Segal: Dreams, 136–138. 85 Vgl. Segal: Dreams, 136–138.

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Analyse von Dan 7

Gleichzeitig beschließen die Doxologien (7,14 / 7,27) die zwei großen Abschnitte der Vision (7,2b–14) und der Deutung (7,15–27) und tragen so zur Aufgliederung des Kapitels in zwei Teile bei. In diesem Zusammenhang kann also festgehalten werden, dass das Motiv der Übergabe der ewigen Herrschaft nicht nur das finale Element in den vier Varianten des chiastischen Schemas ist, sondern auch den Höhe- und Zielpunkt beider Großabschnitte in Dan 7 darstellt. Zuletzt soll das Motiv der Reaktion des Visionärs in seiner den Text gliedernden Funktion nochmals aufgegriffen werden. Oben wurde erläutert, dass die Reaktion in den Versen 15 und 28 dem Deutungsabschnitt einen Rahmen geben. Es könnte aber auch argumentiert werden, dass die Reaktionen Daniels im Parallelismus zueinander die beiden Großabschnitte der Vision (7,2b–14) und der Deutung (7,15–27) beenden. In diesem Falle schließen sie direkt an die die Herrschaftsübergabe preisenden Doxologien an und markieren so nach dem Höhepunkt beider Großabschnitte den jeweiligen Schluss.

3.3

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

Einleitung (Dan 7,1–2a) 7,1 Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, sah Daniel einen Traum und Visionen seines Hauptes auf seinem Lager. Dann schrieb er den Traum auf, die Summe der Ereignisse berichtete er. 7,2a Daniel fing an und sprach…

Die Datierung im ersten Jahr des Königs Belsazars verortet die Traumvision in der Regierungszeit der Babylonier. Die in Dan 7 neu eröffnete Chronologie der aufeinander folgenden Großmächte Babylon (vgl. Dan 7,1; 8,1), Medien (vgl. Dan 9,1), Persien (vgl. Dan 10,1) und Griechenland (vgl. Dan 10,20) liegt in dem VierReiche-Schema des Danielbuches begründet.86 Nach Newsom hat dieses Vier-Reiche-Schema »its roots in a Persian historiographical understanding of the transfer of imperial rule from one people to another«87. Hatte es ursprünglich die Funktion, die Ablösung der vorherigen Großmächte und die Übernahme der Herrschaft durch die Perser ideologisch zu legitimieren, kommt ihm im Danielbuch die Rolle »ein[es] Widerstandmodell[s]«88, »a model of resistance«89, zu. Das Vier-Reiche-Schema im Danielbuch 86 87 88 89

Vgl. Haag: Daniel, 55–56; Collins: Daniel, 34. Newsom: Daniel, 64. »a model of resistance«, übersetzt aus: Newsom: Daniel, 81. Newsom: Daniel, 81.

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

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rechtfertigt rückblickend »the preceding Gentile imperial powers as part of God’s intentions for history«90. Dem Schema liegt dabei die Konzeption zugrunde, dass »dem Offenbarwerden der ewigen Königsherrschaft Gottes das Wirken der durch vier Repräsentanten umschriebenen Totalität aller Weltherrschaftsträger in der Geschichte vorangeht«91.

Dazu wurde die ursprüngliche Abfolge der Großmächte Assur, Medien und Persien an die Geschichtserfahrung des jüdischen Volks angepasst und zur historisch jedoch inkohärenten Sequenz ›Babylon – Medien – Persien‹ umgestaltet.92 Das Schema hat etappenweise mit der Entstehung des Danielbuches eine Fortentwicklung erfahren. In seiner Endredaktion wurden die in Dan 1–6 auftretenden Herrschergestalten Nebukadnezar, Belsazar und Darius in Dan 6,29 um den Perserkönig Kyrus ergänzt. In Dan 7–12 stellt die Abfolge ›Babylon – Medien – Persien – Griechenland‹ eine Aktualisierung des Vier-Reiche-Schemas dar. Ziel dieser Sequenz ist es, im zeithistorischen Kontext der Hellenisierung die aktuelle Herrschaft der Diadochen, der Nachfolger von Alexander dem Großen, »als eine [für das jüdische Volk] heilsgeschichtlich hochbedeutsame Phase [zu] kennzeichnen«93. Mit der fiktiven Datierung in Dan 7,1 wird das Geschehen des Kapitels in eine frühere Zeit vorverlegt. Dem Primärleser des Danielbuches aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. wird so ein Rückblick auf die schon vergangenen Großmächte ermöglicht. Während die Vision in Dan 7 die »Ablösung aller innergeschichtlichen Weltherrschaft durch die ewige Königsherrschaft Gottes«94 antizipiert, weiß der aktuelle Leser im Rückblick auf die Geschichte darum, dass diese Voraussagung zum Teil schon eingetroffen ist und gewinnt an Hoffnung, dass sie sich noch vollends erfüllen wird.95 In Vers 1 werden die Begriffe »Traum und Visionen seines Hauptes« (Dan 7,1) in Apposition gebraucht, um die Schauung zu beschreiben. Die Lokalisierung »auf seinem Lager« (Dan 7,1) entspricht der konventionellen Rahmung altorientalischer Traumberichte, die dem Traum Ort und Umstände voranstellt und häufig präzisiert, dass der Visionär schläft. Während es sich bei Dan 7 ausdrücklich um eine nächtlich empfangene Traumvision handelt, sind die Schauungen in Dan 8–12 nicht mehr Träume, sondern Visionen.96 Der Hinweis auf das Aufschreiben einer Vision ist typischer Bestandteil prophetischer Bücher (vgl. Jes 8,1; 30,8; Jer 30,2; Ez 43,11). Die Niederschrift soll die Offenbarung für zukünftige 90 91 92 93 94 95 96

Newsom: Daniel, 64, vgl. auch 80–81. Haag: Daniel, 10. Vgl. Newsom: Daniel, 81. Haag: Daniel, 11, vgl. auch 10–11. Haag: Daniel, 56. Vgl. Goldingay: Daniel, 183. Vgl. Collins: Daniel, 161–162, 294.

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Analyse von Dan 7

Generationen auch über eine Zeit der Nichterfüllung erhalten und betont durch das Festigen die Zuverlässigkeit der Botschaft. Die Referenz des Schreibens zielt in diesem Sinne darauf ab, dem Visionsbericht Autorität zu verleihen.97 Der anschließende Satz »Daniel fing an und sprach« (Dan 7,2a) rahmt gemeinsam mit dem Schluss »Hier endet der Bericht« (Dan 7,28) die eigentliche Traumvision.98

Die vier Tierwesen aus dem Meer (Dan 7,2b–3) 7,2b Ich schaute in meiner Vision in der Nacht, und siehe, die vier Winde des Himmels wühlten das große Meer auf.

Die lange Visionsformel ›Ich schaute in meiner Vision in der Nacht, und siehe‹ leitet nach Newsom in die erste Szene der Schauung ein. Mit dieser und den folgenden Visionsformeln, die jeweils eine neue Szene einführen, erzielt der Bericht den Effekt eines Traumes, indem »different images succeed one another in rapid succession«99. Das Motiv der ›vier Winde‹ ist auch in dem babylonischen Weltschöpfungsepos Enu¯ma elisˇ von Bedeutung. Dort gebraucht der Gott Marduk die Winde der vier Himmelsrichtungen im Chaoskampf gegen die das Urmeer personifizierende Göttin Tiamat. In Dan 7,2 kann die Referenz der ›vier Winde‹ daher das Bild eines kosmischen Kampfes hervorrufen.100 Auch JHWH gebraucht in kämpferischer Absicht die vier Winde (vgl. Jer 49,36) oder einen Wind im Zurückdrängen der Wasser (vgl. Ex 14,21; 15,8). Die Zahl Vier in Dan 7,2 steht in Anlehnung an die Himmelsrichtungen Nord, Ost, Süd, West wie auch in weiteren Danielpassagen vermutlich für Totalität. In Dan 8,8 wachsen die vier Hörner des Ziegenbocks »nach den vier Winden des Himmels hin« (Dan 8,8), während in Dan 11,4 ein Königreich zerstört und »nach den vier Winden des Himmels hin« (Dan 11,4) verstreut wird. In Anbetracht der Passivität des Meeres und der Aktivität der Winde des Himmels, »[t]he sea is not represented as itself roiling or surging in an aggressive fashion«101, verstehen einige Exegeten die Passage in Dan 7,2 als eine Anspielung auf Gen 1,2, wo Gottes Geist zu Beginn der Schöpfung »über dem Wasser [schwebt]« (Gen 1,2).102 Dass die Szene in Dan 7,2 dennoch eine konfliktreiche sein muss, betont Collins mit dem Hinweis auf das Verb ›aufwühlen‹.103 Jenes Verb wird ebenso in Ijob 38,8 für die Geburt des

97 98 99 100 101 102 103

Vgl. Goldingay: Daniel, 160; Newsom: Daniel, 220. Vgl. Collins: Daniel, 294. Newsom: Daniel, 221. Vgl. Collins: Daniel, 294; Newsom: Daniel, 221; Koch, Christoph: Welt, Kap. 2.1, 2.2. Newsom: Daniel, 221. Vgl. Newsom: Daniel, 221. Vgl. Collins: Daniel, 294.

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

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Meeres gebraucht,104 das JHWH während des Schöpfungsaktes in feste Grenzen einschließt (vgl. Ijob 38,8–11).105 Zudem scheinen die Begriffe ›Himmel‹ und ›Meer‹ in Dan 7 in Opposition zueinander zu stehen, »[t]he contrast terms ›heaven‹ and ›sea‹ certainly seem to point to the background of a cosmic conflict«106. In der altorientalischen Weltvorstellung stellt das »große Meer« (Dan 7,2) keine geographische, sondern eine kosmische Größe dar. Dieses Urmeer »[umschließt] nach seiner Bezwingung durch eine Schöpfergottheit im Chaoskampf die Welt von allen Seiten«107. Insbesondere in alttestamentlichen Schriften erscheint es daher in der Ambivalenz »eine[r] dem Kosmos vollständig integrierte[n] Größe«108 und »eine[r] Chaosmacht […], welche die Welt Gottes von Grund auf in Frage stellt«109. Diese Ambivalenz bestimmt die in Dan 7 entworfene Eingangsszene.110 7,3 Und vier große Tiere stiegen aus dem Meer herauf, jedes verschieden vom anderen.

Das Motiv der Tiere, die aus dem Meer emporsteigen, lässt sich der biblischen Tradition des schlangen- oder drachenartigen Seeungeheuers zuordnen, das oftmals den Namen »Leviatan« (Jes 27,1) oder »Rahab« (Jes 51,9) trägt (vgl. Jes 27,1).111 Es erscheint entweder als ein Meerestier, das Teil der Schöpfung Gottes ist (vgl. Ps 104,26; Gen 1,21), oder als ein im kosmogonischen Kampf gegen JHWH verwickeltes Chaosmonster (vgl. Jes 27,1; Ps 89,10–11).112 Diese Tradition entstammt den kanaanäischen Mythen, deren Zeugnisse 1929 im antiken Ugarit, dem heutigen Ras Schamra, entdeckt wurden. In diesen behauptet sich der Sturmgott Baal im Kampf gegen den Seegott Jamm.113 In Dan 7,3 wird »jedes [der vier Tiere als] verschieden vom anderen« (Dan 7,3) bezeichnet. Die Folgeverse werden die Tierwesen aufeinanderfolgend näher beschreiben.

104 105 106 107 108 109 110 111 112 113

Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 8–9. Vgl. Collins: Daniel, 294. Newsom: Daniel, 221. Haag: Daniel, 56. Haag: Daniel, 56. Haag: Daniel, 56. Vgl. Haag: Daniel, 56. Vgl. Newsom: Daniel, 222; Collins: Daniel, 295. Vgl. Newsom: Daniel, 222. Vgl. Collins: Daniel, 286–289, 295.

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Analyse von Dan 7

Die ersten drei Tiere (Dan 7,4–6) Die ersten drei teils hybridartigen Tierwesen stehen dadurch miteinander in Verbindung, dass sie mit realen Tieren verglichen werden:114 Das erste ist »wie ein Löwe« (Dan 7,4), das zweite »einem Bären gleich« (Dan 7,5) und das dritte »wie ein Leopard« (Dan 7,6). Löwe und Leopard werden zudem durch bestimmte Körperteile anderer Tiere ergänzt und so zu Hybridwesen gemacht. Diese Darstellungsart schöpft aus der Tradition des Nahen Ostens von Mischwesen, die sich typischerweise auch in der mesopotamischen Mythologie wiederfinden lässt.115 Dort stellt im Schöpfungsepos Enu¯ma elisˇ die Wassergottheit Tiamat eine Armee aus Monstern zusammen, von denen viele die Glieder unterschiedlicher Tiere kombinieren. Krieger des Heeres sind beispielsweise der Skorpionen- oder der Fischmensch.116 Weder diese Quelle noch die Kunst und Literatur des Nahen Ostens im Allgemeinen können jedoch exakte Prototypen für die Hybridwesen in Dan 7 aufweisen; »but they illustrate the imaginative repertoire from which Daniel also drew«117. Eine engere Parallele für die Tiere in Dan 7 bietet die alttestamentliche Prophetie in Hos 13, in der sich JHWH gewaltsam wie ein Löwe, ein Leopard, eine Bärin und eine Löwin gegenüber Israel zeigt:118 7 So wurde ich für sie wie ein Löwe, wie ein Leopard laure ich am Weg. 8 Ich falle sie an wie eine Bärin, die der Jungen beraubt ist, und zerreiße den Verschluss ihres Herzens. Ich fresse sie dort wie eine Löwin. Die Tiere des Feldes zerfleischen sie. (Hos 13,7–8)

Im Vergleich der beiden Bibelpassagen sind Leopard und Bär in Hos 13 in der Reihenfolge vertauscht. Die an letzter Stelle stehenden »wilden Tiere des Feldes« (Hos 13,8 EÜ) parallelisieren möglicherweise das vierte Tierwesen in Dan 7, »although Hosea’s generic ›wild beast‹ lacks the climax in ferocity that we find in the apocalyptic vision«119. Angesichts dieser Referenz hält Newsom in Dan 7 eine Art Absichtserklärung Gottes, fremden Völkern die Herrschaft über Israel zu gewähren, für möglich: »This intertextual echo […] suggests that the events of history are in some way expressions of YHWH’s intentionality.«120 Keel versteht

114 115 116 117 118 119 120

Vgl. Goldingay: Daniel, 155. Vgl. Collins: Daniel, 289, 296–298. Vgl. Newsom: Daniel, 222. Collins: Daniel, 296. Vgl. Collins: Daniel, 295–296. Collins: Daniel, 295–296. Newsom: Daniel, 223.

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

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Hos 13 jedoch eher »als Beleg für die Auffassung […], dass in Dan 7 primär an die drei […] gefährlichsten Raubtiere Palästinas gedacht ist«121: »Wenn diese Tiere aus ihren natürlichen chaotischen Lebensbereichen wie dem Dschungel am Jordan, den Bergwäldern oder der Wüste in die geordnete Welt der Menschen einbrechen, wird das als erschreckender und verstörender Einbruch des Chaos erfahren […].«122 7,4 Das erste war wie ein Löwe und hatte Adlerflügel; ich sah ⟨hin⟩, bis seine Flügel ausgerissen wurden und es von der Erde aufgehoben und wie ein Mensch auf seine Füße gestellt und ihm das Herz eines Menschen gegeben wurde.

»The eagle is chosen as the noblest of the birds, as the lion is noblest of the animals […].«123 Während die Kombination aus einem aufrechtstehenden Löwen und Adlerflügeln als solche in altorientalischer Kunst nicht belegt ist,124 können beide Tierelemente auf den König Nebukadnezar verweisen, der in Dan 2 als das erste und oberste Element der Statue in Form des goldenen Hauptes symbolisiert wird (vgl. Dan 2,31–32). Alttestamentliche Texte vergleichen Nebukadnezar mit einem vernichtenden Löwen (vgl. Jer 4,7; 47,19; 50,17) und einem Adler (vgl. Ez 17,3). Hab 1,8 schildert darüber hinaus die Chaldäer, wahrscheinlich das Soldatenheer jenes Königs, als einen in großer Schnelligkeit herbeifliegenden »Adler, der sich auf den Fraß stürzt« (Hab 1,8).125 Goldingay betont jedoch, dass der Löwe in Anbetracht seiner Angstlosigkeit und seiner zerstörerischen Kraft allgemein als Metapher für eine Nation oder einen König zu verstehen ist und im Alten Testament mitsamt dem Adler auch mit anderen Figuren in Verbindung gebracht wird. Darüber hinaus erscheinen in dem äthiopischen Henochbuch in 1 Hen 89–90 Löwe und Adler als »the leading animal[ ] and bird[ ] symbolizing the nations«126. Demnach stehen die Tierattribute in Dan 7,4 allgemein für das erste Königtum der Reihe und entsprechen so in Dan 2 dem ersten und obersten Element der Statue, dem »Haupt […] aus feinem Gold« (Dan 2,32). Dort verdeutlichen ›Haupt‹ und ›Gold‹, dem wertvollsten Material, die Vorangstellung des ersten Elements.127 Während in Dan 7,4 das Motiv des Ausreißens der Flügel nach Collins einen Machtverlust des Tierwesens darstellen kann, sprechen sich Newsom und Goldingay eindeutig für eine andere Bedeutung aus: »[I]t is more likely part of a 121 122 123 124 125 126 127

Keel: Tiere und Mensch, 15. Keel: Tiere und Mensch, 15. Collins: Daniel, 297. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 9–13. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 14. Goldingay: Daniel, 161. Vgl. Goldingay: Daniel, 161.

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Analyse von Dan 7

humanization process that the rest of the verse describes […].«128 So erinnert die Passage an den Traum Nebukadnezars in Dan 4, in dem im Rahmen eines Deshumanisierungsprozesses »[s]ein menschliches Herz […] verwandelt und das Herz eines Tieres ihm gegeben [wird]« (Dan 4,13). Ausgeschlossen von der Menschheit teilt der König den Lebensbereich der Tiere, bis dass er Gott als den höchsten Souverän anerkennt. Erst unter dieser Voraussetzung erhält er den menschlichen Verstand und die Königsherrschaft zurück. Der Aspekt der Menschlichkeit wird demnach eng mit dem Thema der von Gott gegebenen Herrschaftsautorität verknüpft. Die in Dan 7,4 enthaltenen Momente des Ausreißens der Flügel, des Auf-die-Füße-Stellens und der Gabe eines menschlichen Herzes implizieren vor diesem Hintergrund einen Humanisierungsprozess des ersten Tierwesens. Das Königtum, das dieses repräsentiert, wird folglich als ein menschliches dargestellt, welches von Gott Autorität, Ehre, Macht und Verantwortung übertragen bekommt.129 7,5 Und siehe, ein anderes, ein zweites Tier, war einem Bären gleich. Und es war auf der einen Seite aufgerichtet und hatte in seinem Maul drei Rippen zwischen seinen Zähnen. Und man sprach zu ihm so: Steh auf, friss viel Fleisch!

Aufgrund der Größe und Stärke gilt der Bär als besonders gefährlich. In der biblischen Tradition wird er häufig zusammen mit dem Löwen erwähnt, erscheint dann aber meist an zweiter Stelle (vgl. 1 Sam 17,34–37; Am 5,19; Hos 13,7– 8). Anders als der Löwe dient der Bär nirgends einem König oder einer Nation zum Vergleich.130 Vielmehr herrscht das negative Bild eines Fleischfressers vor. So berichtet beispielsweise 2 Kön 2,24, wie zwei Bären 42 Kinder zerreißen. Das Aufgerichtetsein des Bären in Dan 7 auf nur einer Seite wurde von Hartman und Di Lella als Referenz auf den dem Autor einzig bekannten König Mediens, Darius, gewertet. Andere haben darunter eine Angriffshaltung des Bären verstanden.131 Keel wendet demgegenüber ein, dass das Tier durch das halbseitige Aufrechtstehen, wie der Löwe im vorigen Vers, menschenähnlich wird. Im Anbetracht des Kontextes ist diese Deutung vorzuziehen.132 Die drei Rippen im Maul des Bären wurden häufig als Repräsentanten historischer Entitäten gedeutet. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass mit dem Bild die Gier des Bären betont werden

128 129 130 131 132

Newsom: Daniel, 223; vgl. auch Collins: Daniel, 297; Goldingay: Daniel, 161–162. Vgl. Goldingay: Daniel, 162. Vgl. Goldingay: Daniel, 162. Vgl. Collins: Daniel, 297–298. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 14–15.

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

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soll. Dieser hat sein Opfer bereits zerrissen, teils verschlungen und wird nun dazu aufgerufen, weiterhin »viel Fleisch [zu fressen]« (Dan 7,5).133 7,6 Nach diesem schaute ich, und siehe, ein anderes, wie ein Leopard: das hatte vier Vogelflügel auf seinem Rücken. Und das Tier hatte vier Köpfe, und Herrschaft wurde ihm gegeben.

Während der Löwe im Alten Testament 154 Male genannt wird, erscheint der Leopard, oder ›Panther‹, wie Keel übersetzt, mit nur neun Erwähnungen äußerst selten.134 Der Leopard ist bekannt für seine Schnelligkeit (vgl. Hab 1,8) und sein Lauern auf Beute (vgl. Hos 13,7; Jer 5,6).135 Mit dem kombinierenden Element der vier Vogelflügel wird der Eindruck einer großen Schnelligkeit nochmals verstärkt. Die Referenz, die diesen Eindruck evoziert, ist Hab 1,8. Dort wird das Chaldäerheer angesichts seiner schnellen Fortbewegung mit dem herbeifliegenden Adler verglichen, »der sich auf den Fraß stürzt« (Hab 1,8).136 Darüber hinaus wird der Leopard in Dan 7 durch den Zusatz der Vogelflügel mit dem geflügelten Löwen, dem ersten Tier, parallelisiert.137 Die vier Köpfe des Leopardenwesens wurden von einigen modernen Exegeten mit Bezug auf Dan 11,2 als Anspielung auf die vier Könige Persiens gewertet.138 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Zahl Vier, die in Dan 7,6 sowohl für die Flügel als auch für die Köpfe gebraucht wird, im Hinblick auf die vier Himmelsrichtungen Universalität bedeuten soll.139 Der Vers schließt mit dem expliziten Hinweis, dass dem dritten Tier Herrschaft übergeben wird. Die Aspekte der Universalität und der Herrschaft, die in Dan 7 als Attribute des dritten Tieres erscheinen, finden sich auch in Dan 2 in der Deutung des dritten Elements der Statue bzw. des dritten Königreiches wieder: »[U]nd ein anderes, drittes Königreich, aus Bronze, [wird] […] über die ganze Erde herrschen« (Dan 2,39). Das dritte Element und das dritte Tierwesen, symbolisch für ein drittes Königreich, sind dadurch eng miteinander verbunden. In der Zusammenschau der Verse 4 und 6 fällt schließlich auf, dass Löwe und Leopard nicht nur, wie bereits erwähnt, als geflügelte Wesen parallelisiert werden, sondern auch, dass beide das Motiv der Übergabe teilen. Dem Löwen wird »das Herz eines Menschen gegeben« (Dan 7,4), während dem Leo-

133 Vgl. Newsom: Daniel, 224. – In der historischen Deutung werden die drei Rippen als Anspielungen auf besiegte Könige, Mächte, Städte oder Völker gehalten. Vgl. Goldingay: Daniel, 163. 134 Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 15–16. 135 Vgl. Newsom: Daniel, 224. 136 Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 16. 137 Vgl. Collins: Daniel, 298. 138 Vgl. Collins: Daniel, 298; Newsom: Daniel, 224. 139 Vgl. Newsom: Daniel, 224; Keel: Tiere und Mensch, 16.

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Analyse von Dan 7

parden Herrschaft übertragen wird. Beide werden von göttlicher Instanz autorisiert, Macht auszuüben und demnach mit positiven Eigenschaften assoziiert.140

Das vierte Tier 7,7 Nach diesem schaute ich in Visionen der Nacht: Und siehe, ein viertes Tier, furchtbar und schreckenerregend und außergewöhnlich stark, und es hatte große eiserne Zähne; es fraß und zermalmte, und den Rest zertrat es mit seinen Füßen. Und es war verschieden von allen Tieren, die vor ihm waren, und es hatte zehn Hörner.

Die lange Visionsformel ›Nach diesem schaute ich in Visionen der Nacht: Und siehe‹ signalisiert, dass dem Auftritt des vierten Tierwesens gegenüber den vorangehenden eine besondere Bedeutung zukommt.141 Entgegen den ersten drei Tierwesen wird dieses nicht mit einem Tier verglichen. Vielmehr wird es durch die drei Adjektive »furchtbar und schreckenerregend und außergewöhnlich stark« (Dan 7,7) als ein Wesen dargestellt, dass die vorigen in Kraft und Schrecken übertrifft.142 Die eisernen Zähne und das Verb ›zermalmen‹ weisen das vierte Tier als Parallele zu dem vierten und eisenhaltigen Element der Statue bzw. dem vierten Königreich in Dan 2,40 aus. Letzteres gleicht in seiner Destruktivität dem Eisen, »das ⟨alles⟩ zermalmt und zerschmettert« (Dan 2,40).143 Trotz des fehlenden Tiervergleichs wertet Staub die großen Zähne als Anspielung auf einen Kriegselefanten mit großen Stoßzähnen. Während das Zermalmen an einen Pflanzenfresser denken lässt, der seine Nahrung zerkleinert, passt auch das Zertreten dessen, was übrigbleibt, gut in das Bild eines solchen Tieres.144 Indische Elefanten spielten seit den Feldzügen Alexanders des Großen eine wichtige Rolle in den griechisch-makedonischen Armeen. Von den seleukidischen Herrschern wurden sie häufig in Kämpfen eingesetzt, wie die Makkabäerbücher mehrfach belegen (vgl. 1 Makk 1,17; 3,34; 6,28–47).145 Darüber hinaus legen hellenistische Münzprägungen mit ikonographischen Motiven von Elefanten sowie die genannten Belege aus den Makkabäerbüchern für Staub nahe, dass der Autor von Dan 7 den Kriegselefanten als Chiffre für das griechische Staatensystem verstand.146 Im Hinblick auf die Zerstörungskraft des Elefanten, eingesetzt als 140 141 142 143 144 145 146

Vgl. Newsom: Daniel, 223–224. Vgl. Goldingay: Daniel, 154. Vgl. Collins: Daniel, 299; Newsom: Daniel, 224. Vgl. Collins: Daniel, 299; Newsom: Daniel, 225. Vgl. Staub: Das Tier, 77–78. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 16; Goldingay: Daniel, 163. Vgl. Staub: Das Tier, 83.

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

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»chaosbringend[e] […] Kriegswaffe«147, und im Hinblick auf dessen Größe, welche die des Löwen, Bären und Leoparden weit übertrifft, muss sich das Tierwesen in Dan 7,7 in der Tat als »verschieden von allen Tieren, die vor ihm waren,« (Dan 7,7) abheben.148 Diese Steigerung wird durch weitere Strategien verstärkt. In der Beschreibung der ersten drei Tierwesen werden passive Verbformen und ein Imperativ im Falle des Bären gebraucht (vgl. Dan 7,5). Diese Passivität wird in den Versen 4 und 6 mit dem Motiv der Übergabe verbunden: Dem Löwen wird ein menschliches Herz und dem Leopard Herrschaft gegeben. Beide werden als von göttlicher Instanz autorisiert ausgewiesen.149 Darüber hinaus beobachtet Keel einen Humanisierungsprozess, der, beim Löwen beginnend, von Tier zu Tier abnimmt: Der Löwe wird »wie ein Mensch auf seine Füße gestellt und ihm [wird] das Herz eines Menschen gegeben« (Dan 7,4). Auch der Bär wird zumindest halbseitig aufgerichtet, was für eine weniger ausgeprägte Humanisierung spricht. Die Beschreibung des Leoparden enthält keinen Hinweis mehr auf eine Vermenschlichung, jedoch wird ihm Herrschaft verliehen.150 Jedes dieser drei Tierwesen steht unter »göttlicher Kontrolle«151. Das vierte Tier jedoch bricht mit diesen Motiven. Es wird weder in einem Humanisierungsprozess dargestellt, noch wird ihm Macht gegeben. Es wird nicht, wie die vorigen, durch Passivität ausgezeichnet, sondern nun mithilfe von aktiven Verben als ein autonom handelndes Wesen beschrieben: »[E]s fraß und zermalmte, und den Rest zertrat es mit seinen Füßen« (Dan 7,7).152 Als letztes Element in der Beschreibung des vierten Tieres sind die zehn Hörner zu nennen. Im Alten Testament stehen Hörner für Macht. So berichtet Sach 2,1–4 von vier Hörnern, die Israel zerstreuen. Während Hörner in der Kunst des Alten Orients die Kronen von Ungeheuern und Göttern schmücken, erscheinen sie auch in den Porträts der frühen seleukidischen Herrscher. Münzprägungen zeigen mit Hörnern versehene Königshäupter. Vor diesem Hintergrund hält es Collins für möglich, dass die Hörner des vierten Tierwesens Verweise auf das griechische Staatensystem sind, da der Verfasser von Dan 7 möglicherweise die alten Münzprägungen gekannt hat.153 In der Anzahl der Hörner suchen einige Exegeten konkrete historische Monarchen, während andere Kommentatoren auf die nähere Bestimmung verzichten und die »Zehner-

147 148 149 150 151 152 153

Staub: Das Tier, 84. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 17; Staub: Das Tier, 84. Vgl. Newsom: Daniel, 223–225. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 13–16. »divine control«, übersetzt aus: Newsom: Daniel, 225. Vgl. Newsom: Daniel, 225. Vgl. Collins: Daniel, 299.

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Analyse von Dan 7

zahl als Chiffre für die aufgesplitterte Diadochenherrschaft insgesamt«154 verstehen. In diesem Falle muss die Analogie zwischen den zehn Hörnern des vierten Tieres in Dan 7 und der Zerteilung des vierten Königreichs in Dan 2 auffallen. Jenes Reich in Kapitel 2 wird durch das aus einer Mischung aus Eisen und Lehm hergestellte und daher brüchige Element der Statue repräsentiert (vgl. Dan 2,40–43). Die Zehnerzahl kann aber auch Totalität bedeuten und auf die zehn sukzessiven Generationen oder Könige zurückgehen, die in Schemata apokalyptischer Visionen erscheinen, wie zum Beispiel in 1 Hen 93,1–10.155 7,8 Während ich auf die Hörner achtete, siehe, da stieg ein anderes, kleines Horn zwischen ihnen empor, und drei von den ersten Hörnern wurden vor ihm ausgerissen; und siehe, an diesem Horn waren Augen wie Menschenaugen und ein Mund, der große ⟨Worte⟩ redete.

Das Emporsteigen des kleinen Horns zwischen den anderen impliziert ein plötzliches Erscheinen und Großwerden. Dieser Teil der Schauung wird in Dan 7,20 wiederholt. Dort ist das »Aussehen [des einzelnen Horns] […] größer als das seiner Gefährten« (Dan 7,20). Die Steigerung bzw. der Bruch, den das vierte Tier in der Reihe der Tierwesen darstellt, wird in Vers 8 auf das kleine Horn übertragen.156 Dem entspricht, dass drei der vorigen Hörner ausgerissen werden. Der Ausführende dieser Handlung scheint jedoch nicht das kleine Horn selbst, sondern, so Newsom und Goldingay, Gott zu sein, wie es auch die passiven Verben für Löwe, Bär und Leopard in den Versen 4–6 implizieren.157 Des Weiteren wird das kleine Horn mit den menschlichen Körperteilen Augen und Mund beschrieben. Augen werden im Alten Testament häufig mit den Charaktereigenschaften Stolz und Hochmut assoziiert (vgl. Spr 21,4; Jes 2,11). Denen aber, deren Augen niedergeschlagen sind, kommt Gott zu Hilfe (vgl. Ijob 22,29). Der Mund wiederum wird oft mit den Frevlern, den Gottlosen, in Verbindung gebracht und steht für Gewalt, Bosheit, Unheil und Destruktivität (vgl. Spr 10,6; 11,11; 15,28; 19,28).158 Die ›großen Worte‹, die das kleine Horn im Visionsabschnitt in Dan 7 redet, haben im Deutungsteil in Dan 7,25 eine Parallele:159 Und er wird Worte reden gegen den Höchsten und wird die Heiligen des Höchsten aufreiben. (Dan 7,25pass)

Das kleine Horn, in den Versen 23–25 als der »andere[ ]« (Dan 7,24) und letzte König der Herrscherreihe gedeutet, wird demnach als arrogant, stolz und 154 155 156 157 158 159

Staub: Das Tier, 49. Vgl. Newsom: Daniel, 225. Vgl. Newsom: Daniel, 225–226. Vgl. Newsom: Daniel, 226; Goldingay: Daniel, 164. Vgl. Newsom: Daniel, 226. Vgl. Goldingay: Daniel, 164.

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

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hochmütig bezeichnet. Auch in Dan 11,36 führt der König in arroganter Art und Weise »gegen den Gott der Götter […] unerhörte Reden« (Dan 11,36).160 Newsom weist darauf hin, dass sich zum einen ein Prototyp des hochmütig lästernden Königs, dessen Darstellung eine erhobene Stimme mit emporgerichteten Augen vereint, in Jes 37,23 wiederfindet und zum anderen auch der gewaltsame Herrscher Antiochos Epiphanes in 1 Makk 1,24 »ganz vermessene Reden [führt]« (1 Makk 1,24 EÜ).161 Während die Debatte um eine mögliche Identifizierung historischer Könige in den zehn Hörnern und den drei ausgerissenen Hörnern kontrovers geführt wird, gibt es einen größeren Konsens unter den Exegeten hinsichtlich der Frage nach der Identität des kleinen Horns: Es symbolisiert den Seleukidenherrscher Antiochos IV. Epiphanes.162

Thronszene (Dan 7,9–10) Die Thronvision in den Versen 9 und 10 zeichnet sich durch kurze Sätze aus, die in poetischen Parallelismen zueinander stehen, wie die folgenden Begriffe aus Dan 7,9 visualisieren sollen: Sein Gewand das Haar

weiß wie Schnee wie reine Wolle

Diese Parallelismen unterscheiden sich von den »Synonymenketten«163 aus dem vorigen Unterabschnitt. Eine solche Synonymenkette ist beispielsweise in Dan 7,7 zu finden:164 furchtbar und schreckenerregend und außergewöhnlich stark

Im Folgenden sind die poetischen Parallelismen in den Zitierungen durch das Zeichen ›*‹ kenntlich gemacht.165 Nach Collins weist das poetische Stilmittel darauf hin, dass die Thronvision aus traditionellem Material zitiert und in Dan 7 eingefügt worden ist. Sie ist Teil der biblischen Tradition von Thronvisionen, die sich mit 1 Kön 22,19, Jes 6 und Ez 1 belegen lässt und sich auch in anderen Schriften hellenistischer Zeit manifestiert. Hier seien 1 Hen 90,20 und auch 1 Hen 60,2, vor allem aber 1 Hen 14,18–23, die dichteste Parallele zur Daniel-Thron160 161 162 163 164 165

Vgl. Collins: Daniel, 299. Vgl. Newsom: Daniel, 226. Vgl. Newsom: Daniel, 226; Staub: Das Tier, 50. »chains of synonyms«, übersetzt aus: Collins: Daniel, 300. Vgl. Collins: Daniel, 299–300. Vgl. Goldingay: Daniel, 155.

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Analyse von Dan 7

vision, genannt. Die Vision in 1 Hen 14 ist ausführlicher und älter als jene in Dan 7, wohingegen letztere durch eine Gerichtsszene ergänzt ist. Ein direkter Einfluss ist nicht anzunehmen, vielmehr schöpfen beide Texte aus einer gemeinsamen Tradition.166 Als enge Parallele zu Dan 7,9–10 nennen Newsom und Stokes ebenfalls das zu den Qumran-Schriften zählende Buch der Giganten mit dem Fragment 4Q530 2.16–18.167 Wie schon erwähnt, kombiniert Dan 7,9–10 die Thronszene mit einer Gerichtsszene. Der Hintergrund für diese Zusammenstellung ist die Praxis des Königs, nach einer kriegerischen Auseinandersetzung die besiegten Oppositionellen zu empfangen und über sie zu richten. Dies trifft auf weltliche Könige (vgl. Ps 122,5) und auch auf JHWH als richtenden König zu (vgl. Jer 49,37; Joel 4,1–2).168 7,9 Ich schaute, bis Throne aufgestellt wurden und einer, der alt war an Tagen, sich setzte. *Sein Gewand war weiß wie Schnee und das Haar seines Hauptes wie reine Wolle, *sein Thron Feuerflammen, dessen Räder ein loderndes Feuer.

Mehrere Throne werden aufgestellt, doch nimmt in diesem Vers nur eine Person Platz: »einer, der alt war an Tagen« (Dan 7,9), später auch der ›Alte an Tagen‹ genannt (vgl. Dan 7,13). Der Hinweis auf eine einzelne Figur wird von Montgomery und Goldingay zum Anlass genommen, in Dan 7,9–10 nur diese als sitzend anzunehmen. In der Tat wird in der israelitischen Tradition manchmal einzig JHWH als sitzend dargestellt, während die anderen Anwesenden vor ihm oder um ihn stehen (vgl. 1 Kön 22,19). In Dan 7 gibt der folgende Vers 10 jedoch an, dass sich nach dem ›Alten an Tagen‹ auch das Gericht setzt. Hintergrund der vielen Throne ist der kanaanäische Mythos der Götterversammlung, in der die Götter um den Hauptgott El auf Thronen sitzen. In der späteren biblischen Tradition weisen Mt 19,28 den zwölf Jüngern Jesu und Offb 4,2–4 den Ältesten ebenfalls Throne zu. Ihnen kommt dadurch die Funktion des Richtens zu.169 Die Bezeichnung »alt an Tagen« (Dan 7,9) oder ›der Alte an Tagen‹ erinnert an den ebenfalls ältlichen kanaanäischen Obergott El, der den Beinamen ›Vater der Jahre‹ trägt. Ähnlich wird JHWH in der biblischen Tradition als »ewiger Gott« (Jes 40,28) und »Gott der Urzeit« (Dtn 33,27) beschrieben. Das Gewand der alten Figur in Dan 7 ist weiß und seine Haare sind »wie reine Wolle« (Dan 7,9). Wolle steht in der Poetiktradition oft für die weiße Farbe. In 1 Hen 14,20 wird das 166 Vgl. Collins: Daniel, 300. 167 Für eine Zusammenschau der genannten Thronvisionen siehe: Newsom: Daniel, 227–228; einen ausführlichen Vergleich bietet der 2008 erschienene Artikel: Stokes: Throne Visions. 168 Vgl. Newsom: Daniel, 228. 169 Vgl. Collins: Daniel, 301; Newsom: Daniel, 229.

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

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Gewand der »große[n] Herrlichkeit […] strahlender als die Sonne und weißer als aller Schnee« (1 Hen 14,20) beschrieben. In beiden Fällen wird daher die leuchtende Helligkeit als Erscheinungsmerkmal einer Gottheit akzentuiert.170 Weiter symbolisiert die Farbe Weiß Reinheit, die nach biblischer Tradition überhaupt die Zugangsvoraussetzung zur Nähe Gottes ist (vgl. Ps 51,9; Jes 1,18).171 In der Unterscheidung des Menschlichen und des Göttlichen unterstreicht das Weiße und Leuchtende daher die »Ehrfurcht gebietende völlige Andersartigkeit des göttlichen Wesens«172. Doch auch Engel und Jesus in seiner Verklärung werden als helle und weiße Erscheinungen beschrieben (vgl. Mt 28,3; Mk 9,2–3). Engel sind oft durch das Leinengewand als solche ausgezeichnet (vgl. Ez 9,2). In Dan 7 wird die leuchtend helle Erscheinung und der damit evozierte Eindruck einer furchterregenden Andersheit des ›Alten an Tagen‹ ergänzt durch den Thron aus Feuer. Feuer ist ein Erkennungsmerkmal für biblische Theophanien, symbolisiert aber auch die zerstörerische Macht Gottes. JHWH offenbart sich im brennenden Dornbusch (vgl. Ex 2,3), während es in einem anderen Kontext heißt: »Feuer geht vor ihm her und verzehrt seine Bedränger« (Ps 97,3). In der Vision Ez 1 erscheint auf einem Thron die göttliche Gestalt umgeben von Feuer, einer leuchtenden Helligkeit und Blitzen (vgl. Ez 1,4.13.27).173 Aufgrund der tödlichen Gefahr des Feuers für Menschen hebt »die Assoziation der göttlichen Gegenwart mit Feuer […] dessen transzendente Andersartigkeit«174 hervor.175 Der Thron mit Rädern, auf dem der ›Alte an Tagen‹ Platz nimmt, greift das Motiv des Wagens oder Sonnenwagens Gottes auf (vgl. 2 Kön 23,11; Ps 68,18). Die flammenden Räder jedoch gehen auf die Visionspassage Ez 1,15–20 zurück, in der ein beweglicher Gottesthron geschaut wird. Auch die Thronvision 1 Hen 14 berichtet von einem Thronrad, das mit einer leuchtenden Sonne verglichen wird (vgl. 1 Hen 14,18).176 7,10 Ein Feuerstrom floss und ging von ihm aus. *Tausend mal Tausende dienten ihm, und zehntausend mal Zehntausende standen vor ihm. *Das Gericht setzte sich, und Bücher wurden geöffnet.

170 Vgl. Newsom: Daniel, 229–230. 171 Vgl. Ego: Reinheit, Kap. 1; Dieckmann-von Bünau: Farben (AT), Kap. 4. 172 »awe-inspiring wholly otherness of the divine being«, übersetzt aus: Newsom: Daniel, 229, vgl. auch 229–230. 173 Vgl. Collins: Daniel, 301–302. 174 »the association of the divine presence with fire underscores its transcendent otherness«, übersetzt aus: Newsom: Daniel, 230. 175 Vgl. Newsom: Daniel, 230. 176 Vgl. Collins: Daniel, 302.

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Analyse von Dan 7

Die Idee eines Stromes, der von dem Thron Gottes ausgeht, geht möglicherweise auf die Vision strömenden Wassers aus dem Tempel in Ez 47,1 zurück.177 Der Feuerstrom hat sich zu einem elementaren Motiv in den Visionen des göttlichen Throns entwickelt. Erscheint dieser in Dan 7 noch im Singular, erzählt 1 Hen 14 schon von »Ströme[n] flammenden Feuers« (1 Hen 14,19) im Plural. Schriften aus Qumran enthalten ebenfalls das Motiv der Feuer- oder auch Lichtströme. Das Konzept der unzähligen Diener, die in Dan 7,10 vor dem ›Alten an Tagen‹ stehen, entstammt ursprünglich dem Mythos der Götterversammlung um El.178 In 1 Kön 22,19–22 ist es dann ein Heer himmlischer Wesen, das dem göttlichen König in beratender Funktion beisteht. Das Qumran-Fragment 4Q530 mit der ähnlichen, im Vergleich zu Dan 7 jedoch bescheideneren Zählart beschreibt die Beistehenden nicht länger als Mitglieder des Rats, sondern weist ihnen eine Anbetungsund Dienerfunktion zu: 4Q530 2.18 Dan 7,10 »›[A hundred hun]dreds »›A thousand thousands were serving him, served him, a thousand thousands and ten thousand ten thousands [were worshipping] him.‹«179 stood before him.‹«180

Mit einer solch großen Dienerschaft vermittelt Dan 7,10 den Eindruck einer gewaltigen Macht des göttlichen Hofes. Mit dem Hinweis »Das Gericht setzte sich, und Bücher wurden geöffnet« (Dan 7,10) wird die Beschreibung der göttlichen Figur ›der Alte an Tagen‹ und des Thrones abgeschlossen.181 Das Aufschlagen der Bücher deutet darauf hin, dass der folgende Gerichtsprozess aufgezeichnet wird. In der hebräischen Bibel ist das Motiv des Aufzeichnens von Taten in einem Gerichtsbuch gut belegt (vgl. Jes 65,6; Mal 3,16). Jenes Buch unterscheidet sich von dem »Buch der Wahrheit« (Dan 10,21) und von dem Buch der Geretteten in Dan 12,1.182

Gericht (Dan 7,11–12) Nachdem die Thronvision und der Auftritt des ›Alten an Tagen‹ die Reihe der vier Tierwesen, der zehn Hörner auf dem vierten Tier und des kleinen Horns abgeschlossen hat, wird diese vom Ende her fast vollständig wieder zurückver177 178 179 180 181 182

Vgl. Newsom: Daniel, 230. Vgl. Collins: Daniel, 302. Stokes: Throne Visions, 352. Stokes: Throne Visions, 352. Vgl. Newsom: Daniel, 230–231. Vgl. Collins: Daniel, 303.

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

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folgt: Nach der Thronvision folgen das einzelne Horn, das vierte Tier aus Vers 7 und schließlich die übrigen Tiere aus den Versen 4–6. Nur die zehn Hörner werden nicht erwähnt. Durch die Spiegelung an der Thronvision wird diese als Zentrum der chiastischen Komposition ausgewiesen.183 Ebenso werden dadurch die folgenden Verse 11–12 von dem vorigen Unterabschnitt abgegrenzt. Dieser Schnitt wird darüber hinaus durch den Wechsel zurück in die Gattung Prosa markiert.184 Der Stil der poetischen Parallelismen, die Collins in den Versen 9–10 identifiziert,185 wird aufgegeben und die Technik der Synonymenketten wieder aufgenommen: das Tier getötet und sein Leib zerstört und dem Brand des Feuers übergeben (Dan 7,11) 7,11 Dann schaute ich wegen der Stimme der großen Worte, die das Horn redete; ich schaute, bis das Tier getötet und sein Leib zerstört und dem Brand des Feuers übergeben wurde.

Die Exekution des vierten Tieres, wohl mit dem redenden Horn, ist offenbar die Umsetzung des richterlichen Urteils. Die Verben stehen im Passiv. Der oder die Handelnden werden wie auch in den Beschreibungen der ersten drei Tierwesen in Dan 7,4–6 nicht erwähnt. Bei dem Feuer, dem das Tier übergeben wird, handelt es sich, so der Vorschlag von Newsom, wahrscheinlich um den Feuerstrom, der in Vers 10 von dem göttlichen Thron ausgeht. Eine Parallele dazu bietet die Thronvision in Ez 10, in der ein Engel Feuerkohlen von dem Ort zwischen den Thronrädern entnehmen soll, um sie als Strafe Gottes über Jerusalem auszustreuen (vgl. Ez 10,1–2.6–7). Feuer versinnbildlicht häufig das göttliche Gericht und die Bestrafung von Sündern (vgl. Ez 38,22). Als Gerichtsszene stellt 1 Hen 90,24–27 eine weitere Parallele zu Dan 7,11 dar: Dort werden Sterne und siebzig Hirten, gemeint sind Engel, und die verblendeten Schafe, wohl jüdische Abtrünnige, in einen feurigen Abgrund geworfen. Von einem göttlichen Thron ist allerdings nicht die Rede.186 Da das Tierwesen in Dan 7 ein Königreich symbolisiert, geht es hier jedoch nicht um ewige Bestrafung individueller Sünder im Feuer, sondern um die Zerstörung einer Macht.187 7,12 Und den übrigen Tieren wurde ihre Herrschaft weggenommen, und Lebensdauer wurde ihnen gegeben bis auf Zeit und Stunde.

183 184 185 186 187

Vgl. Goldingay: Daniel, 153–154. Vgl. Goldingay: Daniel, 155. Vgl. Collins: Daniel, 299–300. Vgl. Newsom: Daniel, 232–233. Vgl. Collins: Daniel, 304.

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Analyse von Dan 7

Mit dem Überleben der ersten drei Tierwesen und der Tötung des vierten unterscheidet sich Dan 7 von dem Traum in Dan 2. Wenn sich auch in Kapitel 2 das vierte Element der Statue bzw. das vierte Königreich durch eine besondere Aggressivität auszeichnet, da es »wie das Eisen […] all jene zermalm[t] und zertrümmer[t]« (Dan 2,40), werden durch den Stein doch alle vier Elemente zermalmt und vom Wind fortgetragen (vgl. Dan 2,35). Alle vier Königreiche werden durch das göttliche Gericht vernichtet. Ganz anders wird in Dan 7 den ersten drei Tieren die Herrschaft genommen, sie dürfen aber für eine begrenzte Zeit weiterleben. Dan 7 scheint demnach eine Fortentwicklung des eschatologischen Szenarios aus Dan 2 zu sein. So wird zum einen das vierte Tierwesen in seiner feindschaftlichen Natur deutlich drastischer von den übrigen abgehoben als noch das letzte Element der Statue von den vorigen in Dan 2. Zum anderen ändert sich das politische Konzept des göttlich-ewigen Reichs. Während in Dan 2 der Stein, der die Statue zerstört, »zu einem großen Berg [wird] und […] die ganze Erde [erfüllt]« (Dan 2,35) und in der entsprechenden Deutung das von Gott aufgerichtete Reich alle anderen Königtümer vernichtet (vgl. Dan 2,44), stellt Dan 7 vielmehr ein imperiales Herrschaftsmodell vor, in dem »alle Mächte« (Dan 7,27), also auch die vorigen, dem ewigen Reich, das dem ›Volk der Heiligen des Höchsten‹ gegeben ist, »dienen und gehorchen« (Dan 7,27). Ein solches politischeschatologische Szenario findet sich auch in 1 Hen 90,30. Dort beugen sich Nichtjuden, repräsentiert durch die Tiere der Erde und des Himmels, vor den nach dem Gericht übrig gebliebenen Juden, symbolisiert durch Schafe. Sie verwandeln sich in 1 Hen 90,37–38 darüber hinaus sogar in weiße Stiere, was allegorisch für den Übertritt zum Judentum steht. Mit beiden Szenarien geht die damalige Erwartung einher, dass alle Nationen den Gott JHWH anerkennen und dem Volk Israel dienen werden (vgl. Jes 2,2–4).188

Ankunft und Empfang des neuen Reiches (Dan 7,13–14) Parallel zu den Versen 3 und 7 des Danielkapitels wird nun zum dritten Mal eine Szene durch eine lange Visionsformel eingeleitet: »Ich schaute in Visionen der Nacht: Und siehe« (Dan 7,13). Dadurch wird die Ankunft der menschenähnlichen Gestalt (7,13) dem Emporsteigen der vier Tiere aus dem Meer (7,3) und dem Auftritt des vierten Tierwesens (7,7) gegenübergestellt. Die konzentrische Struktur, die die Abfolge ›Tierwesen – zehn Hörner – kleines Horn‹, die Thronszene im Zentrum und die daran gespiegelte Abfolge ›kleines Horn – zehn Hörner – Tierwesen‹ umfasst, wird durch die nun hinzukommende Figur beschlossen. Durch diese Techniken wird die Gegenüberstellung des ›Einer wie der 188 Vgl. Newsom: Daniel, 233.

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

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Sohn eines Menschen‹ und der vier Tierwesen bewirkt. Der Visionsabschnitt (7,2b–14) gelangt mit dieser Szene (7,13–14) zu seinem Schluss. Anders als die Thronszene, die von engen poetischen Parallelismen regelmäßig durchflochten ist, identifiziert Goldingay in der Szene Dan 7,13–14 nur einen einzigen Parallelismus:189 Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, und sein Königtum ⟨so⟩, dass es nicht zerstört wird. (Dan 7,14pass) 7,13 Ich schaute in Visionen der Nacht: Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. Und er kam zu dem Alten an Tagen, und man brachte ihn vor ihn.

Die Ankunft des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ geschieht »mit den Wolken des Himmels« (Dan 7,13). Biblisch ist das Umgebensein von Wolken ein Attribut für Göttlichkeit. In Dtn 33,26 ist der Gott JHWH derjenige, »der auf dem Himmel […] und in seiner Hoheit auf den Wolken [einherfährt zu deiner Hilfe]« (Dtn 33,26). Als Schöpfergott »[macht er] Wolken […] zu seinem Wagen […] [und zieht einher] auf den Flügeln des Windes« (Ps 104,3).190 Allerdings werden göttliche Attribute oftmals auch in der Beschreibung von Engeln angewandt, wie beispielsweise bei der Gestalt in Dan 10,5–6, deren Gesicht Blitzen und dessen Augen Feuerfackeln gleichen.191 Jes 19,1 und Ps 18,10–12 stellen Gottes Wolkenfahrt als eine »Bewegung vom Himmel zur Erde«192 dar. In Dan 7 kann die Ankunft auf Wolken ebenfalls als Abwärtsbewegung aus dem Himmel gelesen werden,193 sie steht dann dem Emporsteigen der Tiere aus dem Meer symmetrisch gegenüber und bekommt demnach die Rolle einer die vorigen Mächte ablösende Gegenmacht zugesprochen.194 Die Beschreibung der auftretenden Figur enthält das Element »Sohn eines Menschen« (Dan 7,13). Die dem zugrundeliegende Konstruktion »bar X«195 »bezeichnet ein individuelles Mitglied einer Art«196. »Thus […] a ›son of a human‹ (bar ʾeˇna¯ˇs) is a human being.«197 Es handelt sich bei der Konstruktion also um eine generische Bezeichnung.198 Aramäisch ‫בר אנש‬, »bar ʾeˇna¯ˇs«199, erscheint 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199

Vgl. Goldingay: Daniel, 153–155, 167. Vgl. Collins: Daniel, 290. Vgl. Newsom: Daniel, 236. »movement from heaven to earth«, übersetzt aus: Goldingay: Daniel, 167. Vgl. Goldingay: Daniel, 167. Vgl. Newsom: Daniel, 234. Newsom: Daniel, 234. »designates an individual member of a species«, übersetzt aus: Newsom: Daniel, 234. Newsom: Daniel, 234. Vgl. Newsom: Daniel, 234. Newsom: Daniel, 234.

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Analyse von Dan 7

erstmalig in einer Vertragsinschrift auf der dritten Sfire-Stele aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. »in the general sense of ›someone, anyone‹«200. Der entsprechende Ausdruck im Hebräischen, ‫בן אנוש‬,201 wird ebenfalls im gattungsspezifischen Sinn gebraucht: »HERR, was ist der Mensch, dass du Kenntnis von ihm nimmst, der Sohn des Menschen, dass du ihn beachtest?« (Ps 144,3).202 Häufiger kommt im Alten Testament der ähnliche Begriff hebräisch ‫ בן אדם‬vor, wie zum Beispiel in Ijob 25,6 und Ps 8,5.203 Dort lässt sich ‫ בן אדם‬mit »Menschensohn« (Ijob 25,6 EÜ) oder »Menschenkind« (Ijob 25,6) übersetzen. In den genannten Passagen fällt auf, dass »Sohn des Menschen« (Ps 144,3), »Menschensohn« (Ijob 25,6 EÜ) oder »Menschenkind« (Ijob 25,6) mit dem Wort »Mensch« (Ijob 25,6) parallelisiert werden, was deren generische Bedeutung festigt.204 Im Ezechielbuch wird der Ausdruck »Menschensohn« (Ez 2,1), ‫בן אדם‬, häufig als Anrede des Visionärs genutzt.205 Die Begriffe aramäisch ‫ בר אנש‬und hebräisch ‫ בן אדם‬werden im Alten Testament, wie auch in Dan 7,13, ohne Artikel verwendet und können weder auf eine gebräuchliche Titelbezeichnung noch auf ein weit verbreitetes Konzept in der jüdischen Tradition hindeuten. Anders verhält es sich demgegenüber mit den determinierten Begriffen ›das Meer‹ in Dan 7,3 und ›der Höchste‹ in Dan 7,25.206 Dan 7,13 müsste man daher streng genommen mit ›wie Sohn eines Menschen‹ übersetzen. Die Interlinearübersetzung schreibt an dieser Stelle »wie (ein) Sohn (von) Mensch«207. Die Vergleichspartikel ‫כ‬, deutsch ›wie‹, die in Dan 7,13 dem Ausdruck ›Sohn eines Menschen‹ voransteht,208 betont, so Newsom, dass jene Gestalt in ihrem Aussehen »menschenähnlich«209 ist. Darüber hinaus parallelisiert die komparative Partikel den ›Einer wie ein Sohn eines Menschen‹ mit den vier Tierwesen aus dem Meer.210 Allerdings erhalten nur das erste und dritte Wesen »wie ein Löwe« (Dan 7,4) und »wie ein Leopard« (Dan 7,6) ein ‫כ‬, während das dritte als »einem Bären gleich« (Dan 7,5) qualifiziert wird. Dazu ergänzt Goldingay, dass die ‫כ‬-Formulierung auch in den Beschreibungen von Engeln menschenähnlicher Gestalt in Dan 8,15 und 10,16.18 vorkommt: »im Aussehen wie ein Mensch« (Dan 10,18). Seiner Ansicht nach liegen die dortigen Ausdrücke dem in Dan 7,13 näher, da die Engelfiguren in Dan 8 und 10, wie auch die neue Gestalt in Dan 7, gänzlich einem Wesen, nämlich einem Menschen, 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210

Collins: Daniel, 305. Vgl. Collins: Daniel, 304. Vgl. Newsom: Daniel, 235. Vgl. Collins: Daniel, 304; Newsom: Daniel, 235. Vgl. Collins: Daniel, 304. Vgl. Newsom: Daniel, 235. Vgl. Goldingay: Daniel, 167. Steurer: Das Alte Testament. Interlinearübersetzung, Dan 7,13. Vgl. Goldingay: Daniel, 167. »humanlike«, übersetzt aus: Newsom: Daniel, 235. Vgl. Newsom: Daniel, 235.

Abschnitt Vision (Dan 7,1–14)

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ähneln, während die Tiervergleiche in Dan 7,4–6 lediglich ein Element der hybridartigen Wesen charakterisieren. Bei der Frage nach den Implikationen der Menschenähnlichkeit setzt Goldingay die auf Wolken kommende Gestalt dennoch mit den vier Tierwesen in Beziehung: »Earlier verses of Dan 7 have used the motif of being human over against being animal to denote being in a position of authority.«211 Auch Keel erinnert an das Gegensatzmotiv ›Mensch-Tier‹, das noch weit umfassender die erste Hälfte des Danielbuches prägt. Dan 4 und 5 berichten von der Tierwerdung König Nebukadnezars und dessen Rückverwandlung in einen Menschen. Der Zurückerhalt des menschlichen Verstandes wird dort eng mit dem Empfang königlicher, von Gott gegebener Herrschaftsautorität verknüpft. Dan 7 schließt an dieses Motiv an, indem die vier Tierwesen, in abnehmender Tendenz, einen Humanisierungsprozess durchlaufen und dementsprechend, mit Ausnahme des letzten Tieres, Autorität verliehen bekommen. Der zunehmenden Destruktivität oder Unmenschlichkeit, die in dem vierten Tier und zuletzt in dem kleinen Horn gipfelt, wird durch die Herrschaftsübergabe an die neue Gestalt, die wie ein Mensch ist, ein Ende gesetzt.212 Die durch »Wolken des Himmels« (Dan 7,13) als göttlich ausgewiesene Gestalt gelangt vor den »Alten an Tagen« (Dan 7,13). Diese Konstellation zweier hierarchisch unterschiedlich gestellten göttlichen Figuren erinnert an die kanaanäischen Mythen von dem älteren Obergott El und dem untergeordneten Gott Baal. Letzterer wird in dem Mythos als »›Wolkenfahrer‹«213 angerufen und ähnelt daher der auf den Wolken des Himmels kommenden Gestalt in Dan 7. Der Mythos bietet einen wichtigen Hintergrund für das Danielkapitel. Die relevanten Erzählelemente des Baal-Epos sollen daher kurz dargestellt werden: Die Meeresgottheit Jamm verlangt die Herrschaft unter den Göttern und die Auslieferung Baals. Dieser schreitet als Sturmgott und ›Wolkenfahrer‹ ein, bekämpft und tötet schließlich Jamm. Dann wird seine ewige Königsherrschaft ausgerufen. In weiteren Fragmenten ernennt El, der Hauptgott, Baal als König, dessen Herrschaft der Souveränität Els jedoch untergeordnet bleibt. Collins weist darauf hin, dass dieser Mythos keine direkte Quelle von Dan 7 sein kann, da ein zeitlicher Abstand von über 1000 Jahren zwischen den Mythostexten aus Ugarit und der Danielkomposition liegt. Dennoch muss das mythische Muster eine traditionsgeschichtliche Weitergabe bis zur Entstehung des Danielbuches erfahren haben:214

211 212 213 214

Goldingay: Daniel, 168. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 18–21. »›rider of the clouds‹«, übersetzt aus: Collins: Daniel, 290. Vgl. Collins: Daniel, 286–287, 290–291.

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Analyse von Dan 7

»What is important is the pattern of relationships: the opposition between the sea and the rider of the clouds, the presence of two godlike figures, and the fact that one who comes with the clouds receives everlasting dominion.«215

Von großem Interesse für die Biblische Theologie ist darüber hinaus die Beobachtung, dass die Attribute der zwei göttlichen Gestalten aus Dan 7 später in der Offenbarung in einer einzigen Figur verschmolzen sind. Diese ist »gleich einem Menschensohn« (Off 1,13) und hat »Haare […] weiß wie weiße Wolle, wie Schnee, und […] Augen wie eine Feuerflamme« (Off 1,14).216 7,14 Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. *Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, und sein Königtum ⟨so⟩, dass es nicht zerstört wird.

Nach dem Gericht über die vier Tierwesen und der anschließenden Ankunft des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ wird letztere Figur nun zum Empfänger in der Übergabeszene. Die gebrauchten Ausdrücke stehen dabei in enger Kontinuität mit der ersten Buchhälfte.217 So erinnert die Formel ›Herrschaft und Ehre und Königtum‹ in Dan 7 an den König Nebukadnezar, dem Gott »die Königsherrschaft, die Macht und die Stärke und die Ehre« (Dan 2,37) verleiht (vgl. auch Dan 5,18).218 Die Übergabe in Dan 7,14 wird dem passivischen Moment des ›Gegebenwerdens‹ verbunden und schließt daher an das Motiv der Herrschaftsautorisation durch Gott als den obersten Souverän aus Dan 2 an. Die Formel ›Völker, Nationen und Sprachen‹ wiederum erscheint wiederholt im Kontext eines Befehls oder einer Kundgebung des Königs an das ganze Reich (vgl. Dan 3,4.7.29.31; 6,26) und ist als Ausdruck der universalen Kontrolle des weltlichen Königs zu verstehen (vgl. Dan 5,19). In Dan 7,14 werden also beide Formeln und so auch die dazugehörigen Themen der Autorität und der Universalität einer weltlichen Herrschaft kombiniert. Im zweiten Versteil wird die Kombination beider Formeln um eine Doxologie ergänzt. Diese proklamiert die Ewigkeit und Unzerstörbarkeit einer Herrschaft, die in der ersten Buchhälfte allein Gott als den obersten Souverän vorbehalten bleibt,219 wie die Doxologien in Dan 3,33, 4,31 und 6,27 zeigen.220 Demnach sind weltliche, von Gott delegierte Macht und göttliche Macht nun in einer Herrschaft vereint. Der menschenähnliche Empfänger dieses neuen Reichs, das in Dan 7 die Mächte der vier Tierwesen ablöst, entspricht dem Stein in Dan 2, der im Traum die aus den vier 215 216 217 218 219 220

Collins: Daniel, 291. Vgl. Collins: Daniel, 311. Vgl. Collins: Daniel, 311. Vgl. Newsom: Daniel, 234. Vgl. Newsom: Daniel, 234. Vgl. Segal: Dreams, 136–137.

Abschnitt Deutung (Dan 7,15–28)

51

Elementen bestehende Statue zerstört, als großer Berg »die ganze Erde [erfüllt]« (Dan 2,35) und als neu aufgerichtetes, ewiges Königreich gedeutet wird (vgl. Dan 2,44–45). Wie bereits in der Analyse von Dan 7,12 thematisiert, vernichtet das neue Reich in Dan 7 nicht alle vorangehenden Mächte, während die neue Herrschaft in Dan 2 jedoch »all jene Königreiche zermalmen und vernichten, selbst aber […] ewig bestehen« (Dan 2,44) soll.221 Die nun vollzogene Ablösung der vier Tierwesen in der Übergabe der ewigen göttlichen Herrschaft sowie die dies bestätigende Doxologie bilden den Abschluss und Höhepunkt des Visionsabschnitts Dan 7,2b–14.

3.4

Abschnitt Deutung (Dan 7,15–28)

Reaktion des Visionärs (Dan 7,15) 7,15 Mir, Daniel, wurde mein Geist tief in meinem Innern bekümmert, und die Visionen meines Hauptes erschreckten mich.

Innere Unruhe als Reaktion auf das Geschaute stellt sich beim Pharao in Gen 41,8 und bei Nebukadnezar in Dan 2,1.3 ein. Auch das Erschrecken infolge eines Traumes erleidet König Nebukadnezar (vgl. Dan 4,2).222 In diesen Parallelstellen erfolgt die Reaktion jedoch am Morgen nach dem Traum. Mit Dan 7,15 ist die Visionsbeschreibung zwar abgeschlossen, dennoch spielt sich das folgende Geschehen, die Deutung des Geschauten, ebenfalls in der Traumvision ab.223

Bitte um Deutung (Dan 7,16) 7,16 Ich näherte mich einem von denen, die dastanden, und bat ihn um genaue Auskunft über dies alles. Und er sprach zu mir und ließ mich die Deutung der Sachen wissen…

Anders als in den Traumdeutungen in der ersten Hälfte des Danielbuches findet die Deutung nun innerhalb der Traumvision statt. Deuteengel sind seit dem Sacharjabuch ein Erkennungsmerkmal apokalyptischer Schauungen (vgl. Sach 1,9.14.19). In den hebräischen Danielkapiteln wird der Deuteengel mit Gabriel identifiziert. Die erklärende Gestalt in Dan 7,16 bleibt jedoch anonym. Während in Dan 4 und 6 Daniel als menschlicher Traumdeuter auftritt, wird die Inter221 Vgl. Newsom: Daniel, 235. 222 Vgl. Collins: Daniel, 311. 223 Vgl. Newsom: Daniel, 236.

52

Analyse von Dan 7

pretation in Dan 7–12 von einem himmlischen Wesen übernommen. Auch dies markiert den Gattungswechsel von den Hoferzählungen im ersten Buchteil zu den Visionen in der zweiten Hälfte.224

Deutung (Dan 7,17–18) Verglichen mit dem Detailreichtum in der Beschreibung des Geschauten ist die erste Deutung sehr knapp. Die Erwähnung der vier Tiere (7,17) und die Übergabeszene des neuen Reiches (7,18) sind parallel gefügt zu dem Emporsteigen der Tiere aus dem Meer (7,3) und der Übergabe ewiger Herrschaft an den ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ (7,14). Die Verse 17 und 18 greifen nur den Rahmen der chiastischen Komposition aus dem Visionsabschnitt auf. Dieser Rahmen, Goldingay nennt ihn »framework for interpretation«225, erhöht aufgrund seiner Knappheit die Spannung und führt zwangsläufig zu einer zweiten Bitte um Deutung und zu einer zweiten und informationsreicheren Deutung.226 7,17 Diese großen Tiere – es sind vier – ⟨bedeuten⟩: vier Könige werden sich von der Erde her erheben.

Die vier Tiere bzw. die vier Könige werden hier in einer Gruppe zusammengefasst, die Reihung aufeinander folgender Mächte bleibt dabei aus.227 Dennoch verweist Vers 17 auf das Vier-Reiche-Schema.228 Die ›Könige‹ stehen repräsentativ für Königtümer, denn in dem parallelen Vers 23 der zweiten Deutung ist von Königreichen die Rede. Der Hinweis schließlich, dass sich die Könige ›von der Erde her erheben‹, erzeugt einen Kontrast mit den »Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18), die im Folgevers das göttliche und daher mit dem Himmel assoziierte Reich empfangen.229 7,18 Aber die Heiligen des Höchsten werden das Reich empfangen, und sie werden das Reich besitzen bis in Ewigkeit, ja, bis in die Ewigkeit der Ewigkeiten.

Angesichts der Informationsknappheit in Dan 7,17–18 liegt das Hauptaugenmerk der ersten Deutung auf der Herrschaftsübertragung auf die Gruppe ›die Heiligen des Höchsten‹.230 Während der Empfänger des neuen Reichs in Dan 7,13

224 225 226 227 228 229 230

Vgl. Collins: Daniel, 311. Goldingay: Daniel, 153. Vgl. Goldingay: Daniel, 155. Vgl. Newsom: Daniel, 236. Vgl. Collins: Daniel, 312. Vgl. Newsom: Daniel, 236–237. Vgl. Newsom: Daniel, 237.

Abschnitt Deutung (Dan 7,15–28)

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ein Individuum ist, verdeutlicht durch das Singulativ ›Sohn‹, tritt an diese Stelle nun ein Kollektiv.231 Die Übersetzung »die Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18) von aramäisch ‫קדישי‬ ‫ עליונין‬ist umstritten. Traditionell wird der zweite Begriff der Konstruktion, der Plural ‫עליונין‬, deutsch ›der Höchsten‹, substantivisch gedeutet und analog zu dem hebräischen Plural ‫ אלהים‬letzterer im Alten Testament meist mit ›Gott‹ im Singular übersetzt, als Pluralis Majestatis gewertet. Der aramäische Begriff ‫עליונין‬ bezieht sich dieser Erklärung nach auf Gott.232 Die Konstruktusverbindung ›die Heiligen des Höchsten‹ steht dann in der Bedeutung eines Genitivus possessivus.233 Allerdings kommt sie in exakt dieser Form einzig in Dan 7 vor. Daneben wird in Dan 7,25, wie auch andernorts im Danielbuch,234 mit dem singularischen ‫עליא‬, »de[r] Höchste[ ]« (Dan 7,25), auf Gott hingewiesen.235 Dazu postulieren Koch und Goldingay, dass »es der aramäischen Sprache [wiederstrebt], einen ›Majestätsplural‹ als Gottesbezeichnung zu benutzen«236. So erklärt Koch, dass im Danielbuch der aramäische Singular (‫ אלה)א‬für Gott verwendet wird, wo im Hebräischen gewöhnlich der Plural ‫ אלהים‬stünde.237 Alternativübersetzungen für Dan 7,13 sind »›most high holy ones‹«238 oder, wie Goldingay vorschlägt, »›holy ones on high‹«239, deutsch »›Heilige in der Höhe‹«240. Der zweite Plural der Konstruktion, ‫עליונין‬, ist dann adjektivisch oder epexegetisch zu dem Substantiv ›die Heiligen‹ im Plural.241 Der erste Begriff der vorliegenden Konstruktion, ‫קדישי‬, »die Heiligen« (Dan 7,18), wird traditionell mit dem Volk Israel gleichgesetzt. Montgomery und Keel stützen diese Position mit Ps 34,10, wo der Ausdruck »ihr seine Heiligen« (Ps 34,10) deutlich Gläubige meint.242 Während im Alten Testament das Adjektiv ›heilig‹ oftmals das Volk Gottes auszeichnet, ist »die substantivische Verwendung

231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241

Vgl. Haag: Daniel, 59–60. Vgl. Collins: Daniel, 312. Vgl. Goldingay: Critical Notes, 495. Als Substantiv in: Dan 4,14.21.29.31; als Adjektiv in: Dan 3,26.32; 5,18.21. Vgl. Koch: Reiche der Welt, 151–152. Koch: Reiche der Welt, 152; vgl. auch Goldingay: Critical Notes, 496. Vgl. Koch: Reiche der Welt, 151–153. Collins: Daniel, 312. Goldingay: Critical Notes, 496. »holy ones on high«, übersetzt aus: Goldingay: Critical Notes, 496. Vgl. Goldingay: Critical Notes, 495–496; Collins: Daniel, 312. – Mit dem Wissen um die angeführte Übersetzungskontroverse wird in dieser Arbeit die Formulierung ›die Heiligen des Höchsten‹ beibehalten. Denn entscheidend für die Identifizierung der Figur in Dan 7,13 ist vielmehr die Frage, ob ›die Heiligen‹ als himmlische Wesen oder als gottesfürchtige Israeliten zu deuten sind. 242 Vgl. Newsom: Daniel, 237.

54

Analyse von Dan 7

des Wortes [ jedoch] […] gewöhnlich himmlischen Wesen vorbehalten«243, wie Collins betont. Diesbezüglich stellt Ps 34,10 die einzige Ausnahme dar. Die substantivische Bezeichnung menschlicher ›Heilige‹ in 1 Kor 14,33, Phil 1,1 sowie den Bilderreden des Henochbuches 1 Hen 37–71 ist als Ergebnis einer ausweitenden Entwicklung zu sehen. Im Folgenden soll eine Übersicht des Gebrauchs von ›Heilige‹ in der frühjüdischen Literatur gegeben werden, diese orientiert sich an der ausführlichen Dokumentation im Danielkommentar von Collins. I. In den Apokryphen und Pseudepigraphen des 2. Jahrhunderts v. Chr., also aus Zeit der Danielkomposition, oder früher überwiegt die Identifizierung der ›Heiligen‹ mit Engeln. Von großer Bedeutung ist die Nennung himmlischer ›Heiliger‹ in 1 Hen 14,23, die im Rahmen einer Thronvision der göttlichen Theophanie beiwohnen. Diese Vision stellt eine dichte Parallele zu Dan 7 dar. Oftmals wird der Begriff auch mit dem synonymen Ausdruck ›Wächter‹ parallelisiert (vgl. 1 Hen 12,2). Weitere Belege für eine klare Identifizierung der ›Heiligen‹ als Engel sind vor allem die Folgenden: 1 Hen 1,9; 9,3; 93,6; 103,2; 106,19; 108,3 Jub 17,11; 31,14; 33,12 Sir 42,17; 45,2 Tob 8,15

Mit 1 Hen 100,5 ist eine Ausnahme zu nennen. Dort wird neben dem Begriff ›Gerechte‹ auch der Ausdruck ›Heilige‹ substantivisch für Menschen gebraucht. In den späteren Bilderreden 1 Hen 37–71 wird dies als das Ergebnis einer ausweitenden Entwicklung noch intensiviert.244 II. In der Literatur aus Qumran, hier seien insbesondere die KriegsregelHandschrift, 1 QM, und die Hodayot-Rolle, 1 QH, genannt, bezieht sich der Begriff auf himmlische Wesen. Der Bezug ist in einigen Fällen jedoch unklar. Der Grund dafür ist wie folgt: »[T]he human community is believed to mingle with the heavenly host in the eschatological war, in the cult, and in the community

243 »the substantival use of the word is […] usually reserved for heavenly being«, übersetzt aus: Collins: Daniel, 313. 244 Nach Peters ist die Entstehung der Bilderreden des Henochbuchs im 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. zu verorten. Vgl. Peters: Henochliteratur, 1424. Collins erklärt, dass In den Bilderreden 1 Hen 37–71 werden »die Heiligen, die hoch in den Himmeln wohnen,« (1 Hen 47,2) von den »Gerechten und Heiligen« (1 Hen 48,1) unter den Menschen unterschieden. »[T]he rightous on earth, who seem to be powerless, have heavenly counterparts, who enjoy power and glory.« Siehe Collins: Daniel, 317. Die gerechten Menschen werden nach ihrem Tod, das Gericht offenbart ihr wirkliches Wesen, ebenfalls zu himmlischen Wesen und wohnen dann bei den ›Heiligen‹ (vgl. 1 Hen 38,4–5; 39,5; 51,4). »The substantive use of ›holy‹ […], then, implies an affinity between the human people so designated and the angels in heaven […].« Siehe Collins: Daniel, 317.

Abschnitt Deutung (Dan 7,15–28)

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itself […].«245 Eine eindeutige Passage, in der sich ›Heilige‹ auf Menschen bezieht, gibt es allerdings nicht. III. Im Danielbuch selbst wird aramäisch ‫קדישין‬, ›die Heiligen‹, im Singular und Plural gemeinsam mit dem Wort ›Wächter‹ für Engel gebraucht (vgl. Dan 4,10.14.20). In Dan 8,13 unterhält sich »ein Heiliger« (Dan 8,13) mit einem anderen, beide gehören offensichtlich dem himmlischen Rat an. In Anbetracht dieses Kontextes muss in Dan 7 ebenfalls von der Bedeutung der ›Heiligen‹ als Engel ausgegangen werden.246 In der Analyse von Dan 7,14 wurde festgestellt, dass die Herrschaftsübergabe an den ›Einer wie ein Sohn eines Menschen‹ in Kontinuität mit der Delegation von Macht und Königtum an Nebukadnezar steht, bei der Gott aber stets die oberste Souveränität behält. In entsprechender Funktion sind auch die himmlischen ›Heiligen‹ in den Qumran-Schriften zu verstehen. »In the Qumran War Scroll […] divine sovereignty is also mediated by angels in the political and military realms.«247 Nach Collins erklären 1 QM 12 und 1 QM 6,6, dass die ›Heiligen‹ im Himmel für das Volk Israel einstehen, um Gottes Königtum auf Erden zu verwirklichen. »In Daniel 7, likewise, the ›one like a son of man‹ and the holy ones mediate the sovereignty of God in the final, everlasting kingdom.«248 Die Übergabeszene in Dan 7,18 wird durch die Formel »ja, bis in die Ewigkeit der Ewigkeiten« (Dan 7,18) abgeschlossen. Diese könnte als Doxologie gewertet werden, auch wenn sie weder von Segal noch von den anderen eingebrachten Danielexegeten als solche kenntlich gemacht wird.249 Als »elementare Form bibl.[ischer] Gebetssprache«250 dienen Doxologien »dem Lobpreis Gottes, indem sie in kurzen, prägnanten, oftmals hymnisch klingenden Wendungen […] wesentl.[iche] Aspekte seines Wesens u. Handelns benennen«251. Als Elemente sind gewöhnlich folgende enthalten: »Beginn mit […] ›gepriesen‹ […]; Nennung Gottes; Ewigkeitsformel (›bis in Ewigkeit‹); Amen-Formel«252. In Dan 7,18 soll das Bestehen bzw. das Besitzen des göttlichen Reiches »bis in Ewigkeit, ja, bis in die Ewigkeit der Ewigkeiten« (Dan 7,18) andauern. Diese Bekräftigung entspricht der Ewigkeitsformel aus der Doxologie-Definition nach Söding. Auch an dieser Stelle wird also die Herrschaftsübergabe wie in den Versen 14 und 27 durch einen

245 246 247 248 249

Collins: Daniel, 316. Vgl. Collins: Daniel, 313–317. Collins: Daniel, 319. Collins: Daniel, 319. Vgl. Segal: Dreams, 136–138; Seow: Daniel, 14–15; Collins: Daniel, 319; Goldingay: Daniel, 176–178; Newsom: Daniel, 236–238. 250 Söding: Doxologie, 354. 251 Söding: Doxologie, 354. 252 Söding: Doxologie, 354.

56

Analyse von Dan 7

Lobspruch bekräftigt. Dieser ist hier allerdings kürzer, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass er in den Danielkommentaren nicht erwähnt wird.

Bitte um weitere Deutung (Dan 7,19–20) Die Bitte um eine zweite Deutung paraphrasiert in Vers 19 die Beschreibung des vierten Tierwesen aus Vers 7 und in Vers 20 die des kleinen Horns aus Vers 8. Allerdings gibt es in beiden Versen neue Zusätze.253 7,19 Daraufhin wollte ich Genaueres wissen über das vierte Tier, das von allen anderen verschieden war, außergewöhnlich schreckenerregend, dessen Zähne aus Eisen und dessen Klauen aus Bronze waren, das fraß, zermalmte und den Rest mit seinen Füßen zertrat…

In diesem Vers ist der Aspekt ›Klauen aus Bronze‹ neu. Er steht parallel zu ›Zähne aus Eisen‹. Die Kombination von Bronze und Eisen erscheint bereits in Dan 4,12.20. Dort soll der Baum, der im Traum Nebukadnezars Königtum symbolisiert, gefällt und dessen Wurzelstock »in eine[ ] Fessel aus Eisen und Bronze« (Dan 4,20) gelegt werden.254 Vor dem Hintergrund, dass dieses Bild im Kontext der Verbannung Nebukadnezars aus der Menschheit und des Verlusts seines Königtums steht, fügt sich das Begriffspaar ›Eisen und Bronze‹ in das Thema der verschieden fortgeschrittenen Humanisierungsprozesse und der damit verbundenen Herrschaftsautorisation der Tierwesen in Dan 7,4–7 ein. Im Rahmen dieses Themas konnte in der Beschreibung des vierten Tierwesens jedoch kein Hinweis auf eine Herrschaftsdelegation oder -legitimierung durch Gott ausgemacht werden.255 7,20 …und über die zehn Hörner auf seinem Kopf und über das andere ⟨Horn⟩, das emporstieg und vor dem drei ⟨andere Hörner⟩ ausfielen. Und das Horn hatte Augen und einen Mund, der große ⟨Worte⟩ redete, und sein Aussehen war größer als das seiner Gefährten.

Die neue Information in diesem Vers ist die, dass das einzelne Horn, welches in Vers 8 noch als »kleines Horn« (Dan 7,8) beschrieben wird, nun »größer als […] seine[ ] Gefährten« (Dan 7,20) erscheint.256 Da Hörner königliche und politische

253 254 255 256

Vgl. Newsom: Daniel, 238. Vgl. Newsom: Daniel, 238. Vgl. Newsom: Daniel, 225. Vgl. Newsom: Daniel, 238.

Abschnitt Deutung (Dan 7,15–28)

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Stärke symbolisieren,257 bedeutet die Bewegung hier eine Machtzunahme und dann auch eine gesteigerte Gefahr, die von dem einst kleinen Horn ausgeht.258

Weitere Vision (Dan 7,21–22) Die chiastische Komposition, die in dem großen Visionsabschnitt (7,2b–14) und der ersten Deutung (7,17–18) durch das finale Element der Übergabe der ewigen Herrschaft abgeschlossen wird, ist in der hier vorangehenden Bitte um weitere Deutung (7,19–20) unvollständig geblieben. Die weitere Vision (7,21–22) schließt nun an den letzten Schritt, die Beschreibung des einzelnen Horns in Vers 20, an und bringt den Chiasmus über die Elemente des ›Alten an Tagen‹, des Gerichts und der Herrschaftsübergabe zum Schluss.259 7,21 Ich sah, wie dieses Horn gegen die Heiligen Krieg führte und sie besiegte…

Die Visionsformel ›Ich sah‹ leitet eine Szene ein, die neues visionäres Material, das Bild eines Krieges gegen die ›Heiligen‹, liefert.260 Wie bei den ›Heiligen des Höchsten‹ oder den ›höchsten Heiligen‹ aus Vers 18 handelt es sich bei den ›Heiligen‹ an dieser Stelle ebenfalls um Engel. Eine enge Parallele dazu liegt in Dan 8,9–12 vor. Dort wendet sich das einzelne Horn erst »gegen Süden und gegen Osten und gegen die Zierde« (Dan 8,9), zuletzt also gegen Israel, um dann das himmlische Heer zu bekämpfen: Und es wuchs bis an das Heer des Himmels, und es warf ⟨einige⟩ von dem Heer und von den Sternen zur Erde herab und zertrat sie. (Dan 8,10)

Collins fügt auch Dan 11,36 als Vergleichspassage an, in welcher sich der einzelne und überaus aggressive König gegen die himmlische Sphäre behauptet: »Und der König […] wird sich erheben und sich groß machen gegen jeden Gott, und gegen den Gott der Götter wird er unerhörte Reden führen« (Dan 11,36). Beide Parallelen sind sehr wahrscheinlich von Dan 7,21 inspiriert. Zum einen festigt der Vergleich die Deutung, dass das einzelne Horn einen König symbolisiert. Zum anderen verdeutlichen die Passagen, wenn sie intratextuell gelesen werden, dass sich der Krieg des Königs nicht nur auf der irdischen, sondern auch auf der himmlischen Ebene zuträgt. In Dan 10,13 und 10,20–21 ist davon die Rede, dass der Engelsfürst Michael die Fürsten Persiens und Griechenlands, ebenfalls Mächte der himmlischen Sphäre, bekämpft. Dies erinnert an die Beschreibung 257 258 259 260

Vgl. Collins: Daniel, 299. Vgl. Newsom: Daniel, 238. Vgl. Goldingay: Daniel, 154–156. Vgl. Newsom: Daniel, 238.

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Analyse von Dan 7

des eschatologischen Kampfes in der Qumran-Kriegsregel:261 »There the forces of Light and the forces of Darkness are composed of both angelic and human combatants.«262 Newsom betont im Übrigen, dass der temporäre Sieg gegen Gott und seine Mächte in Dan 7,21 einen neuen Aspekt für das Alte Testament darstellt. In Dan 8,9–12 wird das erfolgreiche Vorgehen des aggressiven Königs weiter konkretisiert.263 7,22 …bis der, der alt an Tagen war, kam und das Gericht den Heiligen des Höchsten gegeben wurde und die Zeit anbrach, dass die Heiligen das Königreich in Besitz nahmen.

Der Vers entspricht der Struktur des Visionsabschnitts Dan 7,2b–14: Im Moment der größten Gefahr tritt die Gottheit ›der Alte an Tagen‹ auf, es folgen das Gericht, das hier allerdings nicht explizit als Bestrafung der Tierwesen wie in Dan 7,11–12, sondern im Kontext einer Übergabe erwähnt wird, und schließlich die Delegation, hier ›Inbesitznahme‹, von göttlicher Herrschaft. Das Wortfeld ist nicht mehr militärisch, wie in Dan 7,21, sondern juristisch geprägt, denn es handelt sich hier um den Rechtsanspruch von Herrschaft, wie das Verb ›in Besitz nehmen‹ impliziert.264 Da dieses parallel zu den Verben ›gegeben werden‹ in Dan 7,14, »empfangen […] [und] besitzen« (Dan 7,18) und wiederum »gegeben werden« (Dan 7,27) das finale Element der chiastischen Komposition, die Übergabe ewiger göttlicher Herrschaft, auszeichnet, geht es auch hier um die Herrschaftsautorisation durch Gott als den obersten Souverän. Dies bestätigt der Ausdruck »bis […] die Zeit anbrach« (Dan 7,22). Newsom verweist darauf, dass die Kontrolle über die von Gott für Nationen bestimmte Zeiten schon in Dan 1–6 ein wichtiges Motiv darstellt. So preist Daniel in Dan 2,21 Gott für seine Souveränität: »Er ändert Zeiten und Fristen, er setzt Könige ab und setzt Könige ein« (Dan 2,21). In Dan 4,31 erhält Nebukadnezar »am Ende der Tage« (Dan 4,31) den Verstand und schließlich auch die Herrschaftsautorität zurück. Vor dem Hintergrund dieser Parallelen bedeutet der Anbruch der Zeit in Dan 7,22, dass das augenscheinlich autonome Handeln des aggressiven Horns bzw. Königs rückblickend doch unter Gottes Kontrolle steht.265

261 262 263 264 265

Vgl. Collins: Daniel, 320. Newsom: Daniel, 239. Vgl. Newsom: Daniel, 239. Vgl. Newsom: Daniel, 239–240. Vgl. Newsom: Daniel, 240.

Abschnitt Deutung (Dan 7,15–28)

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Weitere Deutung (Dan 7,23–27) Die chiastische Struktur wird nun im Vergleich zur ersten Deutung (7,17–18) vollständiger ausgeführt. Die enthaltenen Elemente sind das vierte Tier, die zehn Hörner, das einzelne Horn, das hinzukommende Gericht, das Gericht über jenes einzelne Horn und schließlich die Übergabe ewiger Herrschaft.266 7,23 Er sprach so: Das vierte Tier ⟨bedeutet⟩: Ein viertes Königreich wird auf Erden sein, das von allen ⟨anderen⟩ Königreichen verschieden sein wird. Es wird die ganze Erde auffressen und sie zertreten und sie zermalmen.

Während in der ersten Deutung von Dan 7 in Vers 17 noch von vier Königen, in der Vision als vier Tiere geschaut, die Rede ist, wird das vierte Tier nun mit einem vierten Königreich gleichgesetzt.267 Dadurch wird wieder an das Vier-ReicheSchema angeknüpft, nach dem Griechenland das vierte Reich ist.268 Das Element ›Verschiedensein von allen anderen Königreichen‹ und der Dreischritt ›fressen – zertreten – zermalmen‹ paraphrasieren das überaus aggressive Verhalten und die gesteigerte Destruktivität des vierten Tierwesens in Vers 7. Der Zusatz ›die ganze Erde‹, Objekt des ›Auffressens‹, passt zu der weltweit erscheinenden Ausdehnung des griechischen Reichs im Mittelmeerraum bis nach Kleinasien unter Alexander dem Großen. »Similarly 1 Macc 1,1–4 describes Alexander’s conquest in universal terms«269: »[E]r kam bis an das Ende der Welt […] und die ganze Erde lag ihm wehrlos zu Füßen« (1 Makk 1,3 EÜ). Angesichts der Universalität und Destruktivität des vierten Königreiches in Dan 7,23 wird dieses deutlich von den vorigen Reichen abgehoben.270 7,24 Und die zehn Hörner ⟨bedeuten⟩: Aus diesem Königreich werden sich zehn Könige erheben. Und ein anderer wird sich nach ihnen erheben, und dieser wird verschieden sein von den vorigen, und er wird drei Könige erniedrigen.

Dan 7,24 identifiziert die Gruppe der zehn und die der drei Hörner aus Dan 7,7–8 als Könige.271 Auf die Bedeutung der Zehnerzahl »als Chiffre für die aufgesplitterte Diadochenherrschaft insgesamt«272 oder als Symbol für Totalität wie auch in anderen apokalyptischen Visionen wurde in der Analyse von Vers 7 bereits 266 267 268 269 270 271 272

Vgl. Goldingay: Daniel, 154–156. Vgl. Newsom: Daniel, 240. Vgl. Haag: Daniel, 62. Newsom: Daniel, 240. Vgl. Newsom: Daniel, 240. Vgl. Newsom: Daniel, 240. Staub: Das Tier, 49.

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Analyse von Dan 7

hingewiesen.273 Die Dreiergruppe von Königen hingegen ist wahrscheinlich eine Anspielung auf historische Herrscher, da sie von dem einzelnen König abgelöst wird und so mit ihm in direkter Verbindung steht. Antiochos IV. Epiphanes, der mit dem kleinen Horn chiffriert wird, stand nach dem Tod von Antiochos III. in der Thronfolge an vierter Stelle und konnte erst an die Macht gelangen, nachdem die vorrangigen Thronfolger beseitigt worden waren.274 Die drei Hörner in Dan 7,8 werden noch »vor ihm[, dem kleinen Horn,] ausgerissen« (Dan 7,8). In Dan 7,24 werden die drei Könige allerdings von dem einzelnen selbst ›erniedrigt‹, mit dem aktiven Verb ist dieser nun Subjekt der Handlung.275 7,25 Und er wird Worte reden gegen den Höchsten und wird die Heiligen des Höchsten aufreiben; und er wird danach trachten, Festzeiten und Gesetz zu ändern, und sie werden in seine Hand gegeben werden für eine Zeit und ⟨zwei⟩ Zeiten und eine halbe Zeit.

Der Aspekt ›Worte reden‹ ruft die Verse 8 und 20 des Danielkapitels 7 in Erinnerung. Dort steht der »Mund, der große ⟨Worte⟩ redet[ ]« (Dan 7,8), für Gewalt und Bosheit. Die Augen, die dort parallel zu ›Mund‹ erscheinen, symbolisieren Stolz und Hochmut.276 In Dan 7,25 richten sich diese Charaktereigenschaften mit entsprechendem Verhalten gegen ›den Höchsten‹. Collins bringt den Ausdruck ›Worte reden gegen den Höchsten‹ mit hellenistischen Münzprägungen mit göttlichen Titeln wie »›God manifest [Epiphanes]‹«277 in Verbindung, die Antiochos IV. Epiphanes zu seiner Bezeichnung hat einführen lassen. In den Augen eines israelitischen Gläubigen ist dies Blasphemie gegenüber Gott.278 Newsom erkennt in dieser Handlung einen »Anspruch auf Gleichstellung«279 mit Gott.280 Parallel zu dem Reden von Worten gegen den Höchsten kommt die Formulierung »wird die Heiligen des Höchsten aufreiben« (Dan 7,25) hinzu. Das Verb ‫בלה‬, ›aufreiben‹, erscheint normalerweise als Synonym für das Verschleißen von Kleidung. In 1 Chr 17,9 wird es ebenfalls gebraucht, dort trägt es die Bedeutung, dass dem Volk Israel Gewalt zugefügt, dieses aber nicht gänzlich vernichtet wird. Diese Art der Aggression richtet sich in Dan 7,25 ebenfalls gegen die ›Heiligen des Höchsten‹ oder ›heiligen Höchsten‹. Ähnlich wirft das einzelne Horn in Dan 8 nur »⟨einige⟩ von dem Heer [des Himmels] und von den Sternen zur Erde herab und [zertritt diese]« (Dan 8,10). Die neue Information, dass der aggressive König 273 274 275 276 277 278 279 280

Vgl. Staub: Das Tier, 49; Newsom: Daniel, 225, 240. Vgl. Collins: Daniel, 321. Vgl. Newsom: Daniel, 240. Vgl. Newsom: Daniel, 226. Newsom: Daniel, 240. Vgl. Collins: Daniel, 321–322. »claim to equality«, übersetzt aus: Newsom: Daniel, 240. Vgl. Newsom: Daniel, 240.

Abschnitt Deutung (Dan 7,15–28)

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»danach trachten [wird], Festzeiten und Gesetz zu ändern« (Dan 7,25), bezieht Collins auf die »Unterbrechung des kultischen Kalenders«281. Jüdische Tradition sollte nach der biblischen Darstellung unterdrückt und durch griechische Riten ersetzt werden. So berichten die Makkabäerbücher von dem Erlass Antiochos’ IV., »Sabbate und Feste zu entweihen« (1 Makk 1,45 EÜ) und von dem Zwang der Israeliten, an heidnischen Opfermahlen und Prozessionen teilzunehmen (vgl. 2 Makk 6,6).282 Newsom und Goldingay übersetzen an dieser Stelle ‫זמנין ודת‬ mit »›times set by law‹«283 sowie »›times set by decree‹«284 und schließen das ›Trachten‹ des arroganten Königs, die Zeiten zu ändern, an das Thema der obersten Souveränität Gottes an, der über die Herrschaftsdauer der Königreiche bestimmt. Nach deren Übersetzung wird hier der Versuch des einzelnen Königs geschildert, selbst über Geschichtsverlauf und Machtvergabe zu verfügen und demnach die Position der obersten Souveränität einzunehmen.285 Die ›Heiligen des Höchsten‹ »werden in seine[, in jenes Königs,] Hand gegeben« (Dan 7,25). Die Passivform des Verbes spricht dafür, dass der arrogante König, trotz seines Trachtens, über die identitätsgebende Religion der Israeliten oder über die Geschichtsprozesse zu verfügen, dennoch der göttlichen Kontrolle und Souveränität unterliegt.286 Die anschließende Zeitangabe »für eine Zeit und ⟨zwei⟩ Zeiten und eine halbe Zeit« (Dan 7,25) betont, dass die Machtvergabe an den destruktiven König auf eine festgesetzte Dauer begrenzt ist. Die Zeitspekulationen in Dan 8,14 und 12,11–12 sind Versuche, die in Dan 7,25 prophezeite Dauer der Not zu konkretisieren.287 Bernard bemerkt zu der Historizität der erwähnten Ereignisse unter Antiochos IV. Folgendes: Abgesehen von den Eingriffen in den Kult, »zweifelsohne für viele Judäer eine Katastrophe«288, sind »das in der judäischen Überlieferung […] drastisch geschilderte Verbot der Religion und ihre anschließende Verfolgung […] als literarische Konstruktion […] zu sehen«289. Diese zielt im Sinne eines Gründungsmythos darauf ab, die neue Hohepriesterdynastie der Hasmonäer nach dem Makkabäeraufstand zu legitimieren und »die Verbindlichkeit des hasmonäischen Judäertums«290 zu stärken.291 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291

»disruption of the cultic calendar«, übersetzt aus: Collins: Daniel, 322. Vgl. Collins: Daniel, 322. Newsom: Daniel, 240. Goldingay: Daniel, 180. Vgl. Newsom: Daniel, 240–241; Goldingay: Daniel, 180–181. Vgl. Newsom: Daniel, 241. Vgl. Collins: Daniel, 322. Bernhardt: Jüdische Revolution, 469. Bernhardt: Jüdische Revolution, 469. Bernhardt: Jüdische Revolution, 469. Vgl. Bernhardt: Jüdische Revolution, 468–469. – Bezüglich des Königs Antiochos IV. betont Mittag, dass die biblische Darstellung einseitig ist. In einer historischen Betrachtung ist auch

62

Analyse von Dan 7

7,26 Aber das Gericht wird sich setzen; und man wird seine Herrschaft wegnehmen, um sie zu vernichten und zu zerstören bis zum Ende.

In diesem Vers, ebenso wie am Ende der Thronszene des Visionsabschnitts in Dan 7,10, setzt sich das Gericht. Es scheint, dass, auch wenn die Gegenwart des ›Alten an Tagen‹ in Vers 26 nicht explizit erwähnt wird, dieser dennoch zugegen ist. Denn wie Goldingay beobachtet, wiederholt sich die chiastische Komposition der Vision aus Dan 7,2b–14 insgesamt vier Male in Dan 7 und durchläuft dabei, wenn auch nicht immer alle Elemente präsentiert werden, stets den gleichen Ablauf.292 Der auf die Thron- und Gerichtsszene folgende Schritt ist der Strafvollzug: In Vers 26 wird dem zerstörerischen König die Herrschaft nicht nur genommen, sie wird ›vernichtet‹ und ›zerstört‹. Der parallele Vers 11 berichtet ähnlich von der Zerstörung des vierten Tieres, das konsequenterweise die Zerstörung des von ihm emporwachsenden kleinen Horns miteinschließt.293 ›Bis zum Ende‹ und demnach ›für immer‹ soll die Vernichtung dieser Macht währen,294 währenddessen das ablösende göttliche Reich ewig bestehen soll. 7,27 Und das Reich und die Herrschaft und die Größe der Reiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden. Sein Reich ist ein ewiges Reich, und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen.

Analog zu dem ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ in Dan 7,14, den ›Heiligen des Höchsten‹ in Vers 18 und den ›Heiligen‹ in Vers 22 empfängt nun in Dan 7,27 das ›Volk der Heiligen des Höchsten‹ die ewige göttliche Herrschaft.295 Die ›Heiligen des Höchsten‹ und die ›Heiligen‹ sind in dieser Arbeit bereits als Synonyme erkannt und, für das Danielbuch, als himmlische Wesen identifiziert worden. Nun gilt es, die Beziehung von dem »Volk« (Dan 7,27) und den »Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) zu klären. Collins hat dazu ausführliche Untersuchungen dokumentiert, die im Folgenden skizziert werden sollen. Die Verbindung »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) ist in ähnlicher Formulierung in der Qumran-Kriegsregel, 1 QM, und in der Qumran-Hodayot-Rolle, 1 QH, enthalten:

292 293 294 295

die Sichtweise auf Antiochos IV. als ein strategisch handelnder König zu beachten, der Gelegenheiten – auch die der neuen Münzprägungen mit Selbststilisierung – zur Herrschaftssicherung nutzte. In die Umstände des Makkabäeraufstandes war er weit weniger verstrickt, als die biblische Darstellung nahelegt. Vgl. Mittag: Antiochos IV., 13–15, 335–337. Vgl. Goldingay: Daniel, 154–156. Vgl. Goldingay: Daniel, 181. Vgl. Collins: Daniel, 322. Vgl. Newsom: Daniel, 241.

Abschnitt Deutung (Dan 7,15–28)

‫עם קדושים‬ ‫עם קדושי ברית‬ ‫עם קדושיכה‬

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in 1 QM 12,7 in 1 QM 10,10 in 1 QH 11,11–12

I. 1 QM 12,7 übersetzt Collins wie folgt: »›the congregation of the holy ones is among us for everlasting succor‹«296. In dieser Passage steht der Ausdruck ›Volk‹, oder nach Collins englisch ›congregation‹, für himmlische ›Heilige‹, die den Israeliten im eschatologischen Kampf ›immerwährenden Beistand‹ leisten. II. »In 1 QM 10:10 the ›people of the holy ones of the covenant‹ are clearly identified with ›your people Israel.‹«297 In dem Kontext sind die ›Heiligen‹ eindeutig Engel (vgl. 1 QM 10,11–12), während das Volk Israel wahrscheinlich in der Form eines Genitivus possessivus den überirdischen ›Heiligen‹ als zugehörig erklärt wird. Die Passage 1 QM 6,6 bestätigt diese Deutung, indem sie andersherum die himmlischen ›Heiligen‹ des Volkes Israel präsentiert: »›holy ones of the people‹«298 (vgl. auch 1 QM 16,1). III. In der Hodayot-Rolle, 1 QH, hingegen ist ‫ עם‬nicht mit dem Substantiv ›Volk‹, sondern mit dem Wort ›mit‹ zu übersetzen; eine Verbindung zwischen ›Volk‹ und ›Heilige‹ und kann hier demnach nicht hergestellt werden.299 In Dan 12 ist mit dem »heiligen Volk[ ]« (Dan 12,7) Israel gemeint. Der Engelsfürst Michael »[tritt] für die Söhne deines[, also Daniels,] Volkes ein[ ]« (Dan 12,1), bis diese nach einer »Zeit der Bedrängnis« (Dan 12,1) »zu ewigem Leben [aufwachen]« (Dan 12,2). »[D]ie Verständigen werden [dann] leuchten wie der Glanz der Himmelsfeste« (Dan 12,3). Letzteres deutet Collins »[as] an apocalyptic idiom for fellowship with the angels«300, es gibt also, ähnlich wie in den Bilderreden von Henoch, eine Affinität zwischen dem irdischen Volk und den himmlischen ›Heiligen‹. Dan 10 wiederum betont die Schutz- und Zugehörigkeitsfunktion, welche das Verhältnis zwischen Engeln und Israeliten prägt. Michael, der Fürst Israels im Himmel (vgl. Dan 10,21), kämpft gegen die Fürsten Persiens und Griechenlands. »His victory in the heavenly battle entails the victory of the persecuted Jews on earth.«301 In Dan 8,24 erscheint ein Ausdruck, der ›Volk‹ und ›Heilige‹ kombiniert und daher der näheren Betrachtung bedarf: Und er wird die Starken und das Volk der Heiligen vernichten. (Dan 8,24pass)

Collins, der sich an dieser Stelle auf Charles bezieht, vermutet, dass der Text korrupt ist, und rekonstruiert über die altgriechische Übersetzung den mut296 297 298 299 300 301

Collins: Daniel, 315. Collins: Daniel, 315. Collins: Daniel, 315. Vgl. Collins: Daniel, 315–317. Collins: Daniel, 318. Collins: Daniel, 318, vgl. auch 317–318, 322.

64

Analyse von Dan 7

maßlich ursprünglichen Text. Die Textrekonstruktion ist im Unterschied zum masoretischen Text umfangreicher, weil es ein zusätzliches ‫ קדשים‬enthält, »[it] involves an obvious dublication of ›holy ones‹«302: ‫השחית עצומים‬ ‫ועם קדשים‬ ‫ועל קדשים שכלו‬ »It is […] to suppose, with most critics, that ‫ עם‬entered the text as a corruption of ‫ על‬and thus gave rise to the double reading. Thus the original would have read ›He will destroy the mighty and his plotting will be directed against holy ones.‹«303

Der Ausdruck ›Volk‹ im masoretischen Text ist demnach möglicherweise, mit Collins, als fälschlicher Einschub zu werten, infolgedessen ›Heilige‹, ‫קדשים‬, gedoppelt worden sein muss. Die Verbindung »Volk der Heiligen« (Dan 8,24) ist dann fragwürdig. Vor dem Hintergrund der Danielkapitel 10 und 12, die den Begriff ›Volk‹ für das irdische Volk Israel verwenden, und der Passage Dan 12,7, die ›Volk‹ und ›heilig‹ zusammenbringt, bevorzugt Collins die gleiche Lesart für das »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) in Dan 7. Der Genitiv wird dann possessiv als Ausdruck des Zueinandergehörens verstanden. Diese Option sieht Collins insbesondere durch die Parallele 1 QM 10,10 bestätigt.304 In Dan 7,27 wird diesem Volk »die Größe der Reiche unter dem ganzen Himmel« (Dan 7,27) zuteil, womit die irdischen Reiche gemeint sind. Dieser Herrschaftstransfer wird, wie bereits erwähnt, analog zu den Übergaben an den ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ in Dan 7,14 und an die ›Heiligen des Höchsten‹ in Vers 18 bzw. an die ›Heiligen‹ in Vers 22 vollzogen. Diese empfangenden Instanzen müssen nicht identisch sein. In ihrer Analogie sind die einzelnen Übergabeszenen Ausdruck für die Errichtung des göttlichen Reiches. Die abschließende Doxologie, welche die ewige Herrschaft preist, parallelisiert kapitelintern Verse 27 und 14 und knüpft an die Doxologien in Dan 3,33, 4,31 und 6,27 an.305

302 Collins: Daniel, 341. 303 Collins: Daniel, 341, vgl. auch 340–341. – Die Hervorhebung des Bibelzitats durch Absatz und kursive Schrift ist von mir. 304 Vgl. Collins: Daniel, 317–318, 322. 305 Vgl. Collins: Daniel, 322.

Abschnitt Deutung (Dan 7,15–28)

65

Schluss (Dan 7,28) 7,28 Hier endet der Bericht. Mich, Daniel, ängstigten meine Gedanken sehr, und meine Gesichtsfarbe veränderte sich an mir. Und ich bewahrte die Sache in meinem Herzen.

Die Schlussformel ›Hier endet der Bericht‹ markiert das Ende der gesamten Traumvision Dan 7, indem sie an den Hinweis auf die Verschriftlichung und den Beginn des Berichts in den Versen 1–2a anschließt.306 Die psychologische Reaktion des Visionärs auf das Geschaute und Gedeutete parallelisiert die ähnliche Reaktion in Vers 15.307 Sie erinnert darüber hinaus an die Angst König Nebukadnezars infolge eines Traums in den Hofgeschichten, wie beispielsweise in Dan 4,2. In den Hoferzählungen folgt eine solche Reaktion auf den Traum, deren anschließende Deutung Erklärung bringt. In Dan 7 jedoch wird die psychologische Reaktion auch nach der Deutung nicht aufgelöst. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Deutegestalt nicht alle Symbole erklärt und die Identität der beteiligten Figuren nicht explizit konkretisiert. Daniel sucht auch nicht nach einer erneuten Deutung, sondern »bewahrt[ ] die Sache in [s]einem Herzen« (Dan 7,28).308 Ähnlich attestiert der Schluss von Dan 8 das Entsetzen des Visionärs nach Vision und Deutung (vgl. Dan 8,27). Dort wird die psychologische Reaktion mit dem Motiv des Nicht-Verstehens verbunden: »Und ich war entsetzt über die Erscheinung, und keiner war da, der es verstand« (Dan 8,27).309 In Dan 7,28 knüpft die Notiz der Perplexität des Visionärs an die Perplexität des Lesers an und ermutigt diesen zur weiteren Reflexion.310 Die Niederschrift ist dabei die Form der Weitergabe an die Lesenden, die so zu potenziellen Interpreten des Visionsmaterials werden.311

306 307 308 309 310 311

Vgl. Newsom: Daniel, 242. Vgl. Collins: Daniel, 323. Vgl. Newsom: Daniel, 242. Vgl. Newsom: Daniel, 327–328. Vgl. Goldingay: Daniel, 182. Vgl. Newsom: Daniel, 242–243.

4.

Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

Nach der Exegese von Dan 7, im Zuge derer der nähere Kontext der Figur »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) analysiert wurde, sollen im folgenden Kapitel die Deutungsvorschläge der letzten ca. 30 Jahre für die Identifizierung dieser Figur systematisch, nach Typen geordnet, dargestellt werden. Die aktuellen Deutungstypen halten die menschenähnliche Gestalt für »an exalted human being«312, den Messias, »the one who fulfills the promises to David«313 (4.1),314 für den universalen Adam oder Menschenkönig (4.2),315 für »ein Kollektivsymbol«316, das repräsentativ für das Volk Israel steht (4.3) oder für ein individuelles Himmelswesen, das als real existent gehalten wurde (4.4).317 Die Auflistung ist zu erweitern durch die Option einer Identifizierung der Figur mit JHWH selbst (4.5).318 Den Abschluss bildet die Erwägung, die apokalyptische Gestalt als eine Rolle oder Leerstelle zu deuten (4.6).319

4.1

Die messianisch-davidische Deutung

Die traditionelle Erklärung der apokalyptischen Figur als eine individuelle, messianische Figur fußt auf den frühesten Adaptationen und Deutungen von Dan 7,13. So wird in 1 Hen 46 an der Seite des betagten weiß-häuptigen Gottes »ein anderer [beschrieben], wie das Aussehen eines Menschen (war), und sein Angesicht voll Güte wie (das) von einem der heiligen Engel« (1 Hen 46,1). Dieser 312 Collins: Daniel, 308. 313 Collins: Daniel, 308. 314 Vgl. Beasley-Murray: Interpretation, 55; Haag: Menschensohn, 170–171, 176–179; Collins: Daniel, 308–309. 315 Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 515–517; Lacocque: Allusions, 123–129. 316 »a collective symbol«, übersetzt aus: Collins: Daniel, 308. 317 Vgl. Collins: Daniel, 309–310. 318 Vgl. Segal: Dreams, 136–138, 150–152. 319 Vgl. Goldingay: Daniel, 169, 172.

68

Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

auserwählte »Menschensohn, der die Gerechtigkeit hat« (1 Hen 46,3) und die ungerechten Herrscher der Erde von ihrem Thron stößt und sie vertreibt (vgl. 1 Hen 46,5–7), wird in 1 Hen 48,10 sowie in 1 Hen 52,4 explizit »sein[ ] Gesalbte[r]« (1 Hen 48,10) genannt. Nach 1 Hen 48,3 ist sein Name schon vor der Schöpfung bekannt.320 Mit dem 1983 publizierten Artikel The Interpretation of Daniel 7 zählt Beasley-Murray nicht mehr zu den Exegeten der letzten 30 Jahre, dennoch sollen seine Argumente vorgebracht werden, da sie repräsentativ für die hier dargestellte Position sind. Nach Beasley-Murray muss der ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ in Dan 7,13–14 in einer Doppelfunktion wahrgenommen werden: Er ist Repräsentant Gottes und zugleich Stellvertreter des Volkes Israels. Die Funktion der Repräsentation Gottes liegt bereits in dem doppelten Theophaniegeschehen in Dan 7 begründet. Neben der Theophanie der Gottesgestalt ›der Alte an Tagen‹ muss der Danielautor das Kommen »mit den Wolken des Himmels« (Dan 7,13) der menschenähnlichen Figur, im Sinne des Baal-Mythos, ebenso als Theophaniebewegung gedacht haben. In dem kanaanäischen Mythos impliziert der Aufbruch Baals mit den Wolken eine Bewegung, die als eine göttliche Intervention gegen die Meeres- und Chaosgottheit Yamm zu lesen ist. Da im Alten Testament die Rolle des ›Wolkenfahrers‹ normalerweise JHWH bezeichnet, nimmt der kommende und göttlich erscheinende ›Wolkenfahrer‹ in Dan 7,13–14 die Funktion eines Stellvertreters Gottes ein.321 Für die weitere Identifizierung der menschenähnlichen Gestalt favorisiert Beasley-Murray eine individuell-personale Deutung in Abgrenzung zu einer kollektiv-korporativen, da der ›Alte an Tagen‹ ebenso eine individuelle Figur darstellt, »as distinct from an abstraction like heaven, or a corporate notion like dwellers in heaven«322. Dies bestätigend kommt hinzu, dass im Alten Testament die Rolle des ›Wolkenfahrers‹ gewöhnlich für JHWH und nicht symbolisch für ein Kollektiv steht. Während diese Figur im Visionsabschnitt das ewige göttliche Königtum entgegen nimmt, empfangen es im Deutungsabschnitt die »Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18). Letztere identifiziert Beasley-Murray mit den irdischen ›Heiligen‹. Grund für seine Annahme sind die Hinweise in Dan 7,21–25: Der Krieg, den das ›kleine Horn‹ gegen die ›Heiligen‹ führt, der temporäre Sieg über diese bis zur Ankunft des ›Alten an Tagen‹ und das »[T]rachten, Festzeiten und Gesetz zu ändern,« (Dan 7,25) müssen vor dem Hintergrund der Verfolgung durch Antiochos das Volk Israel betreffen. Die Gleichsetzung der ›Heiligen‹ mit den irdischen Israeliten findet Beasley-Murray zum einen in dem Ausdruck »Volk der Heiligen 320 Vgl. Collins: Daniel, 306–307. 321 Vgl. Beasley-Murray: Interpretation, 48–49, 55. 322 Beasley-Murray: Interpretation, 55.

Die messianisch-davidische Deutung

69

des Höchsten« (Dan 7,27) bestätigt, beide Begriffe versteht er als Synonyme. Zum anderen erinnert er an die enge Verbindung der Kapitel 2 und 7 über das gemeinsame Vier-Reiche-Schema, sowie an die Tatsache, dass in Dan 2 das von Gott aufgerichtete, ewige Königtum »keinem anderen Volk überlassen werden [wird]« (Dan 2,44). »[This] statement puts in a negative form the positive affirmations made in 7:18, 22, 37 [gemeint ist 27], that the kingdom is given to the saints of the Most High […].«323 Beide Entitäten, im Visionsteil die mit den Wolken kommende Einzelgestalt, und im Deutungsteil das Kollektiv der irdischen ›Heiligen‹, sind Empfänger des göttlichen Reiches. Das Verhältnis beider Entitäten zueinander bestimmend, zieht Beasley-Murray es vor, die Figur in Dan 7,13 als ein »representative of the nation«324 und nicht als ein »corporate symbol for the nation«325 aufzufassen. Dafür nennt er folgendes Argument: »[I]t was unusual for later Jews to have an eager expectation of the kingdom of God without a representative of the people and of the kingdom.«326 In diesem Sinne schließt die Herrschaftsübergabe an die menschenähnliche Gestalt die Herrschaft der irdischen ›Heiligen‹ mit ein. Demnach ist jene Figur der Repräsentant der Souveränität Gottes und zugleich der Stellvertreter des jüdischen Volkes. Diese doppelte Repräsentativfunktion in Dan 7, so betont Beasley-Murray, entspricht der Rolle des Messias: »In the prophetic tradition the Messiah holds […] such a position of representation of Yahweh in the final sovereignty and of the people privileged to be included in the rule.«327 Der Name ›David‹ oder der Titel ›Messias‹ werden im Danielbuch nicht erwähnt. Dennoch hält sich das messianische Konzept in Dan 7 ähnlich wie das Konzept des Knechts in den Gottesknechtsliedern im Deuterojesajabuch, in denen der Name des Knechts nicht genannt wird. Darüber hinaus ist dort nach Beasley-Murray ein fließendes Konzept des einzelnen Gottesknechts und des Volkes als Gottesknecht zu beobachten,328 was der Konstellation des individuellen Stellvertreters in Dan 7,13–14 und des kollektiven irdischen Volkes im Deutungsteil von Dan 7, beide Empfänger der ewigen Herrschaft, ähnlich ist.329 323 324 325 326 327 328

Beasley-Murray: Interpretation, 54. Beasley-Murray: Interpretation, 55. Beasley-Murray: Interpretation, 55. Beasley-Murray: Interpretation, 55. Beasley-Murray: Interpretation, 55. Die Identität des Knechts in den Gottesknechtsliedern bei Deuterojesaja ist umstritten. Die kollektive Deutung sieht eine Gleichsetzung des Gottesknechts mit dem Volk Israel vor, während die individuelle Lösung den Knecht als eine einzelne Gestalt in königlicher, mosaischer oder prophetischer Funktion versteht. Die ›fließende‹ Lösung deutet den Knecht in den einzelnen Kapiteln unterschiedlich als Individuum und als Kollektiv. Vgl. Hermisson: Gottesknecht, Kap. 3. 329 Vgl. Beasley-Murray: Interpretation, 50, 53–55.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

Ein weiteres Indiz, das die messianisch-davidische Deutung der Menschengestalt nahelegt, ist die Beobachtung, dass die Szene in Dan 7,13–14, in der eine hinzukommende Figur vor einen thronenden Gott gebracht und dieser das endzeitliche, ewige Königreich übergeben wird, »an eschatological form of the ancient Semitic ritual for the proclamation of a king«330 widerspiegelt.331 In Ps 45 ist ein lobpreisender Ruf enthalten, der dem Thron Davids eine ewige Herrschaft zuspricht: »Dein Thron, Gott, ist immer und ewig, ein Zepter der Geradheit ist das Zepter deiner Herrschaft« (Ps 45,7). Mit der Benennung als »Gott« (Ps 45,7) kommt dem gesalbten König ein göttlicher Status unter JHWH zu.332 Auch dem Einzelmenschen in Dan 7 wird, so kann aus Beasley-Murrays Gedanken der Theophaniebewegung mit den Wolken abgeleitet werden,333 Göttlichkeit attribuiert und eine ewige Herrschaft übertragen. Im Anschluss an den Aspekt der Individualität des Menschenähnlichen kann ein anderes gewichtiges Argument für die davidische Deutung vorgebracht werden:334 In Dan 7 wird den vier Tierwesen die menschenähnliche Einzelgestalt gegenübergestellt. »[T]he beasts are interpreted as kings, who […] represent kingdoms; we might expect that the Jewish kingdom also be represented by its king.«335 Ähnlich stellt Beasley-Murray bezüglich des vierten Tieres Folgendes fest: »The monster stands for a king who reigns over an earthly dominion […].«336 Dass die Tierwesen als Könige aufgefasst werden können, bestätigt Dan 7,17 explizit: »Diese großen Tiere – es sind vier – ⟨bedeuten⟩: vier Könige werden sich von der Erde her erheben« (Dan 7,17). Haag hingegen deutet die vier Tierwesen als Königreiche. Dazu verweist er auf die Parallele Hos 13,7–8, in welcher »der Vergleich mit Löwe, Bär und Panther das unerbittliche Gerichtshandeln Jahwes an Israel illustriert«337. In Dan 7 steigen die Tierwesen auf göttliche Initiative hin aus dem Meer, da dieses von den »Winde[n] des Himmels [aufge]wühlt[ ] [wird]« (Dan 7,2). Die anschließenden Beschreibungen betonen dann die Passivität der ersten drei Tiere, die Haag als »Passivum divinum«338 ausweist. Dem Löwen widerfährt beispielsweise ein Ausgerissenwerden seiner Adlerflügel. Diese Passivität unterstreicht, dass die göttliche Kontrolle über die Tierwesen trotz deren Destruktivität bestehen bleibt (vgl. Dan 7,4–6). Dies entspricht der alttestamentlich oft bezeugten Auffassung, dass JHWH »im Vollzug seiner heilsge330 331 332 333 334 335 336 337 338

Beasley-Murray: Interpretation, 55–56. Vgl. Beasley-Murray: Interpretation, 55–56. Vgl. Collins: Daniel, 293. Vgl. Beasley-Murray: Interpretation, 48–49, 55. Das Argument wird von Collins referiert, obgleich er selbst die davidische Deutung nicht unterstützt. Siehe hierzu: Collins: Daniel, 308. Collins: Daniel, 308. Beasley-Murray: Interpretation, 55. Haag: Menschensohn, 161. Haag: Menschensohn, 161.

Die messianisch-davidische Deutung

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schichtlichen Offenbarung fremde […] Reiche als Werkzeuge seines Gerichtshandelns«339 gebraucht.340 Die Rolle der Menschengestalt in Dan 7,13–14 als Repräsentant JHWHs führt Haag in dem Artikel Der Menschensohn und die Heiligen (des) Höchsten von 1993 auf die »Zion-David-Tradition […] in ihrer eschatologischen Ausprägung«341 zurück, die eine wichtige Grundlage für Dan 7 abgibt. So argumentiert Haag, dass die Grundschicht des Danielkapitels aus der »Kombination zweier Offenbarungsvorgänge«342 besteht. Diese ist in Ps 89 auffindbar: Zum einen, und dies nennt Haag die »Zion-Tradition«343, wird JHWH als über die Chaosmächte erhabener Schöpfergott geschildert (vgl. Ps 89,10–12). Als in seiner Hoheit Unvergleichlicher thront er im himmlischen Rat (vgl. Ps 89,6–8). Zum anderen ist der Psalm von der »David-Tradition«344 geprägt, die sich darin äußert, dass Gott einen Mann »zum Repräsentanten seiner universalen Königsherrschaft«345 auserwählt (vgl. Ps 89,20), dieser »zum Höchsten unter den Königen der Erde« (Ps 89,28) erhoben wird und dessen Thron ewigen Bestand haben soll (vgl. Ps 89,37– 38). Mit der Rückkehr des exilierten Volkes und der »Wiederherstellung der Zionsgemeinde von Jerusalem«346 wurde die Zion-David-Tradition um die eschatologische Perspektive erweitert, im Rahmen derer sich Gott in einem »neuen Exodus«347 »zum Heil seines Volkes als Schöpfer und Erlöser offenbart«348. Jes 6– 12 stellt eine solche eschatologisierte Form der Zion-David-Tradition dar. Auch in dieser Zusammenstellung sind für die Grundschicht von Dan 7 wichtige Motive enthalten: In Jes 6 bekundet der thronende JHWH den Entschluss, über das sich von ihm abgekehrte Volk zu richten, um »seine[ ] Königsherrschaft in der Welt [durchzusetzen]«349. Jes 8 schildert, »daß Gott bei seinem Kommen auch die mit dem Urmeer verglichene Großmacht Assur als sein Geschichtswerkzeug benützt«350. Jes 10 prophezeit trotz der globalen Vernichtung durch das Assurreich die »Rettung eines Gottesvolkes auf Zion […] [, die] der Offenbarung der ewigen Königsherrschaft Jahwes entspricht«351. Schließlich wird in Jes 11 »der 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348 349 350 351

Haag: Menschensohn, 160–161. Vgl. Haag: Menschensohn, 160–162. Haag: Menschensohn, 177. Haag: Menschensohn, 176. Haag: Menschensohn, 177. Haag: Menschensohn, 177. Haag: Menschensohn, 177. Haag: Menschensohn, 178. Haag: Menschensohn, 178. Haag: Menschensohn, 178. Haag: Menschensohn, 178. Haag: Menschensohn, 179. Haag: Menschensohn, 179.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

neue David«352 präsentiert, der »als der endzeitliche Repräsentant der ewigen Königsherrschaft Jahwes in einer von Gottes Heil erfüllten Schöpfung regiert«353. Diese weiterentwickelte Form der Zion-David-Tradition sieht Haag als direkte Grundlage für die Grundschicht von Dan 7 an.354 In der Schauung des Danielkapitels bezeichnen die Ankunft der menschenähnlichen Figur und deren Beauftragung, das ewige göttliche Reich zu regieren, die Vollendung der »Schöpfungs- und Geschichtsplanung Gottes«355, »deren Höhepunkt […] die Bestellung eines Repräsentanten Jahwes«356 ist. Parallel dazu ist in der Deutung von Dan 7 unter dem Empfang der ewigen Herrschaft durch die ›Heiligen‹, trotz der Opposition durch die vier Könige, die Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes zu verstehen, die ebenfalls vor dem Hintergrund der zu vollendenden göttlichen »Schöpfungs- und Geschichtsplanung«357 erfolgt.358 Das Motiv der Übergabe einer ewigen göttlichen Herrschaft in Dan 7, so kann Haags Position zusammengefasst werden, entspricht der eschatologisierten Zion-David-Tradition. Insbesondere aber die Übergabe an die Einzelfigur durch den ›Alten an Tagen‹ in Dan 7,13–14 kommt der Bestellung der davidischen Gestalt als endzeitlichen Repräsentanten Gottes gleich.359

4.2

Die Menschenkönigsdeutung

Die David-Tradition wird auch von Paul Mosca und André Lacocque als integraler Bestandteil des Danielkapitels 7 anerkannt. Allerdings fassen sie die Elemente der Inthronisierung und Herrschaftsübernahme nach davidischer Art vielmehr als einen Rahmen für das Kommen eines universalen Menschenkönigs auf.360 Mosca greift in dem 1986 erschienenen Artikel Ugarit and Daniel 7: A Missing Link den bereits thematisierten Ps 89 als einen Text auf, der eine traditionsgeschichtliche Brücke zwischen dem Baal-Mythos und Dan 7 herstellt.361 352 353 354 355 356 357 358 359

Haag: Menschensohn, 179. Haag: Menschensohn, 179. Vgl. Haag: Menschensohn, 176–179. Haag: Menschensohn, 170–171. Haag: Menschensohn, 171. Haag: Menschensohn, 170–171. Vgl. Haag: Menschensohn, 170–171, 179. Nach Haag wurde die auf der eschatologisierten Zion-David-Tradition basierende Grundschicht von Dan 7 durch das Vier-Reiche-Schema und die Tradition des ›Gottesfeindes‹ ergänzt. Letztere schlägt sich in der Steigerung der Tierreihe im vierten Tierwesen als destruktivste Chaosmacht nieder. Vgl. Haag: Menschensohn, 180–181. 360 Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 514–516; Lacocque: Allusions, 126. 361 Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 508–511.

Die Menschenkönigsdeutung

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Ein Element, das die Davidgestalt in Ps 89 und die menschenähnliche Gestalt in Dan 7 in Abgrenzung zu dem Baal in der aktiven Rolle des Chaosbekämpfers miteinander teilen, ist die Passivität. Wie der zu einer Gottheit verschmolzene JHWH-El in Ps 89,9–10 das Chaosmeer und -monster im Kampf besiegt, bevor er David als Herrscher über das Meer einsetzt (vgl. Ps 89,26), initiiert der ›Alte an Tagen‹ in Dan 7 als Richtender die Vernichtung des monströsen, vierten Tierwesens, bevor der ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ das Königreich empfängt. »Like David, the one who ›comes with the clouds of heaven‹ is not even present for the cosmic confrontation, but passively receives […] a dominion whose eternal character is repeatedley emphasized in both texts.«362 Nach Mosca ist festzustellen, dass die David-Tradition, wie sie sich in Ps 89 niederschlägt, markante Parallelen zu der menschenähnlichen Figur in Dan 7 aufweist und daher einen traditionsgeschichtlichen Einfluss auf Dan 7 hat. Allerdings kann das Davidkonzept nicht das Motiv der Menschenähnlichkeit in Dan 7,13 erklären. Vor diesem Hintergrund zieht Mosca eine andere Tradition heran, die nicht dem Kriterium des davidischen Königs, dafür aber dem des Menschenkönigs als »an exalted human being«363 entspricht.364 Der Aspekt der Menschlichkeit, welcher den Herrschaftsempfänger aus Dan 7,13–14 mit den vier Tierwesen kontrastiert, entstammt weder dem ugaritischen Baal noch der Davidfigur in Ps 89, sondern muss, so Moscas Vorschlag, in Ps 8 vorgefunden worden sein. »[T]he ›son of man/son of Adam‹ (ben–ʾa¯da¯m, v. 5b) in Psalm 8 is conceived of in royal terms […].«365 Ps 8 ist allerdings nicht als ein Text in der Funktion eines Königspsalms, geschweige denn der Begriff ›ben– ʾa¯da¯m‹ in Ps 8,5 als Königstitel, zu verstehen, wie Mosca ergänzt. »Rather, the psalmist has ›democratized‹ the office of king[,] […] for the psalmist all human beings are, at least ideally, royal figures, God’s viceregents on earth.«366 Der königliche Aspekt des Menschen wird in Ps 8,6 betont, dort wird er von JHWH »mit Herrlichkeit und Pracht [ge]krön[t]« (Ps 8,6). Weiter schlägt Mosca vor, Gottes Feinde in Ps 8,3 nicht mit historischen Gegnern, sondern mit den Chaosmächten der Urzeit zu identifizieren. Der Chaoskampf, auf den Vers 3 hindeutet, scheint der Vernichtung des vierten Tierwesens als apokalyptischer Feind in Dan 7 zu entsprechen: Aus dem Munde der Kinder und Säuglinge hast du Macht gegründet wegen deiner Bedränger, um zum Schweigen zu bringen den Feind und den Rachgierigen. (Ps 8,3)

362 363 364 365 366

Mosca: Ugarit and Daniel, 514. Collins: Daniel, 308. Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 514–516. Mosca: Ugarit and Daniel, 516. Mosca: Ugarit and Daniel, 516.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

Anschließend beschreibt Ps 8, dass der Mensch eine universale Herrschaftsposition in der Schöpfung einnimmt. Eine solche Herrschaft wird dem Menschenähnlichen in Dan 7 ebenfalls übergeben:367 »[I]n Psalm 8 ben–ʾa¯da¯m receives dominion over ›the wild beasts‹ (baha˘môt ´sa¯da¯y, v. 7), [gemeint ist Vers 8]«368: 7 Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße: 8 Schafe und Rinder, sie alle und auch die wilden Tiere, 9 die Vögel des Himmels und die Fische im Meer, was auf den Pfaden der Meere dahinzieht. (Ps 8,7–9 EÜ) »[I]n Daniel 7 the one who is [like a son of man] […] receives an everlasting dominion that extends over the three surviving ›great beasts‹ (hêwa¯ta¯ʾ rabreˇba¯ta¯ʾ, v. 17; cf. v. 12).«369

In Ps 8 folgt dem Moment des Chaoskampfes aus Vers 3 das Moment der universalen Herrschaft des Menschen in den Versen 7–9. Diese Bewegung ist zum einen strukturgleich mit dem Baal-Mythos: Nach dem Chaoskampf Baals gegen die Meeresgottheit Jamm wird Baal als König ausgerufen. Zum anderen ist eine entsprechende Bewegung auch in Dan 7 identifizierbar: An die Vernichtung des monströsen, vierten Tierwesens schließt vor dem thronenden ›Alten an Tagen‹ der Herrschaftstransfer an den ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ an. Aufgrund dieser strukturgleichen Bewegungen vom Chaoskampf zur Herrschaft hält Mosca Ps 8 für eine traditionsgeschichtliche Verbindung zwischen dem BaalMythos und Dan 7, die das Element des Menschen für Dan 7 liefert.370 Darüber hinaus betont Ps 8 die Göttlichkeit des Menschen, indem dieser in Vers 6 als »›little less than divine[‹]«371 dargestellt wird. An diesen Status wird in Dan 7 durch die »Wolken des Himmels« (Dan 7,13) erinnert, mit denen der ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ kommt.372 André Lacocque bestätigt in seinem Artikel Allusions to Creation in Daniel 7 die von Mosca vorgeschlagene Abgrenzung von der davidischen Interpretation der menschenähnlichen Figur in Dan 7. Auch er erkennt im Danielkapitel mit Blick auf die Herrschaftsübergabe an einen neuen König eine Inthronisierungszeremonie, die Parallelen mit der Einsetzung des davidischen Königs aufweist. Allerdings dient diese nur als Rahmen:373 »In the background is King David (cf. Psalms 2 and 110, texts that show the Davidic king enthroned alongside 367 368 369 370 371 372 373

Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 514–517. Mosca: Ugarit and Daniel, 517. – Die Hervorhebungen sind von mir. Mosca: Ugarit and Daniel, 517. – Die Hervorhebungen sind von mir. Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 497–498, 515–517. Mosca: Ugarit and Daniel, 517. Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 517. Vgl. Lacocque: Allusions, 116.

Die symbolisch-kollektive Deutung

75

with YHWH).«374 Die Rolle des Herrschaftsempfängers nimmt jedoch ein anderer ein: »the Human Being par excellence, Adam glorified«375. Die dem Ausdruck »Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) vorausgehende Präposition ‫ כ‬versteht Lacocque nicht im komparativen Sinn, sondern misst ihr eine feierlich bestätigende Bedeutung bei, die die Menschlichkeit des neuen, perfekten Adams betont. Die Deutung sichert Lacocque mit der Beobachtung, dass der Visionsabschnitt in Dan 7 einen Bogen von der Urschöpfung – in Form des aufgewühlten Meeres in Vers 2 – über die Weltgeschichte – versinnbildlicht durch die Abfolge der irdischen Großmächte, bis hin zum eschatologischen Ende – der Erfüllung der Schöpfung – spannt. Das Chaos und die Unvollkommenheit der Schöpfung, vertreten durch die vier Tierwesen, die wiederum als Symbole für Weltmächte Chaos und Unvollkommenheit historisieren, werden im göttlichen Gericht beseitigt und von dem ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹, der Verkörperung des »telos of creation«376, abgelöst. Den gespannten Bogen von Urzeit zu Endzeit identifiziert Lacocque nicht als Heilsgeschichte des Volkes Gottes, der die gesalbte davidische Königsfigur zuzuordnen wäre. In dem Horizont von Schöpfung und Neuschöpfung, der Dan 7 umspannt, geht es vielmehr um eine universalkosmologische Geschichte, deren Vollendung durch das Kommen eines universalen Adams markiert wird, »whose function transcends (hence also recalls) the one of the Messiah ben David«377. Lacocque führt seine Deutung noch weiter und identifiziert die Adamsfigur in Dan 7,13 im Kontext des hebräischen Danielbuches mit dem Engel Michael, der in Dan 8–12 als Patron des jüdischen Volkes auftritt. »Himself a combination of angelic and Adamic, this personage appears in Daniel 7 as the ›understudy‹ of God […].«378 Lacocque verbindet folglich die Deutung der Menschengestalt in Dan 7 als den neuen, perfekten und glorifizierten Menschen mit der angelologischen Deutung.

4.3

Die symbolisch-kollektive Deutung

Die Option, in der vor den ›Alten an Tagen‹ gebrachten Gestalt ein Symbol zu sehen, das in kollektiver Weise das Volk Israel repräsentiert, wurde Ende des 19. Jahrhunderts die weitverbreitetste Deutung, deren Vertreter sind unter an-

374 375 376 377 378

Lacocque: Allusions, 126–127. Lacocque: Allusions, 129. Lacocque: Allusions, 125. Lacocque: Allusions, 125, vgl. auch 123, 127. Lacocque: Allusions, 123–124, vgl. auch 122–124. – ›Understudy‹ ist im Deutschen mit ›Zweitbesetzung‹ zu übersetzen.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

deren Charles, Montgomery, Bentzen, Hartman und Di Lella sowie Delcor.379 Verteidiger der Position in den letzten Jahren sind Keel 2000, Boyarin 2012, Frankel 2010 und Seow 2003.380 Der Deutung liegt als zentrales Argument der Vorschlag zugrunde, die »Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18), »die Heiligen« (Dan 7,22) und das »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) aus dem Deutungsabschnitt von Dan 7 als Synonyme für das jüdische Volk zu verstehen, die mit dem »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) aus dem Visionsabschnitt gleichzusetzen sind.381 Den Schritt einer solchen Gleichsetzung nimmt Keel in dem Artikel Die Tiere und der Mensch in Daniel 7 von 2000 vor. Darin hebt er hervor, dass die menschenähnliche Gestalt in der Deutung des Geschauten »implizit als Verkörperung der ›Heiligen des Höchsten‹ interpretiert [wird]«382. Begünstigt wird dies durch die herrschaftsempfangende Rolle, die beiden Entitäten, dem ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ und den ›Heiligen des Höchsten‹, zu eigen sind. Für die Identifizierung der ›Heiligen‹ schaut Keel auf den näheren Kontext dieser Personengruppe in Dan 7: Das ›kleine Horn‹, das als allgemein anerkannter Hinweis auf den historischen Antiochos IV. gilt, überwältigt und unterdrückt erfolgreich die ›Heiligen‹ in den Versen 21 und 25. In Vers 22 werden Gericht und Königtum an die ›Heiligen des Höchsten‹ und an die ›Heiligen‹ übergeben; Keel übersetzt an dieser Stelle »›den Heiligen des Höchsten [wurde] Recht verschafft, und es kam die Zeit, in der die Heiligen das Königtum erhielten‹«383. Weiter übersetzt Keel aus Dan 7,25: »›Die Festzeiten und das Gesetz will er ändern. Ihm werden die Heiligen für eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit ausgeliefert.‹«384 Nach Keel verdichten sich hier »Anspielungen auf Antiochus IV. und die von ihm ausgelöste Verfolgung der Toratreuen«385. Dieses Argument für die Deutung der menschenähnlichen Gestalt als kollektives Symbol für die ›Heiligen des Höchsten‹, die wiederum unverkennbar auf die historischen und unter der Verfolgung leidenden Israeliten verweisen, wurde schon von Hartman und Di Lella, zuletzt aber 2012 von Boyarin und 2013 von Hieke vorgebracht.386 Dass ›die Heiligen‹ als ein Ausdruck für die gottesfürchtigen Israeliten gesehen werden kann, wie Keel es für Dan 7 vorschlägt, lässt sich anhand von Ps 34,10 belegen: »Fürchtet den HERRN, ihr seine Heiligen! Denn keinen Mangel haben die, die ihn fürchten« (Ps 379 Vgl. Collins: Daniel, 309. 380 Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 21–22; Boyarin: Daniel 7, 153; Frankel: El, 23; Seow: Daniel, 16– 17. 381 Vgl. Collins: Daniel, 309. 382 Keel: Tiere und Mensch, 22. 383 Keel: Tiere und Mensch, 22. 384 Keel: Tiere und Mensch, 22. 385 Keel: Tiere und Mensch, 22, vgl. auch 21–22. 386 Vgl. Boyarin: Daniel 7, 152–153; Hieke: Herrschaft, 390–394.

Die symbolisch-kollektive Deutung

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34,10). Die Verbindung »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) ist dann als »Genitivus exepegeticus im Sinne von ›das Volk, das die Heiligen des Höchsten sind‹«387 zu deuten. Des Weiteren ist die menschenähnliche Gestalt in Dan 7,13 aufgrund der Vergleichspartikel ›wie‹ eng mit den ersten drei Tierwesen aus dem Meer verbunden. Die Vergleiche »wie ein Löwe« (Dan 7,4), »einem Bären gleich« (Dan 7,5) und »wie ein Leopard« (Dan 7,6) betonen die Symbolfunktion der Tiere. In Anbetracht dessen ist der ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ ebenso als Symbolfigur zu verstehen. Keels besonderes Anliegen ist es, auch den Aspekt der Menschenähnlichkeit oder des Menschlichen der Gestalt in Dan 7,13 in den Kontext des Tier-Mensch-Gegensatzes einzuordnen, der ein das aramäische Danielbuch, insbesondere aber die Kapitel 4, 5 und 7, umfassendes Konzept darstellt. In Dan 4 und 5 begleitet dieser Gegensatz in der Form der Tierwerdung und der Wiedermenschwerdung Nebukadnezars den Verlust und die Rückgewinnung der Königsherrschaft, letzteres unter Voraussetzung der Anerkennung Gottes Souveränität. Dem entsprechend weist sich der Herrschaftsempfänger in Dan 7 durch das Attribut ›Menschenähnlichkeit‹ als eine Entität aus, deren »Herrschaft ohne Überheblichkeit [ist], die die Souveränität des höchsten Gottes voll anerkennt, […] Gerechtigkeit übt und Mitgefühl mit den Armen zeigt (Dan 4,24)«388. Auch Hieke versteht das Element der Menschenähnlichkeit in Dan 7,13 als einen Hinweis auf die Menschlichkeit der neuen Herrschaft. Dadurch, dass die Symbolfigur menschliche Züge aufweist und darüber hinaus »mit den Wolken des Himmels« (Dan 7,13) kommt, wird das neue Reich »scharf von den anderen Völkern und Reichen abgegrenzt und […] als eine Wesenheit qualifiziert, die wahrhaft der göttlichen Welt zugehörig ist«389. Mit Keel und Hieke kann an dieser Stelle zusammengefasst werden, dass die Symbolfigur ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹, die in der Deutung mit den ›Heiligen‹ identifiziert wird, im kollektiven Sinne das Volk der gottesfürchtigen Israeliten verkörpert.390 Boyarin schließt sich mit seinem 2012 erschienenen Artikel Daniel 7, Intertextuality, and the History of Israel’s Cult dieser Position an: »In the pesher on the vision, it would certainly seem as if the interpreter takes the One like a Son of Man to be Israel, ›the saints of the Most High.‹«391 Im Anschluss an die Diskussion, ob die Gestalt in Dan 7,13–14 als ein göttliches Wesen oder ein allegorisches Symbol zu deuten ist, differenziert er zwischen den unterschiedlichen Redaktionsetappen des Danielkapitels. Boyarin geht davon aus, »that the text is made of the interweaving of two earlier, independent apocalyptic visions and

387 388 389 390 391

Keel: Tiere und Mensch, 22. Keel: Tiere und Mensch, 28, vgl. auch 21–22, 27–28. Hieke: Herrschaft, 392–393. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 22; Hieke: Herrschaft, 390. Boyarin: Daniel 7, 140.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

then the provision of an interpretation, a pesher, for the newly rewoven cloth«392. Die so vorliegende Textform als das Arbeitsergebnis eines einzelnen Autors oder Redakteurs ist als Einheit zu betrachten und wurde, vermutlich, erst später durch das Motiv des einzelnen Horns ergänzt.393 Die Zusammensetzung von zwei separaten Textvorlagen, einer Tiervision und einer Thronvision, macht Boyarin an den abrupten Brüchen in Dan 7,8–14 fest. Ein solcher Schnitt ist nach Vers 8 zu verzeichnen, denn dort wird die Beschreibung des Horns abgebrochen und von der Thronszene abgelöst. Ein Bruch erfolgt ebenso nach Vers 10: Im Rahmen der Thronszene setzt sich das Gericht und die Bücher werden geöffnet. Prozess und Urteil kommen jedoch nicht zur Sprache, vielmehr wechselt der Text zurück zu dem Horn und den Tieren. Boyarin schließt daraus, dass die Verse 8 und 11–12 ursprünglich eine kohärente Vorlage gewesen sein müssen, da sich diese der Beschreibung des Horns des Tieres (8), dessen Vernichtung und der Verurteilung der anderen Tiere (11–12) widmen. Die andere Grundlage bieten die Verse 9–10 und 13–14, da sich an die Thronszene des ›Alten an Tagen‹ (9–10) die Ankunft des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹, der sodann vor den ›Alten an Tagen‹ gebracht wird (13–14), in natürlicher Fortsetzung anschließt. Beide rekonstruierten Texte geben kohärente Einheiten ab:394 Tiervision: 8 Hörner – kleines Horn wächst empor – vor diesem werden drei Hörner ausgerissen 11 Vernichtung des vierten Tieres mit dem kleinen Horn 12 Wegnahme der Herrschaft von den übrigen Tieren Thronvision: 9 Aufstellen der Throne – der ›Alte an Tagen‹ setzt sich 10 Gericht setzt sich – Bücher werden geöffnet 13 Ankunft des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ – er wird vor den ›Alten an Tagen‹ gebracht 14 Herrschaftsübergabe an den ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹

Darüber hinaus eint die Verse 9–10 und 13–14 der poetisch markierte Stil, der durch Sprachrhythmus, synonyme Parallelismen und einer gehobenen Ausdrucksweise erreicht wird. Die Gattung der anderen Verse ist hingegen Prosa. Diese Beobachtung stützt die These, »that two originally separate texts, one prose and one poetry, have been felted together by the author of Daniel 7«395. Boyarin schlussfolgert daraus, dass die ursprünglichen Texte unterschiedlich zu deuten 392 393 394 395

Boyarin: Daniel 7, 140. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 139–140, 153. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 143–145. Boyarin: Daniel 7, 146.

Die symbolisch-kollektive Deutung

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sind: Die vier Tierwesen der einen Vision fungieren als allegorische Symbole für Königtümer oder Könige. In der anderen Vision hingegen ist der ›Alte an Tagen‹ ein real geglaubtes Wesen, nämlich Gott. Dementsprechend ist zu erwarten, dass der ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ in der ursprünglichen Textform »a real persona, [..] an actual divine entity and not a symbol«396 darstellt.397 Die Menschenähnlichkeit ist für Boyarin ein Indiz für die Göttlichkeit der Figur in Dan 7,13, wie sich angesichts der Parallelen im Ezechielbuch belegen lässt. In Ez 8,2 schaut der Visionär ein göttliches Wesen in menschenähnlicher Gestalt: Und ich sah: und siehe, eine Gestalt mit dem Aussehen eines Mannes: von seinen Hüften an abwärts Feuer; und von seinen Hüften an aufwärts wie das Aussehen eines Glanzes, wie das Funkeln von glänzendem Metall. (Ez 8,2)

Der Ausdruck »mit dem Aussehen eines Mannes« (Ez 8,2) erinnert an »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13). Zudem wird die Figur in Ez 8,2 meist für ein von JHWH separates Wesen aus dem Himmel gehalten. In Ez 1,26 wird JHWH selbst als »eine Gestalt, dem Aussehen eines Menschen gleich« (Ez 1,26), geschaut. In Dan 7 bekräftigt zusätzlich das Kommen mit den Wolken des Himmels, in der Bibel Zeichen einer Theophanie, den göttlichen Charakter der menschenähnlichen Gestalt. Bezüglich der ursprünglichen Thronvision führt Boyarin fort: »[W]e should read this one too as the revelation of God, a second God […]. The implication is, of course, that there are two such divine figures in heaven, an old God, the Ancient of Days, and a young God, the One like a Son of Man.«398 Die Konstellation eines El-ähnlichen, ältlichen Gottes, der die Rolle des Richters einnimmt, und eines Baal-ähnlichen, jungen Gottes, der als ›Wolkenfahrer‹ und Sturmgott das Chaosmonster bekämpft, geht nach Boyarin auf eine alte Strömung innerhalb der israelitischen Religion zurück, in der die zwei Götter nicht vollständig zu einem Wesen verschmolzen sind.399 Damit widerspricht Boyarin Keels Auffassung, der im Anschluss an Collins beteuert, das ugaritische 396 Boyarin: Daniel 7, 146. 397 Vgl. Boyarin: Daniel 7, 145–146. – Die Annahme von zwei ursprünglich unabhängigen Visionen schließt für Boyarin die Herkunft aus den kanaanäischen Mythen, in denen der ›Wolkenfahrer‹ Baal gegen das Meeresungeheuer Yamm kämpft, nicht aus. Denn auch diese bieten zwei separate Texte, deren Traditionen sich in Dan 7 widerspiegeln. In dem BaalMythos siegt Baal über Yamm und wird anschließend von Kothar wa-Hasis und Ashtart, seinen Gefährten, als König ausgerufen. Das Epos der Ernennung Baals durch El zum untergeordneten Herrscher ist jedoch in einem anderen ugaritischen Fragment enthalten. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 147–148. 398 Boyarin: Daniel 7, 149. 399 Vgl. Boyarin: Daniel 7, 149–150.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

Material »liefer[e] zur Zeit das beste Beispiel für das pattern, das in Dan 7 verwendet wurde«400. Keel scheint die Ansicht zu favorisieren, »dass der Verfasser von Dan 7 die ugaritischen Texte gekannt habe«401. Die These des Weiterlebens kanaanäischen Materials in der jüdischen Tradition ist für Boyarin unzutreffend. Vielmehr betont dieser, dass die israelitische Tradition nicht immer ein einheitlicher Kult war, sondern dass unterschiedliche Strömungen, die eines monotheistischen JHWH-Kults und die eines Kults mit dem Obergott El und dem untergeordneten JHWH, parallel existierten und sich im Laufe der Zeit einander angenähert und vereinigt haben. Der Einfluss auf die Konstellation zweier Gottheiten, wie sie in Dan 7 anklingt, liegt in der jüdischen Tradition selbst.402 Für die Thronvision in Dan 7 ist nun Folgendes von Bedeutung: Boyarins Annahme ist, dass im Entstehungsprozess des Volkes Israel aus kleinen Gruppen der Gott JHWH, »the Baal-like divinity of a small group of southern Canaanites, the Hebrews, with El a very distant absence for these Hebrews«403, mit dem kanaanäischen Hauptgott El fusioniert. Die Funktionen beider Rollen, die des weisen Richters und die des kämpferischen Sturmgottes, vereint in einer Gottheit, sind jedoch sehr unterschiedlich und führen zu Spannungen, die sich in der Absplitterung des jungen Gottes von JHWH-El äußern. Neben JHWH-El, dem älteren Gott in der Funktion des weisen Richters, ist der jüngere Gott vorerst namenlos, »[while his] functions […] [are], in part, taken by supreme angels or other sorts of divine beings, redeemer figures«404. Jene namenlose Gottesgestalt »presumably is identified at different times with the archangels or other versions of the Great Angel, Michael, as well as with Enoch, Christ, and later on Metatron as well«405. Diese Aufsplitterung manifestiert sich in der doppelten Theophanie der ursprünglichen Thronvision und Vorlage für Dan 7.406 In der redaktionellen Verwebung beider Visionen wird, so führt Boyarin fort, die menschenähnliche Gestalt den vier Tieren, den allegorischen Symbolen für politische Reiche, gegenübergestellt. Durch den Einschub des Endteils der Tiervision (11–12) in die Thronapokalypse (9–10 / 13–14) schließen nun Vernichtung und Verurteilung der Tierwesen unmittelbar an die Ankunft des Menschenähnlichen (13) an. Das Vergleichswort ›wie‹, das in der ursprünglichen Thronvision die Göttlichkeit des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ im Anschluss an die Beschreibungen von Himmelswesen als menschenähnliche Gestalten betont hat, bekommt nun eine neue Funktion: Das Wort ›wie‹ setzt in der 400 401 402 403 404 405 406

Keel: Tiere und Mensch, 7. Keel: Tiere und Mensch, 7. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 156–157. Boyarin: Daniel 7, 157. Boyarin: Daniel 7, 160–161. Boyarin: Daniel 7, 161. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 157–158, 160–161.

Die symbolisch-kollektive Deutung

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verflochtenen Vision Dan 7 die apokalyptische Figur mit den Tierwesen in Beziehung, die ebenfalls durch Vergleichspartikel gekennzeichnet sind. Die menschenähnliche Gestalt in Dan 7,13–14 wurde durch diese Gegenüberstellung entmythologisiert und zu einer politischen Größe, einem Symbol, umgeformt. Die vom Danielredakteur angefügte Deutung (15–29) identifiziert die Gestalt schließlich mit den ›Heiligen des Höchsten‹ und so auch, durch die Hinweise auf die Verfolgung durch Antiochos IV in Dan 7,21–22.25, mit dem historischen Volk Israel. Zudem ist durch die Konstellation des ›Alten an Tagen‹ als reale Gottheit und dem ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ als Symbol eine monotheistische Repräsentation geschaffen. Boyarin erkennt auf der Grundlage seiner Beobachtungen schließlich zwei mögliche Optionen: In der ursprünglichen, unabhängigen Thronvision ist der ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ als eine »göttliche Erlöserfigur«407 gedacht, mit den redaktionellen Veränderungen dann jedoch als entmythologisierte Figur und historisiertes Symbol für die verfolgten Israeliten zu betrachten.408 Eine Außenposition der symbolischen Deutung wird durch Seow in seinem Danielkommentar von 2003 vertreten. Ähnlich erkennt er eine Entmythologisierung des ehemals göttlichen ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹. Angesichts der Gleichsetzung mit den pluralen ›Heiligen‹ wird die singuläre Figur demokratisiert und schließlich zu einem Symbol für das Volk remythologisiert. Der bedeutende Unterschied Seows zu den schon präsentierten Vertretern der symbolisch-kollektiven Deutung liegt in der Identifizierung der ›Heiligen des Höchsten‹. Der Ausdruck ›Heilige‹ oder ›Heiliger‹ bezieht sich im Danielbuch stets auf Himmelswesen wie in Dan 4,10.14.20: »Ich schaute in den Visionen, die ich auf meinem Lager hatte, und siehe, ein Wächter und Heiliger stieg vom Himmel herab« (Dan 4,10). In Dan 8,13 hört Daniel einen ›Heiligen‹ sprechen, der ebenfalls ein Engel ist. Im Deutungsabschnitt von Dan 7 muss es sich angesichts dieses Kontextes daher um Heilige des Himmels handeln, die sich allerdings mit dem »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27), zu verstehen als die Heiligen der Erde oder das Volk Gottes, vereinigen. Das Vorgehen des Herrschers Antiochos IV. gegen Jerusalem wird in Dan 7,21.25 als Kriegsführung des ›kleinen Horns‹ gegen die Himmelsheere dargestellt. Diese Deutung wird durch die Parallele in Dan 8,9–10 gestützt: »[T]he earthly victory of the invader is expressed as the casting down of ›some of the host and some of the stars‹ (8:9– 10).«409 Seow liefert noch weitere Argumente für eine angelologische Deutung der ›Heiligen‹ in Dan 7. Wichtiger ist an dieser Stelle jedoch festzuhalten, dass nach Seow die demokratisierte und remythologisierte Gestalt in Dan 7,13–14 als eine 407 »divine redeemer figure«, übersetzt aus: Boyarin: Daniel 7, 153. 408 Vgl. Boyarin: Daniel 7, 147, 150–153. 409 Seow: Daniel, 17.

82

Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

symbolische Figur zu deuten ist, die nicht bloß für das Volk Israel steht, wie es in der kollektiven Deutung gewöhnlich vertreten wird, sondern vielmehr die Vereinigung aus den himmlischen und den irdischen ›Heiligen‹ vertritt.410 Angesichts der Identifizierung der ›Heiligen‹ mit himmlischen Wesen nimmt Seow eine Brückenposition zwischen der symbolisch-kollektiven Deutung und der angelologischen Lesart des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ ein.

4.4

Die angelologische Deutung

Die Interpretation der Figur in Dan 7,13–14 als ein Engel wird von Collins 1993 und von Koch 1995 in ausführlichen Kommentaren und Studien verteidigt, sie wird ebenfalls von Bauer 1996 vertreten und in jüngster Zeit von Newsom 2014 favorisiert.411 Die genannten Autoren stimmen in vielen Punkten überein, weshalb sich hier eine systematische Darstellung der Argumente anbietet. Ein erstes Argument für ein real existent geglaubtes himmlisches Wesen ist der Aspekt der Individualität der Gestalt in Dan 7,13, der aus der Konstruktusverbindung »Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) herauszulesen ist. Koch hebt in seiner Analyse zum Danielbuch Die Reiche der Welt und der kommende Menschensohn von 1995 hervor, dass erhaltene Texte in Alt- und Mittelaramäisch deutlich zwischen ‫אנש‬, ›Mensch‹, und ‫כר אנש‬, ›Sohn eines Menschen‹, unterscheiden: Während der erste Ausdruck, ein Simplex ,«allgemein ›menschliches Wesen‹ oder ›Menschheit insgesamt‹ aus[drückt]«412, zielt er in Kombination mit dem Singulativ ›Sohn‹ »betont auf den einzelnen Vertreter der Gattung, entweder im pauschalen Sinn ›jedes einzelne Wesen‹ oder im hervorhebenden Sinn eines besonders auffälligen Individuums«413. Daher ist bei der Erscheinung des »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) an eine markiert individuelle Gestalt zu denken. Um diese Deutung zu stützen, zieht Koch weitere Beobachtungen aus Dan 7 zum Kontrast heran. Der Löwenadler »[wird] wie ein Mensch auf seine Füße gestellt und ihm [wird] das Herz eines Menschen gegeben« (Dan 7,4). Später wird das ›kleine Horn‹ mit »Augen wie Menschenaugen« (Dan 7,8) attribuiert. In den drei Ausdrücken mit ›Mensch‹ kommt das Singulativ ›Sohn‹ jedoch nicht vor, ebenso wenig wie in den Beschreibungen der vier Tierwesen, was im Gegenzug für eine gezielte Intention im Ausdruck »Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) sprechen muss. Der wie ein Sohn eines Menschen ist, stellt also eine individuelle Figur dar. 410 Vgl. Seow: Daniel, 16–17. 411 Vgl. Collins: Daniel, 304–310; Koch: Reiche der Welt, 156–164; Bauer: Buch Daniel, 157–158; Newsom: Daniel, 235–238. 412 Koch: Reiche der Welt, 159. 413 Koch: Reiche der Welt, 159–160.

Die angelologische Deutung

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Auch die angelologische Deutung nimmt das Argument auf, dass die Vergleichspartikel ‫ כ‬vor ›Sohn eines Menschen‹ eine Interpretation der Gestalt als Menschen nicht gestattet.414 Das Element der Menschlichkeit steht für Koch, wie im Übrigen auch für Keel, der von einem Tier-Mensch-Gegensatz spricht,415 in einer Beziehung der Kontinuität und der Diskontinuität mit den vier Tierwesen. Die ersten zwei Tiere prägt noch der Prozess einer Vermenschlichung: Der Löwe wird »wie ein Mensch auf seine Füße gestellt und ihm [wird] das Herz eines Menschen gegeben« (Dan 7,4). Auch das bärenähnliche Tier wird noch »auf der einen Seite aufgerichtet« (Dan 7,5). Die abnehmende Tendenz der Vermenschlichung in der Abfolge der vier Tierwesen geht mit der Zunahme des unmenschlichen und brutalen Raubtierverhaltens einher, die symbolhaft für die entsprechenden Großmächte sprechen soll. Diesem Gefälle wird der Aspekt der Menschenähnlichkeit der Einzelgestalt aus Dan 7,13 entgegengestellt. Das Lexem ›Mensch‹ deutet demnach nicht auf die Menschengattung, sondern auf »eine menschenwürdige Art des Verhaltens, ein auf Kommunikation und Akzeptanz ausgerichtetes Wesen im Unterschied zur brutalen Art von Raubtieren«416. Wie bereits erwähnt, trägt das Singulativ ›Sohn‹ neben der Bedeutung der Individualität auch die einer Hervorhebung. Mit der alternativen Übersetzung »›[w]ie ein herausragender Mensch‹«417 bezeichnet die Figur in Dan 7,13 ein Wesen, das, so die Hoffnung der Primärleser des Danielbuches, »ideale Menschlichkeit verkörpert und [diese] auf Dauer bei allen dann lebenden Wesen dieser Gattung hervorruft«418. Der Aspekt der Menschenähnlichkeit wird in der angelologischen Deutung zudem als ein Hinweis auf die himmlische Natur der Gestalt gewertet, wie zahlreiche Parallelstellen im hebräischen Danielbuch nahelegen. Derartige Belege gibt es im aramäischen Teil des Buches allerdings nicht. Koch weiß um den Vorbehalt, »daß von hebräischen Wortfeldern aus nicht einfach auf aramäische Entsprechungen geschlossen werden kann«419. Da die hebräischen Kapitel jedoch als »›aufstockend‹ und kommentierend zu den älteren Stoffen hinzugefügt worden sind«420, sieht Koch die Annahme begründet, »daß sich hier die hebräischen Seme stärker an aramäische Entsprechungen anlehnen als im gewöhnlichen Sprachgebrauch«421. Die gängigste hebräische Übersetzung zu ›Sohn eines Menschen‹ erscheint in Dan 8,17: »Merke auf, Menschensohn!« (Dan 8,17), 414 415 416 417 418 419 420 421

Vgl. Koch: Reiche der Welt, 158–160. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 18–21. Koch: Reiche der Welt, 161, vgl. auch 160–161. Koch: Reiche der Welt, 171. Koch: Reiche der Welt, 172, vgl. auch 171–172. Koch: Reiche der Welt, 162. Koch: Reiche der Welt, 162. Koch: Reiche der Welt, 162.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

‫בן־אדם‬. Dort, wie auch in Ez 2, fungiert der Ausdruck, dessen Singulativ die Individualität der Person betont, als Anrede des Visionärs. Hebräisch ‫בן־אדם‬ taucht ebenso in Dan 10,16 auf, bezeichnet dort aber, bei beibehaltenem Singulativ, die Erscheinung eines einzelnen Engels: »einer, den Menschenkindern gleich, berührte meine Lippen« (Dan 10,16). Wie auch in Dan 7,13 sind an dieser Stelle die Vergleichspartikel ‫כ‬, ein Singulativ und das Lexem ›Mensch‹ vorhanden. In Dan 10,18 wird ein himmlisches Wesen »im Aussehen wie ein Mensch« (Dan 10,18), ‫כמראה אדם‬, ebenfalls mit Vergleichspartikel beschrieben.422 An anderer Stelle bezeichnet der Vergleich »wie das Aussehen eines Mannes« (Dan 8,15) den Engel Gabriel. Auch der einfache Begriff ›Mann‹, ‫איש‬, häufig mit dem Zusatz »in Leinen gekleidet« (Dan 10,5), deutet im hebräischen Danielbuch auf ein überirdisches Wesen hin (vgl. auch Dan 9,21; 12,5–7).423 Collins gibt ergänzend den Hinweis auf eine ähnliche Formulierung in der aramäischen Buchhälfte. Dort wird ein vierter Mann, der den drei Freunden im Feuerofen beisteht, als ein göttliches Wesen identifiziert: »[D]as Aussehen des Vierten gleicht dem eines Göttersohnes« (Dan 3,25). Über die Daniel-Visionen hinaus gilt in der alttestamentlichen Visionsliteratur die Gestalt des Menschen oder Mannes als ein gängiges Charakteristikum, das Engelserscheinungen auszeichnet. Insbesondere die Engelsbeschreibungen in Ez 8,2 und in Ez 9–10 haben offensichtlich jene in Dan 8–12 beeinflusst. Weitere Passagen dieser Art sind in Gen 18,2, Jos 5,13–14 und Ri 13,6 zu finden. In der Tierapokalypse des ersten Henochbuches, die dem Danielbuch zeitlich näher liegt, werden »(Wesen), wie weißen Menschen gleich« (1 Hen 87,2) geschaut, die vom Himmel herabkommen. Ein Schreiberengel wird in 1 Hen 90,14.17.22 als ›Mann‹ bezeichnet und in 1 Hen 90,21 erscheinen »jene sieben ersten weißen Männer« (1 Hen 90,21).424 Die zahlreichen Ausdrücke sind dem Satz »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) sehr ähnlich und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der menschenähnlichen Gestalt in Dan 7 um ein himmlisches Wesen handelt.425 In Anbetracht der Ankunft »mit den Wolken des Himmels« (Dan 7,13) wird oftmals auf die Göttlichkeit der hinzukommenden Figur geschlossen. Das Wolkenmotiv begleitet gewöhnlich die Theophanien JHWHs. Dieser »[macht] Wolken […] zu seinem Wagen […] [und zieht einher] auf den Flügeln des Windes« (Ps 104,3). Newsom erinnert im Anschluss an Collins daran, dass im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels göttliche Attribute auch auf Engelwesen ausgeweitet wurden. Ein solches Phänomen ist in Dan 10 zu verzeichnen:

422 423 424 425

Vgl. Koch: Reiche der Welt, 162–163. Vgl. Koch: Reiche der Welt, 163; Collins: Daniel, 305–306. Vgl. Collins: Daniel, 306. Vgl. Koch: Reiche der Welt, 163.

Die angelologische Deutung

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5 […] da war ein Mann, in Leinen gekleidet, und seine Hüften waren umgürtet mit Gold von Ufas. 6 Und sein Leib war wie ein Türkis und sein Gesicht wie das Aussehen eines Blitzes. Und seine Augen waren wie Feuerfackeln und seine Arme und seine Füße wie der Anblick von glatter Bronze. Und der Klang seiner Worte war wie der Klang einer ⟨Volks⟩menge. (Dan 10,5–6pass)

Vor dem Hintergrund dieser Ausweitungstendenz ist das Göttlichkeit evozierende Wolkenmotiv der Deutung des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ als himmlisches Wesen dienlich.426 Des Weiteren bezieht sich Collins auf die Gegenüberstellung der menschenähnlichen Gestalt mit den vier Tierwesen aus dem Meer. Letztere stehen in der Funktion allegorischer Symbole, da sie in der Deutung explizit als Königtümer oder Könige identifiziert werden. Nach der Ansicht von Collins werden die allegorischen Tiersymbole (3–8) durch die Thronszene des ›Alten an Tagen‹ (9–10) von dem ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ (13–14) textlich getrennt. Der ›Alte an Tagen‹, »generally accepted as a mythic-realistic symbol for God«427, wird für ein außerhalb der Vision real existierendes Wesen gehalten. Durch die Trennung von den allegorischen Symbolen und der größeren textlichen Nähe zu dem mythisch-realen Symbol vermutet Collins in der menschenähnlichen Figur eine ähnliche Symbolfunktion wie die des ›Alten an Tagen‹. Dies bestätigt der Deutungsabschnitt in Dan 7: Dort wird der ›Alte an Tagen‹ nicht weiter identifiziert. Was den ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ anbelangt, wird dieser zwar mit den ›Heiligen des Höchsten‹ in Verbindung gebracht, denn beide Entitäten empfangen die göttliche Herrschaft. Eine explizite Gleichsetzung wie bei den allegorischen Tieren – »Diese großen Tiere – es sind vier – ⟨bedeuten⟩: vier Könige« (Dan 7,17) – wird jedoch nicht vorgenommen. Collins schließt aus diesen Beobachtungen, »that the ›one like a human being‹ is a symbol of the same order as the Ancient of Days – a mythic-realistic depiction of a being who was believed to exist outside the vision«428. Im Rahmen der angelologischen Deutung kann über die Argumente der Individualität, der Engelsnatur und der real geglaubten Existenz der menschenähnlichen Gestalt hinaus eine namentliche Identifizierung unternommen werden. Dieser Schritt bedarf jedoch einer Vorbemerkung. In dem Exegeseteil dieser Arbeit, genauer in der Analyse von Dan 7,18, wurde bereits ausführlich der Standpunkt nachvollzogen, dass die »Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18) und die »Heiligen« (Dan 7,21) mit himmlischen Wesen gleichzusetzen sind. In der he426 Vgl. Newsom: Daniel, 235–236. 427 Collins: Daniel, 305. 428 Collins: Daniel, 305.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

bräischen Bibel bezieht sich der substantivische Gebrauch des Begriffs ›Heilige‹, mit Ausnahme von Ps 34,10, auf Engel. In den Apokryphen und Pseudepigraphen des 2. Jahrhundert v. Chr. überwiegt ebenfalls diese Deutung: Das erste Henochbuch präsentiert ›Heilige‹ und ›Wächter‹ in angelologischer Bedeutung parallel zueinander (vgl. 1 Hen 12,2). In den Bilderreden 1 Hen 37–71 werden allerdings die irdischen gerechten ›Heiligen‹, deren wahres Wesen im Gericht geoffenbart wird, von den ›Heiligen‹ im Himmel unterschieden. In diesen Fällen impliziert der Ausdruck ›Heilige‹ stets eine Affinität zwischen beiden Gruppen. Die Literatur aus Qumran, insbesondere 1 QM und 1 QH, bezieht den Begriff hauptsächlich auf himmlische Wesen. Ambiguität besteht in nur einigen Fällen: »[T]he community believed itself to be mingling with the angels in the eschatological time.«429 Im aramäischen Danielbuch selbst werden ›Heiliger‹ oder ›Heilige‹ parallel zu ›Wächter‹ eindeutig für Engel gebraucht (vgl. Dan 4,10.14.20). In der hebräischen Buchhälfte findet sich ebenfalls »ein Heiliger« (Dan 8,13) als himmlisches Wesen. Angesichts dieser Literatur, die dem Danielkapitel 7 zeitlich sowie semantisch am nächsten liegt und in der das Substantiv ›Heilige‹ überwiegend Engel bezeichnet, ist in Dan 7 von der entsprechenden Verwendung auszugehen: Die »Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18) und die »Heiligen« (Dan 7,21) sind himmlische Heerscharen.430 Das »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) wird durch den Genitivus possessivus den ›Heiligen des Höchsten‹ als zugehörig bzw. untergeordnet gekennzeichnet und steht so für das Volk Israel.431 Beide Entitäten, sowohl die Himmelsmächte in den Versen 18 und 22 als auch das irdische Volk in Vers 27, sind im Deutungsabschnitt Empfänger der ewigen Herrschaft. Im Visionsabschnitt geht dieser Transfer jedoch an die menschenähnliche Einzelfigur, die beide kollektiven Entitäten vertritt. Koch erklärt, dass eine solche »Schwellenfunktion«432 oder Doppelfunktion dem Erzengel Michael in Dan 8–12 zukommt und dies eine namentliche Identifizierung der Gestalt in Dan 7,13–14 mit Michael ermöglicht. So ist in Dan 8 bezüglich des »Obersten des Heeres« (Dan 8,11) wahrscheinlich an den Engelsfürst Michael zu denken, dem das Heer himmlischer Wesen untersteht (vgl. Dan 8,10–11). In Dan 10,21 wird Michael dann als der Fürst des jüdischen Volkes vorgestellt. Darüber hinaus betont Koch, dass Michael derjenige ist, der in Dan 12,1 als König »die Zeit der Großreiche ablöst und das nachzeitliche Regiment übernimmt«433: Und in jener Zeit wird Michael auftreten, der große Fürst, der für die Söhne deines Volkes eintritt. Und es wird eine Zeit der Bedrängnis sein, wie sie ⟨noch⟩ nie gewesen ist,

429 430 431 432 433

Collins: Daniel, 314, vgl. auch 313–317. Vgl. Collins: Daniel, 317; Koch: Reiche der Welt, 149. Vgl. Collins: Daniel, 317; Koch: Reiche der Welt, 146. Koch: Reiche der Welt, 163. Koch: Reiche der Welt, 163.

Die angelologische Deutung

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seitdem ⟨irgend⟩eine Nation entstand bis zu jener Zeit. Und in jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, jeder, den man im Buch aufgeschrieben findet. (Dan 12,1)

Michael wird in Dan 8–12 nicht nur in seiner Doppelfunktion als Fürst der himmlischen ›Heiligen‹ und des Volkes Israel beschrieben, er wird mit Dan 12,1 auch explizit in den Kontext des eschatologischen Endes gestellt, welches in der Zeit der größten Bedrängnis das Reiche-Schema abschließt und das göttliche ewige Reich beginnen lässt (vgl. Dan 12,1–3). In Dan 7 hat diese doppelte Stellvertreterfunktion wie auch die Rolle der Ablösung der sukzessiven irdischen Mächte, symbolisiert durch vier Tierwesen, der ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ inne. Der intratextuelle Bezug macht eine Gleichsetzung des Menschenähnlichen in Dan 7 mit dem Engelsfürst aus Dan 8–12 plausibel. Sie wird von Newsom, Collins, Koch und Bauer gleichsam vertreten.434 Gegenüber dem Einwand von Hartman und Di Lella, vorgebracht in The Book of Daniel von 1978, die Deutung der ›Heiligen‹ als Engel habe keine Relevanz für die verfolgten Israeliten als Primärleser des Danielbuches, verweist Collins auf die Vorstellung einer Affinität zwischen real geglaubten himmlischen Wesen und den irdischen Gottesfürchtigen. In Dan 10–12 kämpfen Engelsfürsten für das Volk Israel gegen die Fürsten der Nationen Persien und Griechenland. Schließlich geht in Dan 12,1–3 mit dem Auftreten des Engels Michael die Rettung des Volkes einher, »[h]is victory in the heavenly battle entails the victory of the persecuted Jews on earth«435. Im Zuge der Erweckung vieler zu ewigem Leben werden »die Verständigen […] leuchten wie der Glanz der Himmelsfeste; […] wie die Sterne immer und ewig« (Dan 12,3). Für Collins ist dieser Ausdruck »an apocalyptic idiom for fellowship with the angels«436. »There is, then, a synergysm between the faithfull Israelites on earth and their angelic counterparts in heaven«437, ähnlich wie in den Bilderreden 1 Hen 37–71. Der Beistand himmlischer Mächte sowie die Herrschaftsübergabe an einen himmlischen Patron des irdischen Volkes muss für die Israeliten der Makkabäerzeit, deren Glaubensvorstellung Engelswesen miteinschloss, eine große Relevanz gehabt haben. Jene Synergie, die bislang nur für Dan 8–12 festgestellt wurde, ist auch in Dan 7 in der mehrfachen Herrschaftsübergabe enthalten: Der Patron des irdischen Volkes und zugleich Fürst der himmlischen Heere empfängt das ewige Königtum in den Versen 13–14 und mit ihm die Engelsheere in den Versen 18 und 22. In das neue Reich wird das Volk Israel in Vers 27 als irdischer Herrschaftsempfänger 434 Vgl. Newsom: Daniel, 236–238; Collins: Daniel, 318; Bauer: Buch Daniel, 158; Koch: Reiche der Welt, 163. 435 Collins: Daniel, 318. 436 Collins: Daniel, 318. 437 Collins: Daniel, 318.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

und -träger mitintegriert.438 Nach Newsom und Collins ist die mehrfache Übereignung des ewigen Reiches in Dan 7 kompatibel mit der politischen Theologie in Dan 2–6. Dort wird das Motiv der Herrschaftsverleihung an nichtjüdische Könige und dessen Rücknahme nach einer bestimmten Zeit stets von dem Thema der obersten Souveränität Gottes begleitet,439 wie es die Doxologien in Dan 3,33, 4,31 und 6,27 zum Ausdruck bringen. Als Parallele dazu zeigt Collins auf, dass in der Kriegsrolle der Qumran-Schriften Gottes Souveränität in politischen und kriegerischen Angelegenheiten durch Himmelswesen vermittelt wird. »[I]n 1 QM 12 [and similarly in 1 QM 6,6] […] the angelic holy ones help Israel in order to make the glory of God’s kingdom effective on earth […].«440 Ebenso vermitteln in Dan 7 die menschenähnliche Gestalt und die ›Heiligen des Höchsten‹ Gottes Reich, das sich auf Erden in der Herrschaft des jüdischen Volkes manifestiert.441 Der vorgenommene Rückschluss von Dan 8–12 auf Dan 7, so kann zusammenfassend gesagt werden, stützt einerseits die angelologische Deutung der »Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18) bzw. der »Heiligen« (Dan 7,21) als himmlisches Gegenstück zu dem »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) und ermöglicht andererseits die namentliche Identifizierung der menschenähnlichen Gestalt in Dan 7,13–14 mit dem Engelsfürsten Michael. Darüber hinaus bestätigen die ersten Bearbeitungen von Dan 7 die Deutung des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ als Engelswesen, hier sind vor allem die Bilderreden 1 Hen 37– 71 zu nennen.442 Eine namentliche Identifizierung der Gestalt mit Michael wird in der Qumran-Kriegsrolle vorgenommen: In 1 QM 17,7–8 etabliert Gott die Herrschaft Michaels im Himmel und die des Volkes Israel auf der Erde.443 Eher als Randnotiz der angelologischen Deutung ist die These Kochs zu nennen, dass Dan 7 zwischen verschiedenen Engelsgruppen differenziert und diesen, dem Engelsfürsten Michael untergeordnet, unterschiedliche Ränge zuweist. Seiner Ansicht nach sind die »Heiligen« (Dan 7,21.22) und die »Heiligen des Höchsten« (7,22) nicht deckungsgleich. Vers 22 setzt die »Heiligen des Höchsten« (7,22) als Richterinstanz über die »Heiligen« (Dan 7,22), die von dem ihnen übergeordneten Gericht das Königtum zugesprochen bekommen. Zudem werden die ›Heiligen‹ in Vers 21 von dem einzelnen Horn vollständig besiegt, während »die Heiligen des Höchsten« (Dan 7,25) lediglich ›aufgerieben‹ und demnach in geringerer Weise beeinträchtigt werden.444 Darüber hinaus übersetzt Koch die aramäische Konstruktusverbindung ‫ קדישי עליונין‬nicht mit »[die] Hei438 439 440 441 442 443 444

Vgl. Collins: Daniel, 317–318. Vgl. Newsom: Daniel, 219; Collins: Daniel, 319. Collins: Daniel, 319. Vgl. Collins: Daniel, 319. Vgl. Collins: Daniel, 318. Vgl. Collins: Daniel, 319; Newsom: Daniel, 236. Vgl. Koch: Reiche der Welt, 144–145.

Die Deutung auf JHWH

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ligen des Höchsten« (7,22), dessen Element ›der Höchste‹ im Pluralis Majestatis auf Gott verweist, sondern mit »›die Heiligsten unter den Hohen‹«445 im Genitivus partitivus und mit superlativischer Bedeutung. Dieser Ausdruck soll, so Koch, die höchste Engelsklasse, die der Erzengel, unter den himmlischen Wesen bezeichnen.446 Über beiden Rängen steht der Engelsfürst Michael wie ein Einzelmensch oder »›[w]ie ein herausragender Mensch‹«447 als Verkörperung einer idealen Menschlichkeit.448

4.5

Die Deutung auf JHWH

Michael Segal schließt in seiner Danielanalyse Dreams, Riddles and Visions von 2016 an den Aspekt der Göttlichkeit der menschenähnlichen Gestalt in Dan 7 an. Im Attribut der Ankunft »mit den Wolken des Himmels« (Dan 7,13) sieht er eine Referenz auf den Gott JHWH (vgl. Ps 68,33–34; 104,3). Der somit göttlich auftretenden Figur wird in Vers 14 eine ewige Herrschaft zuteil, dessen lobpreisende Beschreibung in Semantik und Sprache den Doxologien, den Lobliedern der Herrschaft Gottes, aus den vorangehenden Danielkapiteln entspricht. Die betreffenden Passagen sind Dan 3,31–33; 4,31; 6,26–27 und 7,14.27. Segal hebt insbesondere einige Sätze oder Satzelemente hervor, um deren Abhängigkeit untereinander zu verdeutlichen: dessen Herrschaft eine ewige Herrschaft ist (Dan 4,31) Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft (Dan 7,14) Sein Reich ist ein ewiges Reich (Dan 3,33) Sein Reich ist ein ewiges Reich (Dan 7,27) alle Völker, Nationen und Sprachen (Dan 3,31) alle Völker, Nationen und Sprachen (Dan 6,26) alle Völker, Nationen und Sprachen (Dan 7,14) und sein Königreich wird nicht zerstört werden (Dan 6,27) und sein Königtum ⟨so⟩, dass es nicht zerstört wird (Dan 7,14)

In Anbetracht der gleichlautenden Sprache hält es Segal für sehr wahrscheinlich, dass der Autor von Dan 7 bewusst eine Verbindung zu den vorausgehenden Passagen hergestellt hat. Er führt weiter aus: »[T]hese literary allusions point toward the identification of the ›one like a man‹ in the vision of Daniel 7 with the

445 446 447 448

Koch: Reiche der Welt, 153. Vgl. Koch: Reiche der Welt, 151–154. Koch: Reiche der Welt, 171. Vgl. Koch: Reiche der Welt, 171–172.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

subject of the doxologies in the previous chapters.«449 Die menschenähnliche Gestalt, in Dan 7,14 selbst Subjekt einer Doxologie, ist demnach mit dem Gott JHWH gleichzusetzen. Darüber hinaus weist Segal darauf hin, dass das Element der Menschenähnlichkeit, das die Figur in Dan 7,13 auszeichnet, ein Indiz für Gott sein kann, wie sich mit Ez 1 belegen lässt:450 26 […] auf dem, was wie ein Thron ⟨aussah⟩, oben auf ihm eine Gestalt, dem Aussehen eines Menschen gleich. 28 […] Das war das Aussehen des Abbildes der Herrlichkeit des HERRN. (Ez 1,26.28pass)

Die in dem Ausdruck ‫ כבר אנש‬enthaltene ‫כ‬-Formulierung, die ebenfalls in der Beschreibung des Löwen und des Leoparden in Dan 7,4.7 erscheint und so eine enge Verbindung zwischen der menschenähnlichen Figur und den vier Tierwesen herstellt, wertet Segal als Beleg dafür, dass Figur und Tiere einer einheitlichen originalen Textfassung entstammen. Eine ähnliche Konstellation ist in der Tierapokalypse im ersten Henochbuch zu finden. Dort agieren Tiere als Symbole für Menschen. Die Darstellung von Wesen in Menschengestalt hingegen stellt letztere als einzigartig heraus und impliziert deren halbgöttlichen oder göttlichen Status (vgl. 1 Hen 87,2; 90,14.17.21). In Dan 7 ist eine derartige Hervorhebung einer Menschengestalt als ein höheres Wesen gegenüber Tieren ebenso zu verzeichnen.451 Wie dem Menschenähnlichen in Dan 7,13–14 wird dem »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) im Deutungsabschnitt eine ewige Herrschaft zuteil, deren Transfer in beiden Fällen durch eine Doxologie bestätigt wird. Beide Entitäten stehen daher in einem symmetrischen Bezug zueinander, »[t]he one like a man is the heavenly representative of the ›people‹ of the ‫ קדישי עליונין‬on earth«452. Es handelt sich hierbei um das Volk Israel.453 Ein gewichtiges Argument für die hier dargestellte Deutung ist Segals alternativer Übersetzungsvorschlag für den Ausdruck ‫קדישי עליונין‬, der im Deutungsabschnitt in Dan 7,18.22.25 vorkommt. Die Elberfelder Bibel gibt die traditionelle Version wieder: »[die] Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18.22.25). Der Plural ‫קדישין‬, ›Heilige‹, in substantivischer Funktion wird üblicherweise als Plural übersetzt, kann neben der Bedeutung der Anzahl aber auch als Pluralis Majestatis oder excellentiae und demnach als Referenz auf JHWH gelten. Zum Vergleich zieht Segal die Passage Spr 9,10 heran, in der JHWH, im Singular, im

449 450 451 452 453

Segal: Dreams, 138. Vgl. Segal: Dreams, 135–139. Vgl. Segal: Dreams, 134. Segal: Dreams, 140. Vgl. Segal: Dreams, 139–140, 143.

Die Deutung auf JHWH

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synonymen Parallelismus zu ‫קדשים‬, im Plural, steht. Aufgrund der Äquivalenz beider Begriffe wird ‫ קדשים‬als Singular übersetzt: der ›Heilige‹. Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang; und Erkenntnis des ⟨allein⟩ Heiligen ist Einsicht. (Spr 9,10) ‫ יהוה‬im Singular ‫ קדשים‬im Plural

Das zweite Wort der Wendung, ‫עליונין‬, ›der Höchsten‹, in der Pluralform, wird von den meisten Exegeten als Pluralis Majestatis gewertet und daher in der Übersetzung als Singular gehandhabt. Der gesamte Ausdruck ‫ קדישי עליונין‬wird traditionell als eine Kombination aus einem Pluralnomen und einem Pluralnomen mit Singular-Bedeutung gedeutet: ›die Heiligen‹ + ›des Höchsten‹. Der erste Begriff befindet sich im Status constructus, beide Wörter gehen daher eine Konstruktusverbindung ein, deren Elemente durch den Genitiv miteinander verbunden sind. Segal schlägt nun vor, nicht nur einen der beiden Begriffe, sondern den gesamten Ausdruck als Pluralis Majestatis oder excellentiae zu werten. Für diese Deutung gibt er zwei Erklärungsmöglichkeiten an: Zum einen könnte es sich bei der Wortverbindung um ein »synonymes Wortpaar [handeln], dessen Komponenten einander ergänzen«454. Synonymie besteht dann, wenn zwei Begriffe gegeneinander austauschbar sind, wie es die markierten Wörter im folgenden Beispielsatz visualisieren: Und Weisheit habe ich nicht gelernt, und Erkenntnis des Heiligen kenne ich nicht. (Spr 30,3)

Der Ausdruck ‫ קדישי עליונין‬in Dan 7 ist dann mit ›die Heiligen Höchsten‹ oder, bei Beachtung des Pluralis Majestatis, mit ›der Heilige Höchste‹ zu übersetzen. Zum anderen kann ‫קדישין‬, ›Heilige‹, in der Status-constructus-Form, wenn auch als ein seltenes Phänomen, auf ein Nomen regens hinweisen, das nicht durch ein Nomen rectum, sondern durch ein Adjektiv ergänzt wird und dann die identische Bedeutung trägt wie die Wendung eines absoluten Nomens mit Adjektiv. Die Übersetzung des gesamten Ausdrucks wäre dann, wiederum den Pluralis Majestatis beachtend, ›der höchste Heilige‹. Beide Übersetzungswege mit den Ergebnissen ›der Heilige Höchste‹ oder ›der höchste Heilige‹ lassen es schließlich zu, die Wendung ‫ קדישי עליונין‬in Dan 7,18.22.25 auf JHWH beziehen.455 In Anbetracht der Konstellation zweier göttlicher Gestalten im Visionsabschnitt von Dan 7 und der bereits nachvollzogenen Identifikation der menschenähnlichen Figur als JHWH plädiert Segal dafür, die thronende Gestalt, den »Alten an Tagen« (Dan 7,13), als den Hauptgott El aufzufassen. Wichtig für die 454 »synonymous word pair, whose components complement one another«, übersetzt aus: Segal: Dreams, 142. 455 Vgl. Segal: Dreams, 140–143.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

Erörterung dieser Deutung sind die Texte Dtn 32,8–9 und Ps 82, von denen beide einen kanaanäischen Einfluss bezeugen können. Nach Segal ist Dan 7 durch eine bewusst gesetzte Referenz mit jenen Texten verknüpft: Es handelt sich um die aramäische Wurzel ‫ חס״ן‬in den Versen 18 und 22, welche die Bedeutung ›erben‹ tragen kann.456 Die Elberfelder Bibel übersetzt an diesen Stellen »besitzen« (Dan 7,18) und »in Besitz n[e]hmen« (Dan 7,22), während die Einheitsübersetzung »behalten« (Dan 7,18 EÜ) und »erh[a]lten« (Dan 7,22 EÜ) schreibt. Da in Dtn 32 und Ps 82 ebenfalls die Semantik von ›Erbe‹ oder ›Erbteil‹ vorherrscht (vgl. Dtn 32,8–9; Ps 82,8), kann die Wurzel ‫ חס״ן‬mit der Bedeutung ›erben‹ in Dan 7,18.22 als intertextueller Verweis auf jene Texte gesehen werden.457 Dtn 32,8–9 berichtet von der urzeitlichen Land- und Nationenverteilung durch »de[n] Höchste[n]« (Dtn 32,8) an die »Gottessöhne« (Dtn 32,8 EÜ). Angesichts der Konstellation eines Obergottes, des ›Höchsten‹, und den untergeordneten Figuren göttlichen Charakters ist es möglich, gemäß der mythischen Deutung, ersteren mit El zu identifizieren und JHWH als einen der untergeordneten Götter aufzufassen, dem Israel als sein Erbanteil zukommt.458 8 Als der Höchste die Völker als Erbe verteilte, als er die Menschheit aufteilte, legte er die Gebiete der Völker nach der Zahl der Gottessöhne fest; 9 der HERR nahm sich sein Volk als Anteil, Jakob wurde sein Erbteil. (Dtn 32,8–9 EÜ)

Dtn 32,8–9 und Dan 7 teilen die theologisch-kosmologische Konzeption einer übergeordneten und einer untergeordneten Gottheit sowie das Thema der Weitergabe von Nationen an untere Gotteswesen. Während Dtn 32,8–9 von der urzeitlichen Land- und Nationenverteilung erzählt, im Rahmen derer JHWH mit Israel »nur einen kleinen, und doch bedeutsamen, Anteil«459 erbt, wird in der Apokalypse Dan 7 eine endzeitliche Zurücknahme und Neuvergabe der Herrschaft präsentiert, die, nun als eine universale Herrschaft, allein auf den Gott JHWH übertragen wird. Zwischen beiden Texten existiert demnach eine konzeptionelle Entwicklung »[from] the national God of Israel […] [to] a universal God, to whom all nations will be subservient«460. Ein Verbindungsstück zwischen diesen Texten, und folglich eine nähere Quelle für Dan 7, ist möglicherweise Ps 82. Für die Rückverfolgung der Konstellation zweier Gottesfiguren und dem Motiv der Nationenzuteilung an eine einzige Gottheit als grundlegendes Muster in Dan 7 knüpft Segal an David 456 Vgl. Segal: Dreams, 144–145. 457 Vgl. Segal: Dreams, 144–145. 458 Gegenüber der mythischen Deutung von Dtn 32,8–9 wird auch die entmythologisierte Interpretation vertreten, gemäß derer JHWH die Position des Obergottes innehat und bei der Landaufteilung die Nation Israel für sich behält. Vgl. Segal: Dreams, 145. 459 »only a small, yet significant, portion«, übersetzt aus: Segal: Dreams, 147. 460 Segal: Dreams, 147, vgl. auch 146–147.

Die Deutung auf JHWH

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Frankels Deutung des Psalms 82 an. Viele Exegeten haben in den Begriffen ‫עדת־אל‬, »Gottesversammlung« (Ps 82,1), und ‫בני עליון‬, »Söhne des Höchsten« (Ps 82,6), Spuren des polytheistischen Götterrates unter dem Hauptgott El erkannt, obgleich die meisten die These vertreten, »that the author of the psalm has transformed this earlier myth by promoting YHWH to the head of the pantheon«461. Demgegenüber sieht Frankel JHWH in der Position eines untergeordneten Gottes, der in einer Anhörung vor El als Ankläger der korrupten und Ungerechtigkeit stiftenden Götter auftritt. Ein Indiz für die untergeordnete Position JHWHs ist der Tatbestand, dass dieser »in der Gottesversammlung [steht und] […] inmitten der Götter richtet« (Ps 82,1), während der Hauptgott des Pantheons gewöhnlich als sitzend und die Räte als vor ihm stehend dargestellt werden. Auch hat die Proklamation im Endvers »Stehe auf, Gott, […] du sollst zum Erbteil haben alle Nationen« (Ps 82,8) eine größere Bedeutungskraft und eine größere Kongruenz mit dem inhaltlichen Kontext, wenn jener Gott in dem Psalm nicht die Rolle eines Hauptgottes innehat.462 Darüber hinaus identifiziert Frankel, entgegen der konventionellen Deutung, die Verse 6–7 seien als Rede JHWHs und Vers 8 als Zuruf von einem Psalmisten zu lesen, die Verse 6–8 als einheitliche Rede Els.463 6 Ich sagte ⟨zwar⟩: Ihr seid Götter, Söhne des Höchsten seid ihr alle! 7 Doch wie ein Mensch werdet ihr sterben, wie einer der Obersten werdet ihr fallen. 8 Stehe auf, Gott, richte die Erde! Denn du sollst zum Erbteil haben alle Nationen. (Ps 82,6–8)

Nach der Lesart Frankels ist El, der oberste Gott, derjenige, der in Vers 7 das Todesurteil über die korrupten Götter spricht, deren Erbteile, die Souveränität über Völker, zurücknimmt und in Vers 8 dem alleinigen Erben JHWH die Herrschaft über alle Nationen bewilligt. Ps 82 ist dann als eine unmittelbare Weiterentwicklung von Dtn 32,8–9 zu sehen: El macht seine urzeitliche Landund Nationenzuteilung an die Götter, von welcher Dtn 32,8–9 erzählt, wieder rückgängig und vergibt die universale Herrschaft an JHWH. Die mythische Deutung von Ps 82, El als Obergott annehmend, ermöglicht aber auch eine na461 Segal: Dreams, 148, vgl. auch 147–148. 462 Vgl. Frankel: El, 4–5. 463 Die konventionelle Lesart deutet Vers 8 als ein Bittruf der jüdischen Gemeinde an JHWH, die Herrschaft zu übernehmen. Der Zuruf ›Stehe auf‹ entspricht, eine Bitte einleitend, der Gattung eines Klagepsalms. Ps 82 präsentiert jedoch ein mythisches Drama, in dem korrupte Nationalgötter, die ihre Völker vernachlässigt haben, angeklagt und verurteilt werden. Der Bericht über Ungerechtigkeit gilt der Situation jener fremden Nationen und nicht der israelitischen Gemeinde. Es kann sich daher nicht um einen Klagepsalm handeln. Die Zusammenfassung der Verse 6–8 zu einer Redeeinheit ist dadurch begründet, dass an die Ankündigung in Vers 7, dass die korrupten Götter ›fallen‹ werden, der Appell in Vers 8, JHWH solle ›aufstehen‹, anschließt. Ein Bruch oder Sprecherwechsel an dieser Stelle ist daher auszuschließen. Vgl. Frankel: El, 9–10.

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Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

türliche Fortsetzung des Psalms in Dan 7. Denn in der Danielvision erscheinen im Rahmen einer Thron- und Gerichtsszene ebenfalls ein älterer Obergott, der die verliehene Herrschaftsautorität zurücknimmt, und eine untergeordnete göttliche Figur, die die Souveränität über alle Weltnationen erhält. Ps 82 und Dan 7 teilen schließlich, im Licht der von Frankel vorgeschlagenen Lesart, folgende Parallelen: die inhaltliche Struktur von Zurücknahme und Vergabe, die Schwerpunktsetzung auf Nationen und die Semantik des Erbes. Angesichts dieser Nähe betrachtet Segal Dan 7 als eine innerbiblische Interpretation von Ps 82. Die Konstellation des Hauptgottes El und des untergeordneten JHWHs ist daher auf den »Alten an Tagen« (Dan 7,13) und den »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) in dem Visionsabschnitt von Dan 7 übertragbar.464 Nach Segal wird die Zwei-Götter-Konstellation im Deutungsabschnitt in Dan 7,25 widergespiegelt: Und er wird Worte reden gegen den Höchsten und wird die Heiligen des Höchsten [‫ ]קדישי עליונין‬aufreiben. (Dan 7,25pass)

Viele Exegeten vertreten die Annahme, dass das ›Reden gegen den Höchsten‹ und das ›Aufreiben‹ der ‫ קדישי עליונין‬als separate Aktionen gegen separate Entitäten zu werten sind. Segal knüpft an diese Deutung an und stellt fest, dass dieser Parallelismus im Deutungsabschnitt dem Götter-Dualismus im Visionsteil entspricht. Da der Ausdruck ‫קדישי עליונין‬, von Segal mit ›der Heilige Höchste‹ oder ›der höchste Heilige‹ übersetzt, bereits mit der menschenähnlichen Gestalt in Dan 7,13 gleichgesetzt und mit JHWH identifiziert wird, schlägt Segal vor, »den Höchsten« (Dan 7,25) als den Hauptgott El zu deuten: Dan 7 Deutung:

Vision:

Identifizierung:

Worte reden gegen den Höchsten

die Heiligen des Höchsten aufreiben (Dan 7,25)

der Alte an Tagen

einer wie der Sohn eines Menschen (Dan 7,13)

Hauptgott El

untergeordneter JHWH

Der Interpretation von Dan 7 mit El als Hauptgott in der gerichtlichen Thronszene und dem untergeordneten Gott JHWH, der die universale Herrschaft erhält, liegt die These zugrunde, dass das Kapitel unabhängig von der späteren Buchhälfte Dan 8–12 interpretiert werden muss. »Chapters 2–7 existed as a complete composition in Aramaic before the Hebrew apocalypses in chapters 8–

464 Vgl. Segal: Dreams, 149.

Die Deutung auf JHWH

95

12 […] were added to the book.«465 Um die Verschiedenartigkeit der Deutungsweisen des Autors von Dan 7 und der Autorenschaft von Dan 8–12 zu verdeutlichen, weist Segal auf die aus Dan 7,25 übernommene Art der Zweiteilung in Dan 8 und 11 hin, die ebenfalls zwei Angriffe auf zwei separate Entitäten parallelisiert: Dan 8 Und es wuchs bis an das Heer des Himmels, und es warf ⟨einige⟩ von dem Heer […] herab […]. Selbst bis an den Obersten des Heeres wuchs er ⟨empor⟩. (Dan 8,10–11pass) Dan 11 und er wird sich erheben und sich groß machen gegen jeden Gott, und gegen den Gott der Götter wird er unerhörte Reden führen. (Dan 11,36pass)

Im Kontext dieser Passagen müsste der Ausdruck ‫ קדישי עליונין‬in Dan 7,25 als eine Gruppe himmlischer oder göttlicher Wesen gedeutet werden, die JHWH unterstellt ist. Segal schließt daraus, dass die späteren Visionen in Dan 8–12 als innerdanielische Interpretationen von Dan 7 den theologischen Dualismus mit El und JHWH neu und anders begreifen, »promoting YHWH to the head of this court, and equating him the Ancient of Days. This promotion, however, created a vacuum for the identification of the one like a man, and opened up the possibility of a new character, a divine second-in–command over Israel«466.

Die entstandene Leerstelle, so die Erklärung Segals, wird dann in den hebräischen Danielvisionen von der Engelsfigur Michael eingenommen, worauf die Passagen Dan 10,13.21 und 12,1 hindeuten.467 In Abgrenzung zu der Deutung des »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) und des »Alten an Tagen« (Dan 7,13) im Kontext der anschließenden Kapitel 8–12 hat, mit Segal, die These einer Übertragung der Zwei-Götter-Konstellation aus Dtn 32,8–9 und Ps 82 Vorrang: Die mit den Wolken des Himmels kommende, menschenähnliche und herrschaftsempfangende Figur ist, gemäß der hier dargestellten Deutung, JHWH selbst.

465 Segal: Dreams, 150. 466 Segal: Dreams, 152. 467 Vgl. Segal: Dreams, 150–152.

96

4.6

Identifizierung der ›Menschengestalt‹ in der Forschung

Die Deutung als Rolle

Auch Goldingay fordert in seinem Danielkommentar von 1996, dass die späteren hebräischen Danielkapitel nicht auf Dan 7 rückbezogen werden dürfen, um die Identität der menschenähnlichen Figur in Dan 7,13–14 zu klären. Darüber hinaus beobachtet er, dass, während die Tierwesen im Visionsabschnitt erscheinen und im anschließenden Deutungsabschnitt interpretiert werden, eine entsprechende Interpretation der menschenähnlichen Gestalt in der Deutung ausbleibt; sie wird sogar nicht einmal erwähnt.468 Goldingay differenziert in seinem Erklärungsansatz terminologisch zwischen dem Symbol »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13), dem Referenten, für den das Symbol steht, und den »Bedeutungen und Werturteilen«469, die auf den Referenten bezogen werden. Sodann beschreibt er die unterschiedlichen Funktionen der »symbolic vision«470, also der Schauung in Dan 7, und der anschließenden »interpretative vision«471, der Deutung oder Interpretation innerhalb der gesamten Traumvision. Ziel einer symbolischen Vision ist es, »Bedeutungen und Werturteile« auf den Referenten oder Bedeutungsempfänger zu beziehen, ohne dabei den Fokus zu sehr auf die Identität des Referenten zu lenken. Für die Exegese der symbolischen Vision schlussfolgert Goldingay daher: »Indeed, to be mainly concerned […] with identifying the referent of the symbols is to miss the point of the [symbolic] vision.«472 Die Offenbarung oder Erklärung der Referenten kommt als Aufgabe der visionsinternen Deutung zu. Dort kommt jedoch, wie bereits erwähnt, die menschenähnliche Gestalt gar nicht vor. Die Tierwesen als Symbole werden in der Interpretation eindeutig mit vier weltlichen Reichen identifiziert, primär relevant ist deren historische Bedeutung, oder Referenz, obgleich ihnen auch eine metahistorisch-theologische Bedeutung beigemessen wird: »[They] portray the rise and the fall of wordly kingdoms […].«473 Die Referenten der Tiersymbole sind eben diese Mächte. Bezüglich des göttlichen Gerichts und der Menschengestalt in der symbolischen Vision von Dan 7 ist primär die metahistorische und theologische Bedeutung relevant, deren Referenten in der Deutung sind jedoch weniger transparent: »[T]hey represent ultimate events and realities which will come, but which are not yet present […].«474 »They affirm that the wordly kingdoms will be replaced by God’s

468 469 470 471 472 473 474

Vgl. Goldingay: Daniel, 172. »significances and value judgments«, übersetzt aus: Goldingay: Daniel, 169. Goldingay: Daniel, 169. Goldingay: Daniel, 169. Goldingay: Daniel, 169. Goldingay: Daniel, 169. Goldingay: Daniel, 169.

Die Deutung als Rolle

97

kingdom; they do not make explicit how.«475 Wäre die menschenähnliche Gestalt, das Symbol, jedoch mit einem konkreten Individuum wie beispielsweise dem Engelsfürst Michael gleichzusetzen, müsste sie, so führt Goldingay aus, auch in der Deutung auftreten und dort als Referent des Symbols ausgewiesen werden.476 Zusammenfassend kann, mit Goldingay, festgehalten werden, dass das Symbol der menschenähnlichen Figur die Bedeutung der Ablösung der weltlichen Mächte und der Durchsetzung der ewigen Herrschaft Gottes hervorruft. Die Deutung aber gibt wenig Aufschluss über den Referenten des Symbols. Goldingay kommt daher zu dem Schluss, dass das Danielkapitel gar nicht auf eine Identifizierung des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ angelegt ist: »Chap. 7 invites us to focus on the humanlike figure’s role rather than its identity.«477

475 Goldingay: Daniel, 169. 476 Vgl. Goldingay: Daniel, 168–169, 172. 477 Goldingay: Daniel, 172.

5.

Bewertung der Positionen

Die vorgestellten Deutungstypen in der Identitätsdebatte über die Figur, die »wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) ist, sollen nun bewertet werden.

5.1

Die messianisch-davidische Deutung

Die messianisch-davidische Deutung, 1983 von Beasley-Murray und 1993 von Haag vertreten, wirkt vor dem Hintergrund der doppelten Repräsentativfunktion des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ plausibel. Das Konstellationsgefüge der individuellen Gestalt – Herrschaftsempfänger im Visionsabschnitt – und der kollektiven Gruppe – Herrschaftsempfänger im Deutungsabschnitt – lässt sich so lesen, dass die Einzelgestalt das Kollektiv im Sinne eines »representative of the nation«478 vertritt.479 Die Abgrenzung zu der Deutung der Figur als ein »corporate symbol for the nation«480, in der Funktion eines Kollektivsymbols, welches das Volk Israel verkörpert, ist angesichts des folgenden Arguments von BeasleyMurray nachvollziehbar: »[I]t was unusual for later Jews to have an eager expectation of the kingdom of God without a representative of the people and of the kingdom.«481 Beasley-Murrays Beobachtung, dass die doppelte Repräsentativfunktion in Dan 7 der Position des Messias in den prophetischen Büchern entspricht,482 bestärkt die messianisch-davidische Deutung: »In the prophetic tradition the Messiah holds […] such a position of representation of Yahweh in the final sovereignty and of the people privileged to be included in the rule.«483 Bestätigend kommt hinzu, dass Haag den Aspekt der Endzeitlichkeit, Kennzeichen der Ablösung der weltlichen Reiche durch das ewige göttliche Reich in 478 479 480 481 482 483

Beasley-Murray: Interpretation, 55. Vgl. Beasley-Murray: Interpretation, 55. Beasley-Murray: Interpretation, 55. Beasley-Murray: Interpretation, 55. Vgl. Beasley-Murray: Interpretation, 55. Beasley-Murray: Interpretation, 55.

100

Bewertung der Positionen

Dan 7, in der »eschatologisierte[n] Zion-David-Tradition«484 in Jes 6–12 wiederfindet. In der Darstellung des endzeitlichen Friedensreichs in Jes 11 wird, so Haag, »der neue David«485 als derjenige vorgestellt, der »als der endzeitliche Repräsentant der ewigen Königsherrschaft Jahwes in einer von Gottes Heil erfüllten Schöpfung regiert«486. Der davidisch-messianische König wird in Dan 7 nicht als solcher namentlich erwähnt geschweige denn als solcher gedeutet. Beasley-Murray entkräftet das Argument, David könne daher mit der apokalyptischen Gestalt nicht gemeint sein: »The concept can be held without using the term Messiah, as we see in the Servant Songs of Deutero-Isaiah, wherein a fluidity of concept is observable of a servant-leader and servant-people.«487 Demgegenüber kann mit Collins festgestellt werden, dass das Danielbuch generell weder Hinweise auf das davidische Königtum liefert noch die davidische Deutung unterstützt. Einzig Dan 9,25–26 berichtet im Kontext der »Rückführung des Volkes und de[s] Wiederaufbau[s] Jerusalems« (Dan 9,25 EÜ) von der »Ankunft eines Gesalbten, eines Fürsten« (Dan 9,25 EÜ). Dieser wird allerdings in Vers 26 von einem zerstörerischen Fürsten wieder besiegt. Bei der Figur handelt es sich nach Collins um den historischen Hohepriester Onias III. Eine messianische Bedeutung dieses ›Gesalbten‹ in Dan 9,25 liegt demnach nicht vor.488 Ein weiteres Kriterium für eine davidische Deutung ist die Thematik der Heilsgeschichte des Gottesvolkes. Diese ist jedoch, so Lacocque, in Dan 7 nicht zu erkennen. Für ihn spannt sich das Geschehen in der Danielvision von der Urschöpfung, symbolisiert durch das aufgewühlte Meer in Vers 2, über die Weltgeschichte bis hin zur eschatologischen Neuschöpfung. Dieser Spannungsbogen bietet eine universal-kosmologische Geschichte, deren Vollendung eher durch das Kommen eines universalen Adams markiert wird, »[f]or the ›Anointed One‹ belongs to Heilsgeschichte and only indirectly to universal history«489. Es geht in Dan 7 nicht um die Wiederherstellung des Volkes Israel, sondern um eine universale Neuschöpfung.490 Diesem Argument kann Haag jedoch entgegnen, dass in der Abfolge der destruktiven Tierwesen durchaus Heilsgeschichte gelesen werden kann, da das die Tiere kennzeichnende Passivum divinum der alttestamentlichen Auffassung entspricht, nach der JHWH »im Vollzug seiner heilsge-

484 485 486 487 488 489 490

Haag: Menschensohn, 178. Haag: Menschensohn, 179. Haag: Menschensohn, 179, vgl. auch 178–179. Beasley-Murray: Interpretation, 55. Vgl. Collins: Daniel, 309. Lacocque: Allusions, 125. Vgl. Lacocque: Allusions, 125.

Die Menschenkönigsdeutung

101

schichtlichen Offenbarung »fremde […] Reiche als Werkzeuge seines Gerichtshandelns«491 gebraucht.«492 Ein zentrales Argument für die davidische Deutung ist die Beobachtung, dass in Dan 7,13–14 die Herrschaftsübergabe an die Figur, die vor die thronende Gottheit gebracht wird, als »an eschatological form of the ancient Semitic ritual for the proclamation of a king«493 zu sehen ist.494 Allerdings kann die DavidTradition das für Dan 7 zentrale Element der Menschenähnlichkeit nicht hergeben. Bezüglich des Psalms 89 stellt Mosca fest: »In Daniel 7 the one who receives eternal kingship and dominion is not the David of Psalm 89, but ›one like a son of man‹.«495 Die »eschatologisierte Zion-David-Tradition«496 in Jes 6–12, die nach Haag Aufschluss über die Vollendung der »Schöpfungs- und Geschichtsplanung Gottes«497 in Dan 7 geben soll,498 enthält ebenfalls keine sprachliche Wendung, die der Formulierung »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) ähnlich kommt (vgl. Jes 6–12). Die messianisch-davidische Deutung für die menschenähnliche Figur in Dan 7 kann angesichts dieser Tatsache ausgeschlossen werden.

5.2

Die Menschenkönigsdeutung

Der soeben vorgetragene Einwand gegen die messianisch-davidische Lösung leitet über zur Position Moscas und Lacocques, die für die Identifizierung der fraglichen Gestalt den mit Königsattributen versehenen Menschen oder »des Menschen Sohn« (Ps 8,5) aus Ps 8 heranziehen.499 Der entsprechende Ausdruck zu aramäisch ‫בר אנש‬, »Sohn eines Menschen« (Dan 7,13), ist im Hebräischen zwar ‫בן אנוש‬,500 der im Alten Testament häufiger belegte Begriff hebräisch ‫בן אדם‬ ist dem jedoch sehr ähnlich. Letzterer kommt in Ps 8,5 vor.501 Angesichts des Einwands gegen die Menschenkönigsdeutung, dass »des Menschen Sohn« (Ps 8,5) – insbesondere durch die Parallelisierung mit »Mensch« (Ps 8,5) – ein Gattungsbegriff für die Menschheit ist,502 dementsprechend also nicht als Kö491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502

Haag: Menschensohn, 161. Vgl. Haag: Menschensohn, 160–162. Beasley-Murray: Interpretation, 55–56. Vgl. Beasley-Murray: Interpretation, 55–56. Mosca: Ugarit and Daniel, 515. Haag: Menschensohn, 178. Haag: Menschensohn, 170–171. Vgl. Haag: Menschensohn, 170, 178–179. Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 515–516; Lacocque: Allusions, 126. Vgl. Collins: Daniel, 304–305. Vgl. Collins: Daniel, 304; Newsom: Daniel, 235. Vgl. Collins: Daniel, 293, 304.

102

Bewertung der Positionen

nigstitel gewertet werden darf, argumentiert Mosca folgendermaßen: »[T]he psalmist has ›democratized‹ the office of king[,] […] for the psalmist all human beings are, at least ideally, royal figures, God’s viceregents on earth.«503 Von der Auffassung, »des Menschen Sohn« (Ps 8,5) als Titel aufzufassen, sieht Mosca ab.504 Ein gewichtiges Argument für die Identifizierung der menschenähnlichen Figur in Dan 7,13–14 mit dem Menschenkönig aus dem Psalm ist die Annahme, dass dem Menschen in Ps 8 eine universale Herrschaftsposition in der Schöpfung zukommt. Von dieser soll die Übergabe einer ewigen universalen Herrschaft an den Menschen in Dan 7,13–14 inspiriert sein. Mosca und Lacocque belegen den Aspekt einer universalen Herrschaft anhand der folgenden Passage:505 7 Du machst ihn zum Herrscher über die Werke deiner Hände; alles hast du unter seine Füße gestellt: 8 Schafe und Rinder allesamt und auch die Tiere des Feldes, 9 die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, was die Pfade der Meere durchzieht. (Ps 8,7–9)

Das Moment der universalen Herrschaft des Menschen steht, so Mosca, im Kontext der Bewegung vom Chaoskampf in Ps 8,3 – »Aus dem Munde der Kinder und Säuglinge hast du Macht gegründet wegen deiner Bedränger, um zum Schweigen zu bringen den Feind und den Rachgierigen« (Ps 8,3) – hin zu der Herrschaftsdeklaration des königlichen Menschen in Ps 8,7–9. Diese Bewegung von Chaoskampf zu Herrschaftsausruf erkennt Mosca im kanaanäischen BaalMythos und in Dan 7 wieder. Der Menschenkönig in Ps 8 fügt sich also in das Muster des früheren Mythos und des späteren Danielkapitels und liefert darüber hinaus das im Mythos fehlende und für Dan 7 zentrale Element der Menschengestalt.506 Der Deutung der menschenähnlichen Figur in Dan 7 als den Menschenkönig kann mit Collins jedoch entgegengehalten werden, dass die an den Menschen beorderte Herrschaft über Meeres- und Landtiere in Ps 8 vielmehr an die urzeitliche Schöpfung im Genesisbuch erinnert und auch nicht das Motiv des Chaoskampfes enthält. Daher kann nach Collins Ps 8 keine traditionsgeschichtliche Verbindung zwischen dem Baal-Mythos und Dan 7 auf Ebene der Weitergabe des mythischen Materials bieten.507 Die dem Ausdruck »Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) voranstehende Präposition ‫כ‬, ›wie‹, die nach Lacocque in feierlich bestätigender Weise die

503 504 505 506 507

Mosca: Ugarit and Daniel, 516. Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 516. Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 517; Lacocque: Allusions, 124, 126, 130. Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 497–498, 515–517. Vgl. Collins: Daniel, 293.

Die symbolisch-kollektive Deutung

103

Menschlichkeit des neuen, universalen Adams unterstreicht,508 wird in der symbolisch-kollektiven Deutung der apokalyptischen Figur hingegen im komparativen Sinn aufgefasst. Da die Präposition ‫ כ‬in den Beschreibungen der Tierwesen »wie ein Löwe« (Dan 7,4) und »wie ein Leopard« (Dan 7,6) enthalten ist und dort in der Bedeutung des Vergleichs auftritt, ist diese Bedeutung auch in der Wendung »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) vorzuziehen.509 Vor dem Hintergrund dieser Argumente kann die Deutung der Menschengestalt in Dan 7 als der universaler Menschenkönig oder neue Adam aus Ps 8 nicht überzeugen.

5.3

Die symbolisch-kollektive Deutung

Die symbolisch-kollektive Deutung soll nun weiter bewertet werden. Die Übertragung der Symbolfunktion der Tiere auf den Menschenähnlichen ist angesichts der engen Verbindung durch die Präposition ‫ כ‬und dem Tier-Mensch-Gegensatz, der das aramäische Danielbuch motivisch durchzieht, plausibel. Gegenüber der oftmals verlauteten Annahme, die menschenähnliche Gestalt werde im Deutungsabschnitt nicht identifiziert, vertritt Keel folgenden Standpunkt: »Es ist […] nicht so, dass die Gestalt nicht gedeutet wird. Sie wird implizit als Verkörperung der ›Heiligen des Höchsten‹ interpretiert«510, da sie sich, wie auch die kollektive Gruppe,511 in der Rolle des Herrschaftsempfängers befindet.512 Zur Unterstützung der Gleichsetzung beider Entitäten kann folgende Beobachtung Goldingays herangezogen werden: Der Visionsabschnitt in Dan 7 wird von einer chiastischen Kompositionsstruktur umfasst, welche die Abfolge ›vier Tierwesen (7,3) – die ersten drei Tiere (7,4–6) – das vierte Tier (7,7) – zehn Hörner (7,7) – das kleine Horn (7,8)‹ auf die im Zentrum stehende Thron- und Gerichtsszene (7,9–10) zulaufen lässt und dann in gespiegelter Reihenfolge bis zur Übergabeszene (7,14) weiterführt. Dieser Chiasmus, der sich weitere drei Male in reduzierter Form wiederholt (vgl. Dan 7,17–18; 19–22; 23–27), wird stets durch das finale Moment der Übergabe des ewigen Königtums abgeschlossen.513 Die Wiederholung der gleichen Struktur kann womöglich für ein synonymes Verhältnis der herrschaftsempfangenden Rollen »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13), 508 509 510 511

Vgl. Lacocque: Allusions, 123. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 21. Keel: Tiere und Mensch, 22. Keel geht davon aus, dass die Begriffe »die Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18), »die Heiligen« (Dan 7,21) und »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) synonym angewandt ein einziges Kollektiv bezeichnen. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 22. 512 Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 21–22. 513 Vgl. Goldingay: Daniel, 153–156.

104

Bewertung der Positionen

»die Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18), »die Heiligen« (Dan 7,22) und »Volk der Heiligen des Höchsten« (Dan 7,27) sprechen. Ganz ähnlich beschreibt Hieke, »dass Dan 7 vier Anläufe unternimmt, um die immer gleiche Botschaft zu vermitteln«514: Die unmenschlichen Mächte werden durch ein göttliches Reich abgelöst. Hieke betont zudem, dass es sich dabei um ein Königreich handelt und dieses nicht an verschiedene Entitäten vergeben werden kann. Er schlägt daher vor, die Namen der Herrschaftsempfänger als unterschiedliche Bezeichnungen für ein und dieselbe Entität zu verstehen.515 Unter der Voraussetzung, dass die ›Heiligen‹ mit den gottesfürchtigen Israeliten zu identifizieren sind, hält die symbolisch-kollektive Deutung den Menschenähnlichen in Dan 7,13 für eine Symbolfigur für das Volk Israel.516 Da der Abfolge der vier Tierwesen das Vier-Reiche-Schema zugrunde liegt, welches im Danielbuch rückblickend »the preceding Gentile imperial powers as part of God’s intentions for history«517 rechtfertigt,518 bietet es sich an, die Tiere in Dan 7 eher als Reiche denn als Könige zu verstehen. Die ›Könige‹, mit denen die Tiere in Vers 17 gleichgesetzt werden, stehen nach Newsom repräsentativ für Königtümer, denn in dem parallelen Vers 23 ist von Königreichen die Rede.519 »In Dan 2 also a fluctuation exists between individual kings and kingdoms, as Nebuchadnezzar rather than the Neo-Babylonian Empire is designated as the ›head of gold […]‹, though the succeeding regimes are referred to as kingdoms.«520

Da die vier Elemente der Statue in Dan 2 also eher Reiche bedeuten, kann hinsichtlich der vier Tiere in Dan 7 tendenziell von der gleichen Bedeutung ausgegangen werden. In Dan 7 ist dann eine Ablösung der vier Reiche durch ein neues Reich erwartbar. Dies begünstigt die Deutung des Menschenähnlichen als Symbolfigur für das Volk Israel. Die Identifizierung der ›Heiligen des Höchsten‹ mit den gottesfürchtigen Israeliten begründen Keel und Boyarin mit dem näheren Kontext in Dan 7,21–25: Dort verdichten sich »[d]ie Anspielungen auf Antiochus IV. und die von ihm ausgelöste Verfolgung der Toratreuen«521. Dass der substantivische Begriff ›Heilige‹ die Israeliten bezeichnen kann, wird mit Ps 34,10 belegt.522 Jedoch steht dieser einmaligen Verwendung im Alten Testament der gängigere Gebrauch des Ausdrucks ›Heilige‹ für himmlische Wesen gegenüber, was eine Erwartungs514 515 516 517 518 519 520 521 522

Hieke: Herrschaft, 385. Vgl. Hieke: Herrschaft, 385, 396–397. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 150, 153. Newsom: Daniel, 64. Vgl. Newsom: Daniel, 64, 80. Vgl. Newsom: Daniel, 236. Newsom: Daniel, 236. Keel: Tiere und Mensch, 22; vgl. auch Boyarin: Daniel 7, 152–153. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 22.

Die angelologische Deutung

105

haltung bei den Primärlesern zugunsten des angelologischen Verständnisses bewirkt haben muss. Aus diesem Grund ist die angelologische Deutung der ›Heiligen‹ zu favorisieren.523 Des Weiteren wendet sich Keel gegen Collins, indem er festhält: »[Collins] basiert diese Deutung weniger auf dem unmittelbaren Kontext in Dan 7, sondern auf den hebräischen Teilen des Danielbuches in Dan 8–12, die ein grosses Interesse an der Angelologie zeigen, ein Interesse, das im aramäischen Teil Dan 2–7 viel weniger stark ist.«524

Keel beruft sich auf Dan 7,21–25 und auf das aramäische Danielbuch als gültigen Deutungskontext, bezieht aber nicht die Tatsache mit ein, dass in Dan 4,10.14.20 ›Wächter‹ und ›Heilige‹ eindeutig Engelswesen bezeichnen:525 »[D]er König [sah] einen Wächter und Heiligen vom Himmel herabsteigen« (Dan 4,20). Dem wichtigen Argument der symbolisch-kollektiven Deutung, nämlich die Identifizierung der ›Heiligen‹ mit den gottesfürchtigen Israeliten in Dan 7, kann daher nicht zugestimmt werden.

5.4

Die angelologische Deutung

Die angelologische Deutung der apokalyptischen Gestalt, um die es nun gehen soll, bezieht ein wichtiges Detail der sprachlichen Wendung »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) mit ein: Das Singulativ ›Sohn‹ betont gegenüber der allgemeinen Gattungsbezeichnung ›Mensch‹ die Individualität der apokalyptischen Figur. Ein solches Singulativ erscheint auch in Dan 8,17 und 10,16 und ist daher als ein übliches Element für die Beschreibung einer Einzelgestalt zu werten. Das Kriterium der Menschenähnlichkeit bzw. der Vergleich der Figur in Dan 7,13 mit einer individuellen Menschengestalt ist mit Koch als der Hinweis auf ein himmlisches Wesen zu erachten. Nicht nur die Formulierungen »wie das Aussehen eines Mannes« (Dan 8,15), »einer, den Menschenkindern gleich« (Dan 10,16) und »im Aussehen wie ein Mensch« (Dan 10,18)

aus dem hebräischen Danielbuch,526 sondern auch die vergleichende Wendung »das Aussehen des Vierten gleicht dem eines Göttersohnes« (Dan 3,25) aus dem aramäischen Buchteil, wenn auch hier ohne das Lexem ›Mensch‹, sind Engelsbeschreibungen, die dem Ausdruck »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 523 524 525 526

Vgl. Collins: Daniel, 317. Keel: Tiere und Mensch, 22. Vgl. Collins: Daniel, 317; Koch: Reiche der Welt, 149. Vgl. Koch: Reiche der Welt, 162–163.

106

Bewertung der Positionen

7,13) sehr ähnlich sind. Auch Bibelstellen außerhalb des Danielbuches belegen, dass es sich in der Rede von ›Männern‹ oder einer Menschengestalt um Engel handelt.527 Einerseits bekräftigen diese Belege, insbesondere aber die ähnlichen formelhaften Vergleiche mit einem Menschen, die angelologische Deutung der Figur in Dan 7,13. Andererseits ist auch der Hinweis auf den Tier-Mensch-Gegensatz wahrzunehmen, der die aramäische Danielkomposition Dan 2–7 motivisch durchzieht. Keel betrachtet den Vergleich mit einem Menschen in Dan 7,13 ausschließlich als Rückverweis auf die in Dan 4 und 5 beschriebene Rückverwandlung Nebukadnezars von einem Tier in einen Menschen, die mit der Anerkennung der höchsten Souveränität Gottes und dem Empfang von göttlich autorisierter Königsherrschaft einhergeht. Auch die Tiere in Dan 7 werden mittels Vergleichsformulierungen beschrieben und durchlaufen teilweise Humanisierungsprozesse, die an das Thema der Herrschaftsautorisation aus Dan 4 und 5 anschließen.528 Des Weiteren kann festgehalten werden, dass das Wolkenmotiv, das im Alten Testament gewöhnlich die Theophanie JHWHs kennzeichnet (vgl. Ps 104,3), in den Dienst der angelologischen Deutung der »mit den Wolken des Himmels« (Dan 7,13) kommenden Figur gestellt werden kann, da im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels göttliche Attribute auf Engelwesen ausgeweitet wurden.529 Die namentliche Identifizierung der menschenähnlichen Gestalt in Dan 7 mit dem Erzengel Michael beruht auf der Kontextualisierung des Kapitels mit Dan 8– 12. Mit Koch kann festgestellt werden, dass zum einen die Doppel- oder »Schwellenfunktion«530, die Michael in den hebräischen Danielvisionen als der »Oberste[ ]« (Dan 8,11) des himmlischen Heeres und als Fürst des jüdischen Volkes einnimmt (vgl. Dan 8,10–11; 10,21), auf die Konstellation in Dan 7 passt. Dort ist die Einzelgestalt im Visionsabschnitt herrschaftsempfangender Stellvertreter für die himmlischen ›Heiligen‹, die im Deutungsabschnitt die ewige Herrschaft übertragen bekommen. Zum anderen tritt Michael in Dan 12,1 in der Rolle eines Königs auf, der »die Zeit der Großreiche ablöst und das nachzeitliche Regiment übernimmt«531. Folglich steht er in der Schlussvision des Buches Dan 10–12, parallel zu dem ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ in Dan 7, im Kontext

527 Vgl. Collins: Daniel, 305–306. – Hier belegt Collins die Engelsdarstellung als ›Männer‹ oder als Menschengestalt außerhalb des Danielbuchs mit: Gen 18,2; Jos 5,13–14; Ri 13,6; Ez 8,2; 9– 10. 528 Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 18–23. 529 Vgl. Newsom: Daniel, 236. 530 Koch: Reiche der Welt, 163. 531 Koch: Reiche der Welt, 163.

Die angelologische Deutung

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des Abschlusses des Reiche-Schemas und des Anbruchs der ewigen Gottesherrschaft.532 Darüber hinaus erkennt Collins den Aspekt der Synergie zwischen den Israeliten und Engeln aus Dan 10–12 in Dan 7 wieder. In den Kapiteln 10–12 äußert sich die Synergie darin, dass Engelsfürsten für das irdische Volk kämpfen und die irdischen »Verständigen« (Dan 12,3) im Zuge des Aufwachens »zu ewigem Leben« (Dan 12,2) zu himmlischen Wesen werden (vgl. Dan 12,3). In Kapitel 7 konvergiert jene Synergie mit der mehrfachen Herrschaftsübergabe: Empfänger des ewigen Reichs sind auf verschiedenen Ebenen der Fürst und Stellvertreter in Dan 7,13, die himmlischen ›Heiligen‹ und ›Heiligen des Höchsten‹ in Dan 7,18.22 und das irdische Volk, das zu den ›Heiligen des Höchsten‹ gehört, in Dan 7,27.533 Zudem immunisiert der Aspekt der Synergie zwischen Himmelswesen und Israeliten die angelologische Interpretation gegen den Einwand, eine Gleichsetzung der ›Heiligen des Höchsten‹ mit Engeln sei angesichts der Anspielungen auf die Verfolgung in Dan 7,21–22.25 auszuschließen. Der Angriff des einzelnen Königs trägt sich parallel auf irdischer und himmlischer Ebene zu. Auch dem Argument der fehlenden Bedeutung des Danieltextes für die verfolgten Israeliten als Primärleser kann mit dem Hinweis auf jene Synergie entgegengetreten werden.534 Hinsichtlich der namentlichen Identifizierung als Michael und Konkretisierung der Figur macht Newsom ein Zugeständnis: »But even if the humanlike one is originally a collective symbol for the angels, the subsequent visions in Daniel reinterpret this figure with increasing specificity, as prince of the host (8:11) and as Michael (10:21; 12:1 […]).«535 Newsom scheint die Option offenzuhalten, dass die Figur, unabhängig vom Kontext von Dan 8–12, als ein Kollektivsymbol identifiziert werden kann, das stellvertretend für die himmlischen ›Heiligen des Höchsten‹ steht.536 Diesem Kollektivsymbol wurde dann nachträglich die Rolle des Fürsten und die Identität Michaels zugeteilt. Newsom konstatiert also mit dem oben vorgestellten Zitat, dass die hebräischen Folgekapitel die Vision in Dan 7 neu deuten. In dem Eingangskapitel zur Stellung von Dan 7 im Danielbuch wurde bereits festgestellt, dass sich die aramäische Buchhälfte Dan 2–7 durch einen konzentrischen Aufbau auszeichnet, der durch das Vier-Reiche-Schema in 532 Mit Wildgruber wurde bereits festgestellt, dass die danielische Schlussvision mit den Kapiteln 10–12 das Schema der aufeinanderfolgenden Reiche als weltgeschichtliche Reflexion enthält. Während Dan 11 die Abfolge der irdischen Reiche schematisiert, stellt Dan 12,1–3 deren Ablösung durch das Reich Gottes dar. Vgl. Wildgruber: Daniel 10–12, 293–294. 533 Vgl. Collins: Daniel, 317–318. – Hier erklärt Collins, dass die Verbindung ›Volk der Heiligen des Höchsten‹ im Genitivus possessivus steht und daher ein Zugehörigkeitsverhältnis des Volkes zu den ›Heiligen des Höchsten‹ vermittelt. 534 Vgl. Collins: Daniel, 317–320, 322. 535 Newsom: Daniel, 238. 536 Vgl. Newsom: Daniel, 237–238.

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Bewertung der Positionen

Dan 2 und 7 einen Rahmen erhält.537 Keels Analyse hat zudem gezeigt, dass der Tier-Mensch-Gegensatz und die Humanisierungsprozesse die Kapitel 4, 5 und 7 zusammenhalten.538 Während Newsom Dan 7 ursprünglich als »eschatological complement to the cycle of Daniel narratives in chs. 1–6«539 auffasst,540 gibt auch Collins angesichts der Konzentrik der Komposition zu, dass das aramäische Danielbuch mit den Kapiteln 1–7 oder 2–7 zumindest für eine kurze Zeit eigenständig bestanden haben muss, bevor es um die weiteren Kapitel zwischen 167 und 164 v. Chr. ergänzt wurde.541 In Anbetracht der Tatsache, dass die Visionen Dan 8–12 nachträglich angefügt wurden und womöglich eine Neuinterpretation von Dan 7 darstellen, ist eine namentliche Konkretisierung der Figur in Dan 7,13 als Engelsfürst Michael demnach eher auszuschließen. An dieser Stelle tritt im Übrigen der Aspekt der Scharnierfunktion von Dan 7 im aramäisch-hebräischen Danielbuch in besonderer Weise zu Tage. Die Verbindung des Kapitels 7 mit den Visionen in Dan 8–12 legen im Allgemeinen eine angelologische Deutung der apokalyptischen Menschengestalt und im Konkreten eine Gleichsetzung der Figur mit dem Engelsfürsten Michael nahe. Während die Rückbezüge von Dan 7 auf die erste Buchhälfte der personalen Identifizierung als Michael entgegenwirken, spricht das Vorkommen von himmlischen ›Wächtern‹ und ›Heiligen‹ in Dan 4 für ein angelologisches Verständnis der ›Heiligen‹ in Dan 7 und ermöglicht auch die Deutung der apokalyptischen Figur als Engel.542 Darüber hinaus ergibt sich mit Newsoms oben vorgestelltem Einwand eine neue Deutungsoption: Der Menschenähnliche im Visionsabschnitt von Dan 7 kann eine Symbolfigur für das Kollektiv der himmlischen ›Heiligen des Höchsten‹ im Deutungsabschnitt sein. Zu jenen ›Heiligen des Höchsten‹ steht das »Volk« (Dan 7,27) in einem Zugehörigkeitsverhältnis, es bezeichnet das irdische Volk Israel. Beide Entitäten, die Engel in der himmlischen Sphäre und die Israeliten auf der Erde, empfangen in der Deutung das göttliche Reich.543 Im Anschluss an den Synergiegedanken kann der ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ demnach eine Symbolfigur darstellen, die beide Gruppen, die himmlischen ›Heiligen‹ und das irdische Volk, repräsentiert. 537 538 539 540 541

Vgl. Bauer: Buch Daniel, 45–46. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 18–21. Newsom: Daniel, 216. Vgl. Newsom: Daniel, 216. Vgl. Collins: Daniel, 35, 38. – Die Anspielungen in Dan 7 auf Antiochos IV., insbesondere mit dem Motiv des ›kleinen Horns‹, weisen darauf hin, dass das Danielkapitel zu Beginn der Antiochos-Krise, jedoch noch vor der in Dan 8–12 thematisierten Schändung des Heiligtums 167 v. Chr. zu verorten ist. Vgl. Collins: Daniel, 278–279; Goldingay: Daniel, 157. 542 Auf die Parallelisierung von engelhaften ›Wächtern und Heiligen‹ in Dan 4 weisen Collins und Koch hin. Vgl. Collins: Daniel, 317; Koch: Reiche der Welt, 149. 543 Vgl. Newsom: Daniel, 237, 242.

Die angelologische Deutung

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Hieke schlägt vor, in dem Menschenähnlichen in Dan 7,13 eine Symbolfigur für die himmlischen und irdischen ›Heiligen‹ zu sehen. Er gibt Collins Recht, »wenn [dies]er darauf hinweist, dass es eine enge Parallelität zwischen dem jüdischen Volk und seinen Feinden auf der Erde einerseits und ihren himmlischen Entsprechungen andererseits gibt«544. Empfänger des einen Königreiches kann nach Hieke aber nur eine Entität sein. Dieser vermutet daher, »dass der Begriff ›die Heiligen‹ bewusst offen und vage gehalten wurde, um in gleicher Weise himmlische Wesen (Engel) und die wahren und getreuen Israeliten auf Erden zu bezeichnen, um gerade die Letzteren zu ermutigen und zu trösten«545. Mit dem Hinweis auf die Intentionalität des Textes betont Hieke, dass es zur tröstenden Botschaft von Dan 7 gehört, »die Getreuen im Volk Israel in engen Kontakt mit der himmlischen Sphäre zu bringen: Sie werden ›Heilige‹ genannt, ein Begriff, der an anderen Stellen für himmlische Wesen verwandt wird«546. Hiekes Gedanke eines bewusst offen gehaltenen Begriffs kann mit den Qumranschriften 1 QM und 1 QH, also der Kriegsregel-Handschrift und der HodayotRolle, in Verbindung gebracht werden. Dort ist der Bezug des Ausdrucks ›Heilige‹ in einigen Fällen unklar, denn »the human community is believed to mingle with the heavenly host in the eschatological war, in the cult, and in the community itself«547. Allerdings äußert sich Hieke nicht zu dem Vorkommen von himmlischen ›Heiligen‹ und ›Wächtern‹ in Dan 4, dem angesichts der engen motivischen Anbindungen von Dan 7 an das aramäische Danielbuch Beachtung geschenkt werden muss. Auch in Dan 8 wird der substantivische Ausdruck »ein Heiliger« (Dan 8,13) eindeutig für ein himmlisches Wesen gebraucht.548 Aufgrund dieses Kontextes ist ein rein angelologisches Verständnis der ›Heiligen‹ in Dan 7 wahrscheinlicher, weshalb Hiekes Vorschlag ausgeschlossen werden kann. Demnach soll die zuvor entwickelte Deutung als Option festgehalten werden: Der »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) ist eine Symbolfigur für die himmlischen ›Heiligen‹ und für das irdische Volk. Diese beiden Gruppen sind durch das Synergie- und Zugehörigkeitsverhältnis miteinander verbunden.

544 545 546 547 548

Hieke: Herrschaft, 397. Hieke: Herrschaft, 398. Hieke: Herrschaft, 398, vgl. auch 396–398. Collins: Daniel, 316, vgl. auch 316–317. Vgl. Collins: Daniel, 317; Koch: Reiche der Welt, 149.

110

Bewertung der Positionen

5.5

Synthese der symbolisch-kollektiven und der angelologischen Deutung

Für die Deutung der menschenähnlichen Gestalt als himmlisches Wesen ist ein letztes, aber wichtiges Argument zu nennen, welches sich auf die Textstruktur von Dan 7 bezieht. Collins erwägt, dass der ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ (7,13–14) durch den ›Alten an Tagen‹ (7,9–10), »a mythic-realistic symbol for God«549, von den vier Tierwesen, »viewed as allegorical symbols«550, textlich getrennt wird. Daraus schließt Collins, »that the ›one like a human being‹ is a symbol of the same order as the Ancient of Days – a mythic-realistic depiction of a being who was believed to exist outside the vision«551. Demgegenüber kommt Boyarin bei der Analyse der vorliegenden Textform von Dan 7 zu einem anderen Schluss. Er stellt fest, dass die Vernichtung und Herrschaftsentnahme der Tiere (7,11–12) zwischen die Thronszene des ›Alten an Tagen‹ (7,9–10) und den Menschensohn (7,13–14) geschoben ist. Dadurch befinden sich Menschensohn und Tierwesen in einer engen Gegenüberstellung, da sie direkt aneinander anschließen. Daher hält Boyarin es für wahrscheinlicher, dass die Menschengestalt die Symbolfunktion der vier Tierwesen annimmt und ebenso wie diese »eine menschliche politische Entität«552, nämlich das Volk Israel, repräsentiert.553 Boyarins Interpretation, die symbolisch-kollektive Deutung der apokalyptischen Gestalt begünstigend, ist an dieser Stelle überzeugender als der Vorschlag von Collins. Im Folgenden soll Boyarins These von der redaktionellen Verwebung zweier ursprünglich voneinander getrennten Visionen durch den Danielautor näher betrachtet werden, da sie möglicherweise einen Lösungsweg bietet, der entscheidende Argumente der symbolisch-kollektiven und der angelologischen Deutung in sich vereint. Die These einer ursprünglich unabhängigen Thronvision mit zwei göttlichen Figuren fußt auf der Beobachtung, dass sich die Verse 9– 10 und 13–14, welche in Dan 7 die doppelte Theophanie beschreiben, durch den poetischen Sprachstil von den restlichen Textteilen abheben, die in der Gattung Prosa gehalten sind und die allegorischen Tiersymbole präsentieren. Boyarins These der Verschmelzung des untergeordneten JHWHs mit dem Hauptgott El und der späteren Absplitterungen einer jungen Gottesfigur von dem älteren Gott JHWH-El, die sich allgemein in den Erscheinungen von »supreme angels or other sorts of divine beings, redeemer figures«554 äußern, 549 550 551 552 553 554

Collins: Daniel, 305. Collins: Daniel, 305. Collins: Daniel, 305. »a human political entity«, übersetzt aus: Boyarin: Daniel 7, 151. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 147, 150–152. Boyarin: Daniel 7, 160–161.

Synthese der symbolisch-kollektiven und der angelologischen Deutung

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liefert eine plausible Erklärung für den Götter-Dualismus in der unabhängigen Thronvision und Vorlage für Dan 7.555 Attribute, die im Alten Testament Kennzeichen für Göttlichkeit sind, können im Rahmen der These einer eigenständigen Thronvision als solche anerkannt werden. So behält zum einen das Attribut der Ankunft »mit den Wolken des Himmels« (Dan 7,13), gewöhnlich den ›Wolkenfahrer‹ JHWH bezeichnend (vgl. Dtn 33,26; Ps 68,33–34; 104,3),556 die Bedeutungen von Theophanie und Göttlichkeit bei; diese manifestiert sich in der Absplitterungserscheinung der jungen Gottesfigur. Zum anderen wird die sprachliche Wendung »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) als Verbindung zu den Darstellungen real geglaubter, himmlisch-göttlicher Wesen im Aussehen eines Menschen, wie in Dan 8,15; 10,16.18 oder Ez 1,26; 8,2, erkannt.557 Boyarins These der Absplitterung könnte auch erklären, weshalb die sehr ähnlichen Theophaniebeschreibungen in Dan 10,5–6 und Ez 8,2 für ein heiliges Wesen, als Engel oder »separate heavenly being«558 gedeutet, in Ez 1,26– 27 aber für Gott selbst bestimmt sind:559 Dan 10,5–6 5 Und ich erhob meine Augen und sah: Und siehe, da war ein Mann, in Leinen gekleidet, und seine Hüften waren umgürtet mit Gold von Ufas. 6 Und sein Leib war wie ein Türkis und sein Gesicht wie das Aussehen eines Blitzes. Und seine Augen waren wie Feuerfackeln und seine Arme und seine Füße wie der Anblick von glatter Bronze. Und der Klang seiner Worte war wie der Klang einer ⟨Volks⟩menge. Ez 8,2 Und ich sah: und siehe, eine Gestalt mit dem Aussehen eines Mannes: von seinen Hüften an abwärts Feuer; und von seinen Hüften an aufwärts wie das Aussehen eines Glanzes, wie das Funkeln von glänzendem Metall. Ez 1,26–27 26 Und oberhalb des festen Gewölbes, das über ihren Häuptern war, ⟨befand sich⟩ – wie das Aussehen eines Saphirsteines – etwas wie ein Thron und auf dem, was wie ein Thron ⟨aussah⟩, oben auf ihm eine Gestalt, dem Aussehen eines Menschen gleich. 555 556 557 558 559

Vgl. Boyarin: Daniel 7, 157–158, 160–161. Vgl. Collins: Daniel, 290; Segal: Dreams, 135. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 148–149. Boyarin: Daniel 7, 149. Collins identifiziert die menschenähnliche Gestalt in Ez 1,26 als Gottheit, jene in Ez 8,2 jedoch eher als Engel, da sie den Visionär vor die Herrlichkeit Gottes transportiert (vgl. Ez 8,3–4). Die Menschengestalt in Dan 10,5 ist nach Collins eindeutig ein Engel. Vgl. Collins: Daniel, 306.

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Bewertung der Positionen

27 Und ich sah: Wie das Funkeln von glänzendem Metall, wie das Aussehen von Feuer, das ringsum ein Gehäuse hat, ⟨war es⟩ von dem Aussehen seiner Hüften an aufwärts; und von dem Aussehen seiner Hüften an abwärts sah ich ⟨etwas⟩ wie das Aussehen von Feuer; und ein Glanz war rings um ihn.

In jeder der drei Passagen ist eine Formulierung zu der Menschengestalt bzw. zu dem Aussehen wie ein Mensch enthalten. Begleitet wird diese Wendung mit den Wortfeldern ›Licht‹, ›Feuer‹ und ›Glanz‹, die fast immer durch einen Vergleich mit dem Wort ›wie‹ eingeleitet werden. Unabhängig davon, ob von Gott oder einem Engel die Rede ist, ähneln die Theophaniebeschreibungen sprachlich einander. Aus Boyarins These könnte als Ursache dafür geschlussfolgert werden, dass den Passagen Dan 10,5–6 und Ez 8,2 die genannten Absplitterungsprozesse zugrunde liegen. Diese Annahme der Absplitterungen von Gott, die sich in Form von Engeln zeigen können, bietet dann eine Erklärungsalternative zu der These der Ausweitung göttlicher Attribute auf Engelswesen zur Zeit des Zweiten Tempels, die Newsom anhand von Dan 10,5–6 belegt.560 Der Gedanke der ›Gottesabsplitterungen‹ liefert darüber hinaus eine gute Erklärung zur traditionsgeschichtlichen Weitergabe des Musters der souveränen Gottheit und des jüngeren und untergeordneten Gottes, welches ursprünglich der kanaanäischen Konstellation mit Baal und El entspringen muss. Auch wenn Collins postuliert, dass Überbrückungstexte zwischen dem Baal-Mythos und Dan 7 fehlen, bestätigt er indirekt Boyarin, indem er den Erhalt einer altisraelitischen Glaubensvorstellung mit JHWH und El bis hin zur Produktion von Dan 7 für unwahrscheinlich, die Übernahme göttlicher Funktionen oder Rollen durch Engel aber für denkbar hält:561 »The old mythology has been adapted so that there is no doupt of the supremacy of Yahweh, while some funtions assigned to Yahweh in the older texts are now assigned to an angel.«562 Schäfer erhebt den Vorwurf, Boyarin lese die spätere Entwicklung einer konkreten Rettergestalt, die »de[s] neben Gott im Himmel inthronisierten Menschensohn[s]«563, in den Danieltext hinein.564 Der Einwand muss zurückgewiesen werden, denn Boyarin weist vielmehr auf Absplitterungsprozesse hin, die sich aus der Übernahme des kanaanäischen Musters zweier Götter in die israelitische Tradition ergeben und sich verschiedenartig äußern: »[T]he older God, whose supremacy is not in question, is now entirely named by the Tetragrammaton, while the functions of the younger God have been, in part, taken by

560 561 562 563 564

Vgl. Newsom: Daniel, 236. Vgl. Collins: Daniel, 292–293. Collins: Daniel, 293. Schäfer: Zwei Götter, 29. Vgl. Schäfer: Zwei Götter, 28–29.

Synthese der symbolisch-kollektiven und der angelologischen Deutung

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supreme angels or other sorts of divine beings, redeemer figures […].«565 Eine solche Absplitterung ist mit Boyarin in der Menschengstalt der ursprünglich unabhängigen Thronvision und Textvorlage für Dan 7 zu sehen. Der Vorteil der These Boyarins ist, dass sie die sprachliche Wendung »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13), die gewöhnlich als Argument für die angelologische Deutung der apokalyptischen Figur in Anspruch genommen wird,566 als Hinweis auf ein real geglaubtes göttlich-himmlisches Wesen für die hypothetische, ursprünglich unabhängige Thronvision anerkennt.567 Mit der Beobachtung jedoch, dass in der heute vorliegenden Textform von Dan 7 poetisch gefasste Textteile mit zwei Götterfiguren und prosaisch gehaltene Verse mit allegorischen Tiersymbolen ineinandergeschoben sind und dadurch eine direkte Gegenüberstellung der menschenähnlichen Gestalt mit den Tierwesen erwirken (vgl. Dan 7,11–14),568 ist Boyarins Folgeannahme einleuchtend: In einer redaktionellen Verwebung beider Visionen wurde die jüngere Gottesfigur durch die Gegenüberstellung mit den allegorischen Tierwesen entmythologisiert und in Anpassung an deren Symbolfunktion zu einer politischen Größe, einem Symbol für das Volk Israel, umgeformt.569 Diese Erkenntnisse anhand der Textstruktur von Dan 7 begünstigen die symbolisch-kollektive Deutung der apokalyptischen Gestalt. Boyarins Interpretation hat einen Nachteil: Die ›Heiligen des Höchsten‹ im Deutungsabschnitt betrachtet er vor dem Hintergrund des aggressiven Vorgehens des einzelnen Königs gegen jene Gruppe als das irdische Volk Israel.570 Dagegen ist jedoch mit Koch und Collins einzuwenden, dass der substantivische Begriff ›Heilige‹ angesichts zahlreicher Parallelen im Alten Testament, in der jüdischen Literatur des 2. Jahrhunderts v. Chr. und zuletzt im aramäischen Danielbuch nicht die irdischen Israeliten, sondern Engel bezeichnet.571 Seine These könnte jedoch mit der neuen Deutungsmöglichkeit verknüpft werden, die sich aus Newsoms Zugeständnis ergeben hat: »But even if the humanlike one is originally a collective symbol for the angels, the subsequent visions in Daniel reinterpret this figure with increasing specificity […].«572 Folgerichtig kann der ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ als eine entmythologisierte und zum politischen Symbol umgewandelte Figur gesehen werden, welche die im Synergiever-

565 566 567 568 569 570 571 572

Boyarin: Daniel 7, 160–161. Vgl. Collins: Daniel, 306; Koch: Reiche der Welt, 163. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 148–149. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 147, 150–152. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 147, 150–153. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 140–141. Vgl. Collins: Daniel, 317; Koch: Reiche der Welt, 149. Newsom: Daniel, 238.

114

Bewertung der Positionen

hältnis miteinander verbundenen himmlischen ›Heiligen‹ und irdischen Gottesfürchtigen repräsentiert.

5.6

Die Deutung auf JHWH

Segal plädiert für eine Identifizierung der Gestalt »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) als JHWH. Diese Interpretation stützt sich auf den Vorschlag, die menschenähnliche Figur, deren empfangene ewige Herrschaft in Dan 7,14 doxologieartig bekräftigt wird, mit dem Subjekt der Doxologien in Dan 3,31– 33, 4,31 und 6,26–27 gleichzusetzen. Das Argument bietet sich an, da der Danielautor mit der Doxologie in Dan 7,14 angesichts gleich lautender Sprache offenbar an die vorigen angeknüpft hat.573 Dennoch gibt es einen Unterschied: Während in den Doxologien in Dan 3–6 Gott selbst als ein ›ewiger‹ und ›lebendiger‹ gepriesen wird (vgl. Dan 4,31; 6,27) und dessen Zeichen und Wunder gerühmt werden (vgl. Dan 3,33), fällt die Nennung Gottes in dem doxologieartigen Spruch in Dan 7,14, wie im Übrigen auch in Dan 7,27, gänzlich weg. Dafür wird dort von einer Übergabe berichtet: »Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben« (Dan 7,14; vgl. auch 7,27). Denn er ist der lebendige Gott und bleibt in Ewigkeit; und sein Königreich wird nicht zerstört werden, und seine Herrschaft ⟨währt⟩ bis ans Ende. (Dan 6,27pass) Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, […]. Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, und sein Königtum ⟨so⟩, dass es nicht zerstört wird. (Dan 7,14pass)

Zudem ist eine Gleichsetzung der apokalyptischen Figur mit dem Subjekt der genannten Doxologien in Dan 3–6 nicht kompatibel mit dem das aramäische Danielbuch prägende Grundthema der obersten Souveränität Gottes: Während Gott in Dan 2–6 derjenige ist, der Herrschaft an Könige delegiert und auch wieder zurücknimmt,574 hat die Figur in Dan 7,13–14 eindeutig eine Empfängerposition inne, denn ihr »[wird] Herrschaft […] gegeben« (Dan 7,14). Ein weiterer Punkt in der Argumentation Segals ist der alternative Übersetzungsvorschlag für die aramäische Wendung ‫ קדישי עליונין‬in Dan 7,18.22.25, die die Elberfelder Bibel mit »die Heiligen des Höchsten« (Dan 7,18) übersetzt. Sie bezeichnet eine Entität, die im Deutungsabschnitt ebenfalls Empfänger der ewigen Herrschaft ist (vgl. Dan 7,18). Segal wertet den gesamten Ausdruck als Pluralis Majestatis oder excellentiae, den er auf JHWH bezieht und mit der 573 Vgl. Segal: Dreams, 136–138. 574 Vgl. Seow: Daniel, 14.

Die Deutung auf JHWH

115

apokalyptischen Figur in Dan 7,13 gleichsetzt.575 Eine solche synonyme Gleichsetzung sieht Schäfer allerdings als problematisch an. »[S]einer Einschätzung nach operieren Vision und Interpretation auf zwei verschiedenen Ebenen, nämlich im Himmel und auf der Erde.«576 Nachdem im Visionsteil bzw. auf der Himmelsebene die Herrschaft an die Menschengestalt übergeben wurde, kann selbiges nicht im Deutungsteil bzw. auf der irdischen Ebene geschehen: »[E]s ist der Kernpunkt des peschar, das, was sich zuerst im Himmel ereignete, auf das irdische Volk Israel zu übertragen.«577 Eine Trennung von Vision und Deutung aber lässt eine Gleichsetzung der Menschengestalt aus Dan 7,13 mit dem Begriff ‫קדישי עליונין‬, den Segal als einen Pluralis Majestatis für JHWH deutet, nicht zu.578 Weiter identifiziert Segal die im Deutungsabschnitt neben der Entität ‫קדישי‬ ‫ עליונין‬auftretende Gestalt, »den Höchsten« (Dan 7,25), mit dem Hauptgott El.579 Dem ist mit Koch jedoch zu entgegnen, dass das Substantiv im Singular ‫עליא‬, »de[r] Höchste[ ]« (Dan 7,25), nicht nur in Dan 7,25, sondern auch in Dan 4,14.21–22.29.31 erscheint, wo es den Gott JHWH bezeichnet.580 Das Kapitel 7 stellt vielfach Rückbezüge auf Dan 2–6 her. Hier sei an das Vier-Reiche-Schema in Dan 2 und 7, welches der konzentrischen Komposition des aramäischen Danielbuches einen Rahmen gibt,581 sowie an den Tier-Mensch-Gegensatz und die Humanisierungsprozesse in den Kapiteln 4, 5 und 7 erinnert.582 Aufgrund der engen Rückbindung von Dan 7 auf die vorigen Kapitel ist eine Anspielung in Dan 7,25 auf El mit dem Begriff ›der Höchste‹, der Dan 4 jedoch JHWH bezeichnet, eher auszuschließen. Darüber hinaus fällt auf, dass in der Rede über ›den Höchsten‹ in Dan 4 stets die Parallelisierung der Begriffe »Wächter« (Dan 4,14) und »Heilige[ ]« (Dan 4,14) vorliegt. ›Wächter‹ und ›Heilige‹ stehen in diesem Kontext für himmlische Botschaftsüberbringer, die erstens den Verlust der Königsherrschaft und die Tierwerdung Nebukadnezars ankündigen und zweitens an die oberste Souveränität »de[s] Höchste[n]« (Dan 4,14) erinnern (vgl. Dan 4,10–14.20–22). Wenn sich die Konstellation des höchsten Gottes und der himmlischen ›Heiligen‹ aus Dan 4 auf den Deutungsabschnitt in Dan 7 übertragen lässt, begünstigt dies eine angelologische Interpretation der ›Heiligen‹ bzw. der ›Heiligen des Höchsten‹. Segal führt die doppelte Theophanie in Dan 7 auf die Passagen Dtn 32,8–9 und Ps 82 zurück, die eine Konstellation mit JHWH, als herrschaftserbenden 575 576 577 578 579 580 581 582

Vgl. Segal: Dreams, 140–143, 150–152. Schäfer: Zwei Götter, 28. Schäfer: Zwei Götter, 28. Vgl. Schäfer: Zwei Götter, 27–28. Vgl. Segal: Dreams, 150–152. Vgl. Koch: Reiche der Welt, 151. Vgl. Bauer: Buch Daniel, 45–46. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 18–21.

116

Bewertung der Positionen

Gott, und El, dem Hauptgott in der Götterversammlung, bezeugen. Insbesondere das Motiv der Rücknahme der Verfügung korrupter Götter über Nationen und der Vergabe einer universalen Herrschaft an JHWH in Ps 82 entspricht der Bewegung in Dan 7: Die Herrschaft wird den Tierwesen, die Nationen symbolisieren, genommen und als eine universale an die menschenähnliche Gestalt übergeben. Diese Bewegung, die Schwerpunktsetzung auf Nationen und das Thema des Erbes sprechen für Segals These, dass Dan 7 eine innerbiblische Interpretation von Ps 82 darstellt und sich die Konstellation des Hauptgottes El und des untergeordneten JHWHs aus dem Psalm auf den ›Alten an Tagen‹ und den ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ in Dan 7,13 übertragen lässt.583 Gegen diese Deutung kann jedoch Frankels Hypothese vorgebracht werden, dass in Dan 7 die korrupten Nationalgötter aus Ps 82 in nationale Tiersymbole und die Rolle JHWHs aus Ps 82 in »a human looking eschatological symbol of Israel«584 umgewandelt werden. JHWH und El verschmelzen indessen in der Richterfigur ›der Alte an Tagen‹. Der mythische Götter-Dualismus aus Ps 82 wurde so durch den Autor von Dan 7 unterdrückt bzw. entmythologisiert, scheint dort aber als ein spätes und implizites Relikt des alten Musters weiterhin durch.585 Die These einer Verschmelzung des untergeordneten JHWHs mit dem Hauptgott El wird auch von Boyarin unterstützt. Allerdings erklärt er sich den theologischen Dualismus in Dan 7 nicht als ein direktes Echo oder Relikt der altisraelitischen Glaubensvorstellung mit El und JHWH, wie sie sich in Dtn 32,8–9 und Ps 82 niederschlägt, sondern als eine spätere Absplitterung der jungen Gottesfigur von JHWH-El. Dieser Dualismus wurde in Anpassung an die Tiersymbole, nun wieder im Sinne Frankels, durch den Danielautor entmythologisiert.586 Abschließend soll gezeigt werden, dass die Deutung des Geschauten in Dan 7 einen mythologisch belassenen Götter-Dualismus nicht bestätigen kann. Segal sieht folgende Konstellation oder Parallelität zweier Entitäten aus dem Visionsteil im Deutungsabschnitt in Dan 7,25 widergespiegelt. Den Begriff ›der Höchste‹ identifiziert er als die oberste göttliche Souveränitätsinstanz, nämlich El, während er die andere Entität mit der untergeordneten Götterrolle, JHWH, gleichsetzt:587

583 584 585 586 587

Vgl. Segal: Dreams, 144–149. Frankel: El, 23. Vgl. Frankel: El, 23. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 150, 156–158. Vgl. Segal: Dreams, 150–152.

117

Die Deutung als Rolle

Dan 7 Deutung:

Vision:

Identifizierung:

Worte reden gegen den Höchsten

die Heiligen des Höchsten aufreiben (Dan 7,25)

der Alte an Tagen

einer wie der Sohn eines Menschen (Dan 7,13)

Hauptgott El

untergeordneter JHWH

Mit Koch wurde jedoch das Substantiv ‫עליא‬, »de[r] Höchste[ ]« (Dan 7,25), das mehrfach in Dan 4 erscheint und dort eindeutig den Gott des Alten Testaments bezeichnet, als Begriff für JHWH identifiziert.588 Dieser Gott nimmt in der Deutung in Dan 7 die Position der obersten Instanz ein, ihm kann konsequenterweise die Rolle des Herrschaftsempfängers, wie es noch in Dtn 32,8–9 und Ps 82 der Fall ist,589 nicht zukommen.590 Unter diesen Gesichtspunkten ist es unwahrscheinlich, dass die menschenähnliche Figur in Dan 7,13 der Gott JHWH sein soll.

5.7

Die Deutung als Rolle

Abschließend soll der Deutungsvorschlag Goldingays, den ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ als eine in Dan 7 nicht weiter konkretisierte Rolle zu begreifen, bewertet werden. Goldingay beharrt darauf, dass die Traumvision Dan 7 nicht darauf abzielt, die apokalyptische Figur zu identifizieren: »[T]he humanlike figure’s failure to appear in the interpretative section of the vision indicates that it is not a particularly important feature of the chapter […].«591 Goldingay erkennt das Ungleichgewicht einer expliziten Zuordnung der Tiersymbole zu Königreichen in der Deutung und dem Ausbleiben einer solchen hinsichtlich des Menschensymbols aus Dan 7,13. Der Danielautor setzt, so schlussfolgert Goldingay, den Schwerpunkt auf die Bedeutung einer Ablösung der weltlichen Mächte durch die ewige Herrschaft Gottes und lässt die symbolhafte Menschenfigur, die jene Bedeutung hervorrufen soll, eher als eine Rolle denn als eine zu identifizierende 588 Vgl. Koch: Reiche der Welt, 151. 589 Segal und Frankel plädieren für eine mythische Lesart von Dtn 32,8–9 und Ps 82, gemäß derer El als Hauptgott Herrschaft an ihm unterstellte Götter vererbt und JHWH in Dtn 32,8– 9 einen kleinen Erbteil, Israel, in Ps 82 jedoch die universale Herrschaft zugesprochen bekommt. Vgl. Segal: Dreams, 145–149; Frankel: El, 3–5, 9, 18. 590 Boyarin besteht darauf, dass der Deutungsteil den ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ als eine kollektive Entität und nicht als ein individuelles göttliches Wesen ausweist. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 159. 591 Goldingay: Daniel, 172.

118

Bewertung der Positionen

Gestalt auftreten.592 Zu dem Gedanken einer leeren Rolle oder Leerstelle kann befürwortend ergänzt werden, dass der ›Alte an Tagen‹ im Deutungsabschnitt nochmals erwähnt wird (vgl. Dan 7,22), der Menschenähnliche jedoch nicht.593 Gegen ein bewusstes Offenlassen der Identität der apokalyptischen Gestalt ist mit Koch darauf hinzuweisen, dass »den aramäischen Primärlesern die menschengestaltige Umschreibung einer visionären Erscheinung aus ihrer sprachlichen Herkunft [nicht] unbekannt war«594. Dies erweist sich anhand der Belegstellen Gen 18, Ri 13,6 und Ez 9,2 sowie anhand von Henochparallelen als schlüssig.595 Allerdings kann eine textliche Neugestaltung ein real geglaubtes Wesen auch entmythologisieren und umfunktionalisieren. Dies konnte bereits mit Boyarins These der redaktionellen Verflechtung zweier Texte gezeigt werden: Durch die enge Gegenüberstellung der Gottesfigur mit Tiersymbolen wird erstere ebenfalls zu einem Symbol umgewandelt.596 Für die hier behandelte Deutung kann möglicherweise auch der Prozess der Verschmelzung der untergeordneten Gottesfigur mit dem übergeordneten Gott als stützendes Argument dienen: Segal nimmt an, dass die späteren Visionen Dan 8–12 als innerdanielische Interpretationen den theologischen Dualismus in Dan 7 neu begreifen. Indem El und JHWH als in der Richterfigur ›der Alte an Tagen‹ fusioniert aufgefasst werden, ist eine Leerstelle, »the possibility of a new character, a divine second-in-command over Israel«597, geschaffen. Diese Leerstelle wird, rückwirkend gedeutet, in Dan 8–12 mit dem Engelsfürsten Michael besetzt.598 Boyarins These nach bleibt nach der Assimilation JHWHs an den Hauptgott El, weit vor der Fertigstellung von Dan 7, eine Tendenz zu Absplitterungen der jüngeren Gottesfigur von der älteren Gottheit JHWH-El erhalten. Der jüngere Gott ist vorerst namenlos, »[while his] functions […] [are], in part, taken by supreme angels or other sorts of divine beings, redeemer figures«599. Der Gedanke eines neuen Charakters, der erst rückwirkend mit einer Identität versehen wird, oder der einer Absplitterung der jungen und zunächst namenlosen Gottesfigur gestattet möglicherweise auch die Option, die apokalyptische Figur in Dan 7,13 als eine solche Leerstelle zu deuten. Dagegen gilt es jedoch Boyarins und Frankels Annahme zu bedenken, dass mit der Entstehung von Dan 7 eine direkte Funktionszuordnung im Sinne einer 592 Vgl. Goldingay: Daniel, 169, 172. 593 Vgl. Beasley-Murray: Interpretation, 56. – Hier argumentiert Beasley-Murray allerdings, dass der ›Alte an Tagen‹ im Deutungsteil eher als ein beiläufiger Nachgedanke zu sehen ist, der eine Wiedererwähnung des ›Einer wie der Sohn eines Menschen‹ nicht notwendig macht. 594 Koch: Reiche der Welt, 164. 595 Vgl. Koch: Reiche der Welt, 164. 596 Vgl. Boyarin: Daniel 7, 147, 150–152. 597 Segal: Dreams, 152. 598 Vgl. Segal: Dreams, 152. 599 Boyarin: Daniel 7, 160–161, vgl. auch 157–158.

Deutungstypen im Überblick

119

Konkretisierung des Menschenähnlichen einhergeht: Nach Boyarin wurde in der redaktionellen Verwebung zweier Visionen die menschenähnliche Gestalt den Tierwesen, politischen Symbolen, gegenübergestellt und so entmythologisierend in eine politisch-symbolhafte Größe umfunktioniert.600 Frankels Deutung gemäß wurden in Dan 7 die korrupten Nationalgötter aus Ps 82 zu Tiersymbolen für Weltmächte und parallel dazu der in Ps 82 herrschaftsempfangende JHWH in ein »human looking eschatological symbol of Israel«601 umgeformt.602 Angesichts einer solchen identitätsstiftenden Funktionszuordnung und Konkretisierung wäre es der finalen Redaktion allerdings möglich gewesen, eine Deutung für die Vision zu liefern, die das politisierte Menschensymbol und die vier Tiersymbole gleichwertig behandelt.603 Dies ist jedoch nicht der Fall: Die Tiere werden mit Königreichen gleichgesetzt, während eine entsprechende explizite Identifizierung der menschenähnlichen Figur ausbleibt, wie es Goldingay betont.604 In Anbetracht dessen bleibt Goldingays Lösungsvorschlag, die Figur in Dan 7,13 als eine Rolle zu deuten, womöglich eine legitime Option, obgleich sie nach den Erkenntnissen dieser Arbeit in den letzten rund 30 Jahren einzig von ihm vertreten wurde.

5.8

Deutungstypen im Überblick

Betrachtet man abschließend in einer Zusammenschau der Deutungstypen auch die Erscheinungsjahre der Analysen und Kommentare zu Dan 7, so zeichnen sich bestimmte Tendenzen ab. Die messianisch-davidische Deutung wurde, nach dem Erkenntnisstand der vorliegenden Arbeit, zuletzt 1983 von Beasley-Murray und 1993 von Haag vertreten.605 Ähnlich früh verteidigt Mosca 1986 die Menschenkönigsdeutung,606 die Lacocque noch 2001 bestätigt.607 Beide Interpretationen können für die Identifizierung der apokalyptischen Figur ausgeschlossen werden. Zum einen gibt die David-Tradition das für Dan 7 zentrale Element der Menschenähnlichkeit nicht her, wie Mosca anhand des Psalms 89 feststellt.608 Auch die »eschatologisierte Zion-David-Tradition«609 in Jes 6–12 enthält keine 600 601 602 603 604 605 606 607 608 609

Vgl. Boyarin: Daniel 7, 147, 150–153. Frankel: El, 23. Vgl. Frankel: El, 22–23. Boyarin schlägt vor, dass der Verflechtung zweier ursprünglich unabhängiger Visionen abschließend eine Deutung zugefügt wurde. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 140. Vgl. Goldingay: Daniel, 172. Vgl. Beasley-Murray: Interpretation, 44–58; Haag: Menschensohn, 137–185. Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 515–517. Vgl. Lacocque: Allusions, 114–131. Vgl. Mosca: Ugarit and Daniel, 515–517. Haag: Menschensohn, 178.

120

Bewertung der Positionen

sprachliche Wendung, die der Formulierung »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) ähnlich ist (vgl. Jes 6–12). Zum anderen ist auch die Menschenkönigsdeutung nicht weiter bedenken, da die in Ps 8 an den Menschen verliehene Königsherrschaft über Meeres- und Landtiere vielmehr an die Position des Menschen in der Schöpfung als an Chaoskampf erinnert (vgl. Gen 2). Ps 8 kann daher kein Zwischenschritt bei der Weitergabe des mythischen Baal-Materials bis hin zu Dan 7 sein.610 Der Vorschlag, die apokalyptische Figur als eine Rolle oder Leerstelle zu deuten, liegt mit Goldingays Danielkommentar, 1996 erschienen,611 früh in dem gesteckten Zeitraum der letzten 30 Jahren und wurde seitdem nicht wieder aufgegriffen. Dennoch ist sein Lösungsvorschlag angesichts des Ungleichgewichts zwischen einer expliziten Deutung der Tiersymbole und dem Ausbleiben einer solchen für das Menschensymbol als legitime Deutungsoption zu werten.612 Die symbolisch-kollektive Deutung, aktuell vertreten 2000 durch Keel, 2003 durch Seow, 2010 durch Frankel und 2013 durch Hieke,613 kann vor den Einwänden der angelologischen Option nur schwerlich bestehen: Das Substantiv ›Heilige‹ bezeichnet angesichts zahlreicher Parallelen im Alten Testament, in der jüdischen Literatur des 2. Jahrhunderts v. Chr. und im aramäischen Danielbuch selbst nicht die irdischen Israeliten, sondern Engel.614 Auch die sprachliche Formulierung »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) deutet aufgrund der Ähnlichkeit zu den Engelsbeschreibungen im Ezechiel- und im hebräischen Danielbuch mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein real geglaubtes, himmlisches Wesen hin.615 Die namentliche Identifizierung bzw. Konkretisierung der apokalyptischen Figur als den Engelsfürsten Michael wird 1993 von Collins, 1995 von Koch und 1996 von Bauer verteidigt und in jüngster Zeit 2014 von Newsom und 2017 von Schäfer favorisiert.616 Sie ist jedoch eher als eine innerdanielische Neuinterpretation in den Kapiteln 8–12 zu sehen, die dem aramäischen Danielbuch nachträglich hinzugefügt wurden und in der Rückschau die Figur aus Dan 7 neu deuten.617 Dies eröffnet die Option, den Menschenähnlichen als ein Kollektiv-

610 611 612 613 614 615 616 617

Vgl. Collins: Daniel, 293. Vgl. Goldingay: Daniel, 169, 172. Vgl. Goldingay: Daniel, 169, 172. Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 21–22; Seow: Daniel, 16–17; Frankel: El, 23; Hieke: Herrschaft, 390–393. Vgl. Collins: Daniel, 317; Koch: Reiche der Welt, 149. Vgl. Collins: Daniel, 305–306; Koch: Reiche der Welt, 162–163. Vgl. Collins: Daniel, 304–310; Koch: Reiche der Welt, 156–164; Bauer: Buch Daniel, 157–158; Newsom: Daniel, 235–238; Schäfer: Zwei Götter, 29–30. Diese Option hält Newsom, alternativ zur Identifizierung der Figur als den Engelsfürsten Michael, für möglich. Vgl. Newsom: Daniel, 238.

Deutungstypen im Überblick

121

symbol aufzufassen,618 das, anknüpfend an den Aspekt der Synergie zwischen Himmel und Erde, die himmlischen ›Heiligen des Höchsten‹ und das irdische Volk repräsentiert. Die Deutung ist legitim, weil sie den Tiersymbolen ebenfalls ein Symbol entgegenstellt. Die symbolisch-kollektive und die angelologische Deutung zeichnen sich als derzeitige Hauptströmungen der Identitätsdebatte über die apokalyptische Gestalt in Dan 7 ab. Deren oftmals als gegensätzlich gehandhabte Argumente können allerdings auch, wie oben gezeigt, kombiniert werden. Recht aktuell, 2012, konnte Boyarins These einer ursprünglich für sich stehenden Thronvision die sprachliche Wendung »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13) als den Hinweis auf ein real geglaubtes, göttlich-himmlisches Wesen in die symbolisch-kollektive Deutung integrieren: In der redaktionellen Verflechtung der sprachlich poetischen Thronvision mit einer prosaisch gehaltenen Tierapokalypse wurde die junge Gottesfigur durch die enge Gegenüberstellung mit den allegorischen Tierwesen entmythologisiert und zu einem Symbol für das Volk Israel umgeformt.619 Boyarins These kann allerdings nicht gänzlich zugestimmt werden, da sie den Begriff ›Heilige‹ nicht als Andeutung auf himmlische Wesen aufnimmt.620 Eine vollständige Bejahung der symbolisch-kollektiven Deutung ist jedoch denkbar, wenn sie die angelologische Auffassung der ›Heiligen‹ akzeptiert und den Menschenähnlichen in Dan 7,13 als eine Symbolfigur für die in Synergie miteinander verbundenen himmlischen ›Heiligen‹ und dem irdischen Volk Israel versteht. Die aktuelle Deutung auf JHWH von Segal aus dem Jahr 2016 kann vernachlässigt werden. Die Gleichsetzung der untergeordneten Figur mit dem Subjekt der Doxologien in Dan 3–6 ist nicht kompatibel mit dem Grundthema des aramäischen Danielbuches: Dort delegiert Gott, dessen oberste Souveränität doxologisch gepriesen wird, die Herrschaft an Könige,621 während die apokalyptische Figur in Dan 7,13–14 eindeutig Empfänger der Herrschaft ist. Die Rollen sind nicht gleich. Und schließlich bezeichnet der Begriff ›der Höchste‹ in Dan 7,25 mit großer Wahrscheinlichkeit nicht El, sondern wie auch in Dan 4 den Gott JHWH.622

618 619 620 621 622

Vgl. Newsom: Daniel, 238. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 147–149, 150–153. Vgl. Boyarin: Daniel 7, 140–141. Vgl. Seow: Daniel, 14. Vgl. Koch: Reiche der Welt, 151.

6.

Schluss

Die vorliegende Arbeit hat sich mit der Frage nach der Identität der apokalyptischen Menschengestalt in Dan 7 beschäftigt. Dies geschah schrittweise über die Thematisierung der Stellung von Dan 7 im Danielbuch, über die Exegese des Kapitels, weiterhin über die systematische Darstellung der aktuell vertretenen Deutungstypen und zuletzt über die abschließende Bewertung der Deutungen. Die Beschäftigung mit der Stellung von Dan 7 innerhalb des aramäisch-hebräischen Danielbuches hat anhand der Entwicklung des Reiche-Schemas gezeigt, dass das Buch sukzessiv erweitert wurde. Darüber hinaus spiegelt sich die Scharnierfunktion des Kapitels, die eine Verbindung zu beiden Buchhälften herstellt,623 in der Diskussion um den legitimen Kontext zur Interpretation der apokalyptischen Menschengestalt in Dan 7 wider: Die Vertreter der angelologischen Deutung übertragen, womöglich rückwirkend, die Identität des Engelsfürsten Michael aus Dan 8–12 auf die Figur in Dan 7.624 Verteidiger der symbolisch-kollektiven Lesart betonen demgegenüber die engen Rückbezüge von Dan 7 auf die erste Buchhälfte.625 Die Forderung, einzig Rückbezüge auf das hebräische Danielbuch zwecks Identifizierung gelten zu lassen, kann jedoch eine Anwendung der Angelologie auf das Kapitel nicht ausschließen, da ›Heilige‹ nicht nur in Dan 7, sondern auch in Dan 4 auftreten. Dort aber sind sie eindeutig engelhafte Wesen.626 In der sprachlichen Wendung »einer wie der Sohn eines Menschen« (Dan 7,13), aramäisch ‫כבר אנש‬, konnte ›Mensch‹ als ein generischer Ausdruck für »›menschliches Wesen‹ oder ›Menschheit insgesamt‹«627 identifiziert werden, während das Singulativ ›Sohn‹ als Kennzeichnung der apokalyptischen Figur als

623 Vgl. Bauer: Buch Daniel, 139. 624 Newsom hält es für möglich, dass die Identifizierung der Figur in Dan 7 als Michael eine Neuinterpretation in den Kapiteln 8–12 ist. Vgl. Newsom: Daniel, 238. 625 Vgl. Keel: Tiere und Mensch, 18–22. 626 Vgl. Collins: Daniel, 317; Koch: Reiche der Welt, 149. 627 Koch: Reiche der Welt, 159.

124

Schluss

Individuum erkannt wurde.628 Die Formulierung ›Sohn eines Menschen‹ in Dan 7 enthält keinen voranstehenden Artikel und ist daher kein Hoheitstitel in der Art,629 wie er in den Evangelien für die erwartete Hoffnungsgestalt vorausgesetzt wird.630 Dies leitet zu der für die vorliegende Arbeit zentrale Frage nach der Identität der Menschengestalt in Dan 7 über. Aufgrund der Nähe jener sprachlichen Wendung zu den Engelsbeschreibungen im Ezechiel- und im hebräischen Danielbuch handelt es sich hinsichtlich der apokalyptischen Figur wahrscheinlich um ein real geglaubtes, himmlisches Wesen.631 Gleichwohl ist die symbolischkollektive Deutung mit Boyarin eine ebenso legitme Option: »By splicing the apocalypse of the two thrones into the apocalypse of the four beasts, the author revised completely (but not completely successfully) the theology of the throne vision of two divine figures and turned them into one divine figure and one symbol of a human group, the righteous Jews.«632

Allerdings muss diese Deutung die angelologische Auffassung der ›Heiligen‹ akzeptieren und den Menschenähnlichen in Dan 7,13 als eine Symbolfigur für die in Synergie miteinander verbundenen himmlischen ›Heiligen‹ und dem irdischen Volk Israel verstehen. Dann kommt die symbolisch-kollektive Deutung mit dem Zugeständnis von Newsom bezüglich der mutmaßlich ursprünglichen Symbolfunktion der Figur in Dan 7 zusammen: »But even if the humanlike one is originally a collective symbol for the angels, the subsequent visions in Daniel reinterpret this figure with increasing specificity […].«633

Als eine letzte bevorzugte Deutung ist schließlich Goldingays Lösungsvorschlag zu nennen, der darauf beharrt, dass die Traumvision Dan 7 gar nicht auf eine Identifizierung der apokalyptischen Figur ausgelegt ist. Vielmehr ist diese als eine Rolle aufzufassen, die eine zentrale Bedeutung transportiert: die Ablösung der Weltenmächte und die Durchsetzung der ewigen Gottesherrschaft.634 »Chap. 7 invites us to focus on the humanlike figure’s role rather than its identity.«635 Ob Engel, Symbol oder Rolle: Es bleibt festzuhalten, dass die jüngere Retterfigur im Beisein des älteren Richtergottes in der apokalyptischen Traumvision Dan 7 ein prägendes Muster abgibt. Dieses Muster reicht bis zum kanaanäischen Mythos mit dem Sturmgott Baal und dem Hauptgott El zurück und antizipiert

628 629 630 631 632 633 634 635

Vgl. Koch: Reiche der Welt, 159–160. Vgl. Goldingay: Daniel, 167. Vgl. Ziller: Menschensohn, Kap. 1–2. Vgl. Collins: Daniel, 305–306; Koch: Reiche der Welt, 162–163. Boyarin: Daniel 7, 150. Newsom: Daniel, 238. Vgl. Goldingay: Daniel, 169, 172. Goldingay: Daniel, 172.

Schluss

125

bereits das neutestamentliche Gegenüber von Gott Sohn und Gott Vater.636 Dan 7 ist, so kann schließlich gesagt werden, Scharnier und Schnittstelle in vielerlei Hinsicht.

636 Vgl. Boyarin: Daniel 7, 157–158, 160–161.

English summary

There is a long-standing dispute about the identity of the ›son of man‹ mentioned in Dan 7:13. The following positions held in current research – or more precisely in the last 30 years – are: I. the Messianic-Davidic interpretation, II. the human-king interpretation, III. the symbolic-collective interpretation, IV. the angelological interpretation, V. the interpretation on YHWH and VI. the interpretation of the figure as a role. This study presents the positions and tries to evaluate them. I. The central argument underlying the Messianic-Davidic interpretation is that the act of handing over the reign in Dan 7:13–14 has to be seen as »an eschatological form of the ancient Semitic ritual for the proclamation of a king« (BeasleyMurray: Interpretation, 55–56): the apocalyptic figure is led before the enthroned God, then the eternal kingship is conferred upon him. The double representative function that the figure assumes in the vision section Dan 7:1–14 for God’s rule and in the interpretation section Dan 7:15–28 for the rule by the people corresponds to the role of the Messiah in the prophetic books. Confirming this, the motif of the replacement of the kingdoms of the world by the divine kingdom from Dan 7 is found again in the ›eschatologised Zion-David tradition‹ in Isa 6– 12 (cf. Haag: Menschensohn, 178). However, the Davidic tradition – neither in Isa 6–12 nor in Ps 89 – does not contain a linguistic phrase similar to the expression »one like a son of man« (Dan 7:13). The element of human likeness that is central to Dan 7 is missing here. II. With the human-king interpretation, an attempt is made to draw on the »son of man« from Ps 8 (v. 5 or 4), endowed with kingly attributes, for the identification of the figure in Dan 7. In the movement from the battle of chaos (Ps 8:3) to the proclamation of man’s universal rule in creation (Ps 8:7–9), Mosca recognises a connection between the earlier Canaanite Baal myth and the later Daniel chapter (cf. Mosca: Ugarit and Daniel, 497–498, 515–517). With Collins, however, Ps 8 is to be denied the motif of the chaos battle, which is why this text

128

English summary

cannot represent an intermediate step in the transmission of the mythical material (cf. Collins: Daniel, 293). III. The symbolic-collective interpretation understands the apocalyptic human figure (ruler-recipient in the vision section Dan 7:1–14) as a symbol for ›the holy ones of the Most High‹ (ruler-recipients in the interpretation section Dan 7:15– 28). The latter group is identified – with the synonyms ›the holy ones‹ and ›the holy ones of the Most High‹ – as the people of Israel. The synonymous equation of these entities is supported by the presence of a recurring structure in Dan 7: the sequence of the beasts leads to the throne and court scene and is always concluded by the handing over of the divine kingdom to an entity receiving dominion (cf. Goldingay: Daniel, 153–156; Hieke: Herrschaft, 385). Fundamentally, the symbolic-collective interpretation refers to the close connection established between the animal beings and the human being by the preposition ‫›( כ‬like‹) (cf. Dan 7:4–13). The transfer of the symbolic function of the animals – symbols of world kingdoms – to the human-like is plausible in view of this connection and the animal-human antithesis that permeates through the Aramaic Book of Daniel (Dan 2–7). The identification of ›the holy ones of the Most High‹ with the Godfearing Israelites can be justified by the closer context in Dan 7:21–25. There, allusions to the ruler Antiochus IV Epiphanes and the persecution of the Godabiding Israelites are consolidated. That the substantival term ›holy ones‹ can refer to the Israelites is proven by Ps 34:10 (cf. Keel: Tiere und Mensch, 21–22, 28). However, in the Old Testament this unique use is opposed by the more common use of the term ›holy ones‹ for heavenly beings. Also in Dan 4:10, 14, 20 (or 13, 17, 23), ›holy ones‹ and ›watchers‹ are clearly angelic beings. This must have created an expectation among the primary readers in favour of the angelological understanding of ›holy ones‹ in Dan 7 (cf. Collins: Daniel, 317; Koch: Reiche der Welt, 149). IV. The angelological interpretation considers the phrase »one like a son of man« (Dan 7:13) as a reference to an angelic being. The singular ›son‹ emphasises the individuality of the figure and identifies it as a single being. The criterion of human likeness or the comparison with a human being is to be seen as a reference to a heavenly being. Not only the formulations such as »one in human form« (Dan 10:16, 18) or »the appearance of a man« (Dan 8:15) from the Hebrew book of Daniel, but also the phrase »the fourth has the appearance of a god« (Dan 3:25) from the Aramaic part of the book are descriptions of angels that are very similar to the expression »one like a son of man« (Dan 7:13). Other biblical passages outside the Book of Daniel prove that angels can be referred to by speaking of ›men‹ or a human form (Gen 18:2; Ez 8:2; cf. Collins: Daniel, 305–306). Furthermore, the aspect of synergy between the Israelites and angels from Dan 10–12

English summary

129

can be found again in Dan 7. In chapters 10–12, the synergy is expressed in the way that angelic princes fight for the earthly people and the God-abiding people become heavenly beings as they awaken to eternal life (cf. Dan 12:2–3). That synergy converges in Dan 7 with the transfer of dominion, which takes place on different levels: recipients of the eternal kingdom are the human form (Dan 7:13), the heavenly ›holy ones‹ or ›holy ones of the Most High‹ (Dan 7:18, 22), and the earthly people (Dan 7:27), which is associated with ›the holy ones of the Most High‹ (cf. Collins: Daniel, 317–318). The aspect of synergy between angels and Israelites immunises the angelological interpretation against the objection that an equation of ›the holy ones‹ with angels can be ruled out in view of the allusions to the persecution of the Israelites in Dan 7:21–25. The attack takes place in parallel on the earthly and heavenly planes (cf. Collins: Daniel, 317–320, 322). The option of identifying the apocalyptic figure by name as the archangel Michael is based on the contextualisation of Dan 7 with Dan 8–12. On the one hand, the threshold function that Michael assumes in the Hebrew visions of Daniel (Dan 8–12) as the prince of the heavenly host and at the same time of the earthly people (cf. Dan 8:10–11; 10:21) fits the constellation in Dan 7. There, the individual figure is the representative of the heavenly ›holy ones‹ and of the earthly people who receives dominion. On the other hand, Michael in Dan 12:1 – like the human-like figure in Dan 7:13 – appears as the one who replaces the worldly great powers and heralds the eternal kingdom (cf. Koch: Reiche der Welt, 163). However, the option of a concretion by name must be countered by the possibility that the later Daniel chapters 8–12 reinterpret the apocalyptic figure from Dan 7 and subsequently assign it the identity of Michael (cf. Newsom: Daniel, 237–238). From this objection arises the possibility of understanding the ›one like a son of man‹ in distinction to a believed angelic being as a collective symbol, which in Dan 7 stands for the heavenly ›holy ones‹ and the earthly people. The latter are connected by a relationship of synergy and belonging. Boyarin offers another solution that unites decisive arguments of the symbolic-collective and the angelological interpretation in one approach. With the thesis of an originally separate throne vision with two divine figures (›son of a man‹ and ›the Ancient of Days‹), Boyarin recognises the close connection between the phrase »one like a son of man« (Dan 7:13) and the depictions of believed heavenly or godly beings in the appearance of a human in Dan 8:15 and Ez 1:26; 8:2. Boyarin further assumes that in an editorial interweaving of that throne vision with an animal apocalypse, the divine or heavenly figure »like a son of man« (Dan 7:13) is juxtaposed with symbolic animal beings, thereby demythologised and finally transformed into a symbol for the people of Israel (cf. Boyarin: Daniel 7, 147, 150–153). However, Boyarin does not include the fact that the noun ›holy ones‹, according to numerous parallels in the Old Testament and

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English summary

also in the Book of Daniel itself, does not refer to the earthly Israelites but to angels (cf. Collins: Daniel, 317; Koch: Reiche der Welt, 149). V. The identification of the »one like a son of man« (Dan 7:13) as YHWH is based on the proposal to equate the apocalyptic figure whose reception of sovereignty is affirmed doxologically in Dan 7:14 with the subject of the doxologies in Dan 3:31–33, 4:31 (or 34) and 6:26–27 (cf. Segal: Dreams, 136–138). However, such an equation is not compatible with the basic theme of God’s supreme sovereignty that characterises the Aramaic book of Daniel: in Dan 2–6 God is the one who grants power to kings (cf. Seow: Daniel, 14), whereas in Dan 7 the apocalyptic figure appears as the recipient of power. The roles are different. Furthermore, an attempt is made to identify »the Most High« (Dan 7:25) with the Canaanite principal god El (cf. Segal: Dreams, 150–152). However, the term ›the Most High‹ already appears in Dan 4 and designates YHWH there. Since Dan 7 makes close references back to the previous chapters via the four-kingdoms-scheme in Dan 2 and via the animal-man-theme in Dan 4 and 5, an allusion to El in Dan 7:25 is unlikely. The interpretation of YHWH can therefore be ruled out. VI. The interpretation of the human-like as a role not further specified in Dan 7 is based on the observation of an unequal relationship: the interpretative section Dan 7:15–28 explicitly assigns the animal symbols and interprets them as world kingdoms. However, the absence of the human symbol in the interpretation suggests that the Daniel chapter does not aim at an identification of that figure (cf. Goldingay: Daniel, 169, 172). This position must face the objection that the primary readers could not have been unfamiliar with the visionary representation of a being in human form and that it clearly points to a heavenly being (cf. Koch: Reiche der Welt, 164). In contrast, Boyarin’s thesis of the editorial interweaving of two texts shows that a being believed to be real can be demythologised in the editorial process and converted into a symbolic figure. In the sense of this thesis, it could have been possible for the final editing to treat the human symbol and the animal symbols equally in the appended interpretative section and to assign an identity to the apocalyptic figure. In summary, the following types of interpretation can be considered legitimate possibilities: The apocalyptic human figure in Daniel 7 represents a collective symbol for the heavenly ›holy ones of the Most High‹ and for the earthly ›people of the holy ones of the Most High‹. Otherwise, it is an unspecified role that aims at the replacement of the world forces by the eternal reign of God.

Résumé français

L’identité du ‹ fils d’homme › mentionné en Dn 7,13 fait l’objet d’une controverse de longue date. Les positions suivantes sont défendues dans la recherche actuelle, ou plus précisément dans celle des 30 dernières années : I. l’interprétation messianique et davidique, II. l’interprétation de l’homme-roi, III. l’interprétation symbolique et collective, IV. l’interprétation angélologique, V. l’interprétation par rapport à YHWH et VI. l’interprétation du personnage comme un rôle. Dans ce travail, je présente les différentes positions et tente de les évaluer. I. L’interprétation messianique et davidique repose sur l’argument central selon lequel il faut voir dans l’acte de remise du pouvoir en Dn 7,13–14 « an eschatological form of the ancient Semitic ritual for the proclamation of a king » (BeasleyMurray : Interpretation, 55–56) : le personnage apocalyptique est conduit devant le trône de Dieu, puis il reçoit la royauté éternelle. La double fonction de représentation qu’assume le personnage dans la partie vision (Dn 7,1–14) pour le règne de Dieu et dans la partie interprétation (Dn 7,15–28) pour le règne par le peuple correspond au rôle du Messie dans les livres prophétiques. Cela est confirmé par le fait que le motif du remplacement des royaumes du monde par le royaume divin en Dn 7 se retrouve dans ‹ la tradition eschatologisée de Sion et de David › en Is 6–12 (cf. Haag : Menschensohn, 178). Cependant, la tradition de David ne contient ni dans Is 6–12 ni dans Ps 89 de tournure linguistique semblable à l’expression « comme un fils d’homme » (Dn 7,13). L’élément central de Dn 7, à savoir la ressemblance avec un homme, y est absent. II. Avec l’interprétation de l’homme-roi, on tente d’utiliser pour l’identification du personnage de Dn 7 « l’être humain » ou le « fils de l’homme » du Ps 8 (v. 5), doté d’attributs royaux. Dans le mouvement du combat contre le chaos (Ps 8,3) jusqu’à la proclamation du règne universel de l’homme dans la création (Ps 8,7– 9), Mosca reconnaît un lien entre l’ancien mythe cananéen de Baal et le chapitre ultérieur de Daniel (cf. Mosca : Ugarit and Daniel, 497–498, 515–517). Avec Collins, il faut cependant rejeter pour le Ps 8 le motif du combat contre le chaos.

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Résumé français

C’est pour cette raison que ce texte ne peut constituer une étape intermédiaire dans la transmission du matériel mythique (cf. Collins : Daniel, 293). III. L’interprétation symbolique et collective comprend la figure humaine apocalyptique (bénéficiaire de la domination dans la partie vision de Dn 7,1–14) comme symbole des ‹ saints du Très-Haut › (bénéficiaires de la domination dans la partie interprétation de Dn 7,15–28). Ce dernier groupe est identifié – par les synonymes ‹ les saints › et ‹ le peuple des saints du Très-Haut › – comme étant le peuple d’Israël. La présence d’une structure récurrente en Dn 7 plaide en faveur d’une assimilation synonymique de ces entités : la succession des créatures animales converge vers la scène du trône et du jugement et se termine toujours par la remise du royaume divin à une entité recevant la domination (cf. Goldingay : Daniel, 153–156 ; Hieke : Herrschaft, 385). Fondamentalement, l’interprétation symbolique et collective renvoie au lien étroit établi entre les créatures animales et la forme humaine par la préposition ‫ ‹( כ‬comme ›) (cf. Dn 7,4–13). La transposition de la fonction symbolique des animaux – symboles de royaumes du monde – à la figure humaine est plausible au vu de ce lien et de l’opposition animalhomme dont le motif traverse le livre araméen de Daniel (Dn 2–7). L’identification des ‹ saints du Très-Haut › avec les Israélites pieux se justifie par le contexte plus proche de Dn 7,21–25. On y trouve des allusions au souverain Antiochos IV Épiphane et à la persécution des Israélites fidèles à Dieu. Le fait que le substantif ‹ les saints › puisse désigner les Israélites est illustré par Ps 34,10 (cf. Keel : Tiere und Mensch, 21–22, 28). Cependant, dans l’Ancien Testament, cette utilisation unique est contrebalancée par l’utilisation plus courante du terme ‹ les saints › pour désigner les êtres célestes. De même en Dn 4,10.14.20, les ‹ saints › et les ‹ vigilants › sont clairement des êtres angéliques. Cela a très vraisemblablement provoqué chez les lecteurs primaires une attente en faveur de la compréhension angélique des ‹ saints › en Dn 7 (cf. Collins : Daniel, 317 ; Koch : Reiche der Welt, 149). IV. L’interprétation angélologique considère l’expression « comme un fils d’homme » (Dn 7,13) comme une référence à un être angélique. Le singulier ‹ fils › souligne l’individualité du personnage et le désigne comme un être unique. Le critère de la ressemblance avec un être humain ou la comparaison avec un être humain doit être considéré comme indiquant un être céleste. Non seulement les formulations telles que « l’apparence d’un homme » (Dn 10,18) du livre hébreu de Daniel (voir aussi Dn 8,15 ; 10,16), mais aussi la tournure « l’aspect du quatrième ressemble à celui d’un fils des dieux » (Dn 3,25) de la partie araméenne du livre sont des descriptions d’anges qui ressemblent beaucoup à l’expression « comme un fils d’homme » (Dn 7,13). D’autres passages bibliques en dehors du livre de Daniel montrent qu’en parlant d’‹ hommes › ou d’une forme humaine, il peut être

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fait référence à des anges (Gn 18,2 ; Ez 8,2 ; cf. Collins : Daniel, 305–306). En outre, on retrouve l’aspect de synergie entre les Israélites et les anges de Dn 10–12 également en Dn 7. Dans les chapitres 10–12, la synergie se manifeste par le fait que les princes angéliques combattent pour le peuple terrestre et que les hommes fidèles à Dieu deviennent des êtres célestes lorsqu’ils s’éveillent à la vie éternelle (cf. Dn 12,2–3). Cette synergie converge en Dn 7 avec la transmission du règne, qui s’effectue à différents niveaux : les bénéficiaires du royaume éternel sont la forme humaine (Dn 7,13), les ‹ saints › célestes ou « saints du Très-Haut » (Dn 7,18.22) ainsi que le peuple terrestre (Dn 7,27), qui est lié aux ‹ saints du Très-Haut › (cf. Collins : Daniel, 317–318). L’aspect de synergie entre les anges et les Israélites immunise l’interprétation angélologique contre l’objection selon laquelle il faudrait exclure une assimilation des ‹ saints › aux anges, compte tenu des allusions à la persécution des Israélites en Dn 7,21–25. L’attaque se déroule parallèlement sur les plans terrestre et céleste (cf. Collins : Daniel, 317–320, 322). L’option de l’identification nominative du personnage apocalyptique avec l’archange Michel repose sur la contextualisation de Dn 7 avec Dn 8–12. D’une part, la fonction de seuil qu’occupe Michel dans les visions hébraïques de Daniel (Dn 8–12) en tant que prince à la fois de l’armée céleste et du peuple terrestre (cf. Dn 8,10–11 ; 10,21) corrèle avec la constellation en Dn 7. Là, le personnage unique est le représentant recevant la domination pour les ‹ saints › célestes et pour le peuple terrestre. D’autre part, Michel en Dn 12,1 apparaît – tout comme celui qui ressemble à un homme en Dn 7,13 – comme celui qui prend la relève des grandes puissances temporelles et qui inaugure le royaume éternel (cf. Koch : Reiche der Welt, 163). Il faut cependant opposer à l’option d’une concrétisation nominative le fait possible que les chapitres ultérieurs Dn 8–12 réinterprètent le personnage apocalyptique de Dn 7 et lui attribuent après coup l’identité de Michel (cf. Newsom : Daniel, 237–238). De cette objection découle la possibilité de comprendre celui qui est ‹ comme un fils d’homme ›, en le distinguant d’un être angélique que l’on croit réel, comme un symbole collectif qui, en Dn 7, représente les ‹ saints › célestes et le peuple terrestre. Ces derniers sont liés entre eux par une relation de synergie et d’appartenance. Boyarin propose une autre solution qui réunit en une seule approche les arguments décisifs de l’interprétation symbolique-collective et ceux de l’interprétation angélologique. Avec la thèse d’une vision du trône à l’origine séparée avec deux figures divines (‹ fils d’un homme › et ‹ le Vieillard ›), Boyarin reconnaît le lien étroit entre l’expression « comme un fils d’homme » (Dn 7,13) et les représentations d’êtres divins ou célestes supposés réels sous l’apparence d’un homme en Dn 8,15 et Ez 1,26 ; 8,2. Boyarin suppose en outre que dans un tissage rédactionnel de cette vision du trône avec une apocalypse animale, la figure divine ou céleste « comme un fils d’homme » (Dn 7,13), en étant confrontée à des créatures animales symboliques, est ainsi démythifiée et finalement transformée

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en un symbole pour le peuple d’Israël (cf. Boyarin : Daniel 7, 147, 150–153). Boyarin n’intègre toutefois pas le fait que le substantif ‹ saint ›, au vu des nombreux parallèles dans l’Ancien Testament et dans le livre de Daniel lui-même, ne désigne pas les Israélites terrestres, mais des anges (cf. Collins : Daniel, 317 ; Koch : Reiche der Welt, 149). V. L’identification de celui qui est « comme un fils d’homme » (Dn 7,13) comme YHWH s’appuie sur la proposition d’assimiler le personnage apocalyptique – dont la réception de la souveraineté est affirmée en doxologie en Dn 7,14 – au sujet des doxologies en Dn 3,31–33, 4,31 et 6,26–27 (cf. Segal : Dreams, 136–138). Cependant, une telle assimilation n’est pas compatible avec le thème fondamental de la souveraineté suprême de Dieu qui caractérise le livre araméen de Daniel : alors que dans Dn 2–6 Dieu est celui qui donne le pouvoir aux rois (cf. Seow : Daniel, 14), la figure apocalyptique de Dn 7 apparaît comme celui qui reçoit le pouvoir. Les rôles sont différents. Par ailleurs, on tente d’identifier « le TrèsHaut » (Dn 7,25) avec le principal dieu cananéen El (cf. Segal : Dreams, 150–152). Cependant, le terme ‹ le Très-Haut › apparaît déjà en Dn 4 et y désigne YHWH. Le fait que Dn 7 fasse des renvois étroits aux chapitres précédents – par le biais du schéma des quatre royaumes en Dn 2 et par la thématique animal-homme en Dn 4 et 5 – rend une allusion à El en Dn 7,25 peu probable. L’interprétation à YHWH est donc à exclure. VI. L’interprétation de la figure humaine comme un rôle non concrétisé en Dn 7 se fonde sur l’observation d’un rapport inégal : la partie d’interprétation Dn 7,15– 28 procède à une attribution explicite des symboles des animaux et les interprète comme des royaumes du monde. En revanche, l’absence de réapparition du symbole humain dans l’interprétation permet de conclure que le chapitre de Daniel ne vise pas du tout à identifier cette figure (cf. Goldingay : Daniel, 169, 172). Cette position doit faire face à l’objection que la représentation visionnaire d’un être à forme humaine ne pouvait pas être inconnue des lecteurs primaires et qu’elle renvoie clairement à un être céleste (cf. Koch : Reiche der Welt, 164). En revanche, la thèse de Boyarin sur l’imbrication rédactionnelle de deux textes montre qu’un être que l’on croit réel peut être démythifié dans le processus rédactionnel et transformé en figure symbolique. Dans le sens de cette thèse, il aurait été possible à la rédaction finale de traiter le symbole humain et les symboles animaux dans la partie d’interprétation annexée de manière équivalente et d’attribuer une identité au personnage apocalyptique. En résumé, les types d’interprétation suivants peuvent être considérés comme des options légitimes :

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La figure humaine apocalyptique en Daniel 7 représente un symbole collectif pour les ‹ saints du Très-Haut › célestes tout comme pour le ‹ peuple des saints du Très-Haut › terrestre. Ou bien il s’agit d’un rôle non précisé qui vise à remplacer les puissances du monde par le règne éternel de Dieu.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Textstruktur von Dan 7. Das Schaubild folgt der Darstellung von: Goldingay: Daniel, 153–154, es wurde ergänzt um den Aspekt der Doxologien aus: Segal: Dreams, 136–138 und weiterentwickelt von Michael Friedrich. Abb. 2: Die Visionsformeln in Dan 7. In dem Schaubild kombiniert Michael Friedrich die Übersichten und Erkenntnisse von: Goldingay: Daniel, 153–154. Abb. 3: Der wiederkehrende Chiasmus in Dan 7. In dem Schaubild vereint Michael Friedrich die Übersichten von: Goldingay: Daniel, 153–154, 155–156 und ergänzt die Erkenntnisse von: Segal: Dreams, 136–138.

Anhang

Struktur Daniel 7 nach G. Steins 7,1

Einleitung (Datierung; Vision, Verschriftlichung)

2a

Redeeinleitung (bis 7,28 Ich-Report Daniels)

Teil I

2b–14

Daniels Vision

2b–8

4 große Tiere aus dem Chaosmeer

9–10

Installierung des Gerichts (Richter: ein »Hochbetagter«) (Form: Verszeilen; nicht in EÜ)

11–12

Todesstrafe für die 4 Tiere

13–14

Erscheinen eines »wie ein Mensch(ensohn)« aus den Wolken des Himmels und Übertragung ewiger universaler Herrschaft auf ihn (Form: Verszeilen)

Teil II

15–28 Daniels Suche nach Deutung der Vision (in die Vision verlagert)

15

Erschrecken Daniels (-> 28b) 16

Verlangen nach Deutung der Vision

17–18

Deutung der Vision durch »Umstehenden«

19–20

Verlangen nach genauerer zur Deutung des 4. Tieres Beschreibung des 4. Tieres Fortsetzung der Beschreibung:

21–22

erneute Vision: Krieg des Tieres gegen die Heiligen des Höchsten

144

Anhang

23–27

28b

Deutung durch »Umstehenden«: Aktionen des gewalttätigen Königs Gericht und Entmachtung Übertragung ewiger universaler Herrschaft auf das »Volk der Heiligen des Höchsten« (Form: Verszeilen, nicht in EÜ) 28a Notiz über Ende der Deuterede

Erschrecken Daniels (